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German Pages 412 Year 2015
Simon Schleusener Kulturelle Komplexität
American Studies | Band 11
Simon Schleusener ist Postdoktorand an der Graduate School of North American Studies der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Verhältnis von Kultur und Ökonomie, Affekt- und Medientheorie sowie die amerikanische Literaturgeschichte.
Simon Schleusener
Kulturelle Komplexität Gilles Deleuze und die Kulturtheorie der American Studies
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft. Teile des Kapitels »Deleuze und Moby-Dick« (Teil II, Kap. 1) sind in englischer Sprache bereits in dem Aufsatz »Sovereignty at Sea: Moby Dick and the Politics of Desire« erschienen (REAL: Yearbook of Research in English and American Literature. Vol. 27: States of Emergency – States of Crisis. Hg. Winfried Fluck, Katharina Motyl, Donald E. Pease und Christoph Raetzsch. Tübingen: Narr Verlag, 2011. S. 121-142).
Zugl. Dissertation an der Freien Universität Berlin, 2012. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 7 Einleitung | 9 Kulturelle Komplexität | 13 Deleuze und die American Studies | 28 Aufbau und Ziel der Studie | 36
TEIL I: PHILOSOPHIE DER IMMANENZ UND DES WERDENS 1.
Konstruktivismus, Immanenz und Leben | 45
1.1 1.2 1.3 1.4
Philosophie als Kunst der Begriffsbildung | 45 Immanenz und Transzendenz | 49 Nietzsche und die Philosophie: Ein neues Bild des Denkens | 55 »Alles, was ich geschrieben habe, war vitalistisch« | 66
2.
Wiederholung, Zeit und Subjektivität | 71
2.1 Ontologie der Wiederholung | 71 2.2 Die passiven Synthesen der Zeit | 74 2.3 Der Riss und die Produktion des Neuen | 87 3.
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4.
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Die literarische Maschine | 97 Fluchtlinien und Lebensmöglichkeiten | 97 Ideologie, Begehren, Maschinismus | 100 »Die guten Bücher sind in einer Art Fremdsprache geschrieben« | 106 Minoritäre Literatur | 111 Überlegenheit der amerikanischen Literatur? | 126 Philosophie des Kinos | 135 Bewegung und Zeit | 135 Deleuze mit Bergson: Logik der Simultanität | 141 Aktualität und Virtualität | 149 Die Politik des kinematographischen Bildes | 157 Unterlegenheit des amerikanischen Films? | 173
TEIL II: DAS AMERIKANISCHE RHIZOM 1.
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Deleuze und Moby-Dick | 181 Melville, Deleuze und die American Studies | 181 Der Nomos des Meeres: Glatter und gekerbter Raum | 186 Politik des Affekts: Ahabs Souveränität und die Macht der multitudo | 198 »The living Leviathan«: Tier-Werden und Repräsentationskritik | 211 Metamorphose vs. Metapher: Eine Welt der Übergänge | 230
2.
Vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild: Deleuze und der Westernfilm | 235
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Mythologie und Revisionismus | 235 Exkurs I: Deleuze und der klassische Western | 247 Die organische Repräsentation: John Fords Stagecoach | 252 »Das Volk fehlt«: Fred Zinnemanns High Noon | 260 Exkurs II: Deleuze und der Neo-Western | 268 Todesraum und contact zone: Jim Jarmuschs Dead Man | 274 Ein neues Bild des Westens? | 290
3. Deleuze und die (amerikanische) Fotografie | 297 3.1 Skepsis gegenüber dem fotografischen Bild | 297 3.2 Fotografiediskurse: Indexikalität, Realismus, kulturelle Zeichenpraxis | 302 3.3 Das unzeitgemäße Bild: Fotografie, Bewegung und Zeit im 19. Jahrhundert | 311 3.4 Die Temporalisierung des fotografischen Bildes im 20. Jahrhundert: Von Robert Frank bis Hiroshi Sugimoto | 327 Schluss | 367 Siglenverzeichnis zu den Schriften von Deleuze | 375 Literaturverzeichnis | 377 Filmverzeichnis | 405 Abbildungsverzeichnis | 409
Danksagung
Dank gebührt an allererster Stelle meinem Doktorvater Winfried Fluck, der die vorliegende Untersuchung von Beginn an betreut und unterstützt hat. Trotz (oder gerade wegen) mancher Meinungsverschiedenheiten über die Philosophie von Deleuze waren seine vielen Anmerkungen, Tipps und Vorschläge immer hilfreich, weiterführend und produktiv. Von seinen eigenen Texten zur amerikanischen Kultur ist das Buch zudem maßgeblich bereichert worden. An zweiter Stelle möchte ich Hanjo Berressem danken, der spontan – und in seiner beispiellos unkomplizierten Art – die Rolle des Zweitgutachters übernommen hat. Auch er stand stets mit hilfreichen Ratschlägen (und seiner außerordentlichen Kompetenz bezüglich der Philosophie von Deleuze) zur Seite. Dank geht außerdem an: Laura Bieger, Gabi Bodmeier, David Bosold, Stefan Brandt, Sascha Brey, Theo D’haen, Thomas Dikant, Daniel Falb, Frank Kelleter, Annika Linnemann, Florian Lüdde, Frank Mehring, Michaela Ott, Florian Sedlmeier, Hannah Spahn, Boris Vormann und Regina Wenzel. Zuletzt möchte ich ganz besonders meinen Eltern und Caro Kreiter danken.
Einleitung
Die Philosophie von Gilles Deleuze (1925-1995) wird seit einigen Jahren in einer Vielzahl von akademischen Disziplinen ausgiebig rezipiert. Dies gilt vor allem für den englischsprachigen Raum, wo Deleuze seit Ende der 1990er Jahre in Fachrichtungen von der Architekturtheorie bis zu den Filmwissenschaften Gegenstand unzähliger Sammelbände und Einzelstudien geworden ist. Aber auch im deutschsprachigen Raum, wo sein Denken in der Vergangenheit allenfalls im Kontext der Kontroversen um die Postmoderne und den Poststrukturalismus für Diskussionen gesorgt hat (und dabei oftmals auf die Thesen des gemeinsam mit Félix Guattari geschriebenen AntiÖdipus reduziert wurde1), ist der Trend zu einer umfassenderen und genaueren Analyse spürbar. Deleuze – so scheint es jedenfalls – ist nun auch hierzulande »kanonisch« geworden.2 Ohne auf die vielschichtigen Gründe jener Rezeptionswelle an dieser Stelle allzu detailliert eingehen zu können, lässt sich zumindest festhalten, dass die in der Vergangenheit oftmals praktizierte Einordnung, in der Deleuze mit Autoren wie Lyotard, Derrida oder Baudrillard in eine Reihe gestellt wurde, heute von vielen als oberflächlich empfunden wird. Denn betrachtet man Deleuzes Philosophie genauer, dann werden schnell gewisse Eigenheiten offenbar, die sich mit wesentlichen Prämissen von 1
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Félix Guattari ist Deleuzes Co-Autor bei insgesamt vier Büchern gewesen, die im Zeitraum von 1972 bis 1991 publiziert wurden (AÖ, K, TP und WP). Gerade weil in der vorliegenden Studie mehrheitlich von »Deleuze« im Singular die Rede ist, soll an dieser Stelle auf den maßgeblichen Einfluss hingewiesen werden, den Guattari seit dem ersten Zusammentreffen mit Deleuze im Jahr 1969 auf dessen Arbeit gehabt hat (vgl. Dosse 2010). Was die vier gemeinsamen Buchpublikationen betrifft, so ist der jeweilige Anteil der beiden Autoren nicht eindeutig zu bestimmen. Die Bücher werden daher im Folgenden als Teil von Deleuzes Oeuvre behandelt, was den Anteil Guattaris jedoch keinesfalls schmälern soll. Dass dies vor nicht allzu langer Zeit noch anders war, verdeutlicht beispielsweise Michela Ott im Vorwort ihrer Dissertation Vom Mimen zum Nomaden: Lektüren des Literarischen im Werk von Gilles Deleuze (Ott 1998): »Die befragten Professoren rieten mir von diesem nicht hinlänglich bekannten Denker ab, schlugen ›Bewährteres‹ vor, wiesen die Verantwortung von sich« (13). Mittlerweile hat sich die Situation aber wesentlich geändert. So stellen Doktorarbeiten über die Philosophie von Deleuze auch im deutschsprachigen Raum heute längst keine Seltenheit mehr dar. Diesbezüglich sei u.a. auf die Arbeiten von Marc Rölli (2003), Mirjam Schaub (2003a und 2003b), Ingo Uhlig (2008), Ralf Krause (2011) und André Reichert (2013) verwiesen.
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Poststrukturalismus und Postmoderne nur schwer in Einklang bringen lassen. So lässt sich etwa darauf hinweisen, dass Deleuzes Denken einer durchaus ungewöhnlichen Genealogie entspringt, die so unterschiedliche Autoren wie Hume und Bergson, Leibniz und Spinoza, Nietzsche und Marx umfasst.3 Darüber hinaus ist Deleuze alles andere als ein Verfechter des »Linguistic Turn«, den er an mehreren Stellen seines Werkes einer deutlichen Kritik unterzieht. So sehr Deleuze nämlich die metaphysischen Prämissen der klassischen Philosophie und »das dogmatische Bild des Denkens« (DW 215) attackiert, so sehr widersetzt er sich zugleich der Aufforderung, als Gegenstand der Philosophie nur mehr Metaphern, Signifikanten und Diskurse gelten zu lassen. Das derzeitige Interesse an Deleuze geht somit auch darauf zurück, dass er dem Leser eine Ontologie präsentiert, die der Dynamik und Komplexität der heutigen Welt – gerade auch hinsichtlich ihrer materiellen und affektiven Aspekte – gerecht zu werden verspricht. Die aktuelle Relevanz von Deleuzes Philosophie korreliert in dieser Hinsicht mit der Entwicklung einer Reihe neuerer Theorieansätze, auf die Bezeichnungen wie »New Materialism« (vgl. Coole/Frost [Hg.] 2010), »Speculative Realism« (vgl. Bryant/Srnicek/Harman [Hg.] 2011 und Meillassoux 2008), »AkteurNetzwerk-Theorie« (vgl. Belliger/Krieger [Hg.] 2006 und Latour 2007), »Object-Oriented Ontology« (vgl. Harman 2002 und Morton 2013), »Thing Theory« (vgl. Brown [Hg.] 2004), »Embodied Mind Theory« (vgl. Rosch/Thompson/Varela 1993), »Political Physiology« (vgl. Protevi 2001 und 2009) oder »Assemblage Theory« (vgl. DeLanda 2006) verweisen. Obwohl jene Ansätze sehr divers sind – und ihre theoretischen Einflüsse auf so unterschiedliche Autoren wie Spinoza, Schelling, Heidegger, Whitehead, Merleau-Ponty, Latour, Badiou oder eben auch Deleuze zurückgehen – haben sie nichtsdestotrotz gemeinsam, dass sie die Prämissen des postmodernen Textualismus zugunsten eines stärker materialistisch ausgerichteten Theoriedesigns verwerfen.4 Die vorliegende Studie kann in gewisser Weise als Teil des beschriebenen Trends angesehen werden, dem es nach den Debatten um Postmoderne und Poststruktura3
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Deleuze selbst hat diesbezüglich erklärt, dass zwischen den Autoren, die sein Denken geprägt haben, eine »geheime Verbindung« bestehe. Vgl. hierzu U 15: »Ich selbst habe lange Philosophiegeschichte ›gemacht‹, habe Bücher über diesen oder jenen Autor gelesen. Aber ich habe mich auf verschiedene Art entschädigt: zunächst, indem ich Autoren liebte, die sich der rationalistischen Tradition dieser Geschichte widersetzten (und zwischen Lukrez, Hume, Spinoza, Nietzsche gibt es für mich eine geheime Verbindung, gebildet durch die Kritik am Negativen, die Kultur der Freude, das Hassen der Innerlichkeit, die Äußerlichkeit der Kräfte und Relationen, die Anprangerung der Macht…etc.)«. Dass Deleuze von einigen jener Ansätze, die sich heute auf einen neuen »Materialismus« oder »Realismus« berufen, in Anspruch genommen wird, bedeutet freilich nicht, dass seine Philosophie problemlos mit derlei Etikettierungen zusammenpasst. In der Vorbemerkung zu den Unterhandlungen heißt es z.B., dass die Philosophie zwar »große innere Schlachten (Idealismus – Realismus etc.)« kenne, dies aber seien lediglich »Schlachten, um zu lachen« (U 7). James Williams hat daher auch erklärt, Deleuzes Philosophie befinde sich »beyond the idealist and realist distinction« (Williams 2005b, 223). Außer Frage steht jedoch, dass Deleuze jedem reduktiven Verständnis von Materialität als reinem Text- oder Signifikationseffekt vehement widersprechen würde, was sein Denken mit den weiter oben genannten Ansätzen zweifellos verbindet.
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lismus um eine Neubewertung von Deleuzes Philosophie geht. Hervorgegangen ist sie jedoch aus einer Disziplin, in der die eingangs erwähnte Rezeptionswelle nicht oder jedenfalls kaum zu spüren ist: den American Studies nämlich, die sich als eigenständige Fachrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg konstituiert haben und denen es um eine interdisziplinär ausgerichtete Analyse der amerikanischen Kultur geht (vgl. einführend Maddox [Hg.] 1999). Dass Deleuze innerhalb der Amerikanistik tatsächlich nur am Rande behandelt wird, ist dabei umso erstaunlicher, da sich – mit Ausnahme vielleicht von Jean Baudrillard (vgl. Baudrillard 1995) – wohl kaum einer der Autoren aus dem Umfeld des französischen Poststrukturalismus so umfassend mit »Amerika« beschäftigt hat wie Deleuze.5 So finden sich z.B. in den gemeinsam mit Guattari verfassten Tausend Plateaus eine Reihe von Anmerkungen über die »rhizomatischen« Aspekte der amerikanischen Kultur, die der europäischen Tradition der »Transzendenz« (strategisch) entgegengesetzt werden (vgl. TP 32-35). Zudem nimmt Deleuze vielfach Bezug auf die amerikanische Literatur und den amerikanischen Film: Ersteres etwa in den gesonderten Essays zu Whitman, Melville und Fitzgerald, Letzteres vor allem in seiner zweibändigen Kinostudie, in der u.a. auch Regisseure wie Griffith, Ford, Hitchcock, Welles oder Cassavetes behandelt werden.6 Dennoch: Hält man sich beispielsweise an den Index des 2002 von Donald Pease und Robyn Wiegman herausgegebenen Sammelbandes The Futures of American Studies (Pease/ Wiegman [Hg.] 2002), in dem die Zukunft des Faches in zahlreichen Einzelessays erörtert wird, so findet sich typischerweise keine einzige Referenz auf Deleuze, während Autoren wie Foucault, Baudrillard, Lyotard, Derrida, Barthes oder Althusser teils ausgiebig behandelt werden.7 Sicherlich wäre es falsch, die 24 Autoren des Bandes als repräsentativ für das gesamte Fach anzusehen; gerade aber in einer Anthologie aus dem Umfeld der theoriebewussten New Americanists, deren Einflüsse (laut Buchrücken) aus den Bereichen »poststructuralism, postcolonial studies, sexuality studies, and cultural studies« stammen, fällt das Fehlen von Deleuze auf. Genauer gesagt: Die Zukunft ihres Faches malen sich die bekanntesten Vertreter der American Studies offenbar ohne Deleuze aus.8 5
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Seit Ende der 1990er Jahre sind jedoch vereinzelt auch innerhalb der Amerikanistik Arbeiten erschienen, in denen auf die Philosophie von Deleuze Bezug genommen wird. Siehe etwa D’haen 1996, 1997 und 1999, Berressem (Hg.) 2000, Berressem 2004a und 2004b, Schleusener 2004 sowie Herzogenrath 2010. Siehe die Essays »Whitman« (KK 78-84), »Bartleby oder die Formel« (KK 94-123) sowie »Porzellan und Vulkan« (LS 193-202). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der amerikanischen Literatur findet sich außerdem im zweiten Kapitel der Dialoge (D 43-82). Zu Deleuzes Beschäftigung mit dem Film – einschließlich dem amerikanischen –, vgl. die Bände Das Bewegungs-Bild (BB) und Das Zeit-Bild (ZB). Weder Deleuze noch Guattari tauchen im Index des Bandes auf, in der Literaturliste wird jedoch auf die Tausend Plateaus und ihr Kafka-Buch verwiesen (siehe Pease/Wiegman [Hg.] 2002, 587). Dass die Publikation des Buches mittlerweile schon einige Jahre zurückliegt, heißt nicht, dass sich seitdem etwas Grundlegendes geändert hätte. In dem 2009 erschienenen (und mehr als 600 Seiten umfassenden) Band American Studies: An Anthology (Gaines et al. [Hg.] 2009), der Aufsätze zahlreicher amerikanistischer Autorinnen und Autoren der Gegenwart beinhaltet, werden Deleuze und Guattari z.B. ebenfalls nicht erwähnt.
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Die vorliegende Studie hat mithin zum Ziel, dieser Tendenz entgegenzuwirken und Deleuzes Philosophie mit Blick auf ihre Verwendungsmöglichkeiten im Rahmen einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Amerikanistik zu demonstrieren. Während im ersten Teil des Buches eine theoretische Auseinandersetzung mit Deleuzes Philosophie erfolgt, in deren Verlauf es zu einer Rekonstruktion besonders ihrer kulturwissenschaftlich relevanten Aspekte kommt, ist der zweite Teil stärker »praktisch« konzipiert und widmet sich mithilfe der in Teil I dargelegten Begriffe verschiedenen Aspekten der amerikanischen Kultur. In drei Kapiteln, die sich mit einem jeweils anderen Medium befassen, sollen hier in kritischer Auseinandersetzung mit amerikanistischen Theorieansätzen die Möglichkeiten einer von Deleuze inspirierten Kulturanalyse verdeutlicht werden. Das erste Kapitel bezieht sich dabei auf Herman Melvilles Moby-Dick, das zweite Kapitel auf den Westernfilm und das dritte Kapitel auf die Geschichte der amerikanischen Fotografie. Ein gewisser Schwerpunkt der Studie liegt somit auf den Medien Literatur und Film, die – anders als die Fotografie – bereits im ersten Teil des Buches behandelt werden und auch in Deleuzes eigenem Werk eine wesentliche Rolle spielen. Nichtsdestotrotz soll es im Folgenden allerdings vermieden werden, Deleuzes Philosophie als reine »Medientheorie« zu behandeln und seine Aussagen über das Kino oder den Roman von ihren philosophischen und ontologischen Prämissen zu isolieren. Dies ist nicht zuletzt deshalb nötig, weil sich Philosophie und Ästhetik in Deleuzes Werk nicht sinnvoll voneinander trennen lassen. Nicht nur lassen sich die Aussagen über Literatur und Film schwer verstehen und qualifizieren, solange man sie nicht auf den Gesamtkontext von Deleuzes philosophischem Projekt zurückbezieht; auch wird die Grenze zwischen Philosophie und Kunst von Deleuze selbst vielfach überschritten, was beispielsweise deutlich wird, wenn er Künstler als »Denker« oder Philosophen als »Stilisten« charakterisiert. Zwar kommt es in Was ist Philosophie? (dem letzten gemeinsamen Buch von Deleuze und Guattari) zu einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen der Philosophie, der Kunst und der Wissenschaft; die drei Bereiche werden jedoch allesamt als Formen des Denkens behandelt, die zahlreiche Verbindungen zueinander aufweisen und zwischen denen von Rechts wegen keine Hierarchie besteht (vgl. WP 133-260). Die ausgiebige theoretische Auseinandersetzung mit Deleuzes Philosophie (und dabei nicht allein mit seiner Ästhetik) hängt zudem mit der Absicht zusammen, dasjenige zu erfassen, was sich mit Deleuzes eigenen Worten als sein »Bild des Denkens« (WP 44) beschreiben lässt. Somit hat die vorliegende Studie mehr zum Ziel als eine bloße »Übersetzung« von Begriffen wie »Rhizom«, »Fluchtlinie«, »Deterritorialisierung« oder »Nomadismus« in den kulturtheoretischen Denkhorizont der Amerikanistik. Zwar ist es freilich erforderlich, Deleuzes Denken auf eine Weise zu rekonstruieren, die es erlaubt, mögliche Anknüpfungspunkte zwischen seiner Philosophie und der Praxis der amerikanistischen Kulturwissenschaft offenzulegen. Darüber hinaus aber soll im Zuge der Beschäftigung mit Deleuzes Philosophie auch ein Blick auf das philosophische Vorverständnis des Mainstreams der American Studies und Cultural Studies geworfen werden, um so zu einer produktiven Problematisierung verschiedener Aspekte zu gelangen, die dessen theoretische Ausrichtung betreffen. Ferner soll die kulturwissenschaftliche Relevanz von Deleuzes Werk außerdem dadurch verdeutlicht werden, dass im Dialog mit dessen Philosophie ein Konzept von »kultureller Komplexität« entwickelt wird, das als Beitrag für eine mögliche Erneuerung des Kulturbegriffs zu verstehen ist.
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Auf den folgenden Seiten soll zunächst ein einleitender Überblick über die vorliegende Studie präsentiert werden, wobei in einem ersten Abschnitt die kulturtheoretische Dimension von Deleuzes Philosophie erörtert und das Konzept der kulturellen Komplexität vorgestellt wird. Im Anschluss daran folgt eine Auseinandersetzung mit den Positionen der New Americanists, die im Dialog mit Deleuzes Arbeiten zur amerikanischen Literatur diskutiert werden. Abschließend werden dann Aufbau und Ziel der Studie erläutert, wobei zusammenfassend bereits auf deren einzelne Kapitel vorausgeblickt wird. Kulturelle Komplexität Wie im ersten Teil der Studie deutlich werden soll, können die Begriffe »Immanenz« und »Werden« als Schlüsselkonzepte gelten, durch deren Verständnis der Zugang zu Deleuzes Denken wesentlich erleichtert wird. Beide Begriffe weisen darauf hin, dass in Deleuzes Philosophie grundsätzlich auf transzendente Haltepunkte verzichtet und »Realität« als prozessual und verzeitlicht begriffen wird.9 Hieraus resultiert, dass Deleuze den ontologischen Dualismus von »Realität« und »Repräsentation« tendenziell verwirft. Denn aufgrund des prozessualen Charakters der Wirklichkeit kann es folglich auch keine adäquate Repräsentation geben, da diese von Rechts wegen über keinerlei »fertiges« oder fixierbares Objekt verfügt, das sich buchstäblich repräsentieren ließe. Und auch diejenigen sprachlichen oder visuellen Zeichen, die für gewöhnlich der (medialen) Repräsentation zugerechnet werden, haben Deleuze zufolge weniger einen repräsentierenden als einen intervenierenden Charakter und sind somit an der Konstitution von Realität mitbeteiligt. Deleuzes Repräsentationskritik korrespondiert daher mit einem konstruktivistischen Seinsverständnis, gemäß dem die dualistische Vorstellung von einer gegebenen und weithin unverfügbaren Realität »da draußen« (Kants »Ding an sich« oder das »unmögliche Reale« Lacans) sowie der allenfalls unvollständigen (d.h. niemals objektiven) Repräsentation jener Realität aufgegeben wird.10 Stattdessen konzentriert sich Deleuze auf die mannigfaltigen Prozesse und Akteure, die gemeinsam an der Konstitution von Wirklichkeit beteiligt sind. Ob in seinen Texten zur Literatur, zum Film, zur Philosophie, zur Sprache oder zum Unbewussten: jeweils wird die Logik der Repräsentation (oder der »Mimesis«) hier durch eine Logik der Produktion (oder der »Maschine«) ersetzt. Und eben diesen Konstruktivismus macht Deleuze auch für seine eigene philosophische Tätigkeit gel9
Als Vorläufer einer derartigen »Prozessontologie« können u.a. Henri Bergson (vgl. Bergson 1964 und 1967) und Alfred North Whitehead (vgl. Whitehead 1985) genannt werden. 10 Jean-Jacques Lecercle zufolge besteht die Besonderheit von Deleuzes Repräsentationskritik darin, dass er – anders als in den Cultural Studies üblich – Worten und Dingen (bzw. der Repräsentation und dem Repräsentierten) keinen essentiell verschiedenen ontologischen Status zuweist: »[T]here is no parallelism in the links between words (taken literally or metaphorically) and their referents, because words and things are taken as being on the same ontological level […]: words no longer represent objects because they are themselves objects (they have material shape, they exert force, they mix with objects)«. Wie Lecercle weiter ausführt, lässt sich Deleuze somit eine »flache« Ontologie bescheinigen: »Deleuze’s ontology is sometimes said to be ›flat‹ because all entities exist on the same plane of immanence« (Lecercle 2010, 125-126).
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tend, die er weder als reflexiv oder kontemplativ begreift noch dem Bereich der Kommunikation zuordnet. »Die Philosophie«, heißt es stattdessen, »ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen« (WP 6). Nun ist konstruktivistisches Denken in den American Studies – und mehr noch im Rahmen der Kulturtheorien, die diesen zugrunde liegen – an sich jedoch keineswegs neu. Im Gegenteil: So einflussreiche kulturtheoretische Ansätze wie Edward Saids Diskursanalyse, Judith Butlers Gendertheorie oder die Ideologie- und Mythenkritik der New Americanists beruhen allesamt auf antiessentialistischen und konstruktivistischen Prämissen. Von den dominanten Spielarten der Kulturtheorie unterscheidet sich Deleuzes Konstruktivismus allerdings dadurch, dass er prinzipiell auf einer anderen Ontologie basiert. Denn aufgrund seiner Distanz zum »Linguistic Turn« und zu dessen ontologischen Voraussetzungen widerspricht Deleuze der unter Sprachund Sozialkonstruktivisten verbreiteten Aufteilung der Welt in zwei Sphären, wobei die materielle Sphäre des Seins als weitgehend passiv und stumm konzipiert wird, während die Sphäre der Kultur, des Bewusstseins und der sprachlichen Bedeutungsgebung als aktiv und konstituierend gilt. Eine einseitige Privilegierung von Signifikation und Bewusstsein (verstanden als die aktiven Elemente gesellschaftlicher Konstitutionsprozesse) würde Deleuzes Immanenzgedanken aber de facto aushebeln, da Sprache und Kultur hierdurch ein quasi transzendenter Status zukäme. Wie im Laufe der Studie zu zeigen sein wird, mündet Deleuzes Opposition gegen »cultural solipsism« (Massumi 2002a, 39) und den »Imperialismus des Signifikanten« (TP 93) indes keinesfalls in einen plumpen Materialismus, der unter der Annahme operiert, Kultur lasse sich stets von vermeintlich »objektiven« Gegebenheiten ableiten. Eine von Deleuze inspirierte Kulturtheorie wäre stattdessen mit der Aufgabe konfrontiert, »Inhalt« und »Ausdruck« – wie es in den Tausend Plateaus mit Verweis auf den Linguisten Louis Hjelmslev heißt – als gleichwertige Einflussfaktoren zu denken, die auf derselben Immanenzebene auf komplexe Weise verschaltet sind. Bevor im Folgenden die Frage behandelt wird, wie eine von Deleuzes Philosophie ausgehende Erneuerung des Kulturbegriffs der Cultural Studies aussehen könnte, muss dieser zunächst jedoch in seinen Hauptfacetten dargestellt werden. Insofern innerhalb der Cultural Studies und der Amerikanistik heute etwa semiotische, psychoanalytische, medientheoretische, marxistische, feministische, ökokritische oder postkoloniale Ansätze miteinander konkurrieren, wäre es sicherlich naiv, all jenen Denkrichtungen ein einheitliches Kulturverständnis zu unterstellen. Nichtsdestotrotz aber gehen die meisten jener Positionen auf die eine oder andere Weise auf die Neubegründung des Kulturbegriffs zurück, die am Anfang der Cultural Studies steht und im Großbritannien der Nachkriegsjahre verortet werden kann. Im Kontext jener frühen British Cultural Studies lässt sich insbesondere auf den marxistischen Kulturwissenschaftler Raymond Williams verweisen, der nicht nur als Begründer des »Cultural Materialism« bekannt geworden ist, sondern bereits in seinen frühen Büchern Culture and Society (1958) und The Long Revolution (1961) einen nachhaltigen Beitrag zur weiteren Entwicklung des Kulturbegriffs der Cultural Studies geleistet hat. Vor der Publikation von Williams’ Arbeiten dominierte in Großbritannien noch ein wesentlich idealistischer Kulturbegriff, der in erster Linie auf die Hochkultur gemünzt war, d.h. auf »the best which has been thought and said in the world«, wie es in Matthew Arnolds Culture and Anarchy heißt (Arnold 1969, 6). Gegen dieses de facto »elitäre« Verständnis von Kultur richtet sich Williams’ Umformulierung des
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Kulturbegriffs auf zweierlei Weisen: Einerseits macht Williams deutlich, dass neben der Hochkultur auch eine lebendige und kreative Kultur der Arbeiterklasse existiert, was zu einer Pluralisierung des Kulturbegriffs und einer tendenziellen Aufwertung des Populären geführt hat. Andererseits versteht er Kultur nicht mehr vorwiegend im Sinne von »Kunst«, sondern stattdessen als umfassende Lebensweise, die selbst in den gewöhnlichsten Handlungen des Alltagslebens zum Ausdruck gelangt. »Yet a culture«, schreibt Williams, »is not only a body of intellectual and imaginative work; it is also and essentially a whole way of life« (Williams 1958, 325). Williams’ theoretisches Modell in dieser zumeist als »Kulturalismus« bezeichneten Phase der Cultural Studies lässt sich treffend als interaktionistisch bezeichnen: Kultur wird nicht nur von einigen wenigen – d.h. von Intellektuellen oder Künstlern – hervorgebracht, sondern entsteht in der Mitte der Gesellschaft als Resultat alltäglicher menschlicher Praktiken und Relationen. Doch obwohl dieser Ansatz innerhalb der Cultural Studies äußerst einflussreich war, hat er schon frühzeitig auch Kritik auf sich gezogen. Edward Thompson z.B. warf Williams vor, seine Definition von Kultur als »whole way of life« würde dem jeder Kultur inhärenten Konfliktcharakter nicht genüge tun, was ihn seinerseits dazu veranlasst hat, Kultur als »whole way of struggle« zu definieren (vgl. Marchart 2008, 55). Eine zumindest in mancher Hinsicht vergleichbare Kritik wurde im Kontext des Strukturalismus geäußert, der die Cultural Studies ab den 1970er Jahren wesentlich beeinflusst hat. Mit Blick auf die theoretischen Modelle von Autoren wie Ferdinand Saussure, Roland Barthes, Louis Althusser oder Jacques Lacan wurde Williams nun ein weithin humanistisches Kulturverständnis vorgeworfen, das auf romantischen Vorannahmen hinsichtlich menschlicher Handlungsfähigkeit und der Transparenz sozialer Relationen basiere. Der Strukturalismus, schreibt Oliver Marchart, »implizierte die systematische Dezentrierung humanistischer und kulturalistischer Vorstellungen: der ›Mensch‹ war nicht länger die Quelle bedeutungserzeugender Praxis, er war nicht autonomer Sprecher, sondern wurde selbst durch die Codes und Systeme seiner Kultur gesprochen« (72).11 Wie dieses Zitat verdeutlicht, bewirkte der strukturalistische Einfluss in den 1970er Jahren eine weitreichende Semiotisierung der Cultural Studies, was zur Folge hatte, dass Kultur nun weniger als »Lebensweise« denn als »Bedeutungssystem« verstanden wurde. Auch wenn jener »Linguistic Turn« in den letzten Jahren von unterschiedlichen kulturtheoretischen Ansätzen in Frage gestellt worden ist, lässt sich nichtsdestotrotz behaupten, dass die sprachfixierte Definition von Kultur als Zeichenund Bedeutungssystem – in Europa ebenso wie in den USA – nach wie vor zu den dominantesten Positionen innerhalb der Cultural Studies zählt. Und in gewissem Sinne gilt dies selbst noch für den »kulturellen Radikalismus« (Fluck 2002) von Strömungen wie den Race-and-Gender Studies, den Queer Studies, dem Cultural Materialism oder dem New Historicism, die besonders seit den 1980er Jahren in Erscheinung getreten sind. Zwar lehnen die Vertreter dieser Ansätze den formalistischen Charakter mancher strukturalistischer Arbeiten ab und betonen stattdessen die histo11 Unter dem Einfluss des Strukturalismus und im Zuge der Radikalisierung der Cultural Studies nach 1968 änderte sich auch die Position von Williams, die in den 1970er Jahren eine stärker konflikt- und signifikationstheoretische Tendenz aufweist. Als Hauptwerk dieser kulturmaterialistischen Spätphase seines Werkes gilt die Studie Marxism and Literature (Williams 1977).
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rischen, sozialen und politischen Kontexte und Funktionen semiotischer Prozesse. Dennoch bleibt die Definition von Kultur als Bedeutungssystem aber auch innerhalb dieser neueren Strömungen intakt, insofern Kultur in der Regel weiterhin mit Signifikation, Repräsentation und Bedeutungsgebung identifiziert wird und die kulturellen Konflikte somit als Kämpfe um Diskurshoheit und Signifikationsmacht verstanden werden. Auf treffende Weise hat Lawrence Grossberg den Kulturbegriff jenes Cultural-Studies-Mainstreams zusammengefasst: »With culture«, schreibt Grossberg, »reality is always already semanticized« (Grossberg 1997, 20). Wo nun ließe sich nach dieser (freilich recht schematischen) Zusammenfassung der Geschichte der Cultural Studies aber die Position von Deleuze verorten? Und wie ließe sich unter Zuhilfenahme von Deleuzes Philosophie und dem Wissen um die Entwicklungsgeschichte der Cultural Studies eine produktive Erweiterung des Kulturbegriffs bewirken, bei der »Komplexität« in den Fokus der Betrachtung rückt? Wie weiter oben bereits angedeutet wurde, ist Deleuze kein Verfechter des »Linguistic Turn« (oder der Priorität von Signifikations- und Bedeutungskategorien), weshalb seine Philosophie der vorliegenden Studie auch dazu dienen soll, Alternativen zum Cultural-Studies-Mainstream aufzuzeigen. Hierbei kann jedoch durchaus von der Geschichte der Cultural Studies ausgegangen werden, insofern sich durch eine Kombination verschiedener bereits erwähnter Positionen zumindest eine Richtung einschlagen ließe, in deren Verlauf ein Kulturbegriff zum Vorschein käme, der mit Deleuzes prozessual-konstruktivistischer Ontologie kompatibel wäre. So lässt sich z.B. darauf hinweisen, dass Williams’ ursprüngliches Kulturmodell immerhin den Vorteil hat, Kultur aus der Bottom-up-Perspektive und nicht – wie in einigen Spielarten strukturalistischer Semiologie – aus der Top-down-Perspektive einer bereits bestehenden symbolischen Ordnung zu beschreiben.12 Diesbezüglich ist einer der Grundgedanken aus Deleuzes Immanenzphilosophie die Annahme, dass jeder Funktionszusammenhang von der Art des Zusammenwirkens all seiner Relationen her gedacht werden muss. »All life«, schreibt Claire Colebrook in diesem Kontext, »is a process of connection and interaction […]. There is no finality, end or order that would govern the assemblage as a whole; the law of any assemblage is created from its connections« (Colebrook 2002b, xx). 12 Die Verwendung von Begriffen wie bottom up und top down birgt freilich das Risiko, Kultur und Gesellschaft in zwei getrennte Dimensionen – die obere und die untere – zu unterteilen. Dagegen hat Bruno Latour für eine konsequent »flache« Konzeption der Gesellschaft plädiert, nach der sämtliche Interaktionen auf derselben Ebene stattfinden und Strukturen, Machtzentren, Gesetze oder Hierarchien nicht durch das Hinzufügen einer zusätzlichen Dimension, sondern allein durch die Untersuchung aller bestehenden Relationen zu erklären sind (vgl. Latour 2007, 273-423). Dieser Sicht ist durchaus zuzustimmen, was allerdings nicht heißt, dass der Begriff bottom up als Hilfskonstruktion zur Beschreibung kultureller und sozialer Prozesse generell untauglich wäre. So meint bottom up in der vorliegenden Studie keinen Dimensionenwechsel (vom »Handeln« zur »Struktur« etc.), sondern betrifft vielmehr das fluide und weithin relationale Verhältnis von »Teil« und »Ganzem«. Ein jedes Ganzes (z.B. ein biologischer Organismus, ein Kulturkreis, eine Stadt oder Institution) sollte diesbezüglich durch das Zusammenwirken seiner jeweiligen Teile und Verbindungen erklärt werden (bottom up) und nicht durch die Vorgängigkeit einer quasi transzendenten Ordnung, Form oder Struktur (top down).
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Ähnlich wie das Kulturmodell von Raymond Williams kann insofern auch die Philosophie von Deleuze als interaktionistisch beschrieben werden: So wie Williams es in seinem Frühwerk ablehnt, Kultur als von den Praktiken der sozialen Akteure getrennte Entität zu verstehen, lehnt auch Deleuze es ab, einen Funktionszusammenhang zu denken, der seinen jeweiligen Verknüpfungen übergeordnet wäre. Ein jeweils genauer zu bestimmendes Maß an Interaktion muss demnach im Falle eines jeden Funktionszusammenhangs in Rechnung gestellt werden, was sich anhand eines simplen Beispiels verdeutlichen lässt, das allerdings weniger zu Deleuze als in den Kontext der Race-and-Gender Studies passt und die semantische Dimension der Farbwahrnehmung betrifft. Selbst wenn es so sein sollte, dass alle Mitglieder eines Kulturkreises dem binären Gegensatz von »schwarz« und »weiß« die gleiche Bedeutung geben (was freilich äußerst unwahrscheinlich ist), ließe sich mit Deleuze nicht von einer vorgeordneten symbolischen Ordnung oder einem fix-und-fertigen Bedeutungssystem sprechen. Stattdessen müsste von den Transmissionsweisen, den Formen der Weitergabe, den Kanälen und Wiederholungspraktiken ausgegangen werden, die in ihrer Gesamtheit jene semantische Homogenität überhaupt erst herzustellen vermögen.13 Insofern jedes »Ganze« also stets aus einer Vielzahl von einzelnen Teilen und Verbindungen besteht, lässt sich Kollektivität – selbst in ihrer homogensten Form – niemals ohne Interaktion eben all jener Teile denken, durch die auch jeder von den Cultural Studies veranschlagte »Code« hindurch muss, der kulturelle Hegemonie beansprucht. Bruno Latour, dessen Arbeiten nicht zuletzt auch von Deleuze beeinflusst sind, hat diesen Gedanken auf präzise Weise zum Ausdruck gebracht. »Es ist nicht so, daß es keine Hierarchie gäbe«, schreibt Latour: »Bloß muß man, um von einem Ort an den anderen zu gelangen, die vollen Kosten der Verbindung, Beziehung, Fortbewegung und Information zahlen« (Latour 2007, 305). Verstünde man Kultur folglich in erster Linie als vor- oder übergeordnetes Bedeutungssystem, so würden letztlich all jene Verbindungs-, Transport- und Interaktionskosten übergangen werden. Wenn sich Deleuzes Position dennoch von Williams’ Kulturmodell unterscheidet, dann betrifft dies also keinesfalls dessen »Interaktionismus« an sich. Eher noch ließe sich im Sinne von Deleuze behaupten, Williams’ Modell sei nicht interaktionistisch genug. Hier würde Deleuze vermutlich selbst dem strukturalistischen Einwand folgen, laut dem Williams einem idealistischen Humanismus verhaftet bleibt, wobei die Kritik jedoch anders gelagert wäre. Eine von Deleuze inspirierte Kritik an jenem Humanismus würde diesen nämlich gerade nicht zugunsten der Annahme einer vorgängigen symbolischen Ordnung kritisieren, sondern stattdessen für eine Erweiterung von Williams’ Interaktionsmodell zugunsten auch der »nicht-menschlichen« Elemente und Akteure plädieren, für die in der humanistischen Sozialtheorie kein Platz ist. Denn Williams zufolge stellen die einzelnen sozialen Akteure – d.h. die menschli13 Dieser Gedanke kommt besonders anschaulich in der Soziologie von Gabriel Tarde zum Ausdruck. Wie noch genauer erläutert wird, geht Tarde nämlich – anders als sein Zeitgenosse Emile Durkheim – nicht von der Gegebenheit »sozialer Tatsachen« aus, sondern widmet sich primär den mannigfaltigen Verbreitungsprozessen und Nachahmungspraktiken, die er als konstitutive Voraussetzung für die Herstellung sozialer Homogenität begreift. »Das Heterogene«, schreibt Tarde, »ist also im Herzen der Dinge und nicht das Homogene« (de Tarde 2003, 95).
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chen Individuen – die kleinsten Einheiten dar, aus denen die kulturelle Ordnung aufgebaut und zusammengesetzt ist. Bei Deleuze hingegen muss der individuelle menschliche Akteur gewissermaßen selbst als »Zusammensetzung« verstanden werden, d.h. als Schnittstelle all seiner Relationen, die eben nicht allein sozialer Natur sind. Claire Colebrook schreibt in diesem Kontext: »A human body is an assemblage of genetic material, ideas, powers of acting and a relation to other bodies« (Colebrook 2002b, xx). Und unter diesen »anderen Körpern« befinden sich nicht allein die Körper der Mitmenschen, sondern auch all jene der nicht-menschlichen Akteure, mit denen jeder Mensch im Rahmen seines »way of life« – oder seines Gefüges, wie sich mit Deleuze sagen lässt14 – verschaltet ist. Deleuzes Interaktionsmodell weist daher (im Gegensatz zu demjenigen von Williams) eine quasi »posthumanistische« Tendenz auf, wodurch sich eine Reihe von Parallelen etwa zu den Arbeiten von Bruno Latour oder Donna Haraway erklären, denen es ebenfalls darum geht, den Subjekt/ Objekt-Dualismus und den traditionellen Gegensatz von Natur und Kultur zugunsten einer komplexeren Konzeption aufzubrechen.15 Deleuzes Position verhält sich somit solidarisch zu der humanismuskritischen Tendenz des Strukturalismus, weist jedoch dessen top-down-artigen Schematismus und die einseitige Fixierung auf Sprache und Bedeutung zurück. Aus der Perspektive von Deleuze ist dem Strukturalismus zwar zugute zu halten, dass er die bereits bei Darwin, Marx oder Freud vorhandene Kritik an der klassisch-humanistischen Konzeption – laut der das menschliche Subjekt nicht nur als »Herr seiner Selbst« fungiert, sondern auch im Zentrum des Universums steht – fortsetzt und radikalisiert. Zugleich aber bewirken zumindest die dominanten Spielarten des Strukturalismus keine wirkliche Entgrenzung des Menschen, da dieser einmal mehr mit dem Seinsbereich der Sprache identifiziert wird, der seit jeher als das eigentliche Wesensfundament des Menschen gilt. Zwar bestreitet auch Deleuze keinesfalls die Relevanz der Sprache, was er jedoch zurückweist, ist die kulturtheoretische Tendenz, so gut wie alle wesentlichen Aspekte des gesellschaftlichen Lebens auf Signifikations- oder Diskurseffekte zurückzuführen. Eine derart einseitige Fixierung auf Sprache und Diskurs 14 Deleuze und Guattari unterscheiden »Gefüge des Inhalts«, in denen Körper mit anderen Körpern (materiell) verschaltet sind, und »Gefüge des Ausdrucks«, in denen kollektive Aussagen und Zeichen zirkulieren. Wie im weiteren Verlauf der Studie deutlich werden wird, gilt die Trennung der beiden Arten von Gefüge jedoch nur in formaler Hinsicht. In der Praxis kommt es stets zur Intervention des Ausdrucks- in den Inhaltsbereich und umgekehrt. Zur Unterscheidung von Inhalt und Ausdruck sowie zum Begriff des Gefüges, vgl. besonders das 3. und 4. Kapitel der Tausend Plateaus (TP 59-153). 15 Zum Posthumanismusdiskurs, vgl. Badmington (Hg.) 2000, Halberstam/Livingston (Hg.) 1995, Hayles 1999 und Wolfe 2009. Bruno Latour ist für den Posthumanismus insofern relevant, als er eine Sozial- und Handlungstheorie entwickelt hat, in der auch die Rolle nichtmenschlicher Akteure berücksichtigt wird (vgl. Latour 2000 und 2008). In diesem Kontext lässt sich zudem Donna Haraway verorten, die sich einerseits der Figur des Cyborgs gewidmet hat (vgl. Haraway 1991), andererseits aber auch dem Verhältnis von Mensch und Tier (vgl. Haraway 2008). Diesbezüglich hebt sie zwar explizit die Unterschiede ihres Ansatzes zu Deleuzes und Guattaris Konzeption des »Tier-Werdens« hervor (27-30); grundsätzlich lassen sich zwischen Haraway und Deleuze aber auch wesentliche Gemeinsamkeiten ausmachen, die gegenüber den vermeintlichen Differenzen überwiegen.
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lässt sich freilich schlecht mit Deleuzes Immanenzmodell vereinbaren, gemäß dem jedes »Ganze« stets als Kreuzungspunkt seiner jeweiligen Relationen gilt, die auch im Falle des Menschen nicht ausschließlich sprachlicher, sondern ebenso sehr biologischer, affektiver, habitueller oder kognitiver Natur sind. Ferner geht Deleuze davon aus, dass der Mensch zwangsläufig nur im Rahmen von Gefügen existiert, d.h. immer schon mit nicht-menschlichen Entitäten koexistiert, gegenüber denen er keine Unabhängigkeit besitzt. Es wäre demnach auch falsch, einen »rein menschlichen« oder »rein kulturellen« Bereich isolieren zu wollen, um so zu einer befriedigenden Definition von Kultur zu gelangen. Insofern der Kulturbegriff mit Deleuze also eine gewisse Ausweitung erfahren müsste (um etwa auch die Berücksichtigung nicht-menschlicher Akteure gewährleisten zu können), stellt sich die Frage, ob »Kultur« dann überhaupt noch der richtige Begriff wäre. Würde eine Ausweitung des Kulturbegriffs auf Bereiche jenseits von Kommunikation, Signifikation und Bewusstsein nicht faktisch zur Folge haben, dass ein ohnehin schon weitgehend unbestimmter Begriff noch weiter verunklart würde? Niklas Luhmann, der den Begriff aufgrund seiner mangelnden Spezifik als »einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind« (Luhmann 1995, 398), bezeichnet hat, würde dies sicherlich bejahen. Andererseits kann die relative Unbestimmtheit des Kulturbegriffs auch als Vorteil verstanden werden, da sie es erlaubt, jenseits der schematischen Grenzziehungen zwischen getrennten Bereichen (wofür Luhmanns Systemtheorie ein passendes Beispiel darstellt) die reale Komplexität derjenigen Prozesse in den Blick zu nehmen, die das kulturelle und gesellschaftliche Leben heute bestimmen. Was zudem für ein erweitertes Kulturverständnis spricht, ist der eigentliche Ursprung des Kulturbegriffs selbst, der anfangs vor allem im Kontext von Viehzucht und Landwirtschaft Verwendung fand (agriculture). Wie Raymond Williams deutlich macht, hat diese Verwendung des Begriffs zwar letztlich zum »elitären« Verständnis von Kultur als Hochkultur beigetragen, da die Kultivierung des Bodens – analog zur Kultivierung des Individuums – als Prozess verstanden wurde, der die Transformation von Natur in Kultur zum Ziel hat.16 Gleichwohl ist an der frühen Gebrauchsweise des Kulturbegriffs von Vorteil, dass hier ein Verhältnis beschrieben wird, das beide Bereiche, den menschlichen und den nicht-menschlichen, umfasst. Wenn der Begriff der Kultur somit auf das Verhältnis von menschlichem und nicht-menschlichem Bereich bezogen wird, heißt dies freilich nicht, dass zugleich auch am althergebrachten Natur/Kultur-Dualismus festgehalten wird, der im Zeitalter des »Anthropozäns« (vgl. Crutzen/Stoermer 2000) ohnehin in Frage steht. In analytischer Hinsicht macht es jedoch durchaus Sinn, zunächst zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Bereich zu unterscheiden, um so die realen »Mischungen« überhaupt bestimmbar zu machen. Gerade in einer Zeit, in der technische Artefakte, Computerprogramme und mathematische Algorithmen, genetisch veränderte Lebensmittel, vom Tier auf den Menschen überspringende Viren und Bakterien, neue Kommunikations- und Überwachungstechnologien, künstliche Intelligenzen, Aktien16 Vgl. Williams 1985, 87: »Culture in all its early uses was a noun of process: the tending of something, basically crops or animals […]. From eC16 the tending of natural growth was extended to a process of human development, and this […] was the main sense until lC18 and eC19«.
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kurse, Klimakatastrophen oder die Knappheit essentieller Ressourcen in zunehmendem Maße relevant für das soziale Leben der Menschen sind, bietet es sich daher an, wieder die Analyse des Verhältnisses der beiden Bereiche in den Blick zu nehmen. Und insofern man die alte Bedeutung des Kulturbegriffs von ihrem normativen Gehalt trennen würde, könnte sich zweifelsfrei die Möglichkeit für eine zeitgemäße Aktualisierung ergeben, nach der sich Kultur sogar wieder – wie noch bei Williams – als whole way of life verstehen ließe. Voraussetzung hierfür wären jedoch ein anderer Interaktionsbegriff und eine neue Vorstellung von »Lebensweise«, die nun als Resultat der jeweils spezifischen Form des Zusammentreffens aller Akteure und Teilakteure gelten müsste, so dass nicht nur das Verhältnis zwischen Menschen, sondern auch dasjenige zwischen dem menschlichen und dem nicht-menschlichen Bereich zu untersuchen wäre. Bevor nun mit Deleuze ein alternatives Konzept von Kultur formuliert werden soll, muss zunächst bedacht werden, dass der Kulturbegriff in dessen eigenen Texten eine allenfalls untergeordnete Rolle spielt. Knüpft man indes an die vorangehenden Überlegungen an, so sollte es möglich sein, zu einem Begriff der Kultur zu gelangen, der mit Deleuzes konstruktivistischer Ontologie in Einklang steht. Wenn jener Begriff im Folgenden genauer als »kulturelle Komplexität« bestimmt werden soll, dann muss sogleich eine wesentliche Einschränkung gemacht werden. Denn trotz vieler Überschneidungen deckt sich das hier entwickelte Komplexitätskonzept nicht notwendigerweise mit denjenigen Ansätzen, die heutzutage unter dem Titel »Complexity Theory« oder »Theorie komplexer Systeme« zusammengefasst werden (vgl. einführend Mainzer 2008). Der Begriff »Complexity Theory« bezeichnet für gewöhnlich Ansätze, die ursprünglich vor allem in der Mathematik, der Informatik, der Kybernetik und den Naturwissenschaften entwickelt wurden (vgl. Mandelbrot 1977, Maturana/Varela 1987, Prigogine/Stengers 1984, Nicolis/Prigogine 1989 und Kauffman 1993), später aber auch Eingang in die Sozialwissenschaften gefunden haben (vgl. Luhmann 1987). Auch wenn das Feld der »Complexity Theory« weit gefächert ist (und sich daher die Frage stellt, ob sich überhaupt von einer einheitlichen »Theorie« sprechen lässt17), können nichtsdestotrotz eine Reihe von Elementen ausgemacht werden, die den meisten Ansätzen in der Komplexitätsforschung gemeinsam sind. So wird in der »Complexity Theory« normalerweise zwischen komplexen und lediglich komplizierten Systemen unterschieden, wobei die Prozessdynamik eines komplexen Systems – auch wenn sämtliche Informationen über dessen einzelne Komponenten 17 Unter dem Begriff »Complexity Theory« werden verschiedene theoretische Konzepte aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengefasst, wobei die Grenze zu anderen wissenschaftlichen Ansätzen nicht immer leicht zu bestimmen ist. Umstritten ist etwa die Frage, ob zwischen Komplexitätstheorie und Chaostheorie unterschieden werden solle. Während Hanjo Berressem die Begriffe »Chaos Theory« und »Complexity Theory« etwa weitgehend synonym verwendet (vgl. Berressem 2000 [Hg.], 6), richtet sich John Protevi strikt gegen jede Vermengung der beiden Ansätze: »[C]omplexity theory is not chaos theory. Chaos theory treats the growth of unpredictable behaviour from simple rules in deterministic nonlinear dynamical systems, while complexity theory treats the emergence of relatively simple functional structures from complex interchanges of the component parts of a system. Chaos theory moves from simple to complex while complexity theory moves from complex to simple« (Protevi 2006, 20-21).
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bekannt sind – niemals vollständig bestimmbar ist.18 Komplexe Systeme (z.B. Ökosysteme, das Wetter, der globale Finanzmarkt usw.) bestehen folglich aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Agenten, durch deren Wechselwirkungen es zu »Emergenzphänomenen« kommt, die eine wesentliche Transformation der Gesamteigenschaften des Systems bewirken können.19 In diesem Sinne zeichnen sich komplexe Systeme durch vorwiegend nichtlineare Dynamiken aus, d.h. dass zwischen Ursache und Wirkung eines Ereignisses keine lineare Proportionalität besteht und minimale Systemreize – wie beim sogenannten »Schmetterlingseffekt« (vgl. Lorenz 2001) – mitunter maximale Konsequenzen nach sich ziehen. Hieraus ergibt sich schließlich, dass komplexe Systeme auf keinem »Hylemorphismus« beruhen, sondern auf wesentlich immanenten Prozessen der »Selbstorganisation«.20 Dass sich die Komplexitätsforschung im eben beschriebenen Sinne auf vielfältige Weise mit der Philosophie von Deleuze und Guattari verbinden lässt, ist bereits in einer Reihe von Arbeiten demonstriert worden, in denen vor allem auf die ontologischen Schnittmengen der beiden Ansätze verwiesen wird.21 Wenn im Folgenden jedoch darauf verzichtet wird, den Komplexitätsbegriff auf explizit komplexitätstheoretische Weise zu verwenden, dann hat dies folgenden Grund: Thema der vorliegen18 Vgl. Marks 2006b, 10: »Complexity is not the same as ›complicated‹. If a system is understood as complicated then, in principle, the claim is being made that a complete knowledge of this system is simply a matter of devoting enough resources to analyzing the complete structure and functioning of the system. However, if a system is understood as complex, then it is acknowledged that the complete structure and functioning of the system remains in some way unknowable and unpredictable«. 19 Vereinfacht gesagt gilt für komplexe Systeme somit die aristotelische Formulierung, laut der das Ganze stets mehr als die Summe seiner einzelnen Teile ist. In Aristoteles’ Metaphysik heißt es hierzu genauer: »Dasjenige, was so zusammengesetzt […] ist, daß das Ganze eins ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist noch etwas anderes außer den Elementen. Die Silbe nämlich ist nicht einerlei mit ihren Elementen […], das ba nicht einerlei mit b und a« (Aristoteles 2007, 217). 20 Vgl. Protevi 2006, 20: »By showing the spontaneous appearance of indicators of patterns and thresholds in the models of the behaviour of complex systems, complexity theory enables us to think material systems in terms of their powers of immanent self-organization«. Der Begriff des »Hylemorphismus« geht ursprünglich auf die Philosophie von Aristoteles zurück und wird im Kontext der »Complexity Theory« in der Regel so verstanden, dass »Materie« (hyle) hier als nicht zur Selbstorganisation befähigt konzipiert wird, da sie einer äußeren »Form« (morphe) bedarf, die ihr überhaupt erst ihre Wirklichkeit verleiht. Zur Kritik am »hylemorphischen Modell«, vgl. auch TP 564-565. 21 Zu einer Engführung von Deleuzes Philosophie und der Komplexitätstheorie kommt es z.B. in Berressem (Hg.) 2000, Protevi 2001, Bonta/Protevi 2004, Marks (Hg.) 2006, Herzogenrath (Hg.) 2012 sowie DeLanda 1997, 2002 und 2006. Dass ein dezidiert komplexitätstheoretischer Zugang zu Deleuzes Philosophie innerhalb der sogenannten »Deleuze Studies« durchaus umstritten ist, zeigt u.a. die Rezeption der Bücher von DeLanda. So kritisiert James Williams etwa, dass DeLandas »science-based account of Deleuze’s philosophy« Gefahr laufe, sowohl deren ontologische Offenheit als auch ihren spezifisch philosophischen Charakter zu missachten, woraus ein reduktionistischer Umgang mit Begriffen wie »Intensität« oder »Virtualität« resultiere (vgl. Williams 2006, 113).
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den Studie ist die Erkundung der »Nachbarschaftszone« (KK 12) von kulturwissenschaftlicher Praxis und philosophischem Begriff, wobei auf Deleuzes Ontologie Bezug genommen wird, um diese für die amerikanistische und kulturwissenschaftliche Arbeit produktiv zu machen. Die Frage nach dem Verhältnis der Kultur- und Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften soll hierbei zwar nicht explizit ausgeklammert werden; eine gründliche Diskussion jener Beziehung würde die Studie jedoch mit einer zusätzlichen Aufgabe konfrontieren, die sie deutlich überfordern würde. Zum Zweck einer nicht lediglich demonstrativen, sondern kritisch-systematischen Annäherung der beiden Bereiche wäre es zudem nötig, auch Deleuzes (und Guattaris) eigene Unterscheidung zwischen philosophischen »Begriffen« und wissenschaftlichen »Funktiven« in Rechnung zu stellen, die ausführlich in Was ist Philosophie? diskutiert wird (vgl. WP 135-156).22 Dass diese in mehrfacher Hinsicht komplizierte Aufgabe im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht geleistet werden kann, heißt allerdings nicht, dass der Komplexitätsbegriff der »Complexity Theory« grundsätzlich abgelehnt wird. Eher noch ist das Gegenteil der Fall, denn in gewissem Sinne geht es auch hier vielfach um multiagentenbasierte Funktionszusammenhänge, produktive Rückkopplungseffekte, nichtlineare Dynamiken und immanente Prozesse der Selbstorganisation. Nur sollen jene Aspekte des Komplexitätsbegriffs im Folgenden ausgehend von der Auseinandersetzung mit Deleuzes Philosophie selbst entwickelt werden, so dass auf das Vokabular der »Complexity Theory« (und im engeren Sinne auch auf ihre Methode) weitgehend verzichtet wird. Auch diese Vorgehensweise ist jedoch nicht ohne Schwierigkeiten. Anders nämlich als es bei Begriffen wie »Immanenz«, »Deterritorialisierung«, »Rhizom«, »Affekt«, »Fluchtlinie«, »Nomadismus«, »Tier-Werden«, »Zeit-Bild«, »Kriegsmaschine«, »glatter und gekerbter Raum«, »Differenz« oder »Virtualität« der Fall ist, verfügt der Komplexitätsbegriff an sich über keine spezifisch deleuzianische Signatur. Zwar hat Deleuze den Begriff gelegentlich verwendet, allerdings nur selten in einem charakteristischen Sinne. In dem über 150 Einträge umfassenden Deleuze Dictionary von 2005 wird der Begriff folglich auch nicht aufgeführt (vgl. Parr [Hg.] 2005).23 22 Obwohl Deleuze und Guattari am Ende von Was ist Philosophie? die »Interferenzen« betonen, die zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Kunst bestehen (WP 258-260), machen sie zugleich auch die kategorischen »Wesensunterschiede« deutlich, die »zwischen Begriffen und Funktiven« existieren. So wird z.B. auf die je andere »Haltung von Wissenschaft und Philosophie gegenüber dem Chaos« verwiesen, wobei die philosophische »Immanenz- oder Konsistenzebene« von der »Referenzebene« der Wissenschaften abgegrenzt wird (135-136). Die relative Autonomie der Philosophie, zugleich aber die Notwendigkeit, Beziehungen zu den Wissenschaften (und generell zum Bereich der Nicht-Philosophie) zu knüpfen, hat Deleuze mehrfach auch an anderer Stelle betont. Siehe etwa U 129: »Ich bin nie durch die Struktur hindurchgegangen, auch nicht durch die Linguistik oder die Psychoanalyse, die Wissenschaft und nicht einmal die Geschichte, weil ich glaube, daß die Philosophie ihr Rohmaterial hat, das ihr erlaubt, Beziehungen nach außen, mit diesen anderen Disziplinen anzuknüpfen, Beziehungen, die daher um so notwendiger sind«. 23 Interessanterweise wird der Begriff auch nicht im umfangreichen Glossar von Mark Bontas und John Protevis Buch Deleuze and Geophilosophy (Bonta/Protevi 2004) aufgeführt, obwohl es den Autoren explizit um eine komplexitätstheoretische Herangehensweise an Deleuzes Philosophie geht.
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Gleichwohl lässt sich durchaus argumentieren, dass der Komplexitätsbegriff als sinnvoller Oberbegriff fungiert – und genau in diesem Sinne soll er hier verwendet werden –, der auf passende Weise die Differenzen zum Ausdruck bringt, die eine durch Deleuze inspirierte Kulturanalyse vom Cultural-Studies-Mainstream der letzten Jahrzehnte unterscheidet. Auch wenn das Konzept der »kulturellen Komplexität« im Folgenden eher implizit als explizit zum Ausdruck kommt, lässt es sich somit doch auf relativ spezifische Weise bestimmen.24 Wenn in Anlehnung an Deleuze nämlich gesagt werden kann, dass Kultur »komplex« ist, dann meint dies zunächst, dass sie als gleichermaßen prozessuale wie heterogene Zusammensetzung zu verstehen ist, die aus einer Vielzahl konkreter Gefüge, Routinen und Logiken besteht. Kultur ist prozessual, da die einzelnen Elemente, die als Teile der Zusammensetzung fungieren, weniger als »kulturelle Tatsachen« denn als »Praktiken« zu begreifen sind, d.h. als Prozesse der Wiederholung, Neuschöpfung, Aktualisierung oder Subjektivierung.25 Selbst die relative Beständigkeit bestimmter kultureller Ausdrucksformen lässt sich folglich nur prozessual – oder anders gesagt: mit Blick auf generalisierte Wiederholungsprozeduren und habituelle Praktiken – erklären. Jene Prozesse weisen darüber hinaus einen »poly«- oder »heterochronen« Charakter auf, da kulturelle Dynamiken in der Regel eine temporale Koexistenz unterschiedlicher Zeitebenen voraussetzen, die sich auf vielfältige Weise überlagern und verschränken. Kultur lässt sich demnach auf keine homogene Substanz zurückführen, sondern eher wie eine Art Modus denken, der Elemente umfasst, die für sich genommen nicht ausschließlich als »kulturell« zu begreifen sind. (Diese Auffassung ähnelt in mancher Hinsicht der Art und Weise, wie Bruno Latour die Gesellschaft definiert, nämlich als Verknüpfungsmodus von Elementen, die »selbst nicht sozial sind«.26) Worauf es hierbei somit ankommt, ist die Tatsache, dass Kultur nicht allein auf Symbolen, Deutungsschemata und Verhaltensweisen beruht (wie vom Mainstream der Cultural Studies mitunter suggeriert 24 Der Begriff »kulturelle Komplexität« oder »cultural complexity« ist bereits von mehreren Autoren verwendet worden, allerdings jeweils auf eine Weise, die sich von dem hier entwickelten Begriff unterscheidet (vgl. Hannerz 1992 und Bergendorff 2009). 25 Der Begriff der »kulturellen Tatsachen« verweist auf Emile Durkheim, der seinerseits von »sozialen Tatsachen« oder »soziologischen Tatbeständen« gesprochen hat (siehe Durkheim 1984). Vgl. hierzu auch die folgende Fußnote. 26 In seinem Buch Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft unterscheidet Latour zwei Auffassungen vom Sozialen, die er anhand der unterschiedlichen Konzeptionen von Emile Durkheim und Gabriel Tarde erläutert: Während Durkheim von der Dominanz »soziologischer Tatbestände« ausgeht, die das gesellschaftliche Ganze verkörpern und den Charakter seiner einzelnen Teile determinieren (vgl. etwa Durkheim 1984, 111 und 189), geht es Tarde darum, jenes Ganze als Resultat von Ausstreuungen, Imitationen und Verknüpfungen kenntlich zu machen, die von der »Mikroebene« der Gesellschaft ausgehen. Latour macht deutlich, dass seine eigene Netzwerktheorie des Sozialen wesentlich in der Tradition Tardes steht und er daher mit einem Gesellschaftsbegriff operiert, der deutlich umfassender konzipiert ist als in der Soziologie Durkheims. Das Soziale definiert Latour somit nicht als »Ding unter anderen Dingen«, sondern als »Verknüpfungstyp zwischen Dingen, die selbst nicht sozial sind« (Latour 2007, 17). Die positive Rezeption der Theorie Tardes ist ein wesentliches Indiz für die Gemeinsamkeiten von Latour und Deleuze, der seinerseits – zusammen mit Guattari – eine »Hommage an Gabriel Tarde« verfasst hat (vgl. TP 298-299).
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wird), sondern ebenso sehr auf Materialien, Technologien, die spezifische Beschaffenheit eines Raumes sowie eine Infrastruktur oder »Hardware« angewiesen ist. Kultur in diesem Sinne bedeutet nicht die Art und Weise, wie aus den kontingenten Elementen von Umwelt, Natur, Geschichte und Gesellschaft »Sinn« konstruiert und dieser über rituelle Praktiken aktualisiert wird. Vielmehr müssen jene Elemente als unmittelbarer Teil des kulturellen Gefüges selbst begriffen werden, d.h. als Teil-Akteure oder »Aktanten« (Latour 2000, 219), wie es Latour im Rahmen seiner AkteurNetzwerk-Theorie formuliert. Ganz ähnlich wird auch bei Deleuze und Guattari auf die »Nachbarschaft und wechselseitige Durchdringung« der »disparatesten Dinge und Zeichen« (TP 98) verwiesen, die stets nur in ihrer Kollektivität die Konstitution von Wirklichkeit bewerkstelligen. Insofern kulturelle Komplexität somit aus der wechselseitigen Durchdringung von Inhalts- und Ausdruckselementen resultiert (die gemeinsam an der Konstitution der jeweiligen kulturellen Formation beteiligt sind), ist eine – gleichermaßen komplexe – Theorie erforderlich, die keine einseitige Determinierung zugunsten einer der beiden Seiten vornimmt. Deleuze unterscheidet sich in dieser Hinsicht von denjenigen Kulturtheoretikern, die die Komplexität kultureller und gesellschaftlicher Konstitutionsprozesse dadurch reduzieren, dass sie entweder den Subjektpol oder den Objektpol als einseitig determinierend veranschlagen. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass der Subjekt/Objekt-Dualismus in vielen aktuell geläufigen Kulturtheorien noch immer sehr präsent ist. So beruft man sich etwa auf die Phänomenologie oder die Psychoanalyse und setzt entsprechend ein Subjekt voraus, das die Objektwelt als Projektionsfläche der eigenen kulturellen Wahrnehmungsschemata begreift, so dass die Welt der materiellen Dinge lediglich als stummer Adressat von kulturellen Performativen und subjektiven Perzeptionen erscheint. Oder aber man beruft sich auf einen Objekt- bzw. Technikdeterminismus (wie z.B. Heideggers Konzeption des »Gestells« oder Kittlers Medientheorie) und versteht Subjektivität, Wahrnehmung und Kultur als durch und durch von der technischen Maschine oder der Materialität des Objekts determiniert. Worauf es Deleuze stattdessen ankommt, sind die »Mischungen« der Elemente in ihrem jeweiligen Gefüge, ihre gegenseitige Durchdringung und wechselseitige Voraussetzung, weshalb er die Vorgeordnetheit eines einzelnen Elements – Sprache, Bewusstsein oder Subjektivität auf der einen, technische Maschine oder Objektivität auf der anderen Seite – ausdrücklich verneint.27 Schon allein deshalb, weil es sich bei den Mischungen häufig um kontingente Zusammentreffen handelt, die im Ereignis ihres Aufeinandertreffens eine neue Dynamik entfalten (so wie es Latour am Beispiel des Schusswaffengebrauchs in den USA erörtert hat28), verzichtet Deleuze 27 Vgl. TP 123: »Man sollte keinen Ursprung festlegen, sondern Interventionspunkte, Punkte des Eindringens, und zwar im Rahmen der wechselseitigen Voraussetzung der beiden Formen. Formen des Inhalts wie des Ausdrucks, des Ausdrucks wie des Inhalts können nicht von einer Bewegung der Deterritorialisierung getrennt werden, die sie mitreißt […]. In dieser Hinsicht gibt es kein Primat des Ausdrucks gegenüber dem Inhalt oder umgekehrt«. 28 Vgl. Latour 2000, 218: »Mit der Waffe in der Hand bist du jemand anderes, und auch die Waffe ist in deiner Hand nicht mehr dieselbe. Du bist ein anderes Subjekt, weil du die Waffe hältst; die Waffe ist ein anderes Objekt, weil sie eine Beziehung zu dir unterhält […]. Die Materialisten wie die Soziologen begehen denselben Fehler: Sie gehen aus von Wesenheiten, dem Wesen von Subjekten oder von Objekten […]. Wenn wir die Waffe und
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darauf, eine einseitige Determinierung festzulegen. Dementsprechend heißt es in den Tausend Plateaus: »Wir meinen, daß ein Gefüge in seinem materiellen oder maschinellen Aspekt sich nicht auf eine Produktion von Gütern stützt, sondern gerade auf die Mischung von Körpern in einer Gesellschaft, die alle Anziehungen und Abstoßungen enthält, Sympathien und Antipathien, Veränderungen, Vermischungen, Durchdringungen und Erweiterungen, die alle Körper durch die Beziehung zu anderen Körpern beeinflussen. Ernährungsvorschriften oder die Sexualmoral regeln von vornherein alle obligatorischen, notwendigen oder erlaubten Körpervermischungen. Auch die Technologie hat unrecht, wenn sie Werkzeuge an sich betrachtet: diese existieren nur im Hinblick auf Mischungen, die sie möglich machen oder durch die sie möglich sind. Der Steigbügel hatte eine neue Symbiose Mensch-Pferd zur Folge, die zugleich neue Waffen und Geräte nach sich zog. Man kann Werkzeuge nicht von den Symbiosen oder Mischungen trennen, die ein maschinelles Gefüge Natur-Gesellschaft definieren. Sie setzen eine Gesellschaftsmaschine voraus, die sie selektiert und sie in ihr ›Phylum‹ aufnimmt: eine Gesellschaft wird durch ihre Vermischungen und nicht durch ihre Werkzeuge definiert.« (TP 126)
Deleuze und Guattari wenden sich hier deutlich gegen jeden Technikdeterminismus: Die Werkzeuge für sich genommen erklären noch nichts, sondern müssen mit Blick auf die konkreten Symbiosen und Mischungen betrachtet werden, innerhalb derer sie Verwendung finden. Ferner setzen sie stets eine »Gesellschaftsmaschine« voraus, die sie überhaupt ermöglicht und die ihre Funktionen und Gebrauchsweisen bestimmt. Es scheint somit, als würden Deleuze und Guattari – indem sie den Fokus auf das Primat der »Gesellschaftsmaschine« legen – letztlich eine Art Sozialkonstruktivismus vertreten, d.h. einen Ansatz, der für zahlreiche Kultur- und Gesellschaftstheorien seit den 1960er Jahren charakteristisch ist. Die Tatsache jedoch, dass sie die Gesellschaft durch die in ihr vorhandenen »Mischungen« definieren, weist darauf hin, dass es sich hier um einen vergleichsweise kuriosen Typ von Sozialkonstruktivismus handelt. So lässt sich laut Deleuze und Guattari zwar argumentieren, dass die Gesellschaftsmaschine determinierend auf die Zusammentreffen und Mischungen von Körpern in den jeweiligen Gefügen wirkt; nur handelt es sich bei dieser selbst um eine Maschine, die aus vielen einzelnen Teilen besteht. Die Gesellschaft stellt folglich ebenfalls nichts anderes als eine Zusammensetzung oder Verknüpfung dar, d.h. eine »Mischung« aus Zeichen, Dingen, Bildern, Routinen, Gewohnheiten und Machtformationen. Sicherlich verweisen Kultur und Gesellschaft – und hier ist dem kulturellen Radikalismus der Cultural Studies durchaus zuzustimmen – jeweils auf eine abstrakte Form von majoritärer Ordnung; doch ist diese Ordnung niemals als ursprüngliche Gegebenheit zu verstehen, da sie selbst permanent produziert wird. Man könnte meinen, dass sich aus dieser Konstellation ein gewisser »Circulus vitiosus« ergibt, nämlich in dem Sinne, dass die jeweilige Ordnung ebenso determinierend auf die konkreten Gefüge und Praktiken wirkt, wie sie ihrerseits aus diesen resultiert.29 Eine derden Bürger dagegen als Propositionen begreifen, bemerken wir, daß weder Subjekt noch Objekt (noch ihre Ziele) festgelegt sind. Wenn Propositionen artikuliert werden, verbinden sie sich zu einer neuen Proposition. Sie werden ›jemand‹ oder ›etwas‹ anderes«. 29 Diese Konstellation ist sicherlich nicht ganz neu: Bereits bei Marx wird der Mensch quasi zum »produzierenden Produkt« erklärt, so dass die soziale Ordnung einerseits als determi-
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art »zirkuläre« Konzeption ist jedoch notwendig, um die Komplexität der Konstitutionsprozesse zu bewahren und keine einseitige Determinierung sowie keinen ursprünglichen Anfang vorauszusetzen. Ebenso wenig wie die materiellen Objekte und Werkzeuge einseitig determinierend sind, ist demnach auch Kultur nicht als »symbolische Ordnung« oder übergeordnetes Bedeutungssystem zu verstehen, das den konkreten Mischungen und Gefügen gegenüber unabhängig wäre. Um auf das Beispiel von Deleuze und Guattari zurückzukommen: Zwar lässt sich die feudale Kultur der Ritterlichkeit nicht einseitig von der Existenz des Steigbügels ableiten; nichtsdestotrotz aber ist dieser – dadurch, dass er dem Reiter eine neuartige Form der Symbiose mit seinem Pferd und somit auch neue Formen der Mobilität und der Kriegsführung ermöglicht – wesentlicher Bestandteil des kulturellen Gefüges, d.h. aus diesem nicht wegzudenken, ohne dass sich dessen Charakter veränderte. Wie Deleuze in diesem Zusammenhang deutlich macht, stellt das ritterliche Begehren daher weder eine Naturgegebenheit dar, noch wird es »immer schon« durch eine vollständig konstituierte Ordnung kultureller Bedeutungen bestimmt. Laut Deleuze muss jedes Begehren stattdessen als immanenter Teil eines konkreten Gefüges verstanden werden, welches aus heterogenen Elementen besteht, die auf je unterschiedliche Weise an der Konstitution der kulturellen Ordnung beteiligt sind.30 Wie jeder andere Ordnungs- und Funktionszusammenhang auch ist Kultur folglich nicht als transzendenter Mechanismus zu begreifen, der die Mitglieder einer Gesellschaft auf quasi körperlose Weise erfasst. Vielmehr müssen die konkreten Gefüge berücksichtigt werden, mit denen Kultur stets auf immanente Weise verschaltet ist und aus denen sie sich – da sie letzten Endes selbst ein Gefüge darstellt – zusammensetzt. Dass Kultur im Zeitalter von Globalisierung und »interkultureller Kompetenz« zu einem höchst komplexen und vielfältig verwobenen Phänomen geworden ist, kann heute als Gemeinplatz gelten (vgl. Baecker 2001). Auch in den Cultural Studies und American Studies hat sich diese Ansicht durchgesetzt, wie nicht zuletzt in der aktuellen Hinwendung zum »Transnationalen« deutlich wird (vgl. Rowe [Hg.] 2000). Was nierend, andererseits jedoch als Resultat der Gesamtheit menschlicher Einzelhandlungen erscheint. Analogien existieren in dieser Hinsicht auch zu Bourdieu und Giddens, deren Ansätze zu den einflussreichsten Sozialtheorien der letzten Jahrzehnte gehören. Insofern der Fokus sowohl in Giddens Theorie der Strukturierung (Giddens 1984) als auch in Bourdieus Habituskonzeption (Bourdieu 1987 und 1999) auf »regulierte Praktiken« gerichtet ist, wird der Subjekt/Objekt-Dualismus in beiden Ansätzen tendenziell in Frage gestellt. Was Deleuze indes von Giddens und Bourdieu unterscheidet, ist die eher »posthumanistische« Ausrichtung seiner Philosophie. Denn während es sich bei den Ansätzen der beiden Soziologen noch um klassische Sozialtheorien handelt, zieht Deleuze im Rahmen seiner Gefügetheorie auch die Wirkmächtigkeit nicht-menschlicher Akteure in Betracht. 30 Vgl. SG 119-120 (Übersetzung geringfügig geändert): »Für mich bedeutet Wunschgefüge, daß das Begehren niemals eine ›natürliche‹ oder ›spontane‹ Bestimmung ist. Feudalismus zum Beispiel ist ein Gefüge, das neue Beziehungen zum Tier (das Pferd), zur Erde, zur Deterritorialisierung (die Wettkämpfe des Ritters, der Kreuzzug), zu den Frauen (die ritterliche Liebe) usw. ins Spiel bringt. Völlig verrückte, aber historisch stets zuweisbare Gefüge. Was mich betrifft, so würde ich sagen, daß das Begehren in diesem Gefüge heterogener Elemente, in dieser Art ›Symbiose‹ zirkuliert«. Zum Feudalismus sowie zum Verhältnis von Begehren und Gefüge, vgl. auch D 103-111.
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in der Regel jedoch fehlt, ist ein Kulturverständnis, das den komplexen kulturellen Ausdrucksweisen mit einer ebenso komplexen Theorie begegnet, d.h. mit einer Theorie, die kulturelle Komplexität nicht lediglich zeitdiagnostisch auf aktuelle historische Bedingungen (Globalisierung, Multikulturalismus, digitale Vernetzung usw.) bezieht. Deleuzes Relevanz für die Cultural Studies könnte in diesem Sinne darin bestehen, dass seine Philosophie aufgrund ihrer ontologischen Betonung von Prozessualität und Heterogenität einen theoretischen Rahmen bereitstellt, in dem den Mischungen und »Hybridisierungen« (um einen der fruchtbareren Begriffe aus den Debatten um die Postmoderne zu verwenden31) in der globalisierten Welt von heute mit einer angemessenen Begrifflichkeit begegnet wird. Hierbei dürfte freilich nicht unterschlagen werden, dass Kultur für Deleuze gewissermaßen immer schon »Hybridkultur« ist. Dies unterscheidet seine Philosophie von Ansätzen wie demjenigen Melanie Puffs, die Hybridität im Kontext der Postmoderne verortet und abhängig macht von der »Geschichte der Technik und der Medien, in der Natürlichkeit progressiver weise [sic] durch Künstlichkeit ersetzt wird und schließlich nur noch als Simulakrum, als leere Hülle weiter existiert« (Puff 2004, 16). Wenn Hybridität und Komplexität stattdessen als Basis prinzipiell jeder kulturellen Formation verstanden werden sollen, so bedeutet dies allerdings nicht, dass kulturelle Komplexität auch stets in gleichem Maße vorhanden ist. Vielmehr ließen sich die verschiedenen kulturellen Formationen hinsichtlich ihrer je unterschiedlichen Komplexitätslevel untersuchen, die jeweils von Anzahl und Qualität der Beziehungen abhängig sind, welche die (menschlichen und nicht-menschlichen) Akteure zueinander aufnehmen – und generell aufzunehmen imstande sind. So kommt es etwa unter den Bedingungen von Moderne und Globalisierung zu einer spürbaren Zunahme von Komplexität und Hybridität, insofern sich hier eine deutliche Ausweitung der Netze beobachten lässt, innerhalb derer sich Interaktionen, Wechselwirkungen, Werdensprozesse und Vermischungen überhaupt ereignen können.32 Um aber nicht nur zu einem zeitgemäßen Begriff von kultureller Komplexität zu gelangen, sondern zugleich auch dem Mythos einer »archaische[n] und stabile[n] Vergangenheit« (Latour 2008, 18) entgegenzuwirken, ist es gleichwohl notwendig, Komplexität nicht nur zeitdiagnostisch zu erfassen. Gerade hier stellt sich jedoch die Frage, ob der Cultural-Studies-Mainstream – schon aufgrund der Komplexitätsdefizite seiner theoretischen Prämissen – überhaupt in der Lage wäre, dieser Aufgabe gerecht zu werden. 31 Der Hybriditätsbegriff der Cultural Studies verweist für gewöhnlich auf den Postkolonialismus, wobei die wohl einflussreichste Konzeption auf Homi Bhabha zurückgeht (vgl. Bhabha 1993). Es bietet sich jedoch an, den Begriff auf weitere Formen von Vermischung auszuweiten. In diese Richtung sind etwa Bruno Latour und Donna Haraway gegangen, in deren Texten auch solche Hybridisierungen beschrieben werden, die an den Schnittstellen von Natur, Kultur und Technologie entstehen (vgl. Haraway 1991 und 2008 sowie Latour 2000, 2008 und 2010). 32 Vgl. hierzu etwa Bruno Latours Buch Wir sind nie modern gewesen, in dem die These vertreten wird, dass sich das Zeitalter der Moderne durch die doppelte Operation von Trennung und Vermittlung charakterisieren lässt. Denn während sich die Moderne einerseits durch den Versuch einer grundsätzlichen Trennung von Natur und Kultur auszeichnet, kommt es Latour zufolge zeitgleich zur Ausweitung der Netze und der Produktion immer neuer Hybride, d.h. »Mischwesen zwischen Natur und Kultur« (Latour 2008, 19).
