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German Pages 1046 [1048] Year 2001
Frühe Neuzeit Band 56 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt
Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Gedruckt mit Unterstützung der Marga und Kurt-Möllgaard-Stiftung
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit l hrsg. von Klaus Garber .... - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Frühe Neuzeit; Bd. 56) ISBN 3-484-36556-0
ISSN 0934-5531
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: epline, Kirchheim unter Teck Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Koch, Tübingen
Inhalt
Vorwort Klaus Garber Königsberg als Emblem. Einige nachdenkliche Worte der Begrüßung
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I. DAS VERSUNKENE KÖNIGSBERG VERLORENE BIBLIOTHEKEN UND GERETTETE BÜCHER. Klaus Garber Apokalypse durch Menschenhand. Königsberg in Altpreußen - Bilder einer untergegangenen Stadt und ihrer Memorialstätten Ralf G. Päsler Zum Handschriftenbestand - speziell dem mittelalterlichen deutschsprachigen - der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg
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Manfred Komorowski Die Erforschung der Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte
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II. DAS HERZOGTUM PREUSSEN IN DER FRÜHEN NEUZEIT HISTORISCHE UND KONFESSIONSPOLITISCHE GRUNDLEGUNG . . . 183 Hartmut Boockmann Einführung in die Geschichte des Landes
185
Juozas Jurginis Die Beziehungen zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem Herzogtum Preußen unter den letzten Jagellonen . . 199 Janusz Mallek Die Sonderrolle des Herzogtums Preußen in der Geschichte des territorialen Protestantismus der Frühen Neuzeit
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Inhalt
Esther-Beate Körber Öffentlichkeit im Herzogtum Preußen im 16. und frühen 17. Jahrhundert
219
Thomas Kaufmann Theologische Auseinandersetzungen an der Universität Königsberg im 16. und 17. Jahrhundert
243
Dieter Breuer Der Anteil der Jesuiten an der Kulturentwicklung im Hochstift Ermland und im Herzogtum Preußen (Braunsberg, Rössel, Königsberg) 319
III. GEISTIGES ZENTRUM IM OSTSEERAUM - KÖNIGSBERG UND SEINE UNIVERSITÄT
335
Bernhart Jähnig Die Königsberger Universitätsprofessoren im 17. Jahrhundert - Eine sozial- und bildungsgeschichtliche Betrachtung 337 Zbigniew Nowak Das Studium der Danziger in Königsberg im 16. und 17. Jahrhundert
375
Arvo Tering Die Beziehungen der Königsberger Universität zu Est-, Livund Kurland im 17. Jahrhundert
391
Vincentas Drotvinas Die Anfänge der litauischen Philologie an der Königsberger Universität (16.-18. Jahrhundert)
405
Iwan Koptzev Zu den sprachlichen Kontakten zwischen dem ostpreußischen Deutsch und den slawischen Sprachen in der Provinz Ostpreußen
421
IV. BILDENDE KÜNSTE - ARCHITEKTUR - MUSIK
427
Kamila Wroblewska Das Portrait in Preußen vom 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts
429
Inhalt
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Ulrich Schütte Das Schloß in Königsberg - Zur Architektur einer Residenz im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit . . 503 Werner Braun Plädoyer für eine Königsberger Kapellmusik (1623)
539
Werner Braun Emblemata musica: Zu Heinrich Alberts Musicalischer Kürbs=Hütle
561
V. DAS BILD VON PREUSSEN IN HISTORIOGRAPHIE UND LITERATUR
579
Arno Mentzel-Reuters Von der Ordenschronik zur Landesgeschichte Die Herausbildung der altpreußischen Landeshistoriographie im 16. Jahrhundert 581 Hans-Jürgen Bömelburg Das preußische Landesbewußtsein im 16. und 17. Jahrhundert
639
Wilhelm Kühlmann und Werner Sträube Zur Historic und Pragmatik humanistischer Lyrik im alten Preußen: Von Konrad Celtis über Eobanus Hessus zu Georg Sabinus
657
Andreas Keller Die Preußische Nation und ihre literarische Genese: Grundzüge eines regionalen Geschichtsbewußtseins und die intentionale Vermittlung einer territorialen Identität in Michael Kongehls Roman Surbosia (1676)
737
Bernhard Jahn Von der civitas incognita zur Krönungsstadt der preußischen Könige - Gestalt und Funktion des Königsberg-Bildes in Reisebeschreibungen und landeskundlichen Werken der Barockzeit 769
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Inhalt
VI. LITERARISCHE LANDSCHAFT IM ALTEN DEUTSCHEN SPRACHRAUM DES OSTENS - BEITRÄGE ZUR LITERATURGESCHICHTE OSTPREUSSENS UND KÖNIGSBERGS
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Axel Sanjose Ansätze >bürgerlicher< Literatur im Königsberg des 16. Jahrhunderts
799
Hans-Gert Roioff Abraham Burggraf zu Dohna - ein ostpreußischer Dichter zu Beginn des 17. Jahrhunderts
815
Wulf Segebrecht Unvorgreifliche, kritische Gedanken über den Umgang mit Simon Dachs Gedichten
943
Axel E. Walter Caldenbachiana in St. Petersburg - Ein Beitrag zur Bibliographie des Königsberger Dichterkreises
963
Knut Kiesant Gottfried Treppenhauers »Pro Memoria« eine frühneuzeitliche Königsberger Familienchronik
995
Verzeichnis der in den Anmerkungen benutzten Abkürzungen. . 1007 Register
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Vorwort
Im Jubiläumsjahr 1994, anläßlich des 450. Geburtstages der Albertina, rückten das alte Königsberg und seine Universität, rückte ein geschichtsträchtiger Kulturraum im Osten des alten deutschen Sprachgebietes wieder verstärkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Jahrzehntelang vor Besuchern aus Ost und West nahezu hermetisch verschlossen, war Kaliningrad erst seit kurzer Zeit wieder zugänglich. Es war eine Stadt im Wandel, im Aufbruch begriffen sowohl in die eigene Vergangenheit als auch in eine Ungewisse europäische Zukunft, die nunmehr ihre Gäste freundlich empfing. Sie präsentierte sich als eine Stadt, deren Bewohner sich in einer schwierigen Gegenwart ihrer kulturellen und intellektuellen Tradition wieder bewußt zu werden begannen (und wieder bewußt werden konnten), ohne das Selbstbewußtsein für das Eigene und Neue, das hier über fünfzig Jahre zusammengewachsen war, bei diesem Brückenschlag in die Vergangenheit aufgeben zu wollen. Die politische Entspannung und also vor allem der Fortfall doktrinärer Vorgaben aus einer fernen Parteizentrale machten möglich, was wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre: die Veranstaltung eines internationalen Symposions zur Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit unter der Leitung deutscher Wissenschaftler im Zusammenwirken mit russischen Kollegen und Freunden direkt am historischen Orte. Die Tagung stand im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 450. Jahrestag der Gründung der Universität Königsberg. Sie erhob keinerlei repräsentative Ansprüche, wurde eben deshalb am Rande Königsbergs in Rauschen/Svetlogorsk im Samland abgehalten und sollte einen intensiven Informations- und Meinungsaustausch in vergleichsweise kleinem Kreis ermöglichen. Während Böhmen und Schlesien, neuerdings auch Pommern die allenthalben abgerissenen Fäden territorialer Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung wieder aufgenommen und mehr oder weniger eng verknüpft hatten, stand ein entsprechender Versuch für Ostpreußen (wie auf andere Weise für Westpreußen) aus. Die gänzliche Abschnürung des nördlichen Teils des ehem. Ostpreußen ließ quellenintensive Forschung (sofern nicht basierend auf den geretteten Staatsarchivs-Quellen) ebensowenig zu wie
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Vorwort
kulturpolitische kooperative Aktivitäten. Diese Situation hat sich inzwischen bekanntlich drastisch gewandelt, ohne daß die Probleme damit behoben wären. Die Königsberger und ostpreußische Kultur verstanden als Gesamtheit aller denkbaren Überlieferungsträger ist in einer Weise fragmentiert und dezimiert, die keine Parallele in der Geschichte eines Territoriums im alten deutschen Sprachraum hat; Sicherung der Überlieferung bleibt daher auf unabsehbare Zeit die vordringlichste Aufgabe einer nicht auf Sensation oder Reklame oder Kauflust spekulierenden, sondern solide und erstmals wieder Grundlagen erarbeitenden Historiographie im weitesten Sinn des Wortes. Das Programm des Kolloquiums trug dem Rechnung, indem es sich räumlich, zeitlich und thematisch gleichermaßen beschränkte und der Quellenkunde nicht unerheblichen Platz einräumte. Behandelt wurde ausschließlich das Herzogtum Preußen; das Preußen Königlich-Polnischen Anteils taucht nur indirekt über den Vergleich im Tagungsgeschehen auf. Es war zwei Jahre später anläßlich der Vierhundertjahrfeier der Gründung der Stadtbibliothek Danzig im Jahre 1996 eben im Alten Rathaus zu Danzig Gegenstand einer eigenen Tagung, deren Akten soeben für den Druck vorbereitet werden. Auch griff die Tagung bewußt nicht über auf das »klassische« Jahrhundert Preußens, das achtzehnte, sondern würdigte diese Phase der Königsberger Kulturgeschichte von europäischer Dimension nur gelegentlich im Medium einer wissenschaftshistorischen und damit zugleich rezeptionshistorischen Optik, zentriert um die großen Historiker, Landeskundler und Literärgeschichtlicher, wie sie auch das Herzogtum Preußen sein eigen nannte. Im Mittelpunkt standen das reformatorische und nachreformatorische Preußen bis an die Schwelle der Königskrönung, also knapp zwei Jahrhunderte, die im Spektrum und zwischen den Polen von Bibliographie, Buch- und Bibliothekskunde, Struktur-, Konfessions- und Kulturgeschichte umkreist wurden. 1931 erschien bei Gräfe und Unzer - herausgegeben vom »Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen« - das Sammelwerk Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande. Die räumliche Trennung vom Reich nach der Errichtung des Danziger Korridors führte auch kulturpolitisch zur stärkeren geschichtlichen Rückvergewisserung und zum Aufweis der unverbrüchlichen geistigen Zugehörigkeit zum Mutterland. Es war gelungen, die jeweils ersten Fachleute aus den gelehrten Institutionen zumal Königsbergs und hier wiederum vor allem der Universität für das Unternehmen zu gewinnen. Max Hein, Erich Keyser, Christian Krollmann, Joseph Müller-Blattau, Joseph Nadler, Alfred Rohde, Bruno Schumacher und Walther Ziesemer waren teilweise mit mehreren Beiträgen vertreten. Den Leitfaden bildete die politische Geschichte. Deren einzelne Epochen wurden synoptisch
Vorwort
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zugleich aus der Optik der Geisteswissenchaften (vor allem Nadler und Ziesemer), der Bildenden Kunst (vor allem Heinz Glasen) und der Musik (Müller-Blattau) betrachtet. Der Anspruch zielte auf eine Gesamtdarstellung von den vorgeschichtlichen Anfängen bis zur Gegenwart. Die Beiträger konnten noch einmal ungehindert auf die Quellen in Archiven und Bibliotheken Königsbergs, Danzigs, Elbings, Braunsbergs etc. zurückgreifen. Manche Porträts sind unveraltet und in der Prägnanz der Linienführung schwerlich überbietbar, so etwa Nadlers Vergegenwärtigung des »Geistige(n) Leben(s) von der Krönung Friedrich I. bis zum Tode Kants«. Daß die nationale, mehr als einmal auch nationalistische Tönung störend bemerkbar wird, bedarf aus der Retrospektive keines Wortes. Der Schatten der drohenden Zukunft, der zumal den Bestandsaufnahmen der Städte und Kunstdenkmäler seit den späten dreißiger Jahren so beklemmend gerade im Verschweigen des eigentlichen Zwecks der Veranstaltung anhaftet, ist gleichwohl noch fern. Das Werk ist die letzte kulturgeschichtliche Gesamtdarstellung des alten Ostpreußen geblieben. Vor dem Krieg erfuhren nun nur noch einzelne Gebiete nochmals ihre Darstellung. Erinnert sei beispielsweise an Theodor Schieders - nun bereits beklemmend nationalsozialistisch infizierte - Studie Deutscher Geist und ständische Freiheit im Weichsellande, Politische Ideen und politisches Schrifttum in Westpreußen von der Lubliner Union bis zu den polnischen Teilungen (1569-1772/73) (1940), an Richard Dethlefsens Bau- und Kunstdenkmäler von Ostpreußen (1933), an Ernst Galls 1944 abgeschlossene Neubearbeitung des Dehio für das Deutschordensland Preußen (publiziert 1952), das die letzte und gründlichste kunsthistorische Bestandsaufnahme Altpreußens geblieben ist (dazu Willi Drosts Baukunst und bildende Kunst in Danzig- Westpreußen [1940]), an Müller-Blattaus Geschichte der Musik in Ost- und Westpreußen von der Ordenszeit bis zur Gegenwart (1931) und Maria Federmanns Ausschnitt zur Musik und Musikpflege zur Zeit Herzog Albrechts, Zur Geschichte der Königsberger Hofkapelle in den Jahren 1525-1578 (1932), schließlich an Ziesemers Ostpreußische Dichtung (1939), die neben seine große vierbändige Dach-Ausgabe (1936-38) trat, und Götz von Seiles im Schatten der Katastrophe eben noch abgeschlossene Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen (1944, 2. Aufl. 1956) (Aus der Buchhandelsgeschichte und Publizistik vgl. vor allem: Kurt Forstreuter: Gräfe & Unzer, Zwei Jahrhunderte Königsberger Buchhandel [1932], und Botho Rehberg: Geschichte der Königsberger Zeitungen und Zeitschriften [1942]). Denkwürdig bleiben wird für Ost- und Westpreußen nicht anders als für Pommern oder Schlesien, Böhmen oder die baltischen Staaten Maß und Intensität der rekonstruktiven Arbeit, die insbesondere in den
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Vorwort
fünfziger und frühen sechziger Jahren zumeist von den Direktoren der musealen, archivalischen, bibliothekarischen Institutionen, fernab von den heimischen Siedlungsräumen und abgeschnitten von den reichen Quellen, geleistet wurde. Es ist dies ein Memorialwerk großen Stils, das inzwischen seinerseits den jüngeren Generationen als pflegebedürftiges Erbe zugefallen ist. Gewiß hatte die ostpreußische Landesforschung dank der weitsichtigen Auslagerungsmaßnahmen Ernst Forstreuters den Vorteil, auf einen breiten Fonds wertvollster Materialien des Königsberger Staatsarchivs zurückgreifen zu können. Dafür fielen das Königsberger Stadtarchiv und die Staats- und Universitätsbibliothek ebenso wie die alte Stadtbibliothek so gut wie gänzlich aus und waren durch keine anderweitige Institution, etwa im benachbarten Danzig oder Riga oder Thorn mit ihren jeweils doch sehr abweichenden Einzugsgebieten und Sammelschwerpunkten, zu ersetzen. Was für Ostpreußen und Königsberg auf der Basis geretteter Aufzeichnungen, fragmentarischer Quellen und insonderheit persönlicher Erinnerung zustande kam, ist inzwischen zu einer originären Quelle geschichtlicher Forschung geworden. Es reicht, an Schumachers stets neue Bearbeitung der Geschichte Ost- und Westpreußens (zuletzt 7. Aufl. 1987), an Causes Geschichte des Preußenlandes (1966) und vor allem an seine monumentale dreibändige Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen (1965-1971, soeben erst - 1996 - wieder aufgelegt), an Forstreuters Vom Ordensstaat zum Fürstentum, Geistige und politische Wandlungen im Deutschordensstaate Preußen unter den Hochmeistern Friedrich und Albrecht (1498-1525) (1951) und insbesondere an desselben Verfassers Rekonstruktion des Preußische(n) Staatsarchiv (s) in Königsberg, Ein geschichtlicher Rückblick mit einer Übersicht über seine Bestände (1955), an Jürgen Petersohns Fürstenmacht und Ständetum in Preußen während der Regierung Herzog Georg Friedrichs 1758-1603 (1963), an Hubatsch' dreibändige Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens (1968), sodann an Götz von Seiles Deutsches Geistesleben in Ostpreußen (1948), an Motekats Ostpreußische Literaturgeschichte mit Danzig und Westpreußen (1977), und schließlich und nicht zuletzt an die Fortführung der Wermkeschen Bibliographie, der Altpreußischen Biographie und der Altpreußischen Geschlechterkunde sowie den Aufbau des Jahrbuchs der Königsberger Albertina zu erinnern, um das Maß kontinuitätssichernder Bemühungen auch im Blick auf Ostpreußen manifest werden zu lassen. Deutlich sein mußte aber auch jedem aufmerksamen und wissenschaftsgeschichtlich geschulten Betrachter, daß die Zeit der retrospektiven Würfe begrenzt sein würde und abgelöst werden mußte nicht nur durch neue Methoden und Verfahrensweisen, sondern auch durch die Notwendigkeit, neue Quellen und Materialien verfügbar zu machen
Vorwort
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und für die Erschließung aufzubereiten. Hier waren in bezug auf Ostpreußen engere Grenzen gezogen als für jede andere Region im alten deutschen Sprachraum des Ostens. Mochten bis zu einem gewissen Grade die polnischen Archive und Bibliotheken zumal in Warschau, Thorn und Allenstein für die Zwecke der ostpreußischen Landesgeschichte auch von westlicher Seite genutzt werden können, so blieb die Ausschöpfung von Bibliotheken und Archiven in der Sowjetunion die Ausnahme - ein sehr lukrativ ausgestattetes Austauschprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion änderte daran so gut wie nichts. Inzwischen ist auch hier ein großer Wandel eingetreten. Die forschungspolitische Lage zeichnet sich gegenwärtig durch ein Kuriosum aus, das gewiß auch nur eine Weile Bestand haben kann. Auf der einen Seite wird das immens gestiegene Bedürfnis nach geschichtlicher Orientierung über einen bis vor kurzem weitgehend unbekannten Raum verlegerisch seit der Öffnung der Grenzen durch großangelegte Gesamtdarstellungen befriedigt. Hartmut Boockmanns Geschichte Ostpreußen(s) und Westpreußen(s) in Siedlers Deutscher Geschichte im Osten Europas (1992) ist das gewiß gediegenste Zeugnis einer rasch wachsenden Zahl von Einführungen, Überblicken, Aufrissen, von den aus dem Boden schießenden Bildbänden, Reiseführern, kunstgeschichtlichen Dokumentationen etc. zu schweigen. Auf der anderen Seite steht die Grundlagenforschung in Gestalt quellensichernder, -verzeichnender, -erschließender Arbeit gänzlich am Anfang. Vor einiger Zeit erst wurde in der Akademiebibliothek Vilnius ein nicht unbeträchtlicher Fundus an Handschriften vor allem aus dem Königsberger Staatsarchiv zugänglich; hinsichtlich weiterer Archivalien vor allem in Rußland (St. Petersburg, Moskau) tappen wir immer noch weitgehend im Dunkeln. Desgleichen nehmen die Bemühungen um die Rekonstruktion Königsberger Buchbestände eben erst festere Umrisse an. Es bleibt ein übergroßes Maß an archivalischer und bibliothekarischer Spurensicherung und Dokumentation zu tun, bevor neue geschichtliche und kulturgeschichtliche Gesamtdarstellungen auf der Basis weitgefächerten und aussagekräftigen Materials mit Erfolg in Angriff genommen werden können. Hier setzte der Kongreß ein. Er ist programmatisch darum bemüht, in interdisziplinärem Zugang Vertreter verschiedener Fachgebiete ins Gespräch zu bringen und nach mehr als sechzig Jahren erstmals wieder eine kulturgeschichtliche Synopsis zu wagen - und das weniger im Überblick, als in der Arbeit am Detail. Daß beim Stand der Forschung Wünsche offen bleiben müssen, ist evident. Der Kongreß konnte nicht mehr, als einen übersehbaren Kreis von Spezialisten - darunter bewußt auch Nachwuchswissenschaftlerinnen - zu vereinen, um Fragen der
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Vorwort
ostpreußischen Kulturgeschichte teils in zusammenfassender, vor allem jedoch in exemplarischer Exegese zu thematisieren. Großer Wert wurde auf die Teilnahme von Wissenschaftlerinnen aus den Nachbarländern des alten Ostpreußen gelegt. Und bewußt wurde auf die Einrichtung von Arbeitsgruppen verzichtet, um allen Teilnehmerinnen die Möglichkeit zur kontinuierlichen Diskussion über die Gesamtheit der Themen zu eröffnen. Durch Referate nicht abgedeckte Aspekte konnten teilweise für die Publikation noch in Bearbeitung gegeben werden. Die Aufsätze des Bandes kreisen um sechs zentrale kulturgeschichtliche Bereiche und behandeln jeweils ausgewählte Probleme aus ihnen. Zunächst wird in drei Aufsätzen der gegenwärtige Stand der buch- und bibliotheksgeschichtlichen Forschung in bezug auf Königsberg, der bibliothekarischen Zentrale des Gebiets, dokumentiert. Die folgenden sechs Aufsätze widmen sich aus unterschiedlichen Perspektiven der historischen und konfessionspolitischen Grundlegung, eröffnet von einer Einführung in die Geschichte des Landes aus der Feder des jüngst verstorbenen Göttinger Historikers Hartmut Boockmann und einer Untersuchung zu den Beziehungen zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem Herzogtum Preußen unter den letzten Jagelionen von dem ebenfalls inzwischen verstorbenen litauischen Kulturgeschichtler Juozas Jurginis, dessen letzte deutschsprachige Arbeit hier veröffentlicht wird. Ausgewählte Fragen der Universitätsgeschichte stehen im Mittelpunkt der nächsten fünf Aufsätze, in denen insbesondere die Rolle der Albertina als geistiges Zentrum des Ostseeraumes vornehmlich mit Blick auf die umliegenden Territorien thematisiert wird. Aus dem weiten Gebiet der Bildenden Künste und der Musik sind sodann vier exemplarische Studien versammelt, wobei es den Herausgebern mit Blick auf die Gestaltung des Bandes ein besonderes Anliegen war, daß gerade diese Beiträge mit zahlreichen Abbildungen ausgestattet werden konnten. Das Bild Preußens in Historiographie und Literatur von der Ordenschronistik bis in die Zeit der Königskrönung wird in den folgenden fünf Aufsätzen aus verschiedenen Forschungsperspektiven heraus entworfen. Vielfach werden dabei bislang unbekannte oder unbeachtete Texte erstmals erschlossen und (wieder) in die Forschungsdiskussion eingeführt. Das gilt ebenso für die fünf Aufsätze, die abschließend einzelne Fragen aus der Literaturgeschichte Ostpreußens und Königsbergs behandeln und literarische Texte interpretierend, bibliographisch-beschreibend oder kritisch-edierend zugänglich machen. So wird mit diesem Band selbst bereits versucht, der Forderung nach gediegener Grundlagenforschung im Rahmen einer neuen Kulturgeschichte Genüge zu tun. Daß das internationale Symposion im Jahre 1994 in einem Rahmen stattfinden konnte, der von allen Teilnehmerinnen und Teilneh-
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mern als äußerst angenehm und sehr anregend empfunden wurde, ermöglichte die großzügige Förderung der Stiftung Volkswagen, der dafür ausdrücklich unser Dank ausgesprochen sei. Vielerlei Unterstützung erfuhren die Organisatoren und Herausgeber von einer Reihe von Personen, denen gleichfalls wärmster Dank abzustatten ist. Zu nennen ist hier an erster Stelle Frau Ljuba Mostakowa in Kaliningrad, die die Idee zu dieser Tagung begeistert aufgriff und mit ihrer Vitalität und ihrem Organisationstalent für einen reibungslosen Verlauf sorgte. Sie führte die Teilnehmerinnen auch während der beiden Exkursionen nach Königsberg und Memel, die den regen wissenschaftlichen Austausch auf das angenehmste unterbrachen und bei allen Beteiligten bleibenden Eindruck hinterließen. Zu danken ist außerdem Prof. Dr. Iwan Koptzev von der Staatlichen Universität Kaliningrad, der seinerseits wichtige Kontakte zur Universitätsverwaltung und den dortigen Kollegen herstellte und während der gesamten Zeit der Vorbereitung des Kongresses ein wichtiger Partner blieb. Auf Seiten der Kaliningrader Universität ist der Vizerektorin für internationale Projekte, Frau Prof. Dr. Vera Zabotkina, für ihre offizielle Unterstützung in jeder Phase unseres Vorhabens zu danken. Ein herzlicher Dank gilt außerdem der Direktorin der Universitätsbibliothek Kaliningrad, Frau Alexandra Shkizkaja, die eigens für das Symposion eine Ausstellung der Anfang der achtziger Jahre in ihr Haus zurückgekehrten Wallenrodiana organisierte und damit erstmals ihre Schätze einer internationalen Gruppe ausländischer Gäste präsentierte. Für ihre Hilfe in der Vor- und Nachbereitung des Symposions und ganz besonders für ihre unermüdliche Tätigkeit am Tagungsort selbst zum Wohle aller ist Olaf Abdinghoff-Feldkemper und Frau Stephanie Meer-Walter zu danken. Frau Meer-Walter begann zusammen mit Winfried Siebers, der selbst in Rauschen anwesend war und über die Tagung in Fachzeitschriften berichtete, auch die redaktionelle Bearbeitung dieses Bandes; später stieß Frau Sabine Kleymann hinzu. Ihnen allen möchten die Herausgeber für die Einrichtung der Manuskripte und für die Korrekturlesungen Dank sagen. Für die abschließenden Arbeiten am Register standen schließlich mit Simon Borgers und Tobias Stich zwei eifrige Helfer zur Verfügung, denen ebenfalls unser Dank gilt. Die Drucklegung des Bandes in der vorliegenden Form wurde durch einen Druckkostenzuschuß der Marga und Kurt-Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e. V. gesichert; für die gänzlich unbürokratische Behandlung unseres Antrags und die Verlängerung der Mittel über den eigentlich für die Publikation ins Auge gefaßten Zeitpunkt hinaus sei dem Vorsitzenden des Kuratoriums, Herrn Dr. h.c. Klaus H. Roquette, verbindlichst gedankt.
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Vorwort
Möge dem Werk eine freundliche Aufnahme beschieden sein und möge es beitragen zur Assimilation einer versunkenen Welt im Rahmen einer von den Regionen her kommenden und aus ihren Kräften sich speisenden europäischen Kulturraumkunde. Duisburg/Osnabrück im Dezember 2000 Klaus Garber, Manfred Komorowski, Axel E. Walter
Klaus Garber
Königsberg als Emblem Einige nachdenkliche Worte der Begrüßung*
Manch einer von uns wird sich während der Vorbereitung auf diese Reise an Simon Dachs »Klage über den endlichen Untergang und ruinirung der Musicalischen Kürbs-Hütte und Gärtchens. 13. Jan. 1641« erinnert haben, in der der Dichter den Abriß des Poetenplätzchens zum Sinnbild für die Vergänglichkeit alles Irdischen erhoben und im Gegenzug das Bleibende vergegenwärtigt hatte: Die Schrift des Dichters, Wort und Verheißung Gottes, den Eingang in die Gnadenwelt nach bestandenem frommen Leben. Keine Stadt des alten VorkriegsDeutschland hat noch in der geschichtlichen Zeit ein so grausames Ende genommen wie Königsberg. Nach dem Bombenterror im August 1944, als die englischen Bomber endlich auch den deutschen Osten erreichen konnten, und der wenige Monate währenden Festungszeit bis zur Kapitulation am 9. April 1945 war anders als in den beiden anderen zerschundenen Metropolen des deutschen Ostens Breslau und Danzig kein politischer Wille vorhanden, zumindest den historischen Stadtkern zu rekonstruieren, um zukünftigen Generationen in der Anschauung von Altem und Neuem die Bildung geschichtlicher Erfahrung zu ermöglichen. Die Domruine auf dem entvölkerten Kneiphof ist das Sinnbild des Untergangs der Stadt geworden, den Herder anläßlich eines Brandes 1764 visionär vorweggenommen hatte. Ihm sind, wie allen anderen kulturellen Zeugnissen auch, die handschriftlichen und gedruckten Träger der Überlieferung, welch letzteren der Dichter doch Dauer zugesprochen hatte, weitgehend zum Opfer gefallen. Es kann und darf deshalb, so will es scheinen, nicht sein, daß wir mehr oder weniger umstandslos zum Tagungsthema hinüberwechseln, uns die Lage der Forschung, das Profil unseres Vorhabens vergegenwärtigen und sodann in die Fachdiskussion einsteigen. Zu vieles bewegt unsere Herzen auf diesem Boden. Für mehrere unter uns ist es die erste Begegnung in erwachsenem Alter mit dem Land der Vorfahren. Für uns alle verbindet sich mit ihm die Erinnerung an, die Konfrontation mit der Vergangenheit unseres Landes. Da dürfen wir nicht sprachlos bleiben, müssen im Angesicht unserer russischen Kollegen, Partner und Rede zur Eröffnung des Symposions am 19. September 1994.
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Klaus Garber
Freunde unsere Gedanken artikulieren, damit wir das Besondere und Einzigartige gerade dieser Zusammenkunft an diesem Ort im fortwährenden Gespräch die Tage über umkreisen und ausloten, wir Deutschen untereinander nicht anders als wir Deutschen mit unseren östlichen Nachbarn und allen voran den russischen. Gewiß geht es auch um die Politik, zugleich jedoch um sehr viel mehr und anderes, und das berechtigt, nein verpflichtet Historiker, Kulturwissenschaftler, Sachwalter des Wortes und der geschichtlichen Erinnerung, den Austausch zu suchen und einander zuzuhören bei dem Versuch, des Stroms der Gedanken, Gefühle, Erinnerungen Herr zu werden. Ich kann nicht vergessen, als Schulkind über den Atlas gebeugt zu sitzen, wie manisch zu den Seiten zurückkehrend, auf denen der Osten Deutschlands jenseits von Oder und Neiße karthographisch dargestellt war, die mächtige Ausdehnung Preußens mit der Provinz Posen im Kaiserreich, die Abtrennung Memels, Danzigs nach 1918 mit der nun entstehenden Enklave Ostpreußens wie ehemals vor den polnischen Teilungen, dann die Karten nach 1945 mit dem immer wiederkehrenden Aufdruck: »Zur Zeit unter polnischer« - »zur Zeit unter sowjetischer Verwaltung«. Insbesondere letztere Angabe, über einer rot gestrichelten, quer durch Ostpreußen verlaufenden Demarkationslinie, erregte Phantasie und Neugier des Kindes, das keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen mit dem fernen und doch nahen Landstrich oberhalb Danzigs und Elbings an der Ostseeküste verband. Diese Eindrücke haben den Lebensweg begleitet und waren nicht zu tilgen. Als 1979 im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine achtwöchige Bibliotheksreise durch die DDR und Polen angetreten werden konnte, bestand ich gegenüber meinen Danziger Gastgebern darauf, an die Stelle gefahren zu werden, da die Straße durch das alte Ostpreußen nach Königsberg an der polnisch-russischen Grenze im Nirgendwo endete, die Augen suchend und spähend sehnsüchtig weiter nach Osten gerichtet. Als 1984 die erste der großen Bibliotheksreisen in die Sowjetunion mit Hilfe der DFG und der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften vorbereitet wurde, meldete ich den illusorischen Wunsch an, nach Königsberg reisen zu dürfen und wiederholte ihn vor allen folgenden Exkursionen. Als 1990 die ersten Züge die östlichen Grenzen wieder ohne vorherige Visabeschaffung passierten, ertappte ich mich bei der Hoffnung, einfach bis Königsberg im Zuge sitzen bleiben zu können, so wie man vor dem Krieg umstandslos in den Zug nach Königsberg stieg. Erst 1992 wurde der erste Bibliotheksund Archivbesuch möglich und damit die Bekanntschaft mit den Menschen, die heute von russischer Seite unter uns sind. Warum dieser Drang eines gebürtigen Hamburgers gerade nach Königsberg so wie zu keiner anderen Stadt des alten deutschen Ostens?
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Es war, so denke ich heute, das Rätsel, daß eine über Jahrhunderte blühende und mit dem Schiff, mit der Bahn, schließlich mit dem Flugzeug leicht erreichbare Stadt mit einem Schlag gänzlich unerreichbar geworden war, und zwar in dem doppelten Sinne, daß man nicht mehr zu ihr reisen konnte, und wenn man es gekonnt hätte, sie nicht mehr angetroffen hätte, weil sie vom Erdboden verschwunden war oder genauer, weil sie ihre Existenz vertauscht hatte, so daß an einem und demselben Flecken an dem Pregel zwei Städte verschiedenen Namens standen, die eine Zäsur trennte so tief wie nie zuvor in der Geschichte. Diese Zäsur aber beschränkte sich nicht auf Königsberg, nicht auf das nördliche Ostpreußen, betraf in erster Linie, aber keinesfalls ausschließlich die Deutschen, sondern ebenso auch die Polen und die Russen, letztlich aber die Europäer insgesamt. Wie war es möglich, daß sieben Jahrhunderte geschichtlichen Lebens in wenigen Monaten ausgelöscht wurden und auf scheinbar geschichtslosem Boden ein gänzlich neues, mit der vorangehenden Geschichte scheinbar gänzlich unverbundenes Leben begann? Und wie merkwürdig berührte es, daß dieser radikale Umschlag gerade von den Dichtern des Barock, auf dessen Spuren der Bibliotheksreisende über Jahrzehnte sich bewegte, immer wieder und gerade auch am Beispiel Königsbergs besungen, bedacht, vorhergesagt worden war, dieser Umschlag aus der Geschichte in die Natur, aus dem Leben in den Tod, aus der Zeit in die Ewigkeit. Keine Stadt machte die Wahrheit des Gedichteten so sinnfällig wie Königsberg. Stellvertretend für alles von Menschen Gemachte schien die nördlichste Stadt jenseits der Grenzen des alten Reichsverbandes aber inmitten des alten deutschen Sprachraums das Sinnen der Dichter des Barock sinnbildhaft, eben emblematisch zu repräsentieren, das Gedichtete gegen alle Einreden eines späteren aufgeklärten geschichtsphilosophischen Optimismus abzuschirmen und die Wahrheit des Geschichtspessimismus, der Trauer, der Naturverfallenheit von Geschichte schlagend und unwiderleglich zu bekräftigen. Hat es Sinn, das Leid und Elend der Menschen wie der Städte des Zweiten Weltkriegs gegeneinander abzuwägen? In Königsberg sind die geschichtlichen Katastrophen unseres Jahrhunderts manifest wie vielleicht in keiner Stadt sonst. Gibt es ein eindrücklicheres geschichtliches Denk-Bild als das der Ruine des Königsberger Domes auf einem Kneiphof, der - von Menschen und Bauten gänzlich entblößt - wieder zur Wiese geworden ist, genau so wie Gryphius dies in seinem vielleicht berühmtesten Gedicht bedeutet hatte: Wo itzund Städte stehn/ wird eine wiesen sein Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.
Ich sage dies im Angesicht unserer russischen Gäste, Kollegen, Freunde, weil ich seit meinem ersten Besuch weiß und nie vergessen werde,
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daß viele der heute in dieser Stadt Kaliningrad lebenden Menschen ein zuweilen unbändiges Verlangen anwandelt, der Vergangenheit dieser Stadt wieder ansichtig zu werden, Zeugen der Zeit vor 1945 im Bild der Stadt zu begegnen, visuellen Kontakt zu gewinnen mit Häusern, Villen, Kirchen, Denkmälern, Straßenzügen, die sie hinausgeleiten aus dem trostlosen Einerlei eines grauen funktionalen Plattenbaus - nicht in eine sentimentale heimatliche Vergangenheit, die es für sie nicht geben kann, sondern ausbrechend aus einer tabuisierten Zone des gewaltsamen Ausradierens, Verleugnens, Verfälschens einer vorrussischen deutschen Zeit hin in einen geschichtlichen Raum, in dem die deutsche und damit die jüdische, aber auch die litauische, die baltische, die polnische Vergangenheit in Wort und Stein, Ton und Bild wieder so gegenwärtig ist, daß sie dem gegenwärtigen, von russischen Menschen geprägten Leben sich einbilden, assimilieren, verbinden kann, über dem totalen und gewaltsamen Abgrund die Fäden neu gesponnen werden hinüberführend von dem Einst zum Jetzt und zurück. Unvergeßlich bleibt dem Besucher die Gebärde des Zorns, der Trauer, der ohnmächtigen Empörung unter den Einheimischen, daß ihnen noch in den sechziger, ja den siebziger Jahren diese letzten anschaulichen Repräsentanten einer anderen Zeit genommen wurden, allen voran die Ruine des herzoglichen bzw. königlichen Schlosses. Gelangt nicht die Isolierung der Herrschenden in dieser Ehrfurchtslosigkeit vor der gebauten, mit orientierenden Zeichen versehenen Umwelt gegenüber den von ihnen regierten Menschen am drastischsten zum Vorschein? Sie ist wahrlich keine Königsberger, nicht einmal eine totalitären Staatsformen eigene Spezialität, wie genügend Beispiele auch in unserem Lande lehren. An Königsberg aber sollte ein Exempel an einer ganzen Stadt statuiert werden, daß der Mensch der Herr der Geschichte sei, frei über sie verfügen könne, mit einem Federstrich Jahrhunderte auslöschend wie mit einem anderen ein vermeintlich neues Kapitel eröffnend. Daß dieser autoritären Hybris hüben wie drüben vor unseren Augen als Zeitzeugen der Stachel genommen, das Nichtige, Zukunftslose, Menschenverachtende fehlender Ehrfurcht vor dem Wirken der Vorfahren offenbar wurde, ist die Lehre unserer Tage am Ende dieses hybriden Jahrhunderts, von dem sich schon abzuzeichnen beginnt, daß es als eines der gescheiterten Totalitarismus-Gläubigkeit, des so vielleicht nie dagewesenen Frevels an der Geschöpflichkeit des Menschen, in die Geschichte eingehen dürfte. Die Idee zu diesem unseren Kolloquium, so viel sei einbekannt, kam an der Seite meiner russischen Übersetzerin und ihres verzweifelten Willens, die untergepflügte deutsche Vergangenheit in der Steinwüste Kaliningrads wieder lebendig werden zu lassen. Soll die Chance, die diese Jahre bergen, nicht ungenutzt verstreichen, so müssen wir uns
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gemeinsam als Historiker der verschiedensten Couleur über unsere Vergangenheit wie unsere Gegenwart beugen, weil nur in dem Maße, wie wir sie gemeinsam entziffern und gestalten, die Wortlosigkeit, die Blindheit - und was heißt das anders als die Angst, die Aggression, die Gewalt - von uns weichen. Dieses kleine Symposion findet abseits von Königsberg statt, abseits damit auch von den deutsch-russischen Feierlichkeiten anläßlich des vierhundertfünfzigjährigen Jubiläums der Königsberger Universität, die genau eine Woche nach uns eröffnet werden. Es wäre unredlich zu verschweigen, daß wir auch mit ein wenig Neid zu diesem gewiß spektakulären Ereignis herüber schauen. Intendiert aber war bewußt an dieser Stelle etwas anderes, vielleicht alternatives. Es sollte befreit vom Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, da jedes Wort bedachtsam und abwägend zu wählen ist, das intensive Gespräch mit unseren Nachbarn und vor allem unseren russischen Gastgebern und Kollegen über den immer hilfreichen Umweg der Geschichte eröffnet werden. Dieses bedarf der Muße des Sprechens nicht anders als der des Zuhörens, im Konferenzraum nicht anders als draußen im Wald, am Wasser, auf den Dünen. Diese von der Volkswagen-Stiftung wahrhaft in letzter Minute eröffnete Möglichkeit werden wir, so denke ich, dankbar ergreifen; und in diesem Sinn möchte ich uns recht erfüllte gemeinsame Stunden und Tage wünschen, in denen vielleicht hier und da Bande geknüpft werden, an denen die Spur zukünftigen Umgangs und Verstehens unter uns wie unter unseren Völkern haften bleibt.
I. DAS VERSUNKENE KÖNIGSBERG VERLORENE BIBLIOTHEKEN UND GERETTETE BÜCHER
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Apokalypse durch Menschenhand Königsberg in Altpreußen Bilder einer untergegangenen Stadt und ihrer Memorialstätten l. Umrisse eines Portraits Königsberg ist wieder zugänglich. Eine Jahrzehnte hermetisch abgeriegelte Stadt in einer von der Zeit mancherorts unberührten Ostseelandschaft erreicht der Reisende heute auf dem Land-, Wasser- und Luftweg fast gleich bequem. Aber findet er, was er suchte? Ungezählte kommen, so hören wir, um nie wiederzukehren. Zu drastisch erscheint die Diskrepanz zwischen dem Bild, das sie in sich tragen, und der Wirklichkeit, die sie vorfinden. Es scheint, die Stadt stirbt für sie erst endgültig während dieser neuerlichen Begegnung nach Jahrzehnten. Andere, so wissen wir, wagen den Aufbruch überhaupt gar nicht, fürchten den Schock, möchten das Antlitz der Stadt aus der Kindheit und Jugend bewahren bis in den Tod. Wer vermöchte das nicht zu verstehen? In der Stadt selbst aber gibt es genügend Menschen, die sich nach Kräften bemühen, den ihre Heimat Suchenden eine Brücke aus dem Einst in das Jetzt zu bauen, sie zu den Inseln des Bewahrten zu geleiten, ihren Schmerz zu dämpfen. Jeder der Stadt verbittert, vielleicht gar versteinert den Rücken Kehrende enttäuscht auch die auf Heilung bedachten Einheimischen. Sie haben sich in einer vom Erdboden verschwundenen, von Menschen verlassenen fremden Stadt niedergelassen, die so oder so die ihre ist und zu der sie keine Alternative kennen. Mehr als einer ist inzwischen darauf aus, die Spuren dessen, was einst war, zu erkunden, der Geschichtslosigkeit zu entrinnen, das fremde, einst dagewesene Leben dem eigenen zu assimilieren. Was not täte, wäre die gemeinsame Bemühung um das, was war, nicht anders als um das, was sein soll. Freilich fürchten wir, sechs Jahre selbst schon nicht mehr in der Stadt gewesen, daß Hoffnungen solcher Art rasch gewelkt sind. Die Menschen in der Stadt werden ihren Weg in die Zukunft weitgehend alleine zu gehen haben. Und es ist weder abzusehen, welche Richtung er nehmen soll, noch wohin er schließlich führen wird. In Ratlosigkeit, das muß eingestanden werden, weit entfernt von dem Elan des Aufbruchs zu Anfang der neunziger Jahre, wenden wir uns erneut zurück in die Geschichte der Stadt, ihrem Aufstieg, ihrer kulturellen Akzeleration im Spiegel derjenigen Stätten nachgehend, in
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denen ihr Geschick für alle Zeiten aufgehoben und geborgen sein sollte und die wie die vertraute Silhouette binnen weniger Monate ins Nichts zergingen. Das Sinnen über das Schicksal Königsbergs ist eines über Ursprung und Ziel der Geschichte selbst, und wenn am Ende theologische Einschläge die Erinnerung durchwirken, so dies doch nur im Einklang mit den Besten, die die Stadt lange vor ihrem definitiven Ausscheiden aus einer siebenhundertjährigen Geschichte als Menetekel apokalyptischer Gewalten angeschaut und erschaudernd im Bild ihres Untergangs nach dem Bleibenden geforscht hatten.1 In die Geschichte eingetreten ist sie später als die Metropolen, mit denen sie sich alsbald messen konnte, Danzig, Elbing, Riga, Reval, die - näher am lebenspendenden märe balticum gelegen - schon miteinander verkehrten, als Königsberg noch nicht erwacht war. Aber auch die Ordensgründungen Thorn, Kulm, Braunsberg und Marienburg sind um einige Dezennien älter. Warum also blieb der Aufstieg und die Überflügelung der Städte Altpreußens mit Ausnahme vielleicht der einen mächtigen Konkurrentin, der Handelsmetropole Danzig, gerade Königsberg vorbehalten? Weil die Stadt in die Katastrophe des Ordens nicht hineingezogen wurde und weil sie die Kraft besaß, die Ordensherrschaft abzuschütteln, ohne darüber zu zerbrechen; genauer, weil sie zum Promotor des Übergangs der alten in die neue Welt wurde und fortan alle innovativen Impulse von ihr ausgingen. Schon zu Anfang des 15. Jahrhunderts war in der Auseinandersetzung mit dem mächtigen polnischen Nachbarn in der sagenumwobenen Schlacht bei Tannenberg nach einem Jahrhundert der Blüte und Expansion die Schwäche des Ordens zutage getreten. Aber sie wurde aufgefangen. Erst als aus dem Inneren des Ordensstaates die Krise heraufbrach, die Stände und zumal die Städte aufbegehrten, brach der geistliche Staat auseinander. Thorn, Elbing, Danzig, alle ein Jahrhundert zuvor hinzugewonnen, fielen im Thorner Frieden 1466 an die polnische Krone zurück. Die Marienburg mußte aufgegeben, unter den großen Städten vermochte nur Königsberg gehalten zu werden. Folglich verlegte der Hochmeister den Ordenssitz in die Stadt am Pregel. In ihr und 1
Zu diesem einleitenden Passus möge man beispielsweise von den Publikationen jüngeren Datums nachlesen: Michael Wieck: Zeugnis vom Untergang Königsbergs. Ein >Geltungsjude< berichtet. Mit einem Vorwort von Siegfried Lenz. Heidelberg: Heidelberger Verlagsanstalt 1990 (auch als Taschenbuch in der HVA 1993); Juri Iwanow: Von Kaliningrad nach Königsberg. Auf der Suche nach verschollenen Schätzen. Mit einem Vorwort von Jochen D. Range. Aus dem Russischen von Imke Menzl und Jochen D. Range. Leer: Rautenberg 1991; Eberhard Beckherrn, Alexej Dubatow: Die Königsberg Papiere. Schicksal einer deutschen Stadt. Neue Dokumente aus russischen Archiven. München: Langen Müller 1994; Christian von Krockow: Begegnung mit Ostpreußen. 2. Aufl. Stuttgart: Deutsche Verlangsanstalt 1994.
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in der nahegelegenen Ordensburg Tapiau fanden die Insignien der Herrschaft des Ordens, die schriftlichen Zeugnisse seiner Geschichte, Gründungsdokumente, Urkunden, Privilegien eine neue Heimstatt. Königsberg wahrte das Erbe des Ordensstaates - und tat dies, von Kriegen, Katastrophen, Besatzungen weitgehend verschont, für fast genau fünfhundert Jahre, als dann binnen Monaten auch das Vermächtnis Marienburgs und Tannenburgs - beide zu Symbolen der verbrecherischen Herrschaft erhoben - aus den Mauern der bedrohten Stadt herausgeschafft werden mußten, bevor ihr der Todesstoß versetzt wurde. Für ein knappes halbes Jahrhundert war sie als Hauptstadt des geschrumpften Ordens dazu ausersehen, Wahrerin des Überkommenen und Kristallisationspunkt des Neuen zu werden. Nach der lebensbestimmenden Begegnung des jungen Hohenzollern-Fürsten Albrecht von Brandenburg-Ansbach mit Wort und Geist des erneuerten Glaubens im Nürnberg des wortgewaltigen Osiander und nach der nicht weniger prägenden Begegnung mit dem Reformator in Wittenberg selbst, der den entscheidenden politischen Wink gab, war das Ende des geistlichen Ordensstaates prinzipiell besiegelt und das nordöstliche Preußen mit seiner einzigen Kapitale Königsberg auf dem Weg zum weltlichen Herzogtum unter dem Banner des jungen Evangeliums.2 2
Zur Geschichte Ost- und Westpreußens liegen eine abgeschlossene und eine im Entstehen begriffene moderne Gesamtdarstellung vor, die für den folgenden Abriß v. a. herangezogen wurden. Das Werk von Hartmut Boockmann: Ostpreußen und Westpreußen. Berlin 1992 (3. Aufl. ebd. 1995), eröffnete die so erfolgreiche und gleichfalls noch nicht abgeschlossene, auf zehn Bände konzipierte Reihe Deutsche Geschichte im Osten Europas im Siedler-Verlag. Im Rückblick muß man dankbar sein, daß es dem allzu früh verstorbenen Historiker vergönnt war, das Werk fristgerecht und seinen Intentionen entsprechend zu vollenden. Ihm ist unverkennbar anzumerken, daß es aus der Feder eines Mediävisten und Spezialisten für die Geschichte des Deutschen Ordens stammt; mehr als ein Drittel des Textes ist diesem Auftakt Ost- und Westpreußens gewidmet. Das Werk enthält dankenswerterweise neben einem reichhaltigen Literatur-Apparat ein ausführliches, sehr instruktives Kapitel zur Historiographie. - Die Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung ist der Initiator und Träger für das Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens, das seit 1994 im Institut Nordostdeutsches Kulturwerk Lüneburg, hrsg. v. Ernst Opgenoorth, im Rahmen der Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung als zehnter Band erscheint. Ob der Titel >Handbuch< freilich zutreffend ist, wäre zu diskutieren. Die Artikel sind lexikonartig verknappt und auf ein Grundgerüst von Informationen reduziert, was schwerlich Aufgabe eines Handbuchs sein dürfte. Von dem Werk liegen vor der für uns besonders wichtige zweite Band in zwei Teilbänden: Teil 2/1: Von der Teilung bis zum SchwedischPolnischen Krieg 1466-1655 (1994), Teil 2/2: Vom Schwedisch-Polnischen Krieg bis zur Reformzeit 1655-1807 (1996), sowie Teil 4: Vom Vertrag von Versailles bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1918-1945 (1997). Das Erscheinen des dritten Bandes (1807-1918) war für Ende 1998 vorgesehen; ein Erscheinen des ersten Bandes ist derzeit nicht absehbar. Vgl. Bernhart Jähnig: Bericht über die Jubiläumstagung der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Lan-
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Die Stadt war nach ihrer Gründung rasch expandiert und erbrachte damit augenfällig den Nachweis, daß sie an der richtigen Stelle angelegt worden war und ganz offensichtlich einem Bedürfnis genügte.3 Im Urdesforschung in Elbing vom 15.-17. Mai 1998. In: Preußenland 36 (1998) 34-40, S. 39f. Das Werk »sieht grundsätzlich gleichmäßig drei große Bereiche vor: l. Politik einschließlich Verfassung, Verwaltung, Recht und Militär; 2. Wirtschaft, Gesellschaft und Bevölkerung; 3. religiöses und kulturelles Leben einschließlich Bildung. [...] Mit diesem Aufbau soll dem traditionellen Vorrang der politischen Ereignisgeschichte entgegengewirkt und ermöglich werden, die drei großen Gebiete in einer eher auf Strukturen bezogenen Betrachtungsweise grundsätzlich gleichrangig und in ihren Wechselbeziehungen zu behandeln.« (Gleichlautendes Vorwort des Herausgebers zu den einzelnen Bänden, jeweils S. Vif.) Dieses überaus begrüßenswerte Vorgehen läßt freilich um so deutlicher werden, wie viel gerade in den Kulturwissenschaften und speziell der Literaturgeschichte noch nachzuarbeiten ist und wie viel von dem bislang denn doch Erarbeiteten in den Kreislauf der Geschichtswissenschaften noch eindringen muß. - Eine Geschichte der deutschen Literatur im Osten Europas parallel zur deutschen Geschichte im Osten Europas ist dringendes Desiderat; vgl. Klaus Garber: Literaturgeschichte als Memorial-Wissenschaft. Die deutsche Literatur im Osten Europas. In: Probleme und Methoden der Literaturgeschichtsschreibung in Österreich und in der Schweiz. Beiträge der Tagung in Innsbruck 1996. Hrsg. v. Wendelin SchmidtDengler. Wien: Edition Praesens 1997 (= Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik, Beiheft 1/1997), S. 39-53. - Durchaus lesenswert bleibt im übrigen Bruno Schumacher: Geschichte Ost- und Westpreußens. Königsberg: Gräfe & Unzer 1937 (= Ostpreußische Landeskunde in Einzeldarstellungen), 7., durchges. Aufl. Würzburg: Holzner 1977. - Darüber hinaus erübrigen sich rein titularische Erwähnungen hier wie im folgenden angesichts der für den Berichtszeitraum von den Anfängen bis 1974 mustergültigen Bibliographie von Ernst Wermke: Bibliographie der Geschichte Ost- und Westpreußens. 4 Bde. Königsberg: Gräfe & Unzer 1933 [Bd. 1], Bearb. im Auftrag der Historischen Kommission für ost- und westpreussische Landesforschung. Aalen: Scientia 1964 [Bd. 2], Bonn-Bad Godesberg: Verl. Wiss. Archiv 1974 [Bd. 3], Marburg/Lahn: Herder-Institut 1978 (= Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, 109) [Bd. 4]. - Wer v. a. an der älteren Literatur interessiert ist, greift zu den beiden Standardwerken der beiden großen preußischen Landeskundler und Litterärhistoriker des 18. Jahrhunderts: Michael Lilienthal und Georg Christoph Pisanski. Ihre für unseren Zusammenhang wichtigsten Schriften sind in einem kleinen Anhang mit einigen kommentierenden Bemerkungen zusammengestellt. Vgl. zu beider Schaffen aber auch die Anm.4, 6, 11, 136. Grundlegend zur Geschichte Königsbergs dann bekanntlich Fritz Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen. 3 Bde. Köln, Graz: Böhlau 19651971, 2. erg. Aufl. ebd. 1996. Hier in der l.Aufi., Bd. 3, S. 181-234, »Quellen und Literatur«; dieses Verzeichnis in der 2. Aufl., Bd. 3, S. 329-351, ergänzt um ein Verzeichnis »Quellen und Literatur seit 1970« von Peter Woerster. Das Werk Gauses ist selbst über die Darstellung hinaus zu einer Quelle der Geschichte Königsberg herangewachsen, speist es sich doch aus allen dem ehemaligen Leiter des Stadtarchivs und des Stadtmuseums verfügbaren Quellen und Daten, vielfach aus der reichen Erinnerung dem Bild integriert. Mit diesem Werk ist der untergegangenen Stadt ein Denkmal gesetzt worden, wie es wenige aus Schutt und Asche wiederauferstandene ihr eigen nennen dürfen. Daß es in hohem Lebensalter von dem zweifellos besten Sachkenner abgeschlossen und in allen Teilen auf