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Deleuze und die American Studies Nachdem im vorangehenden Abschnitt über die Möglichkeiten reflektiert wurde, Deleuzes Philosophie im Kontext der Kulturwissenschaften produktiv werden zu lassen, soll nun auch die Frage thematisiert werden, wie sich Deleuzes Denken speziell im Kontext der American Studies darstellt. Hier liegt es freilich nahe, auch Deleuzes eigene Texte zur amerikanischen Literatur (so etwa die Essays zu Whitman und Melville) zu berücksichtigen. Die heutige Amerikanistik wird an dieser Stelle jedoch mit einer Schwierigkeit konfrontiert, die die produktive Aufnahme von Deleuzes Thesen zur Literatur maßgeblich erschwert – und es lässt sich sogar annehmen, dass dieser Aspekt generell zur bislang eher zurückhaltenden Deleuze-Rezeption in den American Studies beigetragen hat (vgl. Schleusener 2004). Aus der Perspektive der seit den 1980er Jahren das Fach dominierenden New Americanists nämlich, denen es u.a. um eine kritische Dekonstruktion des klassischen Kanons der Amerikanistik geht, muss die Auswahl an Autoren, die von Deleuze als Vertreter der amerikanischen Literatur herangezogen werden, zunächst wohl Ablehnung hervorrufen. Denn galten Whitman, Melville, Emerson, Hawthorne oder Thoreau – d.h. die Autoren der »American Renaissance« des 19. Jahrhunderts (vgl. Matthiessen 1968) – den sogenannten »Mythand-Symbol«-Critics der klassischen Amerikanistik noch als die unangefochtenen Repräsentanten der amerikanischen Kultur, haben es sich die New Americanists stattdessen zur Aufgabe gemacht, die Selbstevidenz jenes Kanons mit den Mitteln einer an Poststrukturalismus und (Neo-)Marxismus geschulten Ideologiekritik anzufechten. Insbesondere mit Blick auf die Aspekte race, class und gender haben sich Autorinnen und Autoren wie Myra Jehlen, Wai-chee Dimock, Donald Pease oder Jonathan Arac daher eine »revisionistische Intervention« in den etablierten Kanon zum Ziel gesetzt, um hierdurch zugleich die Vorannahmen und Paradigmen in Frage zu stellen, die bis in die 1970er Jahre hinein das »field imaginary« der American Studies konstituierten (vgl. Pease 1990). An Amerikanisten wie Lionel Trilling, Leo Marx, Richard Chase oder Henry Nash Smith ist nun der Vorwurf gerichtet worden, sie hätten der Annahme einer amerikanischen »Monokultur« Vorschub geleistet, indem sie die kulturellen Ansichten vornehmlich weißer und männlicher Autoren des 19. Jahrhunderts zum Standard des amerikanischen »Nationalcharakters« erklärten. Ihre Analysen der amerikanischen Literatur, in denen es in der Regel zur Abtrennung einer idealisierten kulturellen Sphäre von der politischen Sphäre komme, hätten zur Zeit des Kalten Krieges zudem implizit an der Bildung einer positiv konnotierten amerikanischen Identität teilgehabt und mithin als Legitimationsgrundlage amerikanischer Machtpolitik fungiert. Im Sinne einer expliziten Abgrenzung von den theoretischen und methodischen Prämissen der »Myth-and-Symbol«-Critics geht es den New Americanists folglich um zweierlei: Einerseits geht es darum, vormals idealisierte und kanonisierte Autoren wie Melville, Hawthorne, Twain oder Whitman zu historisieren, um deren Werke einer ideologiekritischen Problematisierung zu unterziehen. Andererseits geht es um die tatsächliche Dezentrierung und Erweiterung des Kanons, wobei nachdrücklich für ehemals ausgeschlossene Literaturen (etwa von Frauen oder Afro-Amerikanern) Partei ergriffen wird. Am Ende von Donald Peases programmatischem Essay »New Americanists: Revisionist Interventions into the Canon« heißt es daher in Bezug auf den afro-amerikanischen Autor W.E.B. DuBois: »If the New Americanists’ revision-
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ist intervention into the canon presented here helps change American Studies into a field that can include W.E.B. DuBois’s works, such inclusions speak powerfully to what changes still need to be effected in U.S. culture« (Pease 1990, 37).33 In diesem Kontext betrachtet, werden die Probleme offenbar, die vor allem die New Americanists mit Deleuzes Texten zur amerikanischen Literatur haben könnten. Denn auch wenn Deleuzes Literaturkonzeption kaum etwas mit der Perspektive der »Myth-and-Symbol«-Critics gemein hat, mag es zunächst so erscheinen, als reproduzierten seine affirmativen Lesarten klassischer Autoren wie Whitman oder Melville genau jenen Kanon, von dem sich der revisionistische Kritiker bewusstermaßen abzusetzen meint. Zudem wirkt Deleuzes Amerikabild auf den ersten Blick überraschend positiv, was z.B. Charles Stivale dazu veranlasst hat, Deleuze und Guattari eine Romantisierung der amerikanischen Kultur vorzuhalten (vgl. Stivale 1998, 206). In diesem Zusammenhang mag es hilfreich sein, sich den Kontext zu vergegenwärtigen, in dem Deleuze überhaupt auf die amerikanische Literatur gestoßen ist. So erklärt Deleuze etwa in L’Abécédaire de Gilles Deleuze (einem ursprünglich für die posthume Ausstrahlung produzierten Fernsehinterview), dass er den amerikanischen Roman erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit entdeckt habe. Jene Zeit nach der Befreiung Frankreichs habe er zudem als eine der kulturell produktivsten und stimulierendsten erlebt, wobei neben der nun möglich gewordenen Entdeckung des amerikanischen Romans auch die Entdeckung Kafkas und Sartres genannt wird.34 Aus der Perspektive der New Americanists betrachtet, untermauert Deleuzes Aussage vermutlich, was der revisionistische Ideologiekritiker bereits wusste: nämlich dass die Aufwertung und weltweite Verbreitung der amerikanischen Kultur – und nicht allein der Populärkultur, sondern auch der klassischen Literatur und der Malerei35 – in direktem Zusammenhang mit der veränderten Weltmachtrolle der USA nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrachtet werden muss. Um jedoch auf umfassendere Weise den »Wert« zu ermitteln, den die amerikanische Literatur im Werk von Deleuze einnimmt, soll an dieser Stelle auf die Marxsche Unterscheidung von Tausch- und Gebrauchswert verwiesen werden (vgl. Marx/Engels 1984, 49-98) – wenn auch auf etwas andere Weise als üblich. So geht es dem revisionistischen Kritiker, der seine Analyse auf die Komplizenschaft von Kultur und Macht fokussiert, primär um den Tauschwert, der den gesellschaftlichen Status kultureller Güter (Literatur, Malerei, Architektur, aber auch Kleidung, Weltanschauungen, 33 Zum Revisionismus der New American Studies, vgl. auch Zapf 1997, 87: »Die großen Werke, auf die sich der Blickpunkt verengt hatte, entstammten nicht zufällig der dominanten WASP-Gruppe weißer, angelsächsischer, protestantischer und – weit überwiegend – männlicher Autoren. Im Gegenzug hierzu wurden nun unter den Gesichtspunkten von gender, race und class nachdrücklich die bis dahin ausgegrenzten Bereiche einbezogen – vor allem die breite von Frauen verfaßte Literatur, aber auch die Literatur von ethnischen Minoritäten, andere Textsorten wie historische, biographische, politische Texte und nicht zuletzt der große Bereich der Alltags- und Massenkultur«. 34 Im französischen Original heißt es zur Epoche der Befreiung: »C’était la période la plus riche qu’on peut s’imaginer, on découvrait ou on redécouvrait tout«. 35 Zur amerikanischen Malerei, siehe diesbezüglich Serge Guilbauts Studie How New York Stole the Idea of Modern Art (Guilbaut 1983), die sich den politischen Implikationen des Abstrakten Expressionismus zur Zeit des Kalten Krieges widmet.
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Lehrpläne usw.) bestimmt. Im Hinblick auf den Kontext des Kalten Krieges lässt sich diesbezüglich in der Tat eine deutliche Anhebung des Tauschwerts der amerikanischen Literatur feststellen, insofern die einst verschmähte romance damals zum Markenzeichen einer spezifisch »demokratischen« Literatur avancierte, deren offener und experimenteller Charakter nun als Widerspiegelung der Kultur einer freien (d.h. »anti-totalitären«) Nation begriffen wurde (vgl. Chase 1993).36 Was in diesem Szenario – das u.a. Donald Pease am Beispiel der amerikanistischen Melville-Rezeption analysiert hat (vgl. Pease 1987 und 1989) – jedoch unterschlagen wird, ist die Frage nach dem spezifischen Gebrauchswert, der nicht notwendigerweise durch den jeweils dominanten Tauschwert determiniert wird. Während im Kontext des amerikanistischen Revisionismus zumindest suggeriert wird, der Gebrauchswert literarischer Texte ließe sich auf einfache Weise vom entsprechenden Tauschwert ableiten, vertritt Deleuze eine wesentlich andere Konzeption von Literatur, bei der die Frage des Gebrauchs eine viel zentralere Rolle spielt. In dem polemischen »Brief an einen strengen Kritiker« etwa begreift Deleuze die Literatur als ein »maschinisches« Ensemble mit multiplen Gebrauchsmöglichkeiten, wobei er zwei verschiedene Arten des Lesens unterscheidet und für eine »intensive« Lektüre plädiert, die sich nicht auf die Ebene der Bedeutung beschränkt: »[E]s gibt zwei Arten, ein Buch zu lesen: entweder man betrachtet es als eine Schachtel, die auf ein Innen verweist, und man wird seine Signifikate suchen, und wenn man noch perverser oder verdorbener ist, macht man sich auf die Suche nach dem Signifikanten. Und das folgende Buch behandelt man dann wie eine Schachtel, die in der ersten enthalten war oder sie ihrerseits enthält. Und man kommentiert, interpretiert, fragt nach Erklärungen, man schreibt – ad infinitum – das Buch des Buchs. Oder aber man liest auf andere Art: man betrachtet ein Buch wie eine kleine asignifikante Maschine; das einzige Problem ist: ›funktioniert es, und wie funktioniert es?‹ Wie funktioniert es für euch? Wenn es nicht funktioniert, nehmt doch einfach ein anderes Buch. Diese andere Lektüre ist eine Lektüre der Intensität.« (U 18)
36 In diesem spezifischen Sinne hängt das Konzept des (kulturellen) »Tauschwerts« wesentlich mit Bourdieus Begriff des »kulturellen Kapitals« zusammen (vgl. Bourdieu 2005, 5363). Der jeweilige Tauschwert eines kulturellen Gutes würde sich folglich daran bemessen, inwiefern dieses zum entsprechenden Zeitpunkt imstande wäre, als kulturelles Kapital zu fungieren. Mit Blick auf schulische oder akademische Titel als eine Form des institutionalisierten Kulturkapitals spricht Bourdieu in diesem Kontext etwa von dem »Wechselkurs«, der »die Konvertibilität zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital garantiert« (62). Der hier vorgeschlagene Tauschwertbegriff setzt jedoch noch weiter vorne an, insofern auch das kulturelle Material, das es im Zuge der Ausbildung und des Titelerwerbs zu konsumieren gilt, als Gegenstand ständiger kultureller Verhandlungen fungiert. Anders gesagt: Der Titel markiert zweifellos einen – von gewissen Kursschwankungen nicht unabhängigen – Tauschwert, verweist aber zugleich auf ein kulturelles Wissen, dessen eigener Tauschwert nicht notwendigerweise von der Art der juridisch-institutionellen Einbindung abhängt, sondern z.B. auch durch den medialen Diskurs und den sich ändernden politischen Kontext bestimmt wird. D.h. auch, dass der eigentliche Wert des Tauschwerts, der dessen jeweiligen »Wechselkurs« festsetzt, von der kontingenten Beschaffenheit des Gefüges abhängt, in dem er geltend gemacht wird.
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Auch wenn Deleuze den Status der Literatur hier auf ausgesprochen informelle Weise diskutiert, werden nichtsdestotrotz einige wesentliche Aspekte deutlich, durch die sich seine eigene Konzeption des Literarischen von derjenigen der New Americanists unterscheidet. So begreift Deleuze die Literatur nicht als signifikante Form, »die auf ein Innen verweist«, sondern stattdessen als »Maschine«, die nur in Verschaltung mit einem (asignifikanten) Außen zum Funktionieren gebracht werden kann. Zudem wird deutlich, dass Deleuze literaturtheoretische Kategorien wie Signifikation oder Interpretation als nachrangig erachtet, da sie der affektiven Kapazität literarischer Werke nicht gerecht werden würden. In diesem Sinne lässt sich auch die Tatsache begreifen, dass Deleuze die Frage, wie ein Buch »funktioniert«, für wichtiger hält als die Frage, »was es bedeutet«. Diese Entgegensetzung mag zunächst erstaunen, wird das Funktionieren literarischer Texte doch traditionell mit der Frage verkoppelt, was diese bedeuten oder signifizieren, d.h. zu welchen Interpretationen sie Anlass geben. Gegen Deleuze ließe sich somit zweifellos einwenden, dass die Frage der Interpretation eines Werkes immer schon konstitutiv dafür ist, wie dieses »funktioniert«. Deleuze jedoch geht einerseits davon aus, dass dem Aspekt der Intensität und Affektfähigkeit eines Textes allein durch Interpretationen nicht ausreichend genüge getan wird, und andererseits, dass eine noch so adäquate oder originelle Interpretation von keinerlei Relevanz ist, sofern sie nicht auch den tatsächlichen Gebrauch des jeweiligen Buches betrifft. Anders formuliert: Abgekoppelt von der Frage des jeweiligen Gebrauchswertes wäre die Literatur letztlich im Reich des reinen Geistes oder in der Transzendenz des platonischen Ideenhimmels zu verorten. Sie wird aber zu einem realen Faktor im immanenten Spiel der Kräfte und Praktiken in dieser Welt, sofern die rein hermeneutische Frage nach der Bedeutung eines Textes in die pragmatische Frage des Gebrauchs verwandelt wird. (Und wie Deleuze verschiedentlich betont hat, müssen hierbei gerade auch die »außertextuellen« Praktiken beachtet werden, mit denen der Text jeweils verkoppelt ist.37) Auch wenn die spezifischen Besonderheiten von Deleuzes Literaturkonzeption an dieser Stelle sicherlich noch nicht detailliert genug bestimmt werden konnten – dies wird erst im weiteren Verlauf der Studie geschehen –, sollten einige der Differenzen zur Perspektive der New Americanists bereits deutlich geworden sein. Gut veranschaulicht werden jene Differenzen etwa von Myra Jehlen, die in ihrer Einleitung zu dem einflussreichen Band Ideology and Classic American Literature bemerkt, dass der revisionistische Ideologie- und Literaturkritiker vielfach mit dem Problem konfrontiert sei, dem von ihm analysierten Werk quasi als »adversary« gegenüberzustehen (Jehlen 1987, 5). Zwar argumentiert Jehlen, dass es ideologiekritischen Ansätzen in der Literaturtheorie weniger um die Entlarvung »falschen Bewusstseins« gehe als darum, das jeweilige Werk auf produktive Weise politisch zu kontextualisieren und neu zu beleuchten. Wie jedoch Eve Kosofsky Sedgwick verdeutlicht hat, korrespondiert die politische Kritik vieler revisionistischer Studien seit den 1980er Jahren tatsächlich oft mit einem simplistischen »Good Dog/Bad Dog«-Dualismus, dem eine präsentistische Moral zugrunde liegt (vgl. Sedgwick 2006, 619 und Frank/Sedgwick 37 Vgl. EI 379: »Für mich ist ein Text lediglich ein kleines Rad in einer außertextuellen Praxis. Es geht nicht darum, den Text mit Hilfe einer Dekonstruktionsmethode oder einer Methode textueller Praxis oder anderer Methoden zu kommentieren, sondern darum, herauszufinden, wozu das in der außertextuellen Praxis dient, die den Text verlängert«.
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1995, 501). In den American Studies hat dieser Trend in der Vergangenheit nicht selten zu einer einfachen Umhierarchisierung geführt: Autoren wie Melville, Emerson oder Hawthorne, die lange als die unangefochtenen good dogs der »Myth-and-Symbol«-Critics fungierten, gelten vielen New Americanists heute als bad dogs, d.h. als Repräsentanten des Status quo, männlicher oder weißer Vorherrschaft, der Ideologie des »Manifest Destiny« oder eines possessiven Individualismus, der dem amerikanischen Kapitalismus in die Hände spielt.38 Während die besseren revisionistischen Arbeiten tatsächlich Erhellendes über das komplexe Verhältnis von Kultur und Macht zur Sprache bringen, zeichnen sich die schlechteren durch einen ebenso vorhersehbaren wie konformistischen Moralismus aus, der die Literaturanalyse primär als redundantes Urteilen im Sinne eines mittlerweile majoritär gewordenen Dogmas betreibt. In diesem Sinne kritisiert Sedgwick etwa »the dreary and routine forms of good dog/ bad dog criticism by which, like good late-capitalist consumers, we persuade ourselves that deciding what we like or don’t like about what’s happening is the same thing as actually intervening in its production« (Sedgwick 2006, 619). In diesem Kontext betrachtet, stellt sich somit die Frage, ob die affirmative Haltung, mit der Deleuze amerikanischen Autoren wie Melville oder Whitman begegnet, tatsächlich politischer Naivität geschuldet ist oder nicht vielmehr mit einem anderen Kritikbegriff korrespondiert. So lässt sich etwa anhand der Thesen zur »minoritären Literatur« demonstrieren (vgl. K 24-39), dass Deleuze keineswegs eine formale Trennung zwischen dem Bereich der Politik und dem Bereich der Ästhetik vollzieht. Im Gegenteil: Ähnlich wie die New Americanists geht auch Deleuze davon aus, dass sich zwischen »literarischer Produktion« und »gesellschaftlicher Produktion« keine sinnvolle Trennung vornehmen lässt. Wenn Deleuze der Ideologiekritik nichtsdestotrotz skeptisch gegenübersteht, dann also nicht deshalb, weil er das Verhältnis von Literatur und Politik für irrelevant hielte. Vielmehr ist es der Ideologiebegriff selbst, den Deleuze in Frage stellt, da dieser »verhindert, daß wir das Verhältnis der literarischen Maschine zu einem Produktionsfeld erfassen, er uns damit den Augenblick verfehlen läßt, in dem das ausgesendete Zeichen diese ›Form des Inhalts‹, die versucht hatte, es in der Ordnung des Signifikanten zu belassen, durchbricht« (AÖ 172). Anders gesagt reduziert das Konzept der Ideologie den Text auf dessen Bedeutung (d.h. seine »Form des Inhalts«), während die affektive Ebene literarischer Texte einer anderen Ordnung angehört, gleichwohl aber vom politischen Charakter des Werkes nicht getrennt werden kann. Wie im Laufe der Studie noch näher erläutert werden soll, wird das Rüstzeug der Ideologiekritik – das für die Arbeiten der New Americanists von essentieller Bedeutung ist – bei Deleuze und Guattari durch die alternative Konzeption einer »Schizo-Analyse« ersetzt (vgl. 353-496), der es um die kritische Analyse der mikropolitischen Besetzungen des Begehrens geht. Einerseits nämlich gehen Deleuze und Guattari davon aus, dass es dem Ideologiebegriff misslingt, diejenigen Aspekte von politischer Affizierung in Rechnung zu stellen, die unterhalb der 38 Cesare Casarino hat diese Form der simplen Umhierarchisierung als »Umkehrung ohne Verschiebung« bezeichnet. Vgl. hierzu Casarino 2002, xxxviii: »This is, in other words, a reversal without a displacement. In this way, the logic at work in that binarism is at the very least left untouched and perhaps even reinforced – thereby reconfirming the fact that the pole we meant to critique and to abandon […] still holds us very much in its oedipal sway as something against which we are made to feel we must at all costs react«.
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Ebene der Bedeutung und des Bewusstseins ansetzen. Darüber hinaus kritisieren sie andererseits, dass der Begriff der Ideologie in der Regel negativ konzipiert wird, d.h. auf der impliziten Annahme eines Mangels oder einer Täuschung basiert. Das Begehren dagegen verstehen sie als wesentlich positive, konstituierende Kraft, deren je spezifische Qualität und Stärke von der Beschaffenheit ihres jeweiligen Gefüges abhängt, das es analytisch zu bestimmen gilt (vgl. TP 551-553). Ein weiterer Aspekt, der Deleuzes Ablehnung der Ideologiekategorie erklärt, hängt mit seinen Vorbehalten gegenüber dem Basis/Überbau-Dualismus zusammen, der zumindest traditionell mit dem Konzept einhergeht. So ist die klassische marxistische Annahme, dass die in der Regel ökonomisch gefasste »Basis« einer Gesellschaft deren »Überbau« determiniert, mit Deleuzes Ontologie insofern schlecht vereinbar, da diese – ganz im Sinne des hier entwickelten Komplexitätsbegriffs – bei der Bestimmung der gesellschaftlichen Konstitutionsprozesse jede einseitige Determinierung zurückweist. Wenn Deleuze den negativen Rationalismus der Ideologiekategorie durch einen positiv konzipierten Begriff des Begehrens ersetzt, dann hat dies somit auch zur Folge, dass der Dualismus von Basis und Überbau einer Differenzierung der prinzipiell gleichrangig behandelten Elemente von »Inhalt« und »Ausdruck« weicht. In diesem Zusammenhang ist zwar darauf hinzuweisen, dass der Basis/Überbau-Dualismus in seiner klassischen Form auch im Kontext der Cultural Studies (die zu Recht betonen, den Bereich der Kultur aus dem Schatten des marxistischen Ökonomismus geholt zu haben) kaum mehr eine Rolle spielt. Mit Cesare Casarino lässt sich allerdings auch hier wieder von einer Umkehrung ohne Verschiebung sprechen (vgl. Casarino 2002, xxviii). Denn insofern das klassische Schema in den Cultural Studies lediglich umgekehrt wird – so dass der einstige »Überbau« mit der »Basis« die Rollen tauscht –, bleibt der Dualismus an sich prinzipiell intakt. In der Philosophie von Deleuze dagegen kommt es zu keiner bloßen Umkehrung der beiden Pole, sondern zu einer tendenziellen Auflösung des Dualismus insgesamt. Und da »Ausdruck« und »Inhalt« als gleichermaßen an der Produktion von Wirklichkeit beteiligt konzipiert werden, verweist die Kritik am Basis/Überbau-Dualismus zugleich darauf, dass die ontologische Entgegensetzung von Realität und Repräsentation bei Deleuze generell in Frage steht. So heißt es in den Tausend Plateaus: »Die Unabhängigkeit von Ausdrucksform und Inhaltsform begründet keine Parallelität zwischen ihnen, und erst recht keine Repräsentation der einen durch die andere, sondern im Gegenteil eine Zerstückelung beider, also die Art und Weise, in der Ausdrücke in Inhalte eindringen, wobei sie unaufhörlich von einem Register zum anderen springen, wobei die Zeichen die Dinge selber bearbeiten, während die Dinge sich gleichzeitig durch die Zeichen ausweiten oder ausbreiten. Ein Äußerungsgefüge spricht nicht ›von‹ Dingen, sondern es spricht auf derselben Ebene wie die Zustände der Dinge oder die Zustände des Inhalts. So daß dasselbe x, derselbe Partikel wie ein Körper funktioniert, der agiert und reagiert, oder auch wie ein Zeichen, das eine Handlung bewirkt, einen Befehl oder ein Kennwort ausspricht, je nach der Form, von der es aufgenommen wird.« (TP 122)
Was in dieser Textpassage deutlich wird, ist die Tatsache, dass der Repräsentationsbegriff aus Sicht der Deleuzeschen Konzeption des Verhältnisses von Inhalts- und Ausdrucksform letzten Endes obsolet ist. Denn der Ausdrucksbereich einer Kultur repräsentiert keine bereits existierende Wirklichkeit, sondern ist aktiv an deren Kon-
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stitution mitbeteiligt. Dies gilt freilich auch für Medien wie die Literatur. Genauer gesagt: Ähnlich wie eine Nachricht »über« das Geschehen an den Börsen dieses nicht repräsentiert, sondern Käufe und Verkäufe an den Aktienmärkten überhaupt erst auszulösen vermag, repräsentiert ein literarisches Werk nicht »seine Zeit«, sondern ist an deren Konstitution ebenso sehr mitbeteiligt (wenn auch auf mitunter mikroskopische Weise) wie an der Konstitution dessen, was jeweils als Literatur verstanden wird. Dies heißt natürlich nicht, dass Literatur unabhängig gegenüber den historisch bedingten Kräfteverhältnissen und »Mischungen« wäre, die das jeweilige kulturelle Gefüge konstituieren. Nicht wenigen revisionistischen Arbeiten seit den 1980er Jahren ließe sich mit Deleuze jedoch ein geschichtstheoretischer Reduktionismus vorwerfen, insofern die jeweilige Epoche hier oftmals wie eine Art »Container« konzipiert wird, in dem die vom Kritiker analysierten Texte zwangsläufig enthalten sind.39 Dem literarischen Werk wird so vor allem die Funktion zuerkannt, die Epoche, der es entstammt, zu repräsentieren, d.h. deren Machtverhältnisse »widerzuspiegeln«. Dementsprechend wird etwa Melville in Wai-chee Dimocks Studie Empire for Liberty als »representative author« (Dimock 1991, 6) behandelt, in dessen Werken die imperialistischen Denkweisen und Ziele seiner Epoche zum Ausdruck gelangten. Die Geschichte der USA in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird dabei unter das Zeichen eines einheitlichen Prinzips gestellt: dasjenige der Ideologie des »Manifest Destiny« nämlich, auf die sämtliche Facetten von Melvilles Werk bezogen werden. Empire for Liberty kann folglich als stellvertretend für eine bestimmte Tendenz innerhalb der New American Studies gelten, die in deutlichem Gegensatz zu Deleuzes Behandlung der amerikanischen Literatur steht. Denn nicht nur vernachlässigt die Studie die affektive Kapazität literarischer Texte und reduziert Melvilles Bücher auf ihre Repräsentationsfunktion, d.h. ihren »ideologischen Inhalt«; auch wird Melvilles Epoche eine kaum weiter erläuterte Homogenität unterstellt, wobei das Schlagwort »Manifest Destiny« als das alles strukturierende Zentrum fungiert. Insofern die eigentliche Absicht des Buches letztlich also darin besteht, Melville vom good dog in einen bad dog zu verwandeln, kommt es in Empire for Liberty zwar zu einer »Umkehrung«, nicht aber zu einer »Verschiebung«. Im Gegensatz zum distanzierten Moralismus der revisionistischen Ideologiekritik sind Deleuzes Texte zur amerikanischen Literatur wesentlich affirmativ und pragmatisch ausgerichtet. So geht es Deleuze in seiner Melville-Lektüre darum, in jene »Nachbarschaftszone« (KK 12) einzutauchen, in der sich die Philosophie ein wenig in Literatur verwandelt und die Literatur ein wenig in Philosophie. In dem Essay »Bartleby oder die Formel« (94-123) etwa treten Figuren wie Ahab oder Bartleby als regelrechte »Begriffspersonen« in Erscheinung und das Amerika des 19. Jahrhunderts fungiert nicht als homogener Nationalstaat, sondern als »Patchwork«, das von sich überlagernden De- und Reterritorialisierungslinien, von widerstreitenden Begehrlichkeiten und Machtformationen durchzogen wird. Zwar geht es auch Deleuze darum, anhand von Melvilles Literatur einen Teil der amerikanischen Realität des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Die Frage nach Melvilles Wirklichkeitsbezug ist Deleuze zufolge jedoch keine Frage der »Repräsentation«, sondern eher eine der »Koproduktion«. Denn insofern die literarische Tätigkeit keine autonome Kunst- oder 39 Zu den konzeptionellen Besonderheiten von Deleuzes Geschichtsphilosophie, vgl. Lampert 2006, Bell/Colebrook (Hg.) 2009 und Herzogenrath (Hg.) 2012.
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Diskursform darstellt, ist sie stets dazu gezwungen, mit Elementen zu arbeiten und Materialien zu rekombinieren, die in der jeweiligen Epoche verfügbar gemacht werden. Somit fungiert Literatur aber nicht lediglich als Repräsentation von Realität, sondern stellt selbst ein Stück Realität dar, das mit einer Vielzahl anderer Elemente verschaltet ist. Ihre Wirkmächtigkeit gewinnt die Literatur dabei aus der Art und Weise, wie dem Leser ermöglicht wird, den Text zu aktualisieren und mit diesem ein funktionierendes Gefüge zu bilden. Und eben dies ist es, was so einflussreiche Texte wie Uncle Tom’s Cabin oder Upton Sinclairs The Jungle auszeichnet: nicht, dass sie »die Realität« abbilden, wie sie war oder ist, sondern dass sie den Leser ein affektives Gefüge mit dem Text bilden lassen.40 Zwar soll nicht in Abrede gestellt werden, dass ein Text – ebenso wie ein visuelles Portrait – Wirklichkeit nachahmen kann, d.h. Ähnlichkeit zu erzeugen vermag; nur wird diese, wie Deleuze schreibt, »durch unähnliche Mittel« (FB 71) erreicht. Die Linien auf der Leinwand oder die Worte auf dem Blatt Papier stimmen freilich keinesfalls mit der materiellen Realität des »Referenten« überein, der stets ein singuläres Moment unrepräsentierbarer Differenz aufweist und mit einer eigenen Zeitlichkeit ausgestattet ist, für die es keine visuelle oder textuelle Entsprechung gibt. Anders gesagt: Inhalt und Ausdruck mögen einen gemeinsamen Funktionszusammenhang bilden, doch wird der Inhalt nicht durch den Ausdruck repräsentiert. Kunst oder Literatur mögen einen Gegenstand erfassen, doch würde Deleuze jenes »Erfassen« vermutlich am ehesten im Sinne Whiteheads begreifen, d.h. als prehension anstelle von representation.41 40 Ob und inwiefern dies gelingt, ist freilich stets kontextabhängig, weshalb ein Buch wie Uncle Tom’s Cabin heute nicht mehr annähernd dieselbe Wirkung entfalten könnte wie noch im 19. Jahrhundert. Im Sinne von Deleuze ließe sich jedoch argumentierten, dass die Qualität eines literarischen Textes auch auf dessen »unzeitgemäßen« Komponenten beruht, die zwar keinesfalls »zeitlos« sind, gleichwohl aber nicht vollends durch ihren ursprünglichen Entstehungskontext determiniert werden, sondern sich in unterschiedlichen Gefügen auf je neuartige Weise aktualisieren lassen. 41 Zu Whiteheads Begriff der prehension – in den deutschen Übersetzungen seiner Texte in der Regel als »Erfassen« übersetzt –, vgl. insbesondere dessen Hauptwerk Process and Reality (Whitehead 1985, 18-30 und 217-280). Eine bündige Definition findet sich z.B. in Whiteheads Adventures of Ideas: »I use the term ›prehension‹ for the general way in which the occasion of experience can include, as part of its own essence, any other entity, whether another occasion of experience or an entity of another type. This term is devoid of suggestion either of consciousness or of representative perception« (Whitehead 1967, 234). Wie hier deutlich wird, beschränkt sich der Begriff der prehension nicht auf die bewusste Wahrnehmung und schließt explizit auch den subrepräsentativen Bereich der Erfahrung mit ein. Mit Verweis auf Deleuze lässt sich zudem aufzeigen, dass sich der Begriff nicht ausschließlich auf den menschlichen Bereich bezieht, sondern auch nicht-menschliche Entitäten einbegreift: »Jedes Ding prehendiert das, was ihm vorherging und es begleitet, und prehendiert so Stück für Stück eine Welt. Das Auge ist Licht-prehendierend. Die Lebewesen prehendieren das Wasser, die Erde, die Kohle und die Salze. […] Man kann sagen, daß ›die Echos, die Reflexe, die Spuren, die prismatischen Deformationen, Perspektiven, Schwellen und Falten‹ Prehensionen sind, die in gewisser Weise dem psychischen Leben vorhergehen« (LB 129). Obwohl zahlreiche Parallelen zwischen Whiteheads kosmologischer Prozessmetaphysik und Deleuzes Ontologie existieren, ist diese Verbindung in der Literatur
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Insofern die Literatur für Deleuze somit von Rechts wegen an keinen festgelegten Ort gebunden ist und, sobald sie in die Welt tritt, auch nicht mehr als Besitz ihres Autors fungiert, behandelt er Texte stets als Ensembles mit multiplen Gebrauchsmöglichkeiten. Die Frage, ob Melville als good dog oder bad dog qualifiziert werden soll, stellt sich in dieser Hinsicht gar nicht, da es Deleuze weder um ein retrospektives Urteil noch um Melvilles kulturellen Tauschwert geht, sondern darum, dessen Werk mit einem neuen Gebrauchswert auszustatten, es also anschlussfähig für Fragen und Probleme der Gegenwart zu machen. Deleuzes pragmatisch ausgerichtete Textanalysen lassen sich folglich als Versuche verstehen, die unzeitgemäßen »Virtualitäten« der von ihm untersuchten Werke herauszuarbeiten, um so zu neuen Aktualisierungsmöglichkeiten zu gelangen. Derjenige Melville, von dem bei Deleuze die Rede ist, entspricht daher weder dem »zeitlosen« Autor der »Myth-and-Symbol«Critics noch dem gänzlich »in seiner Zeit stehenden« Autor Dimocks und der New Americanists, sondern fungiert – ähnlich wie in Casarinos Modernity at Sea – als wesentlich »unzeitgemäßer« Autor, dessen Werk sich für eine produktive Re-Lektüre eignet (vgl. Casarino 2002). Dementsprechend wird im zweiten Teil der vorliegenden Studie mit Melvilles Moby-Dick so verfahren werden, dass zahlreiche »Linien« zum Vorschein kommen, die den Roman (und seine komplexe Konzeption der Literatur, des Wissens, der Macht und des Begehrens) mit den kulturtheoretischen und amerikanistischen Diskursen der Gegenwart in Verbindung bringen (vgl. Teil II, Kap. 1). Aufbau und Ziel der Studie Wie in den vorangehenden Abschnitten verdeutlicht wurde, besteht das Ziel der vorliegenden Untersuchung darin, die Philosophie von Deleuze für die amerikanistische und kulturwissenschaftliche Praxis nutzbar zu machen, wobei dieser ein komplexer Begriff von Kultur zugrunde gelegt wird. Da Deleuzes Philosophie in der Regel als schwierig empfunden wird – und sich die Studie explizit auch an den »nicht-philosophischen« Leser richtet –, ist es im ersten Teil des Buches zunächst notwendig, ihre Grundzüge überhaupt verständlich zu machen. Zwar geht es hierbei durchaus darum, Deleuzes Philosophie »mittendrin zu nehmen« (D 66), d.h. nicht nur selektive Einzelaspekte, sondern ihre generelle Tendenz zu erfassen. Dies aber ist gerade bei einem derart umfangreichen Werk umso schwieriger: Deleuzes erstes Buch (seine Studie über David Hume) wurde 1953 publiziert, sein letztes (die Essaysammlung Kritik und Klinik) 1993. Es liegt somit auf der Hand, dass sich Deleuzes Philosophie nicht durch einen gänzlich einheitlichen Charakter auszeichnet, sondern vielfältige Brüche, Entwicklungslinien und unterschiedliche Perioden aufweist.42 Die vorliegende Studie bislang eher vernachlässigt worden, was sich neuerdings jedoch zu ändern scheint (vgl. Stengers 2008 und 2011, Shaviro 2009 und Faber/Stephenson [Hg.] 2011). Ausführlicher bezieht sich Deleuze nur in seiner Leibniz-Studie auf Whitehead, wo er dessen Werk als »die vorläufig letzte große anglo-amerikanische Philosophie« bezeichnet (LB 126). 42 In einem Interview aus dem Jahre 1988 bekennt sich Deleuze prinzipiell zu der von seinen Gesprächspartnern implizierten Einteilung seines Werkes in drei Perioden (U 197). De facto erwähnt er im weiteren Verlauf des Gesprächs allerdings noch eine weitere Phase, in der sich die vorangehenden »fortsetzen« und »vermischen« würden (200). Die erste Periode würde demnach von den frühen 1950er bis in die späten 1960er Jahre reichen und somit je-
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kann daher auch nicht für sich in Anspruch nehmen, die Philosophie von Deleuze in ihrer Gesamtheit zu repräsentieren, zumal die Frage, wie sich diese aus der heutigen Sicht am angemessensten kontextualisieren und bewerten lässt, in der Forschungsliteratur äußerst umstritten ist. Was die Studie jedoch leisten will, ist eine pragmatische Rekonstruktion von Deleuzes Philosophie, die sich zwar an den eher kulturwissenschaftlich ausgerichteten Zielen der Untersuchung orientiert, nichtsdestotrotz aber vergleichsweise umfassend verfährt. Dies heißt konkret, dass zwar ein gewisser Fokus der Studie auf Deleuzes Thesen zu Literatur und visueller Kultur (Film und Fotografie) liegt, dass diese aber nicht isoliert behandelt werden sollen, sondern stets mit Blick auf ihren philosophischen und ontologischen Kontext. Insofern sich das Charakteristische an Deleuzes Konzeption von Medien wie Literatur und Film nur auf der Basis der Grundgedanken seiner Philosophie erfassen lässt, ist es z.B. sinnvoll, den prägenden Einfluss Nietzsches zu betonen, wenn Deleuzes Begriff der Literatur – insbesondere in Bezug auf das Verhältnis von Literatur und Leben – beschrieben wird. Ebenso ist es notwendig, auf Bergsons Zeitphilosophie einzugehen, da Deleuzes Perspektive auf das Kino andernfalls kaum verständlich werden würde. Im ersten Teil des Buches werden folglich viele der bereits in der Einleitung angerissenen Positionen noch wesentlich genauer dargestellt, wobei es nicht zuletzt auch um die philosophischen Einflüsse gehen wird, die Deleuzes Denken geprägt haben. Besonders auf Spinoza, Nietzsche und Bergson wird daher immer wieder rekurriert werden müssen. Während es in den ersten beiden Kapiteln von Teil I zunächst um die Darstellung von Deleuzes philosophischen und ontologischen Grundgedanken geht (Kap. 1: »Konstruktivismus, Immanenz und Leben« und Kap. 2: »Wiederholung, Zeit und Subjektivität«), werden seine Thesen zur Literatur und zum Kino in den beiden ausführlichen Schlusskapiteln diskutiert (Kap. 3: »Die literarische Maschine« und Kap. 4: »Philosophie des Kinos«). Der Fokus des ersten Teils der Studie liegt somit einerseits auf Deleuzes prozessualer Ontologie der Immanenz und des Werdens, die (zumindest im Hinblick auf einige wesentliche Aspekte) als theoretische Grundlage des hier entwickelten Kultur- und Komplexitätsbegriffs dient. In diesem Zusammenhang nen Zeitraum umfassen, in der sich Deleuze vor allem der Philosophiegeschichte gewidmet und seine Monographien über Hume, Nietzsche, Kant, Bergson und Spinoza veröffentlicht hat. Die beiden Studien Differenz und Wiederholung (1968) und Logik des Sinns (1969) würden den Abschluss dieser Phase und zugleich den Übergang in die nächste bilden, da sie einerseits noch stark in der Philosophiegeschichte verankert sind, andererseits aber bereits auf die weitere Entwicklung von Deleuzes Philosophie vorausweisen. Unter der zweiten Phase wäre dann die Zusammenarbeit mit Félix Guattari zu verstehen, aus der zunächst die Bücher Anti-Ödipus (1972), Kafka (1975) und Tausend Plateaus (1980) hervorgegangen sind. Als dritte Phase könnte Deleuzes Hinwendung zu explizit ästhetiktheoretischen Fragestellungen gelten, was etwa in der Studie über den Maler Francis Bacon (1981) und den beiden Kinobüchern (1983 und 1985) zum Ausdruck kommt. Die vierte und letzte Phase ließe sich dann insofern als Periode verstehen, in der sich die vorangehenden »irgendwo fort[setzen] und vermischen« (U 200), als sie sowohl philosophiehistorische Arbeiten – nämlich über Foucault (1986) und Leibniz (1988) – beinhaltet, die ästhetischen Fragen am Beispiel der Literatur weiterverfolgt werden (Kritik und Klinik [1993]) und in Was ist Philosophie? (1991) auch die Arbeit mit Félix Guattari wiederaufgenommen wird.
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wird gerade auch auf Deleuzes philosophiehistorisches Frühwerk Bezug genommen, das im Kontext der Cultural Studies noch deutlich weniger bekannt ist als etwa der Anti-Ödipus oder die Tausend Plateaus. Andererseits stehen die Bereiche Literatur und Film im Fokus, die im Rahmen von zwei sehr viel spezifischeren Einzelanalysen auch Gegenstand des zweiten Teils des Buches sind. Während die Studie diesbezüglich vor allem zum Ziel hat, Deleuzes Konzeption der Literatur und des Films mit Blick auf die kulturwissenschaftliche und amerikanistische Praxis zu diskutieren, soll es zudem auch darum gehen, den unterschiedlichen Stellenwert zu erörtern, der dem amerikanischen Film und der amerikanischen Literatur in Deleuzes Philosophie zukommt. Dieses Thema wird besonders in den beiden Unterkapiteln behandelt, die die Kapitel zu Deleuzes Literatur- und Filmkonzeption jeweils abschließen (Kap. 3.5: »Überlegenheit der amerikanischen Literatur?« und Kap. 4.5: »Unterlegenheit des amerikanischen Films?«). In Teil II des Buches werden dann anschließend drei Einzeluntersuchungen präsentiert, die gleichsam den amerikanistischen »Kern« der Studie darstellen. Alle drei Kapitel befassen sich mit einem Gegenstand, der in der amerikanistischen Forschung bereits ausführlich diskutiert worden ist, wobei es nun aber mithilfe von Deleuzes Philosophie – und in Auseinandersetzung mit einer Reihe von anderen Positionen – zu einer vergleichenden Re-Lektüre kommt. Dass sich alle drei Kapitel mit einem jeweils anderen Medium befassen (nämlich der Literatur, dem Film und der Fotografie) ist hierbei durchaus intendiert, um so die Produktivität des Ansatzes für die amerikanistische und kulturwissenschaftliche Praxis auf möglichst umfassende Weise demonstrieren zu können. Im ersten Kapitel von Teil II (Kap. 1: »Deleuze und Moby-Dick«) widmet sich die Studie mit Melvilles Moby-Dick einem der bekanntesten amerikanischen Romane des 19. Jahrhunderts, der zugleich immer schon eine wesentliche Rolle in der amerikanistischen Forschung gespielt hat. Ziel des Kapitels ist es, den Roman u.a. in Bezug auf raum-, macht-, affekt- und ästhetiktheoretische Fragestellungen einer fruchtbaren Re-Lektüre auszusetzen, wobei neben Deleuze auch eine Vielzahl anderer Autoren – von Thomas Hobbes und Carl Schmitt bis Bruno Latour und Giorgio Agamben – behandelt werden. Im Gegensatz zu den meisten amerikanistischen Lesarten der Vergangenheit wird in dem Kapitel argumentiert, dass der weiße Wal nicht lediglich als Symbol fungiert, sondern Melvilles Darstellung der Beziehung von Mensch und Tier gewissermaßen buchstäblich gelesen werden muss. Zudem wird im Laufe des Kapitels aufgezeigt, dass sich der Roman für eine zeitgenössische Lektüre anbietet, da er (gerade mit Blick auf den hier entwickelten Begriff der kulturellen Komplexität) Fragen aufwirft, die durchaus heute noch von Relevanz sind. Dies betrifft nicht zuletzt die Frage nach dem Verhältnis von Souveränität und Affekt, die in MobyDicks »Quater-Deck«-Kapitel aufgeworfen wird, zugleich aber auch den kulturtheoretischen Diskurs der Gegenwart betrifft. Im zweiten Kapitel des zweiten Teils (Kap. 2: »Vom Bewegungs-Bild zum ZeitBild: Deleuze und der Westernfilm«) nimmt die Studie nach der Literatur nun das Kino in den Blick, wobei das Genre des Westernfilms im Fokus steht. Die Entwicklung des Genres vom »klassischen« zum »revisionistischen« Western wird im Verlaufe des Kapitels insbesondere am Beispiel von drei Filmen diskutiert, nämlich John Fords Stagecoach (1939), Fred Zinnemanns High Noon (1952) und Jim Jarmuschs Dead Man (1995). Zwar wird der traditionellen Einteilung des Genres somit weitge-
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hend gefolgt; mithilfe von Deleuzes filmphilosophischer Unterscheidung zwischen »Bewegungs-Bild« und »Zeit-Bild« sollen die Kategorien des klassischen und des revisionistischen Westerns jedoch einer genaueren Qualifizierung unterzogen werden, bei der nicht nur inhaltliche oder ideologische Aspekte eine Rolle spielen, sondern vor allem die temporale Struktur und das Bildmodell der Filme in den Blick genommen werden. Mit Jim Jarmuschs Dead Man wird dabei ein Film aus den 1990er Jahren behandelt, der nicht bloß die klassische Westernmythologie einer selbstreflexiv-revisionistischen Kritik unterzieht (wobei der Genozid an den Indianern ein zentrales Motiv darstellt), sondern zudem auch das Modell des Bewegungs-Bildes deterritorialisiert und ein tendenziell »neues Bild« des Westens entstehen lässt. Wie in dem Kapitel deutlich wird, lässt sich Dead Man folglich als Film verstehen, der die kulturelle Komplexität des amerikanischen Westens betont und diesen nicht mehr mythologisch, sondern als tatsächliche contact zone (vgl. Pratt 2008) begreift. Darüber hinaus wird der weitgehend lineare Handlungsverlauf des Films vielfach durch Formen von temporaler Unbestimmtheit und Koexistenz unterbrochen. Dead Man lässt sich daher dem Kino des Zeit-Bildes zurechnen, was bewusstermaßen eine Differenz zu Deleuzes eigener Behandlung des Westerngenres markiert, die ausschließlich im ersten Band seiner Filmstudie erfolgt und den Western somit auf dessen Rolle im klassischen Kino des Bewegungs-Bildes festlegt. Das dritte Kapitel von Teil II (Kap. 3: »Deleuze und die [amerikanische] Fotografie«) weicht insofern von den beiden vorangehenden Kapiteln ab, als mit der Fotografie hier ein Medium im Fokus steht, das in Deleuzes Philosophie selbst kaum eine Rolle spielt. Aus den wenigen Textstellen, in denen Deleuze sich explizit auf die Fotografie bezieht, geht zudem hervor, dass seine Sicht auf das Medium – insbesondere aufgrund von dessen temporaler Beschränktheit – von deutlicher Skepsis geprägt war. Im Laufe des Kapitels soll anhand der Arbeiten von Fotografen wie Eadweard Muybridge, Robert Frank und Hiroshi Sugimoto jedoch ein wesentlich komplexeres Bild der Fotografie gezeichnet werden, wobei gerade deren jeweils zu bestimmende Zeitlichkeit von zentraler Bedeutung ist. Deleuzes Geringschätzung der Fotografie zum Trotz wird daher auf dessen eigene Zeitphilosophie rekurriert, um verschiedene fotografische »Temporalitäten« zu qualifizieren und unterscheidbar zu machen. In Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von unterschiedlichen fotografietheoretischen Perspektiven soll somit eine Position entwickelt werden, in der die Fotografie weder als analoges Abbild der Natur fungiert noch im »postmodernen« Sinne als rein diskursiv vermittelte Zeichenpraxis verstanden wird. Am Beispiel der Theaters-Serie von Hiroshi Sugimoto wird dabei abschließend auf eine Arbeit verwiesen, in der der temporalen Komplexität der Wirklichkeit auf eine Weise Rechnung getragen wird, die unmittelbar mit Deleuzes zeitbasierter Kritik der Repräsentation korrespondiert. Sugimoto gelingt es nämlich, der postmodernen Repräsentationskritik – die in der Regel auf die unaufhebbare Dialektik von Sein und Schein, Original und Kopie abzielt – eine prozessualistische Alternative gegenüberzustellen, im Rahmen derer sich das fotografische Bild vom »Standbild« in eine Art »Denkbild« verwandelt. Was die Gesamtstruktur des Buches betrifft, so mag sich das Verhältnis von Teil I und Teil II dem ersten Anschein nach so darstellen, dass im ersten Teil der Studie die »Methode« erarbeitet wird, die dann im zweiten Teil zur »Anwendung« kommt. De facto trifft dies allerdings nur bedingt zu, da zwischen den beiden Teilen kein strikter Parallelismus besteht. Zwar dient der erste Teil der Studie durchaus dazu, die
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theoretischen Positionen zuallererst darzulegen, von denen dann in Teil II auf sehr viel spezifischere Weise Gebrauch gemacht wird. Zugleich ist es allerdings nicht so, dass der Wert von Teil I allein darin besteht, Teil II als Grundlage zu dienen. D.h. auch, dass nicht jeder Aspekt von Deleuzes Philosophie, der in Teil I behandelt wird, notwendigerweise eine Wiederaufnahme in Teil II erfährt. (Und genauso werden im zweiten Teil mitunter philosophische Begriffe eingeführt, die nicht schon in Teil I behandelt wurden.) Dennoch verhält es sich generell so, dass der erste Teil der Studie die behandelten Konzepte zunächst überhaupt anschaulich macht und genauer mit Blick auf ihren philosophischen Zusammenhang darstellt, während auf eine tiefergehende Kontextualisierung im zweiten Teil verzichtet wird, sofern das jeweilige Vokabular bereits im ersten Teil des Buches erläutert wurde. Dies betrifft insbesondere Deleuzes Filmphilosophie, die ausführlich im vierten Kapitel von Teil I dargestellt wird, so dass die Kenntnis von Begriffen wie »Zeit-Bild«, »sensomotorisches Schema« oder »Bewegungs-Bild« im Kapitel über den Westernfilm weitgehend vorausgesetzt wird. Abschließend noch eine letzte Anmerkung über die spezifische Art der Beziehung, in der die vorliegende Studie zur Philosophie von Deleuze steht: Auch wenn es explizit zum Ziel der Studie gehört, die Produktivität von Deleuzes Philosophie im Kontext von Kulturwissenschaft und Amerikanistik zu veranschaulichen, handelt es sich nichtsdestotrotz um kein »deleuzianisches« Buch im dogmatischen Sinne. Wie aus dem Vorangehenden deutlich geworden sein sollte, ist es bei einer Reihe von Punkten so (etwa mit Blick auf die Qualifizierung der Fotografie oder des amerikanischen Films), dass von den von Deleuze artikulierten Positionen explizit abgewichen wird. Zudem wird gerade im zweiten Teil des Buches vielfach auf bewährte – und nicht unbedingt »deleuzianisch« anmutende – Methoden der Cultural Studies zurückgegriffen, wenn es etwa um die kulturhistorische Kontextualisierung von literarischen Gattungen, Filmgenres oder fotografischen Verfahrensweisen geht. Obwohl in der Studie fortlaufend die Differenzen betont werden, die Deleuzes Philosophie vom Mainstream der Cultural Studies der letzten Jahrzehnte unterscheiden, soll hierdurch also keinesfalls bestritten werden, dass Autorinnen und Autoren wie Judith Butler, Raymond Williams, Stuart Hall oder Edward Said für die Entwicklung des Fachs auf ihre Weise viel geleistet haben. Es soll nicht einmal behauptet werden, dass die durch jene Autoren etablierten Prämissen des Faches grundsätzlich »falsch« wären. Genauer gesagt: Eher als um bloße »Widerlegung« geht es in der vorliegenden Studie darum, ein mit der Formalisierung und Routinisierung jener Prämissen einhergehendes Unbehagen zu artikulieren, das mittlerweile auch vielfach in den Cultural Studies selbst zu vernehmen ist – jedoch ohne, dass dies bereits zu einer wirklichen Transformation des Fachs und seiner theoretischen Grundannahmen geführt hätte. Formulierungen wie diejenige, dass es »nichts außerhalb des Textes« gebe oder dass der Körper als »diskursive Konstruktion« begriffen werden müsse, sind heute zwar nicht mehr repräsentativ für die Kulturtheorie der Cultural Studies und American Studies insgesamt; sie verweisen aber auf eine eigentümliche Verengung des Denkens, die in den Kultur- und Literaturwissenschaften teilweise nach wie vor spürbar ist. »[T]heory«, haben Eve Sedgwick und Adam Frank bereits Mitte der 1990er Jahre resümiert, »has become almost simply coextensive with the claim (you can’t say it often enough), it’s not natural« (Frank/Sedgwick 1995, 513). Was die vorliegende Studie in dieser Hinsicht motiviert, ist die Hoffnung, im Dialog mit Deleuzes Philosophie
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eine konzeptuelle Alternative aufzeigen zu können, die das kulturtheoretische Denken zwar nicht grundlegend auf den Kopf stellen wird (und dies auch weder beansprucht noch beabsichtigt), wenigstens aber der genannten Verengung auf fruchtbare Weise entgegenzuwirken verspricht.
T EIL I: P HILOSOPHIE DER I MMANENZ UND DES W ERDENS
»Philosophie besteht immer darin, Begriffe zu erfinden. Ich hatte nie Probleme mit einer Überwindung der Metaphysik oder einem Tod der Philosophie. Die Philosophie hat eine Funktion, die vollkommen aktuell bleibt: Begriffe schaffen, Begriffsschöpfung. Niemand kann dies an ihrer Stelle tun.« (U 198)
»Das Abstrakte erklärt nichts, es muß selbst erklärt werden: es gibt keine Universalien, keine Transzendentalien, nicht das Eine, kein Subjekt (kein Objekt), keine Vernunft, es gibt nur Prozesse; das können Prozesse der Vereinheitlichung, der Subjektivierung, der Rationalisierung sein, mehr aber nicht […]. Alle Prozesse finden auf der Immanenzebene statt und in einer angebbaren Vielheit: […] Wenn man eine Transzendenz geltend macht, hält man die Bewegung an […]. Die Prozesse sind Werden, und diese lassen sich nicht nach dem Resultat beurteilen, das sie beendet, sondern nur nach der Qualität ihres Verlaufs und der Stärke ihres Fortgangs.« (U 212-213)
»Die Ethik [Spinozas] urteilt über Affekte, Verhaltensweisen und Absichten, indem sie diese nicht auf transzendente Werte bezieht, sondern auf Existenzweisen, die sie voraussetzen oder implizieren: […] Die Rückversicherung transzendenter Werte wird derart durch eine Methode der Explikation der immanenten Existenzweisen ersetzt.« (S 238)
1. Konstruktivismus, Immanenz und Leben
1.1 P HILOSOPHIE
ALS
K UNST
DER
B EGRIFFSBILDUNG
Ihr Kafka-Buch beginnen Deleuze und Guattari mit einer besonders für die Literaturwissenschaft stets aktuellen Frage, deren Implikationen nicht nur das Werk Kafkas, sondern generell jedes Werk betreffen: »Wie findet man Zugang zu Kafkas Werk? Es ist ein Rhizom, ein Bau. Das Schloß hat ›vielerlei Eingänge‹, deren Benutzungs- und Distributionsgesetze man nicht genau kennt. Das Hotel in Amerika hat zahllose Pforten, Haupt- und Nebentüren, bewacht von ebenso vielen Pförtnern, ja sogar türlose Ein- und Ausgänge« (K 7). Da es also eine Vielzahl von Einstiegsmöglichkeiten gibt, stellt sich zu Beginn jeder Lektüre dieselbe Frage: Welchen Eingang soll man wählen? Die gleiche Frage stellt sich auch mit Blick auf Deleuzes eigenes Werk, das zweifellos ebenso viele Zugangsmöglichkeiten aufweist wie dasjenige Kafkas. Im Folgenden soll der Einstieg in Deleuzes Werk zunächst von dessen Ende her unternommen werden, d.h. ausgehend von Was ist Philosophie?, dem letzten Buch, das Deleuze gemeinsam mit Guattari verfasst hat. Zwar ist zwei Jahre später noch Deleuzes Aufsatzsammlung Kritik und Klinik erschienen, die neue und bereits veröffentlichte Essays über die Literatur enthält; in mancher Hinsicht aber scheint es, als würde Was ist Philosophie? nicht nur die gemeinsame Arbeit mit Guattari beenden (der ein Jahr nach der Publikation des Buches starb), sondern zudem auch jenen »Schlusspunkt« vorwegnehmen, der Deleuzes eigenes Werk bald darauf zu einem Abschluss bringen wird. So wird bereits auf der ersten Seite von Was ist Philosophie? deutlich, dass die aufgeworfene Leitfrage nach dem Wesen der Philosophie eine geradezu existentielle Wendung erfährt, indem sie ausdrücklich als Frage konzipiert wird, »die man in einer verhaltenen Erregung stellt, gegen Mitternacht, wenn es nichts mehr zu fragen gibt«. Zuvor schon, heißt es zwar, hat man die Frage gestellt, sogar immer wieder, aber »allzu künstlich, allzu abstrakt […], man beherrschte sie eher im Vorübergehen, als daß man sich von ihr mitreißen ließ. Man war noch nicht nüchtern genug«. Oder anders formuliert: Man hatte noch »allzugroße Lust daran, Philosophie zu betreiben« und musste erst »an jenen Punkt von Nicht-Stil« gelangen, »an dem man schließlich sagen kann: Was war das denn nun, was ich während meines ganzen Lebens gemacht habe?« (WP 5). Was ist Philosophie? bietet sich als Einstieg in Deleuzes Werk somit an, da in dem Buch besonders präzise über den Charakter seiner eigenen Tätigkeit – die philosophische Praxis – nachgedacht wird. Dabei verhält es sich so, dass auf die Leitfrage des Buches bereits ganz an dessen Anfang die folgende Antwort gegeben wird, die
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im weiteren Verlauf des Textes spezifiziert, begründet und anhand vielfältiger Beispiele aus der Philosophiegeschichte erläutert wird: »Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen« (WP 6). Kurz darauf merken Deleuze und Guattari an, was die Philosophie dagegen nicht sei: »Sie ist weder Kontemplation noch Reflexion, noch Kommunikation« (10), vielmehr stelle sie eine Form des »Konstruktivismus« dar (12). Nun besitzt diese Definition freilich verschiedene Komponenten, die im Folgenden genauer bestimmt werden sollen. So geht es den Autoren zunächst darum, Philosophie als Praxis kenntlich zu machen, d.h. als »präzise Tätigkeit« (12) und nicht lediglich als Reflexionsvermögen im Sinne bereits vorhandener Begriffe und Ideen.1 Denn laut Deleuze und Guattari hat man sich in der Philosophie nie mit den bestehenden Begriffen zufriedengegeben, sondern entweder neue Begriffe kreiert oder die bereits vorhandenen derart umgestaltet, dass sie den jeweils aktuellen Problemen gerecht werden konnten. Ein philosophischer Begriff sollte daher nicht als Universalie verstanden werden, denn er besitzt keine universelle oder ewige Anwendbarkeit, sondern immer nur »die Wahrheit, die ihm abhängig von den Bedingungen seiner Erschaffung« zukommt (34). Sich heute in der Tradition einer Philosophie der Vergangenheit zu verorten (etwa als Kantianer, Hegelianer oder Heideggerianer), hätte somit keinerlei Bedeutung, würde man lediglich wiederholen, was der jeweilige Philosoph gesagt hat. Deleuze und Guattari zufolge müsste es vielmehr darum gehen, die entsprechenden Begriffe in heutigen Problemen zu reaktivieren oder sie zum Anlass für die Schaffung neuer Begriffe zu nehmen, wodurch man jedoch kein Wissen mehr wiederholte, sondern eine Tätigkeit. Genauer gesagt: Man würde tun, was der jeweilige Philosoph getan hat, nämlich Begriffe für Probleme erschaffen, »die sich notwendigerweise ändern« (35). Dieses konstruktivistische Verständnis der philosophischen Tätigkeit ist sachlich mit der schon im Anti-Ödipus artikulierten Repräsentationskritik verknüpft, die für das Denken von Deleuze und Guattari generell charakteristisch ist. Dementsprechend wird die Repräsentationslogik aus dem klassischen »Bild des Denkens« durch eine Produktionslogik ersetzt, die gleichermaßen das Unbewusste, den Wunsch, die Sprache, das Denken und die Kunst betrifft. Denn ebenso wie das Unbewusste im AntiÖdipus nicht als »Theater«, sondern als »Fabrik« begriffen wird, heißt es in den Tausend Plateaus, dass die Sprache nicht primär »repräsentiert«, sondern »interveniert« (TP 122).2 Ähnlich wird das Denken in Was ist Philosophie? nicht mehr als »Wille zur Wahrheit«, sondern als »Schöpfung« (WP 63) und die Kunst nicht als »Mimesis«, sondern als produktiver »Empfindungskomplex« (192) konzipiert, der neuartige Perzepte und Affekte in Umlauf bringt. Wie anhand all jener Beispiele deutlich wird, 1
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Ähnlich argumentiert Deleuze auch am Schluss seines zweiten Kinobuches: »Für viele Leute ist Philosophie etwas, das nicht ›gemacht‹ wird, sondern immer schon fertig in einem Ideenhimmel existiert. Doch ebenso wie ihr Gegenstand ist auch die philosophische Theorie eine Praxis. Keineswegs ist sie abstrakter als ihr Gegenstand. Sie ist eine Praxis der Begriffe, und es gilt, sie hinsichtlich anderer Praktiken, mit denen sie interferiert, zu beurteilen« (ZB 358). Zur Konzeption des Unbewussten im Anti-Ödipus, vgl. U 210: »Das Unbewußte ist kein Theater, sondern eine Fabrik, eine Produktionsmaschine«; es »deliriert nicht über PapaMama, sondern über Rassen, Stämme, Kontinente, Geschichte und Geographie, immer über ein gesellschaftliches Feld«.
K ONSTRUKTIVISMUS, I MMANENZ
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kommt es bei Deleuze und Guattari zu einer grundlegenden Verzeitlichung klassischer philosophischer Konzepte, wobei das traditionelle Bild des Denkens gemäß vorgängiger Kategorien, Urszenen (Ödipus-Komplex), Analogien oder Wesenheiten einem repräsentationskritischen Denken der Produktion, des Werdens, der Begegnung und des Ereignisses weicht. Obwohl Deleuze und Guattari somit auf explizit konstruktivistische Weise gegen die Konzeption des Begriffs als Repräsentation argumentieren, heißt dies allerdings nicht, dass sie zwischen dem jeweils konstruierten Begriff und der materiellen Verfasstheit der Wirklichkeit keinerlei Verbindung sehen. Im Gegenteil: Für Deleuze und Guattari liefern Begriffe Lösungsansätze für Probleme, die wesentlich zu ihrer Erschaffung beigetragen haben. Dies ist sogleich ein weiterer Punkt, in dem sich die Konzeption von Deleuze und Guattari vom klassischen Bild des Denkens unterscheidet, da sie das Denken folglich nicht als innere Qualität des Geistes begreifen, sondern als von Rechts wegen kritische Aktivität konzipieren, die jeweils auf ein Außen verweist, das zuallererst »zum Denken nötigt« (Balke/Vogl 1996, 6).3 Wenn ein Philosoph also einen Begriff konstruiert, dann lässt sich dies als ein Akt des Denkens verstehen, der durch die Existenz eines spezifischen Problems verursacht worden ist. Deleuze und Guattari erläutern dies etwa am Beispiel von Platons Begriff der Idee. Zwar hat Platon die Aufgabe der Philosophie keinesfalls in der Konstruktion von Begriffen, sondern in der Kontemplation von Ideen gesehen – zuvor aber hatte er den Begriff der Idee überhaupt erst erschaffen müssen. Laut Deleuze und Guattari lässt sich der platonische Ideenbegriff als Antwort auf ein Problem verstehen, das eng mit der Existenz der griechischen Polis verquickt ist, die sich als demokratische Gesellschaft der »Freunde« verstand. Da jeder freie Bürger in der Polis seinen eigenen Anspruch geltend machen konnte, »begegnet er notwendig Rivalen, so daß es erforderlich ist, die Wohlbegründetheit der Ansprüche beurteilen zu können« (WP 14). So erheben der Tischler, der Förster, der Zimmermann und der Holzfäller alle einen Anspruch auf das Holz, ebenso wie der Philosoph und der Sophist beide einen Anspruch auf die Weisheit geltend machen. Der Begriff der Idee, der »die Dimension der Reinheit einer Sache« impliziert (Balke 1998, 79), fungiert daher als Selektionskriterium, das über die Wohlbegründetheit der Ansprüche zu urteilen hat und die richtigen von den falschen Bewerbern – die wahren Philosophen von den falschen Freunden der Weisheit – unterscheiden muss. Ein weiterer Aspekt der Begriffsbildung liegt Deleuze und Guattari zufolge darin, dass jeder Begriff stets aus mehreren Komponenten besteht. Descartes’ Cogito z.B. – »ich denke, also bin ich« – besteht aus den drei Komponenten »Zweifeln«, »Denken« und »Sein«, die sich folgendermaßen zusammenfügen: Ich, der ich zweifle, denke (denn Zweifeln ist Denken und »ich denke« somit eine unbezweifelbare Determinierung); und da ich denke, bin ich (denn um zu denken, muss man sein) – ich bin also ein Ding, das denkt, eine »denkende Substanz«. Denken und Sein werden bei Descartes folglich durch eine »subjektive Gewißheit« (WP 34) bestimmt, die als das eigentliche Zentrum des Begriffs fungiert und das Wissen um die Natur von dessen einzelnen Komponenten als allgemein bekannt voraussetzt. Aufgegriffen und dabei 3
Zu diesem »Denken des Außen«, das Deleuze mit Foucault und Blanchot verbindet, vgl. auch DW 182: »Es gibt etwas in der Welt, das zum Denken nötigt. Dieses Etwas ist Gegenstand einer fundamentalen Begegnung, und nicht einer Rekognition«.
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wesentlich verändert wird das Cogito durch Kant, der eine weitere Komponente hinzufügt und Descartes’ Begriff so eine »vollständige Mutation« (WP 38) erfahren lässt. Zwar geht auch Kant davon aus, dass »ich denke« eine Bestimmung ist, die eine unbestimmte Existenz (»ich bin«) impliziert; dies sagt aber noch nichts darüber aus, in welcher Form die unbestimmte Existenz bestimmbar ist, weshalb Kant die kartesische Definition des Ich als »denkende Substanz« (39) nicht mitvollzieht. Denn indem Kant nun die Komponente der Zeit einführt, macht er deutlich, dass das Ich nur in der Zeit bestimmt werden kann, wodurch sich die Natur des Subjekts vollständig ändert, das nun durch »die Form der Zeit« eine »Spaltung« erfährt (KP 11). Wenn nämlich das Ich lediglich in der Zeit bestimmt werden kann, dann heißt dies auch, dass es nur mehr als »passives und phänomenales«, stets »affizierbares, modifizierbares und variables Ich« (WP 39) bestimmbar ist, das sich die Aktivität seines eigenen Denkens als Operation eines Anderen vorzustellen hat.4 Kants Cogito weist somit nicht mehr drei, sondern vier Komponenten auf, die von Deleuze und Guattari wie folgt zusammengefasst werden: »Ich denke und bin aus diesem Grund aktiv; ich habe eine Existenz; diese Existenz ist bestimmbar nur in der Zeit als Existenz eines passiven Ichs; ich bin folglich als ein passives Ich bestimmt, das sich seine eigene Denktätigkeit notwendig als ein Anderes vorstellt, von dem es affiziert wird. Dies ist kein anderes Subjekt, vielmehr wird das Subjekt selbst ein anderes…« (WP 39)
Die inhaltliche Dimension dieses Beispiels verdeutlicht die spezifisch »deleuzianische« Signatur des Konzepts der Zeit, die Deleuze stets »in ihrer radikalen ›Andersheit‹ sich selbst gegenüber« konzipiert, d.h. als »Bedingung des Neuen« (Schaub 2003b, 121) begreift. Mehr noch verdeutlicht die »Mutation«, die das kartesianische Cogito durch den Beitrag Kants erfährt, aber Deleuzes und Guattaris generelles Verständnis des philosophischen Begriffs. Denn nicht nur wird der Begriff hier als Mannigfaltigkeit kenntlich, da er aus unterschiedlichen Komponenten besteht; auch zeigt sich, dass Begriffe nicht »zeitlos« oder universell gültig sind, sondern jeweils über eine Geschichte und ein Werden verfügen und somit grundsätzlich transformierbar sind. Darüber hinaus besitzen Begriffe keine eigentliche Referenz, sondern verweisen auf Probleme, für die sie mögliche Lösungen und Antworten liefern. Kants »Kritik« an Descartes bedeutet daher lediglich, dass er im Kontext einer anderen Epoche auf neuartige Probleme gestoßen ist, die keine kartesianischen mehr waren und für die Descartes’ Begriffe keine befriedigende Antwort mehr liefern konnten. Dementsprechend heißt es bei Deleuze und Guattari: »Kritisieren heißt bloß feststellen, daß ein Begriff erschöpft ist, seine Komponenten verliert oder neue hinzugewinnt, die ihn transformieren, wenn er in ein neues Milieu getaucht wird. Diejenigen aber, die kritisieren, ohne zu erschaffen, die sich mit der Verteidigung des Erschöpften begnügen, ohne daß sie ihm die Kräfte zu neuem Leben verleihen können: sie sind das Wundmal der Philosophie.« (WP 36) 4
In dem Text »Über vier Dichter-Sprüche, die die kantische Philosophie zusammenfassen könnten« (KP 7-17) werden Kants Überlegungen zum Verhältnis von Zeit und Subjektivität daher mit Rimbauds Spruch »Ich ist ein anderer« zusammengebracht.
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In diesem Sinne lehnen Deleuze und Guattari es auch ab, die Philosophie als fortgesetzte Diskussion oder »kommunikative Rationalität« zu begreifen. Einerseits nämlich verstehen sie auch die Kritik unter Philosophen nicht primär als »Kommunikation«, sofern sie zur Herstellung – d.h. »Konstruktion« – neuer Begriffe führt; und andererseits verhindern die unterschiedlichen »Bilder des Denkens«, dass sich ein kommunikativer Konsens herstellen lässt, da die Probleme nicht dieselben sind und nach jeweils anderen Antworten verlangen. »Die Diskussionen«, heißt es daher, »würden die Arbeit nicht voranbringen, da die Gesprächsteilnehmer niemals von derselben Sache sprechen«. Und sind die Probleme einmal ausgesprochen, dann »geht es nicht mehr ums Diskutieren, sondern darum, unbestreitbare Begriffe für das Problem zu erschaffen, dem man sich verschrieben hat« (WP 35-36).5
1.2 I MMANENZ UND T RANSZENDENZ Neben der Erschaffung von Begriffen kommt es laut Deleuze und Guattari in jeder Philosophie zur Errichtung einer Ebene, die einen Zusammenhalt zwischen den Begriffen herstellt und so dem Denken ein notwendiges Maß an Konsistenz verleiht. Diese Ebene begreifen die Autoren als »Immanenzebene« oder – wie es an anderer Stelle heißt – als »Bild des Denkens«, d.h. als »das Bild, das das Denken sich davon gibt, was denken, vom Denken Gebrauch machen, sich im Denken orientieren« bedeutet (WP 44). In der Philosophie eine Immanenzebene zu errichten, kann allerdings nicht heißen, Konsistenz im Sinne eines voraussetzungslosen »Anfangs« zu erreichen. Wenn Deleuze nämlich schreibt, dass es »keinen wahren Anfang in der Philosophie gibt, oder vielmehr, daß der wahre philosophische Anfang […] an sich selbst bereits Wiederholung ist« (DW 169), dann folgt daraus, dass sich jedes Denken immer schon auf einer Ebene bewegt, die es überhaupt ermöglicht – in dem Sinne etwa, dass z.B. die Antike über ein Bild des Denkens verfügt, das sich von dem des klassischen Zeitalters unterscheidet, welches wiederum ein anderes ist als das moderne. Trotzdem lässt sich nicht behaupten, dass etwa sämtliche antiken, klassischen oder modernen Philosophien jeweils über dasselbe Bild des Denkens verfügen. Denn zwar ist es durchaus möglich, »neue Begriffe« zu schaffen und »dennoch auf derselben Ebene« zu bleiben (in dem Falle etwa, dass man sich auf einen vorangehenden Philosophen »wie auf einen Meister« beruft: »Platon und die Neuplatoniker, Kant und die Neukantianer« usw.). Doch wird dies in der Regel »nicht ohne Verlängerung der ursprünglichen Ebene geschehen, indem sie derart mit neuen Krümmungen versehen wird, daß Zweifel besteht: Ist es nicht eine andere Ebene, die sich in die Maschen der ersten eingewoben hat?« (WP 66). Die Immanenzebene einer Philosophie ist somit kein diskreter, in sich abgeschlossener Bereich, sondern eine Zusammensetzung aus unterschiedlichen Teilen und Schichten mit stets variablen Verbindungselementen zu anderen Ebenen. Auch wenn sich das Bild des Denkens historisch auf scheinbar kon5
Diese Haltung richtet sich offensichtlich gegen Habermas und dessen Theorie des »kommunikativen Handelns«. Deleuze betont jedoch: »Habermas ist nicht der einzige, der die Philosophie auf die Kommunikation festnageln will […]. Wir sind nicht sicher, ob heute die Kommunikation einen guten Begriff, d.h. einen wirklich kritischen Begriff gefunden hat. Weder der ›Konsens‹ noch die ›Regeln eines demokratischen Gesprächs‹ nach Art von Rorty reichen aus, einen Begriff zu bilden« (SG 360).
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tinuierliche Weise verändert hat, können Deleuze und Guattari der Philosophie daher bescheinigen, dass sie eher über ein »Werden« als über eine »Geschichte« verfügt. So verläuft ihre Entwicklung nicht einfach nur stufenförmig, da längst vergangene Denkansätze ihre Zeit als Aktualisierungsmöglichkeiten für ein neues Denken oftmals überdauern: »Die philosophische Zeit ist somit eine grandiose Zeit von Koexistenz, die das Vorher und Nachher nicht ausschließt, sie aber in einer stratigraphischen Ordnung übereinanderschichtet […]. Die Philosophie ist Werden, nicht Geschichte; sie ist Koexistenz von Ebenen, nicht Abfolge von Systemen« (WP 68). Das Motiv der Immanenzebene wird in Was ist Philosophie? zudem auf ein Thema bezogen, dessen zentrale Bedeutung vor allem gegen Ende des Buches deutlich wird. Gemeint ist das Verhältnis von Chaos und Denken, das auf je spezifische Weise die Philosophie, die Kunst und die Wissenschaft betrifft. In der Philosophie eine Immanenzebene zu errichten, bedeutet in dieser Hinsicht auch, einen »Schnitt« durch das Chaos zu ziehen.6 Laut Deleuze und Guattari ist das Denken – und dies gilt für die Philosophie ebenso wie für Kunst und Wissenschaft – stets mit zwei Gegnern konfrontiert: dem Chaos und der Meinung. Würde sich das Denken in einfachen Propositionen und Meinungsäußerungen, d.h. der »fugenlose[n] Sicherheit« der doxa (Balke 1998, 84) erschöpfen, dann gäbe es seine kritische und kreative Kraft ebenso preis wie im entgegengesetzten Fall eines Abgleitens in das Chaos, wodurch ihm jegliche Konsistenz abhandenkäme. In diesem Sinne sind Deleuze und Guattari durchaus beim Wort zu nehmen, wenn sie schreiben: »Wir wollen doch nichts anderes als ein wenig Ordnung, um uns vor dem Chaos zu schützen. Nichts ist schmerzvoller, furchteinflößender als ein sich selbst entgleitendes Denken, als fliehende Gedanken, die, kaum in Ansätzen entworfen, schon wieder verschwinden« (WP 238). Zugleich weisen sie jedoch darauf hin, dass der Kampf gegen das Chaos »nicht ohne Affinität zum Gegner vonstatten geht« (241), insofern jedes Denken mit dem Anspruch, dem Chaos standzuhalten (ohne dabei zur bloßen Meinung zu werden), sich diesem notwendig aussetzen muss. Oder anders formuliert: »Es geht immer darum, das Chaos durch eine Schnittebene zu überwinden, die es durchquert« (240). Es wäre daher auch falsch, die Immanenzebene »fundationalistisch« als »ultimativen Grund« zu verstehen (Laclau 2002, 85). Wie Claire Colebrook erläutert, ist es vielmehr so, dass sich jedes Denken – also auch dasjenige der Anti-Fundationalisten – auf eine Immanenzebene bezieht, die der Philosophie als ihr vorphilosophisches Element, d.h. als ihr eigenes Außen immanent ist: »The plane of immanence, as thought by philosophy, is not the ground or foundation of life; the plane of immanence is the thought of that which produces any ground. In the case of the ›cogito‹ or subject, for example, which is produced as a ground, Deleuze and Guattari argue that 6
Hier ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Deleuze und Guattari das Chaos nicht als vollständige Abwesenheit von Ordnung begreifen, sondern vielmehr als »Überschuss« und »unendliche Geschwindigkeit«. In Bezug auf Ilya Prigogine und Isabelle Stengers heißt es in diesem Sinne: »Man definiert das Chaos weniger durch seine Unordnung als durch die unendliche Geschwindigkeit, mit der sich jede in ihm abzeichnende Form auflöst. Es ist ein Vakuum, das kein Nichts, sondern ein Virtuelles ist, alle möglichen Partikel enthält und alle möglichen Formen zeichnet, die auftauchen, um sogleich zu verschwinden, ohne Konsistenz oder Referenz, ohne Folge« (WP 135).