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sprungstal des Pregel just an jener Stelle errichtet, wo der Samländische und Natangische Pregel von zwei Querarmen verbunden wurden, kam ihr die insulare Mittellage des späteren Kneiphof nicht weniger charakteristisch zugute als das nahegelegene Samländische Hügelland, das oberhalb der drei Inseln dicht an den Fluß herabtrat. Über alle geschichtlichen Katastrophen hinweg bewahrte die Fluß- und Hügellandschaft mit dem Kneiphof in der Mitte, dem alsbald angelegten mühlenund späteren buchen- und birkenumstandenen Schloßteich und dem hellen Ostseehimmel ihr natürliches Bild, bis das von Menschenhand in Jahrhunderten aufgeführte bauliche Kunstwerk zerging. Von alters her verliefen Landstraßen über diesen Übergang des Pregel, die aus dem Südwesten kommend hinaufführten zur Bernsteinküste, nach Litauen und nach Kurland. An die Ferne aber fand die Stadt Anschluß über den Fluß, der als einziger im Samland heranführte an die Ostsee und Königsbergs Reichtum über den Handel begründete. Mächtiger Blickfang blieb die Burg, die den Pregel-Übergang deckte, schon von den Prußen angelegt, gleich nach ihrer Unterwerfung von dem Orden unter dem Böhmenkönig Ottokar neu errichtet. Zu ihm, dem tschechischen Königssohn, hat sich die Stadt als ihren Namenspatron bekannt, ihm auf Münzen, durch das städtische Wappen mit der roten Krone und in Denkmälern gehuldigt und damit auf andere Weise ihren völkerverbindenden Charakter im hohen Norden, der ihre Bestimmung werden sollte, frühzeitig bekräftigt. Die Stadt aber, die sich da unmittelbar nach der Verleihung der Handfeste im Jahr 1286 in einem zweiten Anlauf und nun definitiv unterhalb der Burg entfaltete, wuchs rasch, so daß schon mit Beginn des neuen Jahrhunderts eine weitere Gründung vorgenommen werden mußte - die Neustadt oder der alsbald sog. Löbenicht, dem sich kein Vierteljahrhundert später mit dem Kneiphof, auf dem zunächst das Domkapitel Platz griff, eine dritte Gründung hinzugesellte. Als Dreistadt hat Königsberg bis in das Jahr 1724 hinein fungiert. Und das ist kulturgeschichtlich von kaum hinlänglich auszuschöpfender Bedeutung geworden. Denn es verdreifachten sich ja nicht nur die politische Spitze und die Administration, sondern Kirchen und Schulen mit ihrem Personal, ihren wie auch immer rudimentären Archiven und Bibliotheken traten auf engem gleicher Höhe der Sacherschließung und Darstellung gehalten werden konnte, will als das schönste Vermächtnis erscheinen, das der Stadt zuteil werden konnte. Die folgende Einleitung ist, ohne daß Einzelnachweise erforderlich wären, dem Gauseschen Werk auf jeder Seite verpflichtet. Neben der Darstellung Causes auch gerne des weiteren heranzuziehen gerade im Blick auf die Entwicklung der kulturgeschichtlichen Aspekte (ungeachtet der gelegentlich völkisch-nationalen Phraseologie): Walther Franz: Geschichte der Stadt Königsberg. Königsberg: Gräfe und Unzer [1934] (= Ostpreußische Landeskunde in Einzeldarstellungen,
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Raum zusammen, begünstigten Austausch und Fluktuation, aber auch konkurrierende, voneinander abweichende Wege in Bekenntnis und Bildung.4 4
Zur kulturellen Topographie Königsbergs ist soeben der älteste Versuch dankenswerterweise wieder zugänglich geworden: Caspar Stein: Das Alte Königsberg. Eine ausführliche Beschreibung der drei Städte Königsberg samt ihren Vorstädten und Freiheiten wie sie anno 1644 beschaffen waren. Ins Deutsche übertragen von Arnold Charisius. 3 Hefte. Königsberg: Schubert & Seidel 1910-1911, Ndr. Hamburg: Selbstverlag des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen 1998 (= Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e. V, 91). Stärker topographisch orientiert ist: Michael Hoynovius (Präs.), Henricus Bartsch (Resp.): Dissertatio geographica de situ Regiomonti. Königsberg: Reusner 1687. Eine äußerst konzentrierte, sachhaltige und kompetente Einführung in die soziale und institutionelle Topographie der Stadt bietet auch die gewiß von Lilienthal stammende und ausdrücklich für nicht Ortskundige bestimmte: Summarische Beschreibung der Stadt Königsberg. In: Erleutertes Preussen l (1723), 3. Stück, S. 200-336. Sie hat in gewisser Weise eine Fortsetzung gefunden in: Nachricht, von der ehemaligen Situation der Stadt und des Schlosses Königsberg. In: Erleutertes Preußen 5 (1741), 2. Stück, S. 204210. Unter den älteren Darstellungen mit stark topographisch-kunstgeschichtlichem Einschlag vgl. sodann v. a. Georg Christoph Pisanski: Betrachtungen über das Wachstum der Stadt Königsberg. Königsberg: Driest 1755 (= Programm der altstädtischen Parochialschule); ders.: Von den Merkwürdigkeiten der Stadt Königsberg. Ein Gespräch. In: Das jubilirende Königsberg in Preussen bey dem erneuerten Andenken seiner vor 500 Jahren 1255 geschehenen Anlage. Nebst einem Vorberichte von dessen Erbauung und der deshalb im Jahre 1755 angestellten Jubelfeyerlichkeiten. Hrsg. v. Jacob Henrich Ledert. Königsberg: Driest 1755, S. 356; Ludwig von Baczko: Versuch einer Geschichte und Beschreibung der Stadt Königsberg. 7 Hefte. Königsberg: Härtung 1787-1790, 2. Aufl. ebd. 1804, sowie die beiden bekannten Werke von Karl Faber: Taschenbuch von Königsberg, enthaltend eine historisch-topographisch-statistische Beschreibung der Stadt und ihrer Umgebung. Königsberg: Universitäts-Buchhandlung 1829.; ders.: Die Haupt- und Residenzstadt Königsberg in Preußen. Das Merkwürdigste aus der Geschichte. Beschreibung und Chronik der Stadt. Königsberg: Gräfe & Unzer 1840, Ndr. Wiesbaden: Sandig 1970. Sehr lesenswert auch Karl Rosenkranz: Königsberger Skizzen. Erste [und] Zweite Abtheilung. Danzig: Gerhard 1842. Zu den Wappen der Stadt vgl. August Wilhelm Hensche: Wappen und Siegel der Königlichen Haupt- und Residenzstadt. Leipzig: Brockhaus 1877. (Zu den Wappen des Deutschen Ordens vgl. A. B. E. von der Oeslnitz: Herkunft und Wappen der Hochmeister des Deutschen Ordens 1198-1525. Königsberg: Kommissionsverlag Bruno Meyer 1926 [= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 1]). - Sehr interessant ist natürlich auch die ältere topographisch-kulturgeschichtliche Literatur zum Territorium, auf die hier nur ganz summarisch in Auswahl verwiesen werden kann. Sie setzt ein mit einem Encomium Borussiae von Joachimus Rheticus (1539), wiederabgedruckt in: Acta borussica 2 (1731) 431-455, das in der neulateinischen Dichtung ein vielfältiges Echo fand. Sehr ergiebig ist: Caspar Hennenberger: Kurtze und warhafftige Beschreibung des Landes zu Preussen. Item: Der alten Heidnischen Undeutschen Preussen, sampt irer Religion Göttern Bäpsten und Pfaffen: Aberglauben Stenden Sitten Kriegsrüstung Sterben vnd Begrebnis etc. Wie sie es nach irer gewonheit ehe und dann sie durch den Orden gezwungen vnd zum christlichen Glauben bekert worden sind in allerley stücken gehalten
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Die Verfassungen ähnelten sich natürlich; die älteste Gründung eben deshalb fortan Altstadt tituliert - war eine Schöpfung nicht Lübischen sondern Kulmer Rechts. Alle drei Städte aber unterschieden sich charakteristisch in ihrem Bild. Wurde die Altstadt nach dem Niedergang des Ordens beherrscht von dem Rathaus, das Versammlungsplatz für die politischen Spitzen aller drei Städte blieb, so der Kneiphof von dem mächtigen Dom, während der Löbenicht einen bescheideneren baulichen Zuschnitt besaß. Die Altstadt blieb mit dem Privileg der Gründung in unmittelbarer Burgnähe begabt, der Kneiphof war ganz auf die expandierende Kaufmannschaft hin angelegt, während der Löbenicht sich als eine typische Handwerkergründung auswies. Überlagert und überformt aber wurde die Dreistadt von Beginn an durch die Funktion als Sitz des Ordens-Schaffners und des Bischofs, die sich auf andere Weise in der Präsenz des Herzogs und seiner Verwaltung fortsetzen sollte. Kulturelle Vielfalt profitiert im späten Mittelalter und die gesamte Frühe Neuzeit über von der Anwesenheit gemischter, >durchwachsener< Herrschafts- und Glaubensverhältnisse auf engstem Raum. So am frühesten in Böhmen, so geradezu paradigmatisch in Schlesien und so auf andere Weise in Altpreußen. Überhaupt gar nicht zu überschätzen war die kirchenrechtliche Struktur, deren Kennzeichen darin bestand, daß Bischofssitz und Domkapitel grundsätzlich räumlich getrennt blieben: das Kulmländische Kapitel in Kulmsee mit dem Bischof von Kulm in Löbau, das Pomesanische Domkapitel in Marienwerder mit dem Bischof von Pomesanien in Riesenburg, das Ermländische Domkapitel in Frauenburg mit dem Bischof von Ermland in Heilsberg und das Samländische Domkapitel in Königsberg mit dem haben. Letztlichen eine Kurtze Austeilung des Landes wie dasselbige in der Heidenschafft ehe es der Orden bezwungen genannt vnd bewonet worden. Auch was für Schlösser vnd Stedte in jderm Fürsthentum gelegen sind. Königsberg: Osterberger 1584, zu der hinzugenommen werden muß: ders.: Erclerung der Preussischen grössern Landtaffel oder Mappen, Der See Ströme vnd Flüsser namen. Königsberg: Osterberger 1595. Ein schönes zeitgenössisches Bild vermittelt natürlich die Zeilersche Topographie bei Merian (M[artin] Z[eiler]: Topographia Prussiae, et Pomerellis, Das ist, Beschreibung der vornehmsten Städte, und Oerther, in Preussen und Pomerellen. Frankfurt: Merian 1652). Das klassische Werk aus dem 18. Jahrhundert liegt dann vor mit: Johann Friedrich Goldbeck: Vollständige Topographie des Königsreichs Preußen. 2 Bde. Königsberg, Leipzig: Kanter 1785-1789. Vgl. aber auch Michael Lilienthal: Entwurff eines Collegii Historici über die Antiquitäten und andere Merckwürdigkeiten des Königsreichs Preussen. Königsberg: Reußner 1714. Zur Kunstgeschichte dann das große Standardwerk: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Ostpreußen. Im Auftrage des Ostpreußischen Provinzial-Landtages bearb. v. Adolf Boetticher. Königsberg: Teichert 1891-1899 (Heft l behandelt das Samland, Heft 2 Natangen, Heft 3 das Oberland, Heft 4 das Ermland, Heft 5 Litauen, Heft 6 Masuren. Heft 7 Königsberg; Heft 8 bietet neben den Nachträgen eine zusammenhängende Darstellung »Aus der Kulturgeschichte Ostpreußens« (1898); Register 1899).
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Bischof von Samland in Fischhausen. Als dann mit der Reformation die Verhältnisse sich wandelten, blieb wiederum das Verharren des Ermlands beim alten Glauben bestimmend, das erneut ein fruchtbares Element alternativer Geistigkeit und mäzenatischer Kulturpolitik in die Region trug. In der Stadt kehrte die Ausdifferenzierung auf engstem Raum wieder. Jede der Städte hatte eine Kirche - aber eben nur eine; jede bürgerliche Gemeinde war also zugleich Pfarrgemeinde. Auch die bischöfliche Kathedrale auf dem Kneiphof figurierte als Gemeindekirche - ein Zusammenspiel, in dem das Ineinanderwirken von geistlicher und bürgerlicher Welt schon ganz früh sinnfällig zur Anschauung kam, wie es sich auf andere Weise nach der Reformation vielfältig fortsetzen sollte. Die Nikolaikirche in der Altstadt und die Barbarakirche auf dem Löbenicht vermochten natürlich mit dem Dom baulich nicht zu konkurrieren, stellte er doch die bedeutendste bauliche Leistung des Mittelalters in Königsberg überhaupt dar. Die Bedeutung und intellektuelle Potenz ihrer Pfarrerschaft aber blieben davon selbstverständlich gänzlich unberührt. Die Bürgerschaft ihrerseits formierte sich nach den Gepflogenheiten des Kulmer Rechts, brauchte keinen langwierigen Kampf um ihre Rechte gegen einen geistlichen oder weltlichen Stadtherrn zu führen, war nur der Stadt, nicht dem Orden eidlich verpflichtet und zumindest rechtlich gerade in der Frühzeit homogen, bevor sich auch in ihr wie überall im Reich eine Elite ratsfähiger Oligarchien herausbildete, durch Kooptation statt über Wahlen sich ergänzend. Kauf leute und Reeder, auf dem Löbenicht auch Handwerker, dominierten naturgemäß den Rat. Ihm standen wie überall sonst die Zünfte und Gewerke gegenüber, jene die Kaufmannschaft vereinigend, diese die Handwerkerschaft. Während der Weg der Kaufleute in den Rat führte, suchten die Handwerker in der Gemeine ein politisches Gegengewicht zu konstituieren. Zwischen beiden rangierte in der städtischen Hierarchie die Schöffenbank. Das gelehrte Element, in der nahen Zukunft hier wie anderwärts von so ausschlaggebender Bedeutung für die politische nicht anders als für die kulturelle Evolution, trat in der Frühzeit noch kaum hervor.5 5
Zur Frühgeschichte grundlegend Christian Krollmann: Die Entstehung der Stadt Königsberg (Pr.). Königsberg, Berlin: Ost-Europa-Verlag 1939 (= Alt-Königsberg, 1). Dazu abweichend Fritz Gause: Die Gründung der Stadt Königsberg im Zusammenhang der Politik des Ordens und der Stadt Lübeck. In: Zeitschrift für Ostforschung 3 (1954) 517-536. Zur Rechts- und Verfassungsgeschichte Walter Franz: Königsberger Willküren. Königsberg: [Gräfe & Unzer] 1928 (= Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 2); Georg Conrad: Raths- und Gerichtsverfassung von Königsberg (Ostpr.) um das Jahr 1722. In: Altpreußische Monatsschrift 24 (1887) l -48, 193225; ders.: Das rathäusliche Reglement der Stadt Königsberg i.Pr. vom 13. Juni 1724. Ein Beitrag zur Geschichte der Rats- und Gerichtsverwaltung von Königs-
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Uns dürfen die politischen Daten, Ereignisse, Schritte des jungen säkularen Staates, der da aus dem Ordensstaat hervorging, so wenig beschäftigen wie die seines in jeder Hinsicht konkurrenzlos dastehenden politischen und intellektuellen Zentrums, geht es uns doch um das geistige Profil der Stadt. Wohl aber ist immer wieder des Wunders zu gedenken, daß die politische wie die religiöse Metamorphose überhaupt gelang und überdies binnen weniger Monate vonstatten ging. 1511 war der junge Albrecht von Brandenburg als Nachfolger Friedrichs von Sachsen zum Hochmeister gewählt worden. Sein Einzug in Königsberg war ein festliches Ereignis in der Manier der italienischen Stadtstaaten, in dem sich der Geist der neuen Zeit zu Ende der OrdensÄra bereits kundtat, und zugleich ein Akt fürstlicher Ehrung, wie ihn Königsberg fortan noch so oft splendid in seinen Mauern ausgerichtet sehen sollte. Fast 15 Jahre später wiederholte er sich. Aber nun war es nicht mehr der Hochmeister, der Einzug hielt, sondern der Fürst eines soeben kreierten säkularen Herzogtums, das sich bereits angeschickt hatte, mit der politischen auch die religiöse Modernisierung sogleich zu vollziehen. Der Preis für jene letztlich weltgeschichtliche Weichenstellung, mit der der Aufstieg der Hohenzollern jenseits der Brandenburger Stammlande eröffnet wurde, bestand in dem Lehnseid gegenüber dem polnischen König, den der Hochmeister wie sein Vorgänger zu umgehen gesucht und um dessentwillen er einen langen Krieg riskiert hatte und der letztlich, wie sich alsbald zeigen sollte, politisch wie zeremoniell und repräsentativ in gar keinem Verhältnis stand zu jenen schlechterdings ungeheuerlichen Möglichkeiten, die die verfassungsrechtliche wie die geistliche Volte gleichermaßen eröffnete. Entscheidend blieb der Gleichschritt, wobei in der Stadt auf dem geistlichen Sektor schon antizipiert war, was in Krakau die stillschweigende Billigung eines weisen polnischen Oberherrn genossen hatte und mit der Rückkehr des Herzogs in sein Land alsbald öffentliche Bestätigung fand.6
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berg i.Pr. Königsberg: Komm.-Verl. Beyer's Buchhandlung 1910 (= Mitteilungen aus der Stadtbibliothek zu Königsberg i.Pr., 2). Zur Sozialgeschichte Walther Franz: Königsbergs Gewerbe im Mittelalter. Königsberg, Berlin: Ost-EuropaVerlag 1939 (= Alt-Königberg, 2); Christian Krollmann: Die Ratslisten der drei Städte Königsberg im Mittelalter. Königsberg: Gräfe & Unzer 1935 (= Verein für die Geschichte von Ost- u. Westpreußen. Vereinsgabe für 1934), Ndr. Hamburg: Selbstverlag des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen 1983 (= Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 52); Johannes Gallandi: Königsberger Stadtgeschlechter. Hamburg: Selbstverlag des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen 1961 (= Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 1), Ndr. der Veröffentlichung in: Altpreußische Monatsschrift 19/20 (1882/83). Die Literatur zu Albrecht ist bekanntlich seit jeher umfänglich (vgl. Karl Lohmeyer: Albrecht-Bibliographie. Zusammenstellung der auf die Geschichte des Herzogs Albrecht von Preußen, seiner Person und seiner Regierung bezüglichen
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Auseinandersetzungen um Hergebrachtes und Neues verlaufen die ganze Frühe Neuzeit über nicht ausschließlich aber doch ganz vorwiegend in den Bahnen religiöser, glaubensförmiger, alsbald auch konfessioneller Polemik. Verpuppt in die theologische Bild- und Begriffswelt, sucht sich der nach vorne weisende Gedanke seine Bahn. Darum bleibt Theologie, bleibt Frömmigkeitsgeschichte in jeder kulturgeschichtlichen Untersuchung ein unerschöpflicher und nie zu vernachlässigender Parameter und Indikator für Stand und Richtung der intellektuellen Bewegung: so auch in Königsberg bis in die Tage der späten Aufklärung hinein. Der zwischen 1522 und 1525 im Reich weilende HochSchriften. In: Altpreußische Monatsschrift 33 [1896] 202-216). Hier sei das folgende akzentuiert: Der Biograph tut gut daran, immer noch zurückzugehen zu dem Sammelwerk des zeitweiligen Königsberger Theologen David Voit: Libellus continens orationes quasdam de vita, pia et constant! confessione, & obitu illustrissimi & inclyti Herois Divi Alberti, Senioris, Marchionis Brandenburgensis, primi Ducis Borussiae &c. Wittenberg: Schwertel 1572, in dessen Mittelpunkt die Leichenpredigt Voits auf Herzog Albrecht steht. Dieses Werk ist zusammen mit zahllosen anderen Dokumenten eingegangen in die große von Lilienthal veranstaltete und selbstverständlich annotierte Kompilation: Leben und Todt Marggraff Albrechts, letzten Hohemeisters und ersten Hertzogs in Preussen. In: Acta Borussica l (1730) 615-713. Hier 1. »Excerpta ex oratione funebri D. Dav. Votii, in exequiis illustrissimorum Principum Ducum Borussiae etc. Conjugum, in templo arcis, antequam funera ad locum sepultarae indifferentur, 3. die Maji A. 1568. habita«, S. 615-634; 2. »Excerpta aus D. Davids Voiten Leichen-predigt/ aus Psalm LXXXII. v. 6-8. über den Abschied Marggraff Albrechts, und seiner Gemahlin Anna Maria. Etc.«, S. 634-653; 3. »Excerpta, ex eoratione, in parentalibus anniversariis, divo Alberto, 20. Märt., A. 1570, a Davide Voito, D.«, S. 653-674; 4. »D. Martthiae Stoji Journal, über Marggraff Albrechts Kranckheit und Todt«, S. 653-674; 5. »Unterschiedene Epitaphia auf den Marggraf Albrecht/ ersten Hertzog in Preussen.«, S. 709-713. Es schließen sich an »Excerpta, ex Petri Sickii Oratione, de statu Ecclesiarum Prutenicarum & de Confessione Alberti Sen. opposita calumnis Pauli Scalichii etc. A. 1572«, S. 713-717. Schließlich findet man eine Zusammenstellung »Böse und gute Urtheil von Marggraff Albrecht«, S. 717-760. Leider nicht mit aufgenommen ist die bislang nicht wieder nachweisbare Oratio, de obitu Alberti Marchonis & Conjugis Annae Mariae, Regiomontanae 1568 von Petrus Sickius, die Lilienthal in seiner: Preußische^] Bibliothec. Das ist sorgfältiges Verzeichniß derer Scribenten, Welche die Historic, Geographie, Politic, Rechtsgelehrsamkeit, Kirchen- und Gelehrten-Geschichte, Natur-Kunde, Alterthümer und dergleichen Merckwürdigkeiten von Preußen erleutert haben, und entweder geschrieben, oder gedruckt vorhanden sind. In gewisse Classes eingetheilet. Königsberg: Härtung 1741, S. 27, Nr. 7, aufführt (nicht bei Wermke: Bibliographie [Anm. 2]!). Wichtig sodann als Quelle auch Holger Rosenkrantz: Fürsten Spiegel, Das ist: Schrifften und Sendschreiben des [...] Herrn Albrecht des Fünfften, Marggraffen zu Brandenburg, erster Hertzogen in Preussen. Aarhusen: Hanssen 1636. Vgl. auch [Georg Peter Schultz:] Preußischer Todes-Tempel, Worin Verstorbene Personen allerhand Standes Von den außerlesensten Sachen Der Preußischen, Pohlnischen, Schwedischen und Brandenburgischen Geistlich- Weltlich- und Gelehrten Historie, Geographie, und Stats-Rechts, Wie auch Neuen gelehrten Schrifften in Preußen und Fohlen vorgestellet werden. Frankfurt, Leipzig: Weidmann [o.J.], S. 222-238, 353-384, 524-527, 764-781, 796-820. - Die große aus den Quellen geschöpfte Biogra-
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meister und nachmalige Herzog hatte das große Glück, die Sache der Reformation anfänglich im Stillen betrieben zu sehen, so daß sie Stadt und Land nahezu wie ein Geschenk unter den Augen des katholischen Oberherrn zufiel. Ursache dafür war jene Symbiose aus neuer, von Luther inspirierter Frömmigkeit und humanistischer Sozialisation, wie sie allemal die beste Voraussetzung für eine gedeihliche Implantation und Entwicklung der neuen Lehre darstellte. Die vier Personen, auf deren Schultern das reformatorische Werk im Ordensstaat und alsbald im Herzogtum ruhte, erfüllten diese Voraussetzung auf ihre Weise jeweils vorbildlich. Es sind dies der Bischof von Samland und phie stammt dann von dem Theologen und Altphilologen an der Königsberger Universität und zeitweiligem Bibliothekar der Schloßbibliothek Friedrich Samuel Bock: Grundriß von dem merkwürdigen Leben des [...] Herrn Albrecht des altern, Marggrafen zu Brandenburg, bey Gelegenheit der 2. Jubelfeyer der [...] Hohen Schule zu Königsberg in Preußen, aus [...] Nachrichten und zum Theil seltenen Urkunden ans Licht gestellet [...]. Königsberg: Härtung 1745. Ergiebig auch der Artikel von Karl Lohmeyer in der ADB I, S. 293-310; von Karl Lohmeyer auch eine schmale Monographie: Herzog Albrecht von Preußen. Eine biographische Skizze. Festschrift zum 17. Mai 1890. Danzig: Kafemann 1890. Aus jüngerer Zeit dann hervorzuheben Walther Hubatsch: Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490-1568. Heidelberg: Quelle & Meyer 1960, 2. Aufl. Köln, Berlin: Grote 1965 (= Studien zur Geschichte Preußens, 8). Hier in dem schlichten schönen Nachwort S. 284-288 eine Skizze der Arbeiten zu Albrecht und seinem Zeitalter, S. 298-341 eingehende Nachweise. Vgl. von Hubatsch in diesem Zusammenhang auch: Die inneren Voraussetzungen der Säkularisation des deutschen Ordensstaates in Preußen. In: Archiv für Reformationsgeschichte 43 (1952) 145-171. - Ganz außerordentlich umfänglich ist der herzogliche Briefwechsel. Die reichhaltigste Dokumentation stammt von dem großen Preußen-Historiker und langjährigen Archiv-Direktor Johannes Voigt: Briefwechsel der berühmtesten Gelehrten des Zeitalters der Reformation mit Herzog Albrecht von Preussen. Beiträge zur Gelehrten-, Kirchen- und politischen Geschichte des 16. Jahrhunderts. Aus Originalbriefen dieser Zeit. Königsberg: Bornträger 1841. Vgl. auch: D. Martin Luthers Briefe an Albrecht, Herzog von Preußen. Von den Originalen im geheimen Archiv zu Königsberg. Mit erklärenden Anmerkungen hrsg. v. Karl Faber. Nebst einer Vorlesung über den Geist und Styl D. Martin Luthers, besonders aus seinen in Preußen aufbewahrten handschriftlichen Briefen von Ludwig Ernst Borowski. Königsberg: Nicolovius 1811. Eine Auswahl in neuerer Zeit veranstaltete Walther Hubatsch: Europäische Briefe im Reformationszeitalter. Zweihundert Briefe an Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach, Herzog in Preußen. Kitzingen/Main: Holzner 1949. Zum privaten Briefwechsel: Ingeborg Mengel: Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg und Albrecht von Preußen. Ein Fürstenbriefwechsel der Reformationszeit. Göttingen [u.a.]: Musterschmidt 1954 (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, 13/14); begleitend Ingeborg Klettke-Mengel: Die Sprache in Fürstenbriefen der Reformationszeit. Untersucht am Briefwechsel Albrechts von Preußen und Elisabeths von Braunschweig-Lüneburg. Köln, Berlin: Grote 1973 (= Studien zur Geschichte Preußens, 19); dies.: Fürsten und Fürstenbriefe. Zur Briefkultur im 16. Jahrhundert an geheimen und offiziellen preußisch-braunschweigischen Korrespondenzen. Köln, Berlin: Grote 1986 (= Studien zur Geschichte Preußens, 38).
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nachmalig auch von Pomesanien Georg von Polenz,7 der erste von Luther nach Absprache mit Albrecht 1523 entsandte promovierte Theologe Dr. Johannes Briesmann,8 der Vertraute und enge Mitarbeiter Luthers und Melanchthons Johannes Poliander9 und schließlich 7
Zu Georg von Polenz vgl. Paul Tschackert: Georg von Polentz, Bischof von Samland. Leipzig: Hinrichs 1888, Separatdruck aus: Kirchengeschichtliche Studien. Hermann Reuter zum 70. Geburtstag gewidmet. Mit einer Beigabe. Hrsg. v. Theodor Brieger, Paul Tschackert, Theodor Kolde [u.a.]. Leipzig: Hinrichs 1888. Dazu das Porträt in der Einleitung des Tschackertschen Urkundenbuchs (Anm. 11), Bd. l, S. 33ff. mit den hinzugehörigen Register-Einträgen. Außerdem die lexikalischen Beiträge in: Realencyklopädie für protestantische Theologie (Anm. 11), Bd. 6 (1899), S. 541-543 (von Erdmann), in der ADB XXVI, S. 386f. (von Schott). Die Tschackert vorausgehenden älteren Darstellungen von Böckel, Gebauer und Polenz bei Wermke: Bibliographie (Anm. 2), Bd. l, Nr. 14935-37, dazu Ludwig Rhesa: De primis, quod dicunt, sacrorum reformatoribus in Prussica VI: Vita Georgii a Polentis. Königsberg: [o. D.] 1829. Die drei epochemachenden Predigten zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten von Polenz aus den Jahren 1524 und 1525 zuletzt bei Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens (Anm. 11), Bd. 3, S. 14-35. 8 Zu Briesmann vgl. die im folgenden wiederholt heranzuziehende zeitgenössische Darstellung von Johannes Wigand (1523-1587): »De claris viris theologicis in ecclesia Christi evangelica, tempore novissimi seculi.« In Auswahl wiederabgedruckt von Ludwig Rhesa: De primis, quos dicunt, sacrorum reformatoribus in Prussia I. Vita Brismanni. Königsberg: [o. D.] 1823. Die Wigandsche Handschrift aus dem Besitz Lilienthals befand sich in der Stadtbibliothek. Vgl. zu ihrer genauen Beschreibung und inhaltlichen Erschließung Seraphim: Handschriftenkatalog (Anm. 11), S. 2ff. zu Handschrift S 3. fol. Vgl. sodann den nur durch Initialen gekennzeichneten Beitrag von T. S. B.: D. Joannis Brismanni, eines Preußischen Reformatoris, Lebens-Beschreibung. In: Erleutertes Preussen 2 (1724) 297-327; 3 (1725) 180-220. Hinzuzunehmen die inzwischen unschätzbare, von dem Theologen Andreas Vogler komponierte und 1622 bei Osterberger publizierte, sodann von Lilienthal erweiterte und annotierte Dokumentation: Brismanniana. Einige von Luthero, Melanchtone, Spalatino und Sperato, an Joh. Brismannum gerichtete Briefe. In: Acta Borussica l (1730) 791-820. Vgl. auch den aus der Wallenrodtschen Bibliothek (die reich an Luther-Manuskripten war) geschöpften Brief: D. Märt. Lutheri merckwürdiger Brieff an Johannem Brismannum, das Preußische Reformations-Wesen betreffend. In: Erleutertes Preussen l (1723) 247-265. Darüber hinaus der große Artikel von Erdmann in der Herzog/Haugschen Realencyklopädie für protestantische Theologie (Anm. 11), Bd. 3 (1897), S. 398-405 (kürzer vom gleichen Vf. auch in der ADB III, S. 329-331; Gause in der NDB II, S. 612f), sowie die reichhaltigen Nachweise in den beiden Registern zu Tschackerts Urkundenbuch (Anm. 11). Im derzeit größten lexikalischen Unternehmen der Theologie, der Theologischen Realenzyklopädie (Berlin [u.a.]: de Gruyter 1976ff.) fehlt der Name Briesmanns! In den drei Aufl. der RGG wird er hingegen geführt. 9 Zu Poliander vgl. Ludwig Rhesa: De primis, quos dicunt, sacrorum reformatoribus in Prussia III. Joannis Poliandri. Königsberg: [o. D.] 1824; Melchior Adam: Vitae germanorum theologorum qui superiori saeculo ecclesiam Christi voce scriptisque propagarunt et propugnarunt. Congestae et ad annum usque 1618 deductae [...]. Heidelberg: Rosa 1620, Bl. 97; den wiederum nur mit Initialen bezeichneten Artikel von T. S. B.: D. Johann Polianders/ eines der ersteren Preußischen Reformatorum Leben. In: Erleutertes Preußen 2 (1725) 432-447; Georg
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der vermutlich doch führende Theologe Preußens und spätere Schöpfer eines ersten preußischen Gesangbuchs Paul Speratus.10 Hier ist nicht der Platz, ihre geistige und theologische Physiognomie zu umreißen, die einem jeden klar vor Augen steht, der sich mit der Geschichte der Reformation im Herzogtum Preußen eingehender befaßt hat. Ihre wie durch ein Wunder fast alle erhaltenen und auch heute noch im Original zu studierenden Predigten, Lieder, Briefe zeigen zur Genüge, was ihnen den frühen und nachhaltigen Durchbruch zumal in Königsberg verschaffte: bedingungslose Konzentration auf das Wort, in dessen Auslegung sich humanistische und theologische Schulung trafen, Ablehnung aller sekundären, nur durch Überlieferung beglaubigten, nicht aber im Ursprung verbürgten Formen des Glaubens, Geißelung jedweder Form von Werkgerechtigkeit und Übernahme jener revolutionären von Luther entwickelten sola-fide- und sola-gratiaTheologie, die die Herzen der aus dem alten Glauben kommenden Prediger gewonnen hatte und sich den Herzen ihrer Hörer gleich nachhaltig einprägte.11 Christoph Pisanski: Johann Poliander als preußischer Reformator, Liederdichter und Stifter der Königsbergischen Stadtbibliothek. In: Preußisches Archiv l (1790) 51-70; Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. l, 123ff.; Christian Krollmann: Neues von Johannes Poliander. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte von Ost- und Westpreußen l (1926) 20-32. 10 Zu Speratus vgl. die große Monographie von C[arl] J[ohann] Cosack: Paulus Speratus. Leben und Lieder. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte, besonders zur Preußischen, wie zur Hymnologie. {Aus gleichzeitigen gedruckten und ungedruckten, namentlich archivalischen Quellen). Braunschweig: Schwetschke 1861; hier, S. 231 ff., eine »Zweite Abtheilung. Paulus Speratus Lieder« mit einer Bibliographie und Neudruck des Liedschaffens von Speratus nebst ausführlichen Kommentaren. Das grundlegende Werk ist darüber hinaus wertvoll, weil es in den Beilagen (S. 359ff.) vielfach ungedruckte und inzwischen verschollene Quellen dokumentiert, darunter eine Predigt Polianders vom Dezember 1529 in Königsberg »aus dem Quartanten S. 21 der Königsberger Stadtbibliothek, der eine große Menge Polianderscher Predigten enthält« (S. 362). Sodann die Monographie von Paul Tschackert: Paul Speratus von Rollen. Evangelischer Bischof von Pomesanien in Marienwerder. Halle/Saale: Niemeyer 1891 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 33), sowie ders.: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. l, S. 49ff. Zur Würzburger Zeit von Speratus und Poliander vgl. Theodor Kolde: P. Speratus und J. Poliander als Domprediger in Würzburg. In: Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte 6 (1899) 49-75. Die Wigandsche Biographie wiederum abgedruckt von Ludwig Rhesa: De primis, quos dicunt, sacrorum reformatoribus in Prussia. II. Vita Sperati. Königsberg: [o. D.] 1823. 11 Der Prozeß der Reformation ist aufgrund der Forschungen Paul Tschackerts hervorragend dokumentiert und in den einzelnen Phasen genau übersehbar; vgl. Urkundenbuch zur Reformationsgeschichte des Herzogthums Preußen. 3 Bde. Hrsg. v. Paul Tschackert. Leipzig: Hirzel 1890 (= Publicationen aus den Königlich Preußischen Staatsarchiven, 43-45), Ndr. Osnabrück: Zeller 1965. Der erste Band enthält eine knapp vierhundert Seiten umfassende »Einleitung«, die aufgrund der Quellennähe die beste Darstellung zur Geschichte der Reformation in Preußen geblieben ist und für die Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts
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Als der Herzog aus Krakau kommend am 9. Mai 1525 in Königsberg einzog, war die Stadt in weiten Teilen bereits zum evangelischen Glauben übergewechselt. Der Herzog aber setzte sich nun an die Spitze der Bewegung. Seine mehr als vierzigjährige Regentschaft sollte zu in Preußen überhaupt grundlegenden Charakter besitzt. Die beiden folgenden Bände bringen das urkundliche Material in Form von Dokumentationen, Auszügen und Regesten unter genauer Angabe der Fundstellen zumal aus Königsberger Archiven und Bibliotheken, denen heute eben deshalb bei allen rekonstruktiven Bemühungen eine ausgezeichnete Bedeutung zukommt. Das erschließende Register zu Ende des dritten Bandes ist eine personengeschichtliche Quelle ersten Ranges für Altpreußen im 16. Jahrhundert. Zur sonstigen landeskundlichen Arbeit Tschackerts selbst vgl. v. a. den großen Artikel von Bonwetsch in der von Johann J. Herzog begründeten Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche in der maßgeblichen dritten, von Albert Hauck hrsg. Aufl. (24 Bde. Leipzig: Hinrichs 1896-1913), Bd. 24 (Ergänzungen und Nachträge L-Z), S. 585-588. Tschackert wirkte von 1884 bis 1889 in Königsberg und widmete sich daselbst v. a. der urkundlichen Erforschung der Reformation im Staatsarchiv. »Zum ersten Mal wird hier aufgrund umfassender Erforschung der Akten die Geschichte der Reformation dieses Landes geschildert.« (ebd., S. 587) Der flüchtige und nichtssagende Artikel von Forstreuther in der APB II, S. 749, wird der Leistung Tschackerts nicht entfernt gerecht! Unerschöpfliche Quellen bleiben: Christoph Hartknoch: Preussische Kirchen-Historia. Darinnen von Einführung der Christlichen Religion in diese Lande, wie auch von der Conservation, Fortpflantzung, Reformation und dem heutigen Zustande derselben ausführlich gehandelt wird. Nebst vielen Denkwürdigen Begebenheiten [...] aus vielen gedruckten und geschriebenen Documenten [...] zusammen getragen. Frankfurt/M., Leipzig, Danzig: Beckenstein 1686, und Daniel Heinrich Arnoldt: Kurzgefaßte Kirchengeschichte des Königsreichs Preußen, Königsberg: Kanter 1769. Für erstere hatte Lilienthal reichhaltiges Material zur Fortsetzung gesammelt, vgl. Lilienthal: Preußische Bibliothec (Anm. 6), S. 69, Nr. 2. Die Stadtbibliothek enthielt unter der Signatur S 30. einen 292 Seiten umfassenden Folianten »Acta ecclesiastica et scholastica« aus der Bibliothek Lilienthals mit Materialien zur Preußischen und speziell Königsbergischen Kirchen- und Schulgeschichte, vgl. August Seraphim: Handschriftenkatalog der Stadtbibliothek Königsberg in Preußen. Königsberg: Beyer (= Mitteilungen aus der Stadtbibliothek Königsberg, 1), S. 30ff.; vgl. auch den quellenkundlich wichtigen Beitrag von Otto Clemen: Reformationsgeschichtliches aus drei Sammelbänden der Königsberger Stadtbibliothek. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 49, N. F. 12 (1930) 159-188. Eine wichtige Quelle für die entscheidenden Jahre der Reformation sodann auch: Auszug aus Caspar Platners Collectaneis MSCtis, die Welt, und Geistliche Reformations-Geschichte in Preussen betreffend. In: Acta Borussica 2 (1731) 664686. - Als Darstellung wie als quellenkundliche und bildnerische Dokumentation heute maßgeblich Walther Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens. 3 Bde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, Bd 1: Darstellung, Bd 2: Bilder ostpreußischer Kirchen. Bearb. v. Iselin Gundermann, Bd. 3: Dokumente. Für die frühe Predigt im Herzogtum sodann die Quellenpublikation: Die Reformation im Ordensland Preußen 1523/24. Predigten, Traktate und Kirchenordnungen. Eingeleitet und hrsg. v. Robert Stupperich. Ulm: Verlag »Unser Weg« 1966 (= Quellenhefte zur ostdeutschen und osteuropäischen Kirchengeschichte). Die heute im Preußischen Geheimen Staatsarchiv verwahrten reformationsgeschichtlichen Quellen Königsberger Provenienz vielfach erstmals dokumentiert in: Luther und die Reformation im Herzogtum Preußen. [16. März bis
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einem Gutteil der geistlichen wie der politischen Bemühung um die rechte Fassung des Glaubens gewidmet sein. Er ist einer der frühesten und einer der herausragenden, um nicht zu sagen ergreifenden Landesherrn, die durch und durch geprägt waren durch den neuen Glauben. An dem östlichen Preußen ist denn auch die Umwandlung eines ursprünglich geistlichen Staates in ein weltliches Fürstentum und dessen neuerliche restlose Penetration mit dem Geist der Reformation unter der persönlichen und tagtäglich in Aktion begriffenen Führerschaft des Herzogs paradigmatisch zu studieren. Die Anatomie dieser geistlichpolitischen Korporation in allen Manifestationen vorzunehmen, wäre ein Thema für sich und glücklicherweise dank der umfassenden urkundlichen Dokumentationen zumal Paul Tschackerts auch heute noch sehr wohl zu leisten.12 Man vergesse nicht: Das ferne, am Rande des deutschen Sprachraums, außerhalb des Reichs gelegene Herzogtum Preußen war das erste deutsche Territorium, das auf der Basis der Wittenberger Gottesdienstordnung eine ausgefeilte und in vielerlei Hinsicht durchaus selbständige Kirchenordnung zuwege brachte. Noch Ende 1525 kam der Landtag in Königsberg zusammen, um über eine Landesordnung zu beraten.13 Beherrschendes Thema schon auf ihm
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30. April 1983, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Konzeption der Ausstellung und Bearbeitung des Katalogs: Walther Hubatsch und Iselin Gundermann.] Berlin: [Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz] 1983. Auch die speziellere Literatur zum Thema Albrecht und die Reformation im Herzogtum Preußen ist sehr reichhaltig. Den präzisesten Eindruck vermittelt wie gesagt das Urkundenbuch Tschackerts (Anm. 11). Darüber hinaus sei etwa verwiesen auf: Johannes Voigt: Herzog Albrecht von Preußen und der Kardinal Stanislaus Hosius, Bischof von Ermland, als Repräsentanten der protestantischen und katholischen Kirchen in Preußen. In: Neue Preußische Provinzial-Blätter 8 (1849) 81-105, 208-219, 307-320; Paul Tschackert: Herzog Albrecht von Preußen als reformatorische Persönlichkeit. Halle/Saale: Niemeyer 1894 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 45); Friedrich Spitta: Die Bekenntnisschriften des Herzogs Albrecht von Preußen. In: Archiv für Reformationsgeschichte 6 (1909) 1-155. Der Nachweis über die achtzig Artikel der »Lanndtsordnung, wye dieselbig anfengklich gestalt beratschlagt vnd beschlossen ist«, bei Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. 2, Nr. 416. »Da diesem Pergament nie ein Siegel angehängt war, so muß es als bloße Vorlage beurtheilt werden. Angenommen sind daraus höchstwahrscheinlich nur die 13 Artikel der nächsten Nummer [ebd., Nr. 417] >Etliche außgezogen Artickel etc.Landesordnung< decken).« 14 Zur ersten preußischen Kirchenordnung im Anschluß an die kirchlichen Artikel in der preußischen Landesordnung eingehend Hartknoch: Preußische KirchenHistoria (Anm. 11), Bd. 2, S. 277ff.; Arnoldt: Kurzgefaßte Kirchengeschichte (Anm. 11), S. 263ff.; [Georg Ernst Sigismund Hennig]: De constitutionibus ecclesasticis Lutheranorum in Borussia a tempore reformationis usque ad nostram aetatem. Universitäts-Programm Königsberg 1803, S. 7 (dort, S. 9, auch über die lateinische Übersetzung der Kirchenordnung aus dem Jahr 1530!); Jacobson: Geschichte der Quellen (Anm. 16), Bd. 2, S. 25ff.; Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. l, S. 128ff.; Sehling: Die evangelischen Kirchenordnungen (Anm. 16), Bd. 4, S. 6f; Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche (Anm. 11), Bd. l, S. 35ff. Neudruck bei Richter: Die evangelischen Kirchenordnungen (Anm. 13), Bd. l, S. 28-33; Sehling, S. 30-38; Hubatsch, S. 118-129, nach dem Exemplar in der Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften zu Danzig. 15 »Georg von Polentz und Erhard von Queiss hatten den Auftrag erhalten, ein umfassendes Kirchengesetz für den Gottesdienst auszuarbeiten. Sie führten den Auftrag >mit rath ihrer mitbrüder, der prediger zu Königsberg (damit sind wohl gemeint Briessmann, Speratus, Poliander [...]) und Bewegung aller Umstände< aus, und legten die Ordnung dem Landtage vor. Am 10. Dezember 1525 einstimmig angenommen, wurde sie nach Schluss des Landtags gedruckt und März 1526 publicirt« (Sehling: Die evangelischen Kirchenordnungen [Anm. 16], Bd. 4, S. 6). Zur Datierung auch Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. 2, Nr. 465, sowie der Kommentar zu Nr. 481, und Paul Schwenke: Hans Weinreich und die Anfänge des Buchdrucks in Königsberg. In: Altpreussische Monatsschrift 33 (1896) 67-109, darin in Anhang 2, S. 92-109: »Verzeichniß der Königsberger Drucke bis 1527«: Kommentar zu Nr. 26 und Nr. 31. Vgl. auch Tschackert, Bd. l, S. 133: »Mit der Publikation dieser Gottesdienstordnung im März 1526 war der Bau der preußischen Landeskirche zunächst vollendet«. 16 Quellenkundlich zum Kirchenrecht grundlegend die Darstellung des Königsberger Rechtswissenschaftlers Heinrich Friedrich Jacobson: Geschichte der Quellen
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Schon im Herbst 1523 lag eine anonyme, mit Gewißheit von Briesmann stammende Schrift vor, in der in Anschluß an Luthers Von der Freiheit eines Christenmenschen die neue, alle Verhältnisse umwälzende Glaubens-Erfahrung erstmals im verbliebenen Ordensland eine theologische Artikulation fand. Diese 110 lateinischen Thesen bilden, darin wird man Paul Tschackert, dem unermüdlichen Spurensicherer der Reformation im Herzogtum, uneingeschränkt beipflichten wollen, »gerade so den monumentalen Eingang zur evangelischen Literatur Altpreußens, wie die 95 Thesen Luthers von 1517 den zur evangelischen Literatur Deutschlands überhaupt.«17 In der Fastenzeit des kommenden Jahres lernte das auf dem Wege zum erneuerten Evangelium begriffene Königsberg eine revidierte Form des »Vater unser« zu sprechen.18 Zu gleicher Zeit unterwies Briesmann die Stadt in der rechten Form des evangelischen Beichtens, die gleichfalls ganz auf den Akt des lebensergreifenden Glaubens umgestellt und deshalb aller formellen
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des evangelischen Kirchenrechts der Provinzen Preussen und Posen. Mit Urkunden und Regesten. 2 Bde. Königsberg: Bornträger 1839 (= Geschichte der Quellen des Kirchenrechts des Preussischen Staats. Erster Theil: Die Provinzen Preussen und Posen, 2) (voran ging 1837 ein Band zu den Quellen des katholischen Kirchenrechts; vgl. von dem gleichen Verfasser auch die wichtige Abhandlung: Die kirchlichen Verhältnisse der Reformirten in Preussen, vornehmlich in den östlichen Provinzen des Staats. In: Zeitschrift für Kirchenrecht 3 [1836] 291359). Dazu die wiederum grundlegende Quellensammlung: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Hrsg. v. Emil Sehling. 5 Bde. Leipzig: Reisland 1902-13 (Fortgeführt vom Institut für Evangelisches Kirchenrecht der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Göttingen), Bd. 4: Das Herzogtum Preußen, Polen, die ehemals polnischen Landesteile des Königreichs Preußen, das Herzogtum Pommern. Leipzig: Reisland 1911, Ndr. Aalen: Scientia 1970, S. 3-154 (»Das Herzogthum Preussen«, mit der wichtigen Einleitung, S. 3-28, und der älteren Literatur). Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. l, S. 69. Die für die Erkenntnis des Eindringens der Reformation in Preußen wichtige Edition ist wiederum Tschakkert zu verdanken: [Johannes Briessmann:] Flosculi de homine interiore et exteriore, fide et operibus. Die erste, grundlegende Reformationsschrift aus dem Ordenslande Preußen vom Jahre 1523. Aus Gieses Antilogikon zum erstenmal hrsg. und untersucht von D Paul Tschackert. Gotha: Perthes 1887; hier S. 16ff. die »Untersuchung der Flosculi«, S. 20fF. zur Verfasserfrage. Der Titel der Gegenschrift aus der Feder des Frauenburger Domherrn Tideman Giese, der die Flosculi dankenswerterweise integriert waren und so überliefert wurden (die Originalausgabe ist nicht erhalten!), lautet: Tidemanni Gisonis Centum et decem assertionum quas autor earum Flosculos appellavit de homine interiore et exteriore fide et operibus anthelogikon. Krakau: Hieronymus Vietor 1525. Exemplar in der SuUB Königsberg, Sign.: 8° Ca3 (3), beschrieben und abgedruckt bei Tschackert, S. 9-15; weiterer Neudruck mit Übersetzung von Stupperich in: Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche (Anm. 11), Bd. 3, S. 36-53. Dokumentiert bei Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. 2, S. 52f., Nr. 184, mit entsprechenden Quellennachweisen; dazu ebd., Bd. l, S. 76f. Auf der Basis des Tschackertschen Textes ein weiteres Mal gedruckt bei Stupperich: Die Reformation (Anm. 11), S. 113f.
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Anweisungen enthoben wurde.19 Der Gemeindegesang, zweiter Brennpunkt der gottesdienstlichen Reform neben der Predigt, konnte sich seit 1527 auf das erste preußische Gesangbuch mit einigen Dutzend neugeschaffener Lieder stützen, auch sie das Werk der Königsberger Prediger und zumal des Speratus, der zu gleicher Zeit eine Bearbeitung des 37. Psalms besorgte.20 Noch vor der Confessio Augustana besaß das Land in den freilich ungedruckt gebliebenen Constitutiones synodales evangelicae aus dem Jahre 1530 eine - vom Herzog selbst eingeleitete ausgereifte theologische Summe des neuen Glaubens.21 Nun waren schon in der Kirchenordnung von 1525 Verfehlungen mit öffentlicher Buße belegt. Damit war der Schritt in den außerkirchlichen Raum getan, der planmäßig und flächendeckend der Visitation, Observation und Regulation unterworfen wurde und den im Sinne der Reformation zu gestalten der Herzog sich vorbehielt. Schon vor seiner 19
Vgl. EJn Sermon von dreyerley heylsamer Beycht/ geprediget czu Konigßberg in Preußen durch. D. Johan Brießman. Für die eynfeldige Leyen. Anno 1524. [Am Ende:] Gedruckt czu Konigßberg in Preußen. Vgl. Schwenke: Hans Weinreich (Anm. 15), Nr. 5. Ndr. hrsg. v. August Rudolph Gebser: Concio Sacra D. Joannis Brismanni Anno 1524 in ecclesia cathedrali Regiomontana habita. Ex autographo ed. Königsberg: Gräfe & Unzer 1844, und von Stupperich: Die Reformation (Anm. 11), S. 62-71. Das Exemplar aus der Stadtbibliothek Königsberg heute im Geheimen Staatsarchiv Berlin, das der Stadtbibliothek Elbing in der Universitätsbibliothek zu Thorn. 20 Vgl.: Etlich gesang dadurch Got ynn der gebenedeiten muter Christi vnd opfferu[Strich] der weysen Heyden/ Auch ym Symeone/ allen heylgen vfl Engeln gelobt wirt/ Alles auß grundt götlicher schrifft etc. [Bl. 16r:] Gedruckt czu Konigßberg ynn Preüssen. - Etliche newe verdeutschte vnnd gemachte ynn göttlicher schrifft gegründte Christliche Hymnus vn geseng/ wie die am ennd derselben yn eynem sonderlichen Register gefunden werden. [Am Ende:] Gedruckt czu Konigßberg ynn Preüssen. 1527. - Der xxxvii. psalm czu trost allen die gewalth vnd vnrecht leyden. Item eyn dancksagung nach der predig. Paul Spera. [Ohne Impr.]. Vgl. Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. 2, Nr. 573, 574, 534; Schwenke: Hans Weinreich (Anm. 15), Nr. 36, 37, 41. Neudruck der beiden Teile des Gesangbuchs nebst Vorreden bei Cosack: Paul Speratus (Anm. 10), S. 233-235, 268-288. Vgl. auch die Abdrucke von Liedern des Speratus bei Karl Eduard Philipp Wakkernagel: Das deutsche Kirchenlied. Von der ältesten Zeit bis zum Anfang des XVII. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius. Stuttgart: Liesching 1841, S. 152-1545, sowie bei ders.: Das deutsche Kirchenlied. Von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. 5 Bde. Leipzig: Teubner 1864-1877, Ndr. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1990, Bd. 3 (1870), S. 31-41. Wackernagel waren die Königsberger Erstdrucke unbekannt; sie fehlen in seiner: Bibliographie zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im XVI. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Heyder & Zimmer 1855, Ndr. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1987. Er druckte sie nach dem Waltherschen Gesangbuch von 1525 bzw. dem Babstschen von 1545. Vgl. auch Stupperich: Die Reformation (Anm. 11), S. 100-107. 21 Vgl. Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. 2, Nr. 698. Dazu Cosack: Paulus Speratus (Anm. 11), S. 114-118; Tschackert, Bd. l, 165-171.
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Rückkehr nach Königsberg waren aus dem neuen evangelischen Geist heraus sowohl für die Altstadt wie auch für den Kneiphof Armenordnungen erlassen worden, in denen sich die Verantwortung der reformierten Bürgerschaft für die ihre Subsistenz nicht aus eigener Kraft sichernden Bewohner der Stadt flektierte und ausdrücklich bekannt wurde, sei diese doch »verursacht worden, eine Ordnung vorzunehmen, wie unserm Nächsten mit Hülfe, Steuer und Darlegung zu Errettung seines Kummers geholfen werden möchte.«22 In der Ordnung eines gemeinen Kastens wurde das Projekt weitergeführt und konkretisiert, demzufolge acht angesehene Bürger der Altstadt bevollmächtigt wurden, den Inhalt der Opferstöcke der Altstädtischen Kirche unter die Armen zu verteilen.23 Die Bettler der Stadt wurden auf einen bestimmten Tag in die Pfarrkirche entboten, auf Arbeitstauglichkeit hin untersucht und zur Landarbeit verpflichtet, die übrigen in die städtischen Hospitäler verteilt und aus dem Kasten versorgt. Dazu wiederum paßte genau, daß Herzog Albrecht Anfang 1527 ein Mandat gegen Müßiggänger veröffentlichte, das wiederholt eingeschärft wurde und Gefängnisstrafe, in schweren Fällen Einfassung in Eisen androhte.24 Visitationen in allen Pfarreien des Herzogtums stellten nicht nur sicher, daß die Ausbreitung der neuen Lehre konform mit den Theologen in der Hauptstadt erfolgte, sondern schärften die Gebote des Kirchgangs und die Heiligung des Sonntags, die rechte eheliche Ordnung und Kindeserziehung auf dem Lande im ganzen Umkreis der beiden neu formierten Bistümer ein. Voran aber ging in alledem der Herzog als demütiger und frommer Landesherr selbst, der seine Ehe mit der dänischen Königstochter Dorothea nicht nur als eine durch den Glauben geheiligte begriff, sondern die Fürstin geradezu als im ganzen Land verehrte fromme und tätige Landesmutter aufbaute. Es sollte kein Schritt im Herzogtum erfolgen, der nicht konform war mit dem Glauben. Luthers Bekenntnis zur Heiligung aller Lebensbereiche fand in dem herzoglichen Laientheologen einen uneingeschränkten Befürworter und praktizierenden Gefolgsmann. 22 23
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Vgl. den Platnerschen Auszug in den Acta Borussica (Anm. 11), S. 668. Dazu Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. l, S. lOOff.; hier das Zitat S. 100. Vgl. ebd., Bd. 2, Nr. 291. Von Gottes gnaden Albrecht Marggaue zu | Brandenburg ynn Preussen etc. Hertzog etc. | Wir werden bericht | wie ynn vnserem Hertzogthum [...] vil müssig= | genger erfunden werden [...]. [Am Ende:] Dat[ur] Königßberg. | den fünfften tag Februarij. Anno tcz ym xxvij. Vgl. Schwenke: Hans Weinreich (Anm. 15), Nr. 39; Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. 2, Nr. 533 (vorhanden Geheimes Staatsarchiv Berlin [Staatsarchiv Königsberg Ostpr. Fol. 997. Bl. 26)]. Vgl. auch ebd., Bd. l, S. 154. Das herzogliche Mandat wurde noch zweimal bekräftigt, nicht jedoch nochmals gedruckt, vgl. ebd., Bd. 2, Nr. 549 und Nr. 533.