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there is a presupposed plane of immanence: relations of doubt, knowledge, certainty, matter and thinking. The plane of immanence is the outside or ›prephilosophical‹ element in any philosophy.« (Colebrook 2002a, 77)
Weshalb aber wird die Ebene in Was ist Philosophie? als Immanenzebene bezeichnet? Wie weiter oben bereits verdeutlicht wurde, orientieren sich die philosophischen Begriffe laut Deleuze und Guattari nicht an einem transzendenten Logos – dem platonischen »Ideenhimmel« (ZB 358) –, sondern entspringen den immanenten Bedingungen ihrer Erschaffung, d.h. den innerweltlichen Problemen, auf die sie antworten. Die Ebene wird somit als Immanenzebene bestimmt, da sie dem Denken keinen transzendenten Fluchtpunkt bietet, sondern vielmehr das Resultat eines immanenten »Selbstorganisationsprozesses« darstellt, wie sich mit Verweis auf das Vokabular der Komplexitätstheorie formulieren lässt.7 Insofern der Begriff der Immanenz zentral für das Verständnis von Deleuzes Philosophie und deren Transzendenzkritik ist, bietet es sich an, das Konzept an dieser Stelle etwas genauer zu diskutieren. Wie generell üblich wird der Immanenzbegriff auch in der Philosophie von Deleuze auf den Begriff der Transzendenz bezogen, dessen konzeptuelles Gegenstück er darstellt.8 James Williams hat das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz wie folgt beschrieben: »Are the privileged relations in a philosophy of the form of a relation ›to‹ something, or of a relation ›in‹ something? If it is ›to‹ then it is a philosophy of transcendence. If it is ›in‹ then it is immanence« (Williams 2005a, 126). Eine Transzendenz geltend zu machen, impliziert demnach eine Aufteilung der Welt in »niedere« und »höhere« Sphären, wobei der Wert eines jeden (materiellen oder immateriellen) Gegenstandes mit Blick auf dessen jeweiligen Bezug zu den als transzendent gesetzten höheren Werten bemessen wird. Die Formulierung »in relation to…« verweist in diesem Sinne auf den hierarchischen Charakter des Transzendenzbegriffs. Denn wird etwa der Geist als transzendenter Wert gesetzt, kommt es folglich zu einer Abwertung des Körpers oder von mit dem Körper assoziierten Tätigkeiten; fungiert Gott als oberster Wert, erfolgt die Qualifizierung des Menschen mit Blick auf dessen jeweiligen Bezug zu Gott, der Religion, dem Gesetz der Moral usw. Mit Nietzsche argumentiert Deleuze, dass es unter der Herrschaft der Transzendenz stets zu einer »Entwertung und Negation des Lebens im Namen höherer Werte« (NL 32) komme. Diese an Nietzsche orientierte Transzendenzkritik kann als Ausgangspunkt für Deleuzes Versuch der Entwicklung einer Philosophie gelten, die auf dem Kriterium der Immanenz beruht. 7
8
Vgl. hierzu etwa Bonta/Protevi 2004, 98: »[Deleuze and Guattari] maintain a commitment to immanence in their refusal of transcendence as a philosophical option, that is, in their commitment to explain the order and creativity of the world as the result of the self-ordering capacities of complex systems rather than crediting such order and creativity to an extra-worldly source (spirit, God, prime mover)«. Allerdings unterscheidet Deleuze das Transzendente wesentlich vom Transzendentalen. So heißt es etwa mit Verweis auf Sartres Konzept des »transzendentalen Feldes«, das Deleuze nahezu identisch zum Begriff der Immanenzebene verwendet: »Das Transzendente ist nicht das Transzendentale. Mangels Bewußtsein muß sich das transzendentale Feld als eine reine Immanenzebene definieren, da es sich jeder Transzendenz des Subjekts wie des Objekts entzieht« (IM 29).
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Zu einer ersten Ausarbeitung des Immanenzkonzeptes gelangt Deleuze während seiner Beschäftigung mit Spinoza, dem er in seiner Studie Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie (1968) eine »Philosophie der Immanenz« (S 149) attestiert.9 Zwar geht Spinoza von der Existenz Gottes als Ursache aller Dinge aus; als transzendente Gestalt wird Gott jedoch weitgehend entmachtet, da er im Rahmen von Spinozas Substanzphilosophie »pantheistisch«, d.h. »als die immanente und nicht als die äußere Ursache aller Dinge« verstanden wird (Spinoza 1977, 276). Im Zusammenhang hiermit steht die These von der »Univozität des Seins«, die gegen die im Thomismus, in der Scholastik und noch bei Descartes dominante Auffassung gerichtet ist, dass das Sein Gottes nicht in gleicher Weise ausgesagt werden könne wie das der nicht-göttlichen Geschöpfe. Bei Spinoza dagegen ist das »univoke Sein in seinem Begriff vollkommen bestimmt als das, was im einzigen und selben Sinn von der in sich seienden Substanz und von den in anderem seienden Modi ausgesagt wird«, so dass sich das ursprünglich auf Duns Scotus zurückgehende Konzept der Univozität mit der spinozistischen Idee der »immanenten Ursache« verbindet (S 61). Spinozas Philosophie impliziert somit eine »Gleichheit aller Seinsformen« (149) und schließt die Abtrennung einer transzendenten Sphäre aus. Die Tatsache, dass sich das Sein univok – d.h. durch eine Stimme – aussagt, bedeutet dabei laut Deleuze keine Absage an das Viele und die Differenz, was er in Differenz und Wiederholung folgendermaßen erläutert: »Das Sein sagt sich in ein und derselben Bedeutung von all dem aus, wovon es sich aussagt, das aber, wovon es sich aussagt, differiert: Es sagt sich von der Differenz selbst aus« (DW 59).10 Die spinozistische Immanenz des Seins wird von Deleuze folglich nicht als statisch oder bewegungslos begriffen, sondern als virtuelle Einheit alles Differierenden und Werdenden, was Giorgio Agamben mit dem Hinweis unterstreicht, Deleuzes Immanenzbegriff leite sich etymologisch eher von »manare (fließen, strömen)« denn von »manere (bleiben, verharren)« ab (Agamben 1998, 94). Entsprechend lässt sich argumentieren, dass Deleuze auch dort, wo er den Begriff des Seins verwendet, in erster Linie das Werden im Sinn hat und die traditionelle Vorstellung einer Ontologie des Seins durch die Konzeption einer immanenten Ontologie des Werdens ersetzt.11 Nun weist die Vorstellung, nach der die Immanenz weniger mit Statik als mit Bewegung assoziiert ist, noch einen weiteren Aspekt auf, der für das Verständnis von Deleuzes Immanenzkonzept ebenfalls relevant ist. Denn Deleuze geht nicht nur von der Immanenz als Bewegung aus, sondern zugleich auch von der Bewegung als Im9
In den letzten Jahrzehnten haben sich neben Deleuze auch eine Reihe anderer französischer Intellektueller ausführlich mit Spinoza befasst. Vgl. hierzu den von Warren Montag und Ted Stolze herausgegebenen Sammelband The New Spinoza (Montag/Stolze [Hg.] 1997), in dem u.a. Texte von Deleuze, Althusser und Luce Irigaray enthalten sind. 10 Dementsprechend heißt es in der berühmten Schlusspassage von Differenz und Wiederholung: »Ein und dieselbe Stimme für all das Viele, das tausend Wege kennt, ein und derselbe Ozean für alle Tropfen, ein einziges Gebrüll des Seins für alle Seienden« (DW 377). 11 Ähnlich argumentiert auch Michaela Ott, wenn sie erläutert, Deleuze würde »die Ontologie des Seins in eine des Werdens und des Sinns« überführen: »[Deleuzes] Denken erscheint mithin nicht nur von dem Impuls getrieben, mit Heidegger das Sein als sich zeitigendes zu entfalten, sondern der Zeitigung selbst zeitliche und logische Priorität zuzuerkennen. Vor dem Werden ist logischerweise nichts« (Ott 2005a, 10).
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manenz. Um bei der eingangs erwähnten Definition von James Williams zu bleiben, lässt sich festhalten, dass Bewegung von Deleuze zumeist als nicht-finalistischer Prozess verstanden wird, der auf immanente Weise, d.h. weniger »in relation to« als »in relation in«, zu beurteilen ist: »Die Prozesse sind Werden, und diese lassen sich nicht nach dem Resultat beurteilen, das sie beendet, sondern nur nach der Qualität ihres Verlaufs und der Stärke ihres Fortgangs« (U 213). Diese Absage an jede Form von Teleologie wird auch von Friedrich Balke betont, wenn er das Sein in der Konzeption von Deleuze als »reine Immanenzebene« beschreibt, »auf der sich die Dinge bewegen, ohne einen vorgegebenen Plan zu verfolgen oder ein bestimmtes Ziel anzustreben« (Balke 1998, 49). Gleichwohl ist es nicht so, dass Deleuze jeglichem telos seine Realität abspricht; nur geht er davon aus, dass Ziele – und dasselbe ließe sich über die Transzendenz im Allgemeinen sagen – niemals vorgegeben sind, sondern stets auf immanente Weise produziert werden, also ausgehend von einer Immanenzebene entstehen. Dies betont auch Marc Rölli, wenn er Deleuzes Verständnis des Verhältnisses von Immanenz und Transzendenz wie folgt beschreibt: »Sämtliche Transzendenzen enthüllt Deleuze als Produkte der Immanenz« (Rölli 2003, 47). Wenn somit quasi alles als Produkt der Immanenz erscheint, dann resultiert daraus ferner, dass Einheiten, Kategorien, Formen, Subjekte, Identitäten oder Rationalitäten nicht »immer schon« gegeben sind, sondern von Rechts wegen nur prozessual – d.h. als »Prozesse der Vereinheitlichung, der Subjektivierung, der Rationalisierung« (U 212) usw. – bestimmt werden können. Auch das konstituierte Subjekt ist in dieser Hinsicht nicht privilegiert: Es steht nicht außerhalb der Immanenz, sondern beruht (wie noch gezeigt werden wird) auf »passiven Synthesen«, die ihm vorausgehen und seine »Identität« zuallererst möglich machen. Daraus folgt, dass auch das subjektive Bewusstsein der Welt nicht äußerlich ist, denn de facto nimmt das Subjekt die Welt nicht »von außerhalb« wahr, sondern verkörpert eine Perspektive der Welt selbst, die mit einer Vielzahl von anderen Perspektiven in der Immanenz verschaltet ist.12 Deleuze geht es hierbei jedoch nicht nur darum, die intersubjektive Abhängigkeit des konstituierten Subjekts von anderen Subjekten hervorzuheben; vielmehr fordert er den Leser dazu auf, noch weiter über den Tellerrand hinauszuschauen und die Welt auf wesentlich umfassendere Weise als »dezentriert« zu begreifen, so dass auch jeder Anthropozentrismus kategorisch ausgeschlossen wird. Dass das Konzept der Immanenz somit prinzipiell die Gleichrangigkeit, Koexistenz und wechselseitige Abhängigkeit von unterschiedlichen (menschlichen und nicht-menschlichen) Lebensformen impliziert, ist ein maßgeblicher Grund dafür, dass Deleuzes Philosophie heute zunehmend auch im Kontext des Posthumanismus und in Ansätzen wie dem »Ecocriticism« oder den »Animal Studies« rezipiert wird (vgl. etwa Herzogenrath [Hg.] 2008, Herzogenrath [Hg.] 2009, Wolfe 2003 und Parikka 2010). Der Immanenzbegriff und Deleuzes kategorische Ablehnung transzendenter Werte verweisen mithin auf die Möglichkeit einer alternativen Ethik, die weder als trans12 Ginge man stattdessen davon aus, dass die Welt dem Bewusstsein immanent wäre, dann würde das Bewusstsein oder die Syntheseleistung des Subjekts als neuerliche Transzendenz fungieren. In dem Text »Die Immanenz: ein Leben…« spricht Deleuze daher von der absoluten Immanenz, die jede Transzendenz ausschließt und lediglich sich selbst immanent ist: »Sie ist nicht in etwas, nicht einer Sache immanent, sie hängt von keinem Objekt ab und gehört zu keinem Subjekt« (IM 30).
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zendente Moral noch als Glaube an eine »andere Welt« zu verstehen ist, sondern vielmehr einen Glauben »an diese Welt« (WP 85) – in ihrer immanenten Transformationsfähigkeit – impliziert.13 Ansätze einer derartigen »Ethik der Immanenz« sieht Deleuze in der Ethik Spinozas, die er nicht als Moral begreift, da sie auf keine moralische Entgegensetzung von »gut« und »böse« rekurriert (vgl. PP 27-41). Stattdessen nimmt Spinoza eine immanente Differenzierung »guter« und »schlechter« Relationen vor, wobei das Leben nicht anhand von transzendenten Werten und Gesetzen, sondern mit Blick auf die Qualität konkreter Affektionen und deren Einfluss auf das Tätigkeitsvermögen des Körpers beurteilt wird. Im spinozistischen Sinne als »gut« gelten Affektionen, die das Tätigkeitsvermögen aktivieren und die Bildung adäquater Ideen fördern, während trübsinnige Leidenschaften, die den Körper von seinem Tätigkeitsvermögen trennen und die Aktivität des Denkens hemmen, als »schlecht« gelten.14 »Man sieht also«, schreibt Deleuze, »wie die Ethik, d.h. eine Typologie immanenter Existenzweisen, die Moral ersetzt, die die Existenz immer mit transzendenten Werten verknüpft. Die Moral ist das Gottes-Urteil, das Urteils-System« (PP 34). Ein besonderes Verdienst von Spinozas Ethik besteht für Deleuze folglich in der Umkehrung des Urteilssystems: An die Stelle der moralischen Werte (»gut-böse«) rückt der qualitative Unterschied der Existenzweisen (»gut-schlecht«), was Spinoza offenkundig mit Nietzsche verbindet, in dessen Genealogie der Moral es heißt: »›Jenseits von Gut und Böse‹… Dies heißt zum mindesten nicht ›Jenseits von Gut und Schlecht‹« (Nietzsche 1994, Band II, 797).15 Die Überlegungen von Spinoza und Nietzsche dienen Deleuze in seinem Frühwerk somit nicht zuletzt dazu, eine philosophische Kritik am Status transzendenter Werte zu formulieren, die gleichwohl nicht als Abkehr von der Praxis politischer Differenzierung zu verstehen ist. Im Gegenteil: Sofern die Ethik nämlich »über Affekte, Verhaltensweisen und Absichten [urteilt], indem sie diese nicht auf transzendente Werte bezieht, sondern auf Existenzweisen, die sie voraussetzen oder implizieren« (S 238), ließe sich mit Bezug auf Spinoza (und Nietzsche) eine noch deutlich umfassendere politische Kritik vornehmen, da Normen und Werte nun nicht mehr vorausgesetzt würden, sondern auf die immanenten Bedingungen ihrer Erschaffung zurückbezogen werden müssten. Zugleich bringt die Ersetzung der moralischen durch eine (im spinozistischen Sinne) ethische Qualifizierung jedoch auch eine Reihe neuer Pro13 Das Problem des Glaubens an diese und keine »andere Welt« (ZB 222) ist auch Gegenstand eines längeren Passus in Das Zeit-Bild, in dem Deleuze das Verhältnis des Glaubens zum Kino analysiert: »Wir müssen an den Körper glauben, jedoch im Sinne eines Lebenskeims, eines Samenkorns, […] das für das Leben in dieser Welt, so wie sie ist, zeugt« (226). 14 Vgl. Spinoza 2007 (IV. Teil, 8. Lehrsatz, Beweis), 395: »Wir nennen gut oder schlecht, [...] was unsere Wirkungsmacht vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt«. 15 Vgl. auch S 223-224: »Die moralische Entgegensetzung von Gut und Böse verschwindet, aber dieses Verschwinden macht nicht alle Dinge gleich, auch nicht alle Seienden. Wie Nietzsche sagen wird, ›Jenseits von Gut und Böse…dies heißt zum Mindesten nicht Jenseits von Gut und Schlecht‹. Es gibt Vergrößerungen des Tätigkeitsvermögens und Verminderungen des Tätigkeitsvermögens. Die Unterscheidung des Guten und Schlechten wird einer wahrhaft ethischen Differenz zum Prinzip dienen, welche die falsche moralische Entgegensetzung ersetzen wird«.
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bleme mit sich, die Deleuze erst in einer späteren Phase seiner Philosophie genauer thematisieren wird. So sind z.B. auf der Grundlage der immanenten Existenzweisen auch »gute« Affektionen (die zu einer Steigerung des Tätigkeitsvermögens führen) denkbar, welche – mit Blick auf ihre politischen Implikationen – gleichwohl nicht uneingeschränkt zu bejahen sind. Wie Deleuze und Guattari im Anti-Ödipus erläutern werden, basiert die Ausübung politischer Herrschaft weniger auf transzendenten Werten, Normen oder Ideologien als auf der Fähigkeit zur immanenten Steuerung, Vereinnahmung und Anreizung des Begehrens im Sinne einer politischen »Affektmodulation« (vgl. Massumi 2010). Obwohl Angst – und dementsprechend die politisch kalkulierte Hemmung des Tätigkeitsvermögens (vgl. Massumi [Hg.] 1993) – in dieser Hinsicht eine wesentliche Rolle spielt, lassen sich auch vielfältige Beispiele einer »positiven« Affizierung aufzeigen, deren politische Konsequenzen nicht minder problematisch sind. Während Deleuze diesen Aspekt besonders in seiner gemeinsamen Arbeit mit Guattari thematisieren wird (und zwar nicht nur im Anti-Ödipus, sondern auch in den Tausend Plateaus16), ist der Fokus in seinem philosophiegeschichtlich ausgerichteten Frühwerk noch ein anderer. Insofern Nietzsche hier eine sicherlich ebenso wichtige Rolle spielt wie Spinoza, sollen nun auch die nietzscheanischen Aspekte von Deleuzes Philosophie genauer in den Blick genommen werden.
1.3 N IETZSCHE UND DIE P HILOSOPHIE : E IN NEUES B ILD DES D ENKENS Der Einfluss der Philosophie Nietzsches auf das Denken von Deleuze ist in nahezu allen seiner Werke präsent. Am systematischsten hat Deleuze sich Nietzsche jedoch in seiner Monographie von 1962 (NP) gewidmet, bei der es sich – nach der Studie über den Empirismus David Humes (DH) – erst um seine zweite Buchveröffentlichung handelt. Das Werk erscheint zu einer Zeit, in der sich Autoren wie Maurice Blanchot, Georges Bataille oder Pierre Klossowski in Frankreich bereits darum bemüht haben, das vorherrschende Nietzschebild einer Revision zu unterziehen und Nietzsche gegen den Vorwurf zu verteidigen, Vorreiter der Naziideologie gewesen zu sein. Das Buch von Deleuze aber stellt den ersten rein philosophischen Versuch in diesem Kontext dar und hat einen beträchtlichen Einfluss auf die weitere Rezeption Nietzsches in Frankreich – etwa durch Denker wie Jacques Derrida, Michel Foucault oder Jean-Luc Nancy – ausgeübt.17 Von Interesse ist das Buch jedoch nicht allein in Bezug auf Nietzsche, sondern vor allem mit Blick auf Deleuze, da einige der wichtigsten Themen seiner Philosophie hier bereits zum Ausdruck kommen. Was die Studie von den anderen philosophiehistorischen Büchern aus Deleuzes Frühwerk unterscheidet, ist ihr teils äußerst polemischer Tonfall, der auf eine schier
16 So richten sich Deleuze und Guattari z.B. gegen eine allzu unqualifizierte Affirmation der »Fluchtlinie«, indem sie deren mögliche Mutation »in eine reine Zerstörungs- und Vernichtungslinie« (TP 314) thematisieren. Dieser Punkt wird – neben den Implikationen der erwähnten »Affektpolitik« – noch genauer im Kapitel über Moby-Dick behandelt, wo er Gegenstand einer konkreteren Analyse ist (vgl. Teil II, Kap. 1.3). 17 Zur Nietzsche-Rezeption in Frankreich, vgl. Le Rider 1997, Hamacher (Hg.) 2003 und Pornschlegel/Stingelin (Hg.) 2009.
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ungebrochene Parteinahme für Nietzsche verweist und die Absicht zu erkennen gibt, diesen gegenüber den Vorwürfen seiner Gegner zu rehabilitieren. So nimmt Deleuze Nietzsche u.a. gegen den Vorwurf der Judenfeindschaft in Schutz, indem er auf mehrere Textstellen verweist, in denen dieser sich deutlich vom Antisemitismus distanziert (vgl. NP 138-139). In der Zusammenfassung des Buches warnt Deleuze zudem vor falschen Allianzen, indem er jeden Kompromiss zwischen Hegel und Nietzsche kategorisch ausschließt und sich gegen mögliche Vermengungen von Nietzscheanismus, Husserlianismus und Hegelianismus wendet (vgl. 210).18 Derjenige Nietzsche jedoch, den Deleuze vor der illegitimen Vereinnahmung Anderer zu schützen meint, stellt sich zugleich als Produkt einer wesentlich »heterogenetischen« Lektüre dar (Ott 2005a, 19), die charakteristisch für die Art und Weise ist, in der Deleuze in seinen philosophiehistorischen Arbeiten generell verfährt.19 Nietzsche und die Philosophie ist hinsichtlich der Entwicklung von Deleuzes Denken zudem deshalb relevant, weil das Buch ihm – wenigstens vorläufig – auch dazu dient, seinen eigenen philosophischen Standort zu bestimmen. Bei der Studie handelt es sich somit nicht allein um eine Auseinandersetzung mit Nietzsche, sondern zugleich auch um eine Konfrontation mit dessen Gegnern, die unschwer als Deleuzes eigene philosophische Kontrahenten erkennbar sind. So werden als Gegner Nietzsches im Laufe des Buches u.a. Platon und Sokrates, Hegel und Schopenhauer, das Christentum und Kant genannt, wobei der Fall des Letzteren auch deshalb interessant ist, weil Deleuze Nietzsche »eine kantische Abstammung« und »eine halb 18 Zu den konstantesten Merkmalen der Philosophie von Deleuze gehört die kategorische Ablehnung Hegels, der – vermittelt über Autoren wie Kojève oder Hyppolite – in der französischen Nachkriegsphilosophie äußerst populär war. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Vorbehalte gegen Deleuze heute besonders von denjenigen Autoren geäußert werden, die selbst von Hegel beeinflusst sind. Siehe hierzu etwa Slavoj Žižeks Einwand gegen Deleuzes »reductionist misreading of Hegel« (Žižek 2004, 70) oder Judith Butlers von Hegel inspirierte Kritik an Deleuzes Theorie des Begehrens (Butler 1987, 205-217). Zu Deleuzes Antihegelianismus und seiner Entwicklung einer dezidiert nicht-dialektischen Ontologie, die sich vor allem auf die Ansätze von Bergson, Spinoza und Nietzsche stützt, vgl. Hardt 1993. 19 Zu Deleuzes philosophiegeschichtlicher Methode, vgl. U 15: »Ich stellte mir vor, einen Autor von hinten zu nehmen und ihm ein Kind zu machen, das seines, aber trotzdem monströs wäre. Daß es wirklich seins war, ist sehr wichtig, denn der Autor mußte tatsächlich all das sagen, was ich ihn sagen ließ. Aber daß das Kind monströs war, war ebenfalls notwendig, denn man mußte durch alle Arten von Dezentrierungen, Verschiebungen, Brüchen, versteckten Äußerungen hindurchgehen«. Obwohl Deleuze explizit erklärt hat, dass sein Buch über Nietzsche eine Ausnahme darstellt – da es unmöglich sei, auch Nietzsche »einer solchen Behandlung zu unterziehen« (16) –, gilt auch hier, was Friedrich Balke und Joseph Vogl generell über Deleuzes philosophiehistorische Arbeiten bemerkt haben: »So hat Deleuze in seinen großen Monographien nicht über Spinoza und Leibniz, nicht wie Nietzsche und Foucault geschrieben, er hat vielmehr mit ihnen und in ihnen geschrieben, und das in einem ganz spezifischen Sinn. Weder Kommentar noch Interpretation, inszenieren die Texte von Deleuze vielmehr Begegnungen, Zusammentreffen und Konjunktionen, die zugleich Verfremdungen sind und die innere Einheit der Modelle und Denksysteme aufbrechen« (Balke/Vogl 1996, 8).
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zugestandene, halb verborgene Rivalität gegenüber dem Kantianismus« (NP 58) bescheinigt. Grundsätzlich schätzt Deleuze Kant zwar für dessen Projekt einer immanent verfahrenden Vernunftkritik, beanstandet zugleich aber die »Diskrepanz zwischen dem Projekt und den Resultaten« (98), da er Kants Kritik mit einer Reihe von Voraussetzungen operieren sieht, die selbst nicht Gegenstand der Kritik sind. Hierzu erläutert Michaela Ott: »Kant habe zwar die philosophische Aufgabe einer Autokritik des Denkens beispielhaft in Angriff genommen, das Projekt der Vernunftkritik letztlich aber verraten, da er durch die Hintertür unkritische Annahmen wieder eingeführt habe, wie den guten Willen […] zum Denken, den Gemeinsinn […] als Voraussetzung intersubjektiver Urteilsbildung, die Achtung vor dem Sittengesetz, eine ›Zweckmäßigkeit‹ der Natur und den Menschen als ›Endzweck‹ und Existenzgrund der Vernunft. ›Nicht kritisch‹ lautet Deleuzes abschließendes Urteil über das kritische Projekt Kants angesichts dieser zahlreichen Voraussetzungen.« (Ott 2005a, 52)
Insofern Nietzsche die metaphysischen Voraussetzungen Kants nicht mehr gelten lässt, fungiert er Deleuze zufolge als diejenige philosophische Instanz, der historisch die Aufgabe zugekommen ist, Kants kritisches Projekt zu vollenden. Denn während Kant zwar den illegitimen Gebrauch der Vermögen sowie die »Anmaßungen der Erkenntnis und der Wahrheit« (NP 98) anprangert, zielt seine Kritik niemals auf Erkenntnis, Wahrheit oder Moral an sich, so dass jene Ideale letztlich auf der Basis einer höheren Wahrheit gerechtfertigt werden: »Die wahre Erkenntnis, die wahre Moral, die wahre Religion« (98). Nietzsche hingegen verfährt Deleuze zufolge »genealogisch« – so z.B. in seiner Genealogie der Moral –, indem er auch die Werte als solche zum Gegenstand der Kritik macht und den »Wert der Werte« (5), d.h. den Ort ihrer Erschaffung problematisiert. Anstatt zu fragen, ob ein Sachverhalt wahr sei oder nicht und ob derjenige, der die Wahrheit beansprucht, dieses auf rechtmäßige Weise tue, fragt Nietzsche nach dem Motiv und dem Willen, der die Wahrheit als Wert ins Recht setzt. Anders formuliert: Nicht mehr die Wahrheit der Werte, sondern der Wert der Wahrheit rückt mit Nietzsche ins Zentrum des philosophischen Interesses. Insofern Nietzsche also nicht von der guten Natur des Denkens als unhintergehbarem Wahrheitswillen ausgeht, sieht ihn Deleuze ein neues Bild des Denkens vertreten, welches das auf der Wahrheitsdoktrin, der Rekognition und dem Gemeinsinn beruhende »dogmatische Bild des Denkens« (113) ablöst.20 Dieses neue Bild des Denkens zeichnet sich Deleuze zufolge zunächst durch eine andere Vorstellung von der philosophischen Praxis aus. Insofern Nietzsche nämlich 20 Vgl. hierzu auch DW 172: »In diesem Sinne ist die implizite Voraussetzung des philosophischen Begriffsdenkens ein vorphilosophisches und naturwüchsiges Bild des Denkens, das dem reinen Element des Gemeinsinns entlehnt ist. Diesem Bild zufolge ist das Denken dem Wahren zugeneigt, besitzt es das Wahre in formaler Hinsicht und will das Wahre in materieller Hinsicht. Und nach diesem Bild weiß jeder, sollte jeder wissen, was denken bedeutet. Es ist dann nicht sonderlich wichtig, ob die Philosophie mit dem Objekt oder mit dem Subjekt, mit dem Sein oder dem Seienden beginnt, solange das Denken diesem Bild unterworfen bleibt, das bereits alles, sowohl die Aufteilung von Subjekt und Objekt wie die von Sein und Seiendem, präjudiziert. Dieses Bild des Denkens können wir dogmatisches oder orthodoxes Bild, moralisches Bild nennen«.
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das Denken nicht primär in Bezug auf die Wahrheit beurteilt, propagiert er zugleich ein neues Selbstverständnis des Philosophen, der sich nicht länger als »Weisen« oder Inhaber der Wahrheit versteht, sondern als unzeitgemäßen Kritiker seiner Zeit, um – wie es zu Beginn der Unzeitgemäßen Betrachtungen heißt – »gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit« zu wirken (NP 118). Als Gegner des Philosophen fungiert laut Nietzsche nun nicht mehr die Unwahrheit, sondern zuallererst die Dummheit, der es »Schaden zuzufügen« gilt (116). Nietzsches neues Bild des Denkens lässt sich somit auch dadurch charakterisieren, dass traditionelle Kategorien wie der Wahrheitsbegriff oder die Vorstellung von der »guten Natur des Denkens« durch die Begriffe von Sinn und Wert ersetzt werden. Hierzu bemerkt Deleuze: »Alles hängt vom Sinn und Wert dessen ab, was wir denken. Stets haben wir nur die Wahrheiten, die wir, in Funktion vom Sinn dessen, was wir begreifen, und vom Wert dessen, was wir glauben, tatsächlich auch verdienen. […] Die Wahrheit eines Denkens muß gemäß den Kräften, die es – und zwar dieses eher als jenes – zu denken determinieren, interpretiert und in seinem Wert geschätzt werden. Spricht man uns von der Wahrheit ›schlechthin‹, vom Wahren, wie es an sich, für sich oder gar für uns ist, dann haben wir zu fragen, welche Kräfte sich in dieser Wahrheit verstecken, also welcher Sinn und welcher Wert ihr zukomme.« (114)
Ganz zu Anfang der Studie hat Deleuze bereits darauf hingewiesen, dass die nietzscheanische Vorstellung von Sinn und Wert von gegenläufigen Konzeptionen unterschieden werden muss, da Nietzsche nicht von ewigen Werten oder einem einzigen – richtigen – Sinn ausgeht, sondern den »pluralistischen« Charakter von Sinn und Wert betont. Dieser Pluralismus impliziert jedoch keine Beliebigkeit, da jeder Sinn und jeder Wert bei Nietzsche stets in Abhängigkeit vom jeweils vorhandenen Kräfteverhältnis existiert. Genauer gesagt: »Einem Ding kommen so viele Sinne zu, wie Kräfte fähig sind, sich seiner zu bemächtigen« (NP 9). An eben dieser Stelle wird auch Nietzsches Ablehnung des Positivismus deutlich. Denn anders als die Positivisten, die sich auf die Erforschung vermeintlich beweisbarer »Tatsachen« beschränken, konzentriert sich Nietzsche auf das Zusammenspiel der sinn- und wertproduzierenden Kräfte, die jene Tatsachen überhaupt erst als solche konstituieren.21 Insofern sich hinter jedem Ding ein Wille oder eine Kraft verbirgt, die jenes zuallererst möglich macht, bestreitet Nietzsche auch die Existenz eines »Dinges an sich«, das noch in der Philosophie Kants eine wesentliche Rolle spielt.
21 Vgl. etwa Nietzsche 1994, Band III, 903: »Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehn bleibt ›es gibt nur Tatsachen‹, würde ich sagen: nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Faktum ›an sich‹ feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. [...] Soweit überhaupt das Wort ›Erkenntnis‹ Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne. – ›Perspektivismus‹«. Siehe hierzu auch Marks 1998, 76: »[Deleuze] finds in Nietzsche [...] a subtle perspectivism which is not relativism. Relativism – the idea that everyone has their own point of view [...] – is an impoverished form of perspectivism. Perspectivism does not mean that truth is relative to a subject, but rather constitutes a ›truth of the relative‹«.
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Der Begriff der Kraft ist nicht nur bei Nietzsche, sondern auch für die Philosophie von Deleuze von zentraler Bedeutung. Zwar legt Deleuze nirgends eine systematische Theorie der Kräfte vor oder definiert diese auf eindeutige Weise; dennoch kommt er in vielen seiner Bücher auf den Begriff der Kraft zurück, der ihm eine Konzeption der Realität ermöglicht, die auf radikale Weise als verzeitlicht zu denken ist.22 Im Gegensatz zum klassischen Denken der Repräsentation betont der Begriff der Kraft demnach die Werdens- und Transformationsfähigkeit der Dinge, die den Kräften ontologisch nicht vorausgehen, sondern vielmehr von diesen erst konstituiert werden.23 Auch wenn in diesem Kontext eine Reihe unterschiedlicher Einflüsse eine Rolle spielen, ist davon auszugehen, dass Deleuzes Begriff der Kraft maßgeblich von Nietzsche und dessen Konzeption der Welt als Zusammensetzung mannigfaltiger und widerstreitender Kräfte beeinflusst ist.24 Kraft meint hier grundsätzlich jedes Vermögen mit der Kapazität, einen produktiven Effekt, einen Wandel oder ein Werden hervorzurufen – unabhängig davon, ob es sich um Naturkräfte, Ideen, Affekte, Kunstwerke oder Befehle handelt. Kräfte wirken zudem fortwährend auf andere Kräfte, so dass sich jede Kraft stets in einem permanenten Werdens- und Behauptungsprozess befindet, im Zuge dessen sie ihre Richtung ändern oder auch verenden kann. Die Aufgabe der Theorie wäre es somit, Sachverhalte und Ereignisse mit Blick auf das in ihnen wirkende Verhältnis von Kräften zu untersuchen, weshalb Deleuze selten einen Sachverhalt isoliert betrachtet, sondern stattdessen den Kraftlinien und ihren wechselseitigen Beziehungen folgt, was ein radikal pluralistisches bzw. »rhizomatisches« Verfahren impliziert: »Ich habe die Tendenz, die Dinge als LinienMengen zu denken, die zu entwirren, aber auch zu zerschneiden sind. Ich liebe die Punkte nicht […]. Die Linie ist nicht die Verbindung zwischen zwei Punkten, sondern der Punkt ist der Kreuzungspunkt mehrerer Linien« (U 233). Die Linien verweisen demnach nicht auf »das Wesen«, sondern auf »die Umstände einer Sache« (41) und somit auf das Zusammenspiel der Kräfte, durch die ein Sachverhalt ermöglicht worden ist. Die nietzscheanische Tendenz, Kultur und Gesellschaft nicht im klassischen Sinne metaphysisch, sondern geradezu physisch, d.h. hinsichtlich des jeweils 22 Vgl. in diesem Kontext etwa das achte Kapitel der Studie über Francis Bacon (»Die Kräfte malen«), in dem es u.a. zu einer Entgegensetzung der Begriffe »Kraft« und »Form« kommt (FB 39-43). 23 Konträr zu Ansätzen wie Graham Harmans »Object-Oriented Ontology« (siehe Harman 2002, 2009 und 2011), stellt sich Deleuzes Denken somit weniger als Philosophie der Dinge denn als Philosophie des Ereignisses dar. Vgl. etwa U 232: »Es stimmt, ich habe meine Zeit damit zugebracht, über diesen Begriff des Ereignisses zu schreiben, denn ich glaube nicht an die Dinge«. In dieser Hinsicht ergeben sich eine Reihe von Überschneidungen zur Philosophie Whiteheads, der die Begriffe actual entity und actual occasion weitgehend synonym verwendet und die übliche Trennung zwischen Dingen und Ereignissen mithin in Frage stellt. Siehe hierzu auch das Kapitel »Was ist ein Ereignis?« in Deleuzes LeibnizStudie (LB 126-136). 24 Vgl. Bogue 1989, 20: »According to Nietzsche, ours is a world of becoming, of constant flux and change in which no entities preserve a stable identity. In such a world ›no things remain but only dynamic quanta, in a relation of tension to all other dynamic quanta‹. Nature, then, is an interrelated multiplicity of forces, and all forces are either dominant or dominated«. (Der mitzitierte Textabschnitt stammt aus Nietzsches Wille zur Macht.)
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wirkenden Verhältnisses von Kräften zu analysieren, teilt Deleuze mit Foucault und dessen »Mikrophysik der Macht« (vgl. Foucault 1976). Was Deleuzes Machtbegriff allerdings von demjenigen Foucaults unterscheidet, ist die Tatsache, dass er ihn deutlicher als dieser hinsichtlich zwei verschiedener Aspekte differenziert. So begreift Deleuze Macht einerseits als »Vermögen zu« (puissance) und andererseits als »Herrschaft über« (pouvoir).25 Mit der Unterscheidung zwischen aktiven und reaktiven Kräften kommt es bereits in der Nietzsche-Studie zu einer ähnlichen Differenzierung, die im Folgenden – auch mit Blick auf Deleuzes Verständnis des »Willens zur Macht« – genauer erläutert werden soll. Anders als die meisten Kommentatoren Nietzsches versteht Deleuze dessen Konzeption des Willens zur Macht nicht als anthropomorphen Wunsch nach Herrschaft oder Macht im Sinne der geltenden Werte, sondern als schöpferisches Prinzip zur Hervorbringung neuer Werte: »Der Wille zur Macht ist derart wesentlich schaffend und schenkend: Er strebt nicht, er sucht nicht, er begehrt nicht, vor allem begehrt er nicht die Macht. Er gibt: […] die Macht ist gleichsam die ›schenkende Tugend‹ im Willen; durch die Macht ist der Wille selbst sinn- und wertschenkend« (NP 94). Nicht Herrschsucht ist somit der Antrieb des Willens zur Macht, sondern der schöpferische Wille nach Veränderung und Hervorbringung des Neuen. In Deleuzes Lesart des Willens zur Macht ist die Macht demnach nicht das, was der Wille will; vielmehr ist sie dasjenige Element, was im Willen will. Diese Konzeption korrespondiert wesentlich mit Deleuzes Repräsentationskritik, was nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie in Nietzsche und die Philosophie grundsätzlich von der Hegelschen Herr/Knecht-Dialektik abgegrenzt wird. Denn entgegen der Auffassung Hegels geht es dem Willen zur Macht laut Deleuze nicht darum, zu repräsentieren oder anerkannt zu werden, da dies stets »das Vorhandensein etablierter Werte« voraussetze, auf deren »Beimessung« der Wille folglich abzielen würde: »Als Wille, sich anerkennen zu lassen, ist der Wille zur Macht notwendig ein solcher, der die in einer jeweiligen Gesellschaft herrschenden Werte sich zuweisen läßt (Geld, Ehren, Herrschaft, Ansehen…)« (90). Hierdurch aber würde der »Herr« de facto zum »Knecht« der existierenden Werte und Normen werden, weshalb Deleuze in der traditionellen Konzeption des Herren nichts anderes als einen »siegreichen Sklaven« (89) im Dienste der Re25 Deleuzes Unterscheidung zwischen puissance und pouvoir kommt in den Übersetzungen seiner Texte z.T. nur unzureichend zur Geltung, da beide Begriffe im Deutschen häufig als »Macht« (bzw. im Englischen als »power«) übersetzt werden. Nichtsdestotrotz ist die Unterscheidung – die weitgehend der spinozistischen Differenzierung von potentia und potestas entspricht – wesentlich. In dem mehrstündigen Fernsehinterview L’Abécédaire de Gilles Deleuze (von dem Charles Stivale im Internet eine Mitschrift verfügbar gemacht hat) äußert sich Deleuze am Beispiel von Spinozas Konzept der Freude (»J as in Joy«) folgendermaßen zu der Unterscheidung: »In Spinoza […] joy is everything that consists in fulfilling a force […]. It’s the word ›force‹ that is ambiguous. Deleuze asks first, what about the opposite, what is sadness? It occurs when one is separated from a force of which I believed myself, rightly or wrongly, to be capable: I could have done that, but circumstances didn’t allow, or it was forbidden, etc. All sadness is the effect of power over me […]. Deleuze continues by suggesting that the confusion between force and powers is quite costly because power always separates people who are subjected to it from what they are able to do« (Stivale 2011).
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präsentation des Status quo sieht.26 In seinem Nietzsche-Lesebuch macht Deleuze entsprechend deutlich: »Wenn man den Willen zur Macht im Sinne eines ›Wunsches zu herrschen‹ interpretiert, macht man ihn gewaltsam von den etablierten Werten abhängig und befähigt ihn allein, das zu determinieren, was in diesem oder jenem Fall, in diesem oder jenem Konflikt als mächtigste Kraft ›anerkannt‹ werden soll. Dadurch verkennt man die Natur des Willens zur Macht als formendes Prinzip aller unserer Wertschätzungen und als verdecktes Prinzip der Schaffung neuer, nicht schon anerkannter Werte.« (NL 26)27
Wie aber versteht Deleuze nun das Verhältnis des Willens zur Macht zu den Kräften, die in Nietzsche und die Philosophie in »aktive« und »reaktive« unterschieden werden? Grundsätzlich verweist die Unterscheidung auf eine qualitative Differenz, wobei aktive und reaktive Kräfte mit einem jeweils anderen Typus des Willens zur Macht korrespondieren. Der Wille zur Macht wird demnach auch als das »differentielle, das genealogische Element« begriffen, der »das Verhältnis der Kraft zur Kraft bestimmt und die Qualität der Kraft hervorbringt« (NP 69). Dies bedeutet auch, dass 26 Vgl. hierzu auch NP 90: »Die gesamte Konzeption des Willens zur Macht, von Hobbes bis Hegel, setzt das Vorhandensein etablierter Werte voraus, die sich beimessen zu lassen die Willen einzig trachten. Symptomatisch ist denn auch in dieser Philosophie des Willens: der Konformismus, das vollständige Verkennen des Willens zur Macht als Erschaffung neuer Werte«. Interessant wäre in diesem Kontext allerdings die Frage, ob sich ein Modell vorstellen ließe, in dem »Anerkennung« gerade nicht jenen zukommen würde, denen eine möglichst gute Anpassung an den Status quo gelingt, sondern jenen, die von diesem abweichen und ihren Nonkonformismus, ihren »Willen zur Differenz« betonen. Etwa in diesem Sinne ließe sich das Modell begreifen, das Winfried Fluck in Anlehnung an Robert Bellahs Unterscheidung zwischen »ökonomischem« und »expressivem« Individualismus entwickelt hat (vgl. Bellah et al. 2008 sowie Fluck 1995, 2002 und 2007). Genaugenommen müsste jedoch auch im Zusammenhang mit dem Regime des expressiven Individualismus noch von Konformismus gesprochen werden, da es letztlich auch hier um die »Anpassung« an ein bestehendes Wertesystem geht – auch wenn dieses nun nicht mehr (etwa im Stile von Franklins Autobiography) auf Werten wie Selbstdisziplin, Sparsamkeit, Enthaltsamkeit und Fleiß basiert, sondern auf Werten wie Kreativität, Flexibilität, »self-fashioning« und kulturelle Differenz. 27 Wenn Deleuze die Frage der »Anerkennung« – analog zu seiner Ablehnung Hegels – hier kategorisch zurückweist, dann mag dies auch daran liegen, dass der Anerkennungsbegriff im Frankreich der Nachkriegsjahre mit einer bestimmten Vorstellung von Intersubjektivität und Begehren verkoppelt ist, von der sich seine eigene Konzeption grundsätzlich unterscheidet. So beruht z.B. die berühmte Hegelinterpretation Alexandre Kojèves auf einem anthropologischen Essentialismus, gemäß dem quasi jede Form des Begehrens als »Begierde nach Anerkennung« (Kojève 1975, 284) qualifiziert wird. Im Gegensatz dazu stellt sich das Begehren in der Philosophie von Deleuze nicht als »natürliche Realität« oder Eigenschaft des Subjekts dar, sondern »verschmilzt mit einem bestimmten Gefüge«, von dessen Beschaffenheit seine spezifische Qualität jeweils abhängt: »Was mich betrifft, so würde ich sagen, daß das Begehren in diesem Gefüge heterogener Elemente, in dieser Art ›Symbiose‹ zirkuliert« (SG 120; Übersetzung geringfügig verändert).
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die weiter oben angeführte Definition des Willens zur Macht als »schöpferischer Wille nach Veränderung« einer genaueren Differenzierung bedarf. Denn genaugenommen gilt jene Definition nur für denjenigen Typus des Willens zur Macht, der mit den aktiven – d.h. schöpferischen und wertsetzenden Kräften – assoziiert ist und sich als reine Bejahung manifestiert. Die reaktiven Kräfte korrespondieren dagegen mit einem Typus des Willens zur Macht, den Nietzsche als »Willen zum Nichts« (Nietzsche 1994, Band II, 900) bezeichnet und in dem das Prinzip der Verneinung dominiert: »Bejahung und Verneinung sind also die qualia des Willens zur Macht, wie aktiv und reaktiv die Qualitäten der Kräfte sind« (NL 27). Die Differenz von aktiven und reaktiven Kräften lässt sich folglich nicht graduell, sondern allein qualitativ bestimmen, d.h.: Das Wesen der reaktiven Kräfte besteht nicht darin, dass sie weniger aktiv wären als die aktiven Kräfte, sondern ist diesen kategorial entgegengesetzt. Auch wenn die reaktiven Kräfte die Oberhand gewinnen sollten, werden sie Deleuze zufolge daher nicht aktiv, sondern bleiben ihrem Wesen nach reaktiv. Als Kräfte der Verneinung besteht ihre Aufgabe darin, die aktive Kraft von dem zu trennen, was sie kann – »sie entziehen der aktiven Kraft einen Teil ihrer Macht« (NP 64). Die reaktiven Kräfte sind somit eng mit Nietzsches Analyse der »nihilistischen« Entwicklung des abendländischen Denkens verknüpft, die sich als generelle Tendenz manifestiert, das Leben im Namen »höherer Werte« zu entwerten und zu verneinen. Dieser Kultur der Verneinung setzt Nietzsche eine affirmative Philosophie der Bejahung entgegen, was für Deleuze jedoch gerade keine Akzeptanz der »Realität, wie sie ist« (196) impliziert.28 Dies nämlich würde vielmehr der falschen Bejahung des Esels entsprechen, der lediglich seine eigene Last bejaht und die Affirmation mit der »Duldsamkeit gegenüber dem, der züchtigt« (195), verwechselt.29 Bei Nietzsche hingegen heißt bejahen nicht ertragen oder »auf sich nehmen«, sondern erschaffen (was nicht zuletzt die Relevanz der Kunst erklärt, die in Nietzsches Philosophie von wesentlicher Bedeutung ist). Die Philosophie der Affirmation impliziert somit einerseits eine neue Konzeption der Bejahung, andererseits aber auch eine Kritik am Negativen und der Verneinung, die gleichermaßen auf Philosophie und Religion, Metaphysik und Theologie gemünzt ist. Dabei attackiert Nietzsche besonders drei miteinander zusammenhängende Konzepte – nämlich das »asketische Ideal«, das »Ressentiment« und das »schlechte Gewissen« –, die er Deleuze zufolge nicht als »schlichte psychologische Vorfälle« begreift, sondern als »fundamentale Kategorien des semitischen und christlichen Denkens«, als »unsere Art und Weise, das Dasein im allgemeinen zu denken und zu interpretieren« (NP 27). Derart verkörpern jene Kategorien nicht nur eine transzendente Moral der Verneinung, sondern sind zugleich mit einer Vielzahl von Praktiken verkoppelt, deren Aufgabe es ist, aktive in reaktive Kräfte zu verwandeln. So diskutiert Nietzsche etwa die idealtypische Figur des (jüdischen oder christlichen) Pries28 Zum Begriff der Bejahung bei Nietzsche und Deleuze, vgl. Balke 1998, 94: »Das Ja Deleuzes ist Ausdruck einer ethischen Vornehmheit, die es nicht nötig hat, ›von vornherein Nein zu einem ‘Außerhalbʼ, zu einem ‘Andersʼ, zu einem ‘Nicht-Selbstʼ‹ zu sagen. Wie für Nietzsche ist für Deleuze das ethische Kardinalproblem das der Überwindung des Ressentiments«. (Der mitzitierte Text stammt aus Nietzsches Genealogie der Moral.) 29 Vgl. hierzu Nietzsche 1994, Band II, 547: »Der Esel aber schrie dazu I-A./ Er trägt unsre Last, er nahm Knechtsgestalt an, er ist geduldsam von Herzen und redet niemals nein«.
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ters (vgl. NP 136-139 und 143-145), der Ressentiment und schlechtes Gewissen mithilfe des theologischen Begriffs der »Schuld« verbreitet. Statt mit Affekten der Bejahung oder der Freude arbeitet der Priester dabei mit »traurigen Leidenschaften«, die im Sinne Spinozas das Tätigkeitsvermögen des Körpers mindern (vgl. Spinoza 2007, 339), d.h. die aktive Kraft von ihrem Vermögen trennen und somit reaktiv werden lassen. Auf diese Weise kommt es zu einer »Verinnerlichung des Menschen« (NP 140), der nun (im Falle des schlechten Gewissens) seine aktive Kraft gegen sich selbst richtet: »Vermehrung des Leidens durch Verinnerlichung, durch Introjektion der Kraft: derart lautet die erste Definition des schlechten Gewissens« (141). Neben dem Begriff der Schuld und seinem doppelten Aspekt der Negation – dem Ressentiment (»Ihr seid schuld...«) und dem schlechten Gewissen (»Ich bin schuld...«) – spielt hierbei auch das Konzept der Sünde eine Rolle, indem dieses dem verinnerlichten Leiden einen Sinn gibt, wobei die Idee der Erbsünde die Schuld bis in die Unendlichkeit verlängert (144).30 Wie Deleuze mehrfach betont, geht Nietzsche letztlich von einem »Triumph der reaktiven Kräfte« (NP 159) aus, was mit der geschichtsphilosophischen These von der »Heraufkunft des europäischen Nihilismus« (vgl. Nietzsche 1996a, 3-96) korrespondiert (dessen »Umwertung« Nietzsches eigene Philosophie einleiten sollte): »Die Geschichte präsentiert uns ein sehr befremdliches Phänomen: die reaktiven Kräfte triumphieren, im Willen zur Macht überwiegt die Negation! […] Diesen allgemeinen Sieg der reaktiven Kräfte und des Willens zur Verneinung nennt Nietzsche ›Nihilismus‹ – oder den Triumph der Sklaven« (NL 27). Dieser letzte Gedanke weist darauf hin, dass Deleuze nicht nur das Konzept des Willens zur Macht wesentlich anders deutet als die meisten Nietzsche-Kommentatoren, sondern auch dessen Analyse des Verhältnisses von Starken und Schwachen bzw. »Sklaven«. Insofern Deleuze nämlich von dem »Triumph des Sklaven« ausgeht, macht er deutlich, dass die Starken in einer Gesellschaft keinesfalls als deren Machthaber zu verstehen sind, sondern eher als diejenigen, die mit den etablierten Werten und Normen in Konflikt geraten. Die Hervorhebung des Gedankens vom Sieg der »Schwachen über die Starken« (NP 90) erlaubt es Deleuze daher, Nietzsches Philosophie jede sozialdarwinistische Tendenz abzusprechen, da er ihr vielmehr eine Parteinahme für die Unterlegenen (d.h. die »Starken«) gegenüber den Herrschenden (d.h. den »Schwachen«) zuschreibt. Paradoxerweise begreift Deleuze somit auch Nietzsches Losung, man habe »die Starken immer zu bewaffnen gegen die Schwachen« (NL 29) als Schlachtruf einer minoritären Politik gegen die Herrschaft der etablierten Werte.
30 Deleuze hat darauf hingewiesen, dass Nietzsches Analyse der Funktion des Priesters teilweise bereits in Spinozas Theologisch-Politischem Traktat vorweggenommen wird (vgl. Spinoza 2006). Zudem wird an Nietzsches Analyse bei Foucault angeknüpft, der im Kontext der modernen Disziplinargesellschaft »eine neue Form der Pastoralmacht« zum Ausdruck kommen sieht (Foucault 1999b, 170). Im Abécédaire heißt es dazu: »So, the concept of the priest pursued by Spinoza, then by Nietzsche, then by Foucault forms an exciting lineage. Deleuze says that he’d like to connect himself with it, to reflect a bit on this pastoral power, that some people say no longer functions. But, as Deleuze insists, one would have to see how it has been taken up again, for example, [by] psychoanalysis as the new avatar of pastoral power« (Stivale 2011).
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Was dieses vergleichsweise schematisch wirkende Modell jedoch verkompliziert, ist die Tatsache, dass aktive und reaktive Kräfte stets in komplexen Verhältnissen aufeinandertreffen und daher auch nicht schablonenhaft bestimmten Typen von Individuen entsprechen. »Stark« und »schwach«, »aktiv« und »reaktiv« bezeichnen demnach nicht so sehr einzelne Individuen, sondern müssen im Sinne von Kräften verstanden werden, die in unterschiedlichen Verhältnissen und Mischungen in jedem Individuum enthalten sind. Insofern Deleuze stets die Affizierbarkeit des Körpers betont, macht er deutlich, dass sich jene Mischungen jederzeit ändern können, es also sowohl zu einem »Reaktiv-Werden« der aktiven Kräfte als auch zu einem »AktivWerden« der reaktiven Kräfte kommen kann. Brian Massumi verweist in diesem Sinne auf Spinoza, wenn er erklärt, der Körper definiere sich »über die Vermögen, die er von Schritt zu Schritt in sich trägt. Welche das genau sind, ändert sich ständig. Das Vermögen eines Körpers zu affizieren und affiziert zu werden – seine affektive Aufladung – ist nichts Festes« (Massumi 2010, 27). Betrachtet man die im Vorangehenden dargestellte Politik der (aktiven und reaktiven) Kräfte aus heutiger Sicht, dann stößt man zweifellos auf mehrere Probleme, von denen zwei im Folgenden diskutiert werden sollen. Erstens: Insofern sich Deleuze als Partner Nietzsches bei der Ausformulierung einer Philosophie der Affirmation begreift, die sich der nihilistischen Tendenz der Gegenwart entgegenstellt, reproduziert er in seinem eigenen Buch ein quasi »messianisches« Moment, das bei Nietzsche auf die Ankunft des »Übermenschen« und die »Umwertung der Werte« bezogen wird.31 Diese spezifische Form – wie auch immer man sie bewerten mag – steht einer sachorientierten Rezeption des Buches im Kontext der Gegenwart sicherlich im Wege. Zweitens (und dies ist der weitaus wichtigere Punkt): Wie sich am Beispiel der »Pastoralmacht« des Priesters zeigt, dominiert in Nietzsche und die Philosophie eine bestimmte Vorstellung der Macht (im Sinne von pouvoir oder potestas), die aus heutiger Sicht einer Aktualisierung bedarf. So wird die Macht des Priesters vor allem mit Blick auf dessen Fähigkeit qualifiziert, aktive in reaktive Kräfte zu verwandeln, d.h. das Tätigkeitsvermögen seines jeweiligen Gegenübers zu mindern. Hieraus folgt, dass sich Machtausübung (wiederum als pouvoir oder potestas gedacht) prinzipiell als Verfahren zur »Hemmung« oder »Blockierung« darstellt, während z.B. Foucault darauf hingewiesen hat, dass Macht – besonders im Kontext des (neoliberalen) Kapitalismus – auch vielfach auf Verfahren zur Anreizung und Aktivierung beruht.32 Auf vergleichbare Weise argumentiert Deleuze in seinem Aufsatz über die »Kontrollgesellschaften« (U 254-262), in dem er sich im Anschluss an Foucault den Mechanis-
31 So prognostiziert Deleuze am Schluss seiner Nietzsche-Studie etwa: »[D]ie langwährende Geschichte des Nihilismus nähert sich dem Abschluß: jenem Endpunkt, da die Verneinung sich gegen die reaktiven Kräfte selbst kehrt. Dieser Moment definiert die Umwertung aller Werte« (NP 213). 32 Die Konzeption der Macht als »Macht zur Anreizung« hat Foucault ausführlich im ersten Band von Sexualität und Wahrheit entwickelt (vgl. Foucault 1983). Dem Neoliberalismus widmet er sich insbesondere im zweiten Band der Geschichte der Gouvernementalität (vgl. Foucault 2006). Zu den Möglichkeiten einer an Foucaults Machtkonzeption orientierten Analytik der neoliberalen »Gouvernementalität«, siehe etwa Bröckling/Krasmann/Lemke (Hg.) 2000.
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men der Modulation und Flexibilisierung widmet, auf denen der Kapitalismus der Gegenwart beruht.33 Gut dreißig Jahre zuvor war der Kontext jedoch noch ein anderer: Der Machtkritik, die Deleuze (wohlgemerkt: 1962) im Anschluss an Nietzsche formuliert, geht es u.a. darum, den modernen Machthaber als »siegreichen Sklaven« (NP 89) kenntlich zu machen, der sich de facto als »Diener« der etablierten Werte darstellt. »Unsere Herren sind triumphierende Sklaven«, heißt es hierzu: »Nietzsche beschreibt die modernen Staaten als Ameisenhaufen, in denen die Chefs und die Machthaber vorherrschen durch ihre Elendigkeit und durch die Ansteckung dieser Elendigkeit und Possenreißerei« (NL 28). Mit Nietzsche attackiert Deleuze somit eine wesentlich bürokratische Form der Macht, die auf der Basis eines verallgemeinerten Konformismus operiert (die Machthaber als »Chefs« in einem »Ameisenhaufen«). Mit diesem Modell korrespondiert auf der Ebene der Affektpolitik das »Reaktiv-Werden« der Kräfte, d.h. ihre gezielte »Reaktivierung«. Für den gegenwärtigen Kontext einer zunehmend flexiblen Form von »Gouvernementalität« (die Deleuze so treffend in seinem Text über die Kontrollgesellschaften von 1990 beschrieben hat), müsste es folglich zu einer anderen Bestimmung der diesbezüglich spezifischen Art von Affektmodulation kommen, was in der Nietzsche-Studie freilich nicht geleistet werden konnte.34 Den33 Deleuze unterscheidet hier die »Kontrollgesellschaften« (die sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hätten) von den von Foucault analysierten »Disziplinargesellschaften« (die er auf die Zeit vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert datiert). Die Differenz zwischen den beiden Gesellschaftstypen erläutert Deleuze u.a. am Beispiel der Gegenüberstellung von »Form« und »Modulation«: »Die Einschließungen sind unterschiedliche Formen, Gußformen, die Kontrollen jedoch sind eine Modulation, sie gleichen einer sich selbst verformenden Gußform, die sich von einem Moment zum anderen verändert, oder einem Sieb, dessen Maschen von einem Punkt zum anderen variieren« (U 256). Dass Techniken der Anreizung und Motivation in den Kontrollgesellschaften eine weit größere Rolle spielen, zeigt sich etwa an der Frage der Löhne: »Gewiß war auch in der Fabrik [der Disziplinargesellschaften] schon das System der Prämien bekannt, aber das Unternehmen [der Kontrollgesellschaften] setzt eine viel tiefgreifendere Modulation jedes Lohns durch, in Verhältnissen permanenter Metastabilität, zu denen äußerst komische Titelkämpfe, Ausleseverfahren und Unterredungen gehören […]. Die Fabrik setzte die Individuen zu einem Körper zusammen […]; das Unternehmen jedoch verbreitet ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich selbst spaltet« (256-257). 34 Zur Frage der Affektmodulation und der »Politik des Affekts«, vgl. auch Schleusener 2014 und Małecki/Schleusener 2015. Siehe außerdem Teil II, Kap. 1.3 in der vorliegenden Studie, wo das Konzept der Affektpolitik auf Melvilles Moby-Dick bezogen wird. Die hier entwickelte Perspektive ist neben den genannten Texten von Deleuze und Spinoza auch von einigen Arbeiten Brian Massumis beeinflusst (vgl. Massumi 2002b, 2005 und 2010). So befasst sich Massumi etwa in Bezug auf die amerikanische Situation nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 mit einer über die Medien vermittelten Form der Affektmodulation, bei der es ebenso zu affektiven »Beschränkungen« wie affektiven »Anreizungen« kommt: »What the media produced wasn’t information or analysis. It was affect modulation. […] The constant security concerns insinuate themselves into our lives at such a basic, habitual level that you’re barely aware how it’s changing the tenor of everyday liv-
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noch bleibt festzuhalten, dass sich Nietzsche und die Philosophie heute nicht zuletzt auch deshalb noch als relevant darstellt, da Deleuze hier die generelle Einsicht zum Ausdruck bringt, dass sich Machtpolitik immer auch als Affektpolitik manifestiert, dass also die Durchsetzung von Macht mit einer spezifischen Form von »Affizierung« einhergeht, die stets ein Verhältnis von Kräften betrifft. Dass dieses Verhältnis auf einen Konflikt verweist, der – auch das wird in der Nietzsche-Studie deutlich gemacht – im Innern eines jeden Individuums und eines jeden Körpers wirkt, hat Deleuze in der Vorbemerkung zu den Unterhandlungen wie folgt formuliert: »Und da die Mächte sich nicht damit begnügen, äußerlich zu bleiben, sondern in jeden von uns hineinreichen, findet sich jeder von uns ständig in Unterhandlungen und einer Guerilla mit sich selbst« (U 7).35
1.4 »ALLES ,
WAS ICH GESCHRIEBEN HABE , WAR VITALISTISCH «
Wie deutlich geworden ist, macht Deleuze von Nietzsche und Spinoza auf ähnliche Weise Gebrauch, insofern er auf die Ansätze der beiden Philosophen rekurriert, um zu einer Analyse konkreter Existenzweisen und der in diesen wirkenden Kräfteverhältnisse zu gelangen. Zudem ermöglichen ihm beide Philosophien eine »ethische« Sicht der Welt, die gleichwohl keiner transzendenten Moral entspricht. Mit Nietzsche würde es diesbezüglich um die Frage gehen, wie sich Ressentiment und schlechtes Gewissen überwinden ließen, um zu aktiven Kräften im Rahmen einer Existenzweise zu gelangen, die sich bejahen lässt; auf vergleichbare Weise besteht das Problem, dem Deleuze im Anschluss an Spinoza nachgeht, darin, welchen Kräften man sich als affizierbares Wesen auszusetzen hat, um eine Steigerung des Tätigkeitsvermögens zu erreichen und nicht zum passiven Dulden verurteilt zu sein. In beiden Fällen geht es somit um die in Deleuzes Spinoza-Buch aufgeworfene Frage: »Wie erreichen wir es, aktiv zu sein?« (S 195). Friedrich Balke hat in diesem Kontext allerdings vor Missverständnissen gewarnt, da sich die von Deleuze vertretene Tugend der Aktivität nicht dem souveränen Vermögen eines Subjekts zuschreiben lässt, sondern die Fähigkeit voraussetzt, »sich von anderen Kräften affizieren zu lassen« (Balke 1998, 102). Jedes Handeln wird demnach durch eine Vielzahl von Kräften und Affekten bestimmt, weshalb jede von Deleuze inspirierte Handlungstheorie mit einer ethischen »Problematisierung der mannigfaltigen ›Affektionen‹« (102) einhergehen sollte. Insofern der Effekt einer Kraft nicht von vornherein feststeht und das Vermögen des
ing. You start ›instinctively‹ to limit your movements and contact with people. It’s affectively limiting. […] At the same time as the media helps produce this affective limitation, it works to overcome it in a certain way. The limitation can’t go too far or it would slow down the dynamic of capitalism. One of the biggest fears after September 11 was that the economy would go into recession because of a crisis in consumer confidence. So everyone was called upon to keep spending, as a proud, patriotic act« (Massumi 2002b, 232-233). 35 Dass Deleuzes berühmte Lesart von Nietzsches Konzept der »ewigen Wiederkehr« im vorangehenden Abschnitt nicht diskutiert wurde, hat in erster Linie damit zu tun, dass dies noch an anderer Stelle geschehen wird. Vgl. hierzu vor allem den hinteren Teil des Abschnitts zu den »passiven Synthesen der Zeit« (Teil I, Kap. 2.2).
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Körpers von den Relationen abhängt, in die er eingebunden ist, beruft sich Deleuze nicht auf ein transzendentes Modell als Beurteilungsschema, sondern auf die »spinozistische Weisheit« des »langen Experimentierens«: »ihr wißt nicht, wozu ihr fähig seid, im Guten wie im Bösen, ihr wißt nicht im voraus, was ein Körper oder eine Seele in dieser Begegnung, in jener Verkettung, in jener Kombination vermag« (KS 79).36 Die Hervorhebung von Kräften, Affektionen, Handlungsmöglichkeiten und Existenzweisen verweist auf einen Aspekt in Deleuzes Philosophie, der sich als »vitalistisch« bezeichnen lässt. Denn in nahezu allen seinen Büchern geht es Deleuze um die Verbindung eines jeweiligen Sachverhalts zum Leben, d.h. genauer: um eine Differenzierung der Kräfte, die auf das Leben wirken. Die Qualität eines Werkes – egal ob in der Kunst, der Literatur oder der Philosophie – bemisst Deleuze somit nicht an formalen Kriterien, sondern daran, inwieweit es fähig ist, dem Leben neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten zukommen zu lassen, inwieweit es »Fluchtlinien« aufzuzeigen vermag und »einen Weg zwischen den Pflastersteinen bahnt« (U 209). Explizit hat Deleuze sein Werk daher mit dem Begriff des Vitalismus in Verbindung gebracht: »Alles, was ich geschrieben habe, war vitalistisch, zumindest hoffe ich es« (209). Da der Vitalismusbegriff gerade im deutschsprachigen Raum nicht unumstritten ist, soll er im Folgenden (vor allem mit Blick auf die Unterschiede, die Deleuzes Ansatz von gleichlautenden Konzeptionen trennen) genauer erläutert werden. Dabei ist zunächst auf die Kritik am Vitalismus einzugehen, die u.a. im Kontext des Marxismus und der Kritischen Theorie formuliert wurde. So hat etwa Georg Lukács den Vitalismus – oder genauer: die »Lebensphilosophie«37 – als wesentlich irrationalisti36 Vgl. hierzu Spinoza 2007, 229: »Allerdings, was der Körper kann, hat bislang noch niemand bestimmt«. Und an anderer Stelle: »Verschiedene Menschen können von ein und demselben Gegenstand verschiedenartig affiziert werden; und ein und derselbe Mensch kann von ein und demselben Gegenstand zu verschiedenen Zeiten verschiedenartig affiziert werden« (309). Siehe in diesem Zusammenhang außerdem S 191-205 (»Was kann ein Körper?«). 37 Anstatt von »Vitalismus« spricht Lukács in Die Zerstörung der Vernunft durchweg von »Lebensphilosophie«. Beide Begriffe werden im Folgenden weitgehend synonym verwendet, wobei weniger die naturwissenschaftliche Diskussion über das Wesen des Organischen im Fokus steht (die zwischen »Mechanisten« und »Vitalisten« geführt wurde), sondern Modelle der Philosophie, die sich auf je spezifische Weise »dem Leben« widmen. Hier wären etwa die Philosophien von Nietzsche, Bergson oder Deleuze zu nennen, aber auch Vertreter einer »ideologischen Lebensphilosophie« wie Oswald Spengler oder Ludwig Klages, deren Lebensmodelle sich von denen der Erstgenannten grundsätzlich unterscheiden (vgl. Fellmann 1993, 142-173). Gegen eine eindeutige inhaltliche Differenzierung von Vitalismus und Lebensphilosophie spricht u.a., dass die Begriffe in der Forschungsliteratur ebenfalls oft unterschiedslos verwendet werden, was auch daran liegen mag, dass der Begriff der Lebensphilosophie außerhalb Deutschlands kaum bekannt ist. Meistens wird der Vitalismusbegriff daher entweder synonym für »Lebensphilosophie« verwendet oder, in einem anderen Kontext, mit Blick auf die (spekulative) naturwissenschaftliche Konzeption »einer besonderen Lebenskraft [...], von deren Wirken die Lebenserscheinungen abhängig sein sollen« (Schischkoff 1991, 760). Letzteres spielt für Deleuzes affirmativen Bezug auf den
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sche Denkrichtung begriffen, der es um die buchstäbliche »Zerstörung der Vernunft« gegangen sei, was den »Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiet der Philosophie« geebnet habe (Lukács 1954, 6). Jene Geisteshaltung, die z.B. in den Arbeiten von Spengler oder Klages zum Ausdruck kommt, hat indes kaum etwas mit dem Vitalismus von Deleuze gemeinsam, da sie auf einem wesentlich anderen Begriff des Lebens basiert. Hierzu heißt es bei Friedrich Balke: »Wer, wie beispielsweise Manfred Frank, Deleuze und Nietzsche in eine Reihe mit Publizisten wie Ludwig Klages und Oswald Spengler stellt, weil sie alle Vitalisten und damit schlimme Verächter der Vernunft seien, […] demonstriert vor allem, daß die Kunst des Unterscheidens, die nun einmal den Kritiker definiert, bei den selbsternannten Hütern der abendländischen Vernunft nicht eben gut aufgehoben ist. […] Der von Frank zurecht inkriminierte ›Vitalismus‹, der auch politisch durchweg mit reaktionären Affekten einhergeht, ist, wie schon bei oberflächlichem Hinsehen auffällt, nichts anderes als ein umgekehrter Rationalismus. Das Leben funktioniert in den Texten Spenglers und Klages wie schon bei bestimmten Vertretern der Politischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts als Prinzip und Grund alles Seienden, es ist durchaus prima causa und unversehrte Totalität in einem, an der ein moralisch desolater und politisch korrupter Zustand der gegenwärtigen Zivilisation gesunden soll.« (Balke 1998, 105-106)38
Im Gegensatz zu einem solchermaßen »umgekehrten Rationalismus«, ist es für den Ansatz von Deleuze charakteristisch, dass das Leben hier gerade nicht als einheitliches Fundament oder Prinzip fungiert. Denn weder ist das Leben, wie es im Sinne dieser Konzeption gedacht wird, vorgegeben, noch lässt es sich von einem obersten Prinzip ableiten. Vielmehr handelt es sich bei Deleuze um ein nicht-finalistisches, immanentes Modell des Lebens, das sich im Gegensatz zu den biologistischen und ideologischen Varianten des Vitalismus auch nicht auf die Funktionsweise des Organismus reduzieren lässt – was nicht zuletzt durch den Begriff des »organlosen Körpers« zum Ausdruck kommt, der vor allem im Anti-Ödipus und in den Tausend Plateaus eine bedeutende Rolle spielt.39 Weshalb Deleuze den Organismus eben nicht als Fundierung des Lebens begreift und die vermeintliche Identität von Leben und Organismus grundsätzlich in Frage stellt, wird mit Blick auf die Grundprämissen seiner Ontologie deutlich. Denn auch vom Organismus lässt sich mit Deleuze behaupten, dass er letztlich gemacht ist, d.h. nicht als »Anfang« begriffen werden darf, da er auf einem spezifischen Verhältnis von Kräften beruht, die seiner Existenz vorausgehen. So lässt sich in Bezug auf die Geschichte der Evolution auf die Transformationsfähigkeit der Organismen verweiVitalismus allerdings keine Rolle und soll daher im Folgenden auch nicht näher diskutiert werden. 38 Manfred Frank – auf dessen Kritik an Deleuzes Vitalismus Balke hier rekurriert – hat Deleuze nicht nur mit Klages und Spengler in eine Reihe gestellt, sondern ihm sogar eine sozialdarwinistische Tendenz unterstellt (vgl. Frank 1984, 404-405). 39 Zum Begriff des »organlosen Körpers«, vgl. auch FB 32: »Der organlose Körper steht weniger den Organen als jener Organisation der Organe gegenüber, die man Organismus nennt. Er ist ein dichter, ein intensiver Körper. […] Ein geradezu nicht-organisches Leben, denn der Organismus ist nicht das Leben, er sperrt es ein. Der Körper ist ganz und gar lebendig und dennoch nicht organisch«.
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sen, deren jeweils spezifische Genese auf komplexen Kräfteverhältnissen basiert, wobei jedes Organ als temporäre »Lösung« eines »Problems« fungiert: »Der Organismus wäre nichts, wenn er nicht die Lösung eines Problems wäre, ebenso jeder seiner differenzierten Teile, wie etwa das Auge, das ein Licht-›Problem‹ löst« (DW 267).40 Zudem stellt der Organismus für Deleuze ein unzureichendes Modell des Lebens dar, solange man ihn als fertige, abstrakte Form betrachtet und von den Kräften isoliert, von denen der Körper affiziert wird. Im Zentrum von Deleuzes Vitalismus steht daher nicht der Organismus, sondern das Zusammenspiel der Kräfte und die Affizierbarkeit des Körpers, die das Leben zum Gegenstand einer ethischen Problematisierung macht. Das Leben stellt mithin kein vorgegebenes Prinzip – »kein Prinzip der Fülle« (Balke 1998, 107) – dar, sondern wird in seiner Zersplitterung und seinen Metamorphosen begriffen;41 es wird nicht als »naturgegeben« verstanden, sondern als Ergebnis eines Widerstreits, einer Verkettung mannigfaltiger Kräfte. Einer vitalistischen Ethik im Stile von Deleuze käme demnach die Aufgabe einer Qualifizierung der Kräfte zu, die das Leben affizieren und ihm – auf diese oder jene Weise – eine (temporäre) Form verleihen. Gegenüber denjenigen Kräften, die das Leben der Dummheit preisgeben, die es herabsetzen oder entwerten, würde es folglich im Sinne Foucaults darum gehen, »zu anderen Affirmationen zu kommen« (Foucault 1978, 185).42 Und mit Nietzsche endlich würde es um die Entdeckung unbekannter »Möglichkeiten des Lebens« gehen, von denen auf folgende Weise in dessen Nachlassschriften berichtet wird: »Es kommt wohl für jeden eine Stunde, wo er mit Verwunderung vor sich selbst fragt: Wie lebt man nur! Und man lebt doch! – Eine Stunde, wo er zu begreifen anfängt, daß er eine Erfindsamkeit besitzt von der gleichen Art, wie er sie an der Pflanze bewundert, die sich windet und klettert und endlich sich etwas Licht erzwingt […]. In den Beschreibungen, die einer von seinem Leben macht, gibt es immer solchen Punkt, wo man staunt, wie hier die Pflanze noch leben kann und wie sie noch mit einer unerschütterlichen Tapferkeit darangeht. Nun gibt es Lebensläufe, wo die Schwierigkeiten ins Ungeheure gewachsen sind [...]; und hier muß man, wo etwas davon erzählt wird, aufmerksam hinhören, denn hier vernimmt man etwas von Möglichkeiten des Lebens, von denen nur zu hören Glück und Kraft bringt und auf das Leben der Späteren Licht herabgießt, hier ist alles so erfinderisch, besonnen, verwegen, verzweifelt und voller Hoffnung, wie etwa die Reisen der größten Weltumsegler und auch in der Tat etwas von der 40 Vgl. in diesem Kontext auch TP 87-88: »Die Hand ist nicht nur eine deterritorialisierte ehemalige Pfote, sondern die freie Hand ist deterritorialisiert im Verhältnis zur Hand des Affen, die zum Greifen und zur Fortbewegung dient. Man muß auch synergetische Deterritorialisierungen anderer Organe (zum Beispiel des Fußes) berücksichtigen […]. In diesem Sinne muß man organische, ökologische und technologische Karten anlegen, die man auf der Konsistenzebene ausbreiten kann«. 41 Vgl. Balke 1998, 107: »Das Leben, dem Deleuze in seinen Texten nachdenkt, ist also kein Prinzip der Fülle und ursprünglichen Integrität. In mehrfachem Sinne kann man sagen, daß es immer schon zerbrochen, zersplittert ist«. 42 Für Thomas Lemke verweist die Suche nach »anderen Affirmationen« auf eine Form der experimentellen Machtkritik im Stile Foucaults, die »auf die praktische Veränderung der sozialen Verhältnisse zielt«, auf ein festgelegtes normatives Ideal jedoch verzichtet (vgl. Lemke 2003, 265).
70 | K ULTURELLE K OMPLEXITÄT gleichen Art, Umsegelungen der entlegensten und gefährlichsten Bereiche des Lebens.« (Nietzsche 1994, Band III, 344-345)
2. Wiederholung, Zeit und Subjektivität
2.1 O NTOLOGIE
DER
W IEDERHOLUNG
Wenn Deleuzes Philosophie als eine differentielle Philosophie der Immanenz und des Werdens zu begreifen ist, die auf transzendente Werte und Normen, vorgegebene Ziele sowie essentialistische Ursprünge verzichtet und die Welt stattdessen als Kraftfeld sich überlagernder Prozesse und Ströme konzipiert, dann mag der Eindruck eines wesentlich chaotischen Verständnisses der Wirklichkeit entstehen. Wie, könnte man fragen, lässt sich angesichts jener Welt der Differenz und des Werdens die alltägliche Erfahrung von Kontinuität und Beständigkeit erklären? Wie lässt sich innerhalb von Deleuzes Denkhorizont überhaupt Identität oder Ordnung konzipieren, sei es in politischer, gesellschaftlicher, kultureller, ontologischer oder phänomenologischer Hinsicht? In der Tat ist es so, dass das Phänomen der Ordnung zu einem Problem wird, sobald man es mit einer Philosophie zu tun hat, die der Transzendenz abgeschworen hat und die Existenz einer vorgegebenen »Ordnung der Dinge« bestreitet. Gegenüber den klassischen Ontologien der Vergangenheit lässt sich in dieser Hinsicht konstatieren, dass sich das philosophische Grundproblem für Deleuze geradezu umgekehrt hat: Ging es lange Zeit darum, Erklärungen zu finden, weshalb das Leben – trotz der angenommenen Vorgegebenheit einer idealen kosmischen Ordnung – keineswegs frei von scheinbar chaotischen Ereignissen, Kontingenzen und Banalitäten ist (von »Schmutz und Haaren«, wie es bei Platon heißt1), so geht es heute vielmehr darum, zu erklären, wie Ordnung aus Unordnung bzw. Chaos entsteht. Dies ist nicht nur eine der Leitfragen der »Complexity Theory«, sofern sich diese den Selbstorganisationsprozessen komplexer Systeme widmet (vgl. Prigogine/Stengers 1984 und Kauffman 1993), sondern dies ist auch von wesentlicher Bedeutung im Kontext von Deleuzes Immanenzphilosophie.2 1
2
Vgl. hierzu Platons Parmenides-Dialog, in dem die Frage diskutiert wird, ob auch bei »Haar, Kot, Schmutz und dergleichen verächtlichen und gemeinen Dingen« von der Teilhabe an einer transzendenten Idee ausgegangen werden könne. Sokrates verneint dies mit dem Hinweis darauf, dass sich das Sein von derlei irdischen Dingen auf das beschränke, »was wir sehen; eine besondere Idee für sie anzunehmen, wäre doch gar zu wunderlich« (Platon 1985, 146). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Massumi 2002a, 7-8: »The problem is no longer to explain how there can be change given positioning. The problem is to explain the wonder that there can be stasis given the primacy of process«.