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Doch auch dem jungen Herzogtum blieb die Krisis nicht erspart, wie sie allenthalben im Gefolge der Reformation aufbrach. Auch in ihr stoßen wir auf theologisch imprägnierte Dispositionen. Die Verkündigung und die Befestigung der neuen Lehre waren an die Konzentration auf die neuen Glaubensgehalte gebunden; rigorose Praktiken ihrer Durchsetzung mußten mit Gewißheit nicht nur Widerstände bei den altgläubigen Bischöfen zumal des Ermlands, sondern beim polnischen Oberherrn selbst provozieren. In dem Auftritt des kurzzeitig in Königsberg agierenden Predigers Johannes Amandus wurde diese Gefahr schlagartig offenkundig.25 Er stachelte in seinen Osterpredigten 1524 das Volk zum Sturm auf das Franziskanerkloster auf dem Löbenicht an, ermunterte es ganz offensichtlich auch zum Bildersturm in den Gotteshäusern, bespöttelte das bedachtsame Vorgehen des Bischofs und stellte schließlich die Ratsgewalt in der Altstadt selbst in Frage so war schließlich seines Bleibens nicht länger. Ein Jahr später standen die Bauern aus dem Bistum Samland vor den Toren Königsbergs und suchten sich mit ihren christlichen Brüdern< in der städtischen Unterschicht zu vereinigen, um Adels- und Ratsherrschaft im Namen evangelischer Egalität abzuschütteln.26 Die Handwerker und Lohnarbeiter 25
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Zu Amandus vgl. ebd., Bd. l, S. 48f, und insbesondere S. 82ff. über seine Predigttätigkeit im Zusammenhang mit dem Bildersturm und der Plünderung des Franziskanerklosters am Ostermontag 1524 in Königsberg, sowie S. 92ff. zur Kritik an Speratus und seinem Abgang aus Königsberg. Vgl. auch Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg (Anm. 3), Bd. l, S. 212f. Ältere Zeugnisse und Stellungnahmen mit den entsprechenden reichhaltigen, hier jedoch im einzelnen nicht zu wiederholenden Nachweisen in: Erleutertes Preussen l (1723) 264f. Vgl. auch die Schilderung nach der Chronik Simon Grunaus im Rahmen der Vita Brießmanns in: Erleutertes Preussen 3 (1726) 92ff. Ein wichtiges Dokument auch unter dem Titel: Einige Specialia von J. Amando, Ersten Evangelischen Prediger in der Alten Stadt Königsberg, ex MSCto. In: Acta Borussica l (1731) 425-432. Vgl. auch Ludwig Rhesa: De primis, quos dicunt, sacrorum reformatoribus in Prussia VI. Vita Joannis Amandi. Königsberg: [o. D.] 1829. Zu diesem auch Preußen kurzfristig aufwühlenden Ereignissen ist zurückzugehen zu der aus undatierten »alten« Manuskripten der Wallenrodtschen Bibliothek geschöpften Darstellung: Historic von dem Auffruhr der Samländischen Bauren, ex MScto. In: Erleutertes Preussen 2 (1724) 328-357, 531-566. Vgl. auch Johannes Voigt: Geschichte des Bauernaufruhrs in Preußen im Jahre 1525. In: Neue Preußische Provinzial-Blätter 3 (1847) 1-50, 310-315; [Friedrich Adolf] Mekkelburg: Eigenhändiger Bericht des Bischofs Georg von Polenz über den BauernAufstand an Herzog Albrecht. In: Neue Preußische Provinzial-Blätter 2 (1853) 378-384. Neuere Darstellungen: Elisabeth Wilke: Die Ursachen der preußischen Bauern- und Bürgerunruhen 1525 mit Studien zur ostpreußischen Agrargeschichte der Ordenszeit. In: Altpreußische Forschungen 7 (1930) 33-81, 181222; Erich Weise: Der Bauernaufstand in Preußen. Elbing: Preußenverlag 1935 (= Preußenführer, 5); Albert Clos: Ein Bericht Christoph Falcks über »Des Pauern Krigs anfang in Preußen Anno 1525«. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen 10 (1936) 21-28, 37-42. Dazu die zusammenfassende Darstellungen bei Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11),
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waren nicht unberührt geblieben von der Rede einer allseitigen Befreiung aus den Fesseln von Zwang und überkommener unbefragter Autoritäten. Obrigkeit, die zwischen dem >gemeinen Mann< und dem Landesherrn stand, mußte sich legitimieren; der Rat konnte und durfte kein Privileg der reichen Oberschicht bleiben. Während aber in Danzig die Erhebung zum Sturz des Rats führte, schlug Königsberg den reformerischen Weg über Verhandlungen ein, die zunächst die Vereinigung der drei Städte betrafen. Erst als diese Bemühungen scheiterten, entzündete sich das Feuer, kam es zum Zusammenschluß von Stadt und Land. Gattenhofen als herzoglicher Sekretär berichtete seinem auswärts weilenden Herrn, daß »fast alle Handwerksburschen, Bürger und Müßiggänger aus Könisgberg« zu den Aufständischen gestoßen wären.27 Der Herzog, der durchaus mit dem Zusammenschluß der drei Städte sympathisiert hatte, erstickte den Aufstand im Keim, indem er zunächst Königsberg besetzte, dann aufs Land zog und die Bauern durch Eberhard von Queiss zur Unterwerfung aufforderte. In der Stadt kamen die Wortführer in >Verstrickung< des Herzogs, also unter polizeiähnliche Aufsicht; eine Landesverweisung wurde von der Herzogin persönlich zurückgenommen. Im neuen Jahr verzieh der Herzog den Vertretern der drei Städte formell, Räte und Gemeinen wurden auf Frieden verpflichtet, die Zusammenlegung der Städte war für zwei Jahrhunderte gegenstandslos geworden. Auf dem Land blieb die erbarmungslose Abrechnung wie anderwärts in den südlichen Teilen des Reiches aus; allerdings sind einzelne Hinrichtungen bezeugt. Viel langwieriger, weit über des Herzogs Regentschaft hinaus, gestalteten sich die theologischen Kontroversen selbst, die von höchster Symptomatik für die intellektuelle Spannweite der durch die Reformation ausgelösten neuen Möglichkeiten der Erfahrung gewesen sind. Wir verharren bei ihnen, weil in ihnen zugleich Kräfte für die Zukunft beschlossen lagen, denen immer noch ein aktueller Geschmack anhaftet. Es schien einfach, im Vertrauen auf das eine reine göttliche Wort den richtigen Weg einzuschlagen. In Wahrheit zeigte sich rasch, daß eben der Kampf um sein Verständnis ohne die Stützen der Tradition Abgründe eröffnete, denen nicht nur die Theologie, sondern alsbald auch das Herzogtum selbst zum Opfer zu fallen drohten - Menetekel jener gewaltigen Auseinandersetzungen, die ganze Staaten zu zerreißen drohten. Der Kampf auf Biegen und Brechen, wie er seit der Jahrhundertmitte tobte, hatte ein Vorspiel in den frühen dreißiger Jahren. In beiden Fällen trat die Enge der jungen lutherischen Bewegung, die
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Bd. l, S. 119ff., und Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg (Anm. 3), Bd. l, S. 219ff. Vgl. ebd., Bd. l, S. 221.
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doch selbst eine Befreiungstat größten Ausmaßes war, noch zu Lebzeiten des Reformators unverkennbar zutage. Die Zukunft gehörte dem Luthertum keine halbe Generation. Und mochte seine Abwehr der Sozialrevolutionären Konsequenzen aus vielerlei Gründen verständlich bleiben; seine theologische Abkapselung und Defensivhaltung mußte ihm rasch die besten Kräfte entfremden. Es ist von allergrößtem Interesse zu beobachten, wie der Herzog in beiden Fällen die der Moderne zugewandte Richtung favorisierte, bevor er in beiden Fällen zum Rückzug genötigt werden und der herrschenden Strömung sich anbequemen mußte.28 Zunächst ging es wie überall um die Auseinandersetzung mit den radikalen Kräften im Blick gleichermaßen auf Theologie wie auf Politik. Beidemal haftete den Widersachern das Schmähwort Schwärmer rasch an, das von dem gleichen Geschmack begleitet war, wie das des Utopisten heute - Diskreditierung eines Allfälligen und Konsequenten im Namen von Augenmaß, Kompromißbereitschaft und Wahrung des Überkommenen.29 Cellarius, schon in Wittenberg in Kontakt mit dem Zwickauer Propheten, hatte chiliastische und spiritualistische Ideen nach Königsberg getragen, war allerdings sogleich in Haft genommen worden. Langfristig gefährlicher wurden Gedankengut und Einfluß Caspar Schwenckfelds. Er war in Liegnitz persönlich mit dem Herzog bekannt geworden und fand in ihm einen aufmerksamen und nachdenklichen Gesprächspartner. Die Königsberger theologische Trias Briesmann, Speratus, Poliander aber, Luther bedingungslos ergeben, bildete einen Schutzschild vor dem aus Schlesien herüberkommenden Gedankengut, das intellektuell so attraktiv war, bot es doch lange vor den Zürichern und Genfern einen symbolischen Weg zu den Sakramenten statt des realistischen wortwörtlichen Verständnisses, auf das Luther und die Seinen sich versteiften. Einfallstor für den Schwenckfeldianismus in Königsberg war Friedrich von Heideck.30 Er wußte den Herzog zu einem Religionsgespräch zu bewegen. Es fand in Rastenburg statt und weitete sich rasch aus zu einer Kontroverse um das Wort Gottes selbst, das die >aufgeklärten< Schlesier gleichfalls seiner puren 28 29
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Vgl. zu den allgemeinen Darstellungen die oben (Anm. 6) aufgeführte Literatur. Vgl. das eingehende Kapitel »Die Sicherstellung der preußischen Landeskirche gegen die Schwarmgeister 1531 bis 1535« bei Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. l, S. 184-204. Vgl. auch Arnoldt: Kurzgefaßte Kirchengeschichte (Anm. 11), S. 378ff.: »Von den Wiedertäufern in Preußen«. Hinzuzunehmen Hubatsch: Geschichte der evangelischen Kirche (Anm. 11), Bd. l, S. 67ff. Zu ihm wiederum eingehend Paul Tschackert: Friedrich von Heideck, Herr auf Johannisburg und Lötzen (| 1536). In: Sitzungsberichte der Altertumsgesellschaft Prussia 17 (1892) 67-108; Theophil Besch: Friedrich von Heydeck. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und Säkularisation Preußens. In: Altpreußische Monatsschrift 34 (1897) 473-535 (zugl. Diss. phil. Königsberg 1897).
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Wortwörtlichkeit enthoben und seinem inneren Sinn nach aufgefaßt und weiterentwickelt, nicht aber als geoffenbartes dogmatisch fixiert, an das Predigtamt gekoppelt und ein für alle Mal festgeschrieben sehen wollten.31 Luther selbst schaltete sich in der üblichen Manier mit einem an den Herzog adressierten Sendschreiben wider etliche Rottengeister (Wittenberg 1532) ein, in dem er die Autorität der Kirche gegen das institutionell nicht abgesicherte Wirken des Geistes setzte und bedingungslos zur Ausweisung riet: »Ich wollte lieber nicht allein aller Rottengeister, sondern aller Kaiser, Könige und Fürsten Weisheit und Recht wider mich lassen zeugen, denn ein Jota oder Tüttel der ganzen heiligen christlichen Kirche wider mich hören oder sehen«.32 Es waren die Züricher, die sich nun herausgefordert sahen und das Gehör des Herzogs fanden, der sich keineswegs dem Lutherischen Rat anbequemte, sondern - wie sein Leben lang - auf Gespräch, auf Abwägen und letztlich erasmisch auf Ausgleich setzte.33 Es gezieme ihm, es gezieme der Obrigkeit nicht, »mit Gewalt in die Leute den Glauben zu dringen«.34 Das war Hoffnung und innerster Gehalt der humanistischen Intelligenz so wie es als Fazit der Staatstheoretiker dreißig Jahre später in Frankreich angesichts des Wütens der konfessionellen Parteiungen gezogen und herüberwirkend in das Zeitalter der Aufklärung wurde. Es bedurfte der Ereignisse von Münster, um Albrecht zur Abkehr vom Schwenckfeldianismus zu bewegen und die Fortentwicklung auf preußischem Boden zu unterbinden. Aber war damit wirklich die Wahrheit der Lehre aus Schlesien widerlegt? Die Frage kehrte auf andere Weise wieder in jener zweiten Kontroverse, die das Luthertum auf dem Weg zur bewegungs- und bedingungslosen Orthodoxie zeigte, dem die Zukunft unmöglich gehören konnte, die gleichwohl und eben deshalb verhängnisvoll weit über Preußen hinaus wirkte. Die Reformation war auf das Wirken talentierter Prediger angewiesen. Es gehört zu den Mysterien der im Aufbruch befindlichen Bewegung, daß ihr diese von überall her zuwuchsen. Sie blickten auf Luther. Aber sie dachten ihn selbständig weiter und verkündeten das neugeborene Evangelium nach je eigener Einsicht und Erfahrung. Das hat der deutschen Reformation gerade in den Städten ihre reiche Physiognomie verliehen, wie sie der Vielgestaltigkeit des Reiches so ungemein entgegenkam. Bucer in Straßburg, Brenz in Württemberg, Osiander in Nürnberg - wer hätte diese Namen nicht vor 31
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Vgl. Acta des Rastenburgischen Colloquii, so zwischen den Evangelischen und denen WiedertäfFern A. 1531 ist gehalten worden. Ex MSCto. In: Erleutertes Preussen l (1723) 266-280, 448-463. Zit. nach Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. l, S. 198. Vgl. ebd., Bd. 2, Nr. 861. Zit. nach ebd., Bd. l, S. 198.
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Augen, der in die Zentren der oberdeutschen Reformation schaute? Und so nicht anders im Norden und Osten von Bugenhagen über Gnaphaeus bis hin zu den Königsbergern, deren individuelle Handschriften ja unverkennbar waren. So gesehen war das Ringen um ein uniformes Dogma auch ein Angriff auf die Vitalität und Originalität der glaubend erschlossenen neuen Wirklichkeiten. Dieser Angriff kam bezeichnenderweise zumeist aus den Reihen jener, denen die Rechtmäßigkeit des Buchstabens vor ihrer Beglaubigung durch die je eigene Erfahrung rangierte. Mit der ersten Generation der Reformatoren ging eine Blüte eigenwilliger Köpfe dahin, die sehr wohl erahnen ließ, welche Spannbreite gläubiger Zuwendung zu Gott in der Sprengung des Überkommenen beschlossen lag. Zu diesen geprägten Gestalten, kantig, unwirsch, unbeugsam, gehörte der Mann, der an der Wiege der Königsberger Reformation gestanden hatte und wie niemand sonst zu ihrem Schicksal wurde - Andreas Osiander. Er hatte Tuchfühlung mit der Renaissance besessen, auf unbekannten Wegen v. a. Zugang zu dem Werk Pico della Mirandolas und Ficinos gewonnen und diesen inspirierenden Impuls nie wieder verleugnen wollen oder können. Denn was, wenn wir den Versuch wagen wollen, mit ein, zwei Sätzen sein theologisches Profil zu umreißen, war es, das er der reformatorischen Botschaft als philosophische Mitgift verabreichte? Nichts anderes als jene die Größten der reformatorischen Bewegung umtreibende und faszinierende Zuversicht, daß die Begegnung mit der göttlichen Natur Christi - sie stand ganz selbstverständlich außer jeder Frage - zu einer Teilhabe des Menschen an ihr führen mußte, wenn anders sie denn wirklich glaubend ergriffen werden sollte. Die göttliche Natur Christi, inkorporiert in Fleisch und Blut einer unvertretbaren Person, sie durfte jeden Einzelnen ermutigen im Glauben an sich und seinen göttlichen Ursprung, durfte ihn hoffen lassen, sich zu vervollkommnen, mehr noch, das Leben als geheiligtes zu erfahren, weil die göttliche Natur Christi als mächtige innere Potenz heiligend das Leben umpflügte. War das prinzipiell etwas anderes, als was die Schwärmer, von denen auch ein Osiander sich distanzierte, mit ihren Worten vom Weben und Wirken des neuen, alles verwandelnden Geistes behauptet hatten? Ja, war es nicht letztlich auch noch der Lutherischen sola-fide-Lehre inhärent? - Wie auch immer. Die Wächter über die Lutherische Lehre wollten zunächst und zuallererst die Opferhandlung Christi anerkannt und zum Grund des Glaubens erhoben wissen. Es war Christi erste Bestimmung, den Menschen von seiner adamischen Natur zu erlösen durch sein eigen Fleisch und Blut: So der ebenso unergründliche wie barmherzige Ratschluß Gottes, der glaubend dankbar anzunehmen und als objektiver Glaubensgrund fortan predigend zu bezeugen, dogmatisch zu fixieren war. Osiander aber hielt unbotmäßig dagegen, daß Christus
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auch hätte kommen müssen, wenn Adam nicht gesündigt hätte, eben um ein unvergängliches Bild göttlichen Wandels auf Erden zu statuieren, gänzliche Ergebung in den Willen Gottes ein einziges Mal rein und ganz zu verkörpern und figural zu stiften.35 Gewahrt man, um was es weit über den konkreten Fall und die einsam kämpfende Persönlichkeit hinaus ging? Um nichts anderes und nicht weniger als die Behauptung der Würde und Einmaligkeit des Menschen, urbildhaft verkörpert in Christus, zu wiederholen in jeder auf Christus wesentlich und wesenhaft bezogenen Existenz. Es sollte das kardinale Thema der Frühen Neuzeit im Spannungsfeld von Glauben und Wissen bleiben. Und es wurde paradigmatisch am Anfang im Zeitalter der Reformation in Königsberg genauso ausgekämpft wie im Zeitalter der reifen und späten Aufklärung noch einmal, als es eine Reprise von welthistorischer, von universaler Bedeutung erfuhr und in größtmöglicher Vertiefung des philosophischen wie des theologischen Gedankens eben von Königsberg aus dem neuen Jahrhundert und damit der Moderne überliefert wurde, um bis heute die an dem Problem und gedanklichen Projekt Anteilnehmenden zu begleiten. Vordergründig siegten die Widersacher Osianders auf der ganzen Linie. 35
Osianders Wirken und Theologie ist durch drei zeitlich aufeinander abgestimmte Dissertationen hervorragend erschlossen. Vgl. Gottfried Seebaß: Das reformatorische Werk des Andreas Osiander. Anhang: Portraits von Andreas Osiander. Nürnberg: Verein für Bayerische Kirchengeschichte 1967 (= Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, 44); Martin Stupperich: Osiander in Preußen 1549-1552. Berlin, New York: de Gruyter 1973 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte, 44); Jörg Rainer Fligge: Herzog Albrecht von Preußen und der Osiandrismus 1522-1568. Diss. phil. Bonn 1972. Alle drei Arbeiten sind vorzüglich mit Literaturverweisen ausgestattet, so daß sich hier die Aufführung der älteren, reichhaltigen und selbstverständlich äußerst wichtigen, den Kampf um das Bild Osianders bezeugenden Quellen und Literatur erübrigt. Vgl. auch das Kapitel »Osiandrischer Streit und Synkretismus« bei Wermke: Bibliographie (Anm. 2), Bd. l, S. 379f. (Herausragend immer noch die Dokumentation bei Arnoldt: Kurzgefaßte Kirchengeschichte [Anm. 11], S. 412ff: »Von dem Osiandristischen Streit«). Hinzuzuziehen für die preußische Phase Osianders jetzt v. a. - soeben abgeschlossen - Andreas Osiander: Gesamtausgabe. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hrsg. v. Gerhard Müller und Gottfried Seebaß. 10 Bde. Gütersloh: Mohn 1975-1997; hier Bd. 9: Schriften und Briefe 1549 bis August 1551 (1994); Bd. 10: Schriften und Briefe September 1551 bis Oktober 1552 sowie Posthumes und Nachträge (1997). Vgl. auch die glänzend gearbeitete Bibliographia Osiandrica. Bibliographie der gedruckten Schriften Andreas Osianders d.Ä. (1496-1552). Im Auftrag der Reformationsgeschichtlichen Forschungsstelle an der Friedrich-Alexander-Universität zu Erlangen-Nürnberg bearb. v. Gottfried Seebass. Nieukoop: de Graaf 1971. Die grundlegende Biographie stammt wie immer aus dem 19. Jahrhundert, vgl. Wilhelm Möller: Andreas Osiander. Leben und ausgewählte Schriften. Elberfeld: Friderichs 1870, Ndr. Nieuwkoop: de Graaf 1965. Zur weiteren Literatur vgl. den Beitrag von Thomas Kaufmann in diesem Band und den eindringlichen Artikel von Seebaß in der TRE XXV, S. 507-515.