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Die Antwort, mit der Deleuze vermutlich auf jene Frage reagieren würde, findet sich bereits in seinem Frühwerk und wird am ausführlichsten in Differenz und Wiederholung artikuliert. Demzufolge lässt sich die Identität des Subjekts oder die Ordnung eines Kollektivzusammenhangs jeweils als Resultat weitgehend unbewusst ablaufender Wiederholungsprozesse, Gewohnheiten und Routinen verstehen. Da sich jene Prozesse in der Regel dem Bewusstsein entziehen, verweist Deleuze hierbei auf sogenannte »passive Synthesen«, die als die grundlegende vorsubjektive Bedingung jeder bewussten Wahrnehmung und jeder Aktivität auf Seiten des Subjekts konzipiert werden. Ähnlich verfährt Deleuze bereits in dem 1953 erschienenen Buch über David Hume, in dem die Gewohnheit – der Habitus – im Zentrum seiner frühen Theorie der Subjektivität steht.3 Doch lässt sich besonders in Differenz und Wiederholung feststellen, dass Deleuze den Begriff der Gewohnheit nicht nur in psychologischer Hinsicht gelten lässt, sondern auch auf die Welt der Organismen und der Materie ausdehnt, was an Peirce erinnert, der die Naturgesetze seinerseits als »Habits of Nature« konzipiert hat.4 Dementsprechend heißt es, dass der Habitus nicht nur die sensomotorischen Gewohnheiten betrifft, »die wir (in psychologischer Hinsicht) haben, sondern zunächst die primären Gewohnheiten, die wir sind, die Tausende von passiven Synthesen, aus denen wir organisch bestehen« (DW 104). »Welcher Organismus«, fragt Deleuze anschließend, »ist nicht aus Wiederholungselementen und –fällen gemacht, aus Wasser, Stickstoff, Kohlenstoff, Chloriden, Sulfaten, die kontrahiert und betrachtet werden, und verflicht nicht auf diese Weise all die Gewohnheiten, aus denen er sich zusammensetzt?« (105) Der Begriff der Gewohnheit wird somit zu einem quasi ontologischen Begriff, der nicht nur den Menschen, sondern das Sein als Ganzes betrifft, so dass sich mit Deleuze von der Wiederholung als einer Grundkategorie des Lebens sprechen lässt, die sich ebenso auf den Bereich von Kultur und Psyche wie auf den Bereich von Natur und Materie bezieht. Charakteristisch für Deleuzes Denken ist die hieraus resultierende Annäherung der beiden Bereiche, die sich nun in einem wechselseitigen Austauschverhältnis zueinander befinden und in ein reziprokes Werden geraten. Insofern der Begriff der Gewohnheit nun nämlich auch für den Bereich der Natur gilt, wird diese faktisch in die Immanenz versetzt und verliert dabei einen Teil der unumstößlichen Determiniertheit, die in der (transzendenten) Vorstellung von »ewigen Naturgesetzen« üblicherweise mitschwingt. Resultat derselben begrifflichen Operati3
4
Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Buches heißt es: »Wir sind Gewohnheiten, nichts anderes als Gewohnheiten, die Gewohnheit, Ich zu sagen…Vielleicht gibt es keine überraschendere Antwort auf das Problem des Ich« (SG 348). Deleuzes Konzept der Gewohnheit lässt sich durchaus mit dem Habitusbegriff Bourdieus zusammenbringen, der sich etwa in seinen Meditationen auf Deleuzes Hume-Studie stützt (vgl. Bourdieu 2001, 175). Siehe hierzu auch Teschke 2003, 70-71: »Die Grundzüge von Deleuzes Hume-Analysen – Delirium und Phantasma bilden den Grund des Geistes, die Imagination ist konstitutiv für das Weltverhältnis des Ich, die Fiktion ist ein Prinzip der menschlichen Natur, das Subjekt der Erkenntnis und Theorie ist ein Effekt der Einbildungskraft, des Glaubens und der Gewohnheit […] – übernimmt Bourdieu für die eigene Theorie der Praxis«. Vgl. Peirce 1992, 277: »[A]ll things have a tendency to take habits. For atoms and their parts, molecules and groups of molecules, and in short every conceivable real object, there is a greater probability of acting as on a former like occasion than otherwise«.
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on ist jedoch auch, dass sich die klassische Vorstellung von der Freiheit des menschlichen Geistes verändert, da dieser nun ebenfalls der Macht der Gewohnheit – d.h. den »passiven Synthesen« – unterstellt wird, was eine spürbare Problematisierung des traditionellen Dualismus von Natur und Kultur zur Folge hat. Betrachtet man Deleuzes Wiederholungsbegriff nun im Kontext seiner Philosophie, dann fallen zunächst dessen konstruktivistische und prozessuale Implikationen auf. Alles dasjenige, was für gewöhnlich als relativ fest und beständig begriffen wird, weist Deleuze zufolge nur deshalb den Anschein von Beständigkeit auf, weil es permanent wiederholt wird. Vereinfacht gesagt: Jede individuelle Identität und jeder kollektive Ordnungszusammenhang ist stets das Resultat von Wiederholungen. Konstruktivistisch ist dieser Gedanke, da Deleuze keinerlei feste Substanz hinter jenen Wiederholungsprozessen veranschlagt: Wir wiederholen nicht das, was wir ohnehin bereits sind (dies wäre eine substantialistische oder essentialistische Auffassung), stattdessen sind wir dasjenige, was wir sind, nur aufgrund all der unzähligen Wiederholungen und Gewohnheiten, die unsere Identität zuallererst herzustellen vermögen. Nietzsche – auf den sich Deleuze auch hier wieder beruft – hat diesen Gedanken in seiner Genealogie der Moral wie folgt formuliert: »es gibt kein ›Sein‹ hinter dem Tun, Wirken, Werden; ›der Täter‹ ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles« (Nietzsche 1994, Band II, 790). Es gibt folglich keinen Täter hinter der Tat, da dieser als handelndes Subjekt erst durch die Tat konstituiert wird. Erst das Verbrechen (oder vielmehr die Wiederholung des Verbrechens) bringt den Verbrecher als identifizierbares Verbrecher-Subjekt hervor. Bis zu diesem Punkt lässt sich Deleuzes Konstruktivismus noch weitgehend problemlos mit den theoretischen Hauptströmungen des Poststrukturalismus und der Cultural Studies verknüpfen. Als Beispiel hierfür genügt der Verweis auf die Gendertheorie Judith Butlers, die sich – obwohl sie in anderer Hinsicht wenig mit Deleuze gemeinsam hat – ebenfalls auf Nietzsche beruft, wenn sie die Geschlechtsidentität von Mann und Frau als nicht essentiell vorgängig, sondern als Produkt von Wiederholungen (oder »performativen Praktiken«) begreift, die jene Identität überhaupt erst konstituieren.5 Sein ausgeprägter Bergsonismus ist dagegen ein Aspekt, der Deleuze vom Poststrukturalismus und von den meisten Philosophen seiner Generation unterscheidet, die Begriffe wie »Intuition« oder »élan vital« in der Regel als wenig zeitgemäß verworfen haben.6 Deleuze dagegen hat Bergsons Zeitphilosophie als wesentliche Inspirationsquelle angesehen, was auch in seiner Konzeption der Wiederholung zum Aus5
6
In Gender Trouble übersetzt Butler das erwähnte Nietzsche-Zitat folgendermaßen in den Kontext ihrer Geschlechtertheorie: »There is no gender identity behind the expressions of gender; that identity is performatively constituted by the very ›expressions‹ that are said to be its results« (Butler 2007, 34). Hierzu hat Mirjana Vrhunc bemerkt, dass Bergson »immer noch weitgehend über schlagwortartige Charakterisierungen, im allgemeinen aber als philosophisch bedeutsamer Referenzautor überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird« (Vrhunc 2002, 13-14). Auch aufgrund der zunehmenden Popularität von Deleuze hat sich dies in den letzten Jahren jedoch merklich geändert, so dass Bergson mittlerweile in unterschiedlichen Kontexten »wiederentdeckt« worden ist. Zur neueren (und oftmals stark von Deleuze inspirierten) BergsonRezeption, vgl. Mullarkey (Hg.) 1999, Ansell-Pearson 2002, Rölli (Hg.) 2004 und Moulard-Leonard 2008.
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druck kommt. Denn wie Bergson geht Deleuze davon aus, dass in ontologischer Hinsicht von Realität nur als einer Realität des Werdens gesprochen werden kann und jede Existenz prozessualer Natur ist – dass also »jegliche Art von Existenz Dauer ist, daß existieren dauern heißt« (Vrhunc 2002, 12). Der menschliche Wahrnehmungsapparat ist Bergson zufolge allerdings derart beschaffen, dass jeweils nur derjenige Teil der Wirklichkeit wahrgenommen (und dabei entsprechend »fixiert«) wird, der für das aktuelle Leben und Handeln von Interesse ist. Die bewusste Wahrnehmung beruht somit auf einer Verräumlichung der Zeit, durch die das Werden nicht mehr als permanenter »Fluss« und ontologisches Faktum erfasst wird, sondern als teilbare Bewegung zwischen bewegungslosen Punkten im Raum. »Wie sollte man aber nicht sehen«, schreibt Bergson, »daß das Wesen der Dauer in einem ununterbrochenen Fluß besteht, und daß etwas Statisches, das mit anderem Statischen aneinandergereiht wird, niemals eine wirkliche Dauer ergibt? Was also wirklich ist, das sind nicht die in Momentaufnahmen fixierten ›Zustände‹, die wir im Verlauf der Veränderung aufnehmen, sondern daß ist im Gegenteil der Fluß, das ist die Kontinuität des Übergangs, das ist die Veränderung selbst. Diese Veränderung ist unteilbar, sie ist sogar substantiell« (Bergson 2000, 27). Deleuze teilt Bergsons Ansicht, dass der menschliche Wahrnehmungsapparat wie eine Art Filter funktioniert und die Kontinuität des Werdens daher aus dem Blick gerät. Wie im Folgenden erläutert wird, sind es laut Deleuze eben die bereits erwähnten »passiven Synthesen der Zeit« und die mit diesen verbundenen Wiederholungsprozesse, die jene Fixierung im Subjekt zuallererst möglich machen. Wie ebenfalls deutlich wird, steht die Wiederholung bei Deleuze allerdings nicht einseitig auf der Seite von Identitätsbildung, Gewohnheit, Gedächtnis und Fixierung, sondern ermöglicht zudem die Hervorbringung neuartiger Differenzen, weshalb die Begriffe »Differenz« und »Wiederholung« gerade keine Alternative markieren, sondern zusammenzudenken sind. Dieser scheinbare Widerspruch – dass also die Wiederholung einerseits als Ursache der Illusion von Beständigkeit und Identität verstanden wird, andererseits aber auch als schöpferischer Prozess, der neue Differenzen generiert – soll im Folgenden aufgeklärt werden, indem gezeigt wird, dass es sich um verschiedene Wiederholungstypen handelt, die mit einem jeweils anderen Zeitmodus korrespondieren. Anhand der passiven Synthesen der Zeit soll somit die Verbindung von Zeitlichkeit und Subjektivität offengelegt werden, die vor allem im Kontext von Differenz und Wiederholung eine für das Verständnis von Deleuzes Philosophie wesentliche Rolle spielt.
2.2 D IE
PASSIVEN
S YNTHESEN DER Z EIT
Die 1968 erschienene Studie Differenz und Wiederholung zählt zu den wichtigsten Publikationen von Deleuze, da sie gewissermaßen die Summe seines philosophiehistorischen Frühwerks darstellt und mit der Konzeption einer freien Differenz und einer komplexen Wiederholung zugleich wesentliche Aspekte der weiteren Entwicklung seiner Philosophie vorweggenommen werden. Differenz und Wiederholung ist zudem ein äußerst vielschichtiges Buch, da Deleuze seine Konzepte in textnaher Auseinandersetzung mit einer Vielzahl anderer Philosophen – von Platon und Aristoteles bis Hume, Nietzsche, Husserl und Freud – entwickelt. Dass Michel Foucault auf die Publikation von Differenz und Wiederholung (und der zeitnah erschienenen Stu-
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die Logik des Sinns) äußerst positiv und mit dem vielzitierten Ausspruch reagiert hat, dass das Jahrhundert eines Tages »vielleicht deleuzianisch sein« wird (Foucault 1977b, 21), weist auf die thematische Nähe beider Autoren zu der damaligen Zeit hin.7 Denn Foucault hatte in seinem 1966 erschienenen Buch Die Ordnung der Dinge eine Archäologie der klassischen episteme und ihrer repräsentationslogischen Voraussetzungen vollzogen, die die Ordnung der Dinge – verstanden als eine Ordnung »des Gleichen« (Foucault 1999a, 27) – überhaupt erst ermöglichen. Jenes Denken der Repräsentation ist ebenfalls Thema von Differenz und Wiederholung, auch wenn Deleuze nicht von episteme, sondern dem »klassischen Bild des Denkens« spricht, welches er dafür kritisiert, die Differenz und die Wiederholung stets nur unter Rückgriff auf identitäts- und repräsentationslogische Konzeptionen gedacht zu haben. Deleuze geht es somit einerseits darum, zu einem Differenzbegriff zu gelangen, in dem von einer positiven Differenz ausgegangen wird, die nicht mehr der Identität, dem Gegensatz, der Analogie oder der Ähnlichkeit untergeordnet wird.8 Andererseits geht es ihm um die Entwicklung einer Wiederholungskonzeption, die es möglich machen soll, eine komplexe Wiederholung zu denken, die der Differenz nicht entgegensteht und die nicht mehr im Sinne der klassischen Logik der Repräsentation zu begreifen ist. In Anlehnung an Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkehr formuliert Deleuze daher den Begriff einer nicht-zirkulären, selektierenden Wiederholung, die »nicht das Selbe oder Ähnliche wiederkehren läßt«, sondern »das Differente, das Ungleichartige« (DW 370-371). Deleuzes Argumentation verläuft jedoch in mehreren Schritten und im zweiten Kapitel von Differenz und Wiederholung geht es ihm zunächst darum, drei unterschiedliche Formen der Wiederholung voneinander zu unterscheiden. Diese als »Synthesen der Zeit« beschriebenen Wiederholungstypen korrespondieren implizit mit den drei Synthesen, die Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft präsentiert und dienen Deleuze als zeittheoretische Bausteine einer quasi »transzendentalen« Analyse von Subjektivität.9 Was Deleuzes Modell indes deutlich von demjenigen Kants un7
8
9
Vgl. auch Foucault 1977a, 10: »Halten wir die Wandlungen fest, die Deleuze in der guten alten Stube der Philosophie anrichtet: aus dem gesunden Menschenverstand wird Häresie; aus der ruhigen Mitte extreme Spannung und Zuspitzung; aus der Beschwörung des Irrtums die Faszination durch die Dummheit […]. Es ist das Ende der Philosophie der Repräsentation. Incipit philosophia differentiae«. Umgekehrt hat sich auch Deleuze immer wieder auf Foucault bezogen; vgl. besonders seine Monographie von 1986 (F), die er kurz nach dessen Tod verfasste. Wie James Williams erläutert hat, konterkariert Deleuzes Differenzkonzeption dadurch die Ansätze von Aristoteles, Hegel, Leibniz und Platon: »Deleuze detaches difference from four key moments in the history of philosophy. First, against Aristotle, difference must not be thought of as that which defines divisions within being: categories, genres and species […]. Second, against Hegel, difference must not be thought of as that which subsumes all identities and their antitheses – that is, as the never to be reached end of an expanding process of contradiction and synthesis […]. Third, against Leibniz, difference must not be thought of as infinitely small differences […]. Fourth, against Plato, difference must not be thought of as that which departs from an original« (Williams 2003, 55). In der Kritik der reinen Vernunft entwickelt Kant das Konzept »einer dreifachen Synthesis, die notwendiger Weise in allem Erkenntnis vorkommt« (Kant 1996a, Band 1, 161). Hierbei
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terscheidet, ist der passive Status der Synthesen, die in der Kritik der reinen Vernunft noch als aktive Kompetenzen des transzendentalen Subjekts beschrieben werden. Bei Deleuze jedoch sind die Synthesen ihrem Charakter nach passiv, insofern sie dem subrepräsentativen Bereich zugerechnet werden und dem Subjekt vorausgehen, d.h. Subjektivität überhaupt erst ermöglichen. Deleuze richtet sich somit gegen Kants Unterscheidung von Aktivität und Passivität, nach der allein das aktive Subjekt zu einer Syntheseleistung fähig ist, während dem passiven Ich lediglich die Fähigkeit zur Rezeption zukommt. Ähnlich wie dem Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty geht es folglich auch Deleuze um die Konzeption »einer passiven Subjektivität, die für die Bildung der unmittelbaren Tatsachen des Bewußtseins konstitutive Bedeutung hat« (Rölli 2003, 344).10 Die erste Synthese der Zeit präsentiert Deleuze als Synthese einer »lebendigen Gegenwart«, die unter dem Zeichen der Gewohnheit steht. Sie weist einen passiven Status auf, da sie mit einer rein habituellen Wiederholung korrespondiert, die dem Bewusstsein in der Regel entgleitet. Dies gilt für einen Großteil der Wahrnehmungsmechanismen, die unsere Alltagserfahrung konstituieren, zugleich aber für die allermeisten Aktivitäten des Alltagslebens: Gehen, Treppen steigen, Kauen, Schlucken, Sprechen usw. sind Handlungen, die sich dem aktiven Bewusstsein normalerweise entziehen und sich quasi »automatisch« ereignen, sobald die entsprechende Aktivität ihren Anfang nimmt.11 Ob »Passivität« hierfür der bestmögliche Ausdruck unterscheidet er die »Synthesis der Apprehension«, die »Synthesis der Reproduktion« und die »Synthesis der Rekognition«. Deleuze spricht seinerseits von den Synthesen der Gewohnheit, des Gedächtnisses und der Metamorphose, die den Zeitmodi Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zugeordnet werden (DW 99-130). 10 Marc Rölli hat darauf hingewiesen, dass der Begriff der »passiven Synthesis« ursprünglich von Husserl stammt, von dem das Werk Merleau-Pontys wesentlich beeinflusst ist (vgl. Rölli 2003, 150-202). Obwohl Deleuze nicht ausdrücklich erläutert, welchen Quellen er den Begriff entnommen hat, ist davon auszugehen, dass er mit Husserls und MerleauPontys Konzeption vertraut war, da beide Autoren in Differenz und Wiederholung ausführlich behandelt werden. Trotz seiner Vorbehalte gegenüber der Phänomenologie würde Deleuze Merleau-Pontys Definition der passiven Synthesis aus dessen Phänomenologie der Wahrnehmung vermutlich uneingeschränkt bejahen. Dort heißt es: »Eine passive Synthesis wäre ein Widerspruch in sich, bedeutete Synthesis Komposition, bestünde aber alle Passivität in bloßer Hinnahme – und nicht der Zusammensetzung – des Mannigfaltigen. Doch wollte die Rede von passiver Synthesis vielmehr sagen, daß in ihr das Mannigfaltige zwar von uns durchdrungen ist, gleichwohl aber nicht wir es sind, die seine Synthese vollbringen« (Merleau-Ponty 1966, 485). Zu Deleuzes Verhältnis zur Phänomenologie, vgl. außerdem Rölli 2002. 11 Vgl. hierzu etwa folgende Bemerkung aus Nietzsches Nachlassschriften: »Das was einer zweckbewußten Handlung vorhergeht, im Bewußtsein z.B. das Bild des Kauens dem Kauen, ist gänzlich unbestimmt: und wenn ich es wissenschaftlich genauer mache, so ist dies auf die Handlung selber ohne Einfluß. Eine Unzahl von einzelnen Bewegungen werden vollzogen, von denen wir vorher gar nichts wissen, und die Klugheit der Zunge z.B. ist viel größer als die Klugheit unseres Bewußtseins überhaupt. Ich leugne, daß diese Bewegungen durch unseren Willen hervorgebracht werden; sie spielen sich ab, und bleiben uns unbekannt« (Nietzsche 1996b, 85).
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ist, lässt sich zweifellos diskutieren, denn Deleuze meint keinesfalls, dass der wiederholende Akteur nichts tut. »Passivität« bedeutet hier stattdessen, dass der Akteur strenggenommen nicht als aktives Subjekt handelt, sondern eben auf der Basis einer passiven Synthese, die seine bewusste Aktivität zuallererst möglich macht. Dass Deleuze diesen ersten Wiederholungstyp in der »lebendigen Gegenwart« situiert, lässt sich nun so verstehen, dass Vergangenheit und Zukunft im Kontext der Gewohnheit lediglich als Dimensionen der Gegenwart fungieren. Durch die Gewohnheit kommt es demnach zu einer »Kontraktion« der Zeit, d.h. Vergangenheit und Zukunft werden zu einer aktuellen Gegenwart zusammengezogen, die zugleich als gleichförmig weiterlaufende, kontinuierliche Serie konzipiert wird. Die erste Synthese der Zeit zieht somit »die unabhängigen sukzessiven Augenblicke jeweils ineinander zusammen. Sie bildet damit die gelebte Gegenwart, die lebendige Gegenwart. Und diese Gegenwart ist es, in der sich die Zeit entfaltet. Sie ist es, der Vergangenheit und Zukunft zukommen: die Vergangenheit in dem Maße, wie die vorangehenden Augenblicke in der Kontraktion festgehalten werden; die Zukunft, weil die Erwartung Antizipation in ebendieser Kontraktion ist.« (DW 100)
Was die Gewohnheit ausmacht, ist demzufolge einerseits die Kontraktion der Zeit im Sinne einer »lebendigen Gegenwart«, andererseits aber auch die Bildung einer Erwartungshaltung in Bezug auf die Fortsetzung jener kontinuierlichen und gleichförmigen Dauer, als welche der Geist die aktuelle Gegenwart erfasst. Deleuze verdeutlicht dies im Folgenden anhand eines Beispiels von David Hume: »Hume nimmt als Beispiel eine Fallwiederholung vom Typ AB, AB, AB, A…Jeder Fall, jede objektive Sequenz AB ist von der anderen unabhängig. Die Wiederholung (aber man kann eben noch nicht von Wiederholung sprechen) ändert nichts am Objekt, am Sachverhalt AB. Dagegen ergibt sich eine Veränderung im betrachtenden Geist: eine Differenz, etwas Neues im Geist. Wenn A erscheint, erwarte ich nun das Erscheinen von B.« (99)12
Worauf es Deleuze bei diesem Beispiel ankommt, ist die Tatsache, dass auf der Ebene des Objekts faktisch noch nicht von Wiederholung gesprochen werden kann, da die einzelnen Fälle von Rechts wegen als unabhängig voneinander zu betrachten sind: »Das eine erscheint nur, wenn das andere verschwunden ist«. Die Wiederholung hat somit »kein Ansich« (DW 99), sondern äußert sich als Wiederholung nur im betrachtenden Geist, in den sie eine Differenz in Gestalt einer Erwartungshaltung ein-
12 Die Gewohnheiten betreffen folglich nicht allein das Handeln, sondern ebenso sehr die Betrachtung, weshalb Deleuze mit Bourdieu darin übereinstimmen würde, dass schon unsere Wahrnehmungsweisen vom jeweiligen Habitus erfasst sind. Zugleich geht auch Bourdieu davon aus, dass der Habitus die Zukunft zu einer Dimension der Gegenwart macht und im Sinne einer der Gewohnheit entsprechenden Erwartungshaltung antizipiert: »Der Habitus als Grundlage einer selektiven Wahrnehmung von Indizien […] und als Matrix zur Erzeugung von Reaktionen […] wird entsprechend einer wahrscheinlichen Zukunft festgelegt, die er vorwegnimmt und mit herbeiführt, weil er sie direkt aus der Gegenwart der vermuteten Welt als der einzigen herausliest, die er je erkennen kann« (Bourdieu 1999, 120).
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führt.13 Nun ist es allerdings nicht so, dass Deleuze an dieser Stelle zu einer dualistischen Sicht auf das Verhältnis von Materie und Geist, Objekt und Subjekt zurückkehren würde. Denn jener »betrachtende Geist«, der der nackten Wiederholung eine Differenz entlockt, wird von Deleuze nicht dem faktischen Bewusstsein eines aktiven Beobachters zugeordnet, sondern bereits auf einer unbewussten, subrepräsentativen Ebene angesetzt, die der Handlungsebene des aktiven Subjekts vorausliegt und nicht allein für den Menschen von konstitutiver Bedeutung ist. In diesem Sinne schreibt Deleuze, dass unter dem handelnden Ich »kleine Ichs [liegen], die betrachten und die Handlung wie das aktive Subjekt ermöglichen. Wir sagen ›ich‹ nur mittels der tausend Zeugen, die in uns betrachten; immer ist es ein Dritter, der ›ich‹ sagt. Und selbst bei der Ratte im Labyrinth und in jedem Muskel der Ratte müssen diese betrachtenden Seelen angenommen werden. Da jedoch die Betrachtung zu keinem Augenblick aus der Handlung hervortritt, da sie sich stets im Hintergrund hält, da sie nichts ›tut‹ (obwohl sich etwas, und zwar etwas völlig Neues, in ihr tut), kann man sie leicht vergessen und den ganzen Prozeß aus Reiz und Reaktion ohne Bezugnahme auf die Wiederholung interpretieren.« (DW 106)
Um Deleuzes Konzeption der ersten Synthese der Zeit zusammenzufassen, lässt sich also formulieren, dass sämtliche aktiven Handlungen einer passiven Synthese nachgeordnet werden, die eine Kontraktion der Zeit bewerkstelligt und das Subjekt mit den nötigen Wahrnehmungen und Erwartungen versorgt, welche dieses benötigt, um in der lebendigen Gegenwart – auf der Grundlage der Gewohnheit – agieren zu können. Nun lässt sich diese erste Synthese der Zeit jedoch faktisch nicht von den anderen beiden Synthesen isolieren, so dass generell von einer Verschachtelung aller drei Synthesen ausgegangen werden muss. Dass die Synthese der Gewohnheit nicht ausreicht, um das Verhältnis von Zeit und Subjektivität auf befriedigende Weise zu bestimmen, wird schon allein durch die Tatsache deutlich, dass die Gegenwart niemals verstreichen würde, wenn nur jene erste Synthese beteiligt wäre. Es gehört aber zum Wesen der Zeit, dass die Gegenwart vorübergeht, was Deleuze zunächst dadurch erklärt, dass das geistige Kontraktionsvermögen physikalisch beschränkt ist und es nach einer gewissen Dauer zu einer natürlichen Erschlaffung kommen muss.14 Dieser 13 Deleuzes Auffassung, dass die Wiederholung kein »Ansich« habe, kommt auch auf der konzeptionellen Ebene von Differenz und Wiederholung zum Ausdruck. Während das Differenzkapitel nämlich den Titel »Die Differenz an sich selbst« trägt, nennt Deleuze das Wiederholungskapitel »Die Wiederholung für sich selbst«. Diese wenig beachtete Unterscheidung mag auf Hegel verweisen, der – anders als Kant – zwischen »an sich« und »für sich« unterschieden hat. Nicht ganz von der Hand zu weisen wäre somit die Ansicht von Mirjam Schaub, nach der die explizite Ablehnung Hegels Deleuze auch dazu dienen mag, bestehende Gemeinsamkeiten »zu kaschieren, insbesondere was ihr Begriffs- und Philosophieverständnis anbelangt« (Schaub 2003a, 180). Zur Unterscheidung von »an sich« und »für sich« bei Hegel, vgl. Inwood 1992, 133-136. 14 Da die Gegenwart vorübergeht, kommt der ersten Synthese der Zeit laut Deleuze bloß ein »innerzeitlicher« Charakter zu. Theoretisch ließe sich zwar durchaus »eine immerwährende Gegenwart ersinnen, eine Gegenwart in Koextension zur Zeit […]. Aber es gibt keine physische Möglichkeit einer derartigen Gegenwart: Die Kontraktion in der Betrachtung be-
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Vorgang verweist Deleuze zufolge nun auf das Paradox, dass die Gegenwart die Zeit zwar konstituiert und somit eine »Gründung der Zeit« bewerkstelligt, zugleich aber in dieser Zeit vorübergeht, so dass nach einer anderen Zeit und einer anderen Synthese als »Grund der Zeit« (DW 111) gesucht werden muss. Während die erste Synthese also die Gegenwart betrifft, im Zeichen der Gewohnheit steht und eine »Gründung der Zeit« vollzieht, betrifft die zweite Synthese die Vergangenheit, steht im Zeichen des Gedächtnisses und bildet den »Grund der Zeit«.15 Durch das Hinzukommen dieser zweiten – ebenfalls als passiv qualifizierten – Synthese lässt sich nun auch die soeben vorgebrachte Bemerkung über das Vorübergehen der Gegenwart spezifizieren. Denn die Beobachtung, dass die Gegenwart vorübergeht, reicht Deleuze zufolge noch nicht aus, um die Komplexität der zeitlichen Dynamiken, d.h. die Gleichzeitigkeit von Vorübergehen und Bewahren als Grundbedingung der Zeit, philosophisch auf den Begriff zu bringen. Das grundlegende Paradox der Zeit sieht Deleuze demnach in der Tatsache, dass die Zeit zwar (als Gegenwart) vorübergeht, sich zugleich aber (als Vergangenheit) an sich selbst erhält. Um den Charakter der zweiten passiven Synthese der Zeit bestimmen zu können, muss daher zunächst auf Deleuzes Begriff der Vergangenheit eingegangen werden. Während Deleuze sich im Falle der ersten Synthese besonders auf Hume und dessen Konzeption der Gewohnheit stützt, wendet er sich bezüglich der Bestimmung der Vergangenheit vor allem Bergson und dessen Studie Materie und Gedächtnis zu. Mit Bergson geht Deleuze einerseits davon aus, dass die Vergangenheit gewissermaßen das »Ansich« der Zeit bildet und »die aktuelle Gegenwart nur die maximale Kontraktion all dieser Vergangenheit ist, die mit ihr koexistiert« (DW 115).16 Zudem beruft sich Deleuze auf Bergson, wenn er von der virtuellen Vorgängigkeit der Vergangenheit ausgeht und die These vertritt, dass die Gegenwart nicht erst dann vorübergeht, wenn sich ihre jeweilige Vergangenheit gebildet hat, sondern quasi zur gleichen Zeit gegenwärtig und bereits vergangen ist: »Niemals würde eine Gegenwart vergehen, wenn sie nicht ›zur gleichen Zeit‹ vergangen wie gegenwärtig wäre; niemals würde sich eine Vergangenheit bilden, wenn sie sich nicht zunächst ›zur gleichen Zeit‹, als sie Gegenwart gewesen ist, gebildet hätte« (113).17 Während sich die Gegenwart also wirkt stets die Qualifizierung einer Wiederholungsordnung nach Elementen oder Fällen. Sie bildet notwendig eine Gegenwart von einer gewissen Dauer, eine Gegenwart, die sich erschöpft und vorübergeht und je nach berücksichtigten Arten, Individuen, Organismen und Teilen von Organismen variiert« (DW 107-108). 15 In gewisser Weise war das Gedächtnis jedoch bereits an der Synthese der Gewohnheit beteiligt, da die habituellen Praktiken des passiven Subjekts überhaupt nur durch eine dauerhafte Speicherung der sensomotorischen Abläufe im Körper erfolgen können. In der ersten Synthese der Zeit ist somit ein habituelles »Körpergedächtnis« am Werk, das sich vom Gedächtnis der zweiten Synthese allerdings wesentlich unterscheidet. Vgl. in diesem Kontext auch Bergsons Unterscheidung zwischen »habituellem« und »attentivem« Wiedererkennen (Bergson 1964, 102-149). 16 Vgl. hierzu Bergsons berühmtes Modell des »Zeitkegels« (Bergson 1964, 165-166). 17 Mirjam Schaub bemerkt hierzu passend, dass die Gegenwart Deleuze zufolge »nur vergehen kann, wenn ihr das Vergangen-Sein als Bestimmung bereits innewohnt; wie auch umgekehrt gilt, daß nur das larvenhaft schon Angelegte sich im Zuge eines Werdens entfalten kann« (Schaub 2003a, 216).
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dadurch charakterisieren lässt, dass sie stets nur von einer jeweils unterschiedlich langen Dauer ist und vorübergeht, erhält sich die Vergangenheit »an sich selbst« und bildet somit den Grund der Zeit, nämlich eine virtuelle und gewissermaßen »reine Vergangenheit« (DW 113), die durch die aktiven Gedächtnissynthesen auf diese oder jene Weise aktualisiert werden kann. Das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit lässt sich dementsprechend nicht allein im Sinne einer linearen Abfolge denken, sondern muss der Irreversibilität des Vorübergehens der jeweiligen Gegenwart ebenso Rechnung tragen wie der Simultanität von Gegenwart und Vergangenheit, zu der es aufgrund der »Insistenz« der reinen Vergangenheit in der jeweils aktuellen Gegenwart kommt. Hinsichtlich des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart ergeben sich hieraus drei weitgehend »paradoxale« Bestimmungen, die von Deleuze folgendermaßen zusammengefasst werden: »Dies ist das erste Paradox: das Paradox der Gleichzeitigkeit der Vergangenheit mit der Gegenwart, die sie gewesen ist. Es gibt uns den Grund für die vorübergehende Gegenwart an. Darum nämlich, weil die Vergangenheit zu sich selbst als Gegenwart gleichzeitig ist, geht jede Gegenwart vorüber und vergeht zu Gunsten einer neuen Gegenwart. Ein zweites Paradox folgt daraus, das Paradox der Koexistenz. Wenn nämlich jede Vergangenheit gleichzeitig zu der Gegenwart ist, die sie gewesen ist, so koexistiert die gesamte Vergangenheit mit der neuen Gegenwart, bezüglich welcher sie nun vergangen ist. […] Die Vergangenheit läßt keine der Gegenwarten vergehen, ohne die andere geschehen zu lassen, sie selbst aber vergeht weder, noch geschieht sie. Darum ist sie keineswegs eine Dimension der Zeit, sondern die Synthese der Zeit insgesamt, wobei Gegenwart und Zukunft bloß deren Dimensionen sind. Man kann nicht sagen: Sie war. Sie existiert nicht mehr, sie existiert nicht, sondern sie insistiert, sie besteht [consiste], sie ist. Sie insistiert mit der früheren Gegenwart, sie besteht [consiste] zusammen mit der aktuellen oder neuen. Sie ist das Ansich der Zeit als letzter Grund des Übergangs. In diesem Sinne prägt sie ein reines, allgemeines Element a priori aller Zeit […]. Das Paradox der Präexistenz ergänzt also die beiden anderen: Jede Vergangenheit ist gleichzeitig zur Gegenwart, die sie gewesen ist, jede Vergangenheit koexistiert mit der Gegenwart, bezüglich welcher sie vergangen ist, aber das reine Element der Vergangenheit allgemein ist gegenüber der Gegenwart, die vergeht, präexistent.« (DW 113-114)
Die hier beschriebene Realität einer präexistenten und zugleich mit der jeweiligen Gegenwart koexistierenden reinen Vergangenheit ist für das Verständnis von Deleuzes Philosophie von wesentlicher Bedeutung. Denn dass Deleuze die Gegenwart demnach als Aktualisierung oder »Kontraktion« einer virtuellen Vergangenheit versteht und allgemein auf der ontologischen Unterscheidung von Virtualität und Aktualität beharrt, lässt sich gut nachvollziehen, wenn man sich der repräsentationskritischen Grundlagen seines Denkens erinnert. Wie noch ausführlicher im Kapitel über Deleuzes Filmphilosophie erläutert wird (für die Bergsons Konzeption der Zeit und des Gedächtnisses eine wesentliche Inspirationsquelle darstellt), können das Virtuelle und dessen Aktualisierung nicht auf gleiche Weise verstanden werden wie das Mögliche und dessen Realisierung.18 Unter Aktualisierung versteht Deleuze nicht die 18 Auch hier kann sich Deleuze auf Bergson berufen, der in seinem Aufsatz »Das Mögliche und das Wirkliche« (Bergson 2000, 110-125) die philosophische Ansicht kritisiert, eine Entwicklung wäre die quasi vorprogrammierte Verwirklichung einer bereits bestehenden
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simple Reproduktion einer früheren Gegenwart, sondern stets einen schöpferischen Entfaltungs- und Werdensprozess, der ausgehend von einem virtuellen Horizont nicht-aktualisierter Potentialitäten eine Produktion von Neuem bewirkt. In Bezug auf die Konzeption des Gedächtnisses im Rahmen der Bestimmung der zweiten Synthese der Zeit heißt es daher auch, dass es nicht die reine Vergangenheit ist, die repräsentiert wird, da diese grundsätzlich nicht repräsentierbar ist. Was dagegen repräsentiert wird, ist jeweils bloß »die Gegenwart als frühere oder aktuelle Gegenwart. Die reine Vergangenheit aber ist es, durch die sich die Zeit auf diese Weise in der Repräsentation entfaltet« (DW 114). Wesentlich an Deleuzes Konzeption der reinen Vergangenheit ist somit die Eigentümlichkeit ihres ontologischen Charakters: Sie ist virtuell aber nicht aktuell, noumenal aber nicht empirisch, sie besitzt zwar keine »Existenz« im strikten Sinne des Begriffs, verfügt aber über eine reale Wirksamkeit, insofern sie mit der jeweiligen Gegenwart »insistiert«. Der letzte Punkt ist wichtig, um die reine Vergangenheit und Deleuzes Konzeption des Virtuellen insgesamt nicht mit einer platonischen Ideal- oder Hinterwelt zu verwechseln. Hierauf weist auch Mirjam Schaub hin, wenn sie betont, dass sich die »Wirksamkeit des Virtuellen […] im Wirklichen behaupten« und »auf die ein oder andere Weise verkörpern und ausdrücken« muss (Schaub 2003a, 220).19 Noch zu klären ist an dieser Stelle allerdings die Frage, inwiefern die Synthese des Gedächtnisses als passive Synthese zu verstehen ist und welcher Status ihr im Hinblick auf die erste Synthese der Zeit zukommt. Wichtig hierbei ist zunächst, die passive Synthese des Gedächtnisses nicht mit der aktiven Gedächtnisleistung zu verwechseln. Zwar bestreitet Deleuze keinesfalls den Stellenwert der aktiven Synthese der Erinnerung, nur argumentiert er (wie im Falle der ersten Synthese) auch hier wieMöglichkeit: »Wenn man übrigens so das Mögliche als die Voraussetzung des Wirklichen auffaßt, gibt man zu, daß die Verwirklichung irgend etwas der einfachen Möglichkeit hinzufügt: das Mögliche wäre von vornherein dagewesen wie ein Gespenst, das auf die Stunde seines Erscheinens wartet; es wäre also Wirklichkeit geworden durch Hinzufügung von irgend etwas, durch ich weiß nicht welche Bluttransfusion« (Bergson 2000, 121). Das Mögliche beinhaltet insofern stets weniger als dessen Realisierung, was u.a. auch die Differenz zwischen dem Realisierungs- und dem Aktualisierungsmodell anschaulich macht. Denn während die Verwirklichung dem Möglichen etwas hinzufügt, das diesem auf seinem Weg »in die Realität« noch fehlt, beinhaltet das Virtuelle laut Deleuze stets mehr als seine jeweilige Aktualisierung. 19 Auch wenn die reine Vergangenheit prinzipiell unrepräsentierbar ist, weist Deleuze auf eine Möglichkeit hin, in sie einzudringen, nämlich mittels der Wiedererinnerung des unwillkürlichen Gedächtnisses. Hier beruft sich Deleuze auf Proust, der die unwillkürliche Wiedererinnerung »von jeder aktiven Synthese des willkürlichen Gedächtnisses« unterschieden habe: »Combray taucht nicht in der Art wieder auf, wie es gegenwärtig war oder sein könnte, sondern in einem Glanz, der nie erlebt wurde, als eine reine Vergangenheit, die schließlich ihre doppelte Unreduzierbarkeit offenbart: auf die Gegenwart, die sie gewesen ist, aber auch auf die aktuelle Gegenwart, die sie sein könnte – dank einer Verkeilung beider. Die früheren Gegenwarten lassen sich in der aktiven Synthese jenseits des Vergessens repräsentieren, soweit das Vergessen empirisch besiegt ist. Hier aber taucht Combray im Vergessen und als Unvordenkliches in Form einer Vergangenheit auf, die niemals gegenwärtig war: das Ansich Combrays« (DW 117).
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der, dass die passiven Synthesen den aktiven stets vorausgehen. In Bezug auf das Gedächtnis bedeutet dies, dass die aktive Synthese der Erinnerung auf ein passives Gedächtnis angewiesen ist, das eine unbewusste Speicherung der Vergangenheit vollzieht, auf deren Grundlage die aktive Gedächtnissynthese überhaupt erst operieren kann. Ohne die Existenz eines derart passiven Gedächtnisses (welches von Deleuze mit der reinen Vergangenheit identifiziert wird20) gäbe es nichts, was sich in der aktiven Erinnerung »repräsentieren« ließe. Dasjenige aber, was mittels der bewussten Erinnerung schließlich repräsentiert und wiederholt wird, ist nie die reine Vergangenheit an sich, sondern diese in einer den Erfordernissen der jeweiligen Gegenwart entsprechenden »Zurichtung«. In der Repräsentation der aktiven Synthese des Gedächtnisses erfährt die Vergangenheit daher eine zweifache Vermittlung, die jeweils die Gegenwart betrifft: Erstens nämlich lässt sich die Vergangenheit nur in der Form einer »früheren Gegenwart« repräsentieren, und zweitens verfügt die Repräsentation selbst jeweils über eine zusätzliche Dimension, so dass sie »nicht nur etwas«, sondern zudem »ihre eigene Repräsentativität repräsentiert« (DW 112). In der aktiven Synthese des Gedächtnisses wird daher nicht nur die frühere Gegenwart reproduziert, auch wird diese Operation selbst im Lichte der aktuellen Gegenwart reflektiert, so dass sich Reproduktion und Reflexion permanent überlagern: »Die aktive Synthese besitzt also zwei wechselseitig sich bedingende und dennoch nicht symmetrische Aspekte: Reproduktion und Reflexion, Sicherinnern und Erkennen, Gedächtnis und Verstand« (112). Der zweiten Synthese der Zeit kommt im Kontext von Deleuzes Philosophie somit ein insgesamt doppeldeutiger Status zu. Einerseits nämlich ist die hier artikulierte Vorstellung von einer reinen Vergangenheit, die mit der jeweiligen Gegenwart koexistiert, für Deleuzes Philosophie der Differenz und des Werdens von wesentlicher Bedeutung. Die Virtualität der reinen Vergangenheit ist gewissermaßen die Differenz selbst, insofern sie auf die allgemeine Nicht-Identität sämtlicher aktueller Dinge und Sachverhalte verweist. In ihrer Koexistenz mit der Gegenwart »umhüllt« sie jedwede Aktualität und impliziert stets mehr als jeweils aktuell vorhanden ist. Sie bildet folglich dasjenige zeitliche Element, welches sich der Gegenwart entzieht und dieser ein potentielles Werden, d.h. eine Aktualisierungsmöglichkeit verschafft. Andererseits ist Deleuze jedoch der Ansicht, dass – analog zur ersten Synthese – auch die zweite Synthese der Zeit noch im Zeichen von Repräsentation und Identität steht. Dies erläutert Deleuze, indem er konzediert, dass der »Grund« letztlich relativ zu dem ist, was er »begründet«. Anders gesagt: Die passive Synthese des Gedächtnisses ist zwar nicht auf die Repräsentation rückführbar, sondern geht dieser von Rechts wegen voraus; faktisch jedoch extrahiert die Repräsentation (in Form der aktiven Synthese des Gedächtnisses) der reinen Vergangenheit stets diejenigen »Erinnerungen«, die in Abhängigkeit von der Synthese der Gewohnheit gegenwärtig benötigt werden. Die reine Vergangenheit fällt somit unweigerlich »in den Status einer früheren und womöglich mythischen Gegenwart zurück« und lässt dabei »jene Illusion einer Identität 20 Vgl. DW 113: »Während die passive Synthese der Gewohnheit die lebendige Gegenwart in der Zeit konstituiert und Vergangenheit und Zukunft zu den beiden asymmetrischen Elementen dieser Gegenwart macht, konstituiert die passive Synthese des Gedächtnisses die reine Vergangenheit in der Zeit und macht die frühere und die aktuelle Gegenwart […] zu den beiden asymmetrischen Elementen dieser Vergangenheit als solcher«.
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im Ursprung und einer Ähnlichkeit im Abgeleiteten« wiedererstehen (DW 146). Noch deutlicher macht Deleuze dies an anderer Stelle, wenn er die zweite Synthese der Zeit wie folgt charakterisiert: »Sie ist Grund, Ansich, Noumenon, Idee. Sie ist aber noch relativ zur Repräsentation, die sie begründet. Sie stockt die Prinzipien der Repräsentation auf, nämlich die Identität, aus der sie das Merkmal des unvordenklichen Urbilds macht, und die Ähnlichkeit, aus der sie das Merkmal des gegenwärtigen Bilds macht: das Selbe und das Ähnliche. Sie ist nicht auf die Gegenwart reduzierbar und steht über der Repräsentation; und dennoch macht sie die Repräsentation der Gegenwarten bloß zirkulär oder unendlich.« (DW 121)
Bezieht man die zweite Synthese der Zeit nun auf die erste, dann wird die wesensmäßige Zusammengehörigkeit der beiden Synthesen offenkundig. Dies heißt genauer, dass beide Synthesen gleichermaßen an der Produktion von Identität, Beständigkeit und Kohärenz beteiligt sind und somit für die Selbsterfahrung des Subjekts als aktiv handelndes und integriertes Ich eine konstitutive Rolle spielen. Denn während die erste Synthese der Zeit das Subjekt in der lebendigen Gegenwart mittels habitueller Wiederholungen und der Konstitution einer Erwartungshaltung handeln lässt, kommt im Rahmen der zweiten Synthese ein Gedächtnis ins Spiel, das die Vergangenheit in Abhängigkeit von den Erfordernissen der aktuellen Gegenwart verfügbar macht. Die Vergangenheit bildet folglich den Grund, auf den sich das Subjekt beziehen kann, wenn es die Gegenwart mit den vergangenen Bildern »abgleicht«, welche allerdings derart vorsortiert sind, dass Gegenwart und Vergangenheit nun im Modus einer Ähnlichkeitsbeziehung miteinander korrelieren. Die aus der Wahrnehmung und der Erinnerung gewonnenen Sinnesdaten sind im Falle beider Synthesen also auf die aktuelle Gegenwart und die jeweiligen motorischen Handlungszwänge gerichtet, so dass mit Bergson vom menschlichen Erkenntnisapparat als einem sensomotorischen Kreislauf gesprochen werden kann.21 Das Subjekt lässt sich demnach als eine wesentlich zeitliche Zusammensetzung verstehen: eine Zusammensetzung mithin, die auf passiven Synthesen beruht, aufgrund derer das Subjekt die Gegenwart mittels der Gewohnheit meistert und die Vergangenheit unter Zuhilfenahme eines Modells reflektiert, das auf den Kategorien des Selben und des Ähnlichen beruht. Was Deleuze dieser Konzeption in philosophischer Hinsicht abgewinnt, ist zunächst einmal die Außerkraftsetzung eines essentialistischen Begriffs von Subjektivi-
21 Vgl. Bergson 1964, 154: »Der psychische Zustand, den ich ›meine Gegenwart‹ nenne, muß also zugleich eine Wahrnehmung der unmittelbaren Vergangenheit und eine Bestimmung der unmittelbaren Zukunft sein […]. Meine Gegenwart ist also zugleich Empfindung und Bewegung; und da meine Gegenwart ein unteilbares Ganzes bildet, muß diese Bewegung sich dieser Empfindung anschließen und sie als Handlung fortführen. Woraus ich schließe, daß meine Gegenwart aus einem kombinierten System von Empfindungen und Bewegungen besteht. Meine Gegenwart ist ihrem Wesen nach sensorisch-motorisch«. Bergsons Konzeption des »sensomotorischen Schemas« taucht später in Deleuzes Kinobüchern wieder auf, wo sie besonders am Beispiel des »Bewegungs-Bildes« diskutiert wird. Vgl. hierzu in der vorliegenden Studie vor allem das Kapitel über Deleuzes Filmphilosophie (Teil I, Kap. 4) und das Kapitel über den Westernfilm (Teil II, Kap. 2).
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tät, der das Subjekt als vorgängige, integrierte Entität veranschlagt.22 Ja, lässt sich mit Deleuze sagen, es gibt das Subjekt, aber nur als gleichermaßen zusammengesetztes (passiv synthetisiertes) und in sich zerbröseltes. Ja, es gibt Konsistenz und Kohärenz, aber nur als in der Zeit produzierte. Jede Kohärenz ist dementsprechend zeitlicher Natur, da sie niemals Anfang, sondern stets nur das Resultat sein kann, das temporär durch Wiederholungsprozesse hervorgebracht wird. Die ersten beiden Synthesen der Zeit können somit einem prozessualen Konstruktivismus zugerechnet werden, der das Gleichartige und mit sich Identische nicht als ontologische Voraussetzung begreift, sondern als Effekt jener Synthesen selbst, auf deren Basis die Identität und Erkenntnisfähigkeit des Subjekts erst gebildet werden. Nun verkörpert ein derartiger Konstruktivismus zwar einen wesentlichen Aspekt von Deleuzes Zeitphilosophie, ist für sich genommen aber noch als defizitär zu qualifizieren. Denn auch wenn das Gleichartige im Kontext der ersten beiden Synthesen nicht länger als Voraussetzung, sondern nur mehr als Produkt begriffen wird, kann der Bezug der Wiederholung auf das »Ungleichartige«, das Neue und Differente hier noch nicht ausreichend hervorgehoben werden. Zeit – die Deleuzes Ontologie entsprechend als die Bedingung für die Transformationsfähigkeit der Welt und deren Nicht-Identität sich selbst gegenüber zu gelten hat – bleibt in den ersten beiden Synthesen paradoxerweise noch weitgehend auf »das Gleiche« bezogen. Würde man eine Zeitphilosophie allein aus den ersten beiden Synthesen bilden, dann entstünde das Bild einer tendenziell bruchlosen Welt ohne Riss zwischen dem Vergangenen und dem Kommenden, d.h. einer vollständig »kontrahierten« Welt, in der die Zukunft mit der Erwartungshaltung des passiven Subjekts zusammenfiele. Wie aber lässt sich nun im Rahmen von Deleuzes Zeitphilosophie dem Ungleichartigen und Neuen gerecht werden und die Wiederholung auf die Differenz hin öffnen? Wie lässt sich die reine Vergangenheit aus der zweiten Synthese, ja selbst noch die Gegenwart, zu einer Kategorie des Kommenden und der Zukunft machen? Derlei Fragen lassen sich beantworten, sofern man die dritte und letzte Synthese in Betracht zieht, die Deleuze in Differenz und Wiederholung behandelt. Als erster Einstieg in die Konzeption der dritten Synthese lohnt es sich, zunächst an das modalzeitliche Schema von Deleuzes zeitphilosophischer Gesamtkonstruktion zu erinnern. So stellen Vergangenheit und Zukunft im Rahmen der ersten Synthese lediglich Dimensionen der Gegenwart dar und werden von dieser (der »Gründung« der Zeit) absorbiert. In der zweiten Synthese werden Gegenwart und Zukunft ihrerseits zu Dimensionen der Vergangenheit als dem Ganzen bzw. dem »Grund« der Zeit. Für die dritte Synthese gilt folglich, dass Vergangenheit und Gegenwart nun zu Dimensionen der Zukunft werden, wobei der Grund und die Gründung einem »Abgrund« oder »Ungrund« Platz machen, der auf einen Bruch zwischen dem Vergangenen und dem Kommenden verweist. Die dritte Synthese hebt die Zeit somit »aus den Angeln« (DW 123): Die Zukunft ist keine Dimension von Gegenwart oder Vergangenheit mehr, sondern affiziert die Zeit als Ganzes, die nun einen »Riss« zwischen dem Vorher und Nachher anzeigt. Dieser Riss, der das Verhältnis von Vergangenheit 22 In dieser Hinsicht bestehen wesentliche Analogien zwischen den Arbeiten von Deleuze und denen seiner strukturalistischen und poststrukturalistischen Zeitgenossen (Lacan, Althusser, Derrida, Foucault usw.). Was Deleuzes Ansatz jedoch unterscheidet, ist die Tatsache, dass seine Subjektkritik auf der Basis einer zeitphilosophischen Ontologie begründet wird.
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und Zukunft als ein zunehmend asymmetrisches erscheinen lässt, trägt dem prinzipiell offenen Charakter der Zukunft Rechnung und bewerkstelligt dabei einen nachhaltigen Bruch mit den Synthesen der Gewohnheit und des Gedächtnisses. Bezieht man die dritte Synthese der Zeit nun auf die ersten beiden Synthesen, dann stößt man zunächst auf eine Reihe von Unklarheiten. Denn wie weiter oben erläutert wurde, sind die Synthesen der Gewohnheit und des Gedächtnisses jeweils auf die Wiederholung bezogen und auf direkte Weise mit dem Problem der Subjektivität verkoppelt, sofern sie als »passive Synthesen« die Bedingung für jedwede Aktivität des Subjekts darstellen. Doch inwiefern gilt dieser Bezug auf Subjektivität und Wiederholung noch für die dritte Synthese? Geht das Subjekt nicht vollends in der Erwartung auf, das Kommende sei nichts als die bruchlose Verlängerung der Gegenwart? Und welchen Sinn macht es, den Begriff der Wiederholung zu verwenden, wenn dieser nicht mehr auf das Gleichartige und die Reproduktion der Vergangenheit bezogen wird, sondern auf das Ungleichartige und Neue? Deleuze antwortet hierauf zunächst, indem er den Riss zwischen Vergangenheit und Zukunft im Subjekt selbst ausmacht und dieses als in zeitlicher Hinsicht »gespaltenes« charakterisiert, wobei er sich einmal mehr auf Kants Kritik an Descartes Cogito und den Riss zwischen passiv-rezeptivem und aktiv-spontanem Ich bezieht.23 Die in der dritten Synthese der Zeit auftretende Zäsur zwischen Vorher und Nachher wird somit auf direkte Weise mit dem gespaltenen Ich verkoppelt: »Die Zäsur und das von ihr ein für allemal festgelegte Vorher und Nachher sind es, die den Riß im Ego ausmachen (die Zäsur ist genau der Ursprungsort des Risses)« (DW 122). Die dritte Synthese der Zeit hängt folglich ebenso sehr mit der Frage der Konstitution von Subjektivität zusammen wie die anderen beiden Synthesen. Worauf es jedoch ankommt, ist die Tatsache, dass der Gegenwart und der Vergangenheit des Subjekts im Rahmen der dritten Synthese ein völlig neuer Sinn zukommt. Denn während Gegenwart und Vergangenheit im Falle der ersten beiden Synthesen mit der Gewohnheit und dem Gedächtnis verknüpft waren und sich das Subjekt daher im Kontext des »Gleichartigen« verorten ließ, werden Gegenwart und Vergangenheit in der dritten Synthese auf die unbestimmte Zukunft bezogen. Die Vergangenheit hört somit auf, Objekt der Repräsentation zu sein und wird zur Bedingung des Neuen, während die Gegenwart nicht mehr im Zeichen von Gewohnheit und Erwartung steht, sondern zur liminalen Ereigniszeit, zur »Gegenwart der Metamorphose« wird (DW 124). Entsprechend handelt es sich nun auch um ein anderes »Subjekt«: um ein Subjekt nämlich, das nicht mehr primär von Habitus und Mnemosyne bestimmt wird, sondern mit einem Glauben an die Differenz des Kommenden, d.h. einem »Zukunfts23 Vgl. DW 119: »Kants Antwort [auf Descartes] ist berühmt: Die Form, in der die unbestimmte Existenz durch das Ich denke bestimmbar ist, ist die Form der Zeit… Die Konsequenzen daraus sind unabsehbar: Meine unbestimmte Existenz kann nur in der Zeit bestimmt werden, als Existenz eines Phänomens, eines passiven oder rezeptiven phänomenalen Subjekts, das in der Zeit erscheint. So daß die Spontaneität, deren ich im Ich denke bewußt bin, nicht als Attribut eines substanziellen und spontanen Wesens, sondern nur als Affektion eines passiven Ichs begriffen werden kann, das fühlt, daß sein eigenes Denken, seine eigene Intelligenz, dasjenige wodurch es ICH [JE] sagt, in ihm und auf es – und nicht durch es – wirkt. Damit beginnt eine lange unerschöpfliche Geschichte: ICH [JE] ist ein anderer, oder das Paradox des inneren Sinns«.
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glauben« (DW 124) ausgestattet ist. Deleuze zufolge fällt das Subjekt hier mit seinen eigenen Handlungen zusammen und wird von diesen sogleich verändert, so dass es im Zuge der Handlung zur »Metamorphose des Handelnden« (128) kommt. Das Subjekt wird also nicht länger mittels Gewohnheit und Gedächtnis auf das Gleichartige bezogen, sondern ist vielmehr durch das Scheitern von Habitus und Erinnerung bestimmt: »Das Ich hat sich dem Ungleichen an sich angeglichen« (123). Wie aber lässt sich nun verstehen, dass die Vergangenheit in der dritten Synthese der Zeit zu einer Bedingung des Neuen wird? Deleuze erläutert dies, indem er auf die »Wiederholung in der Geschichte« (125) verweist, worunter er allerdings keine historischen Analogien oder Korrespondenzen versteht, sondern die »historische Bedingung, unter der etwas Neues wirklich entsteht« (123). In diesem Kontext kritisiert Deleuze, wie der Begriff der Wiederholung gängigerweise auf die Geschichte bezogen wird: »Die Ähnlichkeit zwischen Luther und Paulus, zwischen der Revolution von 1789 und der Römischen Republik usw. offenbart sich nicht in der Reflexion des Historikers, vielmehr sind die Revolutionäre zunächst für sich selbst dazu bestimmt, sich als ›wiedererstandene Römer‹ zu erleben, bevor sie zur Tat fähig werden, die sie durch Wiederholung im Modus einer eigenen Vergangenheit begonnen haben, also unter Bedingungen, unter denen sie sich notwendig mit einer Gestalt der historischen Vergangenheit identifizierten. Die Wiederholung ist eine Bedingung der Tat, bevor sie zu einem Reflexionsbegriff wird.« (DW 123-124)24
Was an diesem Zitat deutlich wird, ist die Tatsache, dass Deleuze die Wiederholung hier nicht mehr im Kontext des Gleichartigen verortet, sondern nun als Bedingung des Neuen begreift. Wenn die Revolution von 1789 also der Römischen Republik »ähnelt«, weil die französischen Revolutionäre sich mit den Römern als »Figuren der Vergangenheit« (125) identifizierten, dann wird der Akt der Wiederholung zu einem offenen Aktualisierungsprozess, durch den die Geschichte gerade nicht den Charakter eines hermetischen Zirkels annimmt, sondern zu einer Produktionsstätte des Neuen wird. Für Deleuzes Auffassung charakteristisch ist dabei die Tatsache, dass er die Vergangenheit zwar als Bedingung des Zukünftigen versteht, dass er das neu Hervorgebrachte zugleich aber als quasi bedingungslos qualifiziert. Denn aufgrund der Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft, Ursache und Wirkung, Virtualität und Aktualisierung führt auch keine vorhersehbare, lineare Verbindung von der vergangenen Bedingung zum zukünftig Hervorgebrachten, das nur retrospektiv auf seine Bedingung zurückgeführt werden kann.25 Anders gesagt: Die Wiederholung der Vergangenheit stellt zwar die Bedingung dar, unter der »etwas Neues wirklich entsteht« 24 In der Darstellung seiner Konzeption der historischen Wiederholung bezieht sich Deleuze mehrfach auf das 12. Kapitel von Harold Rosenbergs The Tradition of the New (»The Resurrected Romans«) sowie die Marxsche Differenzierung der Geschichte als »Tragödie« und »Farce« (vgl. Marx 2007, 9 ff. und Rosenberg 1982, 154-177). 25 Vgl. DW 127: »Die Synthese der Zeit bildet hier eine Zukunft, die zugleich den unbedingten Charakter des Hervorgebrachten im Verhältnis zu seiner Bedingung und die Unabhängigkeit des Werks im Verhältnis zu seinem Autor oder Akteur affirmiert«. Ähnlich argumentiert Deleuze auch in Logik des Sinns, wenn er die »Unabhängigkeit der Wirkung« aufgrund ihrer »Wesensdifferenz zur Ursache« thematisiert (LS 126).
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(DW 123), die Art und Weise aber, wie die Vergangenheit wiederholt wird, ist in dieser niemals im Voraus gegeben. Mit Blick auf das Vorangehende lässt sich also argumentieren, dass Deleuze sein Vorhaben, zur Konzeption einer nicht-zirkulären Wiederholung zu gelangen, die keiner Reproduktion des Gleichartigen entspricht, sondern nunmehr als Bedingung für die Produktion des Neuen fungiert, erst im Rahmen der dritten Synthese der Zeit realisiert. Es ist daher auch bezeichnend, dass sich Deleuze hier einmal mehr auf Nietzsche beruft, dessen Konzeption der »ewigen Wiederkunft« er zum Vorbild seines eigenen Begriffs einer komplexen Wiederholung macht. Denn konträr zur geläufigen Lesart Nietzsches versteht Deleuze die ewige Wiederkunft gerade nicht als »Wiederkehr des Gleichen«, sondern als selektierende und differenzgenerierende Kraft, die für die Permanenz des Wandels steht.26 Die ewige Wiederkehr lässt Deleuze zufolge also nicht das Gleiche wiederkehren, sondern scheidet es vielmehr aus; dasjenige aber, welches »ewig« wiederkehrt, ist »das Differente, das Ungleichartige« (DW 371). Somit wird Nietzsches ewige Wiederkunft in Deleuzes Lesart zum Symbol für die Zeit an sich, die in Differenz und Wiederholung zur unwandelbaren Form alles Werdens und aller Veränderung erklärt wird: »Form radikalster Veränderung, aber die Form der Veränderung verändert sich nicht« (122).
2.3 D ER R ISS
UND DIE
P RODUKTION DES N EUEN
Geht man davon aus, dass Deleuzes Begriffsarbeit in Differenz und Wiederholung wesentlich auf die Konzeption jener nicht-zyklischen, produktiven und komplexen Wiederholung ausgerichtet ist, welche letztlich im Rahmen der dritten Synthese veranschaulicht wird, dann liegt es auf der Hand, die ersten beiden Wiederholungstypen lediglich als »Stadien« dieser Denkbewegung zu verstehen. So verwundert es auch nicht, dass Deleuze den Wiederholungstyp der dritten Synthese zur »königlichen Wiederholung« erklärt, »die sich die beiden anderen unterwirft und sie ihrer Autonomie beraubt« (DW 127). Dennoch wäre es falsch, die ersten beiden Synthesen zugunsten der dritten abzuqualifizieren oder als unwesentlich zu verwerfen, da sich die Komplexität von Deleuzes Konzeption erst dann erschließt, wenn man alle drei Wiederholungstypen gemeinsam und als ineinander verschachtelt betrachtet. So kann die »Produktion des Neuen« bei Deleuze generell erst dann zum Thema werden, nachdem die Instanzen der Gewohnheit und der reproduzierenden Erinnerung – die jener 26 Deleuzes Lesart der ewigen Wiederkehr als selektierende Kraft und nicht-zyklische Wiederholung findet sich bereits in Nietzsche und die Philosophie, wo es u.a. heißt: »Die ewige Wiederkunft ist nicht das Verharren Ein-und-Desselben, ist weder ein Gleichgewichtszustand noch die Dauer des Identischen. In der ewigen Wiederkunft kehrt nicht Ein-undDasselbe zurück, sondern ist die Wiederkunft selbst das Eine, das allein vom Diversen und von dem sich Unterscheidenden ausgesagt wird« (NP 53). Obwohl dieser Deutung sicherlich der Vorwurf der Selektivität gemacht werden kann, ist Nietzsches Konzeption der ewigen Wiederkehr doch komplexer angelegt, als es dem ersten Anschein nach wirken mag. Diesbezüglich weist Deleuze etwa darauf hin, dass »die falschen Interpretationen der ewigen Wiederkunft« (DW 21) in Also sprach Zarathustra mehrfach angeprangert und korrigiert werden. So macht Zarathustra seinen Tieren z.B. den Vorwurf, aus dem Gedanken der Wiederkehr ein »Leier-Lied« gemacht zu haben (vgl. Nietzsche 1994, Band II, 464).
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Produktion zunächst entgegenstehen – hinsichtlich ihrer jeweiligen Relevanz für die Konstitution von Subjektivität diskutiert worden sind. Insofern Deleuze sowohl die virtuelle Bedingung als auch das Unbedingte des durch den Prozess der Aktualisierung neu Hervorgebrachten denkt, fällt es generell schwer, seine Philosophie im Kontext des klassischen Dualismus von »Determination« und »Freiheit« zu verorten. Denn weder geht Deleuze von der Allmacht statischer Strukturen aus, die den Menschen oder das Leben vollends determinierten, noch korrespondiert seine Affirmation der Veränderung und des Neuen mit einem anachronistischen Verständnis von Autonomie. Stattdessen werden Strukturen von Deleuze als immer schon beweglich und verzeitlicht gedacht, d.h. als »Spielregeln«, die sich im Laufe des Spiels gleichwohl ändern können.27 Doch wie nun ließe sich das Verhältnis der drei Synthesen zueinander (und besonders das der dritten zu den ersten beiden) noch genauer bestimmen? Folgt man Deleuzes Ausführungen, dann wird klar, dass die Wiederholung nur dann zu einer »Kategorie der Zukunft« (DW 127) werden und eine Produktion des Neuen einsetzen kann, wenn sich das Gedächtnis in eine Bedingung des Kommenden verwandelt und ein »Scheitern des ›Habitus‹« (128) gelingt, sich also »Risse im Kontinuum verfestigter Gewohnheiten auftun« (Rölli 2003, 421). In dieser Hinsicht aber lässt das in Differenz und Wiederholung aufgestellte Schema der Zeitsynthesen wesentliche Fragen unbeantwortet. Deleuze macht zwar deutlich, dass das aktive Subjekt als Produkt passiver Synthesen zu verstehen ist und dass Habitus, Gedächtnis und Zukunftsglaube unterschiedliche Modi zeitlicher Existenz darstellen; der Bezug der drei Modi und der mit ihnen korrespondierenden Synthesen und Wiederholungstypen zum handelnden Subjekt stellt sich allerdings höchst unterschiedlich dar. Während nämlich die ersten beiden Synthesen als subjektkonstituierend und kohärenzstiftend gelten können, insofern sie das Ich mit Gewohnheiten und Erinnerungen versorgen und somit dessen »Identität« herstellen, hat die dritte Synthese der Zeit eine grundsätzlich destabilisierende Wirkung auf das Ich, da der Zukunftsglaube und die Affirmation des Kommenden auf das »Scheitern des Habitus« und den »Riß im Ego« (DW 122) angewiesen sind. Die Produktion des Neuen ist Deleuze zufolge also gerade nicht Sache des im Rahmen der ersten beiden Synthesen gebildeten Subjekts, sondern wird vielmehr erst dann möglich, wenn dieses samt seiner Gewohnheiten und Erinnerungen eine grundlegende »Metamorphose« (128) erfährt. Diese Wesensdifferenz zwischen den ersten beiden und der dritten Synthese erklärt vermutlich auch die Doppeldeutigkeit der dritten Synthese im Rahmen der Deleuzeschen Zeitphilosophie. Denn während Deleuze das Kapitel über die passiven Synthesen der Zeit eher deskriptiv und im Sinne einer ontologischen Darlegung beginnt, ändert sich der gesamte Kontext im Zuge der Darstellung der dritten Synthese merklich. So erklärt Deleuze etwa, dass es zum »Programm« einer »Philosophie der Wiederholung« gehört, »die Wiederholung zur Kategorie der Zukunft« zu machen, »mit einer Hand gegen Habitus, mit der anderen gegen Mnemosyne« zu kämpfen, die »allzu einfachen Zyklen« zu verwerfen und zu bewerkstelligen, »daß die Wiederho27 Innerhalb der Soziologie haben in den letzten Jahrzehnten besonders Bourdieu und Giddens einen sicherlich anders motivierten, in mancher Hinsicht aber doch vergleichbaren Versuch unternommen, den Dualismus von Strukturfunktionalismus und Handlungstheorie aufzubrechen (vgl. Giddens 1984 und Bourdieu 1999).
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lung für sich selbst die Differenz an sich selbst ist« (DW 127-128). Die dritte Synthese der Zeit überschreitet somit den Rahmen der ontologischen Beschreibung und markiert ein ethisches Problem: Wie ist es möglich, Vergangenheit und Gegenwart zu Kategorien der Zukunft zu machen? Auf welche Weise kann der Macht von Gewohnheit und reproduktiver Erinnerung entgegengewirkt werden? Unter welchen Bedingungen kommt es zu einer tatsächlichen Produktion des Neuen? Und welche Rolle kann das philosophische Denken dabei spielen? Während die ersten beiden Synthesen ihre Wirkung also quasi automatisch und ohne bewusstes Zutun des handelnden Akteurs ausüben, verhält es sich im Falle der dritten Synthese wesentlich komplizierter, was auch die Tatsache unterstreicht, dass Deleuze es hier vermeidet, noch von passiver Synthese zu sprechen.28 Sicherlich lässt sich auch im Falle der dritten Synthese ein quasi »passives« Moment ausmachen, insofern der »Zukunftsglaube« als Bedingung für die Produktion des Neuen der in die Zukunft gerichteten aktiven Handlung gleichsam unbewusst vorausgehen mag (vgl. Williams 2003, 102). Trotzdem verhält es sich aber vollkommen anders als im Falle der ersten beiden Synthesen, da dem Zukünftigen und Kommenden nun ein wesentlich problematischer Status zugewiesen wird. Denn anders als im Falle der ersten beiden Synthesen kann sich die Zeitlichkeit der dritten nur im Rahmen einer Krise (der Krise von Habitus und Mnemosyne) und auf der Basis einer Zäsur entfalten, durch die das Vorher und Nachher auseinandergerissen werden. Insgesamt vage bleibt dabei allerdings Deleuzes Antwort auf die Frage nach den Bedingungen, die eine derartige Zäsur, einen derartigen Riss ermöglichen.29 Zumindest teilweise aufklären lassen sich die beschriebenen Unklarheiten jedoch, wenn man Deleuzes ontologisches Zeitverständnis zunächst von seiner Analyse des Verhältnisses von Zeitlichkeit und Subjektivität unterscheidet. Denn in ontologischer 28 Inwiefern es sich bei der dritten Synthese der Zeit noch um eine passive Synthese handelt, ist in der Forschungsliteratur umstritten. Mirjam Schaub etwa ist der Ansicht, die dritte Synthese würde quer »liegen zu der Unterscheidung in eine passive oder aktive Natur« (Schaub 2003a, 228). James Williams hingegen beharrt auf dem passiven Charakter der dritten Synthese, insofern diese die unbewusste Bedingung jeder in die Zukunft gerichteten Handlung darstelle: »We are passive with respect to this sense of chancing – it does not have to be a conscious component of our creative acts. But it must be there, where we move toward the new as opposed to further occurrences of the known or of the same. […] The third passive synthesis of time is the condition for actions that drive towards the new. It has to be presupposed since its absence would reduce the drive to the new to a repetition of the past« (Williams 2003, 102). 29 Interessanterweise ist die Zäsur zwischen Vorher und Nachher in dem von Deleuze verwendeten Beispiel der Revolutionäre von 1789 das Resultat einer tiefgreifenden historischen Krise. Hierzu bemerkt Rosenberg: »It is the revolutionary crisis, the compelled striving for ›something entirely new‹, that causes history to be veiled in myth. Crisis means that the plot of history can no longer be played along visible lines without leading to foreseen catastrophe. The actors stand at a terminal point of the action, with inevitable destruction before them on one side and an empty space of possibility on the other. Every familiar ruse will but result in ending the performance for them. Hence anything may be allowed to happen, except the expected. In crisis men are dazed by the elimination of choice and the need to choose the unknown« (Rosenberg 1982, 156).
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Hinsicht ist die Frage nach der Zukunft und dem Neuen für Deleuze kein eigentliches Problem. Dass Zeit vergeht und die Dinge sich ändern, versteht Deleuze gewissermaßen als ontologisches Faktum.30 Die Zukunft und das Neue gehören demnach zum Wesen der Zeit, welche es auf kurze oder lange Sicht bewerkstelligt, die Selbstidentität jedes Gegenstandes zunichte zu machen. Auch jeder noch so oberflächliche Blick in die Geschichte macht dementsprechend deutlich, dass »die Dinge sich verändert haben«, was die Relevanz des Faktors Zeit nicht nur für die Geschichtswissenschaft, sondern für jegliche Sozialtheorie unterstreicht.31 Wenn Deleuze die Zeit in Anlehnung an Kant als »unwandelbare Form« konzipiert, so tut er dies gerade aufgrund der ontologischen Annahme eines permanenten Wandels, die es ihm erlaubt, die Zeit zur einzigen Entität zu erklären, die selbst »nicht zeitlich« ist: Alles wird und vergeht in der Zeit, außer die Zeit selbst, die als unwandelbare Form allen Werdens und Vergehens persistiert.32 Sehr viel komplizierter wird die Frage nach dem Wandel und dem Neuen jedoch, wenn man »von der ontologischen […] Argumentation auf die Ebene von konkreten Lebensweisen und ihren Möglichkeiten« wechselt (Engelhardt 2008, 109). Hier stellt sich nämlich die Frage, wie es – auf der Ebene der Subjektivität – überhaupt möglich ist, am Werden und der Produktion des Neuen Anteil zu nehmen. Das Werden als Öffnung zur Zukunft mag Deleuze als ontologisches Faktum gelten, doch wird es lediglich dann erfahrbar, wenn es zu einem Scheitern der passiven Gewohnheits- und Erinnerungsmechanismen kommt, die unter Normalbedingungen mittels Kontraktion der verschiedenen Zeitdimensionen die Herstellung von Identität bewirken. Die ersten beiden Synthesen der Zeit haben somit eine temporale »Subjektivierung« des Subjekts zur Folge, dem das ontologische Prinzip der universellen Veränderung jedoch weitgehend entgleitet, da es stets nur auf der Grundlage der (für viele Bereiche 30 Vgl. hierzu etwa Daniel Smiths Aufsatz »Deleuze and the Production of the New« (Smith 2008). Smith begreift das Neue in der Konzeption von Deleuze als »fundamental ontological concept« (151), betont aber, dass die ontologische Produktion des Neuen oftmals nicht als solche empfunden wird: »[W]e can say, even speaking of ourselves, that every event is new, even though the new is never produced ex nihilo and always seems to fit into a pattern (this pattern is precisely what we call, in psychic systems, our ›character‹)« (160). 31 In diesem Kontext macht es Sinn, an Bergsons Unterscheidung von ablaufender und abgelaufener Zeit zu erinnern: »[J]edes die Freiheit betreffende Verlangen nach Erklärung kommt, ohne daß man es bemerkte, auf die folgende Frage hinaus: ›Läßt sich die Zeit adäquat durch den Raum vorstellen?‹ – Worauf wir entgegnen: ja, wenn es sich um die abgelaufene Zeit handelt, nein, wenn man von der ablaufenden Zeit spricht. Nun vollzieht sich aber die freie Handlung in der ablaufenden Zeit und nicht in der abgelaufenen« (Bergson 1999, 164). In Anlehnung an Bergson kann daher formuliert werden, dass die Zeit in der Geschichtswissenschaft (notwendigerweise) eine Verräumlichung erfährt, sofern sie als »abgelaufene Zeit« konzipiert, d.h. der historische Wandel rückblickend erfasst wird. Die Zeit aber, in der sich »Geschichte« in actu ereignet, ist nicht die abgelaufene, sondern die »ablaufende Zeit«, woraus sich eine Reihe von zeittheoretischen Fragen ergeben, die speziell das historische Denken betreffen (vgl. auch DW 125). 32 Siehe hierzu die Formulierung Kants aus der Kritik der reinen Vernunft: »Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Dasein des Wandelbaren« (Kant 1996a, Band 1, 191).
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des Lebens notwendigen) Illusion einer stabilen Gegenwart operieren kann. Dennoch beharrt Deleuze auf der Möglichkeit des Scheiterns von Habitus und reproduktiver Erinnerung und betont die Realität jener Momente von »Nicht-Identität«, d.h. jener Risse im Gewohnheitskontinuum, auf deren Grundlage ein Anders-Werden des konstituierten Subjekts überhaupt nur erfolgen kann.33 Mit diesem Thema des »AndersWerdens«, das auf die von Rechts wegen bestehende Instabilität des Subjekts verweist und sich durch Deleuzes gesamtes Werk zieht, wird ein Punkt angesprochen, dessen Implikationen auch für die Kulturtheorie der Gegenwart relevant sind. Deleuzes Position unterscheidet sich hier etwa von denjenigen Autoren, die ein AndersWerden des Subjekts de facto ausschließen, da ihnen dieses als quasi immer schon (z.B. im Kontext von ideologischen, »rassen«- oder geschlechterspezifischen Mechanismen) so umfassend konstituiert gilt, dass selbst die Begegnung mit dem Anderen nur zu einer imaginären Projektion oder narzisstischen Selbstspiegelung führen kann.34 Sogar von Bourdieus Theorie des Habitus, mit der es in anderer Hinsicht eine Vielzahl von Überschneidungen gibt, unterscheidet sich Deleuze an diesem Punkt, da Bourdieus Thema in erster Linie die Reproduktion der sozialen Ordnung ist und ein Scheitern des Habitus (oder ein Bruch mit dem dominanten Gewohnheitsschema) allenfalls am Rande thematisiert wird.35 Nun ist es in der Tat so – und Deleuze macht dies sehr deutlich, wenn er die Gewohnheit in Differenz und Wiederholung als subrepräsentativ und quasi »verkörperlicht« darstellt –, dass sich ein Scheitern des Habitus 33 Der Begriff der »Nicht-Identität« spielt hier auf jenen »Riß im Ego« an (DW 122), den Deleuze in Differenz und Wiederholung im Anschluss an Kant konzipiert hat. Trotz gewisser Überschneidungen sollte er von seiner Bedeutung im Rahmen einer »negativen Dialektik« (vgl. Adorno 1988) unterschieden werden, was nicht zuletzt mit Deleuzes Skepsis gegenüber der Kategorie des Negativen und der Negation zusammenhängt (vgl. hierzu Baecker 1996). 34 Viele dieser Ansätze berufen sich auf Julia Kristevas Theorie der »Abjektion« (Kristeva 1982) sowie – in besonderem Maße – auf Lacans berühmten Text über das Spiegelstadium (Lacan 1996, 61-70). Während der Andere in den von der Psychoanalyse inspirierten kulturtheoretischen Ansätzen zumeist als Projektionsfläche eigener Ängste, Obsessionen oder Lüste gilt, d.h. als »imaginäres Objekt« konzipiert wird, das entweder eine Einverleibung oder eine Abstoßung erfährt (vgl. Lott 1993 und 1995), konzipiert Deleuze den Anderen als strukturelle Komponente a priori, durch die das Subjekt auf ein Feld des Möglichen verwiesen wird. Demnach ist der Andere »Ausdruck einer möglichen Welt« (DW 327), d.h. derjenige, »der Möglichkeiten schafft« (LS 385) – unter der Voraussetzung allerdings, dass er seinen »impliziten und umhüllenden Wert« (DW 326) nicht verliert. In Bezug auf Michel Tourniers Roman Freitag oder im Schoß des Pazifik macht Deleuze dementsprechend deutlich, dass eine Welt ohne den Anderen eine Welt »ohne Potentialitäten oder Virtualitäten« (LS 369) wäre, in der »die Kategorie des Zwangsläufigen vollständig die des Möglichen ersetzt hat« (385). Diese Konzeption des Anderen wird in Teil II der Studie im Kapitel über den Westernfilm wiederaufgenommen, wenn die Beziehung der beiden Protagonisten in Jim Jarmuschs Film Dead Man analysiert wird (vgl. Teil II, Kap. 2.6). 35 In den Meditationen distanziert sich Bourdieu allerdings von einem soziologischen Fatalismus, »der die soziologischen Gesetzmäßigkeiten zu quasi naturgegebenen, ehernen Gesetzen erhebt« oder »als essentialistischer, auf den Glauben an eine unveränderliche Menschennatur gegründeter Pessimismus« daherkommt (vgl. Bourdieu 2001, 303).
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nicht von selbst versteht und auch nicht bewusstermaßen herbeigeführt werden kann. Oftmals geschieht es sogar, dass ein bestimmter Habitus die historischen, politischen und sozialen Kontexte, aus denen er hervorgegangen ist, überdauert.36 Fernand Braudel etwa hat darauf hingewiesen, dass man das Alltagsleben als Koexistenzraum von weit in die Vergangenheit zurückreichenden Gewohnheiten, Routinen und Gesten verstehen sollte, »zu denen sich niemand entscheiden muß, weil sie sich außerhalb unseres vollen Bewußtseins abspielen«: »Unsere gesamte Existenz wird durch unzählige überkommene Gesten bestimmt, die kreuz und quer akkumuliert wurden. Sie sind in unendlichen Wiederholungen auf uns gekommen; nun helfen sie uns zu leben, halten uns gefangen und entscheiden für uns. Es sind Anreize, Impulse, Modelle, Handlungsformen und Handlungszwänge, die manchmal – häufiger als wir meinen – aus den Tiefen der Geschichte stammen […]. Das materielle Leben, wie ich es begreife, besteht in all dem, was die Menschheit im Laufe der vorangegangenen Geschichte in ihr eigenes Leben grundlegend integriert hat, so daß die Menschen es ›im Bauch‹ haben und die Erfahrungen oder Vergiftungen von einst zu alltäglichen Notwendigkeiten, zu Banalitäten geworden sind. Daher werden sie von keinem mehr aufmerksam beobachtet.« (Braudel 1997, 16-17)
Was Braudel hier – ganz ähnlich wie Deleuze – hervorhebt, ist der passive Charakter des Subjekts im Hinblick auf die Gewohnheiten, von denen es konstituiert wird. Darüber hinaus macht Braudel den heterogenen (bzw. heterochronen) Charakter all jener Gesten und Routinen kenntlich, die sich die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte einverleibt hat, wodurch er den prinzipiell wenig stabilen »Grund« aufzeigt, auf dessen Basis das Subjekt konstituiert wird. Dass die Integration des Subjekts ausgehend von einem derart desintegrierten Grund erfolgt, dass also »das Homogene«, wie Tarde erläutert, stets einer grundlegenden Heterogenität entspringt, sollte hierbei als wesentliche Voraussetzung für das mögliche Auftreten von Bruchlinien verstanden werden, die den Gewohnheiten des Subjekts zuwiderlaufen.37 Zu einem Scheitern des Habitus kann es demzufolge dann kommen, wenn die einzelnen Teile nicht länger zusammenpassen, wenn also das »Homogenisierte« plötzlich in seiner ursprüngli36 Gut illustrieren lässt sich das paradoxe Weiterleben der Gewohnheiten am Beispiel des »gefallenen Adels«, der den Habitus der Oberschicht beibehält, auch wenn er dieser objektiv nicht mehr angehört. Gelegentlich kommt es jedoch auch zum umgekehrten Fall, nämlich dazu, dass sich Gewohnheiten oder »Sitten« ändern, ohne dass dieser Wandel bereits auf der makropolitischen Ebene sichtbar ist. Deleuze und Guattari nennen in diesem Kontext den Mai 1968, den sie als Ereignis auf der Ebene des »Molekularen« ansiedeln: »Der Mai 68 in Frankreich war molekular, und seine Vorbedingungen waren daher aus der Sicht der Makropolitik um so weniger erkennbar […]. Die Politiker, die Parteien, die Gewerkschaften und viele Linke waren sehr verärgert; sie haben ständig darauf hingewiesen, daß die ›Voraussetzungen‹ nicht gegeben seien« (TP 295). Zur begrifflichen Unterscheidung von »molar« und »molekular«, vgl. TP 82-86 und 290-297. 37 Vgl. de Tarde 2003, 95-96: »Das Heterogene ist also im Herzen der Dinge und nicht das Homogene. Was gibt es unwahrscheinlicheres und absurderes als ein ewiges Nebeneinander zahlloser, gleichartig entstandener Elemente? Man ist nicht gleich geboren, man wird gleich. […] Ohne dieses anfängliche und grundlegende Heterogene gäbe es niemals das es zudeckende und auflösende Homogene, noch hätte es je existieren können«.
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chen Heterogenität zu Tage tritt und die eigenen Gesten, Verhaltensweisen und Routinen ihren vertrauten Charakter verlieren und dem Handelnden selbst als zunehmend fremd und deplatziert erscheinen. In Situationen, in denen die antrainierten Gewohnheiten des Individuums beginnen, mit dessen Existenzweise in Konflikt zu geraten, verlieren auch die vormals quasi unbewusst operierenden Automatismen ihren unsichtbaren Charakter und werden auf teils grobe Weise sichtbar. In diesem Kontext wird die erkenntnistheoretische Motivation des Interesses deutlich, das Deleuze für die Figur des Schizophrenen gezeigt hat (und das nicht vorschnell einer romantisierenden Haltung gegenüber dem Wahnsinn zugeschrieben werden sollte). Wenn der Schizophrene seinen Körper nämlich nicht als integrierten Organismus, sondern als Produktionsstätte wahrnimmt, wenn er spürt, wie seine Subjektivität nichts substanziell Vorgängiges ist, sondern permanent hergestellt wird, wenn er seine Gedanken als ihn von außen durchziehende Stimmen begreift, dann lässt sich am Beispiel der Schizophrenie der Produktionsprozess von Subjektivität kenntlich machen, der im Innern eines jeden Subjekts abläuft, unter Normalbedingungen aber gänzlich unerkannt bleibt. Demnach verwiese der »ununterbrochene Maschinenlärm« (AÖ 7), dem sich der Schizophrene ausgesetzt sieht, auf die permanente Arbeit der passiven Synthesen, durch die seine Subjektivität produziert wird.38 Wie Marc Rölli sehr passend formuliert hat, geht es Deleuze folglich um keine »subjektivistisch ausgerichtete Phänomenologie der Erfahrung« (wie sie etwa Husserl unter Rückgriff auf den Begriff der Intentionalität praktiziert hat), sondern um »eine Phänomenologie der Erfahrungen von Subjektivität« (Rölli 2002, 13). Jener »Riss im Ego«, den Deleuze sowohl im Zusammenhang mit der schizophrenen Erfahrung im Anti-Ödipus als auch im Rahmen der dritten Synthese der Zeit erörtert, wird ebenfalls im zweiten Band seiner Kinostudie thematisiert, in dem das Modell des Zeit-Bildes erläutert und dem Modell des Bewegungs-Bildes gegenübergestellt wird. Zwar spricht Deleuze hier nicht von einem Scheitern des Habitus, dafür aber von einem Zusammenbruch des »sensomotorischen Schemas«, das im Zentrum des ersten Bandes und der Analyse des Bewegungs-Bildes steht. Deleuze zufolge ist das sensomotorische Schema des Bewegungs-Bildes auf wesentliche Weise mit der Filmhandlung verknüpft, für die im klassischen Aktionskino eine mehr oder weniger dichte Abfolge von aufeinander bezogenen Wahrnehmungen und Handlungen charakteristisch ist. Das sensomotorische Schema stellt somit sicher, dass der Protagonist den Kern einer Situation richtig erfasst und auf diese mit einer adäquaten Handlung zu antworten weiß. Was Deleuze dagegen am Zeit-Bild für zentral hält, ist das Auftauchen von kinematographischen Figuren, die eher »Sehende« als »Handelnde« sind, da sie vielfach in rein optische Situationen geraten (vgl. ZB 13), d.h. mit Wahrnehmungen konfrontiert werden, auf die sie nicht mehr durch eine Handlung zu ant38 Zu Beginn des Anti-Ödipus unterscheiden Deleuze und Guattari die schizophrene Erfahrung von der des Neurotikers, wobei sie sich u.a. auf Büchners Lenz beziehen: »Alles ist Maschine. Maschinen des Himmels, die Sterne oder der Regenbogen, Maschinen des Gebirges, die sich mit den Maschinen seines Körpers [dem Körper von Lenz] vereinigen. Ununterbrochener Maschinenlärm […]. Lenz hat die Ebene des Bruchs von Mensch und Natur hinter sich gelassen und befindet sich damit außerhalb der von dieser Trennung bedingten Orientierungsmuster. Er erlebt die Natur nicht als Natur, sondern als Produktionsprozeß« (AÖ 7-8).
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worten wissen. Ein derartiges »Kino des Sehenden« – ein Kino, das auf dem Zusammenbruch des sensomotorischen Schemas beruht – sieht Deleuze z.B. in den Filmen des italienischen Neorealisten Roberto Rossellini realisiert: »Stromboli ist die Geschichte einer Fremden, der sich die Insel um so mehr offenbart, als sie zu keiner Reaktion fähig ist, mit der sie die gewaltige Kraft dessen, was sie sieht – die Intensität und das Ungeheuere des Thunfischfangs (›es war grausam…‹), die Panik erzeugende Gewalt des Vulkanausbruchs (›ich bin am Ende, ich habe Angst, welch ein Geheimnis, welch eine Schönheit, mein Gott…‹) –, lindern und ausgleichen könnte. Europa ‘51 zeigt eine Frau, die nach dem Tod ihres Kindes beliebige Räume durchquert und nun Wohnblöcke, Slums und Fabriken kennenlernt (›ich glaubte, Verurteilte zu sehen‹). Ihre Blicke verraten nichts mehr von den praktischen Fähigkeiten einer Hausfrau, die ihren alltäglichen Pflichten nachgeht, sondern durchlaufen nun alle Zustände einer inneren Vision – Niedergeschlagenheit, Mitleid, Liebe, Glück, Anerkennung – bis hin zur psychiatrischen Anstalt, in die sie nach einem neuaufgelegten Jeanne-d’Arc-Prozess eingeliefert wird: sie sieht, sie hat zu sehen gelernt.« (ZB 12-13)
Was Deleuze hier deutlich macht, ist die Tatsache, dass der Zusammenbruch des sensomotorischen Schemas durchaus mit dem Risiko der Handlungsunfähigkeit oder des Abgleitens in den Wahnsinn korrespondiert. Nichtsdestotrotz sieht Deleuze aber gerade hier eine Keimzelle für die Produktion des Neuen, also zunächst die Bedingung für die Entwicklung einer neuen Sensibilität, durch die die standardisierte Abfolge habitueller Wahrnehmungen und Handlungen eine Problematisierung erfährt. Rossellinis Figuren mögen Traumatisierte, Kranke oder Verwundete sein, doch begreift Deleuze sie zugleich auch als Produzenten des Neuen, d.h. als Schöpfer neuer Wahrnehmungs- und Lebensmöglichkeiten. Der »Riss« steht somit gleichermaßen für die Produktion des Neuen wie für Zerstörung und Erschütterung, die Krise und das Unerträgliche.39 Dies kommt auch in Deleuzes Perspektive auf die Filmgeschichte zum Ausdruck, da er die Entwicklung des Zeit-Bildes in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Erfahrung von Krieg, Faschismus, »Auschwitz und Hiroshima« (ZB 269) sieht, durch die das Denken – und insbesondere das zielorientierte Fortschrittsdenken – in eine tiefgreifende Krise geraten war.40 Der »Riss« beeinträchtigt das Denken also, fordert es heraus und setzt es wieder neu in Gang, wozu es einer gewissen Affizierbarkeit bedarf, die dem Subjekt vor Augen führt, wie deplatziert sich sein aktuelles Wahrnehmungs- und Handlungsschema vor dem Hintergrund der entsprechenden Existenzweise darstellt. In Was ist Philosophie? wird dieser Einbruch des 39 Im Hinblick auf diese Verbindung zwischen dem »Riss«, der Zerstörung und dem Neuen widmet sich Deleuze beispielsweise Fitzgeralds Text The Crack-Up, in dem der einst gefeierte »Chronist des Jazz Age« seinen persönlichen Zusammenbruch dokumentiert (vgl. Fitzgerald 1958 und LS 193-202). 40 Vgl. Parr 2008, 1-2: »The essence of history framed by a teleological principle of progress […] was quickly suspended post World War Two. For if history has a goal or meaning then it can also be measured in terms of consequences, yet the consequence of the holocaust was that millions were murdered. What could involuntary death on such a large scale as this possibly prove? To even consider that genocide […] can be justified by historical progress, or to attempt to calculate the deaths of men, women, children, and the elderly in terms of historical costs and benefits seems crude at best«.
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Unzeitgemäßen im Kontext jener »Scham, ein Mensch zu sein« analysiert (WP 124), die Primo Levi in seinem Buch Die Untergegangenen und die Geretteten beschrieben hat (Levi 1993).41 Hierzu heißt es: »[D]ie Scham, ein Mensch zu sein, überkommt uns nicht nur in den von Primo Levi geschilderten Extrem-Situationen, sondern auch unter minder bedeutsamen Umständen, angesichts der Niedertracht und Vulgarität der Existenz, die die Demokratien heimsucht, angesichts der Ausbreitung dieser Existenzweisen und dieses marktgerechten Denkens, angesichts der Werte, Ideale und Ansichten unserer Epoche. Die Schmach der uns gebotenen Lebensmöglichkeit kommt von innen zum Vorschein. Wir fühlen uns nicht außerhalb unserer Epoche, im Gegenteil: wir schließen unaufhörlich schändliche Kompromisse mit ihr. Dieses Schamgefühl ist eines der mächtigsten Motive der Philosophie.« (WP 125)
Die Produktion des Neuen wird also auch an dieser Stelle nicht der freien Entscheidung des Subjekts zugeschrieben, denn vielmehr ist die »Notwendigkeit zur Schaffung von neuen Lebensmöglichkeiten« erst dann angezeigt, wenn die dominanten Existenzweisen »zum Problem werden, wenn in ihnen Unerträglichkeiten und nicht zu Tolerierendes« empfunden werden (Engelhardt 2008, 109). Es wäre somit auch zu kurzgegriffen, den Status des Neuen in Deleuzes Philosophie in uneingestandener Komplizenschaft mit den Slogans einer neoliberalen Ökonomie zu sehen, in der Begriffe wie »Kreativität« und »Innovation« zunehmend als Norm und Ideal fungieren.42 Dies heißt natürlich nicht, dass Deleuzes Affirmation des Neuen einem luftleeren Raum entsprungen ist, denn zweifellos ist die für seine Philosophie charakteristische Absage an das Gleichartige und Altehrwürdige innerhalb des Denkhorizonts der Moderne zu verorten. Doch wird die Produktion des Neuen in Deleuzes Philosophie gerade nicht von der Figur des erfolgreichen Unternehmers verkörpert, sondern eher von den traumatisierten Charakteren aus den Filmen Rossellinis, von Melvilles Bartleby oder Kafkas Hungerkünstler.43 Und während die kreative Kompetenz des »flexiblen Menschen« im deregulierten Kapitalismus der Gegenwart als stets abrufbare Kompetenz eines permanent leistungsfähigen Subjekts verstanden wird, kann die Produktion des Neuen für Deleuze nur unter der Bedingung eines »Risses« gelingen, 41 Über den Schambegriff Levis, dessen Buch seine Gefangenschaft in Auschwitz thematisiert, bemerken Deleuze und Guattari: »Was Primo Levi hier beschreibt, ist ein ›gemischtes‹ Gefühl: Scham, daß Menschen derartiges tun konnten, Scham, daß wir es nicht haben verhindern können, Scham, dies überlebt zu haben, Scham, erniedrigt oder herabgewürdigt worden zu sein« (WP 124). 42 Siehe hierzu etwa Slavoj Žižeks Bemerkung, Deleuze fungiere heute als »ideologist of late capitalism« (Žižek 2004, 184). Vgl. außerdem O’Sullivan/Zepke 2008, 4: »Indeed, today the euphoria of creation operates in the everyday, and is a favoured buzz-word of capitalism’s new entrepreneurial class […]. Subjectivity now finds a new conformity: Revolution! Creation! Invention! Here enforced obsolescence has become the schizo-logic of the capitalist production of subjectivity, where identity, no different from mobile phones, must be forever upgraded«. 43 Vgl. hierzu auch Deleuzes Einschätzung des amerikanischen Pragmatismus: »Der Held des Pragmatismus ist nicht der erfolgreiche Geschäftsmann, es sind Bartleby und Daisy Miller, es sind Pierre und Isabel, der Bruder und die Schwester« (KK 121).
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der jenes Subjekt in dessen Wahrnehmungs- und Handlungsgewohnheiten auf tiefgreifende Weise erschüttert.44 Wenn das Neue bei Deleuze der Innovation als konsumierbarer Ware somit entgegensteht, dann deshalb, weil es in erster Linie ein grundlegendes Problem markiert, das Denken und Handeln ebenso herausfordert wie Ethik und Ontologie. Die dritte Synthese der Zeit steht in diesem Sinne für genau jene kuriose Verschmelzung von ontologischen und ethischen Aspekten, die laut Kathrin Thiele für Deleuzes Philosophie insgesamt charakteristisch ist.45 Denn während Deleuze die Produktion des Neuen zwar ontologisch voraussetzt, ist auf den vorangehenden Seiten zugleich klar geworden, dass die subjektive Anteilnahme an jener Produktion mit einem ethischen Willen nach Veränderung verknüpft sein muss, der sich indes nur unter der Bedingung eines »Risses« konstituieren kann, welcher das Subjekt zunächst unwillentlich erfasst. Einmal mehr wird hier also deutlich, dass ethisches Handeln für Deleuze ausschließlich unter der Bedingung der Immanenz gedacht werden kann. In der Logik des Sinns wird dies wie folgt formuliert: »Entweder hat die Moral keinen Sinn oder es ist genau dies, was sie sagen möchte, und hat nichts anderes zu sagen: sich dessen würdig erweisen, was uns zustößt« (LS 186).
44 Zum »flexiblen Menschen« und der Produktion von Subjektivität im Kapitalismus der Gegenwart, vgl. Sennett 1998 und 2006. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in Deleuzes Aufsatz über die Kontrollgesellschaften (U 254-262), in dem argumentiert wird, dass das Individuum im postdisziplinären Neoliberalismus zum Objekt einer kontinuierlichen Modulation und Selbstmodulation wird. Mit Blick auf den kontinuierlichen Charakter jener Modulation (lebenslanges Lernen, permanente Weiterbildung etc.) ist es bezeichnend, dass die »Lückenlosigkeit« des Lebenslaufs heute ein wichtiges Kriterium für die Eignung eines Stellenbewerbers darstellt. Es ist durchaus möglich (und oft sogar erwünscht), dass der Bewerber im Laufe seines Lebens »dieses und jenes« ausprobiert hat, solange diese Tätigkeiten ihn als motivierten, risikobereiten, neugierigen und leistungsfähigen »Arbeitskraftunternehmer« (Pongratz/Voß 1998) kennzeichnen. Ein wirklicher »Riss« in der Biographie wird in der Regel jedoch nicht toleriert. 45 Vgl. Thiele 2008, 20: »Thus, rather than interpreting the absence of an explicit discussion of the ethical as a shortcoming or lack, the intention of this project is to show that the ethical concern in Deleuze’s philosophy is everywhere. […] Ontology as the thought of radical immanence contains always already an ethical attitude towards the world in as much as ethics ›is‹ always already a constructive rather than a prescriptive endeavor […]: ontology ›is‹ ethics in as much as ethics ›is‹ also ontology«.
3. Die literarische Maschine
3.1 F LUCHTLINIEN UND L EBENSMÖGLICHKEITEN Unter den zahlreichen Künsten, mit denen sich Deleuze in seiner Philosophie beschäftigt hat, kommt der Literatur insofern ein besonderer Stellenwert zu, als sie in allen Phasen seines Werkes eine wesentliche Rolle spielt. Dass Kritik und Klinik (Deleuzes letztes Buch und zugleich das einzige, das sich dem literarischen Schreiben »an sich« widmet) bereits eine langjährige Beschäftigung mit der Literatur vorangegangen ist, wird deutlich, wenn man auch die früheren Bücher über Proust und Sacher-Masoch, das gemeinsam mit Guattari geschriebene Kafka-Buch sowie die etwa 75 Schriftstellerinnen und Schriftsteller zur Kenntnis nimmt, die laut Ronald Bogue in den Tausend Plateaus erwähnt werden.1 Ian Buchanan und John Marks ist daher zuzustimmen, wenn sie in der Einleitung zu dem Sammelband Deleuze and Literature schreiben: »It would be impossible to overestimate the importance of literature to Gilles Deleuze« (Buchanan/Marks 2000, 1). Wie Michaela Ott erläutert, lässt sich Deleuze somit auch als Gegner der platonischen Auffassung verstehen, gemäß der das Philosophische und das Literarische als zwei nicht zu vereinbarende Erkenntnisformen anzusehen sind.2 Denn auch wenn in Was ist Philosophie? erläutert wird, dass das literarische Denken eher mit Affekten und Perzepten als mit Begriffen operiert, behandelt Deleuze Schriftstellerinnen und Schriftsteller nichtsdestotrotz vielfach als Kronzeugen seiner eigenen philosophischen Argumente. In einem Interview über den Anti-Ödipus heißt es hierzu etwa: »Vielleicht wird man unserem Buch den Vorwurf machen, zu literarisch zu sein, aber dieser Vorwurf wird ganz bestimmt von den Literaturprofessoren kommen. Aber können wir etwas dafür, wenn Lawrence, 1
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Vgl. Bogue 2003, 1: »Deleuze made constant reference to novels, poems, plays and essays in virtually all of his works […]. Deleuze’s 1969 examination of the paradoxes of meaning, The Logic of Sense […], was as much a reading of Lewis Carroll as a treatment of Stoic philosophy, and scattered throughout the pages of the massive A Thousand Plateaus […] were references to over seventy-five writers«. Vgl. Ott 1998, 20-21: »Deleuzes Literaturlektüren […] greifen […] eine mit den Anfängen der Philosophie bereits eröffnete Frage auf und polemisieren zumindest indirekt mit Platons initiierender Bestimmung des Philosophierens in Abgrenzung von Literatur: In der Politea erhebt Platon gegen die Dichtung den Vorwurf der Unvereinbarkeit mit Vernunftsund Tugendkriterien, da sie als ›Nachbildnerei der Erscheinungen‹ nicht im Dienste der Einsicht, sondern der Leidenschaften stehe«.
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Miller, Kerouac, Burroughs, Artaud oder Beckett mehr über die Schizophrenie wissen als Psychiater und Psychoanalytiker?« (U 38-39) Dass das Literarische in Deleuzes Philosophie einen derart herausgehobenen Stellenwert genießt, korrespondiert wenigstens teilweise mit der potentiell »vitalistischen« Veranlagung literarischer Texte. Denn die Offenlegung unentdeckter Lebensund Werdensmöglichkeiten scheint Deleuze zufolge am anschaulichsten in der Literatur praktiziert zu werden, der er mit Rekurs auf Nietzsche das Vermögen bescheinigt, im Sinne einer zeitdiagnostischen »Symptomatologie« zu verfahren und – was noch wichtiger ist – dem Leben eine Vielzahl von Fluchtlinien aufzuzeigen. In diesem Kontext zitiert Deleuze etwa den Affen aus Kafkas Kurzgeschichte »Bericht für eine Akademie«, der sich nicht auf die Freiheit (als Gegensatz zur Unterwerfung) beruft, sondern erläutert, dass es ihm vielmehr darum gehe, einen Ausweg zu finden: »Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg; rechts, links, wohin immer« (Kafka 1996, 142; K 11). Dementsprechend deutet Deleuze die Metamorphosen und »Tier-Werden« in Kafkas Kurzgeschichten als prozessuale Experimente mit verborgenen Lebensmöglichkeiten, d.h. als Fluchtlinien und Auswege aus misslichen Lebenslagen, aus standardisierten oder erdrückenden Existenzweisen. Diesen experimentellen oder »nomadischen« Charakter der Literatur, ihr Vermögen, Fluchtlinien entstehen zu lassen und scheinbar statische Verhältnisse in Bewegung zu versetzen, sieht Deleuze vor allem dort zum Ausdruck kommen, wo sich das Schreiben nicht mit dem »schmutzigen kleinen Geheimnis« (D 54) begnügt, sondern als Versuch konstituiert, »aus dem Leben etwas zu machen, das mehr als persönlich ist« (U 208).3 Ähnlich wie mit den Texten Kafkas verfährt Deleuze daher auch mit vielen anderen Werken, so etwa wenn er in Melvilles Moby-Dick das »Wal-Werden« Ahabs analysiert, wenn er in Sacher-Masochs Venus im Pelz den Schwebezustand des Wartens als ununterbrochenen Begehrensprozess begreift oder in den Texten Artauds und Célines eine »Zersetzung der Muttersprache« (KK 17) erkennt. Zwar versteht Deleuze die Fluchtlinien der Literatur generell als positive Deterritorialisierungsprozesse und aktive Erkundungen von Möglichkeiten, sofern sie Alternativen und Auswege aus stratifizierten Ordnungszusammenhängen aufzeigen;4 insbesondere in den Tausend Plateaus wird jedoch auch die Gefahr betont, die Fluchtlinie könne sich unter bestimmten Bedingungen in eine reine Destruktionslinie verwandeln, »in schlichte und einfache Vernichtung, in eine Lust am Vernichten« (TP 313). Als Beispiel aus 3
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Dieses nomadische Potential der Literatur hat Deleuze vielfach am Beispiel von amerikanischen Autoren wie Whitman, Melville oder Henry Miller veranschaulicht – eine Affinität, die ihn auch zu der polemischen These einer vermeintlichen »Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur« (D 43-82) veranlasst haben mag. Aufgrund der besonderen Relevanz des Themas für die vorliegende Studie wird dieser Punkt im Folgenden (vgl. Teil I, Kap. 3.5) noch ausführlicher behandelt. Deleuze hat mehrfach darauf verwiesen, dass er den Begriff der »Flucht« oder der »Fluchtlinie« nicht mit Passivität oder Realitätsverweigerung assoziiert, sondern als wesentlich aktiv konzipiert. Vgl. hierzu etwa D 45: »Tatsächlich heißt fliehen keineswegs, auf Taten verzichten – nichts Aktiveres als eine Flucht! Sie ist das Gegenteil des Imaginären, des Hirngespinsts. Fliehen heißt auch, in die Flucht schlagen […]. Aus dem Gefängnis schreibt George Jackson: ›Mag sein, daß ich flüchte, aber während der ganzen Flucht suche ich nach einer Waffe‹«.
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der Literatur lässt sich in diesem Zusammenhang einmal mehr auf Melvilles MobyDick verweisen. So wird die »Mutation der Fluchtlinie« hier – wie im zweiten Teil der Studie noch genauer erläutert wird (vgl. Teil II, Kap. 1.3) – vor allem durch Kapitän Ahab verkörpert, dessen Jagd nach dem weißen Wal mit einem zerstörerischen »Willen zum Nichts« (KK 109) korrespondiert, der den Roman schließlich in der Katastrophe enden lässt.5 Was ferner für Deleuzes Verständnis der Literatur charakteristisch ist, hängt wesentlich mit seinem eigentümlichen »Pragmatismus« zusammen (vgl. Bignall/Bowden/Patton [Hg.] 2015) und betrifft die Frage nach dem spezifisch literarischen Gebrauchswert. Gilt die Literatur gängigerweise als »›nicht-pragmatischer‹ Diskurs« (Eagleton 1987, 8), so beruft sich Deleuze stattdessen gerade auf ihren pragmatischen Nutzen. Diese Auffassung kommt erstmals im zweiten Teil von Proust und die Zeichen zum Ausdruck, der dem Buch bei Gelegenheit der zweiten Auflage (1970) hinzugefügt wurde. »Das moderne Kunstwerk«, schreibt Deleuze hier, »hat kein Sinnproblem, es hat einzig ein Problem des Gebrauchs« (PZ 117). Deleuzes Zugang zur Literatur unterscheidet sich demnach auch von hermeneutischen oder dekonstruktivistischen Ansätzen, da es ihm weder um die Frage des »Verstehens« geht noch auf innertextliche Widersprüche oder »gegen den Strich« gehende Interpretationen ankommt, sofern diese lediglich die textuelle Bedeutung betreffen. Mit Blick auf die Dekonstruktion heißt es daher: »Was die Methode der Dekonstruktion der Texte betrifft, so sehe ich zwar genau, was sie ist, ich bewundere sie sehr, aber sie hat nichts mit der meinen zu tun. Ich präsentiere mich in keiner Weise als Kommentator von Texten. Für mich ist ein Text lediglich ein kleines Rad in einer außertextuellen Praxis. Es geht nicht darum, den Text mit Hilfe einer Dekonstruktionsmethode oder einer Methode textueller Praxis oder anderer Methoden zu kommentieren, sondern darum, herauszufinden, wozu das in der außertextuellen Praxis dient, die den Text verlängert.« (EI 379)
Insofern Deleuze den Fokus seiner Literaturstudien auf im Text vorhandene Fluchtlinien legt, die explizit auch »das Leben« betreffen (D 57), lehnt er zudem jeden formalistischen Ästhetizismus ab, der einer klassischen Vorstellung von künstlerischer Autonomie anhinge. Zwar konzentriert sich Deleuze wesentlich auf den Stil der von ihm behandelten Autoren; anders als etwa dem New Criticism geht es ihm dabei aber nicht um die Aufdeckung werkimmanenter Formgesetze, da er den Stil eines Autors vielmehr als die jeweilige Art und Weise begreift, die Sprache durch Einbeziehung ihres Außen zu deterritorialisieren und ins Stottern zu bringen.6 Ferner handelt es sich bei diesen Deterritorialisierungsprozessen nicht primär um die formbeherrschende oder imaginative Sprachgewandtheit eines talentierten Schriftstellersubjekts, sondern um reale Experimente mit den kollektiven Aussageverkettungen eines gegebenen so5
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Zu den Gefahren der Fluchtlinie (und der Thematisierung jener Gefahren in der Literatur), vgl. auch D 151: »Nicht nur riskieren die Fluchtlinien […] verbarrikadiert, segmentiert zu werden. Hinzu kommt noch ein ganz besonderes Risiko: daß sie sich in Linien der Vernichtung und Zerstörung – der anderen wie ihrer selbst – verkehren«. Zum Stottern der Sprache (im Gegensatz zum bloßen Stottern der Rede) sowie zum Verhältnis von Stottern und Stil, vgl. KK 145-154.
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zialen Gefüges. Dies erläutern Deleuze und Guattari etwa am Beispiel Kafkas, dessen Stil sie im Vorantreiben der Art von Deterritorialisierung erblicken, der das Deutsche im Prag der damaligen Zeit generell ausgesetzt war. Demnach richtete sich Kafka bewusstermaßen gegen den Symbolismus der Prager Schule um Gustav Meyrink oder Max Brod und entschied sich »schnell für den anderen Weg – oder besser, er erfand einen anderen: das Pragerdeutsch nehmen, wie es ist, mit all seiner Armut; die Deterritorialisierung weiter vorantreiben, in aller Nüchternheit; den ausgetrockneten Wortschatz in der Intensität vibrieren lassen; dem symbolischen oder bedeutungsschwangeren oder bloß signifikanten Gebrauch der Sprache einen rein intensiven Sprachgebrauch entgegenstellen« (K 28). Hier wie anderswo betont Deleuze den kollektiven Charakter der Sprache, wobei der literarische Stil eines Autors lediglich die jeweilige Art und Weise bezeichnet, durch die das soziale Äußerungsgefüge in Bewegung gebracht wird. Deleuze weist zudem darauf hin, dass jede gesellschaftliche und politische Ordnung notwendigerweise auf (majoritären) »Aussagen« beruht, die von der Literatur vielfach aufgenommen und neu verkettet werden, was einer (minorisierenden) Intervention in das sprachliche Koordinatensystem des jeweils gegebenen Gefüges entspricht. Vor allem aufgrund dieser Engführung von Sprache und Politik widerspricht Deleuze dem werkimmanenten Ansatz des New Criticism sowie dem L’art pour l’art-Gedanken insgesamt. »Kunst ist nie ein Ziel«, heißt es in den Tausend Plateaus, »sie ist nur ein Mittel, um Lebenslinien zu ziehen, das heißt, all jene Arten des wirklichen Werdens, die nicht einfach in der Kunst zustandekommen, all die aktiven Fluchtbewegungen, die nicht darin bestehen, in die Kunst zu flüchten, sich in die Kunst zurückzuziehen« (TP 257).7
3.2 I DEOLOGIE , B EGEHREN , M ASCHINISMUS Dass Deleuze die Frage nach den Gebrauchsmöglichkeiten eines Werkes gegenüber der Frage nach den entsprechenden Interpretationsmöglichkeiten privilegiert, trennt seinen Ansatz zudem von ideologiekritisch ausgerichteten literaturwissenschaftlichen Methoden, womit nicht allein die traditionelle Form marxistischer Literaturanalyse gemeint ist. Denn seit die Literaturwissenschaft in den frühen 1980er Jahren vom sogenannten »Cultural Turn« erfasst worden ist und literarische Texte wieder verstärkt im historischen, sozialen und politischen Kontext des jeweiligen Entstehungszeitraums verortet werden, spielt der Ideologiebegriff in sehr unterschiedlichen Ansätzen – so etwa auch im New Historicism8 – wieder eine wesentliche Rolle. Wie bereits in der Einleitung erläutert wurde, kritisiert Deleuze den Begriff der Ideologie vor allem deshalb, da dieser für ihn eine zu einfache Trennung von Basis und Überbau, Tatsache und Täuschung impliziert. Geht es der Ideologiekritik in der Regel um die Frage, weshalb Menschen gegen ihre »objektiven Interessen« handeln und stattdessen den Täuschungsmanövern der Ideologie aufsitzen, verzichten Deleuze und Guattari auf eine Unterscheidung von »wirklichen« und »falschen« Interessen, indem sie die Fra7 8
In Bezug auf die Literatur wird der gleiche Gedanke in den Dialogen geäußert, wo es heißt: »In Wahrheit hat Schreiben seinen Zweck nicht in sich selbst« (D 57). Zur Rolle des Ideologiebegriffs im New Historicism, vgl. Montrose 1992. Allgemein zum methodischen Ansatz dieser Schule, siehe Baßler [Hg.] 2001.
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ge im Kontext ihrer Philosophie des Begehrens umformulieren.9 Insofern sie das Begehren gewissermaßen an den Anfang stellen und davon ausgehen, dass der Wunsch weder wahre noch falsche Interessen kennt, lehnen sie das negative Kriterium der Täuschung ab und nehmen stattdessen die Produktivität des Begehrens in den Blick.10 Dementsprechend wird im Anti-Ödipus u.a. auf Wilhelm Reich verwiesen, der in seinen Faschismusstudien argumentiert hatte, die Massen seien nicht getäuscht worden, sondern »haben den Faschismus gewünscht – und das heißt es zu erklären« (AÖ 331). Deleuze und Guattari zufolge ist dies jedoch »kein ideologisches Problem, keines des Verkennens und der Illusion«, sondern ein »Problem des Wunsches, und der Wunsch ist Teil der Basis«. Anstelle der Ideologiekritik empfehlen sie daher eine »Schizo-Analyse«, deren Aufgabe es sein soll, »die spezifische Natur der libidinösen Besetzungen des Ökonomischen und Politischen zu analysieren und darin zu zeigen, wie der Wunsch bestimmt sein kann, seine eigene Repression im wünschenden Subjekt zu wünschen« (135). Hierzu heißt es genauer: »Selbst die repressivsten und demütigsten Formen gesellschaftlicher Produktion werden vom Wunsch innerhalb der Organisation erzeugt, die unter einer jeweiligen Bedingung, die wir zu analysieren haben, sich daraus ergibt. So bleibt die grundlegende Frage der politischen Philosophie immer noch jene, die Spinoza zu stellen wußte (und die Reich wiederentdeckt hat): Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil? […] Wie Reich sagt, liegt das Erstaunliche nicht darin, daß Leute stehlen, andere streiken, vielmehr darin, daß die Hungernden nicht immer stehlen und die Ausgebeuteten nicht immer streiken. Warum ertragen Menschen seit Jahrhunderten Ausbeutung, Erniedrigung, Sklaverei, und zwar in der Weise, daß sie solches nicht nur für die anderen wollen, sondern auch für sich selbst? Wilhelm Reich ist nicht zuletzt dann ein großer Denker, wenn er es ablehnt, zur Erklärung des Faschismus Verkennen und Illusionismus seitens der Massen heranzuziehen, und demgegenüber darauf besteht, ihn mittels des Wunsches, in dessen Begriffen zu erklären: Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus in diesem Augenblick und unter diesen Umständen gewünscht.« (AÖ 39)11
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In diesem Kontext ist freilich darauf hinzuweisen, dass sich der Ideologiebegriff im Laufe seiner Geschichte mehrfach wesentlich gewandelt hat. So hat Althusser der Ideologie z.B. eine »materielle Existenz« eingeräumt (Althusser 1977, 136) und dadurch die traditionelle Marxsche Definition – gemäß der sie als Überbau und »pure Illusion« (131) begriffen wurde – einer Revision unterzogen. In seiner Kritik bezieht sich Deleuze zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend noch auf den alten marxistischen Begriff von Ideologie als »falsches Bewusstsein«. Zur Entwicklungsgeschichte des Ideologiebegriffs, vgl. Eagleton 1991 und Bercovitch/Jehlen (Hg.) 1987. 10 Vgl. etwa AÖ 331: »Der Wunsch wird niemals getäuscht. Getäuscht, verkannt oder verraten werden kann das Interesse, nicht jener […]. Wie erklären, daß der Wunsch sich Operationen anheimgibt, die kein Verkennen, keine Mißverständnisse sind, sondern vollkommen reaktionäre unbewußte Besetzungen?« 11 Gleichwohl wird Reich vorgeworfen, »keine befriedigende Antwort« auf das von ihm aufgeworfene Problem gefunden zu haben, da er an dem Dualismus von »rationaler« gesellschaftlicher Produktion und »irrationaler« Wunschproduktion festhalte: »Der Psychoanalyse behält er demnach allein die Erklärung des ›Negativen‹, ›Subjektiven‹, ›Hemmenden‹
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Diese Konzeption einer »Mikropolitik des Begehrens« lässt sich gut am Beispiel von Deleuzes und Guattaris Kafka-Lesart illustrieren. So kommt es im fünften Kapitel ihrer Kafka-Studie zu einer expliziten Kritik an denjenigen Interpretationen, in denen Kafka als Theoretiker der leeren Transzendenz des Gesetzes verstanden oder in die Nähe der »negativen Theologie« gerückt wird: »Negative oder Absenz-Theologie, Transzendenz des Gesetzes und Apriori der Schuld sind geläufige Themen in zahlreichen Kafka-Deutungen« (K 60). Deleuze und Guattari bieten als Alternative zu jenen Ansätzen ein immanentes Modell an, gemäß dem die »Undurchschaubarkeit des Gesetzes« in Kafkas Prozeß-Roman nicht »daher rührt, daß es sich in eine Transzendenz zurückgezogen hätte, sondern einfach daher, daß es überhaupt kein Inneres hat und niemals ›hier‹ ist: Es ist immer im Büro nebenan, immer hinter einer Tür« (62). Die Unerreichbarkeit des Gesetzes lässt sich folglich nicht vertikal begründen (Modell der Transzendenz), sondern horizontal (Modell der Immanenz): hinter jedem Gang gelangt man auf noch einen Gang, hinter jeder Tür verbirgt sich noch eine Tür, und jedes Nebenzimmer grenzt an ein weiteres. Das Gesetz ist für Deleuze und Guattari demnach mit einer bürokratischen Maschine verkoppelt, die ihrerseits durch kollektives Begehren angetrieben und in Gang gesetzt wird. Genauer gesagt: Die Strafverfolgungsbehörden verschleppen den Prozess nicht deshalb, weil sich das Gesetz in eine unerreichbare Transzendenz zurückziehen würde, sondern weil sie »von der Schuld angezogen« sind; sie »schnüffeln, wühlen, buddeln nach ihr« und »interessieren sich brennend für die Gespräche in den Korridoren, das Geflüster im Saal, das Kanzleigeschwätz, die Vertraulichkeiten in den Beratungszimmern […], das ganze Mikro-Geschehen, in dem das Begehren mit seinen Zufällen deutlich wird« (69).12 Deleuze und Guattari kommen folglich zu dem Schluss, dass Kafka dem Gesetz keine transzendente Essenz bescheinigt, sondern vielmehr jede transzendente Rechtfertigung des Gesetzes demontiert: »Dort, wo man das Gesetz vermutet hatte, ist in Wahrheit Begehren, bloßes Begehren. Das Gericht ist Begehren, nicht Gesetz« (K 68).13 Diese »Mikropolitik des Begehrens« wird von Deleuze und Guattari generell als konstitutiv für die Form der politischen Ordnung begriffen, die sich auf der gesellschaftlichen »Makroebene« ergibt. Denn ohne jenes Begehren, das fortwährend auf im gesellschaftlichen Feld vor. […] Er verzichtet auf die Entdeckung des gemeinsamen Maßes oder der Koextension von gesellschaftlichem Feld und Wunsch« (AÖ 39-40). 12 In Burkhart Kroebers Übersetzung der Kafka-Studie wird das französische désir grundsätzlich durch das deutsche Wort »Verlangen« übersetzt. In der vorliegenden Untersuchung wird dagegen das Wort »Begehren« bevorzugt, weshalb hier – wie auch bei allen weiteren Zitaten aus dem Buch – von der ursprünglichen Übersetzung geringfügig abgewichen wird. 13 Auch Slavoj Žižek richtet sich gegen eine Kafka-Deutung im Sinne der negativen Theologie, begreift die Lesart von Deleuze und Guattari jedoch als eine bloße »Umkehrung«, die »auf denselben theoretischen Voraussetzungen« basiere: »Entweder man begreift die ungreifbare, unerreichbare, transzendente Natur des Zentrums (Schloß, Gericht) als Zeichen eines ›abwesenden Gottes« […]; oder man faßt diese leere Transzendenz als ›perspektivische Illusion‹ auf, als umgekehrte Erscheinungsform der Immanenz des Begehrens«. Žižek argumentiert gegen beide Lesarten, dass es falsch sei, das Gesetz als »leer« zu verstehen, da »dieser leere Platz immer schon besetzt ist von einer unbeweglichen, obszönen, abstoßenden Präsenz« (vgl. Žižek 1991, 100-101).
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allen Ebenen des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs investiert werden muss, gäbe es schlichtweg kein Gesetz und keine Souveränität, d.h. keine »gesellschaftliche Ordnung«. Umgekehrt heißt dies freilich auch, dass eine wirkliche Transformation der politischen Ordnung nur unter der Voraussetzung gelingen kann, dass sie nicht lediglich top down verfügt wird, sondern sich unmittelbar auf der Ebene der Mikropolitik des Begehrens manifestiert.14 Analog zu seinen immanenzphilosophischen Prämissen – und konträr zum Ansatz von Lacan – geht Deleuze zudem davon aus, dass das Begehren keinem »Mangel« entspringt. Denn wie im Anti-Ödipus mit Verweis auf Clément Rosset verdeutlicht wird, kann die psychoanalytische Setzung eines ursprünglichen Mangels notwendigerweise nur als Axiom begriffen werden, das einer transzendenten Logik folgt. Geht man nämlich davon aus, dass der Wunsch seinen Gegenstand ontologisch verfehlt, dann kommt man gezwungenermaßen zu der Schlussfolgerung, dass die Welt nicht alle Gegenstände enthält: »ihr fehlt wenigstens einer – der des Wunsches; folglich existiert ein ›Anderswo‹, das den Schlüssel zum Wunsch (der der Welt fehlt) enthält« (AÖ 35-36).15 Die prinzipielle Zurückweisung eines derartigen »Anderswo« hat zur Konsequenz, dass in der Philosophie von Deleuze letztlich sämtliche Erscheinungen des Negativen und der Transzendenz – der Mangel, das Verbot, die Täuschung, das Gesetz usw. – ausgehend von der Ebene der Immanenz (d.h. der »Mikropolitik des Begehrens«) zu denken sind. Um es erneut mit Marc Rölli zu sagen: »Sämtliche Transzendenzen enthüllt Deleuze als Produkte der Immanenz« (Rölli 2003, 47). Deleuzes Konzeption der Mikropolitik des Begehrens betrifft freilich auch sein Literaturverständnis, das sich daher wesentlich von ideologiekritischen Methoden unterscheidet. Wie besonders im Anti-Ödipus verdeutlicht wird, bedeutet dies genauer, dass die politische Dimension der Literatur nicht auf deren ideologischen »Inhalt« 14 An diesem Punkt existieren – trotz grundsätzlicher Differenzen in anderer Hinsicht – wesentliche Parallelen zu Michel Foucaults »Mikrophysik der Macht«. Denn wie Deleuze und Guattari versteht auch Foucault die Mikroebene nicht als bloßes Derivat der Makroebene (der politischen Ordnung, der Produktionsweise etc.), sondern begreift sie stattdessen als konstitutiv für die Makro-Ordnung einer jeweiligen Gesellschaft (vgl. Foucault 1976, 116117). 15 Deleuzes und Guattaris Konzeption des Begehrens unterscheidet sich in dieser Hinsicht grundlegend von der Auffassung Lacans – auch wenn dessen »bewundernswerte Theorie des Wunsches« (AÖ 36) hier zumindest vordergründig noch gelobt wird. Wie Lacan betonen Deleuze und Guattari zwar den prozessualen Charakter des Begehrens, gehen dabei aber – anders als Lacan – von keinem »ontologischen Mangel« aus. Genauer gesagt: Wenn Lacan die Prozessualität des Begehrens unterstreicht, dann tut er dies primär deshalb, weil er das Begehren als grundsätzlich unerfüllbares konzipiert. Wie schon in dem frühen Text über »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion« (Lacan 1996, 61-70) zum Ausdruck kommt, begreift Lacan das Subjekt einerseits als »gespaltenes«, sieht es andererseits aber durch den Wunsch nach Ganzheit bestimmt, der seinen Gegenstand folglich stets verfehlt. (Im Aufsatz über das Spiegelstadium steht die Gespaltenheit des Subjekts noch im Kontext des Imaginären, während in späteren Texten meist auf die symbolische Ordnung verwiesen wird). Die ontologische Mangelstruktur ergibt sich somit daraus, dass Lacan das prinzipiell unerfüllbare Begehren nach Ganzheit als quasi transzendent voraussetzt, anstatt es – worum es Deleuze und Guattari in dieser Hinsicht ginge – immanenztheoretisch zu erfassen.
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reduziert werden sollte. So heißt es in Bezug auf die »libidinösen Besetzungen« des Politischen (AÖ 135): »Das alles spielt sich nicht im Raum des Ideologischen, sondern unterhalb seiner ab. Eine unbewußte Besetzung faschistischen oder reaktionären Typs kann mit einer bewußten revolutionären Besetzung koexistieren. Daneben kann es auch vorkommen (seltener), daß eine auf der Ebene des Wunsches revolutionäre mit einer reaktionären, einem bewußten Interesse angepaßten Besetzung koexistiert. Auf alle Fälle sind die bewußten und unbewußten Besetzungen, auch wenn sie koinzidieren und einander überlagern, nicht vom selben Typ.« (136)
Dementsprechend wäre es Deleuze und Guattari zufolge also auch falsch, den (politischen) Wert literarischer Texte primär mit Blick auf deren jeweilige »Ideologie« zu bestimmen.16 Hierzu heißt es genauer: »Wie unangemessen, die Literatur, ausgehend von der in ihr enthaltenen Ideologie oder ihrer Verwertbarkeit innerhalb einer herrschenden gesellschaftlichen Ordnung, problematisieren zu wollen. Verwertet werden Menschen, nicht die Werke, die immer wieder neu einen schlummernden jungen Menschen aufwecken, die nicht aufhören werden, ihr Feuer weiterzutragen. Darüber hinaus finden wir den Begriff der Ideologie konfus, weil er verhindert, daß wir das Verhältnis der literarischen Maschine zu einem Produktionsfeld erfassen, er uns damit den Augenblick verfehlen läßt, in dem das ausgesendete Zeichen diese ›Form des Inhalts‹, die versucht hatte, es in der Ordnung des Signifikanten zu belassen, durchbricht. Lang ist es her, daß Engels, mit Blick auf Balzac, geäußert hatte, daß ein Autor dann groß sei, wenn er nicht umhin könne, Ströme zu entwerfen und fließen zu lassen, die den katholischen und despotischen Signifikanten seines Werkes bersten lassen und notwendig einer am Horizont aufziehenden revolutionären Maschine Stoff geben. Dies ist der Stil, oder vielmehr das Fehlen des Stils, Asyntaxie, Agrammatikalität: der Augenblick, da die Sprache nicht mehr durch das sich definiert, was sie sagt, noch weniger durch das, was sie zum Signifikanten macht, sondern durch das, was sie zum Fließen, Strömen und Zerspringen bringt: den Wunsch.« (AÖ 172)
Insofern Deleuze der Ideologie somit eine bestenfalls zweitrangige Rolle beimisst, entgeht er der von Myra Jehlen beschriebenen Ambiguität der ideologiekritischen Literaturanalyse, bei der der Kritiker zum »adversary« des von ihm untersuchten Werkes wird (vgl. Jehlen 1987, 5). In seinen Literaturanalysen, in denen das Schreiben als spezifische Form des Denkens verstanden wird, deren »Logik« sich nicht in der (ideologischen) Repräsentation eines außerliterarischen Bewusstseins erschöpft, geht es Deleuze vielmehr darum, literarische Texte ihren ursprünglichen Kontexten zu entreißen und »pragmatisch« für neue Gebrauchsweisen zu öffnen. Zwar beruft sich Deleuze auch auf weniger bekannte Autoren wie etwa Gherasim Luca (KK 149-151), Alfred Jarry (124-135) oder Sacher-Masoch (SM); vielfach aber widmet er sich – wie im Falle von Kafka, Melville oder Beckett – weithin anerkannten Werken der Weltliteratur, die er in der Regel (analog dazu, wie in seinen philosophiehistorischen Arbeiten mit Nietzsche, Bergson oder Spinoza verfahren wird) konträr zu den gängigen 16 Zu Deleuzes Ablehnung der Ideologiekategorie bei der Analyse literarischer Texte (und den hiermit einhergehenden methodischen Differenzen zum New Historicism und zu den New American Studies), vgl. auch Schleusener 2004, 231-234.
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Rezeptionsweisen liest. Während es dem New Historicism und den New American Studies in erster Linie darum geht, die »Kumpanei des Ästhetischen mit der Macht« (Fluck 1997, 10) ideologiekritisch bloßzustellen und eine Erweiterung des Kanons durch Einbeziehung bislang missachteter Autorinnen und Autoren zu vollziehen, praktiziert Deleuze somit eine konkrete Dezentrierung und Minorisierung des Kanons von innen heraus. Indem Deleuze die sprachlichen Ambivalenzen, die kollektiven Aussageverkettungen, die Flucht- und Deterritorialisierungslinien, die Unbestimmtheits- und Ununterscheidbarkeitszonen literarischer Texte betont, löst er diese zudem aus der Abhängigkeit von der jeweiligen »Autorfunktion« (vgl. Foucault 1988) und handhabt sie stattdessen als »Maschinen« mit unterschiedlichen Gebrauchs- und Zugangsmöglichkeiten. Wie Deleuze mehrfach erläutert hat, ist der Begriff der Maschine hierbei wesentlich vom Begriff des Mechanismus zu unterscheiden.17 Denn anders als beim Mechanismus handelt es sich bei Deleuzes Maschinismus nicht um eine geschlossene Entität mit einer spezifischen Aufgabe, sondern um einen grundsätzlich offenen und erweiterbaren Funktionszusammenhang, dessen jeweilige Funktion sich abhängig von der Qualität seiner Relationen und Verschaltungen ändern kann. Hierzu bemerkt Claire Colebrook: »A mechanism is a closed machine with a specific function. A machine, however, is nothing more than its connections [...]. Think of a bicycle, which obviously has no ›end‹ or intention. It only works when it is connected with another ›machine‹ such as the human body; and the production of these two machines can only be achieved through connection. The human body becomes a cyclist in connecting with the machine; the cycle becomes a vehicle. But we could imagine different connections producing different machines. The cycle becomes an art object when placed in a gallery; the human body becomes an ›artist‹ when connected with a paintbrush. The images we have of closed machines, such as the self-contained organism of the human body, or the efficiently autonomous functioning of the clock mechanism, are effects and illusions of the machine. There is no aspect of life that is not machinic; all life only works and is insofar as it connects with some other machine.« (Colebrook 2002a, 56)18 17 Im Kontext der Literatur hat Deleuze den Begriff der Maschine erstmals im zweiten Teil von Proust und die Zeichen verwendet (»Die literarische Maschine«, PZ 85-145). Siehe diesbezüglich auch den Begriff der »Wunschmaschine«, der im Anti-Ödipus eine zentrale Rolle spielt (AÖ 7-63). 18 Auch wenn sie dem heutigen Leser zunächst fremd erscheinen mag, steht die Unterscheidung zwischen »Maschine« und »Mechanismus« philosophiehistorisch in einer langen Tradition. In Leibniz’ Monadologie wird sie z.B. als Differenz zwischen »göttlicher« oder »natürlicher« Maschine und »künstlichem Automaten« konzipiert. Siehe hierzu Leibniz 1967, 145: »So ist der organische Körper eines Lebewesens stets eine Art von göttlicher Maschine oder natürlichem Automaten, der die künstlichen Automaten unendlich übertrifft. Denn eine Maschine, die durch die Kunstfertigkeit des Menschen geschaffen ist, ist nicht auch in jedem ihrer Teile Maschine […]. Die Maschinen der Natur dagegen, d.h. die lebenden Körper, sind noch in ihren kleinsten Teilen, bis ins Unendliche hinein, Maschinen«. Auch wenn Deleuze die kategorische Trennung von natürlichen und künstlichen Maschinen so sicherlich nicht mittragen würde, ist Leibniz’ Vorstellung einer Maschine, deren Teile »bis ins unendliche hinein« wiederum Maschinen darstellen, seiner eigenen Maschinenkonzeption nicht unähnlich.
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In Bezug auf die Literatur bietet sich der Begriff der Maschine für Deleuze deshalb an, weil er sowohl den Aspekt der Produktion gegenüber demjenigen der Repräsentation als auch den Aspekt des Gebrauchs vor demjenigen des Verstehens betont.19 Das Konzept der Maschine ist in diesem Sinne eng mit Deleuzes Pragmatismus verkoppelt, denn einen Text als Maschine zu verstehen, impliziert einerseits, ihn nicht nach einem verborgenen Sinn hin zu untersuchen, sondern mit Blick auf die Wirkungen, die er zu produzieren imstande ist. Andererseits verlangen Literaturen, je »maschinischer« (d.h. je komplexer und anschlussfähiger) sie strukturiert sind, nach einer experimentellen Lektüre. Als Beispiel für eine derartige Maschinenliteratur mit zahllosen »Pforten, Haupt- und Nebentüren« lässt sich wiederum auf das Werk Kafkas verweisen, dessen rhizomartigen Charakter Deleuze und Guattari – wie an anderer Stelle bereits auszugsweise zitiert wurde – folgendermaßen beschreiben: »Wie findet man Zugang zu Kafkas Werk? Es ist ein Rhizom, ein Bau. Das Schloß hat ›vielerlei Eingänge‹, deren Benutzungs- und Distributionsgesetze man nicht genau kennt. Das Hotel in Amerika hat zahllose Pforten, Haupt- und Nebentüren, bewacht von ebenso vielen Pförtnern, ja sogar türlose Ein- und Ausgänge [...]. Also steigen wir einfach irgendwo ein, kein Einstieg ist besser als ein anderer, keiner hat Vorrang, jeder ist uns recht, auch wenn er eine Sackgasse, ein enger Schlauch, ein Flaschenhals ist. Wir müssen nur darauf achten, wohin er uns führt, über welche Verzweigungen und durch welche Gänge wir von einem Punkt zum nächsten gelangen, wie die Karte des Rhizoms aussieht und wie sie sich ändert, sobald man anderswo einsteigt. Das Prinzip der vielen Eingänge behindert ja nur das Eindringen des Feindes, des Signifikanten; es verwirrt allenfalls jene, die ein Werk zu ›deuten‹ versuchen, das in Wahrheit nur experimentell erprobt sein will.« (K 7)
3.3 »D IE GUTEN B ÜCHER SIND IN EINER ART F REMDSPRACHE GESCHRIEBEN « Die pragmatische Herangehensweise an die Literatur korrespondiert in Deleuzes Philosophie mit einem pragmatischen Blick auf die Sprache insgesamt, was am deutlichsten im vierten Kapitel der Tausend Plateaus zum Ausdruck kommt. Dort wird die Sprache – mit Verweis auf Austins Sprechakttheorie – primär als Handlung konzipiert, wobei der Informationsgehalt nur »das äußerste Minimum« (TP 107) der jeweiligen Sprechhandlung darstellt. Während Deleuze und Guattari die Sprechakttheorie grundsätzlich wohlwollend rezipieren, kommt es ansonsten jedoch zu einer oftmals harschen Kritik an der Linguistik, die sich besonders gegen Autoren wie Saussure oder Chomsky richtet. Im Rahmen dieser Kritik kommt der literarischen Praxis eine durchaus wichtige Rolle zu, da sie quasi als »Gegenmodell« zum linguistischen Mainstream angeführt wird (die Schriftsteller versetzen die Sprache in »kontinuierliche Variation«, während die Linguisten sie als »homogenes System« begreifen). Bevor im Folgenden auf die Rolle der Literatur in dieser Hinsicht genauer eingegangen
19 Vgl. etwa PZ 117: »Warum eine Maschine? Weil das so verstandene Kunstwerk wesentlich produzierend ist, bestimmte Wahrheiten produziert. Daher hat Proust auf dem folgenden Punkt insistiert: daß die Wahrheit produziert ist, daß sie durch einanderzugeordnete Maschinen, die in uns funktionieren, produziert ist«.
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wird, sollen zunächst die wesentlichsten Kritikpunkte zusammengefasst werden, die Deleuze gegen das Sprachverständnis der Mainstream-Linguistik anführt. 1. Die Tatsache, dass Deleuze Sprache eher als intervenierend denn als repräsentierend versteht, hat zur Folge, dass Kategorien wie »Kommunikation«, »Information« oder »Bedeutung« für ihn vergleichsweise unwesentlich sind. Bei einem Satz, einer Aussage oder einem Kennwort geht es nicht in erster Linie um die Frage der Bedeutung oder den Informationsgehalt, sondern – im nietzscheanischen Sinne – um die Frage der Kraft, d.h. darum, was ein Satz oder eine Aussage zu bewirken vermag. Seit Proust und die Zeichen hat Deleuze daher die Auffassung vertreten, dass es nicht darauf ankommt, was ein Sachverhalt bedeutet, sondern darauf, wie er funktioniert (vgl. PZ 117). 2. Deleuze argumentiert, dass die Sprache prinzipiell als ein System im Ungleichgewicht zu verstehen ist. Damit richtet er sich u.a. gegen die geläufige Trennung zwischen langue und parole, wobei die langue als prinzipiell »homogenes System« (TP 128) begriffen wird, während sprachliche Abweichungen oder Variationen stets der parole, d.h. der Seite des Sprechens (der individuellen Rede) zugeschrieben werden. Hiergegen argumentiert Deleuze, dass die Sprache selbst in kontinuierlicher Variation begriffen werden muss und das Konzept der langue auf einem abstrakten Idealismus beruht. (Deleuzes Vorbehalte gegen das Konzept der langue haben zur Folge, dass er Sprachpragmatikern wie Austin und Searle mit wesentlich mehr Wohlwollen begegnet als Chomsky und Saussure.20) 3. Deleuze hebt den kollektiven sowie (im weiteren Sinne) politischen Charakter der Sprechakte hervor und wirft der Linguistik ein falsches Abstraktions- und Immanenzverständnis vor. So kritisiert er die Linguistik dafür, gleichzeitig zu abstrakt und nicht abstrakt genug vorzugehen: Die Linguistik ist zu abstrakt, da sie die Sprache von den Verhaltensweisen lebendiger Körper isoliert, um aus ihr ein homogenes Objekt der Wissenschaft zu machen, was zur Folge hat, dass sie konkrete Phänomene wie Dialekt, »Stil«, Betonung, Agrammatikalität etc. übergeht oder schlichtweg der parole zuordnet. Zugleich aber ist sie nicht abstrakt genug, da sie nicht imstande ist, über die Sprache (im linguistischen Sinne) hinauszugehen und sie als Teilelement im Rahmen eines umfassenderen gesellschaftlichen Konstitutionsprozesses zu begreifen. Anders gesagt: Die abstrakte Maschine der Linguisten ist stets sprachlicher Natur, während Deleuze und Guattari davon ausgehen, dass die Sprache von einer Form der abstrakten Maschine abhängt, die keinen sprachlichen, sondern einen »diagrammatischen« Charakter aufweist, sich also »auf das gesamte Gefüge« bezieht (TP 127).21 20 Jean-Jacques Lecercle hat allerdings darauf hingewiesen, dass Deleuzes und Guattaris Gebrauch der Sprechakttheorie wenig mit den tatsächlichen Modellen von Austin und Searle gemeinsam hat: »Deleuze and Guattari’s recourse to pragmatics is a blatant case of misprision of Anglo-Saxon pragmatics. I borrow the term from Harold Bloom: it has the advantage of denoting both betrayal and creative development, so that what Deleuze and Guattari give us is a new pragmatics, with a strong Continental flavour. In order to follow their own philosophical agenda, they must deeply transform a discipline which is still dependent on the philosophy of language that underpins the mainstream research programme« (Lecercle 2002, 162). 21 Siehe hierzu die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen »Inhaltsgefügen« (die die Körper und ihre möglichen Mischungen betreffen) und »Ausdrucksgefügen« (die kollektive
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Deleuze und Guattari halten es dementsprechend für falsch, die Sprache »an sich«, d.h. unabhängig von denjenigen nicht-sprachlichen Kräfteverhältnissen zu betrachten, die die Produktion von Aussagen determinieren oder »kollektive Äußerungsgefüge« in Gang setzen, welche der individuellen Rede vorausgehen. Vergleichbar mit der Konzeption Foucaults entwerfen Deleuze und Guattari somit eine wesentlich politische Theorie der Sprache, in der die Aussagen von den Kräfteverhältnissen abhängen und die individuelle Rede den kollektiven Äußerungen nachgeordnet wird. 4. Der vierte und letzte Punkt betrifft Deleuzes Kritik an der Verabsolutierung der Sprache und dem »Imperialismus des Signifikanten« (TP 93). In den Tausend Plateaus heißt es in diesem Sinne, dass es weder ein »Primat des Ausdrucks gegenüber dem Inhalt« noch ein Vorrecht des Inhalts gegenüber dem Ausdruck gibt: »Man sollte keinen Ursprung festlegen, sondern Interventionspunkte, Punkte des Eindringens, und zwar im Rahmen der wechselseitigen Voraussetzung der beiden Formen« (123). In diesem Kontext betont Deleuze einerseits die »materiellen« Aspekte physischer Realität, die nicht auf die Sprache und deren Wirkungen reduzierbar sind und auf die Seite des »Inhalts« gehören. Andererseits relativiert er den Stellenwert des Signifikanten auf der Ebene des »Ausdrucks«, wobei auf die Existenz diverser »Zeichenregime« verwiesen wird, unter denen das Signifikantenregime nur eines darstellt (vgl. TP 155-203). (Dieser letzte Punkt macht deutlich, dass Deleuze mit einem erweiterten Zeichenbegriff operiert, der auch nicht-signifikante und, im engeren Sinne, nichtsprachliche Zeichen umfasst.22) Mit Blick auf die Sprache selbst werden in Deleuzes Perspektive somit insbesondere zwei sich gegenseitig bedingende Aspekte betont, nämlich einerseits der pragmatische und andererseits der politische. Was diesen politischen oder machtkritischen Aspekt betrifft, so unterscheidet sich der Ansatz von Deleuze auch deutlich von der Sprechakttheorie, von der er ansonsten merklich beeinflusst ist. Denn zu sagen, dass die Sprache weniger repräsentiert als interveniert, dass im Sinne der linguistischen Kategorien des Performativs und des Delokutivums tatsächliche Handlungen, d.h. »Sprechakte« vollzogen werden, reicht in dieser Hinsicht nicht aus. Deleuze Äußerungen betreffen). Während sich die Gefüge somit aus zwei verschiedenen Typen von Mannigfaltigkeiten zusammensetzen (Mannigfaltigkeiten des Inhalts und des Ausdrucks), organisiert die »abstrakte Maschine« jene Mannigfaltigkeiten gemäß einer jeweils zu bestimmenden, spezifischen Funktion. Als vereinfachtes Beispiel für das Verhältnis von Gefüge und abstrakter Maschine ließe sich etwa auf das von Foucault analysierte Panoptikum verweisen, in dem die Mannigfaltigkeit der Körper durch den Einsatz einer abstrakten Maschine mit der Funktion »Sehen, ohne gesehen zu werden« organisiert wird (vgl. Foucault 1994 und TP 94-95). 22 Jean-Jacques Lecercle hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich Deleuzes Zeichenbegriff im Verlauf seines Werkes mehrfach gewandelt hat. Er selbst unterscheidet insgesamt vier Phasen, nämlich: 1) die Frühphase, in der der erste Teil von Proust und die Zeichen entstand; 2) die »strukturalistische« Phase, aus der die Logik des Sinns hervorging; 3) die Phase der Zusammenarbeit mit Guattari; und 4) die Spätphase, in der Deleuze sich der Klassifizierung der Bilder und Zeichen des Kinos widmete. Lecercle betont jedoch, dass sich Deleuzes Zeichenbegriff zu keiner Phase – auch nicht in seiner »strukturalistischen« – mit der Konzeption des linguistischen Zeichens im Sinne von Saussure gedeckt habe (vgl. Lecercle 2002, 247-253).
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zufolge bewirkt die Sprache Handlungen nämlich zuallererst dadurch, dass sie Anordnungen und Befehle, genauer: »Kennworte« (mots d’ordre) aussendet. Unter derlei Kennworten wird in den Tausend Plateaus keine spezielle Kategorie von Aussagen mit formal imperativischem Charakter verstanden, sondern alle Aussagen, die sich auf Handlungen beziehen, welche »durch eine ›gesellschaftliche Verpflichtung‹« wiederum mit Aussagen und deren Produktion verbunden sind: »Es gibt keine Aussage, die diese Bindung nicht direkt oder indirekt darstellt. Eine Frage oder ein Versprechen sind Kennworte« (TP 111). Dementsprechend handelt es sich im Falle einer Lehrerin, die einen Schüler abfragt, auch nicht um reine Informationsübermittlung, sondern um die Weitergabe »semiotischer Koordinaten« (106) im Sinne einer durch Machtbeziehungen geregelten Unterweisung. Dass sich die Sprache also durch ihre Kennworte definiert und somit die »Infrastruktur« jeder gesellschaftlichen Ordnung darstellt, heißt allerdings nicht, dass sie allein als Instrument der jeweils dominanten Macht fungiert. Zwar betonen Deleuze und Guattari, dass die »Bildung von grammatisch korrekten Sätzen [...] für das normale Individuum die Voraussetzung für jede Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Gesetze« darstellt (TP 140-141); der Etablierung einer majoritären sprachlichen Ordnung wirken allerdings eine Vielzahl von Minorisierungspraktiken entgegen, unter denen die Literatur in Deleuzes Philosophie einen besonderen Stellenwert einnimmt. So beruft sich Deleuze des Öfteren auf das Diktum Prousts, laut dem »die guten Bücher in einer Art Fremdsprache geschrieben sind« (Proust 1997, 222). Als große Autoren begreift Deleuze folglich nicht diejenigen, die ihre Muttersprache einwandfrei beherrschen, verfeinern und literarisch zu repräsentieren verstehen, sondern jene, welche sie unterwandern oder minorisieren und somit einen Beitrag zur »Erfindung einer neuen Sprache in der Sprache« (KK 16) leisten.23 Deleuze sieht in derlei Verfremdungs- und Erneuerungsstrategien einen geradezu politischen Aspekt von Literatur, da sie einen »minoritären Gebrauch« (D 41) der Sprache implizieren und – zumindest potentiell – gegen deren majoritäre Ordnung gerichtet sind. Wie in den Tausend Plateaus argumentiert wird, kann es hierbei passieren, dass sich die Kennworte und Befehle der Standardsprache in dynamische »Paßwörter« verwandeln, die einen »Übergang« ermöglichen: »Unter den Befehlen gibt es Parolen, Paßwörter. Wörter, die so etwas wie Übergänge, Komponenten des Übergangs sind, während die Befehle Stillstände, stratifizierte und organisierte Komponenten markieren. Dieselbe Sache, dasselbe Wort, hat zweifellos diese Doppelnatur: man muß eine der anderen entziehen – die Komponenten der Ordnung in Komponenten des Übergangs verwandeln.« (TP 153)
Aufgrund ihres Potentials zur Verfremdung und Minorisierung der Standardsprache behandelt Deleuze die Literatur tendenziell als Gegenstück zu den dominanten Tendenzen der Linguistik. Denn während die Linguistik prinzipiell von einem Sprach23 Gegen die Essentialisierung der Muttersprache heißt es daher in den Tausend Plateaus: »Die Einheit einer Sprache ist in erster Linie politisch. Es gibt keine Muttersprache, sondern nur die Machtergreifung einer dominanten Sprache, die manchmal auf breiter Front vorrückt und sich manchmal simultan auf verschiedene Zentren stürzt« (TP 141). Zur »Zersetzung« der Muttersprache in den Literaturen von Artaud und Céline, vgl. KK 17.
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system im Gleichgewicht ausgeht, d.h. sich zum Ziel setzt, der Sprache Konstanten zu extrahieren, wird die Sprache durch die Literatur – zumindest im Falle der Autoren, die Deleuze analysiert – in einen Zustand der kontinuierlichen Variation und des permanenten Ungleichgewichts gebracht. Diesbezüglich hebt Deleuze literarische Strategien hervor, die die Sprache mit dem ihr innewohnenden Außen, dem Asignifikanten und Asyntaktischen, konfrontieren. Wenn Deleuze diesen Vorgang am Beispiel der Nonsenswörter Lewis Carrolls, der gestotterten Gedichte Gherasim Lucas oder der zerstückelten Satzbausteine aus den literarischen Texten Antonin Artauds erläutert, dann lässt sich der Prozess der sprachlichen Minorisierung – durch den die Signifikanz der Wörter mitunter einer rein affektiven Klanglichkeit weicht – im Sinne der Sprachexperimente eines radikalen Modernismus verstehen.24 So beruft sich Deleuze etwa auf Beckett, der es darauf angelegt habe, »›Löcher‹ in die Sprache zu ›bohren‹, um das zu sehen oder zu hören, ›was dahinter hockt‹« (KK 9).25 Oftmals, so Deleuze, ist die Schriftstellerin oder der Schriftsteller in einen regelrechten Kampf mit der Sprache verwickelt, der sich nicht bloß als Ringen um die angemessene literarische Form, sondern vor allem als Kampf gegen die Klischees und majoritären Ordnungsmuster verstehen lässt, die die Sprache transportiert. Zusammenfassend lassen sich an dieser Stelle mindestens drei Aspekte aufzeigen, die sich in den literarästhetischen Überlegungen von Deleuze überlagern: 1) Ein vitalistischer Aspekt, da es der Literatur (jedenfalls dann, wenn sie Deleuzes Kriterien einer produktiven Minorisierung der Sprache entspricht) um die Erforschung neuer Existenz- und Lebensmöglichkeiten geht, die sich in der Regel außerhalb oder unterhalb der gängigen Repräsentationen finden. 2) Ein modernistischer Aspekt, insofern sich Deleuze vorwiegend mit Autoren beschäftigt, die – wie Beckett, Artaud, Céline, Faulkner oder Woolf – nicht zu Unrecht dem literarischen Modernismus zugerechnet werden, da ihre Texte wesentlich von sprachlichen Neuschöpfungen, syntaktischen Innovationen oder (wie es bei Deleuze heißt) der Deterritorialisierung der Sprache geprägt sind. Und 3) ein politischer Aspekt, da die literarische Minorisierung der Standardsprache von Deleuze als Intervention in die sprachliche Ordnung verstanden 24 Zur Lyrik von Gherasim Luca, vgl. KK 149: »Die Rede bei Gherasim Luca ist deshalb so außerordentlich dichterisch, weil sie aus dem Stottern einen Affekt der Sprache und nicht eine Affektion des Sprechens macht«. In seinen Überlegungen zum Werk Lucas bezieht sich Deleuze vor allem auf das Gedicht »Passionément«, in dem das Stottern eine kontinuierliche Variation des Klangmaterials der Sprache bewirkt, wodurch die verschiedensten semantischen Aktualisierungen durchlaufen werden. Vgl. Luca 2004, 528: »passionné nez passionném je/ je t’ai je t’aime je/ je je jet je t’ai jetez/ je t’aime passionném t’aime/ je t’aime je je jeu passion j’aime/ passionné éé ém émer«. 25 Zur Rolle, die Beckett in Deleuzes Literaturkanon spielt, vgl. Lecercle 2010, 119-157. Lecercle diskutiert hier außerdem Deleuzes generelle Präferenz für modernistische Autoren, die er primär in dessen Repräsentationskritik begründet sieht. Vergleichsweise oberflächlich wird Deleuzes »Modernismus« von Jameson behandelt, der jedoch richtigerweise der gängigen Qualifizierung von Deleuzes Philosophie als »postmodern« widerspricht: »The theory in fact remains a modernist one for, as I have observed, Deleuze remained essentially a modernist, and everything prophetically ›postmodern‹ about the second volume of the film books is then withdrawn by their aestheticist framework and that very open philosophical commitment to art and to the New« (Jameson 2002, 203).
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wird, die als Infrastruktur der jeweils dominanten Mächte fungiert.26 In diesem Kontext weist Deleuze zudem darauf hin, dass sich der minoritäre Autor stets an ein Volk wendet, das indes »fehlt« – wie er im Anschluss an Paul Klee konstatiert (SG 308) – oder zumindest nicht im Sinne einer repräsentierbaren Einheit existiert. Der Begriff der minoritären Literatur unterscheidet sich bei Deleuze daher auch von denjenigen Konzeptionen, die ihn im repräsentations- oder identitätspolitischen Sinne als »Minderheitenliteratur« qualifizieren, was im Folgenden genauer diskutiert werden soll.
3.4 M INORITÄRE L ITERATUR Konzepte wie »Minority Discourse« oder »Minor Literature«, »Minderheitenliteratur« oder »minoritäre Literatur«, sind in den letzten Jahrzehnten insbesondere im Kontext des Postkolonialismus und der Race-and-Gender Studies diskutiert worden.27 Deleuze hat sich dem Thema erstmals in seiner gemeinsam mit Guattari geschriebenen Kafka-Studie gewidmet, in der Überlegungen zum minoritären Schreiben einen zentralen Platz einnehmen, weshalb das Buch auch als wichtiger Referenzpunkt im theoretischen Diskurs über die postkoloniale Literatur gilt. Wie jedoch Simone Bignall und Paul Patton verdeutlicht haben, stellt sich die Beziehung zwischen Deleuze und der postkolonialen Theorie als keinesfalls unproblematisch dar, da trotz bestehender Gemeinsamkeiten und möglicher Anknüpfungspunkte auch eine Reihe von Differenzen (und Missverständnissen) bestehen (vgl. Bignall/Patton 2010, 1-8).28 So 26 Freilich überschneiden sich die drei Aspekte vielfach, so dass es nicht immer möglich ist, sie streng voneinander zu trennen. Ronald Bogue hat diesbezüglich argumentiert, dass die Engführung von modernistischen und politischen Elementen in Deleuzes Literaturstudien durchaus programmatisch zu verstehen sei. Wenn Deleuze nämlich der gängigen Auffassung widerspricht, dass der Modernismus eine apolitische Bewegung mit lediglich formalästhetischen Zielen sei, dann problematisiert er zugleich den klassischen Begriff des Politischen, indem er dezidiert auf die Verzahnung von Sprache und Macht verweist: »[I]n linking minority and modernist practices, Deleuze and Guattari insist that such writers as Artaud and Beckett are political writers, that cris-souffles and fragmenting iterations are forms of social invention and interactions with power« (Bogue 2003, 113). 27 Vgl. Renza 1984, Lloyd 1987 sowie JanMohamed/Lloyd (Hg.) 1990. Speziell zu Deleuzes und Guattaris Konzeption einer minoritären Literatur, vgl. Bogue 2003, 91-149, Bendmaia 1994 sowie D’haen 1996 und 1999. Zum Postkolonialismus, vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin (Hg.) 1995, Said 1978, Spivak 1988 und Bhabha 1993. Zum Verhältnis von postkolonialer Theorie und der Philosophie von Deleuze, vgl. Bignall/Patton (Hg.) 2010. 28 Siehe hierzu etwa die einflussreiche Kritik Gayatri Spivaks, die Deleuze und Foucault eine Universalisierung des westlichen Subjektbegriff unterstellt hat (vgl. Spivak 1988 sowie Robinson/Tormey 2010, wo Spivaks Vorwurf überzeugend widerlegt wird). Eine anders geartete Kritik richtet sich gegen Deleuzes und Guattaris Gebrauch von Begriffen wie dem des »Nomadismus«, der innerhalb der Postcolonial Studies mehrfach als primitivistisches oder rein abstraktes Konzept ohne Beziehung zu den Lebensumständen real-existierender Nomaden kritisiert wurde (vgl. Miller 1993 und Wuthnow 2002). Andere Autoren aus dem Kontext des Postkolonialismus haben dagegen auf fruchtbare Weise mit deleuzianischen Begriffen gearbeitet oder bestimmte Aspekte von Deleuzes Philosophie in ihre Ansätze integriert (siehe Appadurai 1996, Marks 2000, Bignall 2010 und Patton 2010). Vgl. in die-
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verfährt Deleuze z.B. wesentlich anders als viele Autoren aus dem Kontext der Postcolonial Studies, wenn er Begriffe wie »Minorität« oder »minoritär« nicht im identitätspolitischen Sinne konzipiert, sondern sich vielmehr darum bemüht, jeden Minderheitenessentialismus auszuschließen.29 Denn auch wenn Deleuze politisch oftmals für real-existierende Minderheiten Partei ergriffen hat – so etwa für den Widerstand der Palästinenser (vgl. SG 185-190 und 226-230) –, kann es ihm aufgrund der repräsentationskritischen und prozessualistischen Ausrichtung seiner Philosophie nicht in erster Linie um die Frage der Identität und Anerkennung von ethnischen oder kulturellen Minoritäten gehen. Obwohl der »Kampf um Anerkennung« (vgl. Honneth 1992) einer marginalisierten Kultur, Sprache oder Ethnie in politischer Hinsicht durchaus plausibel sein mag (vgl. U 249), ergeben sich diesbezüglich aus der Perspektive von Deleuzes Philosophie auch eine Reihe von Problemen. Setzt man jene kulturellen »Identitäten« nämlich als gegeben voraus oder konzipiert sie als weithin homogene Einheiten, dann verstellt dies nicht nur den Blick auf deren innere Heterogenität und Differenzierung (z.B. in klassenspezifischer Hinsicht), sondern auch auf die tatsächlichen Subjektivierungs- und Werdensprozesse, im Zuge derer es zu einer ständigen Verschiebung kultureller und sprachlicher »Zentren« kommt.30 In dem kurzen Text »Philosophie und Minorität« (PM) definiert Deleuze Minderheiten daher auch weder quantitativ (da sie der Mehrheit nicht unbedingt in numerischer Hinsicht unterlegen sein müssen) noch als homogene Gruppe, sondern mit Blick auf den jeweiligen Grad ihrer Abweichung vom majoritären Standardmaß, d.h. der idealen »Konstante«, die sich abhängig vom jeweiligen Kontext unterschiedlich darstellt.31 Minoritäten lassen sich somit entweder als »Subsysteme« des Mehrheitssystems oder als »außerhalb des Systems stehend« definieren (PM 205), was ihr Versem Zusammenhang auch die Arbeiten des karibischen Dichters und Theoretikers Édouard Glissant, der sich in vielen seiner Texte explizit auf Deleuze und Guattari beruft (Glissant 1981, 1990 und 2005). 29 In diesem Zusammenhang sollte zudem betont werden, dass der französische Begriff mineur eine Reihe unterschiedlicher Bedeutungen aufweist (»klein«, »untergeordnet«, »minderjährig«, »Moll« etc.) und daher – gerade im Hinblick darauf, wie Deleuze ihn verwendet – nicht einfach dem deutschen Wort »minderheitlich« entspricht. So werden in den Tausend Plateaus etwa auch Beziehungen zwischen dem Begriff der Minorität und dem Moll-Modus in der Musik hergestellt (vgl. TP 133). 30 Zur politischen Frage der Anerkennung von Minoritäten, vgl. besonders Taylor 1992. Kritische Einwände gegen die mit Taylors Konzept einhergehende Identitätspolitik wurden in letzter Zeit vermehrt auch aus einer dezidiert kapitalismuskritischen Perspektive formuliert. In diesem Kontext ist z.B. argumentiert worden, dass es im Zuge des »Cultural Turn« und der zunehmenden Fokussierung auf identitätspolitische Fragestellungen zu einer wesentlichen Vernachlässigung des Problems der sozialen Gerechtigkeit gekommen ist, was letztlich der Dominanz und Ausbreitung des Neoliberalismus in die Hände gespielt hat (vgl. Michaels 2006, Fraser/Honneth 2003 und Fraser 2008). 31 Vgl. PM 205: »Nehmen wir an, die Konstante oder das Maß lautete: Mensch – weiße Hautfarbe – männlich – erwachsen – vernünftig – heterosexuell – Stadtbewohner – eine Standardsprache sprechend [...]. Es liegt auf der Hand, daß ›der Mann‹ die Majorität hat, selbst wenn er weniger zahlreich ist als die Mücken, die Kinder, die Frauen, die Schwarzen, die Bauern, die Homosexuellen...usw.«.