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Ein leidenschaftlicher Osiandrist endete auf dem Schafott. Doch in Dingen des Geistes gibt es keine endgültigen und unwiderruflichen Siege. Das Wahre, einmal in der Welt, sucht sich seine Bahn und seine Sprecher. Und wer von Osiander etwa zu Schleiermacher herüberblickt, wird sein Anliegen verwandelt in dem großen Berliner Theologen aus Preußens größter Zeit wiederfinden und aufgehoben sehen. Es ehrt den Herzog, daß er sich mit ganzer Kraft und seiner ganzen Autorität auf die Seite Osianders schlug und ihm noch dort die Treue hielt, wo der Angegriffene und Verletzte eifernd über das Ziel hinausschoß. Denn das will im Kontext der Kontroverse doch auch festgehalten werden, daß die Unmäßigkeit der eingesetzten Mittel im Kampf auf beiden Seiten keine Grenzen kannte und jedes theologische Mittel eben gut genug war, den Andersdenkenden und Glaubenden in Grund und Boden zu verdammen und aller teuflischen Ingredienzien zu bezichtigen. Im Kampf um und mit Osiander wurden die Schranken einer auf das Wort, auf das Dogma, auf die uniforme Rechtgläubigkeit fixierten Theologie schlagartig deutlich. Das Wort Gottes war nicht davor gefeit, in den Strudel bodenloser Verunglimpfung gerissen zu werden. Es war nicht eindeutig, es blieb auf Auslegung angewiesen. Aber das nicht alleine: Es wollte beglaubigt sein im Tun. Dies allein blieb letzter Gradmesser, nicht die Triftigkeit seiner dogmatischen Fixierung. In diese Richtung suchte v. a. der Herzog zu lenken - um des Glaubens wie um der Politik, des jungen und verletzlichen staatlichen Gebildes willen, das doch immer noch unter der Oberhoheit eines katholischen Königs stand! Vergeblich - auf den ersten Blick. Langfristig wurde er nicht anders wie sein theologischer Gewährsmann und alsbald seinem Schütze anbefohlener Untergebener voll und ganz bestätigt. Und das auf eigenem Boden im Kampf gegen jedwede als Abweichung diagnostizierte Häresie bis hin zum Pietismus, an dem die Orthodoxie ungeachtet aller Siege gerade in Preußen letztlich scheiterte und zerging. Ein paar Stationen seien mit wenigen Strichen rekapituliert bzw. erinnert.36 Als Albrechts Nachfolger Albrecht Friedrich den Hofpredi36
Für das folgende sind v. a. die bereits erwähnten, ausführlich dokumentierenden Darstellungen von Hartknoch und Arnoldt heranzuziehen. Vgl. Hartknoch: Preußische Kirchen-Historia (Anm. 11), S. 41 Iff.; Arnoldt: Kurzgefaßte Kirchengeschichte (Anm. 11), S. 283ff: »Kirchengeschichte nach der Reformation bis zu Ausgange des XVIten Jahrhunderts«; S. 467ff: »Von der Kirchengeschichte des siebzehenten Jahrhunderts bis 1657«; S. 557ff.: »Von dem bis zum Ausgange des siebzehenten Jahrhunderts Vorgefallenen«; S. 655ff: »Von dem gegenwärtigen Jahrhunderte«. Die Vorgänge sind v. a. verknüpft mit der theologischen Fakultät der Universität. Dazu eingehend Daniel Heinrich Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historic der Königsbergischen Universität. 2 Teile. Königsberg: Härtung 1746, (mit Zusatz zum Titel des 2. Teils:) welchem eine Nachricht von dem Leben, und den Schriften hundert Preußischer Gelehrten angehänget ist; ders.: Zusätze zu seiner Historic der Königsbergischen Universität. Nebst
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ger seines Vaters, David Voit, zum Bischof von Samland ernennen wollte, rebellierten die Stände, denn Voit galt als Philippist. Das reichte, um die Orthodoxie auf den Plan zu rufen. Ihr Kandidat Tilemann Heshusius hielt nicht nur die Königsberger Theologen, sondern alsbald auch die Königsberger Bürgerschaft mit seiner gegen die Reformierten gerichteten Lehre in Atem, daß Christus nicht nur in concreto, sondern auch in abstracto allmächtig und anzubeten sei.37 Im Dom mußte der Gottesdienst ausgesetzt, mußten die Prediger verpflichtet werden, die prekäre Frage nicht zu berühren, um das Feuer in der Stadt nicht weiter zu schüren. Als Kurfürst Johann Sigismund dann Weihnachten 1613 zum reformierten Bekenntnis übertrat, protestierten das lutherische Königsberg und Preußen.38 Der an der Universität tobende
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einigen Verbesserungen derselben, auch zweyhundert und fünfzig Lebensbeschreibungen Preußischer Gelehrten. Königsberg: Härtung 1776; ders.: Fortgesetzte Zusätze zu seiner Historie der Königsbergischen Universität. Nebst Nachrichten von dreyhundert und eilf Preußischen Gelehrten, auch Zusätzen zu des Herrn Profeßor Hambergers itztlebendem gelehrten Deutschland, und Verbeßerungen desselben. Königsberg: Härtung 1769; Ndr. aller vier Bände: Aalen: Scientia 1994. Hier im zweiten Teil, S. 119ff., das Kapitel »Von der theologischen Facultät« mit den Biographien der theologischen Professoren, S. 152ff. Dazu der wichtige biographische Anhang S. 474ff. mit zahlreichen weiteren Porträts und Nachweisen der Literatur. Diese dann fortges. in den Zusätzen, S. 112ff. und den Fortgesetzten Zusätzen, S. 70ff. (Insofern ist schon in Arnoldts Universitätsgeschichte mit ihrem starken biographischen Einschlag eine Tendenz erkennbar, die hingeleiten wird zu seinem großen posthumen Spätwerk, der preußischen Presbyterologie. Vgl. Daniel Heinrich Arnoldt: Kurzgefaßte Nachrichten von allen seit der Reformation an deren Lutherischen Kirchen in Ostpreußen gestandenen Predigern. Hrsg. v. Friedrich Wilhelm Benefeldt. Königsberg: Härtung 1777). Ansonsten selbstverständlich auch einschlägig und für die von uns verfolgten Zusammenhänge ergiebiger Arnoldt: Kurzgefaßte Kirchengeschichte (Anm. 11), S. 359ff., S.470ff., S.560ff, S. 657ff. zu den Vorgängen in der theologischen Fakultät. Arnoldt hat in seiner Kirchengeschichte den religiösen Minderheiten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. neben dem schon erwähnten Abschnitt zu den Widertäufern die Kapitel »Von dem Schicksal der Böhmischen Brüder in Preußen«, S. 395ff., »Von den Arianem und Juden in Preußen«, S. 410f, »Von den Philipisten und Synergisten«, S. 446ff., »Von dem mit den Socinianern Vorgegangegen«, S. 540ff., »Von dem Schicksal der Juden und Arianer oder Socianer«, S. 576ff., »Von den Schicksalen der Socianer und der Juden«, S. 818ff. Ansonsten knapp und das Wesentliche gut disponiert zusammenziehend Hubatsch: Geschichte der Evangelische Kirche (Anm. 11), Bd. l, S. 162ff. Vgl. Arnoldt: Kurzgefaßte Kirchengeschichte (Anm. 11), S. 451ff: »Von dem Heshusischen Streit«; Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg (Anm. 3), Bd. l, S. 338ff.; Hubatsch: Geschichte der Evangelischen Kirche (Anm. 11), Bd. l, S. HOff. Grundlegend bekanntlich die großen Darstellungen von Daniel Heinrich Hering (dem Verfasser der Geschichte des Schönaichschen Gymnasiums!): Historische Nachricht von dem ersten Anfang der Evangelisch-Reformierten Kirche in Brandenburg und Preußen unter dem gottseligen Churfürsten Johann Sigismund. Halle: Curt 1778; ders.: Verbesserungen und Zusätze zur Historischen Nachricht von dem ersten Anfang der evangelisch-reformirten Kirche in Brandenburg und
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Kampf um das Reformiertentum ist das eine; das andere sind die öffentlichen Akte praktizierter Intoleranz, in denen sich die in der Orthodoxie vorwaltende Geistigkeit hinreichend zu erkennen gab.39 Als Georg Wilhelm 1629 den Reformierten einen Teil des kurfürstlichen Schirrhofs auf der roßgärtischen Freiheit als Friedhof einräumte, protestierte die lutherische Geistlichkeit empört; ein christliches Begräbnis stehe Ketzern schließlich nicht zu. Die lutherischen Räte der Stadt legten ihr Veto ein gegen reformierte Leichenzüge in ihren Straßen; Sektierer seien eigentlich wie Türken und Heiden zu verscharren, allenfalls könne ein stilles Begängnis geduldet werden. Die reformierte Begräbnispredigt für den Vater des Großen Kurfürsten galt den Lutheranern als Kirchenschändung. Es bedurfte der Ankunft Friedrich Wilhelms, um die Verhältnisse zu ordnen und unter das selbstverständlich in staatlichem Interesse stehende Gebot der Toleranz zu stellen. Johannes Behm zunächst und sodann Cölestin Myslenta hatten sich - gestützt auf das universitäre Lehramt - als Häupter der Orthodoxie profiliert. Sie führten einen Mehrfrontenkrieg gegen vermeintliche oder wirkliche Schwenckfeldianer und Weigelianer, Philippisten und Synkretisten, Calvinisten und Arianer, wobei Begräbnisverweigerungen neben den standesüblichen Verunglimpfungen zum alltäglichen Repertoire gehörten. Es half alles nichts. Als es dem Großen Kurfürsten gelang, den Calixtianer Christian Dreier nach mörderischem Kampf ins theologische Lehramt zu schleusen, war eine Bresche in die orthodoxe Einheitsfront an der >Academie< geschlagen.40 Es blieb dem polni-
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Preussen. Halle: Carl 1783; ders.: Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Reformirten Kirche in den Preußisch-Brandenburgischen Ländern. 2 Tie. Breslau: Meyer 1784-1785; ders.: Neue Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Reformirten Kirche in den Preußisch-Brandenburgischen Ländern. 2 Tie. Berlin: Lange 1786-1787. Das gesamte Werk ist durchwirkt von preußenbezogenen Partien, so daß sich ein Einzelverweis erübrigt. Vgl. in dem Grundwerk v. a. S. 15ff., S. 332ff.; in den Beiträgen, Teil l, S. 89ff.; in den Neuen Beiträgen, Teil l, S. 240ff. Es ist ungeachtet seines zurückhaltenden, um Neutralität bemühten Tons eine beschämende Dokumentation des Umgangs der Lutheraner mit ihren >KonkurrentenNeusiedelland< gemünzten Rüstzeug.44 Doch zunächst empfehlen sich stets die traditionsgeschichtlichen Filiationen. Im Kantschen Kritizismus liegen sie nicht 43
Vgl. den Reprint der Daphne. Nachdruck der von Johann Georg Haman, Johann Gotthelf Lindner u.a. herausgegebenen Königsberger Zeitschrift (1749-1750). Mit einem Nachwort von Joseph Kohnen. Frankfurt/M. [u.a.]: Lang 1991 (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe A: Quellen, 5). Dazu Joseph Kohnen: Die Königsberger Daphne. Eine ungewöhnliche Kulturzeitschrift der Frühaufklärung. In: Recherches Germaniques 19 (1989) 3-30. Zu Baczkos Preußischem Tempe (1781) vgl. Johannes Sembritzki: Die ostpreußische Dichtung 1770 bis 1800. In: Altpreußische Monatsschrift 45 (1908) 217-335, 361-440; 48 (1911) 493-527. Zu Kanther zuletzt mit weiterer Literatur Joseph Kohnen: Druckerei, Verlags- und Zeitungswesen in Königsberg zur Zeit Kants und Hamanns. Das Unternehmen Johann Jakob Kanters. In: Königsberg. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Begründet und hrsg. v. Joseph Kohnen. Frankfurt/M. [u.a.]: Lang 1994, S. 1-19. Hier auch S. 4f. zu den Königsberger Moralischen Wochenschriften. Vgl. auch: Botho Rehberg: Geschichte der Königsberger Zeitungen und Zeitschriften. I. Persönlichkeiten und Entwicklungsstufen von der Herzogszeit bis zum Ausgang der Epoche Kant-Hamann. Königsberg: Ost-Europa-Verlag 1942 (= Alt-Königsberg, 3); Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg (Anm. 3), Bd. 2, S. 139f., S. 233ff. Zum Kontext: Ferdinand Josef Schneider: Theodor Gottlieb von Hippel in den Jahren von 1741 bis 1781 und die erste Epoche seiner literarischen Tätigkeit. Prag: Taussig und Taussig 1911; Joseph Kohnen: Theodor Gottlieb von Hippel. 1741-1796. L'homme et l'oeuvre. Bern [u.a.]: Lang 1983. 44 Vgl. Josef Nadler: Deutscher Geist / Deutscher Osten. Zehn Reden. München, Berlin: Oldenbourg; Zürich: Verlag der Corona 1937. Dazu Rudolf Unger: Die Vorbereitung der Romantik in der ostpreußischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Betrachtungen zur stammeskundlichen Literaturgeschichte. In: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 26 (1925) 60-88, wiederabgedruckt in: ders.: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Berlin: Junker und Dünnhaupt 1929 (= Gesammelte Studien, 1) (= Neue Forschung. Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen Völker, 1), S. 171-195.
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anders auf der Hand als im Hamannschen Logozentrismus. Der Rückgang zu den letzten Prinzipien des Erkennens, des Handelns, der Zwekke, ihr Herausspinnen aus der Morphologie der reinen theoretischen, praktischen und Ideologischen Vernunft, wäre er je geschehen ohne den nun fast dreihundert Jahre währenden Prozeß des Reduktionismus, der da mit der Theologie des reinen Wortes anhob und nach nicht abreißenden Qualen endete in der Anerkenntnis reiner Innerlichkeit moralisch-empfindsamer Integrität als der einzigen und letzten Bürgschaft göttlicher Bestimmung?45 Und verwies nicht noch die Eliminierung von Gefühl, von Mitleid, von empirischer Affektation im moralischen Imperativ auf den Ort seiner Herkunft? Ist die reine Innerlichkeit der schönen Seele gar so weit entfernt von der rigorosen Schroffheit des kategorischen Sollens, wie Kant uns glauben machen wollte? Wer schreibt uns das Buch über seine Verwurzelung nicht nur in der Welt der Gedanken, sondern auch der der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts? - Wie auch immer. Indem Hamann der Kantschen Deduktion apriorischer transzendentaler Prinzipien in Logik und Ästhetik, Moralund Sittenlehre die Theologie des Logos entgegenhielt, warf er sich auf als Erbe, als Zeuge, als Sachwalter all dessen, was seit Agrippa und Paracelsus, seit Schwenckfeld, Böhme und wie sie hießen als Mysterium göttlicher >Einwohnung< in Natur, Mensch und Geschichte gegen Luthers Christozentrismus statuiert worden war, in Goethe nicht anders als in Hardenberg, Schelling, Creutzer usw. verwandelt fortlebte.46 Daß es Königsberg vergönnt war, im Zenit seiner geistigen Geschichte nicht nur im Kantschen Kritizismus einen zweitausendjährigen philosophischen Kursus zu einem Abschluß gelangen zu sehen, sondern in Hamanns Theologie über den Logos pseumatikos auch dem mystischen Spiritualismus in seinen tausend Ausformungen eine geistige Heimstatt bewahrt zu wissen, will uns wie eine Erfüllung der vermittelnden Kraft erscheinen, die Königsberg zwischen Ost und West in seinen besten 45
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Vgl. in unvergleichlicher Prägnanz Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie. In: ders.: Jenaer Kritische Schriften. Hrsg. v. Hartmut Buchner, Otto Pöggelert. Hamburg: Meiner 1968 (= Hegel: Gesammelte Werke, 4), S. 113-205, 315-414. Vgl. Josef Nadler: Hamann, Kant, Goethe. Vortrag gehalten am 11. Januar 1931 in öffentlicher Sitzung der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Halle/Saale: Niemeyer 1931 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse, Jg. 8, Heft 3), wiederabgedruckt in: Nadler: Deutscher Geist (Anm. 44), S. 106-126. Das gerade für die Traditionsbezüge nach wie vor reichste Bild wiederum bei: Josef Nadler: Johann Georg Hamann. 1730-1788. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzburg: Otto Müller 1949. Hinzuzunehmen der gehaltreiche ideengeschichtliche Forschungsbericht von Karlfried Gründer: Geschichte der Deutungen. In: Die Hamann-Forschung. Gütersloh: Berteismann 1956 (= Johann Georg Hamanns Hauptschriften erklärt, 1), S. 9-140.
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Traditionen bewährte und im Kairos bleibend zur Geltung brachte. Es war, auch daran sei erinnert, kein anderer als der größte Geist der deutschen Aufklärung, es war Herder, der die geschichtsphilosophische Summe dieser coincidentia oppositorum zog, wie sie in Königsberg Raum zur geistigen Entfaltung fand. 2. Königsberger Archiv-, Bibliotheks- und Museumslandschaft Beschließen wir mit diesen Sätzen unsere Rhapsodie, nur um eine momentane Vergegenwärtigung Königsberger Geistigkeit im Spiegel zumal der Theologie bemüht - die auch ganz anders hätte aussehen können, indem wir z. B. auf die Musik oder die Porträtkunst oder die Architektur oder auf die Literatur geschaut hätten, über die wir an anderer Stelle im Zusammenhang einer kleineren Kulturgeschichte Königsbergs zu handeln gedenken -, und wenden wir uns den Memorialstätten zu, denen es oblag, das reiche und zuweilen überbordende intellektuelle Erbe zu bergen und der Nachwelt zu überliefern. Oblag? Wir tun gut daran, auch im Falle Königsbergs das naturwüchsige Element nicht zu unterschätzen, das in allen und gerade den kommunalen Sammelstätten stets mitspielte. Und das keinesfalls nur zum Nachteil der jeweiligen Institutionen. Sie sind mehr und anderes als Reißbrett-Schöpfungen. In ihnen lagert sich Zeit ab und zwar mit allem, was sie an Zufälligem, Beiläufigem, für den Tag Bestimmtem mit sich führt. Kommunale Schöpfungen mögen ihren Ursprung hochherzigen Schenkungen verdanken; so auch im Falle Königsbergs. Sie sind in aller Regel nicht angelegt auf planmäßige Vermehrung, vollständige Dokumentation, systematische Erschließung aller Wissensgebiete. Diesen Anspruch verfolgen zunächst viel lieber und mit viel mehr Erfolg Privatbibliotheken oder aber fürstliche Schöpfungen mit repräsentativen, von Prestigedenken geleiteten Ambitionen. Für die Bürger einer Stadt und zumal ihre gelehrten Kreise hat das Bewußtsein Vorrang, wenigstens einen Ort innerhalb der heimatlichen Mauern ausgewiesen zu wissen, an dem zusammenströmt, was sie ihnen aus dem Umkreis ihres Lebens, sofern es auf das Sammeln oder gar auf das aktive Ausüben geistiger, künstlerischer Tätigkeit ausgerichtet war, zueignen und fortan derart mit ihrem Namen verknüpfen. In diesem Sinn sind die städtischen Bibliotheken an erster Stelle, durchaus aber auch Museen, Archive, Vereine usw. lebendigster Spiegel der schöpferischen Potenzen eines Gemeinwesens gewesen, denn sie zogen ihren Reichtum aus der privaten Initiative, die durch kein noch so ausgeklügeltes System der Archivierung zu ersetzen oder zu überbieten war. Zählen tut in erster Linie der Faktor Zeit. Indem Generation auf Generation den
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Reichtum mehrt, findet ja nicht nur eine numerische Akkumulation statt, sondern verdichtet sich die Substanz der Sammlung durch Verweise, Anschlüsse, Kontexte, wie sie nur der Zufall beschert, der auf unbekannten und allenfalls im Nachhinein sinnvollen Wegen Konzentration, individuelle Physiognomierung im Gefolge führt. Wird dieser Wachstumsprozeß durch Brand, Anschläge, Vandalismus, Bombenterror plötzlich sistiert, so bedeutet dies die schlimmstmögliche Katastrophe, weil ein nie wiederholbarer geschichtlicher Vorgang mit einem Schlag zerstört wird. Die Erinnerung, die an jedem einzelnen Sammelobjekt, aber vielmehr noch an ihrer Konfiguration in einem geschichtlichen Ensemble haftete, ist im Nachhinein nicht wieder einzuholen. Streng genommen wird ein sozialer Verband nach Eintritt einer derartigen Katastrophe in den erinnerungs- und geschichtslosen Raum entlassen. In Königsberg überlagerten sich kommunale und territoriale, bürgerliche und fürstliche Aktivitäten, beide ihrerseits durchkreuzt oder besser doch ergänzt durch land- und beamtenadlige Ressourcen. Viel präziser als die Stadtgemeinde pflegt das regierende Fürstentum um den Wert kultureller Institutionen zu wissen.47 In der neueren Zeit zumal an den italienischen Fürstenhöfen gepflegt, trugen sie dazu bei, den häufig wenig rühmlichen und von nur allzu kurzer Hand bewältigten Aufstieg an die Spitze zu kaschieren wie zu verklären und allemal für imperiale Repräsentanz, wo immer möglich auch für dynastische Kontinuität zu sorgen. Dieser an antiken und speziell römischen Vorbildern geschulte kulturelle Funktionalismus und Legitimismus blieb keinem Fürstenhaus fremd und führte zu jener unerhörten Blüte residentialer Kultur, wie sie besonders dem Heiligen Römischen Reich in seiner territorialen Vielfalt so ungemein entgegenkam. Der Nordosten 47
Die Kunst- und Kulturgeschichte am Hofe Albrechts ist bekanntlich ein Lieblingsthema der Königsberger Historiographie. Vor allem die älteren Arbeiten sind nun ihrerseits ein Monument der versunkenen Kultur geworden. Vgl. Hermann Ehrenberg: Die Kunst am Hofe der Herzöge von Preußen. Leipzig, Berlin: Giesecke & Devrient 1899; Peter Gerrit Thielen: Die Kultur am Hofe Herzog Albrechts von Preußen (1525-1568). Göttingen: Musterschmidt 1953 (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, 12) (Der Hof, Bildende Kunst, Musik, Das Buch, Humanismus, Kriesgkunst). Hier, S. 121-131, auch ein Kapitel »Die Bibliotheken«, freilich, wie es zu sein pflegt in aneinanderreihenden Darstellungen, ohne Neuigkeitswert. Vgl. auch den Führer zu einer unter der wissenschaftlichen Leitung von Walther Hubatsch zustandegekommen Ausstellung: Albrecht von Brandenburg-Ansbach und die Kultur seiner Zeit. Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn 16. Juni - 25. August 1968. Düsseldorf: Rheinland-Verlag [o.J.]. Zur Bibliothekspolitik Albrechts vgl. auch den wichtigen Beitrag von Jürgen Petersohn: Albrecht von Preußen und Ottheinrich von der Pfalz. Ein vergleichender Beitrag zur deutschen Fürstenkultur und Bibliotheksgeschichte der Renaissance. In: Archiv für Kulturgeschichte 39 (1957) 323-360.
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leistete mit Königsberg auch in dieser Hinsicht einen unverwechselbaren Beitrag, trat der neue Staat doch überhaupt erst mit der Reformation in die Welt und begriff sich fortan geradezu paradigmatisch als eine Schöpfung aus ihrem Geist, deren Chancen auch kulturell manifest werden sollten. Der Herzog selbst ließ es sich angelegen sein, das Schloß, hervorgegangen aus der Ordensburg, partienweise zu einer Memorialstätte zu erheben. Auf diese Weise konzentrierte sich fortan in Königsberg die städtische und die territoriale Überlieferung, waren kommunale und staatliche Quellen an einer einzigen Stelle zusammengezogen. Nimmt man hinzu, daß die Stadt, wie erwähnt, dreigliedrig strukturiert war, alle drei Städte kommunale Autarkie besaßen und dementsprechend eigene kulturelle Institutionen pflegten, überdies noch unter dem ersten Herzog als typisch landesherrlich-reformatorische Schöpfung eine bedeutende Universität errichtet wurde, so wird verständlich, daß Königsberg bis zu seiner Auslöschung als geistige Metropole des Nordostens auch im Blick auf die vielfältigen Stätten sammlerischer Kultur gelten durfte. Das Staatsarchiv Im Ursprung stand das Erbe, das Königsberg aus der Ordenszeit verwahrte.48 Der Orden hatte nach der Aufgabe Venedigs im Jahre 1309 keineswegs seine gesamte archivalische Hinterlassenschaft an den neuen Sitz des Hochmeisters nach Marienburg überführt. Er hat offensichtlich auch später keine Anstrengungen unternommen, alle nach der Flucht aus Akko überkommenen Dokumente an einem Ort zusammenzuziehen. Auf preußischen Boden hat sich also zu keinem Zeitpunkt die gesamte erhaltene urkundliche und aktenförmige Überlieferung des Ordens befunden. Venedig, Wien, zeitweilig auch Magdeburg, 48
Zum folgenden grundlegend Kurt Forstreuter: Das Preußische Staatsarchiv in Königsberg. Ein geschichtlicher Rückblick mit einer Übersicht über seine Bestände. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1955 (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archiwerwaltung, 3). Vgl. von dems. auch: Das Staatsarchiv Königsberg als Quelle für die allgemeine Geschichte. In: Hamburger Mittel- und Ostdeutsche Forschungen 6 (1967) 9-35. Am Rande auch: Meile Klinkenborg: Die Bedeutung des Preußischen Geheimen Staatsarchivs für die Geschichte des deutschen Ostens. In: Korrespondenzblatt des Geschichtsvereins 76 (1928), Sp. 167173, sowie den (schon völkisch durchsetzten) kleinen Führer von Max Kein: Das Staatsarchiv Königsberg und seine nationale Bedeutung. Elbing: Preußenverlag 1933 (= Preußenführer, 3). Informativ auch die Bestandsübersicht von Erich Weise: Das Staatsarchiv Königsberg. Seine Bedeutung für die deutsche und europäische Wissenschaft. In: Zwei Gutachten über die Archive des Deutschen Ordens sowie des altpreußischen Herzogtums. Völkerrechtliches Gutachten vorgelegt von Herbert Kraus. Historisch-archivalisches Gutachten vorgelegt von E. Weise. Göttingen 1949 (maschinenschriftl), S. 13-32.
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waren die bevorzugten Stätten, die sich in den Besitz von Ordenszimelien teilten. Auch in Preußen war das dorthin Verbrachte nur die kürzere Zeit während einer langen Überlieferungsgeschichte beisammen. Zwischen 1309 und 1454 war die Marienburg der gegebene konkurrenzlose Verwahrungsort. Als seine Aufgabe im Ständekrieg vorbereitet werden mußte, galt eine ganz besondere Sorge des Ordens selbstverständlich den Zeugnissen seiner Geschichte. Die Wege, auf denen es gelang, die kostbare Habe zu retten, sind im einzelnen ganz offensichtlich nicht mehr rekonstruierbar. Genug, daß sich zwei zentrale Verwahrungsstätten herauskristallisierten, die Ordensburg in Tapiau und der neue Sitz des Hochmeisters auf der Ordensburg in Königsberg. Bis zum Jahre 1722, das möge stets erinnert werden, fungierten beide Orte als Verwahrungsstätten. Erst ein königlicher Machtspruch vornehmlich an die Adresse der Stände bewirkte die Zusammenführung in Königsberg, die zeitlich genau mit der Zusammenlegung der drei Städte zusammenfiel. Seither fungierte Königsberg so unangefochten wie einst die Marienburg als Hort des geistlichen Ordensstaates auf preußischem Boden. Dem tat auch die Gründung des Staatsarchivs Danzig im Jahre 1901 keinen wesentlichen Abbruch. Wie ein Wunder will es erscheinen, daß die älteste Überlieferungsschicht des Staates, der wie kein anderer zum Schicksal Deutschlands, nein Europas wurde, durch alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts weitgehend unversehrt hindurchgebracht werden konnte und heute in der alten preußischen Hauptstadt seine definitive Bleibe gefunden hat. Geschichtlich gleich bedeutsam und bestandsmäßig vielleicht noch wertvoller war das herzogliche Erbe, das Königsberg barg. Der Umstand, daß der erste weltliche Fürst nach Auflösung des Ordenstaates sich eingestandenermaßen als universal interessierter und betätigender Autodidakt begriff, hat für die Physiognomie Königsbergs als Memorialstätte bis heute und also über den Untergang der Stadt hinaus merkliche Konsequenzen gehabt. Die mangelnde eruditäre Professionalität wurde wettgemacht durch eine lebenswährende Bemühung um Assimilation der kurrenten Bildungsstoffe, die die schönsten sammlerischen Früchte zeitigte. Es ist, so will es uns scheinen, diese Präponderanz der umfassenden gelehrten Bemühung, die die Ausbildung einer vornehmlich repräsentativen Kultur am Hof in Königsberg in maßvollen Grenzen gehalten und ihr jenen nüchternen und verhaltenen Zug eingezeichnet hat, der sich so vorzüglich mit dem religiösen Selbstverständnis des Fürsten verband. Weil das Herzogtum an vorderster Linie der Reformation stand, weil es Ordnungen einführte, Entscheidungen traf und aus singulärer verfassungsrechtlicher Position heraus agierte, wurde es automatisch weit über seine Grenzen hinaus wahrgenommen. Seine Stellung zwischen dem Reich, Livland, Litauen und
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Polen, alsbald auch den aufstrebenden Mächten Schweden und Rußland, verschaffte ihm einen (prekären) Aktionsradius, der sich automatisch in einer Vielfalt von Kontakten und damit einer großen Masse verschriftlichter Zeugnisse niederschlagen mußte. Der Herzog nutzte sein fürstliches Privileg zu einem umfassenden Austausch keineswegs in erster Linie mit Standesgenossen, sondern mit Gelehrten, Theologen, Verlegern, Buchhändlern usw., die eine Vielzahl von Informationen nach Königsberg brachten. Das herzogliche Briefarchiv, in mehr als vierzig Jahren gewachsen, dürfte insgesamt die reichhaltigste Dokumentation darstellen, die sich, fürstlicher Provenienz entstammend, aus dem Zeitalter der Reformation erhalten hat. Die Arbeiten, die aus ihm vornehmlich seit dem 18. Jahrhundert geschöpft wurden und die bis heute nach wie vor möglich sind und vielfach ja bereits durchgeführt wurden, ruhen alle, wo sie substantiell wirklich in die Tiefe dringen, auf diesem offensichtlich unerschöpflichen Fundus. Ordensarchiv und herzogliches Archiv waren wie die sonstigen Urkunden, Akten, weiteren Schriftstücke Bestandteil der fürstlichen Kanzlei. Sie waren damit zu einem Gutteil dem Sachverstand und historischen Interesse ihrer Kanzler überantwortet. Nimmt es wunder, daß Herzog Albrecht auch in dieser Sparte das ihm Mögliche tat, um die besten Kräfte an sich zu binden? Gleich der erste Kanzler des weltlichen Herzogtums Friedrich Fischer, in humanistischem Geist aufgewachsen, ein Freund Huttens (dem er die Vallasche Schrift gegen die Konstantinische Schenkung zuspielte), hat neben den politischen und verwaltungsmäßigen Geschäften seine ganze Sorgfalt auf die Sichtung und Ordnung der archivalischen Hinterlassenschaft des Ordens gewandt. Das war keinesfalls selbstverständlich. Das Ordenskapitel war mit Säkularisation und Reformation prinzipiell abgeschlossen. Es bedurfte des Sinnes für geschichtliche Kontinuität und mehr vielleicht noch der Anteilnahme für die Geschicke einer bestimmten historisch gewachsenen Region, wie sie im Zeitalter des Humanismus überall aufkeimten, um dem geistlichen Vorgänger sein Überlebensrecht in seinen schriftlichen Zeugnissen zu sichern. Dieser Impetus ist dem Königsberger Archiv, das als herzogliches Archiv, als Archiv des EtatMinisteriums, als Provinzialarchiv und schließlich als Staatsarchiv firmierte, weit über die wechselnden Zwecke seines satzungsmäßigen und regierungsamtlich-staatlichen Auftrags in seiner Geschichte erhalten geblieben und hat es zu einem für alle kulturgeschichtlichen Disziplinen ungewöhnlich reichhaltigen und ergiebigen Reservoir heranwachsen lassen. Sammlungen ruhen auf der unermüdlichen Aktivität passionierter Einzelner. Eine fürstliche Figur von der Statur Albrechts hat es im östlichen Preußen kein zweites Mal gegeben und konnte es schwerlich geben, war doch die ausgebreitete Aktivität der Stunde des Neubeginns
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auf allen Gebieten geschuldet. Und doch will es scheinen, als habe der anfängliche Impuls fortgewirkt und die Nachfolger inspiriert. Denn nun, um die Mitte des 16. Jahrhunderts, waren schon zwei singuläre Vermächtnisse zu bewahren, das des Ordens und das des Herzogs. Vielleicht hat dieser Umstand dazu beigetragen, dem Königsberger Archiv jene sammlerische Varietät und Vielfalt zu verleihen, die wenigstens in einigen Strichen angedeutet sein will. So war es mit Gewißheit der innigen Vertrautheit zwischen dem Herzog und seinem theologischen Berater und nachmaligen Bischof von Pomesanien zu verdanken, daß der immense Nachlaß von Paul Speratus von der ordnenden archivarischen Hand im unmittelbaren herzoglichen Umkreis belassen und dem herzoglichen Briefarchiv angeschlossen wurde. Ein zweiter wichtiger Nachlaß noch des 16. Jahrhunderts betraf das Vermächtnis des Chronisten Lucas David. Aus seiner handschriftlichen Chronik und den Vorarbeiten zu ihr findet man gerade in der reformationsgeschichtlichen Literatur immer wieder zitiert. Aus dem 17. Jahrhundert traten Nachlässe des Gesandten in Rußland Georg Johann von Keyserling, des Gesandten in Rußland, Polen und Litauen Johann Reyer und des Gesandten in Polen Johann Dietrich von Hoverbeck d.J. hinzu, in denen sich die Nähe zu den östlichen Nachbarstaaten sammlerisch auf das Schönste bewährte. Am bekanntesten ist der Fall des Fürsten Bogislav Radziwill in seiner Eigenschaft als Kurfürstlicher Statthalter in Preußen, der uns sogleich auch in bibliothekarischem Zusammenhang wieder begegnen wird. Der Nachlaß dieses mächtigen Magnaten konnte nicht vollständig in Königsberg gehalten werden, wanderte teilweise nach Pfalz-Neuburg ab. Die zahlreichen Dokumente, die ihrerseits den Schutz der Reformierten in Litauen bezeugten, den die Radziwills sich so besonders hatten angelegen sein lassen, blieben jedoch im Bestand des Preußischen Archivs. Zu diesen und anderen Nachlässen traten seit dem frühen 19. Jahrhundert unter der Ägide von Ernst Hennig planmäßige Bemühungen, das nun sog. Geheime Archiv in Königsberg zu einem Zentrum nicht nur von Archivalien, sondern von Altertümern für den gesamten preußischen Raum auszuweiten, die natürlich den allüberall sich regenden nachrevolutionären >vaterländischen< Bestrebungen geschuldet waren. Neben Urkunden und Akten wurden Waffen, Bilder, Schreibutensilien, Münzen, Siegel, Ausgrabungsgegenstände von den Ämtern angefordert und in Königsberg zusammengezogen. Das Archiv übernahm damit zeitweilig die Funktion der ja noch nicht existierenden vorgeschichtlichen und geschichtlichen Museen, genau so wie die Bibliotheken überall im Reich ihren Sammelauftrag über die Bücher hinaus in diese Richtung erstreckten. Deutlich wurde darin nur noch einmal, wie auch dreihundert Jahre nach dem Begründer des preußi-
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sehen Staates das Bewußtsein seiner Sonderrolle fortlebte und dem Archiv seine herausragende Stellung im kulturinstitutionellen Gefüge des Landes verlieh. Dazu trug schließlich auch die Eigenart bei, daß im Archiv eine bedeutende Bibliothek gepflegt wurde, die zu den Hunderten von mächtigen Folianten trat, in denen handschriftliches Material zusammengefaßt wurde und für die das Königsberger Archiv gleichfalls berühmt war. Schon mit den Nachlässen waren Bücher in das Archiv gelangt, so v. a. mit Folianten des Tribunalrats Zetzke im Jahre 1743. Mit der Hennigschen Verfügung kamen weitere landeskundlich ergiebige Bücher hinzu und wurden der jetzt gebildeten »Sammlung vaterländischer Altertümer« beigesellt, wie sie bis zuletzt im Königsberger Archiv bestand. Hennig wandte sein Interesse aber auch dem Aufbau einer Archivbibliothek selbst zu, die zunächst aus Beständen des angekauften Nachlasses Bolz bestritten wurde. Kein Geringerer als Max Freiherr von Schenkendorff hatte auf den besonderen Wert der Bibliothek des Kriegsrats Bolz verwiesen, die 200 Bände in Folio, 400 in Quart und 2000 in Oktav umfaßte, nicht ausschließlich aber doch vorwiegend Prussica. Im Turm an der Nordseite des Schlosses wurde ein besonderer Bibliotheksraum eingerichtet, wie er bis zum Neubau des Staatsarchivs im Jahre 1930 als solcher in Benutzung blieb. Auch unter Hennigs Nachfolgern wurde die Bibliothek weiter gepflegt, sammelte amtliche Druckschriften und erhielt durch Stiftungen wie die des Erzbischofs Borowski wertvollsten Zuwachs mit der Königsberger Gelehrten und Politischen Zeitung Kanters und der Königlich Privilegiertefnj Preußischein] Staats- Krieges- und Friedenszeitung Hartungs. Das Archiv hat mit Ernst Hennig, Johannes Voigt, Friedrich Meckelburg, Rudolf Philippi, Erich Joachim u.a. bekanntlich im 19. Jahrhundert bedeutende Wissenschaftler unter seinen Direktoren und Mitarbeitern gehabt, deren weitgespannte Interessen nicht nur im Archiv quellenmäßig befriedigt wurden, sondern selbstverständlich auch den Blick für bibliothekarische Lücken schärften. Unter Voigt wurde der Fonds für Geschäftsbedarf weitgehend für die Bibliothek verausgabt. Die Bibliotheken Ludwig Baczkos und Ernst Hennigs kamen geschlossen über Ankauf hinzu. Weiterer historischer Buchbestand wurde über die weiter gepflegte »Sammlung vaterländischer Altertümer« dem Archiv gesichert. Mit der Königlichen Bibliothek in Berlin ist 1855 sogar ein Bücheraustausch bezeugt.49 Als Karl Wilhelm von Lancizolle 1852 die Leitung der Preußischen Archivverwaltung übernahm, wurde anläßlich von Inspektionen im ganzen Land ausdrücklich die hervorragend gepflegte Archivbibliothek in Königsberg gerühmt, die an Größe 49
Forstreuter: Das Preußische Staatsarchiv (Anm. 48), S. 62.