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hältnis der Mehrheit gegenüber aber noch nicht hinreichend erklärt. Denn betrachtet man jenes Verhältnis genauer, dann kommt es laut Deleuze zu einer paradoxen Umkehrung, gemäß der die Mehrheit gewissermaßen den »Sonderfall« verkörpert, während sich die Minderheit als »universelle Figur« manifestiert. Zwar verhält es sich so, dass die Mehrheit in jedem Gefüge stets als majoritärer Tatbestand existiert; faktisch aber ist sie niemals konkret, sondern jeweils nur als abstraktes Idealmaß gegeben, da kein einziges Individuum jemals alle Termen der Konstante aufweist und (in irgendeiner Hinsicht) immer auch vom Standardmaß abweicht.32 Die Universalität der Minderheit ergibt sich folglich daraus, dass diese nicht lediglich eine genau definierte, vom Standardmaß abweichende Gruppe verkörpert, da sie außerdem auf das potentielle »Minoritär-Werden von allen« (TP 654) verweist. Den Begriffen Majorität und Minorität stellt Deleuze daher noch einen dritten Begriff gegenüber, nämlich das »Minoritäre«, das sich auf die Minderheit nicht im Sinne einer »zählbaren Menge« bezieht, sondern den Prozess einer produktiven Minorisierung bezeichnet, der über die »Bildung von nicht-zählbaren Mengen« verläuft (654).33 Im Sinne dieser spezifischen Konzeption des Minoritären lässt sich auch der Begriff der »minoritären Literatur« begreifen, den Deleuze und Guattari erstmals in ihrer Kafka-Studie verwenden. Dementsprechend meint minoritäre Literatur nicht »die Literatur einer kleinen Sprache«, sondern die literarischen Aneignungsprozesse, mittels derer sich eine jeweilige Minderheit »einer großen Sprache bedient« (K 24). Was Deleuze und Guattari in Anlehnung an Kafkas Bestimmung »kleiner« Literaturen (vgl. Kafka 1973, 132) als littérature mineure bezeichnen, entspricht folglich nicht zwangsläufig derjenigen Textgattung, die sich mit Blick auf die von Abdul JanMohamed und David Lloyd herausgegebene Anthologie The Nature and Context of Minority Discourse als »Minderheitenliteratur« bezeichnen lässt. Denn Deleuze und Guattari zufolge qualifiziert sich ein Autor nicht primär durch seine Zugehörigkeit zu einer spezifischen marginalisierten Gruppe als »minoritär«, sondern durch die Erfüllung einer Reihe von praktischen Kriterien, die im Kafka-Buch folgendermaßen charakterisiert werden: 1) Die »Deterritorialisierung der Sprache«. 2) Die »Koppelung des Individuellen ans unmittelbar Politische«. Und 3) die Idee der Literatur als »kol32 Vgl. PM 205: »Es gibt ein majoritäres ›Faktum‹, aber das ist das analytische Faktum von Niemand, das im Gegensatz steht zum Minoritär-Werden eines jeden«. Siehe auch U 249: »Man kann sagen: Die Majorität, das ist niemand. Jeder ist in dieser oder jener Hinsicht von einem Minoritärwerden erfaßt, das ihn auf unbekannte Wege mitreißen würde, wenn er sich entschließen könnte, ihm zu folgen«. 33 Vgl. hierzu PM 205: »Deshalb müssen wir das Majoritäre als homogen-konstantes System, die Minoritäten als Subsysteme und das Minoritäre als potentielles und geschaffenes, als schöpferisches Werden unterscheiden«. Wie anschließend erläutert wird, lässt sich folglich jedes Werden als »Minoritär-Werden« verstehen, was Begriffe wie »Tier-Werden«, »FrauWerden« usw. erklärt: »Es gibt kein majoritäres Werden, Majorität ist nie ein Werden. Es gibt nur minoritäres Werden. Die Frauen, unabhängig von ihrer Anzahl, sind eine als Zustand oder Untermenge definierbare Minorität; aber schöpferisch sind sie nur, indem sie ein Werden ermöglichen, über das sie nicht als Eigentum verfügen, in das sie selbst eintreten müssen, ein Frau-Werden, das den Menschen als ganzen betrifft, einschließlich der NichtFrauen« (206). Zur Rezeption der Figur des »Frau-Werdens« im Kontext des Feminismus, siehe Buchanan/Colebrook (Hg.) 2001.
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lektive Aussageverkettung«. Aus diesen drei Bestimmungen resultiert, dass die Adjektive minoritär oder klein bei Deleuze und Guattari nicht vorrangig dazu dienen, »bestimmte Sonderliteraturen« zu qualifizieren. Stattdessen kennzeichnen sie »die revolutionären Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb einer sogenannten ›großen‹ (oder etablierten) Literatur befindet« (K 27). Unter minoritärer Literatur verstehen Deleuze und Guattari somit nicht die Literatur einer bestimmten marginalisierten Gruppe, sondern eine literarische Praxis, die einen spezifischen Gebrauch der dominanten Sprache impliziert. Kurz gesagt: »Recourse to a minor language puts the major language into flight. Minoritarian authors are those who are foreigners in their own tongue« (Conley 2005, 164). Nun ist es kein Zufall, dass diejenigen Autoren, von denen Deleuze und Guattari behaupten können, dass sie in der »eigenen Sprache wie ein Fremder leben« (K 38), oftmals an den Rändern einer Sprache oder innerhalb von sprachlichen Transitbereichen agieren. Dies trifft insbesondere auf Kafka zu, der als Jude im Prag des frühen 20. Jahrhunderts sowohl mit dem Tschechischen als auch mit dem Deutschen (»Pragerdeutsch«), dem Hebräischen und Jiddischen konfrontiert war. Ebenso gilt es für den überwiegend französisch schreibenden Iren Beckett und für dessen Landsmann Joyce, dem Deleuze und Guattari nicht nur eine Minorisierung des Englischen, sondern einen Gebrauch »überhaupt aller Sprachen« (28) attestieren. Ein weiterer Autor, auf den Deleuze und Guattari gelegentlich rekurrieren, ist Jack Kerouac, der aufgrund seiner frankokanadischen Herkunft in seiner Kindheit fast nur Französisch gesprochen, seine Bücher aber allesamt auf Englisch verfasst hat. Worauf die Zusammenstellung dieser Autoren hinweist, ist der Umstand, dass literarische Innovationen zwar oftmals innerhalb einer »großen« Sprache, aber zugleich durch produktive Minorisierung und Kontakt mit den inneren Randzonen der Sprache entstehen. Indem Deleuze und Guattari diese Kontaktstellen kenntlich machen und somit die kulturelle Dynamik sprachlicher Werdens- und Minorisierungsprozesse hervorheben, leisten sie nicht zuletzt auch kulturwissenschaftliche Arbeit, die für die neuere Amerikanistik durchaus relevant sein sollte. Doch obwohl Deleuze und Guattari sogar verschiedene Analogien zum amerikanischen Kontext hervorheben – wenn sie etwa das »Pragerdeutsch« dem »Black English« gegenüberstellen (vgl. K 25) –, ist das Interesse an den Thesen ihres Kafka-Buchs in den American Studies bislang relativ gering gewesen.34 Dies kann jedoch nicht wirklich verwundern, wenn man bedenkt, wie der Kontakt zwischen Majorität und Minorität, dominanter Kultur und Subkultur, »großer« und »kleiner« Sprache in der neueren Amerikanistik zumeist konzipiert wird. Ein gutes Beispiel hierfür stellen die Arbeiten von Eric Lott dar (vgl. Lott 1993 und 1995), auf die im Folgenden rekurriert wird, um einige der Differenzen zwischen dem Ansatz von Deleuze und dem der New Americanists noch klarer herauszustellen. 34 Theo D’haen gehört zu den wenigen amerikanistischen Autoren, die auf den Begriff der minoritären Literatur Bezug genommen haben. So diskutiert er das Konzept etwa am Beispiel der Literatur Faulkners, von der er einen dezidiert »transnationalen« Gebrauch macht. Siehe D’haen 1996, 190: »Instead of seeing Absalom, Absalom! as solely tributary to a ›native‹ American literary tradition, and an American national history, one can now even see it as in addition not only relating to the Caribbean and its literature, but likewise to the wider tradition of colonial literature [...]. And one can see Faulkner ›becoming-minor‹ in inverting, true to postcolonial usage, colonial literature’s categories«.
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Bekannt geworden ist Lott vor allem durch sein Buch Love and Theft: Blackface Minstrelsy and the American Working Class (Lott 1995), in dem er sich der Tradition der »Minstrel Show« und ihrer andauernden Bedeutung für die amerikanische Kultur widmet. Bei der »Minstrel Show« handelt es sich um eine besonders im 19. Jahrhundert populäre Form der Unterhaltungskultur, in der weiße Amerikaner bestimmte Aspekte der afro-amerikanischen Kultur aufgreifen und – »blacked up« (5), d.h. mit schwarz bemalten Gesichtern – auf karikierende Weise zur Aufführung bringen. Der Rassismus der »Minstrel Show« und ihr ideologischer Kontext sind in der Amerikanistik bereits lange vor Lotts Buch thematisiert worden (vgl. Toll 1974 und Saxton 1975). Lott geht es jedoch nicht lediglich um das 19. Jahrhundert, d.h. den historischen Kontext der »Minstrel Show«, da er diese als kulturelle Form begreift, die auch in der Gegenwart noch für die Identitätsbildung von weißen amerikanischen Männern von Bedeutung ist. Mit Blick auf die amerikanische Kultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heißt es hierzu: »Not a postdating or mere continuation of antebellum racial cross-dressing but its genealogical legacy, this postwar discourse – the Beat writers, Elvis Presley’s early career, John Howard Griffin’s Black Like Me, and others – did (despite its racial ›modernity‹) reproduce the obsessions of certain nineteenth-century Northern ideologues. To the extent that these obsessions weren’t wholly continuous with the dominant culture in the ensuing years of protest, they returned as farce in the late 1960s […]. The almost ›classical‹ resurgence of this trope and of white Negroism generally in the late 1980s and early 1990s – the movie Soul Man (1986), black-folk-filled music videos by Sting, Madonna, Steve Winwood, and many others; Lee Atwater’s blues Republicanism (R.I.P.); Vanilla Ice; True Identity (1991); Michelle Shocked’s Arkansas Traveler (1992) – is as troubling in its ubiquity as it is bewildering in its ideological variousness, but I think these texts too confirm some of the remarks with which I began.« (Lott 1993, 483)
Mit der These, dass die (ideologisch vermittelte) Identifizierung mit dem dunkelhäutigen »Anderen« ein in der amerikanischen Geschichte durchgängiges Motiv darstellt, das für die Konstitution der Identität des weißen Amerikaners von wesentlicher Bedeutung ist, greift Lott einen Gedanken auf, der bereits in den Arbeiten Leslie Fiedlers – auf dessen Love and Death in the American Novel (Fiedler 2003) der Titel seines Buches anspielt – geäußert wird. Zudem bezieht sich Lott auf psychoanalytische Autoren wie Lacan, Žižek, Fanon und Kristeva, um seine Konzeption des Prozesses der (weißen) Identifikation mit dem (schwarzen) »Anderen« zu präzisieren.35 35 Trotz der vergleichsweise komplexen Konzeptionen seiner Referenzautoren, schreckt Lott gelegentlich auch vor nahezu vulgärpsychoanalytischen Interpretationen nicht zurück. Die Aussage eines bekannten Blackface-Darstellers – »I found myself dreaming of minstrels; I would awake with an imaginary tambourine in my hand, and rub my face with my hands to see if I was blacked up« (Lott 1995, 54) – analysiert er z.B. folgendermaßen: »We might speculate a little as to the referent of the imaginary tambourine; the fantasy of racial conversion enacted in blackface seems to gesture at least toward sexual envy of black men (tambourine as penis), if not desire for them (tambourine as anus)« (54). Hiermit nicht genug, bietet er an anderer Stelle noch eine weitere Interpretation an: »tambourine as hymen« (Lott 1993, 481).
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Demnach identifiziert sich der weiße männliche Amerikaner mit einem imaginären Bild seines schwarzen Gegenübers, das genau diejenigen Aspekte beinhaltet, die der dominanten Männlichkeitskonzeption im »rationalistischen« weißen Amerika entgegenstehen und eine (wenn auch temporäre) Transgression der selbstauferlegten Beschränkungen des eigenen Genießens versprechen. »In rationalized Western societies«, schreibt Lott, »becoming ›white‹ and male seems to depend upon the remanding of enjoyment, the body, an aptitude for pleasure. It is the other who is always putatively ›excessive‹ in this respect, whether through exotic food, strange and noisy music, outlandish bodily exhibitions, or unremitting sexual appetite« (Lott 1993, 482). Der Kontakt mit dem Anderen wird somit wesentlich durch eine imaginäre Projektion vermittelt, die mehr über den ideologischen Kontext von »Whiteness« aussagt als über jenen Anderen selbst. Blackface Minstrelsy – ob in der klassischen oder modernen Form, in der auf ein buchstäbliches »Blacking up« normalerweise verzichtet wird – eröffnet dem weißen männlichen Amerikaner folglich die Möglichkeit, sein eigenes Begehren des Anderen unter einer »schwarzen Maske« auszuleben, es (mittels Externalisierung) dabei zugleich jedoch zu leugnen, indem es in letzter Instanz wieder dem Anderen zugeschrieben wird. Hierzu nochmals Lott: »Whites in fact organize their own enjoyment through the other, Slavoj Žižek has written, and access pleasure precisely by fantasizing about the other’s ›special‹ pleasure. Hatred of the other arises from the necessary hatred of one’s own excess; ascribing this excess to the ›degraded‹ other and indulging it – by imagining, incorporating, or impersonating the other – one conveniently and surreptitiously takes and disavows pleasure at one and the same time.« (482)36
Die teilweise Identifikation mit dem imaginären Bild des Anderen, bewahrt diesen somit nicht davor, zum Objekt eines rassistischen Hasses zu werden, sobald der eigene Exzess erneut geleugnet, d.h. auf den Anderen projiziert werden muss, um so den ursprünglichen Abstand wiederherzustellen.37 Auch wenn die Praxis der »Minstrel Show« auf die Instabilität der »color line« verweist – und diese für eine Reihe von Transgressionen öffnet und durchgängig macht – hat sie Lott zufolge daher letztlich den Effekt, die dominante Ordnung der Rassenbeziehungen sowie die Stereotypen und Klischees zu reproduzieren, die den Afro-Amerikanern im Kontext einer auf Sklaverei, Segregation und alltäglichem Rassismus beruhenden amerikanischen Gesellschaft sowieso anhaften (vgl. Lott 1993, 481). Was Lotts Analyse in diesem Sinne verdeutlicht, ist die Tatsache, dass es zu einer wirklichen Begegnung zwischen »weißem« und »schwarzem« Amerika faktisch nicht kommen kann. Nicht nur, dass das 36 Außer auf Žižek verweist Lott in diesem Kontext auch auf Julia Kristevas Konzeption des »Abjekts«, das vor allem in deren Studie Powers of Horror diskutiert wird. Vgl. Kristeva 1982, 7: »The ›unconscious‹ contents remain here excluded but in strange fashion: not radically enough to allow for a secure differentiation between subject and object, and yet clearly enough for a defensive position to be established – one that implies a refusal but also a sublimating elaboration«. 37 In diesem Sinne deutet Lott auch die rassistischen Unruhen 1863 in New York: »As the Civil War entered its third year, New York was beset by racial rioting on a scale hitherto unequaled in American history. […] This violence, too, was part of the cultural milieu that nurtured blackface performance« (Lott 1995, 237).
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männlich-weiße Subjekt den Afro-Amerikaner immer nur gemäß seiner eigenen Projektion identifiziert, d.h. notwendigerweise verkennt; auch hat dieses »Verkennen« keinerlei produktive Konsequenzen, da es die dominante Ordnung der race relations (das »majoritäre Standardmaß«) jeweils intakt lässt und reproduziert. Lotts Verallgemeinerung der »Minstrel Show«, die in seinen Texten zur quasi archetypischen Urszene wird und sich am Beispiel so unterschiedlicher Figuren wie Walt Whitman, Mark Twain, Carl Van Vechten, Elvis Presley, Norman Mailer, Jack Kerouac oder Vanilla Ice stets aufs Neue aktualisiert, lässt somit kaum Raum für die Konzeption einer anderen Form des Kontakts zwischen Schwarzen und Weißen. Das Problem an seinem Modell – bezieht man es nun auf die Konzeption des Minoritären bei Deleuze und Guattari – besteht freilich nicht darin, dass es jene Formen von Projektion, Objektivierung und Verkennung gar nicht geben würde. Das Problem liegt eher in der Konstruktion einer verallgemeinerten Double-Bind-Situation (vgl. Bateson 1999, 270-437), die stets auf das Gleiche hinausläuft und jede Form einer immanenten Minorisierung des dominanten Modells auszuschließen scheint.38 Denn obwohl Lott immer wieder die Konstruiertheit der race identity betont und sich gegen jede Annahme eines identitätsspezifischen Essentialismus wendet, sind die Rollen in seinem Modell von Beginn an verteilt und bleiben streng voneinander unterschieden. Genauer: Auf der einen Seite befindet sich der weiße männliche Amerikaner, d.h. das Subjekt eines ideologisch vermittelten Begehrens nach Transgression und Selbsterweiterung (»Love«); und auf der anderen Seite steht der afro-amerikanische »Andere« als Objekt, Projektionsfläche und Opfer jenes Begehrens, durch das seine Identität im Sinne einer kulturellen Besitzergreifung (cultural appropriation) permanent vereinnahmt wird (»Theft«).39 Im Zentrum von Lotts Modell steht somit eine wesentlich theatrale Konzeption von Subjektivität, wie sich in loser Anlehnung an Michael Frieds kunsttheoretische 38 In einem Interview mit der Zeitschrift Minnesota Review hat Lott immerhin angedeutet, dass eine Transformation des Modells der »Minstrel Show« evtl. erreicht werden könne, sofern sich der weiße Amerikaner seine affektiven »investments« in die afro-amerikanische Kultur bewusst mache. Vgl. Lott 2005, 186: »I became interested in the whole history of white interest in black cultural forms, so the book came from a self-reflexive attempt to think that history through. I’m not saying that having written Love and Theft gives me the authority to talk about black cultural forms, but at least I know more about my own investments in them«. 39 Zu den grundsätzlichen Problemen des Konzepts der cultural appropriation, vgl. Fishkin 1993, 108: »A model that simply assumes that powerful, dominant cultures always appropriate powerless, minority cultures is too reductive. Individual artists may be alienated from the dominant culture even if economically and socially they would seem to be a part of it; by the same token, minority artists may identify with the mainstream culture more strongly than they identify with the culture of their own community. The nature of creating art, by definition, involves simultaneously appreciating and appropriating multiple aspects of the cultures that surround one. As David Bradley has noted, the notion that one particular group ›owns‹ a particular cultural form is an assumption necessary for the concept of ›appropriation‹ to make sense; ideas of ownership along these lines (which Bradley suggests may be rooted in Eurocentric concepts of private property) are at odds with alternative models that may prove more compelling«.
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Unterscheidung der Begriffe »Theatralität« und »Absorption« (auf die im Laufe der vorliegenden Studie noch öfter rekurriert wird) formulieren lässt.40 In diesem Kontext ist es aufschlussreich, dass Lott sein Modell am Beispiel der »Minstrel Show« verdeutlicht, d.h. einer kulturellen Praxis, die sich vor einem Publikum und auf einer Bühne ereignet. Der Blackface-Darsteller, der seine »eingeschwärzte« Identität zur Aufführung bringt, ist sich folglich seiner Außenwirkung bewusst und richtet seine eingeübten Gesten an einen (imaginären oder realen) Zuschauer, von dem er sich eine jeweils spezifische Reaktion verspricht. Analog dazu definiert Fried das Theatrale mit Diderot als »Bewusstsein, wahrgenommen zu werden« (»consciousness of being beheld«). Infolge dieses Bewusstseins kommt es laut Fried dazu, dass der jeweilige Darsteller sein Handeln perspektivisch auf den Betrachter hin ausrichtet – »in the attempt to impress the beholder and solicit his applause« (Fried 1980, 100). Zwar mag dem Darsteller – oder anders gesagt: dem »white negro«, wie Lott im Anschluss an Mailers einflussreiches Essay formuliert (vgl. Mailer 1992) – der ideologische Kontext seiner Praktiken nicht bewusst sein; gleichwohl ist er sich aber seiner »Identität« bewusst, d.h. er weiß, dass er jene Praktiken ausübt und dass er dabei von Anderen beobachtet wird. Diese Konzeption eines theatralen Subjekts, das sich seiner Identität bewusst ist (wenn auch nicht deren ideologischen Bedingungen), unterscheidet Lotts Ansatz wesentlich von Deleuzes eingangs erläuterter Konzeption des Minoritär-Werdens, das – wie noch genauer verdeutlicht wird – nicht mit Frieds Konzeption von Theatralität korrespondiert, sondern eher auf den Modus der Absorption verweist. Insofern es bei Lott nämlich in letzter Instanz um »Whiteness« geht und jeder Kontakt mit dem afro-amerikanischen »Anderen« stets nur als konstitutiver Bestandteil eines dominanten Modells von männlich-weißer Identität gedacht wird, ist ein MinoritärWerden des Majoritären in seinem Ansatz grundsätzlich nicht vorgesehen. Wenn der Kontakt mit dem Anderen ausnahmslos dem Modell der »Minstrel Show« gemäß prozessiert wird, hat die Überschreitung der »color line« folglich immer den gleichen Effekt: der Marginalisierte verbleibt in seiner Rolle als Projektionsfläche und Objekt, während sich der Repräsentant der »majoritären Konstante« in der typischen Konstellation des double bind befindet und seine »weiße« Identität in keiner Hinsicht abzuschütteln vermag. Eher als um ein transformatives Werden geht es Lott somit um 40 Den Begriff der »Theatralität« verwendet Fried bereits in seinen kunstkritischen Schriften aus den 1960er Jahren, so etwa in dem einflussreichen Aufsatz »Art and Objecthood«, in dem er die künstlerische Praxis der Minimalisten als »fundamentally theatrical« kritisiert (Fried 1998, 157). Später findet der Begriff – und dessen Gegenpart »Absorption« – auch in Frieds kunsthistorische Arbeiten über die französische Malerei des 18. Jahrhunderts Eingang (vgl. Fried 1980). Obwohl sich Fried demnach in einem gänzlich anderen Kontext bewegt, lässt sich an die begriffliche Unterscheidung zwischen Absorption und Theatralität auf durchaus fruchtbare Weise anknüpfen, wobei die Begriffe im Folgenden jedoch teilweise anders verwendet werden. Für die hiesige Konzeption ist dabei wesentlich, dass der Modus der Absorption in mancher Hinsicht mit Deleuzes »Logik des Werdens« assoziiert werden kann, während der Modus der Theatralität eher auf eine performativ konzipierte Anerkennungslogik verweist. (Winfried Fluck etwa spricht in diesem Zusammenhang von einer über die ästhetische Erfahrung vermittelten »non-reciprocal recognition«, die mit »imaginary self-extension« und »role changes«, d.h. »an ever new construction and performance of identity« einhergeht; vgl. Fluck 2009, 447.)
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die Frage der Imitation oder Maskierung, wobei sich unterhalb der schwarzen Maske stets dasselbe weiße, theatrale Subjekt verbirgt.41 Obwohl es Lott allenfalls am Rande um die Literatur geht, erwähnt er in Love and Theft interessanterweise auch eine Reihe von Autoren, auf die sich Deleuze ebenfalls beruft, so dass sich die Unterschiede der beiden Konzeptionen an dieser Stelle gut verdeutlichen lassen. Beispielsweise sieht Lott auch Whitman und Kerouac in der Tradition der »Minstrel Show«, was Kenner ihrer Texte nicht allzu sehr verwundern dürfte.42 So kommt es etwa in der Lyrik Whitmans wiederholt zu proklamatorischen Identifikationen mit dem Anderen – »I am the hounded slave« etc. (Whitman 2006, 78) –, die, wie schon D.H. Lawrence erläutert hat, allzu oft den Charakter von vereinnahmenden Repräsentationen annehmen.43 Vielleicht noch deutlicher zeigt sich diese Tendenz bei Jack Kerouac, in dessen On the Road das »männlich-weiße« Begehren nach transgressiver Überschreitung der »color line« auf nahezu idealtypische Weise zum Ausdruck zu kommen scheint: »At lilac evening I walked with every muscle aching among the lights of 27th and Welton in the Denver coloured section, wishing I were a Negro, feeling that the best the white world had offered was not enough ecstasy for me, not enough life, joy, kicks, darkness, music, not enough night […]. A gang of coloured women came by, and one of the young ones detached herself from motherlike elders and came to me fast – ›Hello Joe!‹ – and suddenly saw it wasn’t Joe, and ran back, blushing. I wished I were Joe. I was only myself, Sal Paradise, sad, strolling in this violet dark, this unbearably sweet night, wishing I could exchange worlds with the happy, true-hearted, ecstatic Negroes of America.« (Kerouac 1972, 169-170)
Auch wenn sich diese spezifische Form der Identifikation – die für die Literatur der Beat Generation generell charakteristisch ist – mitunter komplexer darstellt als es das Modell der »Minstrel Show« suggeriert, ließe sich zweifellos mit Lott davon spre41 Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass Lott mehrfach darauf hinweist, der blackface performer fühle sich tatsächlich »to some extent drawn to ›blackness‹ (Lott 1995, 51). Denn unabhängig von der persönlichen Motivation des einzelnen Akteurs, bleibt die kulturelle Logik – und zwar gerade auch in vermeintlich »anti-rassistischen« Kontexten – intakt. Jenseits dieser kulturellen Logik der Maskierung ist die contact zone zwischen »Schwarzen« und »Weißen« mit Lott schlechterdings nicht denkbar. 42 Vgl. Lott 1995, 50: »[A] major strain of American bohemia has its origins in blackface performers and enthusiasts. So much the worse for bohemia, perhaps; but in addition to the minor disasters bohemia has perpetrated, from Walt Whitman to Carl Van Vechten to Jack Kerouac, there is in its activities an implicit tribute to, or at the very least a self-marginalizing mimicry of, black culture’s male representatives«. 43 Vgl. Lawrence 1923, 246-248: »As soon as Walt knew a thing, he assumed a One Identity with it. If he knew that an Esquimo sat in a kyak, immediately there was Walt being little and yellow and greasy, sitting in a kyak. [...] He reaches the state of ALLNESS. And what then? It’s all empty. […] Walt wasn’t an Esquimo […]. And when Walt blandly assumed Allness, including Esquimoness, unto himself, he was just sucking the wind out of a blown egg-shell, no more. Esquimos are not minor little Walts. They are something that I am not, I know that. […] But Walt wouldn’t have it. He was everything and everything was in him«.
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chen, dass das (weiße) Begehren nach Überschreitung der »color line« hier ausgehend von einer Projektion operiert, die ganz wesentlich auf rassischen Stereotypen beruht. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Begegnung mit dem Anderen in den Literaturen von Kerouac oder Whitman sich auf derlei Proklamationen beschränkt (die letztlich noch im Feld der Theatralität angesiedelt sind); oder ob sich unterhalb von Identität und Repräsentation hier nicht auch eine Form des Minoritär-Werdens beobachten lässt, die einer anderen Logik folgt. So schreibt Deleuze etwa über Whitman, dass dieser sich mitunter wie ein Solipsist ausdrücke, »der im Pantheismus einen Grund zur Schwellung seines Ich findet«; in anderer Hinsicht aber ereigne sich etwas in Whitmans Text, das Deleuze als ein »Konvulsivisch-Werden« der Sprache bezeichnet, die nun nicht mehr Instrument einer Repräsentation des Ich sei, sondern einer Fluchtlinie folge (KK 81).44 In diesem Zusammenhang ließe sich beispielsweise auch auf Whitmans Methode der creolization hinweisen, d.h. auf dessen Neigung, einen »polyphonen« Gebrauch der Sprache zu machen, der auf »›mixture‹ rather than ›purity‹« beruht (Arac 1996, 51). Diese Tendenz hatte bereits Matthiessen beobachtet, der Whitmans Gebrauch von »bastard word[s]« und »curious amalgamation[s]« hervorhebt, die den Eindruck vermittelten, Whitman benutze »a language not quite his own« (Matthiessen 1968, 528 und 531). Dem bereits zitierten Motto Prousts entsprechend kommt es somit auch bei Whitman zur Bildung »einer Art Fremdsprache« in der Sprache (Proust 1997, 222), die folglich eine Minorisierung oder ein Minoritär-Werden erfährt.45 Analog hierzu lässt sich zudem auf die Literatur Kerouacs verweisen, dessen romantisierende Vereinnahmung des Anderen sich durchaus als imaginäre Projektion im Sinne der Logik und Ideologie der »Minstrel Show« darstellt, in dessen Texten es auf einer subtileren Ebene aber auch zu Formen des MinoritärWerdens kommt, die einer anderen Ordnung entsprechen. So lässt sich Kerouacs Minorisierung der Sprache etwa anhand der Art und Weise demonstrieren, wie es im Rahmen seines Modells des spontanen Schreibens zu einer quasi musikalischen Dehnung und Verformung der Standardsprache kommt, d.h. wie die Sprache der »Weißen« durch Einbeziehung von Elementen des »schwarzen Jazz« eine produktive Deterritorialisierung erfährt.46 44 Whitmans »konvulsivische« Schreibweise korrespondiert laut Deleuze mit einem »besonderen Satztyp«: »Als ob die Syntax, die den Satz fügt und aus ihm eine selbstbezügliche Totalität macht, verschwinden wollte, indem sie einen unendlichen asyntaktischen Satz freisetzt, der sich auseinanderzieht oder Gedankenstriche als raum-zeitliche Intervalle hervortreibt […]. Es ist dies ein fast verrückter Satz, mit seinen Richtungsänderungen, seinen Abzweigungen, seinen Brüchen und Sprüngen, seinen Dehnungen, Knospungen, Parenthesen« (KK 80). 45 Unter Whitmans bastard words und curious amalgamations finden sich Ausdrücke wie »vistas«, »camerados«, »Mannahatta«, »promulges«, »foofoos«, »kosmos«, »en-masse«, »debouch«, »amies«, »eleves« und »omnibus«. Vgl. hierzu auch Schleusener 2005, 51-57. Zu Whitman als Vertreter einer explizit »kleinen« oder »minoritären« Literatur, siehe außerdem Herzogenrath 2010, 171-207. 46 Zu Kerouacs Theorie des spontanen Schreibens (»Spontaneous Bop Prosody«), vgl. Kerouac 1993, 69-73 (»Essentials of Spontaneous Prose« und »Belief & Technique for Modern Prose«). Siehe außerdem die Bücher von Regina Weinreich (Weinreich 1987), R.J. Ellis (Ellis 1999) und Michael Hrebeniak (Hrebeniak 2006).
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Inwiefern lässt sich nun aber behaupten, dass diese Formen der sprachlichen Minorisierung mit einer Art von Begegnung zwischen »Majorität« und »Minorität« korrespondieren, die sich nicht auf das Modell der »Minstrel Show« reduzieren lässt? Wie bereits erläutert wurde, kennt Lotts Modell jeweils nur eine Richtung: der Kontakt zwischen »schwarz« und »weiß« wird demnach einem festgelegten Modus entsprechend prozessiert, so dass die Rollen von Subjekt und Objekt von vornherein verteilt sind. Bei den sprachlichen Minoritär-Werden hingegen steht sowohl die vorgegebene Richtung als auch die Form der Verteilung in Frage. Eher mit Pratts Modell der contact zone vergleichbar, ergibt sich hier nämlich, trotz der bestehenden »Asymmetrie«, eine Art des Kontakts mit offenem Ausgang, wobei es zu vielfältigen Formen von Aneignung, Durchmischung, Tausch und Vermittlung kommt.47 Etwas passiert folglich zwischen den Sprachen, das sich (wenigstens teilweise) der vollständigen Kontrolle des Autors zu entziehen scheint. Zwar heißt dies nicht per se, dass sprachliche Minorisierungsprozesse nicht auch – etwa im Sinne sprachlich-formaler Innovationen, die an einen »impliziten Leser« (vgl. Iser 1972) gerichtet sind – im Feld der Theatralität operieren können; ebenso gut kann es jedoch passieren, dass sich etwas in die Sprache »einschleicht« und sich gleichsam »hinter dem Rücken« des Autors eine Fluchtlinie auftut, die ihm eine Abzweigung oder einen neuen Weg mit ungewissem Ausgang aufzeigt. Von der theatralen Ebene der literarischen Produktion ließe sich somit eine andere Ebene unterscheiden, auf der die Sprache eher gemäß einer Logik des Werdens als im Sinne einer Logik der Repräsentation oder der Anerkennung operiert. Im Anschluss an Michael Frieds eingangs dargestellte Unterscheidung bietet es sich an, diese Ebene als Ebene der »Absorption« zu bezeichnen. Die Differenz von Absorption und Theatralität wäre demnach auf zweierlei Weisen zu verstehen: Erstens im Sinne von zwei gegensätzlichen Darstellungsmodi, die nun allerdings nicht (wie bei Fried) die Kunst, sondern die Literatur betreffen. Und zweitens im Sinne von zwei unterschiedlichen Existenzweisen oder Subjektivitäten, die – je nach dem – als »theatral« oder »absorbiert« zu bezeichnen wären.48 In diesem letzteren Sinne ist 47 Pratts Modell der contact zone entstammt ursprünglich dem postkolonialen Kontext und verweist auf Formen des Kontakts, die sich innerhalb von asymmetrisch organisierten imperialen Räumen ereignen. Im zweiten Teil der Studie wird das Modell am Beispiel des Westernfilms noch wesentlich genauer diskutiert (vgl. Pratt 2008 sowie Teil II, Kap. 2.1 und 2.6 im vorliegenden Buch). 48 In Frieds kunsthistorischen Arbeiten verhält es sich so, dass Absorption und Theatralität in der Regel als zwei unterschiedliche Modi begriffen werden, in denen der Maler seine Figuren entweder als »theatral« (und einem Publikum zugewandt) oder »absorbiert« (d.h. als selbstvergessen und scheinbar ohne Bewusstsein eines Betrachters) zur Darstellung bringt. Wie Fried zudem anmerkt, hat sich im Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine wesentlich antitheatrale Kunstauffassung durchgesetzt, bei der nun nicht mehr die Motivwahl oder der Stil im Fokus stand, sondern das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter. In diesem Kontext wurde davon ausgegangen, dass der Betrachter vom jeweiligen Werk nur ergriffen und quasi »absorbiert« werden könne, sofern der Maler auf jede Theatralität verzichtete, d.h. Figuren zu Darstellung brächte, die ebenfalls als absorbiert erschienen. Vgl. hierzu Fried 1998, 47-48: »[F]or Diderot and the French antitheatrical tradition generally, the painter’s task was crucially to negate or neutralize what I have called the
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bereits erläutert worden, wie sich in Anlehnung an Fried ein theatrales Subjekt denken lässt: nämlich mit Blick auf eine Form von Subjektivität, bei der der Akteur (z.B. der Blackface-Darsteller) sich der Tatsache bewusst ist, dass er von Anderen wahrgenommen wird, so dass sich sein Verhalten explizit auf den (realen oder imaginären) Betrachter bezieht. Beim absorbierten Akteur dagegen ist dies nicht der Fall, da dieser sich der Tatsache, dass er von Anderen beobachtet wird, nicht bewusst ist. Zudem wird er von der jeweiligen Situation, in der er sich befindet, derart eingenommen, ergriffen und affiziert, dass er sich im Sinne einer vorübergehenden Selbstvergessenheit – einem »oubli de soi« oder »self-forgetting«, wie Fried in Bezug auf die Malerei Chardins bemerkt (Fried 2008, 40) – sogar vorübergehend seiner eigenen Identität nicht bewusst ist. Anders gesagt: Was der absorbierte Akteur fühlt, denkt oder tut, tut er nicht gemäß einer Logik der Anerkennung (die eine theatrale Aufführung der eigenen Identität impliziert), sondern gemäß einer Logik des Werdens (die impliziert, dass sich im Ereignis oder in der Tat selbst eine »geheime Kohärenz« befindet, die sich, wie Deleuze schreibt, »nur unter Ausschluss meiner eigenen Kohärenz«, d.h. »der Identität des Ichs« manifestiert [DW 124]49). Mit Deleuzes Konzeption des Minoritär-Werdens der Sprache lässt sich diese Form deshalb zusammenbringen, weil jene sprachlichen Minorisierungsprozesse in der Regel als ebenso komplexe wie subtile »Ereignisse« konzipiert werden müssen, primordial convention that paintings are made to be beheld. This was to be done, in the first place, by depicting figures so engrossed or (a key term in eighteenth- and nineteenthcentury criticism) absorbed in what they were doing, thinking, and feeling that they appeared oblivious of everything else, including, crucially, the beholder standing before the painting. […] [O]nly by making a painting that appeared to ignore or deny or be blind to the beholder in this way could the painter accomplish his ultimate purpose – bringing actual viewers to a halt in front of the painting and holding them there in a virtual trance of imaginative involvement«. Auch wenn Fried sich mehrfach dagegen gewendet hat, seine kunstkritischen mit seinen kunsthistorischen Arbeiten zu vermengen (vgl. Fried 1998, 51), ist es unschwer zu erkennen, dass seine eigene modernistische Auffassung von Kunst in wesentlichen Punkten der von ihm analysierten antitheatralen Tradition verpflichtet ist. Dass in der vorliegenden Studie explizit an Frieds Unterscheidung zwischen Absorption und Theatralität angeknüpft wird, bedeutet indes nicht, dass zugleich auch seine Kunstauffassung übernommen wird. 49 Um diese Gegenüberstellung an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen, lässt sich etwa auf den berühmten Schluss von W.B. Yeats’ Gedicht »Among School Children« verweisen: »O body swayed to music, O brightening glance,/ How can we know the dancer from the dance?« (Yeats 1994, 184). Während sich Tänzer und Tanz im Sinne einer theatralen Logik der Anerkennung unterscheiden lassen, insofern die im Tanz zur Darstellung gebrachten Gesten und Posen hier auf die »Identität« eines Tänzers verweisen, der sich an ein (tatsächliches oder virtuelles) Publikum richtet, könnte im Kontext einer Logik des Werdens keine derartige Unterscheidung vorgenommen werden. Insofern der Tänzer nämlich vollständig vom Ereignis des Tanzes absorbiert wird, existiert hier nirgendwo ein Tänzer »hinter« dem Tanz (der seine Identität vor einem Publikum zur Aufführung bringt), sondern nur mehr eine ereignishafte Verschmelzung von Handlung und Handelndem. Der Tanz ist zudem ein gutes Beispiel dafür, dass sich die beiden Logiken zwar von Rechts wegen unterscheiden lassen, sich de facto aber vielfach überkreuzen.
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die sich nicht einfach auf den Anerkennungswillen eines theatralen Subjekts reduzieren lassen. Dieser Form entspricht somit auch eine andere Vorstellung von der literarischen Produktion: Man fragt nun nicht mehr, auf wessen Anerkennung der Autor eines Textes abzielt, wenn er diese oder jene sprachliche Operation vollzieht. Man fragt sich auch nicht, wie der Autor mittels der Literatur seine Identität imaginär verlängert oder theatral zur Aufführung bringt. Vielmehr ergibt sich hier das Bild eines (temporär) »selbstvergessenen« Autors ohne Publikum, der ganz von seiner Arbeit mit und an der Sprache eingenommen wird, die ihn auf unbekannte Wege führt und vor Probleme stellt, deren Lösungen nicht von Anfang an gegeben sind. Derart von der literarischen Praxis absorbiert, folgt jener Autor den Fluchtlinien, die er in der Sprache zu erkennen meint, und lässt sich dabei von all den zufälligen Begegnungen, den »Abzweigungen«, »Singularitäten« und »Fragmenten« (KK 79-81) affizieren, auf die er im Rahmen seiner Arbeit stößt. Kurzum: Es ist dies ein Autor, der in der Sprache schwimmt – wie es bei Kerouac heißt50 –, anstatt sie als Instrument einer theatralen Repräsentation zu gebrauchen. Es ist klar, dass der Leser niemals sagen kann, in welchem Zustand (»theatral« oder »absorbiert«) sich der Autor eines Textes befunden hat, als dieser entstanden ist. Folglich geht es auf der Ebene des Textes auch nicht um die Bewusstseinsform des Autors (und auch nicht um die Frage einer wie auch immer begriffenen Authentizität), sondern allein um den Darstellungsmodus, der diese oder jene Form von Subjektivität allenfalls impliziert. Anders gesagt: Der Autor ist dem Text egal und spielt auf der Ebene der Darstellungsmodi von Rechts wegen keine Rolle. In Bezug auf die allgemeinen Produktionsbedingungen der Literatur ließen sich die Formen oder Zustände gleichwohl prinzipiell in Rechnung stellen – wobei es wichtig wäre, nicht lediglich die theatrale Form zu berücksichtigen, wollte man nicht ein reduktionistisches Verständnis der literarischen Praxis (oder gar der kulturellen Produktion insgesamt) befördern, demzufolge jedes Werk immer nur die Artikulation eines theatralen Bewusstseins darstellt. Jenes theatrale Bewusstsein existiert freilich, ebenso wie der Autor, der seine Texte schreibt, weil er nach kultureller Anerkennung strebt; doch lässt sich selbst in diesem Fall niemals ausschließen, dass es hierdurch zu »Ereignissen« kommt, die sich auf jene Form nicht reduzieren lassen und sogleich auf einen anderen Modus verweisen. De facto überkreuzen sich die beiden Formen und Logiken sowieso ständig, so dass sich jedes literarische Werk letztlich als hybride Zusammensetzung aus Absorptions- und Theatralitätselementen (aus Logiken des Werdens und der Repräsentation) begreifen lässt. Während Lott die Begegnung zwischen »schwarz« und »weiß«, Minorität und Majorität, also ausschließlich im Feld der Theatralität verortet (und allein im Sinne des Theatralitätsmodus konzipiert), ist fast zeitgleich mit seiner Studie ein weiteres amerikanistisches Buch erschienen, das sich der Thematik auf der Grundlage wesentlich anderer Prämissen widmet. Gemeint ist Shelley Fisher Fishkins Buch Was Huck Black? (Fishkin 1994), in dem die Begegnung zwischen Majorität und Minorität auf eine Weise konzipiert wird, die in mancher Hinsicht eher auf den Modus der Absorption verweist und sich zudem mit Deleuzes Konzept des Minoritär-Werdens zusam50 Vgl. Kerouac 1993, 69: »Not ›selectivity‹ of expression but following free deviation (association) of mind into limitless blow-on-subject seas of thought, swimming in sea of English with no discipline other than rhythms of rhetorical exhalation and expostulated statement«.
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menbringen lässt.51 Fishkin orientiert sich in ihrer Studie an Toni Morrisons bekannter Aufforderung aus den 1980er Jahren, man solle die amerikanische Literatur mit Blick auf ihren afro-amerikanischen Einfluss untersuchen (vgl. Morrison 1989), der bislang unentdeckt geblieben oder jedenfalls nur unzureichend thematisiert worden sei. Im Zentrum ihres Buches steht dabei Mark Twains Roman The Adventures of Huckleberry Finn (1885), der über lange Zeit die Vorstellung davon geprägt hat, was »distinctively ›American‹ about American literature« sei (Fishkin 1994, 9). Fishkin argumentiert, dass der für Twains Roman charakteristische Idiolekt – und hierbei besonders die Stimme der (weißen) Hauptfigur Huck – wesentlich durch die Einbeziehung von »African-American voices« geprägt sei, was sie auf der Basis einer sorgfältigen Sprachanalyse belegen kann. Zwar bezweifelt sie nicht, dass in diesem Kontext auch andere Einflüsse eine Rolle spielten, so etwa der »Southwestern humor« (5); eine wichtige und zuvor konsequent übergangene Quelle stellten jedoch dezidiert afroamerikanische Sprechweisen dar, die Twains »mündlichen« Stil maßgeblich beeinflusst hätten. Interessant an dieser Analyse ist die Tatsache, dass Fishkin die Frage offen lässt, ob Twain selbst sich dieses afro-amerikanischen Einflusses bewusst war. Während Fishkin nämlich argumentiert, als Vorbild für die Diktion der Figur Hucks hätte ein schwarzer Junge namens Jimmy fungiert, der bereits Gegenstand einer 1874 veröffentlichen Skizze gewesen ist (»Sociable Jimmy«), hat Twain selbst stets auf einen weißen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen verwiesen, an den der Protagonist aus Huckleberry Finn angelehnt gewesen sei (Fishkin 1994, 14). Zwar ist es durchaus möglich, dass Twain – aus welchen Gründen auch immer – das tatsächliche Vorbild seines Protagonisten bewusstermaßen verschwiegen hat. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Hucks Sprechweise letztlich aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Stimmen zusammengesetzt ist, d.h. die afro-amerikanischen Stimmen sich quasi in den Roman »eingeschlichen« haben – ohne dass sich Twain dieses Einflusses im Einzelnen bewusst gewesen sein muss.52 Wie Winfried Fluck in seiner Rezension von Fishkins Buch erläutert, ist hierbei zudem von Bedeutung, dass Twain seine Kindheit in den Südstaaten verbracht hat: »That African-American speech played an important role in shaping Twain’s particular version of the vernacular, gains additional plausibility when one considers that the Southern vernacular which Twain picked up during his childhood was in itself already a language heavily influenced by African-American speech patterns« (Fluck 1994, 614-615). Stellt man Fishkins Ansatz nun Lotts Modell der »Minstrel Show« gegenüber, dann wird deutlich, dass ihrer Analyse des Kontakts zwischen Majorität und Minorität eine wesentlich dynamischere Konzeption von Kultur zugrunde liegt. Während Lott nämlich die Art des Kontakts zwischen »Schwarzen« und »Weißen« stets von der kulturellen Logik einer dominanten Form oder Ideologie abhängig macht (dem 51 Dies heißt freilich nicht, dass sich Fishkins Ansatz insgesamt als »deleuzianisch« darstellt. Was Fishkin nämlich grundsätzlich von Deleuze unterscheidet, ist der wesentlich identitätspolitische Kontext ihrer Argumentation (vgl. hierzu auch Fluck 1994, 616). 52 Vgl. Fishkin 1994, 27: »It would not have been unusual for Twain to have taken some of Jimmy’s topics of conversation, habits of expression, and turns of phrase […] and unknowingly recycled them as Huck’s. For Twain had a habit, as he recognized himself, of unconsciously borrowing ideas and phrases from others«.
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Modell der »Minstrel Show«), ist genau dies bei Fishkin nicht der Fall. Anders gesagt: Der Einfluss »afro-amerikanischer Stimmen«, den sie in Huckleberry Finn zum Ausdruck kommen sieht, verweist auf eine Form der kulturellen Komplexität, die nicht (oder allenfalls teilweise) von der dominanten Ideologie prozessiert wird, sondern sich weitgehend »hinter deren Rücken« manifestiert. Dass Huck – laut Fishkin – mit einer teilweise »schwarzen« Stimme spricht, kann daher auch nicht lediglich als Ausdruck jener »racial philosophy« (Lott 1995, 34) verstanden werden, die Twains Roman, wie Lott argumentiert, mit Stowes Uncle Tom’s Cabin (1852) teilt.53 Lott mag in Bezug auf die inhaltliche Ebene des Textes im Recht sein, wenn er erläutert, dass der (vordergründige) Anti-Rassismus des Romans – siehe etwa Hucks Erklärung, er wolle für die Freiheit des entflohenen Sklaven Jim notfalls »zur Hölle fahren« (Twain 2001, 330) – auf der Basis eines »romantic racialism« artikuliert wird, der auf den rassischen Stereotypen der »Minstrel Show« basiert.54 Was Lott mit Blick auf Huckleberry Finn jedoch nicht in Rechnung stellt, ist die Tatsache, dass sich hier neben den (nur vermeintlich) anti-rassistischen Proklamationen außerdem ein Minoritär-Werden der Sprache ereignet, das eine freilich subtilere, zugleich aber auch konsequentere Infragestellung des Modells der Rassentrennung realisiert.55 Die sprachliche Minorisierung dieses Modells liegt somit auch nicht in »Twain’s fantasy of racial harmony« (Lott 1995, 35) begründet, die, wie Lott gezeigt hat, wesentlich mit den ideologischen und affektiven Implikationen (Theatralität, Maskierung etc.) der »Minstrel Show« korrespondiert. Twains wirkliche Überschreitung der »color line« impliziert vielmehr eine sprachliche Praxis, die sich aus der Absorption durch eine immer schon multilinguale, polyphone Wirklichkeit des Amerikanischen ergibt. In Huckleberry Finn wird demzufolge deutlich, dass die vielfältigen Sprachen, die sich im Inneren der amerikanischen »Hochsprache« befinden, nicht nur »nebeneinander arbeiten« (Barthes 1974, 8), sondern sich auch permanent überkreuzen, anstecken und vermischen, so dass das Bild einer Sprache im »Ungleichgewicht« oder in »kontinuierlicher Variation« (TP 138) entsteht.56 Das Minoritär-Werden der Sprache meint in 53 Vgl. Lott 1995, 33: »The key text of explicitly antislavery romantic racialism is of course Harriet Beecher Stowe’s Uncle Tom’s Cabin (1852). With the character of Uncle Tom we are already on our way to the gentle, childlike, self-sacrificing, essentially aesthetic slave Mark Twain created in Jim and thought he recognized on the minstrel stage; and it is instructive to remind ourselves that Uncle Tom’s Cabin and Huck Finn were among the most powerful antislavery or antiracist novels of the nineteenth century«. 54 Vgl. Lott 1995, 5: »Without the minstrel show there would have been […] no Adventures of Huckleberry Finn«. Zu Twain heißt es bei Fluck in diesem Kontext: »Like almost any other white American of the nineteenth century, including many of the Abolitionists, Twain held deeply ingrained convictions of racial superiority and was, in this sense, racist […]. At the same time, Twain was a deeply engaged (and quite often admirably enraged) democrat who fought against bigotry and racism where he conceived them as such« (Fluck 1994, 616). 55 Siehe etwa Fishkin 1994, 144: »Twain’s imaginative blending of black voices with white ones (whether conscious or unconscious) effectively deconstructs ›race‹ as a meaningful category«. 56 Vgl. auch TP 143: »[J]e mehr eine Sprache die Eigenschaften einer Hochsprache aufweist oder erlangt, desto mehr unterliegt sie kontinuierlichen Variationen, die sie in eine ›Nie-
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diesem Falle also eine Operation, die auf die Instabilität der Hoch- oder Mehrheitssprache verweist, indem sie ihr kaum etwas hinzufügt, sondern lediglich jene inneren Randzonen, Fluchtlinien, Kontaktstellen und Durchgänge kenntlich macht, die ihr von Rechts wegen immer schon eigen sind, die im Kontext eines auf Segregation beruhenden Gesellschaftsmodells aber weithin missachtet werden.
3.5 Ü BERLEGENHEIT
DER AMERIKANISCHEN
L ITERATUR ?
Deleuzes Interesse speziell an der amerikanischen Literatur – an Autoren wie Whitman, Melville, Fitzgerald oder Kerouac – soll nun abschließend genauer bestimmt werden, indem zunächst auf den Kontext dieser transatlantischen Begegnung verwiesen wird. Folgt man Jean-Philippe Mathys Studie Extrême-Occident: French Intellectuals and America (Mathy 1993), dann ist Deleuzes Vorliebe für die amerikanische Literatur keinesfalls selbstverständlich. Zwar unterscheidet Mathy insgesamt sieben verschiedene Narrative, um die Amerikabilder französischer Intellektueller im 20. Jahrhundert zu charakterisieren; zugleich macht er jedoch deutlich, dass antiamerikanische Ressentiments unter französischen Intellektuellen besonders weit verbreitet waren und gegenüber anderen Positionen tendenziell dominierten: »The antiAmerican sentiment prevalent in most French intellectual circles from the twenties to the seventies aimed at two related phenomena: technological production and its social and political consequences, on the one hand, and the rise of mass consumption, on the other« (2). Mathy argumentiert außerdem, dass die Amerikakritik vieler französischer Intellektueller auf einem elitären und teils aristokratischen Kulturbegriff fußte, gemäß dem die amerikanische Kultur als banale Massenkultur zu verstehen ist, in der jeder kreative Ausdruck stets dem Diktat der Ökonomie geopfert wird. Wenn Deleuze demgegenüber von der »Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur« (D 43-82) spricht, dann sollte dies zuallererst als ebenso polemische wie ironische Abgrenzung vom Kanon der französischen Nationalliteratur und von den in Frankreich dominanten »models of intellectual excellence and critical practice« (Mathy 1993, 7) verstanden werden. Im Kontext jenes national-elitären Verständnisses von Kultur (das sich auf Autoren wie Balzac, Zola, Flaubert oder Proust stützt) erscheint Deleuzes Faible für amerikanische Schriftsteller wie Melville oder Whitman gewissermaßen selbst als »revisionistische Intervention«. Während sich die Kritik der New Americanists an den Autoren der »American Renaissance« vor allem auch dadurch erklären lässt, dass Schriftsteller wie Whitman oder Melville den amerikanischen Kanon jahrelang dominiert haben, stellt sich die Situation in Frankreich freilich ganz anders dar. Genauer gesagt: Dieselben Autoren wirken aus der französischen Perspektive gerade nicht wie die »Großschriftsteller«, als die sie die New Americanists empfunden haben, sondern eher wie vergleichsweise marginale Figuren aus den Randzonen der Weltliteratur.
der‹-Sprache verwandeln. Es ist vergeblich, den weltweiten Imperialismus einer Sprache zu kritisieren, indem man auf die Schäden verweist, die sie anderen Sprachen zufügt […]. Denn eine Sprache wie das Englische oder Amerikanische kann nicht weltweit führend sein, ohne von allen Minoritäten der Welt mit ganz unterschiedlichen Variationsverfahren bearbeitet zu werden«.
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Der Aufsatz »Von der Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur«, der 1977 als separates Kapitel des gemeinsam mit Claire Parnet geschriebenen Buches Dialoge publiziert wurde (vgl. D 43-82), ist mit Blick auf Deleuzes Konzeption der amerikanischen Literatur besonders aufschlussreich.57 Wie der Titel vermuten lässt, beschäftigt sich Deleuze in dem Text nicht nur mit amerikanischen, sondern auch mit britischen Schriftstellern, wobei der Fokus auf der Romantik und der Moderne liegt. Dass sich Deleuze der Literatur hier aus einem dezidiert philosophischen Blickwinkel nähert, wird vor allem im zweiten Teil des Textes deutlich, in dem es zu einer ausgiebigen Erörterung der Philosophien von Hume, Spinoza und den Stoikern kommt, deren Denkweisen zu den literarischen Praktiken anglo-amerikanischer Autorinnen und Autoren in Bezug gesetzt werden. Virginia Woolf, Herman Melville, Henry Miller, Lewis Carroll, Thomas Hardy, Jack Kerouac, D.H. Lawrence, Henry James oder F. Scott Fitzgerald dienen Deleuze somit nicht nur als Vertreter einer bestimmten Ästhetik, sondern auch als Partner bei der Produktion und Erprobung philosophischer Konzepte. In diesem Kontext ist es besonders der vermeintlich prozessuale und »geographische« Charakter der anglo-amerikanischen Literatur, dem Deleuze sein Interesse widmet. Während die französische Literatur damit beschäftigt sei, »Punkte« zu setzen und »Positionen« zu beschreiben (D 46), kennzeichnet Deleuze die anglo-amerikanische Literatur als eine Literatur der Relationen, Fluchtlinien und Deterritorialisierungsprozesse, in der stets »in der Mitte« begonnen werde: »Die Franzosen denken zu sehr in Baum-Begriffen: der Baum der Erkenntnis, Alpha und Omega, Wurzeln und Wipfel. Deren Gegenteil ist das Gras. Nicht nur wächst es mitten zwischen den Dingen, es wächst auch mittendurch. Das ist das Problem der Engländer wie der Amerikaner« (48). Dieser Gedanke, der als Anspielung auf Whitmans Leaves of Grass verstanden werden kann, wird in einer anderen Textpassage anhand der klanglichen Gleichartigkeit der französischen Wörter est (»ist«) und et (»und«) präzisiert. So bemerkt Deleuze, dass sich das anglo-amerikanische Denken vom französischen tendenziell durch die Privilegierung der Konjunktion UND unterscheide, wodurch die baumartige Logik des Seins (est) durch eine rhizomatische »Geographie der Relation« (et) ersetzt werde (63). Die anglo-amerikanische Literatur verfährt demnach ähnlich wie der Empirismus Humes, der laut Deleuze nicht von einem ersten Prinzip des Seins geleitet ist, sondern durch die Konzeption der Äußerlichkeit der Relationen gegenüber ihren Gliedern eine radikal offene Konzeption der Welt befördert hat: »Die Äußerlichkeit der Relation einmal als roter Faden angenommen, breitet sich vor unseren Augen, Stück um Stück, eine ungemein fremdartige Welt aus, ein buntfleckiger Harlekinsmantel, Patchwork, gemacht aus erfüllten und leeren Räumen, aus Blöcken und Brüchen, Phänomenen des Anziehens und Abstoßens, kaum merklichen Übergängen und vehementen Um57 Bei dem Text handelt es sich strenggenommen nicht um einen Aufsatz, sondern um eine Art »Interview-Essay«, wie auch Kenneth Surin betont (vgl. Surin 2000, 167). In dem Buch Dialoge sind Deleuze und Parnet generell so verfahren, dass sie ihr Gespräch in einen fortlaufenden Text verwandelt haben, ohne die jeweiligen Frage- und Antwortpassagen genauer zu unterscheiden. Wenn der Text hier dennoch Deleuze zugeordnet wird, so auch deshalb, weil die dort geäußerten Ideen über die Literatur anderswo in Deleuzes Werk ganz ähnlich artikuliert werden.
128 | K ULTURELLE K OMPLEXITÄT schwüngen, aus Verbindungen und Trennungen, Wandlungen und Verflechtungen, Summierungen, die nie zu einem Ganzen sich runden, Abnahmen, deren Rest nie feststeht.« (D 62-63)
Zwar beziehen sich diese Ausführungen in erster Linie auf die Philosophie Humes, sie könnten aber genauso gut auf die anglo-amerikanische Literatur verweisen. Denn auch an Autorinnen und Autoren wie Virginia Woolf, Melville, Whitman oder Henry Miller schätzt Deleuze, dass sie weniger einen bestimmten Standort, eine Perspektive oder Position zur Darstellung bringen, sondern stattdessen eine Welt präsentieren, die nur über die Äußerlichkeit ihrer Relationen zu bestimmen ist. »Anglo-amerikanische Literatur« fungiert in diesem Sinne als Synonym für eine Literatur, die sich weder einer vermeintlich objektiven Methode zur mimetischen Darstellung der Wirklichkeit verschrieben hat noch in erster Linie als ästhetische Form zu begreifen ist, die dem Autor eine subjektive Ausdrucksmöglichkeit verschafft. Stattdessen handelt es sich um ein experimentelles Verfahren zur Kartographie von Brüchen, Fluchtlinien, Verbindungen, Transformationen und Werdensprozessen, deren Relevanz stets über die »persönliche« Erfahrung des Autors hinausgeht. In diesem Kontext heißt es: »Die anglo-amerikanische Literatur ist eine fortwährende Darstellung dieser Brüche, dieser Figuren, die ihre Fluchtlinie und sich selbst kraft der Fluchtlinie erschaffen. Thomas Hardy, Melville, Stevenson, Virginia Woolf, Lawrence, Fitzgerald, Miller, Kerouac: Da ist Abreise, Werden, Übergang, Sprung, Leidenschaft, Blick nach draußen […]. Die amerikanische Literatur folgt geographischen Linien: die Flucht nach Westen, die Entdeckung, daß der wahre Osten im Westen ist, das Gespür für Grenzen als für etwas, das überschritten, zurückgedrängt, aufgehoben werden muß. Das Werden ist geographisch. In Frankreich gibt es weder diesen Prozeß noch dieses Gespür. Die Franzosen sind allzu menschlich, allzu sehr um Vergangenheit und Zukunft besorgt. Sie schlagen ihre Zeit damit tot, einen Punkt zu setzen, Standorte zu klären.« (D 45-46)
Deleuzes Ausführungen über die amerikanische Literatur stammen aus den 1970er Jahren, d.h. aus einer Zeit, in der im Rahmen der Amerikanistik zwar schon eine Reihe kritischer Texte über die damals noch sehr einflussreiche »Myth-and-Symbol«School publiziert wurden, in der sich der literaturgeschichtliche Revisionismus allerdings noch nicht durchgesetzt hatte. Erst in den 1980er Jahren, unter dem Einfluss des New Historicism, der Race-and-Gender Studies, des Postmarxismus und der Dekonstruktion, änderte sich die theoretische Ausrichtung des Faches merklich, so dass der Glaube an die vermeintliche Geschlossenheit eines einheitlichen Korpus der amerikanischen Literatur ihre Legitimation einbüßte. An Deleuze lässt sich in diesem Kontext zweifellos kritisieren, dass er auf scheinbar naive Weise von der amerikanischen Literatur spricht und somit die traditionelle amerikanistische Praxis fortschreibt, nach der von einer in sich geschlossenen Nationalliteratur auszugehen ist. Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass Deleuze nicht als Amerikanist schreibt, sondern als Philosoph, der von den amerikanistischen Diskursen über die amerikanische Literatur so gut wie keine Notiz genommen hat. Die einzigen Autoren aus dem Umfeld der Amerikanistik, von denen Deleuze einen wenigstens selektiven Gebrauch
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macht, sind D.H. Lawrence und Leslie Fiedler – zwei Autoren also, die grosso modo dem Kanon der klassischen Amerikanistik zugeordnet werden können.58 Aus amerikanistischer Perspektive erscheinen Deleuzes Thesen über die amerikanische Literatur in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis: Einerseits wirken sie gerade in begrifflicher Hinsicht – in einem Umfeld, das von anderen theoretischen Perspektiven geprägt ist – gewissermaßen neu. Andererseits aber kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, einige der Charakteristika, die Deleuze der amerikanischen Literatur zuschreibt, bereits aus den klassisch-amerikanistischen Diskursen längst vergangener Zeiten zu kennen. So konzentriert sich Deleuze etwa, ähnlich wie Lawrence in seinen Studies in Classic American Literature, auf die »modernistischen« Aspekte der amerikanischen Literatur, in der er – ebenfalls wie Lawrence – eine Deterritorialisierung des europäischen Erbes erblickt.59 Und obwohl der politische und theoretische Kontext ein gänzlich anderer ist, lässt sich nichtsdestotrotz behaupten, dass das Ungeregelte, Fragmentarische, Prozessuale und Abrupte, das Deleuze in den Literaturen von Melville, Whitman, Kerouac, oder Henry Miller ausmacht, in mancher Hinsicht Richard Chases Konzept der romance ähnelt, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Markenzeichen der amerikanischen Literatur geworden ist.60 Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist das Unbehagen, mit dem Charles Stivale auf Deleuzes und Guattaris Thesen zur amerikanischen Kultur reagiert hat. So erklärt Stivale in einem 1985 geführten Interview mit Félix Guattari, dass er aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit der Kultur seines Landes den Ein58 Zu Deleuzes und Guattaris Rezeption von Fiedlers The Return of the Vanishing American (Fiedler 1969), vgl. TP 33-34: »Dieses Buch enthält eine ausgezeichnete Analyse der Geographie und ihrer mythologischen und literarischen Rolle in Amerika, sowie der Umkehr der Richtungen. Im Osten gab es die Suche nach einem spezifisch amerikanischen Code und nach einer Recodierung mit Europa (Henry James, Eliot, Pound etc.); im Süden fand sich die Übercodierung des Sklavensystems mit seinem eigenen Ruin und dem der Plantagen während des Sezessionskrieges (Faulkner, Caldwell); aus dem Norden kam die kapitalistische Decodierung (Dos Passos, Dreiser); der Westen dagegen spielt eine Rolle als Fluchtlinie, in der sich Reise, Halluzination, Wahnsinn, Indianer, Experimente mit Wahrnehmung und Psyche, das Verschieben von Grenzen, das Rhizom (Ken Kesey und seine ›Nebelmaschine‹, die ›beat generation‹ etc.) miteinander vermischen«. 59 In seinem 1923 erschienenen Buch, das sich u.a. mit Melville, Whitman, Hawthorne und Poe beschäftigt, identifiziert Lawrence die klassische amerikanische Literatur als inhärent »moderne« Literatur. Lange vor Deleuze thematisiert er zudem die »Fluchtlinien« im Werk Melvilles: »[Melville] was mad to look over our horizons. Anywhere, anywhere out of our world […]. To get away, out of our life. To cross a horizon into another life. No matter what life, so long as it is another life« (Lawrence 1923, 197). Was Lawrence freilich von Deleuze unterscheidet, ist der »mythopoeische« Charakter seines Denkens (vgl. Buchanan 2008, 156). 60 In seiner Studie The American Novel and its Tradition bescheinigt Chase der amerikanischen romance u.a. »a willingness to abandon moral questions«, »[a contentment] to explore, rather than to appropriate and civilize«, »rapidity«, »disorder« sowie »[a tendency] to carve out of experience brilliant, highly wrought fragments rather than massive unities« (vgl. Chase 1993, ix-x sowie 2-5). Zum ideologischen Kontext des Werkes von Chase, vgl. Pease 2002, 142-143 sowie Kaplan 1993, 11-12.
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druck habe, in einigen Texten von Deleuze und Guattari werde Amerika »romantisiert«: »But what strikes me in your writing, especially in Rhizome, is the impression of a kind of romanticism about America, references to the American nomadism, the country of continuous displacement, deterritorialization […]: this nomadic conception which you present in your works [...] is finally a romantic conception in light of the practice of Americanization, the penetration of America and, of course, of capitalism.« (Stivale 1998, 206)
Stivale bezieht sich hier in erster Linie auf den erstmals 1976 publizierten »Rhizom«Aufsatz, der wenige Jahre später (in leicht veränderter Fassung) in die Tausend Plateaus integriert wurde. In diesem programmatischen Text geht es Deleuze und Guattari um die Konzeption einer »nomadischen«, nicht-hierarchischen Form des Denkens, für die sie den aus der Botanik stammenden Begriff des Rhizoms verwenden. Das Modell des Rhizoms, das ursprünglich ein sich transversal ausbreitendes Wurzelgewächs (ohne Stamm oder zentralen Strang) bezeichnet, dient ihnen hierbei als Gegenpol zum »Baummodell«, welches die Fixierung auf Wurzeln, Ursprünge, Einheiten und binäre Hierarchien verkörpert, die sie besonders im abendländischen Denken ausmachen. In den Tausend Plateaus hat der Rhizombegriff jedoch eine doppelte Funktion: Er fungiert zunächst als Modell zur Beschreibung der Wirklichkeit, die hier als transversale Verkettung heterogener und kontingenter Elemente bestimmt wird, welche zwar einen Funktionszusammenhang bilden, aber weder auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen noch auf ein gemeinsames Ziel hinauslaufen. Ein Rhizom lässt sich in dieser Hinsicht als »offenes System« (U 51) begreifen, d.h. als komplex strukturiertes Netzwerk, in dem Kollektivität und Heterogenität keinen Widerspruch bilden, sondern ausdrücklich zusammengedacht werden.61 Doch Deleuze und Guattari beschreiben die Welt nicht nur als Rhizom, sondern fordern den Leser zugleich dazu auf, sich vom »Baumdenken« der abendländischen Tradition zu lösen und stattdessen ein rhizomatisches Denken zu praktizieren. In diesem Sinne beinhaltet der Text auch einen gewissermaßen »ethischen« Aspekt, weshalb es gelegentlich zu abrupten stilistischen Wechseln zwischen wissenschaftlicher Beschreibung und manifestartiger Aufforderung kommt. Letzteres wird besonders gegen Ende des Textes deutlich, wenn es z.B. heißt: »Bildet Rhizome und keine Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nichts aus, sondern nehmt Ableger! [...] Laßt keinen General in euch aufkommen!« (TP 41). Stivales oben erwähntes Unbehagen über die »romantisierende« Darstellung der amerikanischen Kultur bezieht sich jedoch vor allem auf die geophilosophische Perspektive, die im Laufe des »Rhizom«-Textes zum Ausdruck kommt. So illustrieren Deleuze und Guattari ihre Thesen über den Gegensatz von Baum und Rhizom, indem sie mögliche Gegenbeispiele zum europäischen Transzendenzdenken und zur abendländischen Favorisierung des »Baummodells« anführen. Während »der Baum die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Abendlandes beherrscht hat, von der Bo61 Trotz der bereits genannten Gründe, die der Einordnung von Deleuze und Guattari als Denker der Postmoderne oder des Poststrukturalismus entgegenstehen, kann der Rhizombegriff somit auch als bildhafte Verkörperung des poststrukturalistischen Projekts verstanden werden, eine Struktur zu denken, »der jegliches Zentrum fehlt« (Derrida 1976, 422).
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tanik bis zur Biologie und Anatomie, aber auch die Erkenntnistheorie, die Theologie, die Ontologie, die gesamte Philosophie«, erkennen Deleuze und Guattari »im Orient, ganz besonders in Ozeanien, so etwas wie ein rhizomatisches Modell, das sich in jeder Hinsicht vom abendländischen Modell des Baumes unterscheidet« (TP 31-32). Im Rahmen dieser Konstruktion kommt nun auch »Amerika« ins Spiel, dem gewissermaßen die Rolle des »Vermittlers« zwischen Okzident und Orient zugesprochen wird. Hierzu heißt es: »Man müßte Amerika einen besonderen Platz einräumen. Gewiß, es ist nicht frei von der Herrschaft der Bäume und der Suche nach Wurzeln. Das merkt man sogar in der Literatur, an der Suche nach einer nationalen Identität und sogar nach einer europäischen Abstammung und Genealogie (Kerouac auf der Suche nach seinen Vorfahren). Trotzdem geschieht alles, was wichtig war und ist, durch das amerikanische Rhizom: Beatnik, Underground, Banden und Gangs, aufeinanderfolgende Seitentriebe, die unmittelbar mit einem Außen verbunden sind. Der Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Buch, selbst wenn das amerikanische auf der Suche nach Bäumen ist. Eine unterschiedliche Vorstellung vom Buch.« (33)
Kurz darauf wird »Amerika« erneut thematisiert, wobei der Fokus nun auf dem amerikanischen Kapitalismus liegt: »[Amerika] funktioniert [...] gleichzeitig durch Ausrottung und Liquidation im Inneren (nicht nur der Indianer, sondern auch der Farmer etc.) und durch aufeinanderfolgende Einwanderungsschübe von außen. Der Kapitalstrom erzeugt einen riesigen Kanal, eine Quantifikation der Macht, mit unmittelbaren ›Quanten‹, in denen jeder auf seine Weise in den Genuß des vorbeifließenden Geldstroms kommt (daher der Mythos und die Realität des Armen, der zum Milliardär wird, um dann wieder zu verarmen): in Amerika kommt also alles zusammen, Baum und Kanal, Wurzel und Rhizom gleichzeitig. Es gibt keinen universellen Kapitalismus, keinen Kapitalismus an sich, der Kapitalismus steht an der Kreuzung aller möglichen Formationen; noch schlimmer, er ist von Natur aus immer ein Neokapitalismus und er erfindet sein orientalisches und sein abendländisches Gesicht, und die Umgestaltung beider.« (34-35)
Nimmt man den Wert zur Kenntnis, der dem Modell des Rhizoms als Gegenmodell zum Baummodell in der Philosophie von Deleuze und Guattari zukommt, dann wird Stivales Unbehagen an dieser Stelle zumindest nachvollziehbar. Insofern das Modell des Baumes und der Transzendenz nämlich in erster Linie mit dem abendländischen Denken und Europa identifiziert wird (TP 32), fungiert »Amerika«, das – trotz aller Ambivalenzen – der Seite des Rhizoms, der Deterritorialisierung und der Immanenz zugerechnet wird, quasi als positives Gegenbeispiel. Versteht man »Amerika« somit als Heimstätte von Rhizomatik und Deterritorialisierung, dann ließe sich durchaus behaupten, dass Deleuzes und Guattaris Argumentation mit einer neuerlichen Variante des amerikanischen Exzeptionalismus korrespondiert – auch wenn es nun nicht mehr die vermeintliche Freiheitsliebe der Amerikaner, ihre Naturverbundenheit (Nature’s Nation) oder ihre demokratische Tradition ist, die den positiven Unterschied im Vergleich zu Europa darstellt, sondern der nomadische Charakter des »amerikanischen Rhizoms«. Was dieses Szenario jedoch verkompliziert, ist einerseits die kuriose Vermittlerposition, die Amerika zwischen Okzident und Orient einnimmt, und andererseits die Tatsache, dass das amerikanische Rhizom seine ganz eigenen Schre-
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cken aufweist (Reterritorialisierung des Nationalstaats, Suche nach einer nationalen Abstammungslinie, Liquidation der Indianer und Farmer etc.), die keineswegs verschwiegen werden.62 Letzteres kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass man der Philosophie von Deleuze und Guattari sicherlich nicht genüge tut, wenn man sie analog zu einer einfachen Dialektik von »Hegemonie« und »Subversion« liest, die laut Eve Sedgwick und Adam Frank für Teile des Cultural-Studies-Mainstreams charakteristisch ist.63 Was nichtsdestotrotz stutzig macht, ist allerdings die Tatsache, dass Deleuze und Guattari genau jene »binäre Logik«, von der sie sich im Zuge der Darlegung des Rhizombegriffs so vehement abzusetzen meinten, zugleich auf scheinbar naive Art und Weise fortschreiben, indem sie die binäre Unterscheidung zwischen Europa und Amerika (mit all ihren politischen und historischen Implikationen) intakt lassen. Dass ihnen dieser mögliche Einwand jedoch vollkommen bewusst zu sein scheint, wird deutlich, wenn man im Anschluss an jene Unterscheidung Folgendes liest: »Mit all diesen geographischen Zuweisungen sind wir auf einen falschen Weg geraten. In eine Sackgasse. Um so besser. Wenn es um den Beweis dafür geht, daß auch Rhizome ihren eigenen Despotismus, ihre eigene Hierarchie haben, die natürlich noch härter sind, auch gut, denn es gibt keinen Dualismus, keinen ontologischen Dualismus von hier und dort, keinen axiologischen Dualismus von Gut und Böse, keine Vermischung oder amerikanische Synthese. Es gibt baumartige Verknotungen in Rhizomen und rhizomatische Triebe in Wurzeln. [...] Es geht nicht um diesen oder jenen Ort auf der Erde, auch nicht um einen bestimmten Moment in der Geschichte, und noch weniger um diese oder jene Kategorie des Geistes. Es geht um das Modell, das unaufhörlich entsteht und einstürzt, und um den Prozeß, der unaufhörlich fortgesetzt, unterbrochen und wieder aufgenommen wird. [...] Wir ziehen den einen Dualismus nur heran, um den anderen zu verwerfen. Wir benutzen den Dualismus von Modellen nur, um zu einem Prozeß zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen wird. Wir brauchen immer wieder geistige Korrektoren, die die Dualismen auflösen, die wir im übrigen nicht festlegen wollten, durch die wir nur hindurchgehen.« (TP 35)
Was in diesem Zitat deutlich wird, ist in erster Linie die Tatsache, dass sich Deleuzes und Guattaris Textverständnis – und somit auch das Verständnis ihrer eigenen Textproduktion – merklich von klassischen Vorstellungen der Repräsentation und des Schreibens unterscheidet. Wie bereits an anderer Stelle erläutert wurde, begreift Deleuze das Schreiben nicht als Methode zur Fixierung von »Punkten«, sondern als prozessual-pragmatisches Unterfangen, in dem die jeweiligen Punkte quasi durchlaufen werden. Die Dualismen sind demnach »notwendig«, allerdings nur als Stationen eines Denkweges, dem es letztlich um die Überwindung des dualistischen Denkens geht. Oder anders gesagt: Es ist nötig, »durch alle Dualismen hindurchzugehen, die der Feind sind, aber ein unbedingt notwendiger Feind, das Mobiliar, das wir immer 62 Vgl. hierzu auch Herzogenrath 2010, 16: »what Deleuze|Guattari actually say about America […] is far from any easy sentimentalization or romanticization«. 63 Vgl. Frank/Sedgwick 1995, 501: »The ›subversive or hegemonic?‹ structure of inquiry requires a wholesale reification of the status quo. One’s relation to it becomes reactive, like that of a consumer: accepting or refusing this or that manifestation of it, dramatizing extremes of compulsion and voluntarity«.
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wieder verschieben« (TP 35). Es scheint daher, als wären die geophilosophischen Reflexionen im »Rhizom«-Text lediglich als Hilfskonstruktionen bei der philosophischen Begriffsarbeit zu verstehen und stellten gerade nicht den Versuch dar, ein amerikanisches oder europäisches Wesen festzuschreiben.64 Ähnlich wie Roland Barthes, dem es in seinem Japan-Buch Das Reich der Zeichen nicht darauf ankommt, ein »Wesen des Ostens« zu fixieren, das es einem real-existierenden Westen »anzunähern oder entgegenzusetzen« gilt (Barthes 1981, 13), geht es auch Deleuze und Guattari nicht um ein Wesen Amerikas, sondern um die »Bewegung des Begriffs« (U 204) innerhalb bereits bestehender Diskurse und Verweisungszusammenhänge. In seiner Antwort auf Stivales Romantisierungsvorwurf hebt Guattari folglich auch den pragmatischen Charakter der Amerikadarstellung in den Tausend Plateaus hervor: »We participated a little in that America, that kind of New West. It was our dream, our very own America. You are telling me that it’s not yours! I find that fascinating, but you aren’t going to reproach me for having dreamt my dream! You have a whole generation of American writers who created a dream about Europe, about Greece, who landed here like these were colonies, but I’m not going to reproach them for having perceived in their own way, ›What is this Europe you saw here?‹, that’s just not possible! What one has to know is: Has it been useful for you that we had that dream? Has it been useful for us [...] that some American writers had a particular dream about Europe before the war? For me, yes, that certainly was useful. I haven’t looked at Europe in the same way because there is this deterritorialized vision by relay from American writers. Miller’s vision of Paris, for me, is enormous, is fundamental! I’m sorry that Deleuze and Guattari’s vision of the United States hasn’t been at all useful for you, but we can‘t all have the same talent as Miller!« (Stivale 1998, 210)
64 Analog dazu ließe sich auch die Gegenüberstellung von anglo-amerikanischer und französischer Literatur in den Dialogen verstehen, da die nationalspezifische Perspektive des Textes derart inkonsequent zur Anwendung kommt, dass sich am Ende sogar Kafka und Kleist in der Kategorie der »anglo-amerikanischen Literatur« wiederfinden.
4. Philosophie des Kinos
4.1 B EWEGUNG
UND
Z EIT
Zu Deleuzes wichtigsten Publikationen aus der Phase nach den Tausend Plateaus gehören zweifellos die beiden Bände zum Kino, Das Bewegungs-Bild und Das ZeitBild. Erstmals nähert sich Deleuze hier einer Kunstform nicht monographisch (wie in den Studien zu Kafka, Proust oder Francis Bacon), sondern indem er sich dieser als Ganzes widmet – »von den allerersten Filmaufnahmen über den Stummfilm bis hin zum zeitgenössischen Kino und der Videokunst« (Bellour 1997, 43). Nichtsdestotrotz bestreitet Deleuze, dass seine Studie filmhistorisch ausgerichtet sei, wenn er im Vorwort zum ersten Band vermerkt: »Diese Abhandlung ist keine Geschichte des Films. Sie ist eine Taxinomie, ein Klassifizierungsversuch der Bilder und Zeichen« (BB 11). Was diesen zeichentheoretischen Zugang zum Film betrifft, vermeidet es Deleuze jedoch, das Kinobild durch sprachliche, d.h. außerfilmische Kategorien zu klassifizieren, wie es etwa im filmsemiologischen Ansatz von Christian Metz geschieht (vgl. Metz 1972 und 1973).1 Deleuze zufolge muss eine Klassifikation der Bilder und Zeichen des Kinos stattdessen immanent operieren und sich dem ureigenen Material des Kinobildes – d.h. Bildlichkeit, Bewegung und Zeit – widmen. Seine Kritik an der Theorie von Metz begründet er daher auch unter Verweis auf die mobile Materialität des kinematographischen Zeichens: »Ersetzt man das Bild durch eine Aussage, dann verleiht man ihm freilich eine falsche Existenzweise, insofern man ihm die Bewegung, das Charakteristischste seiner sichtbaren Eigenschaft, entzieht« (ZB 43-44). Dementsprechend beruft sich Deleuze bei der Ausformulierung seiner Taxinomie der Filmzeichen auch nicht auf Saussure, sondern auf den Pragmatisten Charles Sanders Peirce, den er dafür lobt, »die Zeichen ausgehend von Bildern und ihren Kombinationen, aber nicht als Funktion schon sprachlicher Bestimmungen betrachtet zu haben« (47). Zwar wird auch Peirce im Laufe der Kinobücher kritisiert;2 1
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Deleuzes Kritik an der Filmlinguistik von Metz korrespondiert mit seinen generellen Vorbehalten gegenüber Linguistik und Textualismus. In einem Interview über Das BewegungsBild heißt es dementsprechend, die »Versuche, die Linguistik auf den Film anzuwenden«, seien »katastrophal« (U 80). So argumentiert Deleuze etwa, dass zwar die Zeichenelemente bei Peirce »noch keineswegs das Privileg des Sprachlichen genießen«, die Zeichen selbst jedoch »den gesamten Bildinhalt als Bewußtsein oder Erscheinung absorbieren« und folglich »keine auf die Aussage irreduzible Materie bestehen« lassen. Deleuze zufolge kommt es daher auch bei Peirce
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nichtsdestotrotz aber kann Deleuze dessen Schema wesentlich mehr abgewinnen als Saussure und der Filmlinguistik, weshalb er an Peircesche Begriffe wie Erstheit, Zweitheit und Drittheit anknüpft, denen im ersten Band der Kinostudie (im Sinne von Unterkategorien des Bewegungs-Bildes) die Bildtypen Affektbild, Aktionsbild und Relationsbild zugeordnet werden.3 Obwohl das Primat des bild- und zeichentheoretischen Kontextes von Deleuzes Kinostudie offensichtlich ist, bedarf die Aussage, dass die Bücher explizit keine Filmgeschichte darstellen, einer genaueren Qualifizierung. Denn auch wenn es beiden Kinobüchern primär um die Klassifizierung der verschiedenen Zeichen- und Bildtypen geht, wird stets auch auf historische Gründe verwiesen, die zur Entwicklung neuer Bildtypen geführt hätten. So wird im ersten Band der Studie mit dem Fokus auf das Kino des »Bewegungs-Bildes« vorwiegend die Ära von der Stummfilmzeit bis zum Zweiten Weltkrieg behandelt, während der Zeitraum des zweiten Bandes sich vor allem von der Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre erstreckt. Das »ZeitBild« sieht Deleuze dabei zunächst in den Filmen von Orson Welles, Yasujiro Ozu und der italienischen Neorealisten (Rossellini, De Sica und Antonioni) sowie – etwas später – in der französischen Nouvelle Vague zum Ausdruck kommen. Ohne dass sich Deleuze allzu schematisch an seine eigene Einteilung halten würde, ergibt sich somit das folgende Schema: Das Filmschaffen aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts bezeichnet Deleuze allgemein als das »klassische Kino«, im Rahmen dessen der Typus des Bewegungs-Bildes dominiert, während er für das Kino nach dem Zweiten Weltkrieg in der Regel den Begriff des »modernen Kinos« verwendet. Der Übergang vom klassischen zum modernen Kino korrespondiert zugleich mit der tendenziellen Ablösung des Bewegungs-Bildes durch das Zeit-Bild, was freilich nicht heißen soll, dass das Bewegungs-Bild seitdem vollkommen verdrängt worden wäre. Denn wie noch zu zeigen sein wird, ist das Bewegungs-Bild (und insbesondere dessen Unterkategorie des Aktionsbildes) z.B. im kommerziellen amerikanischen Film weiterhin sehr präsent. Im »anspruchsvolleren« Kino aber – auf das sich die beiden Bücher im Wesentlichen konzentrieren4 – vermerkt Deleuze im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte eine tendenzielle Ersetzung des Bewegungs-Bildes durch das Zeit-Bild: »Das
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letztlich zu einer »Unterordnung der Semiotik unter die Sprache« (ZB 48). Auch aufgrund dieser Differenzen hat André Vandenbunder behauptet, dass »die Idee, die Genese und die Ausarbeitung der Deleuzeschen Semiotik Peirce rein gar nichts« verdanke. Als primären Einfluss verweist Vandenbunder stattdessen auf die Philosophie von Bergson (vgl. Vandenbunder 1997, 103). Vgl. ZB 48-49: »Im ersten Band unserer Untersuchung haben wir gesehen, daß die Erstheit, die Zweitheit und die Drittheit dem Affektbild, dem Aktionsbild und dem Relationsbild entsprechen. Doch alle drei leiten sich vom Bewegungs-Bild als Ausgangsmaterie ab, sobald man dieses auf das Bewegungsintervall bezieht«. Vgl. SG 258: »Wir sprechen nur von Meisterwerken, bei denen es keine Wertehierarchie gibt. Das Kino ist stets so vollkommen, wie es sein kann in Anbetracht der Bilder und Zeichen, die es erfindet und über die es in einem bestimmten Augenblick verfügt. Deshalb muß diese Studie die konkrete Analyse von Bildern und Zeichen mit Monographien großer Autoren verflechten, die sie erschaffen oder erneuert haben«. Auf Deleuzes Filmkanon und seine quasi »autorentheoretische« Herangehensweise an das Medium wird im weiteren Verlauf der Studie noch genauer eingegangen (siehe besonders Teil I, Kap. 4.5).
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Bewegungs-Bild des sogenannten ›klassischen‹ Kinos trat nach dem Krieg hinter einem unmittelbaren Zeit-Bild zurück« (SG 335). Deleuze zufolge ist das Kino der ersten Jahrhunderthälfte prinzipiell noch nicht in der Lage, ein direktes Bild der Zeit zu erschaffen, sondern gelangt lediglich – vor allem durch die Montage – zu einer »indirekten Repräsentation der Zeit« (ZB 54). Fasziniert von der Mobilität des Kinobildes konzentriert sich das klassische Kino noch wesentlich auf die Darstellung »stimmiger« Bewegungsabläufe, wobei das Bild in der Regel der (vorgegebenen) Bewegung des Handlungsablaufs folgt und in ein sensomotorisches Schema eingebunden ist, in dem die dargestellten Situationen und die Aktionen der handelnden Figuren in einem rationalen Verhältnis zueinander stehen. Dies trifft vor allem auf den Typus des »Aktionsbildes« zu, das im klassischen amerikanischen Film dominiert und eine der wichtigsten Unterkategorien des Bewegungs-Bildes darstellt. Wenn im Folgenden daher vom Bewegungs-Bild die Rede ist, dann wird – sofern nicht anderweitig vermerkt – in aller Regel auf das Aktionsbild und das mit diesem einhergehende sensomotorische Schema verwiesen. Unter sensomotorischem Schema versteht Deleuze das den narrativen Mustern des klassischen Kinos zugrunde liegende Verhältnis von Wahrnehmung und Handlung, das in direktem Zusammenhang mit dem Aktionsradius des jeweiligen Protagonisten steht. Insofern der Protagonist nämlich das Zentrum im Film des klassischen Kinos – und insbesondere des klassischen amerikanischen Kinos – darstellt, wird die Narration in der Regel von dessen Handlungen vorangetrieben. Jene Handlungen aber werden zugleich als Resultat einer tendenziell adäquaten Wahrnehmung der bestimmenden Situation dargestellt, was es dem Zuschauer ermöglicht, sie rational nachzuvollziehen. Das sensomotorische Schema präsentiert das Verhältnis von Wahrnehmung und Aktion demnach als ein wesentlich rationales, wobei zwischen »Ursache« und »Wirkung« eine lineare Proportionalität besteht. Anders gesagt: Die Wahrnehmung der jeweiligen Situation reizt den Protagonisten zu Handlungen, die entweder eine Transformation der Ausgangssituation zur Folge haben oder zu deren Wiederherstellung führen. Das sensomotorische Schema stellt sich folglich als eine spezifische Möglichkeit dar, das Verhältnis von Wahrnehmung und Handlung – und somit auch jenes von Zeit und Bewegung – kinematographisch zu organisieren. Was ein Film »kann«, d.h. auf welche Weise er seine kinematographischen Möglichkeiten realisiert, ergibt sich Deleuze zufolge daher stets in Abhängigkeit von eben dieser Art der Organisation, die je nach Bildtyp (Bewegungs-Bild oder Zeit-Bild) variiert. Mit dem sensomotorischen Schema des klassischen Kinos korrespondiert laut Deleuze zudem ein Montageverfahren, das für gewöhnlich mit rationalen Schnitten operiert und im Dienste des linearen Handlungsverlaufs steht.5 Die Bewegung des Filmbildes, die ihrer Natur nach eine hochgradig deterritorialisierte ist, da sie – anders als es beispielsweise im Theater der Fall ist – auf keinen materiellen Körper als »Träger« angewiesen ist, wird auf diese Weise reterritorialisiert und den sensomotorischen Erfordernissen des klassischen Kinos untergeordnet, wodurch falsche An5
Deleuze unterscheidet hierbei genauer zwischen vier verschiedenen Montageverfahren, die jeweils einer anderen nationalen Filmtradition zugeordnet werden: 1) die organische Schule des amerikanischen Films; 2) die dialektische Schule des sowjetischen Films; 3) die quantitative Schule des französischen Films; und 4) die intensiv-extensive Schule des deutschen Expressionismus (vgl. BB 49-83).
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schlüsse, irrationale Sprünge und »abweichende Bewegungen« (ZB 61) weitgehend vermieden werden. Wie vor allem im zweiten Band seiner Studie deutlich wird, geht Deleuze somit davon aus, dass das ästhetische Potential des Kinos in dessen klassischer Epoche noch nicht zur Gänze ausgeschöpft worden ist. Denn was das Kino des Bewegungs-Bildes in seinen Möglichkeiten beschränkt, ist zunächst die Tatsache, dass es stets auf ein »Zentrum« angewiesen ist, auf das die Bewegung des Films jeweils bezogen wird. Als ein derartiges Zentrum kann sowohl der Protagonist, aber ebenso sehr eine Idee (wie z.B. die Idee der proletarischen Revolution im sowjetischen Film) fungieren. Im amerikanischen Film – und hier vor allem in Genrefilmen wie dem Western, dem psychosozialen Film, dem Gangster- oder Historienfilm – ist es in der Regel der agierende Held, der im Zentrum der Handlung steht und diese durch sein Aktionsvermögen vorantreibt. Deleuze zufolge verkörpert dieses Modell den vorherrschenden Typus des Aktionsbildes, nämlich dessen »große Form«, deren sensomotorischem Schema die Formel SAS’ zugeordnet wird (die Wahrnehmung einer Situation führt zu einer Aktion, durch die die Situation transformiert wird).6 Hierzu heißt es genauer: »Das Milieu und die Kräfte krümmen sich und wirken auf den Protagonisten, fordern ihn heraus und stellen die Situation her, die ihn ganz vereinnahmt. Der Protagonist reagiert seinerseits (das Handeln im eigentlichen Sinne), antwortet auf die Situation und verändert dadurch das Milieu oder seine Beziehung zum Milieu, zur Situation oder zu anderen Personen. Er muß zu einer neuen Lebensform (habitus) gelangen beziehungsweise sein Wesen auf die Erfordernisse des Milieus oder der Situation einstellen. Daraus geht eine veränderte oder restaurierte, eine neue Situation hervor.« (BB 194)
Obwohl es auf der Hand liegt, dass Deleuze dem subjektfixierten Ansatz des Aktionsbildes prinzipiell skeptisch gegenübersteht, respektiert er ihn nichtsdestotrotz als eine wesentliche Errungenschaft der Kinematographie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dementsprechend lässt sich generell beobachten, dass Deleuze bei seiner Analyse der Beschränkungen des klassischen Kinos keinem Präsentismus anhängt und ihm sowohl die im ersten Band behandelten Filme als auch diejenigen aus dem zweiten Band als »Meisterwerke« gelten (SG 258). In diesem Sinne geht es ihm nicht um eine Abwertung des klassischen Kinos aus der Perspektive des modernen – zumal er dem klassischen Kino seine eigenen Qualitäten bescheinigt –, sondern um die Analyse der Bedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Filmästhetik ermöglicht haben. Ausschlaggebend für die innovativen Transformationen, die in der zweiten Jahrhunderthälfte zur Entstehung eines neuen Bildtyps beigetragen haben, war laut Deleuze eine »Krise des Aktionsbildes« (BB 264-288), für die er eine Reihe historischer 6
Neben der »großen Form« (vgl. BB 193-216), die auf das Kino von Regisseuren wie D.W. Griffith oder John Ford bezogen wird, erwähnt Deleuze auch eine »kleine Form« des Aktionsbildes (vgl. BB 217-240). Dieser kleinen Form, die z.B. in den Slapstickkomödien von Charlie Chaplin oder Buster Keaton dominiert, entspricht laut Deleuze die Formel ASA’ (von der Aktion zur Situation zur neuen Aktion). Zur Unterscheidung der beiden Formen, vgl. Ott 2005a, 133: »Im Gegensatz zur globalen Repräsentation der großen Form tritt die kleine Form als elliptische Wiedergabe lokaler Ereignisse auf«.
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Gründe erwähnt, unter denen der Zweite Weltkrieg als bedeutsamster Faktor genannt wird.7 So argumentiert Deleuze einerseits, dass die Vorstellung einer »vernünftigen«, zielorientierten Bewegung im Sinne des Fortschrittsgedankens – die noch im klassischen Kino dominierte – angesichts der Schrecken von Krieg, Faschismus und Stalinismus nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Zudem weist er unter Berufung auf die Thesen des Filmemachers Hans-Jürgen Syberberg darauf hin, dass das Bewegungs-Bild durch Leni Riefenstahls propagandistische Inszenierung perfekter Bewegungsabläufe »vollendet« worden sei (ZB 337), wodurch das Modell insgesamt in Frage stand. In diesem Kontext einer Krise, in der sich ästhetische und politische Aspekte überlagern, verortet Deleuze nun die Ablösung des Bewegungs-Bildes durch das Zeit-Bild. Dieser nach dem Krieg auftauchende neue Bildtypus zeichnet sich (wollte man die komplexe These von Deleuze auf eine einfache Formel bringen) durch eine Umkehrung des Verhältnisses von Bewegung und Zeit aus. An diesem Punkt der Argumentation wird zugleich deutlich, weshalb Deleuze das Label der Filmgeschichte in Bezug auf seine Kinobücher explizit zurückgewiesen hat. Denn parallel zur Verortung der realgeschichtlichen Bedingungen, die die Entwicklung des Kinos beeinflusst haben, betreibt Deleuze auch eine ideengeschichtliche Analyse des Verhältnisses von Bewegung und Zeit, die wesentlich philosophisch ausgerichtet ist. Zwar heißt dies nicht – wie Mirjam Schaub mit Verweis auf Raymond Bellour suggeriert –, dass der realgeschichtliche Kontext der Studie als lediglich »vordergründig« begriffen werden muss (Schaub 2003b, 77); die Priorität der philosophischen Dimension der Kinobücher gegenüber ihren filmtheoretischen Verwertungsmöglichkeiten liegt jedoch auf der Hand und ist von Deleuze selbst auch vielfach bestätigt worden.8 Dass Deleuze für die kinematographische »Umkehrung« des Verhältnisses von Bewegung und Zeit sogleich eine philosophiegeschichtliche Analogie heranzieht, ist daher nicht verwunderlich. So heißt es im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Das Zeit-Bild: »In der Philosophie hat sich mehrere Jahrhunderte hindurch, von den Griechen bis zu Kant, eine Revolution vollzogen: Die Unterordnung der Zeit unter die Bewegung hat sich umgekehrt, die Zeit ist nicht länger das Maß der normalen Bewegung, sie tritt immer mehr an sich selbst in Erscheinung und erzeugt paradoxe Bewegungen. Die Zeit ist aus den Fugen: Hamlets Wort besagt, daß die Zeit nicht mehr der Bewegung, sondern die Bewegung der Zeit untersteht. Mag
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Siehe BB 276: »Im übrigen gab es für die Krise, die das Aktionsbild erfaßte, viele Gründe, die sich erst nach dem Krieg voll ausgewirkt haben. Einige davon waren sozialer, wirtschaftlicher, politischer und ethischer Natur, andere betrafen unmittelbar die Kunst, die Literatur und besonders den Film. In loser Reihenfolge wären anzuführen: der Krieg mit seinen Folgen, der in jeder Hinsicht ins Wanken geratene ›amerikanische Traum‹, das neue Selbstverständnis der Minoritäten, die Bilderflut und die Bilderinflation sowohl in der Außenwelt wie auch in den Köpfen der Leute, das Einwirken neuer experimenteller Erzählweisen in der Literatur auf den Film, die Krise Hollywoods und der alten Filmgattungen…«. Vgl. Stivale 1998, 230: »[Deleuze] said that, in the final analysis, he wasn’t interested in the cinema; the only thing that interested him was philosophy, and he only delivered his ideas to cinema in the light of philosophy«.
140 | K ULTURELLE K OMPLEXITÄT sein, daß das Kino für sich selbst, nur unter beschleunigten Bedingungen, die gleiche Erfahrung, die gleiche Umkehrung wiederholt.« (SG 335)
Die Tatsache, dass das Kino die besagte Umkehr – die sich in der Philosophie mit Kant vollzogen habe9 – »wiederholt«, heißt allerdings nicht, dass der realgeschichtliche Einschnitt diesbezüglich weniger bedeutsam wäre als der ideengeschichtliche Begründungszusammenhang. Dementsprechend heißt es weiter: »Weshalb der Krieg als Einschnitt? Weil sich im Europa der Nachkriegszeit Situationen mehrten, auf die wir nicht mehr zu reagieren wußten, in Räumen, die wir nicht mehr einzuordnen wußten. Es waren ›x-beliebige‹, verödete und dennoch bevölkerte Räume, stillgelegte Lagerhallen, unbebaute Gelände, Städte, die abgerissen oder wieder aufgebaut wurden. Und in diesen x-beliebigen Räumen regten sich neue, ein wenig mutierende Arten von Menschen: sie sahen eher, als daß sie handelten.« (SG 335)
Die kinematographische Umkehrung des Verhältnisses von Bewegung und Zeit bewirkt also zuallererst, was Deleuze als Lockerung der »sensomotorischen Verbindungen« (ZB 21) bezeichnet. Wurde an die Darstellung einer Situation im klassischen Kino stets durch eine Handlung angeknüpft, geraten die Protagonisten im modernen Kino vermehrt in Situationen, auf die sie nicht adäquat zu reagieren wissen. Die Aktion tritt somit zugunsten der Wahrnehmung zurück, so dass die Filmcharaktere nun vielfach rein optische Situationen durchleben (vgl. ZB 13), die keine adäquate Fortsetzung mehr durch eine Handlung erfahren. Deleuze erläutert dies beispielsweise anhand von Roberto Rossellinis einflussreichen Nachkriegsfilmen Germania, anno zero (1947), Stromboli (1949), Europa ’51 (1952) und Viaggio in Italia (1953) – Filme, in denen die Protagonisten »beliebige Räume« durchqueren, einer »inneren Vision« folgen, aber »zu keiner Reaktion fähig« sind (12). Laut Deleuze wird das Kino der Aktion in der Ära des Zeit-Bildes daher durch ein »Kino des Sehenden« (13) abgelöst, was nicht zuletzt auch mit einer wesentlichen Transformation der Rolle des Schauspielers einhergeht.10 Denn im neorealistischen Nachkriegsfilm hat die Schauspielerin oder der Schauspieler der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Figur auf der Leinwand einen Teil ihrer Handlungsfähigkeit einbüßt und dadurch selbst zu einer Art Zuschauer wird, der indes mit außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten ausgestattet ist. In diesem Sinne heißt es: »[D]ie Figur wird selbst gewissermaßen zum Zuschauer. Sie bewegt sich vergebens, rennt vergebens und hetzt sich vergebens ab, insofern die Situation, in der sie sich befindet, in jeder 9
Deleuze argumentiert, dass die Zeit in der antiken Philosophie noch weitgehend als Maß oder Intervall begriffen wurde und somit der Bewegung untergeordnet war: »Das lateinische cardo zeigt die Unterordnung der Zeit unter die vier Himmelsrichtungen an, die die periodischen Bewegungen durchlaufen, die sie mißt«. Mit Kant jedoch gerate die Zeit »aus den Angeln«: »Die Zeit bezieht sich nicht mehr auf die Bewegung, die sie mißt, sondern die Bewegung bezieht sich auf die Zeit, die sie bedingt. Das ist die erste große kantische Umkehrung in der Kritik der reinen Vernunft« (KP 7-8). 10 Diese Konzeption eines »Kino des Sehenden« wird genauer im zweiten Teil des Buches, nämlich am Beispiel von Jim Jarmuschs Dead Man diskutiert (vgl. Teil II, Kap. 2.6).
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Hinsicht ihre motorischen Fähigkeiten übersteigt und sie dasjenige sehen und verstehen läßt, was nicht mehr von einer Antwort oder Handlung abhängt. Kaum zur Reaktion fähig, registriert sie nur noch. Kaum zum Eingriff in eine Handlung fähig, ist sie einer Vision ausgeliefert, wird von ihr verfolgt oder verfolgt sie selbst.« (ZB 13)
Aufgrund dieser Priorität reiner Wahrnehmungssituationen vor sensomotorischen Bewegungsabläufen entwickelt der moderne Film zudem eine Reihe neuer ästhetischer Verfahren. So kommt es z.B. im Werk von Antonioni zu langen Einstellungen scheinbar unbewohnter Räume, zur Darstellung der von den Protagonisten verbrauchten »toten Zeit« sowie zu langsamen, die Objektwelt erforschenden Kamerafahrten, weshalb der »Druck der Zeit« (SG 336) – wie Deleuze mit Tarkovskij argumentiert – nicht mehr von der Montage abhängt, sondern bereits in der Einstellung erfahrbar wird.11 Die primäre Eigenschaft des Zeit-Bildes besteht somit darin, »Zeitverhältnisse fühlbar« bzw. »sichtbar« zu machen (336). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die kinematographische Bewegung nun keine Relevanz mehr hätte, denn wenn sich die Zeit nicht länger von der Bewegung ableitet, heißt dies Deleuze zufolge lediglich, dass die vorgegebene »Normalbewegung« ihre Priorität verliert. Philosophiegeschichtlich lässt sich dies mit Verweis darauf illustrieren, dass auch »die periodischen Bewegungen« (KP 7) der Himmelskörper in der modernen Philosophie nicht länger als transzendente Größe gelten, so dass das Fortschreiten der Zeit seit Kant nicht mehr als einfacher Kreislauf gedacht wird. Leitet sich dementsprechend auch im Kino die Zeit nicht mehr von der Bewegung ab, dann »manifestiert [sie] sich selbst und ruft selber falsche Bewegungen hervor« (SG 336). In diesem Kontext stehen auch die neuen Montagetechniken im modernen Film, der nicht mehr nur mit »rationalen Schnitten« arbeitet, sondern – wie im Falle der berühmten »Jump Cuts« im Frühwerk Godards – sogenannte »falsche Anschlüsse« produziert. Kurzum: »die Bilder verbinden sich nicht mehr mittels rationaler Schnitte und Anschlüsse, sondern mittels falscher Anschlüsse oder irrationaler Schnitte. Sogar der Körper ist nicht mehr genau die Triebfeder, Subjekt der Bewegung und Instrument der Handlung, er enthüllt vielmehr die Zeit, wird zum Zeugen der Zeit durch seine Ermattung und sein Warten« (336).
4.2 D ELEUZE
MIT
B ERGSON : L OGIK
DER
S IMULTANITÄT
Wenn Deleuze also die besondere Qualität des Zeit-Bildes in dessen Vermögen erkennt, »Zeitverhältnisse fühlbar« (SG 336) zu machen, so impliziert dies auch einen Bruch mit der vermeintlichen Evidenz, das Filmbild befinde sich stets in der Gegenwart. Deleuze hält diese von fast sämtlichen Filmtheorien geteilte Ansicht für grundsätzlich falsch und geht stattdessen von einer Koexistenz unterschiedlicher Zeitschichten im Bild aus. Dies ist eine der Hauptthesen des zweiten Kinobuches und bezeugt Deleuzes Kritik an der Idee zeitlicher Sukzessivität, die er zugunsten der Idee zeitlicher Koexistenz bzw. Simultanität formuliert: »[Es gibt] keine Gegenwart, die 11 Zum Begriff der »toten Zeit«, vgl. Chatman/Duncan (Hg.) 2004, 49: »Die Wortkargheit ging einher mit [Antonionis] einzigartigen, rasch mit dem Begriff temps mort (›tote Zeit‹) etikettierten Stilmerkmal, die Kamera über den Punkt hinaus laufen zu lassen, an dem jeder andere Filmemacher einen Schnitt gesetzt hätte«.
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nicht von einer Vergangenheit und einer Zukunft heimgesucht wird: einer Vergangenheit, die sich nicht auf eine frühere Gegenwart reduziert, und einer Zukunft, die nicht aus einer zukünftigen Gegenwart besteht. […] Es gehört zum Film, diese Vergangenheit und diese Zukunft zu erfassen, die mit dem gegenwärtigen Bild koexistieren« (ZB 56-57). Zwar lässt sich konstatieren, dass die Vorstellung zeitlicher Sukzessivität im klassischen Kino und dem auf den Fortgang der sensomotorischen Handlungsabläufe fixierten Bewegungs-Bild noch eine wesentliche Rolle spielt; im Kino des Zeit-Bildes jedoch wird die Ablösung der zeitlichen Sukzessionslogik durch eine Logik der Simultanität zu einem hervorstechenden Charakteristikum, das mittels verschiedener filmästhetischer Verfahren zum Ausdruck gelangt. Den Einsatz von Rückblenden und Traumsequenzen hält Deleuze hierbei für ein noch unzureichendes und wenig ausgereiftes Verfahren, da es in der Regel an der zeitlichen Sukzessionslogik festhält und die Vergangenheit als gewesene Gegenwart präsentiert.12 Anders verhält es sich, wenn die Filmcharaktere in die Zeit eintauchen, ohne dass dieser Wechsel der zeitlichen Ebenen durch ein konventionelles Mittel wie die Rückblende kenntlich gemacht wird, so dass Gegenwart und Vergangenheit, Aktualität und Virtualität, auf gewisse Weise ununterscheidbar werden. Deleuze zufolge ist es möglich, dass sich die Figuren im Film nicht allein im Raum bewegen, sondern zudem unterschiedliche zeitliche Positionen einnehmen, was er etwa am Beispiel von Orson Welles’ Klassiker Citizen Kane und mit Verweis auf den dortigen Einsatz der Schärfentiefe exemplifiziert. In der Szene, in der Kane »seinen Freund, den Journalisten, treffen will, um mit ihm zu brechen, bewegt er sich in der Zeit: er nimmt eher einen Ort in der Zeit ein, als daß er seinen Ort im Raum veränderte« (ZB 57). Dem Einsatz der Schärfentiefe kommt hierbei die Funktion zu, Regionen der Vergangenheit sichtbar zu machen und diese aus der Bildtiefe heraus mit den aktuellen Ereignissen im Bildvordergrund in Beziehung zu setzen.13 Wenn Deleuze somit davon ausgeht, dass das Kinobild im modernen Film nicht allein räumliche, sondern auch zeitliche Koordinaten aufweist, dann kann er Positionswechsel innerhalb des Bildes zugleich als Zeitsprünge oder Wechsel der zeitli12 Vgl. hierzu ZB 69: »[Es] ist bekannt, daß die Rückblende ein konventionelles und extrinsisches Verfahren ist: im allgemeinen kündigt sie sich durch eine Überblendung an, und die von ihr eingeführten Bilder sind oft überbelichtet oder gerastert, als seien sie mit dem Hinweis versehen: ›Achtung, Erinnerung!‹ Sie kann somit aufgrund einer Konvention auf eine psychologische Kausalität hinweisen, die jedoch einer sensomotorischen Bestimmung noch analog ist und trotz ihrer Kreisläufe noch den Fortgang einer linearen Erzählhandlung garantiert«. Zugleich verweist Deleuze allerdings auf Mankiewicz, der in den Filmen The Barefoot Contessa, A Letter to Three Wives und All About Eve einen unkonventionellen Gebrauch von der Rückblende gemacht habe, die nun nicht mehr im Dienste des linearen Handlungsverlaufs stehe, sondern die »Verzweigungen der Zeit« offenbare (72). 13 Deleuzes Konzeption der Schärfentiefe überschneidet sich in mancher Hinsicht mit dem Ansatz Bazins, der diese mit der »inneren Montage« verknüpft. So geht Bazin davon aus, dass Welles’ Einsatz der Bildschärfe eine Emanzipation des Betrachters bewirkt, da dieser nun – anders als bei der seit Eisenstein vorherrschenden »äußeren Montage« – »die sinntragenden Einzelteile aus einer Einstellung isolieren« muss (Weise 1996, 44). Mit Deleuze lässt sich diese Entwicklung durchaus auch zeittheoretisch begreifen, d.h. als Ablösung einer Logik der Sukzession durch eine Logik der Simultanität.
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chen Positionen, als ein »Eintauchen« in eine andere Zeitschicht verstehen.14 Die Entdeckung von dementsprechend komplexen Zeitverhältnissen in den Filmanalysen seines zweiten Kinobuches erklärt, weshalb sich Deleuze so vehement von der These distanziert, der Film zeige stets nur »die Gegenwart«. In Anlehnung an Godard kommt er dagegen zu dem Schluss, dass sich das kinematographische Bild lediglich »in den schlechten Filmen« (ZB 57) in der Gegenwart befindet; dem Kino des ZeitBildes geht es stattdessen um die Herstellung zeitlich komplexerer Bilder, die – tendenziell – die klassische Sukzessionslogik zugunsten einer Logik der Simultanität außer Kraft setzen. Derartige Zeit-Bilder verlangen dem Betrachter zudem wesentlich mehr Aufmerksamkeit ab, da es nun nicht mehr in erster Linie darum geht, die Handlung des Films anhand der Sequenz seiner Bilder zu verfolgen. Wenn die Charaktere im modernen Film mit dem sensomotorischen Schema brechen und in rein optische Situationen geraten, so bedeutet dies Deleuze zufolge nämlich auch, dass ihre Wahrnehmungen (die nun nicht mehr nahtlos in Aktionen übergehen) zu Denkbildern werden, die zugleich das Denken des Zuschauers affizieren. In diesem Sinne weist Deleuze darauf hin, dass die Bilder im modernen Film »gelesen« werden müssen: Sie müssen »ebenso lesbar wie sichtbar sein« (38).15 Die Idee zeitlicher Simultanität im kinematographischen Bild lässt Deleuze auf die Zeitphilosophie Henri Bergsons zurückgreifen, der u.a. die These von einer unteilbaren, kontinuierlichen Dauer sowie der ontologischen Koexistenz von Gegenwart und Vergangenheit aufgestellt hat. Insofern Deleuze im Verlauf der beiden Kinobände immer wieder auf Bergson zurückkommt und diesem insgesamt vier aufeinander aufbauende »Kommentare« widmet, kann durchaus behauptet werden, dass die Kinobücher auch eine Fortsetzung der Auseinandersetzung mit der Philosophie Bergsons darstellen, zu der Deleuze bereits Mitte der 1960er Jahre eine einflussreiche Monographie (HB) publiziert hat. Zieht man allerdings Bergsons explizit kritische Bemerkungen über das Wesen des Kinos in Betracht, dann entbehrt Deleuzes positive Anknüpfung an dessen Zeitphilosophie – die er quasi zur Filmphilosophie umformuliert – nicht einer gewissen Ironie. Denn Bergson zufolge entspricht das kinematographische Verfahren, Momentaufnahmen (die meist 24 Einzelbilder pro Sekunde) »künstlich« in Bewegung zu bringen, einer uralten Illusion des menschlichen Bewusstseins über den Charakter von Bewegung und Zeit. Die Tatsache nämlich, dass der Eindruck von Bewegung im Kino durch die Dynamisierung unzähliger Momentaufnahmen entsteht, versinnbildlicht für Bergson die Beschränktheit des menschlichen Denkapparates, dem aufgrund seines interessegeleiteten Charakters die »wahre« 14 Vgl. ZB 58: »Oder nehmen wir die Kamerafahrten von Visconti: als zu Beginn von Vaghe stelle dell’orsa die Heldin in ihr Geburtshaus zurückkehrt, sich zunächst ein schwarzes Tuch kauft, das sie sich über den Kopf wirft und schließlich einen Fladen ißt, als handele es sich um eine Zauberspeise, dann durchquert sie nicht den Raum, sondern dringt in die Zeit ein«. 15 Vgl. auch Rodowick 2003, 75: »When the image is no longer used up in the accomplishment of an action or conflict, it becomes an ›emptied‹ space in which both the function and the potential signification of the image change. The image becomes a space for reading: seeing and hearing as decipherment rather than following an action«. Gleichwohl macht Deleuze deutlich, dass die Betonung der Lesbarkeit des Bildes keine »Bezugnahme auf das linguistische Modell« impliziert (U 80).
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Natur des Werdens in der Regel entgleite. Anstatt die universelle Bewegtheit alles Wirklichen zu erkennen, werde die Zeit unter den handlungsorientierten Bedingungen der menschlichen Wahrnehmung »verräumlicht« und in Punkte unterteilt, so dass das Werden als eine bloße Abfolge von unbewegten Zuständen erscheine. In Bergsons Schöpferischer Entwicklung heißt es daher: »Dies der Kunstgriff des Kinematographen. Dies auch der Kunstgriff unseres Erkennens. Statt uns dem innern Wesen der Dinge hinzugeben, stellen wir uns außerhalb ihrer, um dies Werden künstlich zu rekonstruieren. Von der vorübergleitenden Realität nehmen wir sozusagen Momentbilder auf […]. Wahrnehmung, intellektuelle Auffassung, Sprache, sie alle pflegen so zu verfahren. Ob es sich nun darum handle, das Werden zu denken oder auszudrücken, ja es wahrzunehmen, wir tun nichts weiter, als einen inneren Kinematographen in Tätigkeit zu setzen.« (Bergson 1967, 303)
Die Illusion, das Bewegte gehe aus dem Unbewegten hervor, entstammt demnach der »Apparathaftigkeit« der konventionellen menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis, für die Bergson im kinematographischen Apparat eine passende Analogie sieht: »der Mechanismus unseres gewöhnlichen Denkens ist kinematographischen Wesens« (304). Zwischen Bergsons negativer Beurteilung des Mediums und der generell wohlwollenden Haltung von Deleuze existiert somit ein merklicher Dissens, der mit zwei konträren Auffassungen gegenüber dem Verhältnis von kinematographischem Bild und Bewegung korrespondiert. Denn während Bergson das Filmbild als prinzipiell statisch begreift – und die wahrgenommene Bewegung allein der Aktivität des Projektors zuschreibt, der eine künstliche Dynamisierung der einzelnen Momentaufnahmen bewirke16 –, erklärt Deleuze die Bewegung im erzeugten Durchschnittsbild für faktisch gegeben: »Kurz, der Film gibt uns kein Bild, das er dann zusätzlich in Bewegung brächte – er gibt uns unmittelbar ein Bewegungs-Bild« (BB 15).17 Gleichwohl stört sich Deleuze nicht an Bergsons »allzu summarischen« (11) 16 Vgl. Bergson 1967, 303: »Und in der Tat ist hier die Bewegung durchaus vorhanden, sie steckt im Apparat. Einzig dadurch, daß der kinematographische Film sich aufrollt und die verschiedenen Photographien des Schauspiels dazu bringt, sich Stück für Stück aneinanderzufügen, gewinnt jede Figur des Schauspiels ihre Bewegtheit zurück: an der unsichtbaren Bewegung des kinematographischen Films reiht sie die Folge ihrer Stellungen auf. Derart, daß dies Verfahren in summa darin besteht, aus allen Eigenbewegungen aller Figuren eine unpersönliche, abstrakte und einfache Bewegung herauszulösen, die Bewegung überhaupt sozusagen«. 17 Die komplexe These von der unmittelbaren Bewegtheit des Filmbildes beinhaltet mindestens drei unterschiedliche Komponenten, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Erstens geht Deleuze davon aus, dass die Einzelbilder des Films virtuell bereits Bewegung enthalten – und dies umso mehr, da sie aus »beliebigen« und nicht aus »herausgehobenen« Momenten bestehen (BB 17-19). Zweitens wird dem Zuschauer durch das Abspielen des Films keine Sequenz von Einzelbildern, sondern ein »Durchschnittsbild« präsentiert, das Bewegung nun »unmittelbar« enthält (14). Drittens schließlich verweist Deleuze auf die technologische Entwicklung des Films, dessen »Wesenseigentümlichkeit« er »der Montage, der beweglichen Kamera und der Trennung von Aufnahme und Projektion« zuschreibt (16). Gegen die filmkritischen Überlegungen Bergsons kann Deleuze daher argumentieren:
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Einwänden gegen den Film und macht dessen zeit- und bewegungstheoretische Thesen für seine eigenen filmphilosophischen Überlegungen nutzbar. So geht die Konzeption des sensomotorischen Schemas im ersten Band der Filmstudie ebenso auf Bergson zurück wie die Idee der zeitlichen Simultanität im zweiten Band, wobei jeweils auf die Studie Materie und Gedächtnis (Bergson 1964) verwiesen wird. In Materie und Gedächtnis von 1896 – ausgerechnet dem Geburtsjahr des Kinos also – hatte Bergson argumentiert, dass Wahrnehmung, Bewusstsein und Erinnerung nicht im Dienste der Erkenntnis, sondern allein im Dienste des Handelns stehen.18 Die menschliche Wahrnehmung ist Bergson zufolge somit sensomotorisch veranlagt, was bedeutet, dass der jeweils wahrgenommene Gegenstand stets nur mit Blick auf eine künftige Handlung registriert wird. Ähnlich verhält es sich mit der Erinnerung, da unter Normalbedingungen jeweils nur diejenigen Erinnerungen abgerufen werden, die für eine zukünftige Aktivität relevant sind. Wahrnehmung und Erinnerung greifen auf diese Weise stets ineinander und versorgen den Akteur mit denjenigen (gegenwärtigen und vergangenen) Bildern, die für das Handeln von Nutzen sind, so dass sich hier von einem sensomotorischen Kontinuum – d.h. »einem kombinierten System von Empfindungen und Bewegungen« (Bergson 1964, 154) – sprechen lässt. Zudem betont Bergson, dass sich die ganze Vergangenheit von Rechts wegen in sich selbst erhält und (virtuell) mit der Gegenwart koexistiert, sich jedoch nur unter der Bedingung aktualisieren lässt, dass sie einen gegenwärtigen Nutzen erfüllt. Mit Bergson lässt sich somit konstatieren, dass die ontologische Koexistenz von Gegenwart und Vergangenheit erst dann wirklich erfahrbar werden kann, wenn sich die sensomotorischen Verbindungen lockern und die virtuelle Vergangenheit nicht länger von aktuellen Handlungsabsichten vereinnahmt wird. Nun ist es unschwer zu erkennen, auf welche Weise diese zweiteilige These für Deleuzes Kinobücher von Bedeutung ist: Das Motiv des sensomotorischen Kontinuums findet sich insbesondere im ersten Band (in Bezug auf das klassische Kino des Bewegungs-Bildes) wieder, während die komplexere These von der ontologischen Koexistenz von Gegenwart und Vergangenheit im zweiten Band (in Bezug auf das Zeit-Bild) auftaucht. Wenn Deleuze die zeitphilosophischen Ansichten Bergsons aufgreift und für seine Kinothesen nutzbar macht, so tut er dies jedoch unter Aussparung ihrer bewusstseinstheoretischen Implikationen: Gegenwart und Vergangenheit, Aktualität und Virtualität »materialisieren« sich im Kinobild gewissermaßen, so dass ihre Koexistenz – anders als dies Bergson aufgrund der Beschränkungen des menschlichen Bewusstseins weithin angenommen hatte19 – einsehbar wird. »Sicher liefert [der Film] auch einen Schnitt, aber einen beweglichen, keinen unbeweglichen Schnitt plus abstrakte Bewegung« (15). 18 Vgl. Bergson 1964, 225: »[U]nser Körper ist ein Werkzeug des Handelns und nur des Handelns. In keinem Grade, in keinem Sinn, unter keiner Form dient er dazu, eine Vorstellung vorzubereiten, und noch weniger sie zu erklären«. 19 Allerdings geht Bergson davon aus, dass die menschliche Wahrnehmung nicht vollständig durch die praktischen Erfordernisse des täglichen Lebens vereinnahmt wird. So verweist etwa der Begriff der »Intuition« (Bergson 2000, 183) auf die Möglichkeit eines anderen Zugangs zur Wirklichkeit. Zudem geht Bergson davon aus, Kunst und Philosophie könnten zu einer Intensivierung und Erweiterung der Wahrnehmung beitragen: »Die Kunst läßt uns ohne Zweifel in den Dingen mehr Qualitäten und Nuancen entdecken, als wir für gewöhn-
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Wie aber lässt sich jene Koexistenz von Gegenwart und Vergangenheit, Aktualität und Virtualität, konkret begreifen? Hier ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Deleuze den Gedanken nicht erst in seinen Kinobüchern aufgreift, sondern ihn zuvor schon in mehreren anderen Texten behandelt hat – so etwa auch in Differenz und Wiederholung, was bereits an anderer Stelle mit Blick auf die »passiven Synthesen der Zeit« thematisiert wurde (vgl. Teil I, Kap. 2.2). Schon in der Bergson-Studie von 1966 heißt es: »Wir sind einfach zu sehr gewohnt, in Termen des ›Gegenwärtigen‹ zu denken. Wir glauben, ein Gegenwärtiges sei erst dann vergangen, wenn es von einer anderen Gegenwart ersetzt worden sei. Aber bedenken wir doch einmal: Wie sollte eine neue Gegenwart auftauchen, wenn nicht die alte Gegenwart, die aber gegenwärtig ist, im gleichen Atemzug verginge? Wie sollte irgendeine Gegenwart vergehen, die nicht im gleichen Atemzug schon als Gegenwart vergangen wäre? Das Vergangene könnte sich niemals konstituieren, wenn es sich nicht schon vorweg, zu dem Zeitpunkt, an dem es gegenwärtig war, konstituiert hätte. Dies ist gleichsam das Grundverhältnis der Zeit und das größte Paradox des Gedächtnisses: Die Vergangenheit ist eine Zeitgenossin der Gegenwart, die gewesen ist.« (HB 78)
Der Bergson entlehnte Grundgedanke von Deleuzes Zeitphilosophie ist also folgender: Die Gegenwart könnte nie vergehen, wäre sie nicht zur Zeit ihres Gegenwärtigseins bereits gleichzeitig als Vergangenheit konstituiert. Die Zeit teilt sich demnach in jedem Augenblick in Gegenwart und Vergangenheit auf: in eine aktuelle Gegenwart, die vorübergeht, und eine virtuelle Vergangenheit, die sich erhält. Deleuze spricht in diesem Zusammenhang von einer »Spaltung« der Zeit in zwei Strahlen, die dissymmetrisch verlaufen (ZB 111), aber nichtsdestotrotz miteinander koexistieren: »Die Vergangenheit ist eine Zeitgenossin der Gegenwart« (HB 78). In seinem zweiten Kinoband zeigt Deleuze eine Reihe ästhetischer Verfahren auf, mittels derer diese Zeitgenossenschaft von aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit – »die grundlegendste Operation der Zeit« (ZB 111) – kinematographisch zum Ausdruck gelangt. Als einfaches Beispiel dafür, wie sich die Darstellung zeitlicher Koexistenz im Kino umsetzen lässt, kann Alain Resnais’ Hiroshima mon amour von 1959 genannt werden. In Resnais’ Spielfilmdebüt kommt es in der japanischen Stadt Hiroshima zur Begegnung einer Französin und eines Japaners, die eine Liebesnacht miteinander verbringen. Beide sind verheiratet und in ihren Beziehungen nicht unglücklich, weshalb das Geschehen weitgehend auf der Stelle tritt: Ohne gemeinsame Pläne für die Zukunft und mit dem Wissen, dass der Affäre mit der Abreise der Französin am Folgetag ein rasches Ende bereitet wird, bewegen sich die Charaktere ziellos in einer Gegenwart, der sie auf eigentümliche Weise äußerlich bleiben. Die aktuelle Gegenwart des Zusammentreffens der beiden Figuren wird dabei jedoch permanent von virtuellen Erinnerungsbildern heimgesucht, die z.B. den Atombombenabwurf auf Hiroshima und die Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg betreffen. Obwohl die lich darin wahrnehmen […]. Durch die Philosophie können wir uns daran gewöhnen, die Gegenwart niemals von der Vergangenheit zu isolieren, die sie hinter sich herzieht […]. Alles, was in unserer Wahrnehmung unbeweglich und wie vereist war, erwärmt sich und kommt in Bewegung« (178-179).
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qualvollen Erinnerungen an die Zeit des Krieges beiden Charakteren gemeinsam sind – die Französin verlor damals ihren deutschen Geliebten, während die Familie des Japaners dem Atombombenabwurf auf Hiroshima zum Opfer fiel –, stellt sich ihr Verhältnis als durchweg inkommensurabel dar. Beide Figuren scheinen derart in ihrer jeweiligen Vergangenheit eingesperrt zu sein, dass sich eine Isolierung der wahrgenommenen (aktuellen) Situation von der (virtuellen) Vergangenheit, die mit dem gegenwärtigen Geschehen koexistiert, als unmöglich erweist.20 Ein Mindestmaß an Kommunikation wird lediglich dadurch realisiert, dass sich der Japaner nach und nach in die Vergangenheitsschicht der Französin hinüberziehen lässt und die Rolle ihres toten deutschen Geliebten übernimmt, mit dem er zunehmend zu verschmelzen scheint. Mit Deleuze lässt sich somit formulieren, dass es in Resnais’ Film zu einer derartigen Überlagerung von aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit kommt, dass zwischen beiden Zeitschichten mitunter nicht mehr unterschieden werden kann. Zwar lassen sich die groben Verläufe der Zeit noch halbwegs rekonstruieren, da Resnais mir Rückblenden arbeitet, die zwar übergangslos einsetzen (und daher eine kurze Irritation bewirken), sich im Gesamtverlauf des Films aber vom aktuellen Geschehen abheben. In einzelnen Szenen jedoch wird – trotz noch so analytischer Betrachtung – nicht klar, ob die Französin mit ihrer Rede den jetzigen oder den toten Geliebten adressiert, was die Überlagerung von Wahrnehmung und Erinnerung, Aktualität und Virtualität, erneut unterstreicht: Die zeitliche Sukzessionslogik wird folglich durch eine Logik der Simultanität ersetzt, worauf auch Achim Haag hinweist, wenn er erläutert, Resnais stelle »die lineare Zeitstruktur in Frage« (Haag 1995, 262). Mehr noch als für Hiroshima mon amour gilt dies indes für Resnais’ nächste Regiearbeit, den Klassiker L’année dernière à Marienbad (1961), der unter Mitarbeit des Schriftstellers Alain Robbe-Grillet entstanden ist und in dem die lineare Zeitordnung vollends zusammenbricht. Der Film handelt von der Begegnung zwischen einer als A bezeichneten Frau und einem als X bezeichneten Mann in einer prunkvollen Hotelanlage. Im Verlaufe des Films versucht X (der Mann) A (die Frau) davon zu überzeugen, sie hätten sich am gleichen Ort bereits vor einem Jahr kennengelernt und wären damals mit der Absicht, sich in einem Jahr wiederzutreffen, um ein gemeinsames Leben zu führen, eine Affäre eingegangen. A, die von einem anderen (als M bezeichneten) Mann begleitet wird, streitet dies ab und behauptet, X nicht zu kennen. Diese simple Konstellation – gewissermaßen der Plot des Films – erklärt allerdings nicht, weshalb der Film auch heute noch von Interesse ist. L’Année dernière à Mari20 Wie in vielen von Resnais’ Filmen wird allerdings auch in Hiroshima, mon amour deutlich, dass das Andauern der Vergangenheit nicht allein auf die persönlichen Erinnerungen einzelner Individuen rückführbar ist, sondern »die Voraussetzungen der Psychologie überschreitet« (ZB 158). Der Zweite Weltkrieg, der Atombombenabwurf auf Hiroshima und vor allem der Holocaust (dem sich Resnais in seinem Kurzfilm Nuit et brouillard gewidmet hat) sind für Deleuze daher als Ereignisse von überpersönlichem Ausmaß zu fassen, die den Kontext des Denkens verändert und Spuren im »Welt-Gedächtnis« (158) hinterlassen haben. Vgl. hierzu auch ZB 269: »Daß das Denken etwas mit Auschwitz und Hiroshima zu tun hat, haben nicht nur die großen Philosophen und Schriftsteller nach dem Krieg gezeigt, sondern ebensosehr die großen Autoren des Kinos, von Welles bis Resnais: und zwar mit besonderer Ernsthaftigkeit«.
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enbad eignet sich in diesem Sinne gut zur Veranschaulichung von Deleuzes These, nach der der Plot aufgrund des Zusammenbruchs der zeitlichen Sukzessionslogik und des sensomotorischen Schemas im Kino des Zeit-Bildes zunehmend an Bedeutung verliert, so dass sich dessen ästhetische Relevanz fortan in anderer Hinsicht unter Beweis stellen muss. Was den Film nun anstelle der Handlung charakterisiert, ist die Tatsache, dass er den Zuschauer in einer permanenten Unsicherheit über die tatsächlichen Geschehnisse vor einem Jahr belässt. Anders als in Hiroshima mon amour wird nun auch nicht mehr von Rückblenden Gebrauch gemacht – zumindest bleibt vollkommen unklar, »was eine Rückblende und was keine ist« (ZB 163) –, weshalb der Versuch, die Chronologie der Ereignisse zu rekonstruieren, notwendigerweise scheitern muss. Anstatt mit konventionellen Rückblenden arbeitet der Film mit falschen Bildanschlüssen und lässt Bild und Ton auf oftmals irritierende Weise auseinander treten, so etwa wenn ein kontinuierlicher Monolog von X mit einer scheinbar diskontinuierlichen Bildfolge einhergeht (oder wenn A während eines andauernden Dialogs abwechselnd mit einem schwarzen und einem weißen Kleid gezeigt wird). Durch Stilmittel wie diese entsteht der Eindruck, die Handlung sei aus verschiedenen Zeitschichten – den aktuellen Ereignissen und denen aus dem letzten Jahr – zusammengesetzt. Eine klare Entscheidung der Frage, welche Bilder mit welcher Zeitschicht korrespondieren (d.h. auch: wann es sich um Wahrnehmungen und wann es sich um Erinnerungen handelt), wird jedoch selbst dem aufmerksamen Zuschauer nicht ermöglicht. Der Zusammenbruch der linearen Zeitordnung lässt somit nicht nur die Zeit aus den Fugen geraten, sondern stürzt auch das klassische Wahrheitsideal in die Krise.21 Anders gesagt: Ebenso wie die Unterscheidung von Aktualität und Virtualität scheitert, bleibt auch die Frage, ob es sich um »wahre« oder »falsche« (reale oder imaginäre) Bilder handelt, in L’Année dernière à Marienbad ohne klärende Antwort. Deleuzes Unterscheidung zwischen klassischem und modernem Kino lässt sich an dieser Stelle daher folgendermaßen zusammenfassen: Während sich das klassische Kino in der Regel sowohl durch die lineare Zeitordnung als auch durch das Wahrheitsideal definiert, steht beides im modernen Kino in Frage. Wie Deleuze diesbezüglich mit Verweis auf Nietzsche erläutert, wird das Kino des Zeit-Bildes von einer »Macht des Falschen« (175) heimgesucht, so dass der Zuschauer über den Status der gezeigten Bilder weitgehend im Unklaren gelassen wird.22 21 Diese »Krise der Wahrheit« manifestiert sich durchaus auch im amerikanischen Film, was sich etwa am Beispiel des Kriminal- und Gerichtsfilmgenres verdeutlichen lässt. So kommt es besonders seit der Nachkriegszeit vermehrt zu Filmen, in denen eine Verurteilung ausbleibt, da der Tathergang und die Schuldfrage nicht geklärt werden können. In Sidney Lumets 12 Angry Men (1957) z.B. wird ein puerto-ricanischer Jugendlicher des Mordes verdächtigt. Nach zähen Beratungen plädieren die zwölf Geschworenen auf »nicht schuldig«, da immer mehr Zweifel an dem zunächst scheinbar offenkundigen Tathergang laut werden. Die Frage jedoch, ob der Jugendliche die Tat begangen hat oder nicht, bleibt offen. 22 Die Krise der Wahrheit und die Macht des Falschen sind Themen, die schon in Deleuzes Nietzsche-Studie von 1962 eine wichtige Rolle spielen. Wenn Deleuze bereits dort von einer Macht des Falschen spricht (vgl. NP 112), dann erklärt sich dies aus der Absicht, das Falsche aus der rein negativen Bestimmung als »Irrtum« herauszulösen und es stattdessen als positive Kraft zu konzipieren, die – z.B. in der Kunst – zur Entwicklung »neuer Möglichkeiten des Lebens« (113) beitragen kann. In Das Zeit-Bild wird die Krise der Wahrheit
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4.3 AKTUALITÄT
UND
V IRTUALITÄT
Im Zusammenhang mit der kinematographischen Koexistenz von Aktualität und Virtualität (sowie ihrer faktischen Ununterscheidbarkeit) kommt dem Begriff des »Kristallbildes« im zweiten Band von Deleuzes Kinobuch eine Schlüsselrolle zu (vgl. ZB 95-131).23 Dabei liefert ihm der aus der Festkörperphysik stammende Begriff des Kristalls eine Reihe von Analogien, die dazu dienen, Aspekte einer in zeitlicher Hinsicht komplexen Bildlichkeit anschaulich zu machen, deren »innere« Divergenz – wie im Falle des physikalischen Kristalls – nach außen hin weitgehend verborgen bleibt.24 Was das Kristallbild in erster Linie charakterisiert (und es zugleich von anderen Bildtypen wie dem Traum- oder Erinnerungsbild unterscheidet), ist die Tatsache, dass es Gegenwart und Vergangenheit, Aktualität und Virtualität, Realität und Imagination als objektiv ununterscheidbar präsentiert. Insofern das Prinzip der Ununterscheidbarkeit somit eine faktische Eigenschaft des entsprechenden Bildes ausmacht, wird es von Deleuze als »objektive Illusion« (ZB 96) bestimmt, die nicht dem subjektiven Betrachter zugeschrieben werden kann: »Die Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem, von Gegenwärtigem und Vergangenem, von Aktuellem und Virtuellem entsteht folglich keineswegs im Kopf oder im Geist, sondern ist das objektive Merkmal gewisser existierender Bilder, die von Natur aus doppelt sind« (97). Neben diesem »Doppelungscharakter«, der mit der These von der zeitlichen Koexistenz von Aktualität und Virtualität korrespondiert (jeder Moment ist gleichzeitig gegenwärtig und bereits vergangen), weist das Kristallbild zudem die Besonderheit auf, Aktualität und Virtualität als permanenten Kreislauf oder »Austausch« (97) zu präsentieren. Dies lässt sich erneut anhand von Hiroshima mon amour erläutern. Denn je mehr der (aktuelle) japanische Geliebte hier mit dem (virtuellen) deutschen Soldaten verschmilzt, je stärker sich dieser also in ihm aktualisiert, umso mehr tritt zugleich seine (japanische) Aktualität zurück und wird zunehmend virtuell. Aktualität und Virtualität lassen sich demnach nicht klar voneinander abgrenzen, sondern befinden sich in einem wechselseitigen Austauschprozess, in dem sich das Virtuelle
zudem mit der Zeitproblematik verknüpft: »Betrachtet man die Geschichte des Denkens, dann stellt man fest, daß die Zeit beständig den Begriff der Wahrheit in die Krise geführt hat« (ZB 173). 23 Die Bedeutung des Kristallbildes im zweiten Kinobuch lässt sich u.a. dadurch erklären, dass es auf die drei direkten Zeitbilder verweist, die Deleuze zufolge das Modell des Bewegungs-Bildes ablösen, dem nur eine indirekte Repräsentation der Zeit möglich war. Eine genaue Nachzeichnung des kompletten typologischen Schemas der Kinostudie würde über den Rahmen der vorliegenden Untersuchung allerdings deutlich hinausgehen, so dass nicht auf alle von Deleuze erwähnten Bildtypen eingegangen werden kann. Wenn es im Folgenden dennoch zu einer vergleichsweise ausführlichen Diskussion des Kristallbildes kommt, so ist dies auch deshalb der Fall, weil sich hierdurch die Gelegenheit zu einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses von Aktualität und Virtualität bietet. 24 Zu den diversen Analogien zwischen den Kristallen aus der Festkörperphysik und Deleuzes Konzeption des Kristallbildes, vgl. Schaub 2003b, 129-131. Schaub behandelt außerdem Leibniz’ Modell der Kristallpyramide aus dessen Theodizee, wo an den Kristallbegriff ebenfalls in dezidiert zeitlicher Hinsicht angeknüpft wird (vgl. 148-161).
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aktualisiert, während das Aktuelle in einen Prozess der Virtualisierung eintritt. Dementsprechend heißt es bei Deleuze: »Verschiedenartig aber ununterscheidbar sind das Aktuelle und das Virtuelle, die sich unentwegt austauschen. Wenn das virtuelle Bild aktuell wird, dann ist es sichtbar und rein wie im Spiegel oder in der Festigkeit des vollendeten Kristalls. Aber das aktuelle Bild wird seinerseits virtuell, sieht sich auf anderes hin verwiesen, unsichtbar, undurchsichtig und dunkel wie ein kaum aus dem Boden gewachsener Kristall.« (ZB 98)
Den Aspekt der Gleichzeitigkeit von (analytischer) Trennung und (faktischer) Verschränkung, der für das Verhältnis von Aktualität und Virtualität charakteristisch ist, teilt Deleuzes Analyse mit derjenigen Bergsons, der die bewusste Wahrnehmung als »Stromkreis« bezeichnet (Bergson 1964, 125), in dem sich Wahrnehmung und Erinnerung derart überlagern, dass sie praktisch nicht zu unterscheiden sind.25 Die Ununterscheidbarkeit von Aktualität und Virtualität bezeichnet bei Bergson somit in erster Linie den Eingriff des Gedächtnisses in die Wahrnehmung. In Deleuzes Kinobüchern dagegen tritt der wahrnehmungstheoretische Kontext weitgehend in den Hintergrund, wobei die Begriffe Aktualität und Virtualität nun der Analyse von Zeitverhältnissen dienen, die in unterschiedlichen Typen des kinematographischen Bildes zum Ausdruck gelangen. Dabei orientiert sich Deleuze zwar noch an Bergsons Handhabung des Begriffspaars aktuell/virtuell, nach der die Virtualität auf die Seite der Vergangenheit oder der »reinen Erinnerung« (236) und die Aktualität auf die Seite der Gegenwart oder der Wahrnehmung gehört; im Zuge der Überlegungen zum Kristallbild und der entsprechenden Qualifizierung aktueller und virtueller Bilder erfährt dieser Rahmen jedoch eine merkliche Ausweitung, wobei Aktualität und Virtualität als ontologische Kardinalbegriffe kenntlich werden, die sich von keiner anderen begrifflichen Entgegensetzung ableiten lassen. Anders gesagt: In Deleuzes Philosophie stellt der zeittheoretische Aspekt nur eine Facette des Verhältnisses von Aktualität und Virtualität dar, das vielmehr als die ontologische Grundunterscheidung fungiert und die zeitliche Differenzierung von Gegenwart und Vergangenheit lediglich als eine ihrer Komponenten enthält.26 Dies erklärt auch, weshalb Deleuze im Zuge seiner Überlegungen zum Kristallbild bisweilen den zeittheoretischen Kontext verlässt und das Begriffspaar aktuell/virtuell mit Paarungen wie real/imaginär oder rein/undurchsichtig korrespondieren lässt. So erläutert er die Verschränkung von aktuellen und virtuellen Bildelementen im Kristallbild u.a. auch am Beispiel des Spiegelbildes. Denn »das Spiegelbild«, so Deleuze, »ist in bezug auf die aktuelle Person, die es einfängt, virtuell, aber zugleich ist es aktuell im Spiegel, der von der Person nicht mehr als eine einfache Virtualität zurückläßt und sie aus dem Bild – hors-champ – verdrängt« (ZB 97). Dies illustriert Deleuze am Beispiel der berühmten Spiegelkabinettszene aus Welles’ Film-Noir-Klassiker The Lady from Shanghai, in der »die vervielfältigten 25 Vgl. Bergson 1964, 125: »[J]edes Erinnerungsbild, das zur Interpretation unsrer aktuellen Wahrnehmung dienen kann, weiß sich so vollkommen in sie einzuschieben, daß wir nicht mehr entscheiden können, was Wahrnehmung und was Erinnerung ist«. 26 Die begriffliche Entgegensetzung von Aktualität und Virtualität zieht sich durch Deleuzes gesamte Philosophie. Siehe – neben dem zweiten Kinoband – vor allem die programmatischen Ausführungen in Differenz und Wiederholung (DW 264-279).
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Spiegel die Aktualität zweier Personen annehmen, welche diese nur wiederzuerlangen vermögen, indem sie sämtliche Spiegel zu Bruch gehen lassen, sich Seite an Seite wiederfinden und sich gegenseitig töten« (ZB 97-98). Zwar ließe sich argumentieren, dass das Ununterscheidbarkeitsprinzip in The Lady from Shanghai letztendlich wieder aufgehoben wird; vor dem Bersten der Spiegel befinden sich die Filmcharaktere jedoch in derselben Unklarheit über den Status der auftauchenden Bilder wie die Zuschauer im Kinosaal, weshalb Deleuze die Szene als »perfektes Kristallbild« (97) begreift. Aufgrund der besonderen Relevanz, die dem Begriffspaar aktuell/virtuell in Deleuzes Philosophie zukommt, ist es sinnvoll, den Status jener Unterscheidung – und zwar nicht nur in Bezug auf die Kinobücher – an dieser Stelle genauer zu bestimmen. Dadurch, dass der Begriff des Virtuellen eine Zusammensetzung darstellt, die auf unterschiedliche philosophische Einflüsse zurückgeht, ist es jedoch nicht einfach, zu einer eindeutigen Definition zu gelangen. So versteht Deleuze das Virtuelle (zusätzlich zur zeitphilosophischen Lesart des Begriffs) etwa auch im ontogenetischen Sinne als das präindividuelle Element des Seins, das sich im Rahmen komplexer raumzeitlicher Dynamiken aktualisiert und somit zugleich individuiert. Der Prozess der Aktualisierung lässt sich daher einerseits im Sinne Bergsons als zeitliche »Vergegenwärtigung« begreifen, andererseits aber auch als ontogenetischer Individuierungsprozess im Sinne Gilbert Simondons, dessen Philosophie das Denken von Deleuze ebenfalls maßgeblich beeinflusst hat.27 Dass Deleuzes Begriff des Virtuellen aus derart heterogenen Anteilen zusammengesetzt ist, bedeutet allerdings nicht, dass er gänzlich unbestimmt wäre. Um seine spezifischen Besonderheiten zu erfassen, ist es jedoch notwendig, ihn von gleichlautenden Konzeptionen abzugrenzen, die in einem prinzipiell anderen Kontext stehen. So sollte mittlerweile deutlich geworden sein, dass sich Deleuzes Auslegung des Begriffs wesentlich von den Ansätzen postmoderner Theoretiker unterscheidet, die ihn primär in Bezug auf die »virtuelle Realität« in der heutigen Mediengesellschaft verwenden.28 Im Rekurs auf Deleuze wäre es dagegen passender, anstelle von virtueller Realität von der Realität des Virtuellen zu sprechen.29 Denn wie Deleuze mehrfach mit Verweis auf Proust erläutert hat, versteht er das Virtuelle durchaus als »real«, auch wenn es sich – ontologisch betrachtet – vom Aktuellen un27 Zum Problem des Präindividuellen sowie zum Prozess der Individuierung, vgl. Toscano 2006, wo diesbezüglich die Philosophien von Deleuze und Kant gegenübergestellt werden. Mit dem Denken Simondons hat sich Deleuze u.a. in dem Text »Gilbert Simondon, das Individuum und seine physikobiologische Genese« auseinandergesetzt (vgl. EI 127-132). 28 Dennoch haben mittlerweile eine Reihe von Medientheoretikern an die Konzeption von Deleuze angeknüpft (siehe Lévy 1998). Zu den Unterschieden zwischen Deleuzes Begriff des Virtuellen und den postmodernen Überlegungen zur virtuellen Realität, vgl. auch Hallward 2006, 30: »The virtual is no doubt the single most important and most elusive notion in Deleuze’s philosophy. The recent evolution of the word’s general meaning (in phrases like ›virtual reality‹) unhelpfully associates it with the artificial or merely apparent; readers would do better to retain something of the older, now archaic meaning of the word, which relates it to the possession of inherent virtues or powers«. 29 Hier lässt sich ein Begriff des Soziologen Manuel Castells aufgreifen, der in seinem Buch Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft von der »Kultur der realen Virtualität« spricht (vgl. Castells 2001, 425-429).
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terscheidet: »Das Virtuelle steht nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen gegenüber. Das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles. Vom Virtuellen muß genau das gesagt werden, was Proust von den Resonanzzuständen sagte: Sie seien ›real ohne aktuell zu sein, ideal ohne abstrakt zu sein‹« (DW 264). Wenn das Virtuelle und das Aktuelle demzufolge beide in die Kategorie des Realen gehören, dann lässt sich umgekehrt »die Realität« stets als Zusammensetzung aktueller und virtueller Elemente verstehen, so dass die Möglichkeit der Erfahrung einer vollständig aktualisierten Realität (eines »Dinges an sich«, wie es bei Kant heißt) kategorisch ausgeschlossen wird.30 Dies heißt auch, dass jede Realität von Rechts wegen mehr beinhaltet als in der jeweiligen Situation aktuell gegeben ist. Und genau dieses »mehr« ist Deleuze zufolge die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zu Werdens- und Entwicklungsprozessen, d.h. einer Produktion und Entfaltung des Neuen kommen kann. Wie aber unterscheidet sich Deleuzes ontologische Virtualitätskonzeption nun von den postmodernen Überlegungen zum Thema der virtuellen Realität? Um einige der offenkundigsten Differenzen deutlich zu machen, bietet es sich an, die Position von Deleuze derjenigen von Jean Baudrillard gegenüberzustellen, der mit Begriffen wie »Simulation« und »Hyperrealität« bekannt geworden ist und – wie Deleuze – in der Regel dem französischen Poststrukturalismus zugeordnet wird. Obwohl Baudrillards Sicht auf das digitale Zeitalter wesentlich pessimistisch ist, gehören seine Thesen über die Simulation zu den einflussreichsten Charakterisierungen der virtuellen Realität und haben eine nachhaltige Rolle im medientheoretischen Diskurs der Postmoderne gespielt.31 Baudrillard zufolge bringt es die forcierte Medialisierung fast sämtlicher Lebensbereiche seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit sich, dass die »reale« Realität hinter eine simulierte Hyperrealität zurücktritt, in der es unmöglich wird, zwischen dem Abbild und der realen Welt, dem Simulakrum und dem Original zu unterscheiden. Das Reale wird demnach von Trugbildern verdrängt, die keine Referenz mehr besitzen und als bloße Oberflächenphänomene die (postmoderne) Welt vollständig vereinnahmt haben. In Baudrillards Hauptwerk Der symbolische Tausch und der Tod heißt es folglich, dass das Realitätsprinzip im »Zeitalter der Hyperrealität« (Baudrillard 1991, 117) durch das Prinzip der Simulation ersetzt worden ist: »Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen« (113). Baudrillards Auffassung vom Verschwinden der Realität in der Simulation lässt sich dementsprechend als zeitdiagnostische These über die heutige Mediengesellschaft verstehen, während das Reale bei Deleuze von Rechts wegen – d.h. unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext – aus aktuellen und virtuellen Teilen be30 Vgl. AV 249: »Jede Vielheit schließt aktuelle und virtuelle Elemente ein. Es gibt keinen rein aktuellen Gegenstand. Jedes Aktuelle umgibt sich mit einem Nebel von virtuellen Bildern«. 31 Tim Jordan (1999) hat argumentiert, dass mediale Entwicklungen wie das Internet meist auf zwei konträre Weisen interpretiert werden: entweder als utopische Hervorbringung neuer Möglichkeiten, durch die die Beschränkungen der körperlichen Existenz zu überwinden seien (das »Heaven«-Szenario); oder im Sinne einer dystopischen Zunahme von Disziplinar- und Kontrolltechniken, die die Freiheit und Privatsphäre des Einzelnen zunichtemachten (das »Hell«-Szenario). Trotz gewisser Ambivalenzen wäre Baudrillard eher der zweiten Gruppe zuzuordnen.
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steht.32 Zwar würde Deleuze kaum der Auffassung widersprechen, dass die massive Reproduktion und Verbreitung von Texten, Bildern und Klängen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer tiefgreifenden Transformation althergebrachter Lebensweisen und Gewohnheiten geführt hat; die modische Rede vom »Verschwinden der Realität« (Blask 2002, 23) ergibt aber dann keinen Sinn, wenn, wie bei Deleuze, ein immer schon hybrider Realitätsbegriff vorliegt, der eben auch das Virtuelle als Reales behandelt. Anders als Baudrillard, dessen Zeitdiagnose unverkennbar nostalgische Züge trägt (auch wenn der Gegenstand dieser Nostalgie nicht unmittelbar transparent ist33), geht Deleuze davon aus, dass prinzipiell jede Gesellschaft Simulakren absondert und jede Wahrnehmung von Erinnerungsbildern durchsetzt ist, so dass es grundsätzlich keinen Zugang zu einer vollständig aktualisierten, nicht-virtuellen Realität geben kann34 – unabhängig davon, ob man es mit der digitalen Mediengesellschaft von heute oder irgendeiner anderen Gesellschaftsformation zu tun hat. Diese fundamentale Differenz zwischen Deleuze und Baudrillard – die auch mit zwei unterschiedlichen Konzeptionen des Simulakrums korrespondiert – hat Claire Colebrook folgendermaßen zusammengefasst: »Jean Baudrillard argues that media culture has reduced everything to surface images with no reference to the real. Deleuze’s notion of the simulacra both resists the nostalgia that would want to go back to a time when life was ›more real‹ and rejects the idea that we now live in a postmodern world of mere images with no real causes. For Deleuze the simulacrum or image is real, and life is and always has been simulation – a power of production, creation, becoming and difference. The idea that all we have are mere representations or constructions of the world seems to posit some real world that is lost or unavailable. Whether we mourn or celebrate the postmodern loss of the real, both models assume that the simulacrum is not real, a mere copy. The simulacrum for Deleuze, however, […] is not the loss or abandonment of the real; it is the real.« (Colebrook 2002a, 101)
32 Etwa in diesem Sinne hat John Marks den Gebrauch des Deleuzeschen Virtualitätsbegriffs bei Pierre Lévy kritisiert: »The main problem with Lévy’s use of the virtual is that the metaphysical and ontological significance that the concept has in Deleuze’s thought is largely jettisoned in favour of a historical argument that outlines a continuing ontological shift« (Marks 2006a, 205). 33 Der Eindruck der Nostalgie rührt daher, dass Baudrillards Texte in ihrer quasi apokalyptischen Tendenz oftmals den Eindruck entstehen lassen, die Welt sei einst »realer«, d.h. unmittelbar erfahrbar gewesen. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass sich Baudrillards Nostalgie nicht auf die vermeintliche Realität einer ursprünglicheren Welt bezieht, sondern auf die Illusion, den Schein und die Fiktion, die allesamt auf die Existenz einer »realen« Realität angewiesen sind, ohne die auch sie nicht existieren könnten. Baudrillards nostalgischer Pessimismus liegt daher in der Annahme begründet, dass mit der Ersetzung der Realität durch eine simulierte Hyperrealität auch die Möglichkeit der Illusion – die er von der Simulation unterscheidet – verschwunden sei. Vgl. Baudrillard 1978a, 35: »Sowenig es möglich ist, eine absolute Ebene des Realen auszumachen, ist es möglich, Illusionen zu inszenieren. Beide Unmöglichkeiten gehören der gleichen Ordnung an. Da keine Realität mehr möglich ist, sind auch keine Illusionen mehr möglich«. 34 Vgl. hierzu auch Derrida 2001, 29: »[E]s gibt keine Erfahrung reiner Gegenwart«.
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Während es sich bei den Simulakren und Virtualitäten im postmodernen Denken in der Regel um Repräsentationen, d.h. um Spiegelungen handelt, die das aktuelle Objekt, auf das sie verweisen, überflüssig machen, verdrängen oder ersetzen, handelt es sich beim Virtuellen in der Philosophie von Deleuze stattdessen um das genetische Element, aus dem die aktuelle Realität jeweils erst hervortritt. Zwar trägt Deleuze auch dem Fall der Virtualisierung des Aktuellen Rechnung, was weiter oben anhand des kinematographischen Kristallbildes und am Beispiel des Spiegelkabinetts aus The Lady from Shanghai verdeutlicht wurde; das primäre Entwicklungsmodell jedoch, auf das Deleuze in seinen Schriften immer wieder rekurriert, betrifft den Prozess der Aktualisierung, d.h. die Hervorbringung des Aktuellen aus einer virtuellen Mannigfaltigkeit. Dementsprechend werden der Sphäre des Virtuellen in Differenz und Wiederholung auch Ideen und Strukturen zugerechnet, die in Abhängigkeit von den jeweiligen raumzeitlichen Bedingungen auf unterschiedliche Weise aktualisiert werden und sich in Sachverhalten und Dingzuständen verkörpern. Das Virtuelle gehört in diesem Sinne auf die Seite der »Problembedingungen«, während die Aktualisierungsprozesse »Lösungsfälle« darstellen (DW 235), die das Virtuelle allerdings nie gänzlich aus der Welt schaffen und jeweils nur eine von unzähligen möglichen Lösungen darstellen. Wie Deleuze in diesem Kontext betont, verfügt somit jede Gesellschaft stets über die Lösungen, welche sie verdient – »je nach Art und Weise, wie sie in ihren realen Relationen die Probleme zu stellen vermochte, die sich in ihr und für sie […] aufwerfen« (238). Wenn Deleuze Entwicklungs- und Werdensprozesse als Prozesse der Aktualisierung einer virtuellen Mannigfaltigkeit versteht, so richtet er sich insbesondere gegen die Annahme eines Entwicklungsmodells, in dem stets nur aktuelle Zustände auf lineare Weise aufeinander folgen. Beispielsweise ließe sich eine Revolution als aktuelles Ereignis verstehen, das einen anderen aktuellen Zustand – etwa eine Diktatur – ablöst. Deleuze jedoch würde behaupten, dass eine Revolution nicht allein aktuellen Bedingungen unterliegt, sondern zudem mit den virtuellen Problembedingungen korrespondiert, die darüber entscheiden, welche Erinnerungen, Ideen und Wünsche sich im Zuge eines jeweiligen historischen Ereignisses aktualisieren lassen. Ob eine Revolution als reale Option fungiert oder nicht, hängt somit zwar auch, aber eben nicht allein von aktuellen Bedingungen wie Armut, Ausbeutung, Repression, dem Organisationsgrad der Massen usw. ab. Wie Claire Colebrook betont, kann eine Revolution nicht lediglich als Reaktion auf historische »Umstände« verstanden werden, da sie zugleich auf je spezifische Weise das virtuelle Potential oder die Idee der Revolution an sich aktualisiert: »the English revolution, the French revolution, the Russian revolution, are specific and different only because actuality is the expression of an Idea of revolution which can repeat itself infinitely« (Colebrook 2005, 10-11). Dass Deleuze von der Vorgängigkeit virtueller Ideen ausgeht, die sich im gelebten Leben aktualisieren, bedeutet allerdings nicht, dass diese auch als transzendent zu verstehen sind. Denn anders als bei den platonischen Ideen existiert das Virtuelle bei Deleuze nicht als transzendentes Urbild in einem fernen Ideenhimmel, von wo aus es nachträglich auf die Welt der Menschen hinabsinkt, um sich – mehr schlecht als recht – in den Handlungen und Relationen realer Individuen zu verkörpern. Einem derartigen Essentialismus begegnet Deleuze mit einem Perspektivismus, der Virtuelles und Aktuelles in einem dynamischen Verhältnis verortet. Erneut spielt hier der Koexistenzgedanke aus der Zeitphilosophie Bergsons eine Rolle. Denn wenn jeder Moment
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gleichzeitig gegenwärtig und bereits vergangen, d.h. aktuell und virtuell ist, lässt sich von Rechts wegen keine essentialistische Trennung von Aktuellem und Virtuellem vornehmen. Stattdessen kann z.B. von der Möglichkeit ausgegangen werden, dass ein vormals aktuelles Ereignis in Bezug auf ein späteres Geschehen als Virtualität fungiert, die sich den jeweiligen Bedingungen entsprechend erneut aktualisiert. So ließe sich etwa behaupten, dass die Russische Oktoberrevolution im Kontext der veränderten Klassen- und Machtverhältnisse des frühen 20. Jahrhunderts eine sozialistische »Aktualisierung« der Französischen Revolution darstellt, wobei dieser die Rolle des Virtuellen zukommt – was der vormaligen Aktualität des Ereignisses im Frankreich des 18. Jahrhunderts freilich keinesfalls entgegensteht. Das Verhältnis von Aktualität und Virtualität lässt sich in diesem Sinne als wesentlich reversibel verstehen, was erneut die Tatsache unterstreicht, dass Deleuzes Konzeption des Werdens ohne vorgängige Transzendenz auskommt und die Determinationskraft des Virtuellen nicht im Sinne einer transzendenten Bestimmung gedacht wird.35 Dies erklärt z.B. auch Deleuzes Kritik an der psychoanalytischen Konzeption des Unbewussten, in der der Ödipuskomplex als quasi transzendente Urszene fungiert. Stattdessen erfüllt das Unbewusste in der Konzeption von Deleuze alle Kriterien einer immanent gedachten Virtualität: Es ist real, ohne aktuell zu sein, ideal, ohne abstrakt zu sein, und anders als in der Konzeption Freuds verweist es auf keinerlei Transzendenz: »es gibt kein Unbewußtes, das bereits da ist; das Unbewußte muß produziert werden, und es muß politisch, gesellschaftlich, historisch produziert werden. Die Frage ist, an welchem Ort, unter welchen Umständen, durch welche Ereignisse es eine Produktion von Unbewußtem geben kann« (EI 398-399). Das Virtuelle wird somit nicht als festgelegter Ursprung gedacht, sondern verdankt seine Vorgängigkeit allein der Tatsache, dass es grundsätzlich keinen »wahren Anfang« (DW 169) gibt und jedes Handeln und Denken stets Voraussetzungen hat.36 Die Wiederholung der virtuellen Vergangenheit stellt für Deleuze folglich die Bedingung für die Produktion des Neuen dar, so dass die Aktualisierung des Virtuellen zugleich als Differenzierung und Wiederholung gedacht werden muss: als schöpferische Wiederholung nämlich, die gerade nicht »das Selbe« wiederholt, wie Deleuze mit Verweis auf Nietzsches ewige Wiederkehr betont (NP 55). In diesem Sinne gehört die prinzipielle Offenheit der Aktualisierungsprozesse zu den charakteristischsten Eigenschaften von Deleuzes Entwicklungsmodell. Denn anders als im Falle des aristotelischen PotenzAkt-Schemas, in dem die Realisierung des Möglichen nach dem Modell der Ähnlichkeit gedacht wird, setzt das Virtuelle nicht voraus, auf welche Weise es sich aktualisiert, so dass sich die Zukunft in vielerlei Hinsicht als unvorhersehbar und offen manifestiert. Elizabeth Grosz hat daher die Relevanz von Deleuzes Philosophie für ein 35 Zur Reversibilität von Aktualität und Virtualität, vgl. Boundas 2005, 297: »[B]ecoming is not a linear process from one actual to another; rather it is the movement from an actualised state of affairs, through a dynamic field of virtual/real tendencies, to the actualisation of this field in a new state of affairs. This schema safeguards the reversible nature of virtual and actual relations«. 36 Vgl. Williams 2003, 202: »[N]either the self nor the subject can be seen as foundations for thought since they presuppose other processes that undermine them […]. So, for Deleuze, the subject is not free – it is the product of virtual events that it can shape but never control fully«.