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nur noch von der in Münster übertroffen werde.50 Sie umfaßte nach dem Zeugnis Ernst Forstreuthers vor dem Zusammenbruch rund 16.000 Bände51 und war damit, wie aus der wissenschaftlichen Literatur ohnehin immer wieder zu ersehen, ein bedeutender Bestandteil der Bezeugung preußischer Geschichte im Osten im ungewöhnlichen Rahmen eines - ungeachtet aller aktuellen Aufgaben - gleichen Zwecken dienenden staatlichen Archivs. Die Staats- und Universitätsbibliothek Gleich mächtig neben dem Staatsarchiv erhob sich die Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg.52 Auch sie wurde ein bedeutendes Auffangbecken für die geistige Hinterlassenschaft des Ordens. Der Herzog selbst sorgte dafür, daß die liberei aus Tapiau beizeiten nach Königsberg überführt wurde.53 Die Bibliothek war darüber hinaus wie 50
Ebd., S. 64. Ebd., S. 101. Zur Kritik der leider nicht zum Abschluß gelangten Darstellung von Ernst Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek zu Königsberg. Von ihrer Begründung bis zum Jahre 1810. Leipzig: Hiersemann 1926, vgl. den Beitrag von Manfred Komorowski in diesem Band sowie unten S. 50. Voran ging der schmale Abriß von Ernst Kuhnert: Die Königliche und Universitäts-Bibliothek zu Königsberg i.Pr. Königsberg: Hartungsche Buchdruckerei 1901. Ein schöner Querschnitt durch die räumliche Verteilung der Bestände (mit gelegentlichen, heute natürlich unschätzbaren Verweisen auf Signaturengruppen) bei Hugo Reinhold: Die Königliche und Universitäts-Bibliothek zu Königsberg i.Pr. Ein Vortrag. Königsberg: Härtung 1906. Urkundliches auch bei Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. l, S. 230ff. 53 Das Verzeichnis der Ordensbibliothek befand sich im Königsberger Staatsarchiv (Etatsmin. 71e) und sollte von Ernst Kuhnert ediert, kommentiert und in den Kontext der Büchersammlungen des Ordens gestellt werden. Dazu kam es nicht. Wohl aber haben sich die Kuhnertschen Vorarbeiten über die Sammlung Denecke ebenso erhalten wie das Verzeichnis selbst, das aus den Beständen des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin soeben sachkundig veröffentlicht wurde; vgl. Eckhard Grunewald: Das Register der Ordensliberei Tapiau aus den Jahren 1541-1543. Eine Quelle zur Frühgeschichte der ehem. Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg. In: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte l (1993) 55-91. Vgl. auch Günther Goldschmidt: Ein Beitrag zur ältesten Geschichte der Handschriftensammlung der Staats- und Universitätsbibliothek zu Königsberg. In: Königsberger Beiträge. Festgabe zur vierhundertjährigen Jubelfeier der Staats- und Universitätsbibliothek zu Königsberg Pr. Königsberg: Gräfe & Unzer 1929, S. 125-131, S. 128ff. (mit der hinzugehörigen unpaginierten Abbildung 10 am Schluß des Bandes). Zuletzt Hans-Georg Malz: Das Bibliothekswesen des Deutschen Ritterordens in Preußen unter besonderer Berücksichtigung des Verzeichnisses der Ordensliberei Tapiau. Hausarbeit zur Prüfung für den höheren Dienst an wissenschaftlichen Bibliotheken. Bibliotheks-Lehrinstitut des Landes Nordrhein-Westfalen 1970. Demnächst zum Kontext die große Untersuchung von Arno Mentzel-Reuters: Arma Spiritualia. Bibliotheken des Deutschen Ordens. 51
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überall sonst der prädestinierte Ort für die Aufnahme des säkularisierten handschriftlichen und gedruckten Klosterguts.54 Und sie wuchs je länger desto mehr zur konkurrenzlosen Stiftungs- und Depositar-BiIch danke Herrn Mentzel-Reuters, daß mir eine erste Rohfassung und die Druckfassung des Buches vor der Publikation zugänglich gemacht wurden. 54 Um die Erforschung des altpreußischen vorreformatorischen Bibliothekswesens hat sich - aus naheliegenden Gründen - v. a. der Bearbeiter der Handschriften der Königsberger Universitätsbibliothek verdient gemacht, der leider nur Fragmente seiner langjährigen Bemühungen vorlegen konnte, so daß Königsberg tragischerweise vor seinem Untergang ohne ein Verzeichnis des Handschriftenbestands seiner größten und reichhaltigsten Bibliothek blieb. Vgl. Emil Julius Hugo Steffenhagen: Catalogue codicum manuscriptorum Bibliothecae Regiae et Universitatis Regimontanae. Fasciculus I: Codices ad iurisprudentiam pertinentes, accedit descriptio codicum iuris qui Regimonti in archive regio et in bibliotheca urbica atque Wallenrodtiana asservantur[!]; Fasciculus II: Codices historici. Königsberg: Schubert & Seidel 1861 -1872 (im zweiten Faszikel sind S. 81ff. auch Supplemente zum vorangehenden Werk untergebracht). Vgl. auch ders.: Supplemte zu den gedruckten Katalogen der Königsberger Rechtshandschriften. In: Altpreußische Monatsschrift 3 (1866) 730-738, sowie aus dem disziplinären Kontext ders.: Literärgeschichtliche und rechtshistorische Mittheilungen aus Königsberger Handschriften. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte 4 (1864) 186-204; ders.: Vier Manuscripte aus Keller's Nachlass. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte 7 (1867) 151-159. Aus dem Zusammenhang dieser und anderer Arbeiten (vgl. v.a.: Handschriftliche Funde aus Königsberger Bibliotheken. In: Altpreußische Monatsschrift l [1864] 750-752; 2 [1865] 376-377, 658-660; 3 [1866] 278280, 370-373, 468-472, 663, 748-749; 4 [1867] 89, 385-386; vgl. auch den Beitrag von H[eimann] Jolowicz: Handschriftliche Funde aus Königsberg. 18. Königsberger Chroniken. In: Altpreußische Monatsschrift 3 [1866] 748-750) gingen dann die Regesten der urkundlichen Erwähnungen von Bibliotheken hervor, die Steffenhagen erarbeitete und die fortan so gut wie allen Mitteilungen zum ältesten Bibliothekenswesen in Preußen zugrundeliegen. Vgl. Steffenhagen: Regesten zur Geschichte der Bibliotheken im Deutschordenslande Preußen. In: (Petzholdts) Neuer Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswissenschaft 1863, S. 284-289 (im Rahmen eines größeren Artikels Steffenhagens, betitelt: Miscellen zum Bücherwesen des Mittelalters, S. 282-289). Dieser Artikel hat eine wichtige, aber unbekannt gebliebene (weil bei Wermke: Bibliographie [Anm. 2] nicht verzeichnete) Fortsetzung gefunden: Steffenhagen: Zum Bücherwesen in Altpreussen. In: Neuer Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswissenschaft 1866, S. 307-312, hier S. 307f: »Zu den Regesten der älteren Zeit«. Darauf basierend die gleichfalls fortan verbindliche Darstellung, nur mit »S-n« gekennzeichnet, aber selbstverständlich von Steffenhagen stammend (entsprechend Wermke: Bibliographie [Anm. 2], Bd. l, Nr. 4926 zu ergänzen): Altpreußens älteste Bibliotheken. In: Altpreußische Monatsschrift l (1864) 649-653. Vgl. auch Max Perlbach: Zur Geschichte des Bücherwesens im Ordenslande Preussen. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen 11 (1894) 153-163; Fritz Schulmann: Zur Geschichte des Bücherwesens des Deutschen Ritterordens. In: Von Büchern und Bibliotheken. Dem ersten Direktor der Preußischen Staatsbibliothek [...] Ernst Kuhnert als Abschiedsgabe dargebracht von seinen Freunden und Mitarbeitern. Hrsg. v. Gustav Abb. Berlin: Struppe & Winckler 1928, S. 278-282. Der Beitrag von Walther Ziesemer: Zur Kenntnis des Bibliothekswesens Preußens im 15. Jahrhundert. In: Königsberger Beiträge (Anm. 53), S. 393-400 bezieht sich auf einen von Ziesemer im Staatsarchiv Königsberg (Ordensbriefarchiv 1443, ohne Datum) entdeckten
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bliothek des nördlichen Preußen heran, in der sich bedeutende, weit über die Region hinaus berühmte bibliothekarische Vermächtnisse zusammenfanden. Die besonderen Umstände ihrer Lage wie ihrer Geschichte brachten es mit sich, daß sie genau wie ihre Schwester-Institution in Breslau wichtige landesbibliothekarische Aufgaben wahrnahm und einen immensen Schatz landeskundlich bedeutsamer Zeugnisse wiederum in Handschrift und Druck beherbergte. Kaum noch wunder nehmen dürfte es nach allem bislang Vorgetragenen, daß die naturgemäß wiederum kurze Rekapitulation der wichtigsten Stationen ihrer Geschichte zurückführt zu dem Beweger aller zukunftsträchtigen Entwicklungen in Preußen, zu Herzog Albrecht. Mit seinen sammlerischen Aktivitäten wird der Grund gelegt für die nachmalige Königliche und dann nochmals umgetaufte Staats- und Universitätsbibliothek. Ihr Ursprung fällt wiederum mit der Gründung des Herzogtums und also mit der Einführung der Reformation, der Etablierung einer Druckerei und der alsbald einsetzenden Planung einer Universität zusammen - entscheidenden Faktoren für Wachstum und Profil der Bibliothek. Dem Herzog, wir deuteten es an, war die Transformation des altgläubigen Ordensstaates in ein evangelisches Gemeinwesen ein lebensbestimmendes Anliegen. Er sah es als seine Aufgabe an, den damit in Gang gesetzten Prozeß nach Kräften intellektuell zu begleiten und wo immer nötig auch zu steuern. Er mußte sich folglich sachkundig machen. Dem standen die Grenzen seiner Sprachkenntnisse bis zu einem gewissen Grad entgegen. Er war auf deutschsprachige Literatur angewiesen. Das hat bibliothekarisch eine Konsequenz gehabt, die singular in der Gründungsgeschichte fürstlicher Bibliotheken dastehen dürfte. Im Ursprung einer alsbald universalen Bibliothek stand inmitten des polyglotten Humanismus eine so gut wie ausschließlich deutschsprachige Keimzelle, zugeschnitten allein auf die herzoglichen Bedürfnisse. Sie aber waren theologisch prädisponiert und so strömte die aktuelle, aus dem Geist der Reformation gespeiste Literatur in seiner sog. »Deutschen« oder »Kammerbibliothek« (CB) zusammen.55 Sie war in einem besonderen Gemach über dem Tor des Schlosses untergebracht und enthielt 1526 bereits um die hundert kleine Schriften. Den ersten Platz nahmen selbstverständlich die Schriften Luthers ein. Der älteste, nach Ausweis
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und edierten Bibliothekskatalog des Elisabeth-Hospitals in Danzig aus dem Jahr 1443. - Letzte sachgerechte und luzide, aber auch sehr knappe Vorkriegs-Synopsis das Kapitel bei Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek (Anm. 52), S. 4-13: »Ältere Büchersammlungen in Preussen«. Demnächst die fortan maßgebliche Studie von Mentzel-Reuters (Anm. 53). Vgl. Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek (Anm. 52), S. 14ff.; vgl. auch Peter Gerrit Thielen: Ein Katalog der Kammerbibliothek Herzog Albrechts von Preußen aus dem Jahre 1576. In: Jahrbuch der AlbertusUniversität zu Königsberg/Pr. 4 (1954) 202-226.
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des Einbands noch aus der Hochmeisterzeit Albrechts stammende Sammelband vereinigte acht Schriften des Reformators aus den Jahren 1523 und 1524. Weitere Sammelbände umfaßten gleichfalls ausschließlich oder so gut wie ausschließlich von Luther stammende Schriften. Andere führten die großen Reformatoren, Schriftsteller und Prediger neben Luther wie Spengler, Bucer, Staupitz, Karlstadt, Linck, Oekolampadius, Regius und andere zusammen. Deutschsprachige Kommentarwerke und Auslegungen dienten der Aneignung der neuen Lehre über ein vertieftes Verständnis der biblischen Schriften. Ausdrücklich bemühte sich der Herzog, Übersetzungen ins Deutsche in die Hand zu bekommen. So bat er in einer vielzitierten und berühmten Zuschrift an den Maler Lucas Cranach, der sich auch als Buchdrucker und Verleger betätigte, um eben solche Schriften und erwähnte ausdrücklich eine deutsche Version der bereits im Zusammenhang mit Kanzler Friedrich Fischer gestreiften Vallaschen Kampfschrift gegen die Konstantinische Schenkung, die ihm für die persönliche Einsicht in die Grundlagen der päpstlichen Gewalt offensichtlich unerläßlich dünkte. Cranach lieferte auch Postillen, die nicht nur für den Gebrauch des Herzogs und seiner Umgebung, sondern auch zur Verteilung an die Geistlichen im Herzogtum bestimmt waren. Der uns gleich begegnende Poliander, Nachfolger des Amandus im Altstädter Pfarramt, und der Kanzler Johann Apell berieten den Herzog bei seinen Einkäufen und überwachten den Bucheingang nicht zuletzt daraufhin, daß nur zuverlässige theologische Literatur hereinkam und verbreitet wurde. Historische und juristische Literatur, für den Aufbau des jungen Staates unerläßlich, mußte der Herzog gleichfalls in deutschen Übersetzungen lesen, so die aus der Feder des Elsässers Hieronymus Boner von Justinus' Historien [»Epitome«] (1531) und von Herodians Geschichte, aus dem Griechischen ins Lateinische durch Angelus Politianus gebracht (1531). Jüdische Geschichte wurde mittels des 1531 in Straßburg erschienenen deutschen Josephus von Kaspar Hedio studiert. Insgesamt sind 25 geschichtliche und geographische, 15 juristische und 8 medizinische Werke antiker Autoren durchweg in deutschen Übersetzungen bezeugt. Darüber hinaus aber erstreckte sich das herzogliche Interesse durchaus auch auf die zeitgenössische deutsche Literatur. Er besaß eine Ausgabe der Gedichte des Hans Sachs (Nürnberg 1558), eine Handschrift der Möhrin des Hermann von Sachsenheim und einen Sammelband mit deutschen Sagen. Schließlich waren Kalender, Praktiken, Rechenbücher vertreten. Insgesamt zählte seine Handbibliothek über fünfhundert Bände, die ein persönliches Zeugnis seiner geistigen und religiösen Interessen darstellten. Dem geistlichen Schriftsteller, der der Herzog bekanntlich auch war, standen schließlich Gebetbücher in erheblicher Anzahl zu Gebote. Sie waren entgegen sonstiger herzoglicher Praxis durch Samtbände und silberne oder vergoldete Beschläge kostbar
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ausgestattet. Berühmtheit erlangte in dieser Hinsicht die Silberbibliothek, die durchweg dem Besitz der zweiten Gemahlin des Herzogs, Anna Maria von Braunschweig-Kalenberg, entstammte.56 Von höchstem Interesse ist nun, daß parallel zu der vorwiegend deutschsprachigen Privatbibliothek eine ganz anders ausgerichtete Bibliothek heranwuchs, in der klassische Sprachen dominierten und das gelehrte Wissen der Zeit zusammengebracht wurde: Neben die Deutsche oder Kammer- trat die Neue und spätere Schloß-Bibliothek.57 Damit wiederholte sich unter dem einen Dach des herzoglichen Schlosses die folgenreichste Auffächerung der neueren nachmittelalterlichen Bildungsgeschichte auch bibliothekarisch. Dem Laien war die humanistische, auf der Antike fußende Bildungswelt verschlossen, und Anteil an ihr gewann er nur in dem Maße, wie sie in die Volkssprache in Übersetzung oder Neuschöpfung eingegangen war. Die Gelehrtenschaft aber, mit den klassischen Sprachen aufgewachsen, bewegte sich so gut wie ausschließlich in der lateinisch geprägten Welt und hätte Mühe gehabt, sich der Volkssprache zu bedienen, wenn anders denn ein Anspruch oder eine Notwendigkeit dieser Art überhaupt empfunden worden wäre. Die Zweigleisigkeit der Bildung, in Deutschland besonders ausgeprägt, weil die Ausbildung der deutschen Sprache zunächst ganz an das Ereignis der Reformation gebunden blieb, ist in der Herzoglichen Bibliothekspolitik auf das Sinnfälligste manifest ge56
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Dazu grundlegend Paul Schwenke, Konrad Lange: Die Silberbibliothek Herzog Albrechts von Preussen und seiner Gemahlin Anna Maria. Festgabe der Königlichen und Universitäts-Bibliothek Königsberg i.Pr. zur 350jährigen Jubelfeier der Albertus-Universität. Leipzig: Hiersemann 1894. Im Blick auf die Abbildungen auch hinzuzunehmen: Alfred Rohde: Die Silberbibliothek des Herzogs Albrecht in Königsberg. Königsberg: Gräfe & Unzer [o. J.] (= Bilderhefte des deutschen Ostens, 4). Dazu dann neuerdings von polnischer Seite der erste Sachkenner Janucz Tondel: Srebrna Biblioteka ksiecia Albrechta Pruskiego i jego zony Anny Marii. Warschau: Biblioteka Narodowa 1994, gleichfalls mit reichhaltigen Illustrationen. Die Kuhnertsche Darstellung (vgl. Anm. 52) ist ungeachtet des abweichenden Titels (und deshalb besonders schwer nachvollziehbar) de facto eine Geschichte der Schloßbibliothek. Die entsprechende Darstellung beginnt S. 18ff. Vgl. auch Ernst Kuhnert: Die Nova Bibliotheca des Herzogs Albrecht. In: Aufsätze Fritz Milkau gewidmet. [Hrsg. v. Georg Leyh.] Leipzig: Hiersemann 1921, S. 209-219. Die Privilegierung dieser natürlich attraktiveren Seite in der Geschichte der Bibliothek hat eine lange Tradition (und die entsprechenden Beiträge sind keinesfalls durchgehend so verächtlich wie Kuhnert einleitend suggeriert). Vgl. Michael Lilienthal: Beschreibung der Königsbergischen Schloß-Bibliotheck. In: Erleutertes Preussen l (1723) 725-766; Karl Faber: Geschichte der Königlichen Bibliothek zu Königsberg. In: Beiträge zur Kunde Preußens 3 (1820) 130-145. Aus der neueren Zeit dann v. a. Christian Krollmann: Die Schloßbibliothek in Königsberg. In: Altpreußische Forschungen 4 (1927) 128-149. Von polnischer Seite wieder Janusz Tondel: Biblioteka zamkowa (1529-1568) ksiecia Albrechta Pruskiego w Krolewcu. Torun: Wydawn. Uniw. M. Kopernika 1992.
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worden. Wo über lange Zeit aber Ausschließlichkeit der beiden Bildungssphären vorwaltete und ideologisch befestigt wurde, da geleitete ihn sein umfassender kulturpolitischer Gestaltungswille zur Pflege beider Wurzeln der neueren Bildung, geschieden in einen privat-laikalen und einen für die akademische Öffentlichkeit bestimmten Bereich und erst zusammengenommen den gesamten geistigen Radius der Zeit umspannend. Ein Humanist war es bezeichnenderweise dann auch, den der Herzog als Mittelsmann und fachkundigen Berater für seine diesbezüglichen Anstrengungen gewann. Schon im Sommer 1524 hatte Friedrich Fischer den aus dem Thüringischen stammenden Crotus Rubeanus für seine Kanzleiarbeit verpflichtet und ihm insbesondere die Erledigung der lateinischen Korrespondenz und sonstigen Schriftsätze übertragen.58 Er war bereits 1521 Rektor der Erfurter Universität gewesen, war also vertraut mit akademischen Angelegenheiten, hatte Luther kennengelernt und in herzoglichem Auftrag die wichtige Schrift zur Verteidigung der Aufhebung des Ordens konzipiert, die nach den Vorwürfen des Deutschmeisters Dietrich von Clee notwendig wurde. Er brachte für den Herzog eine Büchersammlung von 70 Autoren in 63 Bänden zusammen, die er selbst in einem systematisch angelegten handschriftlichen Verzeichnis katalogisierte.59 Da nun trat zusammen, was in der Kammerbibliothek unberücksichtigt geblieben war: die griechischen und lateinischen Kirchenväter, erstere in lateinischer Übersetzung, das Neue Testamemt in der Ausgabe des Erasmus, Historiker, Moralisten, Naturkundler usw. gleichfalls durchweg in lateinischer Sprache, Sallust, Plutarch, Josephus, Ptolemäus, Cicero usw. Auch die Neulateiner waren einbezogen, Politianus, Platina, Erasmus usw. In griechischer Sprache waren Thukydides, Platon, Aristoteles, Plutarch u.a. vertreten. Ausdrücklich wurde diese Sammlung als Bibliotheca nova von Rubeanus apostrophiert und damit von der älteren privaten des Herzogs auch nomenklatorisch geschieden. Sie hatte ganz offensichtlich den Zweck, Studien in den akademischen Disziplinen dienlich zu sein, war also in weitsichtiger Planung für eine Hohe Schule am Ort vorgesehen. Wenig später erhielt sie bereits einen eigenen Bibliothekar - den sagenumwobenen, von Erasmus ob seines Barthauptes so getauften Polyphem (Felix König), der zu jener Gattung von Bibliomanen gehörte, deren Leben ausschließlich dem Wachstum, der Ordnung und 58 59
Dazu die schöne Darstellung von Carl Diesch: Crotus Rubeanus im Dienste des Herzogs Albrecht. In: Königsberger Beiträge (Anm. 53), S. 45-61. Vgl. Ein von Crotus Rubeanus aufgenommener Königsberger Bibliotheks-Catalog. Mitgetheilt von Theodor Muther. In: Altpreußische Monatsschrift 4 (1867) 249-254.
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der Erschließung der ihnen anvertrauten Bibliothek gewidmet war.60 Entsprechend kam die Bibliothek gemäß dem vorgegebenen Grundriß rasch voran. 1540, als der Herzog daran ging, mit einem Partikular die Universität vorzubereiten und die neugeschaffene Bibliothek zu öffnen, verfügte sie bereits über rund 1600 Titel in etwa 800 Bänden. Nur der weitaus kleinere Teil entstammte der Zeit vor 1520 (darunter ca. 90 Inkunabeln), das meiste den beiden letzten Dezennien, war also soeben erschienene wissenschaftliche bzw. poetische Literatur. In den vierziger Jahren stieg die Anzahl auf 2400 Titel in 1200 Bänden. Polyphem hatte sie durch einen systematischen und einen alphabetischen Katalog, von dem sich bis heute Übereste erhalten haben, optimal erschlossen.61 Entsprechend erfolgte die Aufstellung systematisch, ohne daß es der passionierte Bibliothekar nötig gehabt hätte, Signaturen zu vergeben; er wußte, wo >seine< Bücher standen. Auf drei Tischen ausgebreitet war vielbenutzte Nachschlageliteratur, darunter die eben erschienene Bibliotheca universalis von Gesner und Calepins Dictionarium sowie weitere Wörterbücher. Eröffnet wurde die Aufstellung selbstverständlich mit der Theologie, der die meisten Werke zugehörten, gefolgt von Medizin und Rechtswissenschaft und den Disziplinen der Artistenfakultät. Zwischen antiken und modernen Autoren wurde in der letzteren Abteilung nicht unterschieden. Plautus und Ovid standen hier neben Gnaphaeus, Hesiod neben Eobanus Hessus, Aristophanes neben Hütten, Erasmus und Sabinus. Die auf der Antike fußende gelehrte und poetische Überlieferung wurde über die Zeiten hinweg auch bibliothekarisch wie zum Erweis der Geschlossenheit der alteuropäischen Welt als eine einzige 60
Vgl. Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek (Anm. 52), S. 19ff., teilweise unter Rückgriff auf Joseph Förstemann: Felix König (Rex) Polyphemus. Erster Bibliothekar des Herzogs Albrecht von Preußen. In: Centralblatt für Bibliothekswesen 16 (1899) 306-315; Bruno Schumacher: Niederländische Ansiedlungen in Preußen zur Zeit Herzog Albrechts (1525-1568). Leipzig: Duncker & Humblot 1903 (= Publikationen des Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreußen, 12), S. 52-56. 61 Es ist das große Verdienst von Janusz Tondel, die erhaltenen Teile des Katalogs, die heute in der Biblioteca Uniwersytecka Torun verwahrt werden, soeben wieder zugänglich gemacht zu haben; vgl. Janusz Tondel: Eruditio et prudentia. Die Schloßbibliothek Herzogs Albrecht von Preußen. Bestandskatalog 1540-1548. Wiesbaden: Harrassowitz in Komm. 1998 (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, 30). Das Werk ist mit einer ausführlichen Einleitung versehen. Hier zu Polyphemus S. 11 ff, zur Geschichte der Schloßbibliothek S. 27ff. Natürlich darf die Hoffnung nicht aufgegeben werden, weitere Teile des Polyphemschen Katalogwerks wieder aufzufinden. Zu dem bereits nicht mehr kompletten Vorkriegs-Bestand vgl. Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek (Anm. 52), S. 29f., S. 33. Hier auch eine eingehende Analyse der Kataloge. Zum in Thorn vorhandenen Bestand Tondel, S. 17ff. Heute haben sich jeweils zwei Bände des Standort- und das alphabetischen Katalogs von dem einstmals neun bzw. acht von Polyphem verfertigten Bänden erhalten, von denen Kuhnert noch jeweils sechs zur Verfügung standen.
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und zusammengehörige verstanden und behandelt. Zu den Büchern traten Handschriften v. a. aus den aufgehobenen Klöstern. Die ordensliberei von Tapiau wurde zwischen 1541 und 1543 einverleibt. Als Polyphem starb, war im äußersten Nordosten des deutschen Sprachraums eine Bibliothek aufgebaut worden, die keinen Vergleich mit den zu gleicher Zeit heranwachsenden städtischen Bibliotheken in Danzig, in Riga, in Reval und in den eigenen Mauern selbst zu scheuen brauchte und auch unter den fürstlichen zwei Jahrzehnte nach ihrer Gründung bereits zu den namhaften zählte. Krisen pflegen im Zusammenhang mit Sukzessionen einzutreten. Sie blieben der herzoglichen Schöpfung erspart. Er fand in dem großen Theologen (mit astrologischen Neigungen) Martin Chemnitz einen Nachfolger für Polyphem, der die Bibliothek als Gelehrter sah, nutzte und pflegte.62 Wie ungezählten anderen wurde ihm der Osiandrische Streit zwar nicht zum Verhängnis, wohl aber zur unleidlichen Belastung, so daß er die gelehrte Wirkungsstätte alsbald wieder verließ. Immerhin fiel in seine Zeit der Erwerb der Bibliothek des Speratus, in der sich bis in unser Jahrhundert hinein immer wieder Zettel mit handschriftlichen Notizen des in Preußen ausharrenden gleichfalls großen Theologen fanden.63 Fügen wir den beiden Namen denjenigen des Heinrich Zell hinzu, unter dessen Obhut die Bibliothek von 1556 bis zu seinem Tod im Jahre 1564 stand, so sind die drei maßgeblichen Bibliothekare aus der herzoglichen Ära genannt, unter denen der Grund für eine vielversprechende Entwicklung in der Zukunft gelegt wurde.64 In Zells Amtszeit kamen noch einmal rund 1000 Bände hinzu, sie alle wie die von seinen Vorgängern zusammengetragenen durch einen neuerlichen Katalog erschlossen (dem sich alsbald ein dritter von Scrinius anschließen sollte). Zell war es, der die Kombination von großen und kleinen Buchstaben in die Königsberger Bibliothek einführte, wie sie nach funktionaler Änderung und Ausdifferenzierung bis in das 20. Jahrhundert hinein in Kraft blieb. Nach Ausweis von Kuhnert war der Zellsche systematisch angelegte und innerhalb der einzelnen Sachgruppen chronologisch voranschreitende Katalog der 62
63 64
Vgl. Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek (Anm. 52), S. 45ff.; vgl. auch Tschackert: Urkundenbuch (Anm. 11), Bd. l, S. 283, Anm. 3, unter Verweis auf die handschriftliche Biographie von Chemnitz, vgl. ebd., Bd. 27 2, Nr. 2415. Sie wurde 1719 bei Steltern in Königsberg gedruckt (Ex. ehemals Stadtbibliothek Königsberg Q. 233 (2) 8°). Wieder abgedruckt in: Erleutertes Preußen 3 (1726) 321-352. Zum bibliothekarischen Amt hier S. 340ff. Vgl. Paul Tschackert: Ober einen Sammelband »Paul Speratus-Scripta«. In: Theologische Studien und Kritiken 1911, S. 474-476. Vgl. Ernst Kuhnert: Heinrich Zell. In: Beiträge zum Bibliotheks- und Buchwesen. Paul Schwenke zum 20. März 1913 gewidmet. [Hrsg. v. Adalbert Hortzschansky.] Berlin: Bresslauer 1913, S. 137-147.
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beste, der in der langen Geschichte der Bibliothek je zustandegekommen ist. Zwischen 1563 und 1573, als die dritte Ablösung unter Scrinius bereits erfolgte, besaß »sie einen alle Wissensgebiete umfassenden Sachkatalog [...], der in seiner Zeit gewiß von keinem anderen übertroffen wurde.«65 Wir können und wollen den weiteren Gang der Bibliothek nicht im Detail verfolgen, geht es uns doch um Synopsis, statt um Detaillierung. Das herzogliche Vermächtnis in Bezug auf die Bibliothek ist uns in seinem am 17. Februar 1567 aufgesetzten Testament überliefert, in dem sich die Eigenart seiner Schöpfung nochmals aufs Schönste resümiert: Nachdem wir auch diesem Lande zu Nutz zwo Libereyen allhier auff unserem Hause zu Konigspergk auffgerichtet, eine in Latenischer und gelerten Sprachen, die andere in Deutschen, so ordenen, setzen und wollen wir, das beyde Libereien, dar in auch etzliche sondere Kunstbücher, zu ewigen Zeiten zuvorauß unsern Erben, die doch nicht mechtig sein sollen, etwas davon weg zu bringen oder zu werendern, folgig auff alle Felle unzertheilet und unzurissen allhie zu Königßbergk dem Lande zu gute bleiben, und darinnen gleich einem Schatz zum fleissigsten erhalten und bewahret werden.66
An diese Verfügung hat sich das eigene Haus Brandenburg-Hohenzollern nicht immer gehalten. Wo es um die politischen Belange des Fürstenhauses oder auch um die Bedürfnisse der kurfürstlichen und nachmaligen Königlichen Bibliothek in Berlin ging, schien der Zugriff auf die Schätze in der Krönungsstadt mehr als einmal statthaft. Im ganzen blieben sie jedoch die Ausnahme. Wenn Verluste zu beklagen waren - und sie waren es in durchaus aufsehenerregender Zahl -, so gingen sie auf das Konto mangelnder bibliothekarischer Sorgfalt und unzulässiger Privilegierungen einzelner Benutzer v. a. aus der Professorenschaft.67 Ansonsten aber blieb der vom Herzog begründete und in den folgenden Jahrhunderten teils nachhaltiger, teils schleppender gemehrte Schatz für mehr als vier Jahrhunderte zwar nicht am angestammten Platz, wohl aber am angestammten Ort. Als Paul Schwenke zu Ende des vergangenen Jahrhunderts daran ging, die Grundlagen für eine archivalisch begründete Geschichte der illustren Institution zu schaffen und seine Studien als Vermächtnis an seinen Nachfolger Ernst Kuhnert übergingen (der seinerseits wie vor ihm Schwenke später als erster Direktor nach Berlin ging, wo die Königliche und nachmalige Preußische Staatsbibliothek magnetisch anzog), da waren in Königsberg immer noch die allerbesten Voraussetzungen vorhanden, um das aus den Ursprüngen bewahrte Profil der einzigartigen Schöpfung zu 65 66 67
Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek (Anm. 39), S. 57. Ebd., S. 67. Zu Abgaben nach Berlin vgl. ebd., S. 113 mit Anm. 3, sowie S. 167f. Zu Fehlbeständen ebd., S. 117ff., S. 131 (!) und S. 167f.
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zeichnen. Um so mehr muß beklagt werden, daß diese Chance vertan wurde und nie wiederkehren wird. Kuhnerts großangelegte Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek zu Königsberg, mit der man als einem Standardwerk glaubte zu besitzen, was man braucht, ist gleichwohl nicht das, was ihr Titel verheißt. Sie ist keine Gesamt-, sondern eine Teildarstellung bis zum Jahr 1810, und sie berührt mit so gut wie keinem Wort die Geschichte der Universitätsbibliothek, sondern konzentriert sich ausschließlich und unzulässig zunächst auf die Kammerund sodann auf die Schloßbibliothek. Sie ist minutiös aus Akten und Archivalien gearbeitet, die Kuhnert in seiner Königsberger Zeit zwischen 1895 und 1905 uneingeschränkt zur Verfügung standen. Aus ihnen sind Bestandszahlen, Buchpreise, Gehälter der Bibliothekare, Aufstellungen, Kataloge, Bibliotheksordnungen usw. in mühseliger Kleinarbeit eruiert und in Tabellen und Statistiken zusammengeführt und ausgewertet. Nur das, was doch vornehmster Gegenstand des Werkes sein sollte und dem Bibliothekar in seinem eigenen Haus tagtägliches und deshalb vertrautes Objekt des Umgangs war, das Buch selbst, kommt in ihm hoffnungslos zu kurz. Nur einen buchkundlichen Teilaspekt hat Kuhnert in einem höchst lesenswerten Anhang eingehender behandelt, den Einband der Bücher in der Kammer- und Schloßbibliothek.68 Was aber im einzelnen und an hervorragenden Titeln über reguläre Erwerbungen und viel mehr noch über Vermächtnisse in das Haus kam, bleibt von Ausnahmen abgesehen weitgehend im Dunkeln. Kuhnerts Werk vermittelt keine Anschauung über das Wachstum des Bestands, ist keine im eigentlichen Sinne originäre Bestandsgeschichte, läßt Profil und Eigenart der in Königsberg schließlich zusammengekommenen ersten Bibliothek am Platz so wenig erkennen wie Schwächen, Lücken, bibliothekarische Probleme. Der deutschen Bibliothekswissenschaft steht also die Aufgabe nach Kuhnert unter gänzlich veränderten Bedingungen weiterhin bevor, eine morphologische Rekonstruktion der Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek über die herzoglichen Anfänge hinaus zu erarbeiten. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich die Eruierung aller ihr entstammenden und erhaltenen Exemplare, wie sie begonnen hat und inzwischen erste verheißungsvolle Ergebnisse zeitigte. Auf sie soll und kann an dieser Stelle noch nicht rekurriert werden. Hingegen ist ganz knapp das wenige bestands- und provenienzgeschichtlich Relevante aus den Kuhnertschen Ausführungen zusammenzuziehen. Die Bibliothek hat im Gründungsjahrhundert selbst einen geordneten Fortgang genommen. Unter Scrinius kamen zwischen 1567 und 1585 nach den Kuhnertschen Ermittlungen 1466 Bände hinzu, darunter 68
Vgl. ebd., S. 73f.
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durchaus auch Werke aus den Königsberger Offizinen von Daubmann, Francke und Osterberger. Weit an der Spitze mit mehr als einem Drittel blieb die Theologie, gefolgt von der Rechtswissenschaft und Medizin, sodann der Geschichte und Philologie. Die Bibliothek wuchs von 2150 auf 3620 Bände an. Zugleich erhielt sie ihre bis in das 19. Jahrhundert hinein gültige Aufstellung nebst entsprechendem systematischen Standortkatalog.69 Unter dem Nachfolger Menius sank die Zahl der zwischen 1586 und 1600 erworbenen Bände auf 768, wobei interessanterweise die Jurisprudenz mit 204 Bänden die Theologie mit ihren 196 Bänden erstmals überflügelte. Unter Johann von Geldern wurden in den folgenden 15 Jahren dann wieder 1674 Bände erreicht und die Theologie nahm mit 642 Bänden darunter wieder die eindeutige Spitzenstellung ein. Wie gerne hört man ausnahmsweise, daß sich unter den Erwerbungen Schindlers Lexicon pentaglottum Hebraicum, Chaldaicum, Syriacum (1612), Pagninus' und Mercerus' Thesaurus S. Linguae (1614) und Crinesius' Lexicon Syriacum (1612) befanden, die den rapiden Aufschwung der Orientalistik um 1600 auch bibliothekarisch für Königsberg bezeugen.70 Nachdem schon 1583 die Kammerbibliothek in die Schloßbibliothek überwiesen worden war, folgte 1611 die Silberbibliothek nach.71 Der Übergang an das Haus Brandenburg im Jahre 1618 hatte bibliothekarisch durchaus nachteilige Folgen. Königsberg trat in den Schatten von Berlin und wurde finanzpolitisch voll in die Misere des Kurfürstentums hineingezogen. Entsprechend gilt das 17. Jahrhundert, in dem sich numerisch wie qualitativ eine Wissensexplosion größten Ausmaßes vollzog, die sich im immensen Wachstum des Buchwesens spiegelte, zumindest in der Geschichte der Königsberger Schloßbibliothek als eines der Stagnation. Es gab eine ganze Reihe von Jahren, in denen zumindest regulär offensichtlich kein einziges Buch für die Bibliothek erworben wurde.72 Für die Jahre 1621 bis 1658 lassen sich mit Sicherheit gerade 343 Bände nachweisen, die Theologie immer noch an der Spitze mit 97 Bänden, dicht gefolgt von der Geschichte mit 83, sodann in gehörigem Abstand von der Philologie mit 66 und der Mathematik mit 43 Bänden.73 Hört man freilich, daß die vielbändigen teuren Werke von Duns Scotus, Thomas von Aquin und Suarez angeschafft worden sind, so ist immerhin doch ein Wille erkennbar, maßgebliche Ausgaben großer Autoren aus dem Grenzgebiet von Theologie, Philosphie und Rechtswissenschaft in das Haus zu holen und ihnen womöglich den Vorrang vor einzelnen Werken zu 69 70 71 72 73
Abgedruckt ebd., S. 76f. Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 85, 99f. Vgl. ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 107.
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geben. In die kurze aber wichtige Amtszeit Martin Sylvester Grabes d.Ä. (1667-79) fiel dann nicht nur die Einwerbung von Stiftungsgeldern für die Bibliothek, sondern insbesondere die Übernahme der Bibliothek des Fürsten Boguslav Radziwill, der sich ja bereits dem Staatlichen Archiv gegenüber in Form von Handschriften-Donationen erkenntlich gezeigt hatte.74 Diese Schenkung ist von herausragender Bedeutung, weil sie einherging mit der Vorbereitung eines gedruckten Katalogs aus der Feder von Grabe, der uns nun ausnahmsweise genauen Einblick in einen Teilbestand der Königsberger Bibliothek gewährt.75 Die Bibliothek wurde durch die Erben noch vermehrt und der Zuwachs gleichfalls durch den Sohn Grabes dokumentiert. Außerdem gelang es, die ausländischen Buchführer über Zollerlaß zu kostenlosen Bücherlieferungen zu verpflichten. Aber natürlich blieb die Zahl der regulär erworbenen Bücher zwischen 1667 und 1679 in einer Phase rapider Expansion des Buchmarkts mit 400 zu gering. In der fünfzehnjährigen Amtszeit Pfeiffers (1679-1694) sank sie sogar weiter ab auf 242, darunter die achtbändigen Critica sacra in Biblia (1660), das fünfzehnbändige Corpus Byzantinum und die Werke Raynauds in zwanzig Bänden. Unter Hedio ging die Zahl noch weiter zurück auf 126 Bände in neun Jahren. Das ergab für das 17. Jahrhundert seit Beginn der zwanziger Jahre runde 1100 Bände - entschieden zu wenig für eine anspruchsvolle Bibliothek, als welche der Herzog sie gegründet und reichhaltig ausgestattet auf den Weg gebracht hatte. Unter den Königen des 18. Jahrhunderts wandelte sich das Bild nicht eigentlich durchgreifend. Die von Friedrich I. bereits eingeleitete Sparpolitik wurde von Friedrich Wilhelm I. bekanntlich rigoros durchgesetzt, und Friedrich H. schließlich wird man schwerlich ein besonderes kulturpolitisches Engagement für das preußische oder gar das Königsberger Bibliothekswesen nachrühmen können. Dabei sind von Michael Lilienthal zu Anfang des Jahrhunderts bis hin zu Georg Heinrich Ludwig Nicolovius an dessen Ende klangvolle Namen unter den Bibliothekaren gewesen. Ihnen aber oblag nicht zuletzt durch Verkauf von Dubletten, Restauflagen und anderweitige wenig rühmliche Praktiken das Geld wenigstens für das Nötigste beizubringen. Mit dem 18. Jahrhundert mehrten sich überall die Versteigerungen der teilweise 74
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Dazu grundlegend Carl Diesch: Fürst Boguslav Radziwill und seine Bücherschenkung an die Königsberger Schlossbibliothek. In: Festschrift Georg Leyh. Aufsätze zum Bibliothekswesen und zur Forschungsgeschichte dargebracht zum 60. Geburtstage am 6. Juni 1937 von Freunden und Fachgenossen. Leipzig: Harrassowitz 1937, S. 117-128. Catalogue librorum quarumlibet Facultatem a Duce Boguslao Radzivil Bibliothecae Electoral! Regiomontanae 1668 legato donatorum. Königsberg: Reusner 1673. Kurze Charakteristik des Bestands bei Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek (Anm. 52), S. 128.
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phantastischen Privatbibliotheken, die zumal von gelehrter Seite zusammengebracht worden waren. Auch die Königsberger Bibliothek hat sich an Versteigerungen wiederholt beteiligt und auf diese Weise ihren Altbestand vermehren können - selbstverständlich zu Lasten der laufenden Anschaffungen, denn es gab natürlich keinen eigenen Rückkauf-Fonds.76 Einen gewissen Ausgleich schufen Pflichtexemplare, die zu Beginn des neuen Jahrhunderts sukzessive unter großen Kämpfen und zunächst äußerst lückenhaft durchgesetzt werden konnten. Im einzelnen kamen unter Grabe d.J. 800 Bücher hinzu, unter Johannes Behm (der sich in ungezählten Sammelbänden durch die so hilfreichen Inhaltsverzeichnisse auf den Vorsatzblättern verewigte) 1744, unter Friedrich Samuel Bock (dem erwähnten Biographen Herzog Albrechts, der eifrig selbst Bücher der notleidenden Bibliothek stiftete) 2469 Bände, darunter die Hälfte (1279 Bände) Pflichtexemplare. Zu Ende von Bocks Amtszeit im Jahr 1779 war die Bibliothek einschließlich Handschriften und Inkunabeln auf 14.000 Bände angewachsen.77 Vergleicht man diese Zahl mit der Königlichen Universitätsbiliothek in Göttingen, die 50 Jahre nach ihrer Gründung 120.000 Bände sorgfältigst ausgesuchter Literatur zusammengebracht hatte, so wird deutlich, wie es 200 Jahre nach dem Tod Albrechts um sein Erbe und den an dieses geknüpften Auftrag in Königsberg (wie fast allen anderen preußischen Universitätsbibliotheken) bestellt war. Den Siebenjährigen Krieg überstand die Bibliothek ohne nennenswerte Verluste und der russischen Besatzung verdankte sie sogar neue Bestandsverzeichnisse, die nach Petersburg gesandt und soeben wieder aufgefunden wurden.78 In die Zeit des Direktorats von Karl Daniel Keusch (1779-1806) fällt der Erwerb von Teilen des Pisanskischen Nachlasses und die Zueignung der Bibliothek des Tilsiter Kaufmanns und Ratsverwandten Johann Daniel Gordack. Mit ihr kamen 1168 Bände ins Haus, darunter Sammelwerke und v. a. die so kostbaren gelehrten Zeitschriften. Der reguläre Zugang betrug 2628 Bände, die Geschichte nun weit vorne mit 924 Bänden, gefolgt von der Medizin mit 516, der Rechtswissenschaft mit 356 und der Philologie mit 322 Bänden. Klopstock, Goethe, Schiller fehlten in der Bibliothek auf der Wende zum 19. Jahrhundert ebenso wie Corneille, Racine oder Rousseau, Shakespeare, Addison oder Pope, wie Kuhnert moniert.79 Unter der kurzen, aber gewichtigen Amtszeit 76 77
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Vgl. ebd., S. 161f. Ebd., S. 205. Vgl. ebd., S. 202. Zum Nachweis der in Moskau wiederaufgefundenen Unterlagen vgl. Kazimir K. Lavrinovic: Albertina. Ocerki istorii Kenigsbergskowo universiteta. K 450-letiü so vremeni osnovaniä. Kaliningrad: Kniznoe Izdatelstvo 1995,8.103-105. Vgl. Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek (Anm. 52), S. 226f.
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von Nicolovius in den Jahren zwischen 1807 und 1809 schließlich gelangten mehr Bände (2832) ins Haus als in der langen Amtszeit von Keusch. Die Geschichte lag immer noch vorne, gefolgt von Theologie und Philologie, erstmals schloß jedoch die Naturkunde mit 195, die Erdbeschreibung mit 138 und die Gewerbekunde mit 134 Bänden auf. Unter ihm kamen erstmals deutsche wie europäische Klassiker nach Königsberg. Mit der Übersiedlung aus dem Westflügel des Schlosses in das sog. Königliche Palais im Jahre 1810, gleichfalls von Nicolovius durchgesetzt, schloß die erste Phase der Bibliothek ab. Sie hatte einen Bestand von etwas über 20.000 Bänden erreicht.80 Gleichzeitig vollzog sich eine wichtige verwaltungspolitische Neuerung. Die Schloßbibliothek wurde nämlich dem Universitätskuratorium unterstellt. Damit war die Voraussetzung für die Zusammenlegung mit der Universitätsbibliothek geschaffen. Sie erfolgte denn auch 1827, nachdem mit dem Umzug beide Bibliotheken bereits unter ein Dach gekommen waren. Aus der Zeit Reuschs ist uns die Zahl der in der Universitätsbibliothek vorhandenen Bände bezeugt. Sie betrug zu Ende des 18. Jahrhunderts ganze 5000 Bände!81 Daß ihr Bestand »völlig veraltet« war, wie Kuhnert konstatiert, ohne ihn zu charakterisieren, besagt natürlich gar nichts.82 Ein Mann wie der bedeutende Mathematiker David Biasing hinterließ seine große, 3000 Bände umfassende Bibliothek nebst Münzsammlung ebenso wie der akademische Kanzler Cölestin Kowalewski selbstverständlich der Universität und ihrer darbenden Bibliothek, nicht der Schloßbibliothek.83 Und so auch in anderen Fällen. Aus gelehrten 80
1806 waren es 18.515 Bände, vgl. ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 222f. Zur Geschichte der Universitätsbibliothek heranzuziehen eine wenig beachtete, ergiebige Stelle bei Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historic (Anm. 36), Bd. 2, S. 44ff. Vgl unten Anm. 83. 82 Vgl. Kuhnert: Geschichte der Staats- und Universitätsbibliothek (Anm. 52), S. 222f. 83 Zu Blaesing vgl. die entsprechenden Einträge bei Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historic (Anm. 36), insbes. Bd. 2, S. 45, S. 378f. Hier liest man: Die »Academische Bibliothec [...] bestand Anfangs größtentheils nur aus einer Sammlung von Academischen Documenten, als welche daselbst von 1544. an bis 1619. in unverrückter Ordnung vorhanden sind, und aus den allhier gedruckten Disputen und ändern Sachen; wie denn bereits 1639. abgemacht worden, daß die Reußnersche Buchdruckerey von allem, was in derselben gedruckt wird, ein Exemplar auf diese Bibliothec liefern soll. Und obgleich der gottselige Marggraf Albrecht damit umgegangen, die Academische Bibliothec mit denen in der Fürstlichen doppelt vorhandenen Büchern zu vermehren, so ist doch dieses sein Vorhaben durch seinen Tod unterbrochen worden. Aber durch das Vermächtnis des 1719. verstorbenen Profeßor Biasings, welcher seinen ganzen Vorrath von Büchern nebst vielen schönen und kostbaren mathematischen Instrumenten dieser Bibliothec hinterließ, auch 100 Thaler zur Erweiterung des Büchersaals widmete, ist sie um ein ansehnliches vermehret worden, so daß sie jetzo aus mehr denn 4000 Bänden bestehet, unter welchen verschiedene vor a. 1500 81
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Nachlässen und Schenkungen hatte sie sich v. a. gespeist. Für den berühmten Mathematiker Biasing ist bezeugt, daß er die gelehrte Neigung seiner Zeit für Sammelbände mit Gelegenheitsschriften teilte, enthielten sie doch allemal biographische und damit der gelehrten Kommunikation dienende Informationen, die keine andere Quelle zu bieten vermochte.84 Kowalewskis Bibliothek enthielt wiederum Disputationen und lateinische Reden.85 Wie sollte ein solches Schrifttum >veralten