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Denken des Zukünftigen und eine »Politik der Zukunft« betont: »This is what time is if it is anything at all: not simply mechanical repetition, the causal effects of objects on objects, but the indeterminate, the unfolding and emergence of the new« (Grosz 2001, 230). Aus der vorangehenden Analyse ergibt sich, dass u.a. die von Peter Hallward lancierte These zurückzuweisen ist, die besagt, dass Deleuze keinen Raum für politische Veränderungen in der realen Welt lasse, da er die aktuellen Interessen der Individuen ignoriere und diese auf gänzlich passive Weise der Macht des Virtuellen ausliefere.37 Denn wie bereits erläutert wurde, müssen Aktualität und Virtualität als reversibel verstanden werden, weshalb von einer autonomen, virtuellen Sphäre, die von den aktuellen Handlungen realer Individuen vollkommen unbeeinträchtigt bliebe, bei Deleuze keine Rede sein kann. Ferner ist fraglich, ob die von Hallward ersehnte Politik des Konflikts, der Solidarität und Verantwortung tatsächlich nur die aktuelle Sphäre der realen Welt betrifft, ob also vermeintlich objektive »aktuelle Interessen« überhaupt von ihren virtuellen Voraussetzungen getrennt werden können. Wenn Hallward Deleuze als einen »spirituellen« Denker bezeichnet, dessen Philosophie aufgrund ihrer Privilegierung des Virtuellen kaum politisches Potential beinhalte, dann scheint er insbesondere die Realität des Virtuellen zu verkennen, d.h.: zu unterschätzen, wie sehr das Virtuelle bis in die kleinsten Einzelheiten hinein als Bestandteil der realen Welt begriffen werden muss. Es ist daher auch nicht ersichtlich, wie sich eigentlich eine Politik vorstellen ließe, die ausschließlich die aktuelle Sphäre der Realität – »the actually existing world as such« (Hallward 2006, 162) – betreffen würde. Wenn überhaupt von einer Politik der reinen Aktualität die Rede sein kann, dann wohl nur in dem Sinne, in dem Levi R. Bryant von einer »politics of the actual« spricht (Bryant 2004, 341): im Sinne einer Politik nämlich, die sich ausschließlich den aktuellen Interessengegensätzen sozialer Gruppen und Individuen widmet, ohne dabei deren virtuelle Konstitutionsbedingungen in den Blick zu nehmen.38 Unter dieser Voraussetzung jedoch stünde Deleuzes Konzeption der Virtualität gerade nicht für eine Abkehr von der Politik. Im Gegenteil: Insofern die von Bryant (in Anlehnung an Deleuze) konzipierte »Politik des 37 Vgl. Hallward 2006, 162-163: »First of all, since it acknowledges only a unilateral relation between virtual and actual, there is no place in Deleuze’s philosophy for any notion of change, time or history that is mediated by actuality […]. Deleuze’s work is essentially indifferent to the politics of this world […]. Since what powers Deleuze’s cosmology is the immediate differentiation of creation through the infinite proliferation of virtual creatings, the creatures that actualise these creatings are confined to a derivative if not limiting role. A creature’s own interests, actions or decisions are of minimal or preliminary significance at best«. 38 Gegen eine derartige Politik des Aktuellen plädiert Bryant (2004) für eine Politik des Virtuellen, da diese nicht nur auf den jeweils aktuellen Platzhalter eines Machtkonflikts abziele, sondern auf den Platz als solchen, d.h. auf die virtuelle Struktur, in die er jeweils eingebunden ist. Anders als Hallward geht Bryant daher auch nicht von quasi »authentischen« Interessen aus, sondern begreift die Interessen von Gruppen oder Individuen stets in Abhängigkeit von den entsprechenden Relationen innerhalb der virtuellen Struktur. Mit Verweis auf Lacan wird diese jedoch prinzipiell als »symbolische Ordnung« konzipiert, weshalb sich Bryants Position letztlich nur teilweise mit Deleuzes Ansatz deckt.
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Virtuellen« nicht allein auf der Basis bereits bestehender Strukturen operiert, könnten diese selbst zum Gegenstand einer Kritik werden, die nicht lediglich den Spielregeln der etablierten Ordnung gehorcht.39 Es würde dann nicht lediglich um die Abwägung konträrer Interessen von aktuellen Individuen oder Gruppen gehen, sondern auch darum, zu deren virtuellen Konstitutionsbedingungen vorzudringen, um somit eine nachhaltigere Form von Veränderung plausibel zu machen. Die Frage, inwiefern das Kino zu einer solchen Konzeption von Politik beitragen könnte, soll im nun folgenden Abschnitt diskutiert werden, der sich genauer der politischen Dimension von Deleuzes Kinobüchern widmet.
4.4 D IE P OLITIK
DES KINEMATOGRAPHISCHEN
B ILDES
Dass sich die beiden Kinobücher auch als politische Bücher verstehen lassen, zeigt sich schon allein an Deleuzes Begründung für die Zweiteilung der Studie. So ist an anderer Stelle bereits erwähnt worden, dass Deleuze den Übergang vom klassischen Kino des Bewegungs-Bildes zum modernen Kino des Zeit-Bildes nicht einfach als Faktum konstatiert, sondern für diesen Gründe nennt, die wesentlich politischer Natur sind. Hierzu gehört an erster Stelle die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs (mit all seinen Implikationen), die nicht zuletzt eine tiefgreifende Desillusionierung bezüglich der politischen Ideologien der Vorkriegszeit bewirkt hat, so dass sich auch die Frage nach den Bedingungen politischer Handlungsfähigkeit auf neue Weise stellte. D.N. Rodowicks Feststellung, dass sich die Funktion des politischen Kinos im Übergang zum Zeit-Bild gewandelt habe (Rodowick 2003, 152), ist somit hinzuzufügen, dass dieser Übergang selbst unmittelbar politisch motiviert gewesen ist. Hinsichtlich der politischen Dimension der Kinostudie ließe sich zudem die Frage stellen, mit welcher Art von »Politik« Deleuzes Diskurs über das Kino – die Motivation, der Zuschnitt und die Methode seiner filmphilosophischen Überlegungen – korrespondiert. Die Frage stellt sich etwa auch mit Blick auf die Differenzen, durch die sich Deleuzes Politik des Kinos von anderen Ansätzen unterscheidet. Zumindest im Kontext der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Spielarten der Filmtheorie kommt der Frage der Politik durchaus eine wesentliche Rolle zu, wobei hier aber – anders als bei Deleuze – vor allem repräsentationstheoretische Fragestellungen im Vordergrund stehen (vgl. Stam 2000, 225). Was Deleuzes Ansatz indes zuallererst von der filmanalytischen Praxis unterscheidet, die heute in den Cultural Studies dominiert, ist die kanonische Ausrichtung seiner Kinostudie, die ihn dezidiert als Anhänger des europäischen Autorenfilms ausweist. Zwar befasst sich Deleuze auch mit japanischen Regisseuren wie Ozu und Kurosawa, Amerikanern wie Griffith, Welles und Cassavetes oder Filmemachern wie Yilmaz Güney und Glauber Rocha, die sich dem von Fernando Solanas und Octavio Gettino proklamierten Third Cinema zuordnen lassen. Am ausführlichsten bezieht Deleuze sich jedoch auf Regisseure, deren Filme – wiederum mit Solanas und Gettino – der Programmatik des Second Cinema entsprechen,
39 Vgl. Bryant 2004, 341: »[I]t is the politics of the virtual that truly aims at the transformation of the configuration of power. For what the politics of the virtual seeks is the destruction of the very tablets of the law, or, put less dramatically, it seeks symbolic reconfiguration«.
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d.h. dem europäischen »Kunst«- oder »Autorenfilm«.40 Deutlich wird dies insbesondere im zweiten Kinoband, in dem Regisseure im Fokus stehen, die wie Rivette, Resnais, Godard, Rohmer, Rossellini, Antonioni oder Pasolini entweder der italienischen oder der französischen Filmtradition (dem Neorealismus oder der Nouvelle Vague) entstammen. Es verwundert daher nicht, wenn z.B. Robert Stam argumentiert, dass mit Deleuzes Affinität zu den grands auteurs des Films eine problematische Trennung von Hoch- und Kommerzkultur einhergeht, die der Praxis der Cultural Studies diametral entgegengesetzt ist. »Deleuze«, schreibt Stam, »inherits a heroic version of auteurism which emphasizes filmmakers themselves, surprising in a philosopher who always distanced himself from any notion of an empirical or transcendental ›subject‹. In Cinema I he contrasts the ›masterpieces‹ of the pantheon of great high modernist directors […] with the ›vast proportion of rubbish in cinematic production‹« (Stam 2000, 259).41 Was Deleuze darüber hinaus von den Cultural Studies unterscheidet, ist die Tatsache, dass der Frage der kinematographischen Repräsentation – von Schwarzen, Frauen, Homosexuellen oder anderen Minderheiten – in seiner Filmphilosophie vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt wird. Dies Deleuze vorzuwerfen hieße jedoch, sein Werk mit Problemen zu konfrontieren, die augenscheinlich nicht die seinen sind. So interessiert sich Deleuze grundsätzlich weniger für dasjenige, was im Bild dargestellt wird, als für das Bild selbst, d.h. für die spezifische »Form«, die das kinematographische Bild (als »Aktionsbild«, »Affektbild«, »Kristallbild« usw.) in seiner jeweiligen Konfiguration annimmt. Eine kinematographische Politik im Sinne von Deleuze dürfte sich somit nicht auf die Frage der Darstellung beschränken, sondern müsste auf der Ebene des Bildes selbst ansetzen und z.B. die Frage der zeit- und bewegungsspezifischen Strukturen thematisieren, von denen der jeweilige Film geprägt ist. Eine so verstandene Politik des kinematographischen Bildes korrespondiert folglich immer auch mit einer Politik der kinematographischen Zeit. Deleuzes diesbezügliche Haltung lässt sich etwa an der Art und Weise verdeutlichen, wie er sich am Ende des ersten Bandes seiner Studie über die Regisseure des amerikanischen Nachkriegsfilms (Altman, Scorsese, Lumet etc.) äußert, die sich mit der »Parodie des Klischees« begnügten, »anstatt ein wirklich neues Bild entstehen zu lassen«. Weshalb Deleuze dieses Verfahren für unzureichend hält, begründet er folgendermaßen: »Lawrence sagte bereits in bezug auf die Malerei: das Wüten gegen die Klischees bringt nicht viel, solange es sich darauf beschränkt, sie zu parodieren: auch wenn es zermalmt, verstümmelt und zerstört wird, steigt das Klischee früher 40 Den Kategorien First, Second und Third Cinema entsprechen somit der kommerzielle amerikanische Film, der europäische Autorenfilm und schließlich der »revolutionäre« Film der Dritten Welt (vgl. Solanas/Gettino 2000). 41 In der deutschen Fassung lautet die von Stam erwähnte Textpassage wie folgt: »Uns erscheint nicht nur eine Gegenüberstellung der großen Autoren des Films mit Malern, Architekten und Musikern möglich, sondern auch mit Denkern […]. Der enorme Anteil an Ausschuß in der Filmproduktion ist kein Einwand; er ist nicht schlimmer als anderswo, obwohl man die industriellen und ökonomischen Konsequenzen nicht vergleichen kann. Die großen Autoren des Films sind also nur verwundbarer, es ist unendlich viel leichter, sie an der Ausführung ihres Werks zu hindern« (BB 11-12). Vgl. hierzu auch das folgende Unterkapitel in der vorliegenden Studie (Teil I, Kap. 4.5).
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oder später aus seiner Asche wieder empor«. Eine effektive kinematographische Politik würde sich somit auch nicht lediglich als »Kritik« artikulieren, sondern benötigte »ein ästhetisches und politisches Projekt, das zur Begründung eines positiven Konzepts taugt« (BB 282). Worum es Deleuze also geht, ist nicht in erster Linie die vertretene Ideologie, die Frage der Repräsentation oder die Thematik eines Films, sondern die Art und Weise, wie ein Film »zu denken gibt«, wie er Wahrnehmung und Denken mit neuen Bildern konfrontiert, herausfordert und möglicherweise verändert. Hierzu passt auch Deleuzes Haltung gegenüber den feministischen Regisseurinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: »Die Autorinnen und Regisseurinnen sind nicht deshalb bedeutend, weil sie einen militanten Feminismus verträten. Was zählt, ist eher die Art und Weise, wie sie in das Kino neue Körper eingeführt haben, als ob die Frauen Macht gewinnen müßten über die Quelle ihrer eigenen Verhaltensweisen sowie über die Zeitlichkeit, die ihnen als individueller oder gemeinsamer Gestus entspricht.« (ZB 253-254)
Wenn Deleuzes Politik des Kinos dezidiert als Politik des »Bildes selbst« zu begreifen ist, dann stellt sich freilich die Frage, gemäß welchen Kriterien eine derartige Bildpolitik eigentlich operiert. Oder genauer formuliert: Geht es hierbei allein um Alternativen zum Modell des Bewegungs-Bildes? Und inwiefern lässt sich generell behaupten, dass Deleuze das moderne Kino des Zeit-Bildes gegenüber dem klassischen Kino favorisiert? Der Eindruck, dass Deleuze das Kino des Zeit-Bildes deutlich positiver taxiert als das Kino des Bewegungs-Bildes, mag sich durchaus zu Recht aufdrängen, bedarf allerdings einer genaueren Qualifizierung. »Das Kino«, schreibt Deleuze, »ist stets so vollkommen, wie es sein kann in Anbetracht der Bilder und Zeichen, die es erfindet und über die es in einem bestimmten Augenblick verfügt«. Folglich kann das Kino des Zeit-Bildes auch nicht grundsätzlich »besser sein« als das klassische Kino des Bewegungs-Bildes (SG 258). Wenn Deleuze die Form des Bewegungs-Bildes also kritisiert, dann tut er dies nicht auf der Grundlage vermeintlich universeller Kriterien, sondern auf der Basis einer historischen Erfahrung, durch die das klassische Kino – ab einem bestimmten Moment in seiner Geschichte – in Frage gestellt worden ist. Das Modell des Bewegungs-Bildes wäre demnach zwar nicht prinzipiell schlechter als das Modell des Zeit-Bildes, doch hätte sich sein kinematographisches Potential vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung tendenziell erschöpft. Deleuze zufolge muss somit bezweifelt werden, dass das Kino des Bewegungs-Bildes noch in der Lage wäre, auf die neuen Probleme, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestellt haben, die passenden Antworten zu geben. Diese Aufgabe nämlich – und hier lässt sich Deleuzes Parteilichkeit nicht leugnen – habe vielmehr das Kinos des Zeit-Bildes übernommen, dessen ganze Existenz mit jener veränderten historischen Situation zusammenhängt. Dass viele der traditionellen narrativen und ästhetischen Formeln des klassischen Kinos seit der Ära des italienischen Neorealismus nach und nach ausgehebelt wurden, sieht Deleuze u.a. auf den Bankrott der fortschrittslogischen Denkmuster der Vorkriegszeit zurückgehen, die nach dem Krieg grundsätzlich in Frage standen. Hieraus resultierte folglich eine kinematographische Praxis, die nicht selten mit einer Außerkraftsetzung des sensomotorischen Schemas einherging. Denn, so Deleuze im Schlusskapitel seines ersten Kinobuches: »Es ist kaum noch glaubhaft, daß eine glo-
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bale Situation eine Aktion, die Veränderungen bewirkt, auslösen könnte, und ebensowenig ist es noch vorstellbar, daß eine Aktion eine Situation veranlassen könnte, sich, und sei es nur teilweise, zu enthüllen. So sind also die ›gesündesten‹ Illusionen hinfällig geworden« (BB 276).42 Was darüber hinaus zur Infragestellung des Modells des Bewegungs-Bildes beigetragen habe, betrifft die spätestens nach dem Krieg ausgiebig diskutierte Frage der Beziehung des Kinos zu den faschistischen Masseninszenierungen, der Staatspropaganda und den Mobilmachungsstrategien der Kriegsmächte. Auf diesen Punkt hatte bereits Walter Benjamin in seinem Aufsatz über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« hingewiesen. Zwar ist Benjamin – im Gegensatz zu seinen politischen Weggefährten Horkheimer und Adorno (vgl. Adorno/Horkheimer 1998) – zu einer insgesamt positiven Einschätzung des Kinos gekommen, dessen »anti-auratisches«, demokratisierendes Potential er durchaus geschätzt hat. Gleichwohl ist ihm der Zusammenhang zwischen den faschistischen Masseninszenierungen und der kinematographischen Reproduktionstechnik vollkommen bewusst gewesen. So erwähnt Benjamin nicht bloß die »propagandistische Bedeutung« der Wochenschau (Benjamin 1969a, 63), sondern hebt mit Blick auf die Beziehung zwischen der Reproduktion von Massen und der Entwicklung der Reproduktionstechnik zudem einen rein technischen Aspekt hervor: »Massenbewegungen stellen sich im allgemeinen der Apparatur deutlicher dar als dem Blick. Kaders von Hunderttausenden lassen sich von der Vogelperspektive aus am besten erfassen. Und wenn diese Perspektive dem menschlichen Auge ebensowohl zugänglich ist wie der Apparatur, so ist doch an dem Bilde, das das Auge davonträgt, die Vergrößerung nicht möglich, welcher die Aufnahme unterzogen wird. Das heißt, daß Massenbewegungen, und so auch der Krieg, eine der Apparatur besonders entgegenkommende Form des menschlichen Verhaltens darstellen.« (63)
Vergleichbar mit Benjamin thematisiert auch Deleuze die Beziehung zwischen Kino, Krieg und Faschismus, wobei es ihm jedoch nicht allein um den Nachweis einer bloßen »Komplizenschaft« geht. Wie Deleuze beispielsweise in Bezug auf Eisenstein und Elie Faure verdeutlicht, stellt die Vorstellung vom Kino als »Massenkunst« eine der grundlegendsten Ambitionen des klassischen Kinos dar. In der Tatsache, dass das Kino »aus der Bewegung eine unmittelbare Gegebenheit des Bildes« macht (sich also als »Bewegungs-Bild« konstituiert), hätten die Pioniere des Films das revolutionäre Potential des kinematographischen Automaten erkannt. »Erst wenn die Bewegung automatisch wird«, schreibt Deleuze, »kommt das künstlerische Wesen des Bildes zur Erscheinung; es besteht darin, einen Schock im Denken entstehen zu lassen, Vibrationen auf die Gehirnrinde zu übertragen, unmittelbar das Gehirn und das Nervensystem zu beeinflussen« (ZB 205). Diese utopische Vorstellung vom Kino als Kunst des Schocks oder als Massenkunst – die laut Deleuze von den »größten Pionieren« des Films geteilt wurde43 – habe jedoch im weiteren Verlauf der Filmgeschichte aus 42 Zugleich heißt es jedoch: »Natürlich werden weiterhin SAS- und ASA-Filme gemacht: das ist nach wie vor der Weg der größten kommerziellen Erfolge, aber die Seele des Films ist nicht mehr dort« (BB 276). 43 Vgl. ZB 206: »Diese Erscheinungsform des Films, zumindest bei seinen größten Pionieren, mag heute nur noch ein Lächeln hervorrufen. Sie glaubten daran, das Kino sei in der Lage
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zwei unterschiedlichen Gründen einer nachhaltigen Ernüchterung Platz gemacht. Erstens nennt Deleuze hier die »Mittelmäßigkeit« der herrschenden Filmproduktion, bei der »die Gewalt nicht mehr die des Bildes und seiner Vibrationen, sondern die des Repräsentierten« sei (215): »Im schlechten Kino vermischte sich der Schock mit der figurativen Gewalt des Dargestellten, anstatt jene andere Gewalt eines BewegungsBildes zu erreichen, das seine Vibrationen in einer beweglichen Sequenz entwickelt, die in uns eindringt« (206). Und zweitens erwähnt Deleuze die Tatsache, dass das Bewegungs-Bild und dessen Potential als »Massenkunst« vom Faschismus und der staatlichen Propaganda zu deren eigenen Zwecken vereinnahmt werden konnte: »[D]ie Massenkunst […] ist der Propaganda und der staatlichen Manipulation verfallen: einer Art Faschismus, der Hitler mit Hollywood und Hollywood mit Hitler vereinigte. Der geistige Automat wurde zum faschistischen Menschen. Serge Daney zufolge waren es ›die großen politischen Inszenierungen, die zu lebenden Bildern gewordene Staatspropaganda, die ersten Massentransporte‹ und, im Hintergrund, die Lager, welche das Kino als Bewegungs-Bild in Frage stellten. Sie haben den Ambitionen des ›alten Kinos‹ die Totenglocke geläutet. Es waren nicht oder nicht allein die Mittelmäßigkeit und Vulgarität der herrschenden Produktion daran schuld, eher Leni Riefenstahl, die keineswegs mittelmäßig war.« (ZB 215)
Dies heißt freilich nicht, dass das Kino des Bewegungs-Bildes quasi »immer schon« als Komplize von Massenpropaganda, Krieg und Faschismus fungiert. Die Indienstnahme zu Propaganda- und Mobilisierungszwecken hat laut Deleuze jedoch zu einer Problematisierung des Modells insgesamt geführt und somit implizit die Bedingungen dafür geschaffen, dass nach dem Krieg mit dem Kino des Zeit-Bildes eine andere kinematographische Form entstehen konnte, in der ein Bruch mit dem sensomotorischen Schema vollzogen wurde. Anders als Benjamin, der vor allem die technologischen Verbindungen zwischen dem Kino als Massenkunst und den staatlichen Masseninszenierungen betont, hebt Deleuze diesbezüglich also bildtheoretische (und im weiteren Sinne zeitphilosophische) Aspekte hervor, die indes nicht das Kino als Ganzes betreffen, sondern primär das Modell des Bewegungs-Bildes. Dementsprechend heißt es mit Verweis auf Syberberg: »die Vollendung des Bewegungs-Bilds ist Leni Riefenstahl« (ZB 337).44 Dass das Kino des Zeit-Bildes einen Bruch mit dem sensomotorischen Schema vollzieht, lässt sich in diesem Kontext auch so verstehen, dass hiermit zunächst einer möglichen Indienstnahme des Filmbildes zu Zwecken der »Mobilmachung« entgegengewirkt wird. Denn wenn sich die sensomotorischen Verbindungen lockern und zu schockieren, die Massen, das Volk einem Schock auszusetzen (Vertov, Eisenstein, Gance, Elie Faure…)«. 44 Die propagandistische Indienstnahme der Bewegung im Werk Riefenstahls ist besonders in den Olympiafilmen evident, in denen die kraftvoll und harmonisch inszenierten Bewegungen der Athleten auf die Ästhetik des nationalsozialistischen Menschenbildes verweisen. Aber auch im Parteitagsfilm Triumph des Willens verfährt Riefenstahl mit den Mitteln des Bewegungs-Bildes, wobei Hitler quasi als Zentrum eines sensomotorischen Schemas fungiert, auf das sämtliche Bewegungen der applaudierenden Massen bezogen sind. Aufgrund des raffinierten Montageverfahrens wird dieser Eindruck selbst dann erzeugt, wenn Hitler gar nicht zu sehen ist.
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die Handlungen der Filmcharaktere keinem übergeordneten Handlungsschema mehr folgen, verliert die »normale Bewegung« ihre Priorität und es kommt zur Darstellung »abweichender Bewegungen«, denen keinerlei Modellcharakter mehr zukommt. Anstelle der stimmigen Bewegungsabläufe des klassischen Kinos, das vorwiegend mit rationalen Schnitten operiert, kommt es nun vermehrt zu ziellosen Bewegungen, die durch falsche Anschlüsse verkettet werden. Die Akteure im Film geraten somit in Situationen, auf die sie nicht oder nur vage zu reagieren wissen – »und diese Situationen […] treiben sie schließlich zur Flucht, zum Bummeln, zum Kommen und Gehen, zur Gleichgültigkeit gegenüber dem, was mit ihnen geschieht, zur Unentschlossenheit gegenüber dem, was sie tun sollen« (ZB 348). Da die Charaktere also »außer sich« scheinen, ist es für den Zuschauer nur schwer möglich, sich in sie »hineinzuversetzen« und sich mit ihnen zu identifizieren. Die Lockerung der sensomotorischen Verbindungen und die Umkehrung des Verhältnisses von Bewegung und Zeit wirken folglich genau denjenigen Aspekten entgegen, die im Zuge der propagandistischen Indienstnahme des Filmbildes politisch vereinnahmt wurden. Nun wäre es allerdings falsch, würde man das Aufbrechen des sensomotorischen Schemas lediglich rein negativ begreifen, so als würde hierdurch nur eine falsche Aneignung des Kinos verhindert oder einer gefährlichen Indienstnahme des Filmbildes entgegengewirkt werden. Vielmehr beinhaltet die Lockerung der sensomotorischen Verbindungen nämlich zugleich ein wesentlich positives Element, da mithin auch die Produktion abweichender Bewegungen einsetzt.45 Deleuze spricht in diesem Zusammenhang von einem »Kino des Körpers«, das er u.a. in den Filmen von Jacques Doillon, Jean Eustache, Chantal Akerman, John Cassavetes oder Andy Warhol zum Ausdruck kommen sieht. Es handelt sich hierbei um ein Kino, in dem Handlung und Narration eine allenfalls untergeordnete Rolle spielen und es stattdessen um die Frage des Körpers, seine Gesten, Verhaltensweisen und Stellungen geht. Dementsprechend geht es darum, durch die experimentelle Erforschung der mit den Stellungen des Körpers korrespondierenden Zustände – wie Erschöpfung, Müdigkeit, Trunkenheit, Anspannung, Erwartung oder Widerstandskraft – zu »Kategorien des Lebens« (ZB 244) vorzudringen, die auf die spinozistische Frage verweisen, was ein Körper kann, wozu ein Körper im Kontext seiner je spezifischen Affektkonfiguration in der Lage ist. Deleuze versteht dieses Projekt als explizit politisches und beruft sich auf eine »Politik des Bildes«, der es darum gehe, »den Verhaltensweisen und Stellungen des Körpers die Bilder zurückzugeben« (250). 45 Dieser Aspekt wird z.B. von Peter Hallward übersehen, der das Kino des Zeit-Bilds im Sinne eines Kinos der reinen »Kontemplation« oder »Passivität« begreift, das letztlich für die Abkehr vom politischen Ideal subjektiver Handlungsfähigkeit steht: »In this way we penetrate zones of pure contemplation, in which the concerns of interest and action cease to impose any limit upon what is perceived. Perception becomes overwhelming, hallucinatory, unbearably intense. Through such crystalline intuition, characters become passive ›seers‹, indifferent to whatever might be present or actual« (Hallward 2006, 114). Allerdings führt die Lockerung der sensomotorischen Verbindungen nicht lediglich zur Veranschaulichung intensiver Wahrnehmungen, sondern auch zur Hervorbringung abweichender Bewegungen. Folglich erschöpft sich das Kino des Zeit-Bilds auch nicht in Passivität oder Kontemplation; und eher als zu einer Abkehr von der Politik kommt es zu einer grundsätzlichen Neuformulierung der Frage nach den Bedingungen politischer Handlungsfähigkeit.
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Das Kino des Körpers widmet sich somit zugleich auch dem Verhältnis von Körperlichkeit und Temporalität. Denn der Körper im Kino des Zeit-Bildes befindet sich nicht lediglich in seiner Gegenwart, sondern verweist zugleich auf seine Vergangenheit und seine Zukunft – sein Vorher und Nachher46 –, was etwa in Zuständen der Erschöpfung und Erwartung, der Müdigkeit und der Vorfreude zum Ausdruck gelangt. Wie an anderer Stelle in Bezug auf die »passiven Synthesen der Zeit« erläutert wurde, stellt sich der Körper generell als wesentlich zeitliche Zusammensetzung dar, wobei selbst die kleinsten, unscheinbarsten und alltäglichsten Bewegungen noch in einer jeweils spezifischen Beziehung zur Wiederholung stehen. Anders gesagt: Sofern der Körper im Alltagsleben »funktioniert«, tut er dies einerseits im Sinne des Habitus, d.h. durch fortwährende Kontraktion und sensomotorische Wiederholung (erste Synthese der Zeit); und andererseits mittels Erinnerung, d.h. Reproduktion derjenigen Elemente der Vergangenheit, die vom passiven Gedächtnis verfügbar gemacht werden (zweite Synthese der Zeit). Zwar bezieht sich Deleuze im zweiten Band seiner Kinostudie nicht direktermaßen auf die passiven Synthesen, die er in Differenz und Wiederholung konzipiert hat; mit Verweis auf Bergsons Differenzierung zwischen »habituellem« und »attentivem« Wiedererkennen bringt er jedoch eine Unterscheidung ins Spiel, die sich weitgehend analog zu den ersten beiden Synthesen begreifen lässt.47 So beschreibt Deleuze das habituelle Wiedererkennen als eine Form der sensomotorischen »Fortsetzung«, die prinzipiell der ersten passiven Synthese entspricht: »[D]ie Wahrnehmung setzt sich in gewohnten Bewegungen fort, und die Bewegungen setzen sich in der Wahrnehmung fort, um daraus Nutzen zu ziehen. Es ist ein sensomotorisches Wiedererkennen, das vor allem aufgrund von Bewegungen vor sich geht: Bewegungsmechanismen haben sich gebildet und angesammelt, so daß der Anblick der Gegenstände genügt, um sie auszulösen.« (ZB 64)
Im Falle des attentiven Wiedererkennens dagegen »verzichte ich auf die Fortsetzung meiner Wahrnehmung, ich bin gar nicht in der Lage, sie fortzusetzen« (64). Analog zur zweiten Synthese der Zeit setzt sich »das optische (und akustische) Bild« somit »nicht in Bewegung fort, sondern tritt mit einem ›Erinnerungsbild‹ in Beziehung, das es hervorruft« (66). Wie Deleuze also deutlich macht, führt das attentive Wiederer46 In diesem Zusammenhang verweist Deleuze auf das dritte »direkte Bild der Zeit«, in dem die Zeit als »Serie« konzipiert wird: »Die zwei bisherigen Zeit-Bilder betrafen die Ordnung der Zeit, das heißt die Koexistenz der Beziehungen oder die Simultaneität der Elemente innerhalb der Zeit. Das dritte Zeit-Bild betrifft die Serie der Zeit, die das Vorher und Nachher in einem Werden zusammenführt, statt beide voneinander zu trennen« (ZB 204). 47 Bergsons Unterscheidung der beiden Formen des Wiedererkennens ist Gegenstand des zweiten Kapitels von Materie und Gedächtnis (vgl. Bergson 1964, 102-149), in dem in der deutschen Übersetzung zumeist von »mechanischem« und »aufmerksamem« Wiedererkennen die Rede ist. Im dritten Kapitel von Das Zeit-Bild (vgl. ZB 64-94) greift Deleuze Bergsons Unterscheidung auf, wobei die Begriffe »habituell« und »attentiv« verwendet werden. Mit Blick auf den Bezug der Kinostudie auf die passiven Synthesen der Zeit lässt sich zudem argumentieren, dass Deleuze bei der Konzeption der drei »direkten Zeitbilder« am selben modalzeitlichen Schema festhält (Gegenwart – Vergangenheit – Zukunft), auf das er bereits in Differenz und Wiederholung rekurriert (vgl. Schaub 2003b, 210).
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kennen – d.h. die Erinnerung – zu einer kurzfristigen Unterbrechung im sensomotorischen Schema, die jedoch aufgehoben wird, sobald die Wiedererinnerung gelingt, was dann zu einer sensomotorischen »Fortsetzung« führt. Doch gelingt »das Sich-Wiedererinnern nicht, findet keine Fortsetzung im sensomotorischen Bereich statt, während das aktuelle Bild bzw. die gegenwärtige visuelle Wahrnehmung sich weder mit einem motorischen Bild noch mit einem Erinnerungsbild verknüpft, das den Kontakt wiederherstellen könnte. Vielmehr tritt es mit wahrhaft virtuellen Elementen in Beziehung: mit Déjà-vu-Erlebnissen oder ›ganz allgemein‹ vergangenen Erlebnissen (ich muß diesen Mann irgendwo schon gesehen haben…), mit Traumbildern (mir kommt es vor, ihn im Traum gesehen zu haben…), mit Phantasiebildern oder Theaterszenen (es sieht so aus, als nähme er eine Rolle ein, die mir vertraut ist…).« (ZB 78)
Wenn das Wiedererkennen folglich misslingt, kommt es zugleich auch zu einer Außerkraftsetzung der sensomotorischen Verbindungen, was nun den Körper in eine andere Zeit versetzt. Dieser Vorgang, der generell den Ausgangspunkt des Zeit-Bildes darstellt (die »Lockerung der sensomotorischen Verbindungen«), ist umso mehr in Bezug auf das Kino des Körpers von Bedeutung. Denn dieses widmet sich vielfach genau jenen Formen des »Misslingens«, durch die der Körper – analog zum Scheitern von Habitus und Wiedererinnerung – in ein Werden gerät, im Zuge dessen »die unterschiedlichen Ensembles sich überlagern und miteinander rivalisieren, ohne sich nach sensomotorischen Schemata ordnen zu können« (ZB 262). Das Kino des Körpers erforscht somit die Verhaltensweisen des Körpers »vor der Aktion« (262) und macht die unterschiedlichen Bausteine sichtbar, aus denen die Aktion jeweils zusammengesetzt ist; es »theatralisiert« den Körper, versetzt ihn in den Kontext einer »Zeremonie« (247) oder untersucht den sozialen und politischen »Gestus«, der sich in den »alltäglichen Verhaltensweisen« niederschlägt (251). Folgt man Autoren wie Bourdieu oder Foucault, in deren Arbeiten die wesentlich politische Rolle deutlich wird, die dem Körper (seinem »Habitus« oder seiner »politischen Anatomie«48) im Zeitalter der Moderne zukommt, so wird auch das politische Potential deutlich, über das in dieser Hinsicht das Kino des Körpers verfügt.49 48 Bourdieu versteht den Habitus als »System von Wahrnehmungs- und Urteilsschemata« (Bourdieu 1992, 144), das maßgeblich an der Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung beteiligt ist. Wie Bourdieu in Die feinen Unterschiede formuliert, kommt der Habitus aber ebenso in »den scheinbar automatischsten Gebärden und unbedeutendsten Körpertechniken« zum Ausdruck. Analog zu Bergsons Konzeption des habituellen Wiedererkennens entzieht sich der Habitus daher auch bei Bourdieu der bewussten Kontrolle, woraus seine »besondere Wirksamkeit« resultiert (Bourdieu 1987, 727). Zu Foucaults Begriff der »politischen Anatomie«, vgl. Foucault 2005a, 235. Allgemein zur politischen Besetzung des Körpers im Zeitalter der Moderne, vgl. Foucault 1994. 49 Deleuze hat allerdings betont, dass das Kino des Körpers auch vielfach eine bloße Kultivierung seiner eigenen Klischees betreibt. Vgl. hierzu ZB 252: »Das Kino des Körpers hat gewiß seine Gefahren: eine Verherrlichung von Figuren aus Randgruppen, die aus ihrem Alltagsleben eine fade Zeremonie machen; ein Kult grundloser Gewalt in der Verkettung von Stellungen; eine Kultur katatonischer, hysterischer oder einfach verrückter Verhaltensweisen, die Godard am Anfang von Prénom Carmen parodiert. Und wir werden
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Der Aspekt der Zeitlichkeit ist für die Politik des modernen Kinos allerdings auch auf andere Weise relevant. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass das Kino des Bewegungs-Bildes Zeitlichkeit weniger komplex als das Kino des Zeit-Bildes und in der Regel analog zum Modell der Linearität behandelt. Insofern das Kino des Bewegungs-Bildes die Zeit der Bewegung unterordnet und sich diese zumeist in einer scheinbar aktuellen oder gewesenen Gegenwart zuträgt (von der die Aufmerksamkeit des Zuschauers absorbiert wird), minimiert sich zugleich die Möglichkeit der Reflexion. Im Kino des Zeit-Bildes hingegen, das mit einer komplexeren Zeitlichkeit operiert, wird der Zuschauer immer wieder aus der vermeintlichen Gegenwart herauskatapultiert und zur Reflexion, d.h. zum Nachdenken über den Status der gezeigten Bilder gezwungen. Hierdurch ist das moderne Kino zugleich besser in der Lage, die Gegenwart auch auf ihre virtuellen Anteile und Konstitutionsbedingungen zu beziehen. Im Kontext von Deleuzes hybrider Ontologie, nach der jedwede Realität als Zusammensetzung aus aktuellen und virtuellen Elementen anzusehen ist, lässt sich das folgende Zitat Fassbinders daher als Kritik am vermeintlichen »Realismus« derjenigen Filme verstehen, die sich mit der Darstellung der aktuellen Gegenwart begnügen. So hat Fassbinder anlässlich seines Films Satansbraten für eine neue Form des Realismus plädiert und dabei erklärt: »Abgefilmte Wirklichkeit, das finde ich das Tristeste, was es gibt, weil eben so nicht vermittelt werden kann, was wirklich ist«.50 Denn »was wirklich ist«, könnte Fassbinder sagen wollen, ist eben nicht allein die aktuelle Gegenwart, sondern ebenso sehr die Virtualität, die sie bedingt und mit der sie koexistiert. Der Realitätsbegriff, gegen den sich Fassbinder wendet, wäre folglich deshalb zu kritisieren, weil er die Realität als ausschließlich aktuelle konzipiert und deren virtuellen Anteil unterschlägt. Was Fassbinder hier als spezifische Beschränkung eines unterkomplexen Realismus begreift, könnte mit Rekurs auf Deleuze somit zugleich als Beschränkung begriffen werden, die besonders das Kino des BewegungsBildes betrifft. Dies heißt freilich nicht, dass dem klassischen Kino in seiner Gesamtheit ästhetische Plumpheit oder Naivität zu bescheinigen ist. Aufgrund seines zeitlichen Modells fällt es dem Kino des Bewegungs-Bildes jedoch grundsätzlich schwer, die Beziehung zwischen aktuellem Geschehen und virtueller Problembedingung anders denn als einfaches Kausalitätsverhältnis darzustellen. Denn wenn sich das Kino des BewegungsBildes eine tatsächliche Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit, Aktualität und Virtualität, »Wirkung« und »Ursache« zur Aufgabe macht, bietet sich primär das Mittel der Rückblende an, das allerdings Gefahr läuft, die wechselseitige Durchdringung der Zeitebenen außer Acht zu lassen und Gegenwart und Vergangenheit in eine rein lineare Verbindung zu bringen (weil damals dieses oder jenes geschah, stellt sich die Gegenwart folgendermaßen dar…). Als Beispiel hierfür kann eine berühmte Szene aus Griffiths Stummfilmklassiker The Birth of a Nation gelten, in der sich die Südstaatlerin Margaret Cameron gegenüber den Avancen des Yankees Phil Stoneman zunächst unnachgiebig zeigt. Einen schließlich all dieser Körper überdrüssig, die die Mauer der Länge nach entlanggleiten und in kauernder Haltung enden«. 50 Das Zitat stammt aus dem Presseheft zu Fassbinders Film Satansbraten. Eine Annäherung an das Werk Fassbinders aus der Perspektive von Deleuzes Filmphilosophie findet sich in Siewert 2009.
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Moment lang sieht es zwar so aus, als könnte das Geschehen in eine Liebesszene wechseln; die Zwischentitel verdeutlichen jedoch, weshalb die Zeit hierfür noch nicht reif ist: »Bitter memories will not allow the poor bruised heart of the South to forget«. Kurz darauf folgt eine Rückblende, die den Tod von Margarets Bruder während des Bürgerkrieges zeigt. Margarets »Erinnerung« an diesen – bei der es sich freilich um keine persönliche Erinnerung handelt, da sie die Ereignisse auf dem Schlachtfeld nicht aus erster Hand erlebt hat51 – wird somit als quasi virtuelle Konstitutionsbedingung präsentiert, die in das aktuelle Geschehen hineinspielt und es wesentlich determiniert. Das lineare Zeitmodell des Films sorgt zugleich dafür, dass eine zwangsläufige Kausalität zwischen Vergangenheit und Gegenwart suggeriert wird, so als würde es sich von selbst verstehen, dass sich Margarets Erinnerung auf diese Weise aktualisiert, nämlich im Einklang mit einer Logik der Repräsentation, gemäß der Phil »den Norden« und Margaret »den Süden« repräsentiert. Dieser Logik wird auch dadurch nicht entgegengewirkt, dass das Paar am Ende des Films doch noch zusammenfindet, da diese späte Fügung nun für die neue amerikanische Eintracht zwischen Norden und Süden (d.h. für die »Geburt der Nation«) steht. The Birth of a Nation korrespondiert demnach mit einer Logik der Repräsentation und basiert auf einem sukzessiven Zeitmodell, gemäß dem sich die Gegenwart infolge einer linearen Verkettung von Ursache und Wirkung aus der Vergangenheit ableiten lässt: Die Vergangenheit legitimiert die Gegenwart, die sukzessiv auf jene folgt. Nun ließe sich zweifellos behaupten, das wirkliche Problem des Films stelle nicht seine zeitliche Struktur, sondern sein unverhohlener Rassismus dar. Demgegenüber lässt sich jedoch argumentieren, dass das lineare Zeitmodell dem Inhalt des Films nicht äußerlich bleibt, sondern mit diesem auf wesentliche Weise verknüpft ist. Mit Blick auf die Funktion des Films im Kontext seiner eigenen historischen Gegenwart schreibt David Martin-Jones in diesem Sinne: »[T]he film’s depiction of the ›righteous‹ lynching of Gus for his sexually motivated pursuit of Flora Cameron, and the Klan’s policing of the African-Americans on polling day, replayed negative aspects of the post-Reconstruction era in a triumphal light. In this way, origins were constructed in a fictional past for events occurring in the present, and once again the dominant myth of triumphalism was perpetrated. The past provided an aspect (the Confederate myth of the Reconstruction) with which the racial violence of the recent present could be matched. Thus, in The Birth of a Nation the historical revisionism of the American dominant fiction (›this is where we came from‹) and the structure of the action-image are inextricably entwined in the construction of a triumphal narrative.« (Martin-Jones 2006, 126-127)52 51 Vgl. Martin-Jones 2006, 133: »This image, which had previously been seen as part of the film’s narrative development, was not one to which Margaret was privileged. What appears to be a personal recollection, then, due to the cut from her face to the image of the dead, is in fact an image of a ›collective‹ past through which the film attempts to ›subjectivize‹ history. It illustrates […] the conflation of historical events with personal tragedies in order to raise an emotional response in the viewer«. 52 Martin-Jones bezieht sich hier auf einen Text von Michele Faith Wallace (Wallace 2003) sowie eine Aussage Rancieres, die an anderer Stelle zitiert wird: »In a now much quoted statement, Jacques Ranciere claimed that the ›dominant fiction‹ in American cinema was that of the ›birth of a nation‹. It is through this narrative […] that the major voice of nation-
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Die Logik der linearen Kausalität, auf der das Zeitmodell des Films basiert, dient somit nicht zuletzt – ganz im Sinne der klassischen Rape/Revenge-Struktur, von der auch unzählige andere Hollywoodfilme geprägt sind – der Rechtfertigung von Gewalt: Legitimierten etwa die captivity narratives Gewalt gegenüber den Indianern als Selbstverteidigung, indem sie die Gefangennahme weißer Frauen zum ursprünglichen Gewaltakt deklarierten, führt in The Birth of a Nation nicht nur der Terror des schwarzen Mobs, sondern auch die versuchte Vergewaltigung der »weißen Frau« durch den »schwarzen Mann« dazu, dass die Gewalt des Ku Klux Klans gerechtfertigt erscheint (vgl. auch Martin-Jones 2006, 125). In beiden Fällen basiert die Ideologie der weißen Vorherrschaft folglich auf einem linear-kausalen Zeitmodell, in dem eine als unhintergehbarer »Fakt« inszenierte Version der Vergangenheit der Gegenwart als Legitimationsgrundlage dient. Dass das lineare Zeitmodell für den politischen Film des klassischen Kinos generell (und somit unabhängig von der jeweils vertretenen Ideologie) charakteristisch ist, wird deutlich, wenn man The Birth of a Nation dem Kino Eisensteins gegenüberstellt, dessen bildgewaltige Montagekonzeption das Kino des Bewegungs-Bildes grundlegend revolutioniert hat. Hierbei ist es freilich notwendig, zunächst auch die Differenzen zwischen Griffith und Eisenstein zu erwähnen, die nicht allein ihre konträren politisch-ideologischen Positionen betreffen. So lässt sich mit Deleuze etwa auf die Unterschiede zwischen der »dialektischen« Montage Eisensteins und der »organischen« Montage bei Griffith hinweisen.53 Hinzu kommt, dass Eisenstein ab Ende der 1920er Jahre zunehmend mit Bildmaterial arbeitete, das – wie etwa im Falle der berühmten »Götzenbilder« in Oktober (1928) – lediglich assoziativ oder symbolisch mit dem aktuellen Handlungsverlauf des Films verknüpft ist.54 Für diese dezidiert »intellektuelle« Art der Montage (Eisenstein 2006, 129) findet sich bei Griffith keine Entsprechung, der in der Regel innerhalb der Grenzen der organischen Konzeption des amerikanischen Realismus verbleibt. Vergleicht man die Werke der beiden Regisseure jedoch unter den allgemeineren Aspekten des Bewegungs-Bildes, dann werden auch eine Reihe von Interferenzen deutlich, die die These nahelegen, dass die Form des Bewegungs-Bildes bereits eine al identity makes itself heard. Thus American cinema, in its perpetual need to reestablish an origin (a ›this is where we come from‹), has a long standing relationship with the linear model of time […]. This narrative structure is closely tied to triumphalism, a connection that is most apparent in The Birth of a Nation« (Martin-Jones 2006, 125). 53 Griffiths organische und Eisensteins dialektische Montage unterscheiden sich Deleuze zufolge darin, dass sie die gesellschaftlichen Gegensätze auf wesentlich andere Weise aufeinander beziehen. Während Griffith Gegensätze wie »arm« und »reich« nämlich als voneinander »unabhängige Phänomene« (BB 53) konzipiert, begreift sie Eisenstein als Resultat ein und derselben Ursache: der »gesellschaftlichen Ausbeutung« (54). Zur Unterscheidung der beiden Montagekonzeptionen, vgl. – in Bezug auf den »organischen« Charakter des klassischen Westernfilms – auch Kap. 2.2 im zweiten Teil der vorliegenden Studie. 54 Vgl. Eisenstein 2006, 129: »Als Beispiel hierfür können die ›Götter‹ des Oktober dienen: Sämtliche Voraussetzungen für deren Korrelation bildet hier ausschließlich das klassenbezogen-intellektuelle Tönen des Montagestückes ›Gott‹ […]. Die Montagestücke sind hier auf einer nach unten führenden Kurve korreliert und führen auch die Gottesidee hinunter zum hölzernen Götzenidol«.
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»Politik« transportiert, die nicht notwendigerweise mit dem politischen Inhalt des jeweiligen Films zusammenfällt. So lässt sich etwa argumentieren, dass die temporale Struktur von Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin der großen Form des sensomotorischen Schemas (SAS) entspricht, unter die auch The Birth of a Nation fällt.55 In Griffiths Bürgerkriegsfilm sind es dementsprechend die berittenen Kämpfer des Ku Klux Klans, die den Süden vor Anarchie und Chaos retten, während es in Eisensteins Revolutionsfilm die aufständischen Matrosen sind, die eine heroische Transformation der dargestellten Situation bewirken. Auch wenn die Handlung in Panzerkreuzer Potemkin stärker vom Kollektiv vorangetrieben wird als in The Birth of a Nation, wo der amerikanischen Tradition entsprechend einzelne Individuen im Vordergrund stehen, handelt es sich dennoch um ein ganz ähnliches Schema: Auf die Herausforderung durch eine problematische Situation, die adäquat erfasst wird, antworten die Handelnden mit einer triumphalen Aktion, die die Situation transformiert.56 Dass das Kino Eisensteins zudem einer grundsätzlich linearen Konzeption der Geschichte verpflichtet ist, kommt vielleicht am offensichtlichsten in dem 1929 fertiggestellten Film Die Generallinie zum Ausdruck, der den sowjetischen Umbau der Landwirtschaft zum Gegenstand hat. Der russische Originaltitel Staroe i novoe (»Das Alte und das Neue«) verweist dabei noch deutlicher auf eine lineare Konzeption der Zeit – d.h. darauf, dass der Film einen zwar dialektischen, aber nichtsdestotrotz linearen Übergang vom Alten zum Neuen beschreibt, im Zuge dessen sich die abergläubischen Kleinbauern der Vergangenheit in maschinentüchtige, moderne Landarbeiter verwandeln und somit einen »qualitativen Sprung« (ZB 278) vollziehen. Die lineare Zeitkonzeption des Bewegungs-Bildes (die bei Eisenstein durch die Wirkung von »Attraktionen« und »Obertönen« jedoch gelegentlich unterbrochen wird) korrespondiert hier folglich mit einem Fortschrittsoptimismus, der nicht nur für den klassischen Marxismus, sondern allgemein für das klassische politische Kino charakteristisch ist. Der moderne politische Film zeichnet sich dagegen wesentlich dadurch aus, dass er das Fortschrittsdenken und die Vorstellung einer linearen Entwicklung vom »Alten« zum »Neuen« weitgehend aufgibt. Mit Blick auf die Filme des türkischen Regisseurs Yilmaz Güney, die er als exemplarisch für das moderne politische Kino begreift, formuliert Deleuze in diesem Sinne: »[D]as Entscheidende besteht darin, daß es keine ›Generallinie‹ mehr gibt, das heißt keine Entwicklung vom Alten zum Neuen und keine Revolution, die einen Sprung vom einen zum anderen macht. Wie das Beispiel des südamerikanischen Kinos zeigt, gibt es statt dessen eine Gegenüberstellung oder eine gegenseitige Durchdringung des Alten und Neuen, was zur ›Absurdität‹ und zur ›Verirrung‹ führt« (281).
55 Auch Deleuze ordnet das Kino Eisensteins gemeinhin dem Kino des Aktionsbildes zu, sieht ihn jedoch weder ausschließlich die »große« noch die »kleine« Form repräsentieren. Stattdessen habe Eisenstein eine Transformationsform geschaffen, »die imstande ist, von SAS’ zu ASA’ überzugehen« (BB 244). 56 Während die Transformation der Situation in Panzerkreuzer Potemkin allerdings »revolutionärer« Natur ist (SAS’), geht es in The Birth of a Nation um die Restauration einer idealisierten Vergangenheit. Auch wenn es in formaler Hinsicht so ist, dass der Film mit der »Geburt einer Nation« endet und nicht mit der Südstaatenidylle der Vorkriegszeit, wäre es daher passender, ihm die Form SAS (und nicht SAS’) zuzuordnen.
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Diese »gegenseitige Durchdringung« von Altem und Neuem zeigt sich etwa in Güneys Film Yol oder dem Kino des brasilianischen Regisseurs Glauber Rocha, in dem »Volksmythen, Prophetentum und Bandenwesen« die »archaische Kehrseite der kapitalistischen Gewalt« bilden (ZB 281). Zudem wird die Frage nach den Bedingungen politischer Handlungsfähigkeit und revolutionärer Veränderung in den Filmen Rochas auf wesentlich andere Weise verhandelt als etwa noch bei Eisenstein. So kommt es bei Rocha einerseits zur Veranschaulichung aktueller gesellschaftlicher Bedingungen (Ausbeutung, Hunger, Armut und Gewalt), die für sich genommen allerdings nicht ausreichen, um eine mögliche Revolte oder Revolution in Gang zu setzen, da sie stets auch mit virtuellen Bedingungen (archaische Volksmythen und religiöser Fanatismus) koexistieren. Doch anders als bei Eisenstein gibt es in Rochas Kino nirgendwo die Aussicht auf einen »qualitativen Sprung« (278) vom Alten zum Neuen, d.h. vom Mythos zur politischen Vernunft. Wie Deleuze erläutert, geht es der Mythenkritik Rochas somit auch nicht darum, »den Mythos zu analysieren, um den archaischen Sinn oder die archaische Struktur aufzudecken, sondern den archaischen Mythos auf die Triebverfassung in einer heutigen Gesellschaft zu beziehen, nämlich auf den Hunger, den Durst, die Sexualität, die Macht, den Tod und die Vergötterung« (282). Eine weitere Differenz zwischen klassischem und modernem politischen Kino betrifft Deleuze zufolge deren je unterschiedliche Konzeption des Volkes. »Im klassischen Kino«, schreibt Deleuze, »ist das Volk […] präsent, auch wenn es unterdrückt, getäuscht, unterworfen, ja selbst dann, wenn es blind oder unbewußt ist« (ZB 278). Dies zeigt sich einerseits am Beispiel des sowjetischen Kinos von Eisenstein, Pudovkin, Dovženko und Vertov, andererseits aber auch im amerikanischen Film, wobei Deleuze u.a. auf Capra, King Vidor und Ford verweist. Dass das Volk »existiert« ist hierbei nicht allein thematisch zu begreifen, sondern betrifft unmittelbar das Selbstverständnis des klassischen Kinos als Massenkunst, d.h. als Kino, das nicht allein vom Volk handelt, sondern direktermaßen für das Volk oder die Massen gemacht ist (und diese auch unmittelbar adressiert).57 Die Annahme des klassischen Kinos, dass das Volk existiert, impliziert Deleuze zufolge außerdem die Vorstellung einer weitgehenden kollektiven Gleichmütigkeit, gemäß der das Volk – allen Krisen zum Trotz – grundsätzlich als Einheit existiert. In Bezug auf den amerikanischen Film heißt es daher: »Einmütigkeit war auch das politische Merkmal des amerikanischen Kinos vor und während des Krieges; hier haben wir es nicht mit den Umwegen des Klassenkampfes und dem Zusammenprall der Ideologien zu tun [wie im sowjetischen Kino], sondern mit der ökonomischen Krise, dem Kampf gegen die moralischen Vorurteile, gegen Profitmacher und Demagogen: Probleme, an denen sich die Bewußtwerdung eines Volkes zeigt, sei es auf dem Tiefpunkt seines Elends, sei es auf dem Höhepunkt seiner Hoffnung.« (ZB 278)
57 Vgl. ZB 278: »Im amerikanischen wie im sowjetischen Kino ist das Volk bereits vorhanden, es ist real, bevor es aktuell ist, und es ist ideal, ohne abstrakt zu sein. Auf diesem Hintergrund konnte die Vorstellung entstehen, das Kino als Massenkunst könne die revolutionäre oder demokratische Kunst par exellence sein, die aus den Massen ein wahrhaftes Subjekt macht«.
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Die Vorstellung, dass das Volk existiert, wird nun im modernen politischen Film durch die Annahme konterkariert, dass das Volk fehlt, was Deleuze zunächst historisch begründet. So erwähnt er u.a. die Machtergreifung Hitlers in Deutschland, den Stalinismus in der Sowjetunion und die »Zersetzung des amerikanischen Volkes, das sich nicht mehr als Schmelztiegel vergangener Völker empfand, aber genausowenig als Keim eines künftigen Volkes« (ZB 279). Alle diese Faktoren hätten nicht nur der Vorstellung von der Existenz und Einmütigkeit des Volkes entgegengewirkt, sondern auch den Glauben erschüttert, »das Kino als Massenkunst könne die revolutionäre oder demokratische Kunst par exellence sein« (278). Der Gedanke, dass das Volk fehlt, bedeutet Deleuze zufolge allerdings keine generelle Absage an das politische Kino, sondern korrespondiert mit einer neuen Konzeption des Politischen, das nun nicht mehr gemäß einer Logik der Repräsentation gedacht werden kann. Dem modernen politischen Film geht es folglich nicht um die Repräsentation eines bereits bestehenden Volkes, sondern um die kinematographische »Erfindung« eines Volkes, das nicht (oder jedenfalls noch nicht) existiert. Deleuze sieht diese neue Konzeption des Volkes insbesondere im modernen politischen Kino der Dritten Welt realisiert, in dem das Fehlen des Volkes zum Anlass genommen wird, die Politik der »Repräsentation« durch eine Politik der »Fabulation« zu ersetzen, die sich nicht an ein schon bestehendes, sondern an ein zukünftiges Volk wendet: »In dem Augenblick, in dem der Kolonialherr ausruft: ›Es hat hier niemals ein Volk gegeben‹, verkörpert das fehlende Volk eine Zukunft, es erfindet sich in den Elendsquartieren und Lagern, in den Ghettos und unter den neuen Kampfbedingungen, zu denen eine notwendig politische Kunst beitragen muß« (ZB 280). Zwar hat Deleuze hier insbesondere das Third Cinema der 1960er und 1970er Jahre im Blick, weshalb er auf Regisseure wie Glauber Rocha, Ousmane Sembene oder Youssef Chahine verweist; wie jedoch Laura Marks demonstriert hat, lassen sich Deleuzes Konzepte zum modernen politischen Film auch auf das gegenwärtige interkulturelle Kino anwenden, das sich der Evidenz eines existierenden Volkes und einer kollektiven Identität ebenfalls nicht gewiss sein kann und den Anspruch auf Repräsentation zugunsten einer vielstimmigen Fabulation des Volkes aufgibt (vgl. Marks 2000). Im modernen politischen Film existiert das Volk somit nicht mehr als Einheit, sondern allenfalls als Mannigfaltigkeit, die keine unmittelbar evidente Präsenz oder Identität besitzt, dafür aber über ein Werden verfügt, das in die Zukunft gerichtet ist. Und anders als etwa im Falle der demokratischen Ansprachen in Filmen wie Chaplins The Great Dictator oder Hitchcocks Foreign Correspondent besteht die politische Relevanz der Rede und des Sprechaktes nun nicht mehr darin, die Stimme des Volkes zu sein (das Volk zu »repräsentieren«), sondern darin, dem fehlenden Volk provisorisch eine Stimme zu leihen, da dieses selbst noch über keine verfügt und überhaupt erst einen kollektiven Ausdruck finden muss.58
58 Vgl. Marks 2000, 25: »As in many intercultural films and videos, the acts of excavation performed by these works is primarily deconstructive, for it is necessary to dismantle the colonial histories that frame minority stories before those stories can be told in their own terms. Yet once this deconstruction has been accomplished, no simple truth is uncovered. There is a moment of suspension that occurs in these works after the official discourse has been (if only momentarily) dismantled and before the emerging discourse finds its voice«.
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Die Relevanz des Sprechakts im politischen Film verweist auf eine vorerst letzte Differenz zwischen klassischem und modernem Kino, die das Verhältnis von Bild (Visualität) und Ton (Akustik) betrifft. Deleuze weist in diesem Kontext darauf hin, dass sich das klassische Kino – neben der linearen Konzeption der Zeit und der Logik der Repräsentation – auch dadurch auszeichnet, dass es das kinematographische Verhältnis von Bild und Ton gemeinhin als weitgehend kommensurabel präsentiert. Dies lässt sich bereits am Beispiel der Filmmusik verdeutlichen: In Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin etwa werden die heroischen Aktionen der Matrosen von ebenso dynamischen und zielstrebigen Klängen begleitet; in Flemings Gone With the Wind scheinen sich die melodramatischen Bilder in der rührseligen Filmmusik Max Steiners schlechterdings zu »verdoppeln«. In beiden Fällen begegnen sich Bild und Ton also in einem Verhältnis direkter Korrespondenz, wobei der Musik jedoch eine eher »illustrierende« Rolle zukommt, weshalb sie dem Bild in gewisser Weise untergeordnet ist. In der Ära des Zeit-Bilds dagegen gewinnt die Akustik zunehmend an Autonomie und es kommt vielfach zu einem Auseinandertreten von Klang und Bild, deren Beziehung nun ein »präzises Inkommensurabilitätsverhältnis« darstellt (ZB 327). Dies gilt etwa für die Filme Godards, in denen weitgehend banal wirkende Alltagsszenen oftmals mit pathetischer Musik unterlegt werden, so dass der Ton in das Bild einzugreifen scheint und die sichtbare Aktualität einer affektiven Transformation unterzogen wird. In den Filmen von Marguerite Duras oder Jean-Michel Straub und Danièle Huillet erfasst die Inkommensurabilität von Bild und Ton zudem die Rede oder den Sprechakt, der sich nun in keinem unmittelbaren Bezug mehr zu dem befindet, was gleichzeitig sichtbar ist.59 Dass dieses Auseinandertreten von Bild und Ton sowohl eine zeitliche als auch eine politische Funktion übernehmen kann, zeigt sich etwa anhand des politischen Dokumentarfilms. So wird in Nuit et Brouillard (Resnais’ Dokumentation über die Vernichtungslager der Nazis) der Off-Kommentar des Sprechers teils mit historischem Bildmaterial, teils aber auch mit aktuellen Aufnahmen der ehemaligen Lager und deren Umgebung verknüpft, wodurch sich der Blick auf die aktuelle Gegenwart unvermittelt ändert. Noch deutlicher kommt dieses Verfahren in Claude Lanzmanns Film Shoah zum Ausdruck, der vollständig auf historisches Bildmaterial verzichtet und stattdessen die verbalen Erinnerungen der Zeitzeugen in den Mittelpunkt rückt, während die Kamera in ausgedehnten Plansequenzen die »gegenwärtige« deutsche oder polnische Landschaft nach Spuren der Vergangenheit absucht.60 Zwischen Bild und Ton besteht somit zwar nach wie vor ein Korrespondenzverhältnis; dieses steht nun allerdings nicht mehr unter dem Zeichen der Repräsentation oder eines formalen Parallelismus, sondern ermöglicht dem Ton stattdessen, in die Wahrnehmung des Bildes zu intervenieren (und umgekehrt). Zur Relevanz der Fabulation, des Sprechakts und der »freien indirekten Rede« im modernen politischen Kino, siehe außerdem Pisters 2006. 59 Vgl. hierzu SG 304: »Man spricht von etwas. Gleichzeitig läßt man uns etwas anderes sehen. Und schließlich befindet sich das, wovon man spricht, unter dem, was man uns sehen läßt […]. Während sich dieses Wort in die Lüfte erhebt, sinkt das, wovon es spricht, unter die Erde«. 60 Zu Shoah, vgl. auch die Analyse von David Rodowick, der den Film ebenfalls mit Rekurs auf Deleuzes Kinobücher erörtert (Rodowick 2003, 145-149).
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Was man in einer Sequenz zu Anfang des Films sieht, ist die idyllische Waldund Flusslandschaft nahe des polnischen Chelmno; was man gleichzeitig hört, ist die Stimme des Überlebenden Simon Srebnik, den Lanzmann an die Stätte seiner Inhaftierung zurückgebracht hat. Die Korrespondenz von Gegenwart und Vergangenheit wird folglich durch Srebniks Stimme erreicht, wenn dieser etwa erläutert, dass es hier auch damals »immer so ruhig« gewesen sei, und dass dort (wo nun eine harmlose Grasfläche zu sehen ist) täglich etwa 2000 Juden »verbrannt wurden«. Das Verhältnis von Stimme und Bild bewirkt hier eine radikal veränderte Wahrnehmung des aktuell Sichtbaren, wobei durch den Eingriff der Vergangenheit sogleich alle idyllischen Assoziationen zerstört werden. Mit Bezug auf Deleuzes Zeitphilosophie lässt sich dieser Vorgang als wechselseitiger Austausch von Aktualität und Virtualität verstehen: Die teilweise nur aus dem Off zu hörende Stimme ist demnach zunächst als wesentlich virtuell zu begreifen, da sie die nicht präsente Vergangenheit verkörpert, die sich dem Bild erst nach und nach bemächtigt. Während sich die Vergangenheit jedoch allmählich aktualisiert, geschieht es, dass Aktualität und Virtualität die Rollen tauschen: Nun ist es das Bild, das zunehmend virtuell zu werden scheint, da dessen vermeintliche Evidenz durch die andere Realität, die die Stimme verkörpert, in Frage gestellt wird. Insofern Shoah die Vergangenheit in der Gegenwart im Sinne einer gemeinsamen Koexistenz zum Vorschein bringt, kann der Film durchaus dem Kino des Zeit-Bildes zugerechnet werden. Demgegenüber verfährt das Kino des Bewegungs-Bildes, wenn es sich der historischen Vergangenheit nähert, oftmals genau umgekehrt: Anstatt der Vergangenheit in der Gegenwart begegnet es eher noch der Gegenwart in der Vergangenheit. Der Historien- oder Kostümfilm etwa verfährt in der Regel so, dass er die Vergangenheit möglichst detailgetreu bebildert, um – vermittelt durch Kostüm, Dekors, Kulisse, Musik, Jargon usw. – ein optisch-akustisches Setting zu schaffen, das den Zuschauer in die Gegenwart der rekonstruierten Vergangenheit eintauchen lässt. Hierbei lässt sich allerdings kaum vermeiden, dass die Vergangenheit (unterhalb der noch so »authentischen« Rekonstruktion der Oberfläche) zu einem gewissen Grad nach dem Bild der Gegenwart modelliert wird, was im Sinne der Logik des Bewegungs-Bildes sogar notwendig ist, um die Verhaltensweisen der Filmcharaktere für ein aktuelles Publikum »lesbar« zu machen. Eben dies ist der Grund, weshalb Lanzmann in Shoah auf historisches Bildmaterial und den Versuch der fiktionalen Rekonstruktion vollständig verzichtet. Gemäß der Überzeugung, dass das Grauen der Nazi-Vergangenheit nicht repräsentierbar ist, hat Lanzmann zudem deutliche Kritik an Steven Spielbergs Film Schindler’s List geübt, dem er vorwirft, den Holocaust auf melodramatische Weise »trivialisiert« und den Deutschen mit der Figur Schindlers eine »tröstliche Identifizierung« geliefert zu haben (Lanzmann 1994). Ohne hier auf die ethischen Aspekte von Lanzmanns Standpunkt einzugehen (der dem Massenmord letztlich mit einem kategorischen Bilderverbot entgegentritt), lässt sich zumindest festhalten, dass Schindler’s List sicherlich nicht in diejenige Kategorie von Filmen passt, die Deleuze dem »modernen politischen Kino« zuordnet. Oder anders gesagt: Während Shoah wesentliche Elemente der Ästhetik des Zeit-Bildes aufweist, entspricht Schindler’s List stattdessen eher dem Kino des Bewegungs-Bildes. So verkörpert die Figur Oskar Schindlers durchweg das sensomotorische Zentrum der Handlung, die sich entlang der Stationen seiner Entwicklung vom Lebemann zum Humanisten entspinnt. Lanzmann sieht Schindler’s List sogar auf ein gewisses
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Happy End zusteuern, wenn sich in der (in Farbe gedrehten) Schlussszene des Films die überlebenden »Schindler-Juden« vor dessen Grabstätte in Israel versammeln.61 An dieser Stelle gelingt Spielberg zwar eine wirkliche Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit; anders als bei Lanzmann, der in Shoah mit einem Modell der zeitlichen Koexistenz arbeitet, bewirkt dieser Kontakt jedoch keinen Bruch mit dem linearen Zeitmodell, sondern lässt es grundsätzlich intakt.
4.5 U NTERLEGENHEIT
DES AMERIKANISCHEN
F ILMS ?
Wenn nun abschließend die Frage behandelt werden soll, wie sich Deleuzes Filmphilosophie im Kontext von Amerikanistik und Cultural Studies nutzbar machen lässt, stellt sich zunächst folgendes Problem: Wie bereits erläutert wurde, stehen einige der grundlegenden Aspekte des Ansatzes von Deleuze – insbesondere mit Blick auf den eher »klassischen« Filmkanon, auf den er im Rahmen seiner Studie rekurriert – in deutlichem Kontrast gerade zu den explizit kulturwissenschaftlich ausgerichteten Methodiken der gegenwärtigen Filmtheorie. Denn während die Unterscheidung von Hoch- und Populärkultur in den Cultural Studies eine derartige Erosion erfahren hat, dass hier die gewöhnlichste Blockbusterproduktion mit ebenso viel Aufmerksamkeit bedacht wird wie der »anspruchsvolle« Autorenfilm, ist Deleuzes Kinostudie dezidiert auf die »großen Autoren des Films« (BB 11) zugeschnitten. Dass sich dies, vor allem im zweiten Band der Studie, auch nachteilig auf die Rezeption des amerikanischen Films auswirkt, liegt auf der Hand. Während im ersten Band nämlich noch ausgiebig auf Regisseure wie Griffith, Chaplin, Vidor, Ford oder Hawks verwiesen wird, die Deleuze zu den wichtigsten Vertretern des klassischen Kinos zählt, kommt es im zweiten Band – abgesehen von Orson Welles – zu einer relativen Vernachlässigung des amerikanischen Films, dem attestiert wird, noch allzu sehr in der Tradition des Aktionsbildes festzustecken. Zwar bemerkt Deleuze am Ende des ersten Kinobandes, dass es zumindest im Kontext von New Hollywood durchaus nicht unüblich war, das sensomotorische Schema außer Kraft zu setzen; wie bereits an anderer Stelle erwähnt wurde, bemängelt er allerdings, dass sich die meisten Filme dieser Richtung mit der »Parodie des Klischees« begnügten, »anstatt ein wirklich neues Bild entstehen zu lassen«. Der Film, so Deleuze, habe prinzipiell die Chance, »aus all den Klischees ein wirkliches Bild herauszulösen und es dann gegen jene zu kehren. Bedingung dafür ist jedoch ein ästhetisches und politisches Projekt, das zur Begründung eines positiven Konzepts taugt. Aber gerade hier stößt der amerikanische Film an seine Grenzen« (281-282). Abschließend heißt es daher: »Genaugenommen hat sich das, was für den amerikanischen Film vorteilhaft war, nämlich ohne vorgängige und erstickende Tradition entstanden zu sein, jetzt gegen ihn gekehrt: das Kino des Aktionsbildes hat selber eine Tradition hervorgebracht, aus der es sich in der Mehrzahl der 61 Vgl. Lanzmann 1994: »Jedenfalls – und obwohl ich in den Augen vieler als ein Zionist gelte – hätte ich es nie gewagt, so dick aufzutragen, wie Spielberg es am Ende von Schindlers Liste tut. Mit der großen Versöhnung, mit Schindlers Grab in Israel, mit seinem Kreuz und den kleinen Kieseln, mit der Farbe, die plötzlich ins Bild kommt, um die Hypothese eines Happy-End anzudeuten…Nein, Israel ist nicht die Erlösung vom Holocaust. Diese sechs Millionen sind nicht gestorben, damit Israel existiere«.
174 | K ULTURELLE K OMPLEXITÄT Fälle nicht anders als negativ befreien kann. Die großen Gattungen dieses Films, der psychosoziale Film, die schwarze Serie, der Western und die amerikanische Komödie sind zwar zusammengebrochen, aber ihr leerer Rahmen steht noch immer. Für die bedeutenden Filmkünstler hat sich aus Gründen, die nicht nur auf den McCarthyismus zurückzuführen sind, der Emigrationsweg umgekehrt. Europa hatte in dieser Hinsicht mehr Freiheit.« (BB 282)
Um Missverständnissen entgegenzuwirken, macht es an dieser Stelle Sinn, noch kurz bei Deleuzes durchaus schroffer Unterscheidung zwischen den »großen Autoren des Films« und dem »enorme[n] Anteil an Ausschuß in der Filmproduktion« (BB 11) zu verweilen. Denn eigentlich gehört Deleuze gerade nicht zu denjenigen Philosophen, die einen kulturellen Elitismus oder eine starre Trennung von Hoch- und Populärkultur vertreten. Im Gegenteil: Wie z.B. Martin Büsser erläutert, zählt Deleuze unter den französischen Intellektuellen seiner Generation vielmehr zu jenen, die die Grundlagen dieser Trennung am stärksten problematisiert haben.62 So heißt es im Vorwort zu Differenz und Wiederholung etwa, ein philosophisches Buch müsse »einesteils eine ganz besondere Sorte von Kriminalroman sein, anderenteils eine Art science fiction« (DW 13). Mit Blick auf die außergewöhnlichen Bedingungen seiner Lehrtätigkeit in Vincennes hat Deleuze zudem bemerkt, es spreche »grundsätzlich auch nichts dagegen, daß eine Lehrveranstaltung ein wenig wie ein Rockkonzert ist« (U 202).63 Und in den gemeinsamen Arbeiten mit Guattari ging es explizit darum, die Trennung zwischen dem akademisch Seriösen und dem Populären außer Kraft zu setzen – auch wenn Deleuze sich in der Rückschau darüber unzufrieden gezeigt hat, dass der AntiÖdipus »noch recht akademisch, recht vernünftig« und »nicht die erträumte Pop-Philosophie oder Pop-Analyse« gewesen sei (17).64 Wenn es in Deleuzes Kinobüchern indes allenfalls am Rande zu einer Auseinandersetzung mit dem kommerziellen Mainstreamfilm kommt (und das amerikanische Kino im zweiten Band generell weitgehend vernachlässigt wird), dann geschieht dies 62 Vgl. Büsser 2000, 84: »Deleuze/Guattari verwenden Beispiele aus der sogenannten Popund Massenkultur ebenso wie Beispiele aus der kanonisierten Kulturgeschichte. Dieses seinerzeit provozierend gegen den akademischen Kulturhorizont eingesetzte Nichtunterscheiden zwischen ›seriösen‹ (d.i. kanonisierten) und ›banalen‹ Quellen, ist eine Methode, deren Illegitimität sich in eine ähnliche Grauzone begab, in der Popkultur sich von Anfang an befunden hat«. 63 Vgl. auch U 202-203: »In der Philosophie lehnten wir das Prinzip des ›schrittweisen Erkenntnisfortschritts‹ ab: Eine Lehrveranstaltung richtete sich gleichzeitig an Studenten des ersten wie irgendeines anderen Studienjahres, an Studenten und Nicht-Studenten, an Philosophen und Nicht-Philosophen, an Junge und Alte und an viele Nationalitäten. Es gab immer junge Maler oder Musiker, Filmleute, Architekten, die hohe Denkanforderungen an sich stellten. Es waren lange Sitzungen, niemand hörte bei allem zu, aber jeder nahm das, was er brauchen konnte […]. Damals habe ich erfaßt, wie sehr die Philosophie nicht nur eines philosophischen Verständnisses durch Begriffe bedarf, sondern auch eines nicht philosophischen Verständnisses, das über Affekte und Perzepte verläuft«. 64 In ihrem Kafka-Buch konstruieren Deleuze und Guattari sogar einen Zusammenhang zwischen dem Populären und dem Minoritären, wenn sie dasjenige, was man »gemeinhin Pop nennt«, zum minoritären »Ausweg für die Sprache, für die Musik, für das Schreiben« stilisieren (K 38).
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sicherlich nicht deshalb, weil Deleuze einen elitären Kulturbegriff vertreten würde. Stattdessen ließe sich hier auf zwei prinzipiell unterschiedliche Gründe verweisen, wobei zunächst auf die gegenläufigen Motive von philosophischen und kulturwissenschaftlichen Herangehensweisen an den Film einzugehen ist. Während nämlich die kulturwissenschaftliche Filmanalyse in der Regel zeitdiagnostisch motiviert ist und das Kino daher vor allem als einflussreiche Produktionsstätte kultureller Bedeutung begreift, spielt der zeitdiagnostische Aspekt in der philosophischen Perspektive eine eher untergeordnete Rolle.65 Vielmehr geht es der Filmphilosophie darum, aus der Konfrontation mit dem Kino philosophische Begriffe und Ideen zu gewinnen – und dies meist unabhängig von der Frage, als wie »repräsentativ« die dabei untersuchten Filme für die Kultur einer Gesellschaft oder einer historischen Epoche gelten können.66 Nun spielt der zeitdiagnostische Aspekt zwar auch bei Deleuze eine Rolle, insofern der Übergang vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild historisch begründet wird; insgesamt aber kämen Deleuzes bild-, zeit- und bewegungstheoretische Untersuchungen wohl auch durchaus ohne das historische Narrativ aus, das seiner Studie zugrunde liegt. Die weitgehende Aussparung des populären oder kommerziellen Kinos im zweiten Band ließe sich dementsprechend mit der zunehmenden Komplexität der zeitphilosophischen Analysen erklären, für die sich der Autorenfilm in der Regel besser eignet als die amerikanische Blockbusterproduktion. Dies wäre freilich kaum ein geeignetes Argument für die Filmwissenschaft in den Cultural Studies, die sich aufgrund ihrer zeit- und repräsentationsdiagnostischen Ausrichtung gerade auch dem populären Blockbusterfilm widmen muss. Zudem – und dies ist der zweite und insgesamt wichtigere Grund – scheint die kanonische Ausrichtung von Deleuzes Filmphilosophie den »modernistischen« Tendenzen geschuldet zu sein, die für seine Ästhetik generell charakteristisch sind. Mehr noch als im Falle seiner Konzeption des Literarischen zeigen sich jene Tendenzen in Deleuzes Kinobüchern, deren zentrale Unterscheidung nicht von ungefähr die zu weiten Teilen auf Bazin zurückgehende Trennung von klassischem und modernem Film darstellt.67 Während dieser »Modernismus« aber (von dem hier bewusstermaßen nur in Anführungszeichen die Rede sein soll68) im Falle der Literatur einer besonde65 Zur kulturwissenschaftlichen Filmtheorie, vgl. Stam 2000, 223-229. Den Versuch einer Unterscheidung zwischen Filmtheorie und Filmphilosophie unternimmt – mit allerdings eher mäßigem Erfolg – Dimitri Liebsch im ersten Kapitel der von ihm herausgegebenen Textsammlung Philosophie und Film (vgl. Liebsch 2006). 66 Dementsprechend heißt es am Ende von Deleuzes Kinostudie, man müsse die Philosophie als eine »Praxis der Begriffe« verstehen, die mit der »Praxis der Bilder und Zeichen« des Kinos auf spezifische Weise interferiert (ZB 358). 67 Während der moderne Film bei Deleuze allerdings zeitphilosophisch konzeptualisiert wird, stehen in Bazins Argumentation wirklichkeitstheoretische Aspekte im Vordergrund. Robert Fischer hat jedoch darauf hingewiesen, dass Bazins Realitätsbegriff Bergsons Konzeption der durée miteinschließt, so dass sich auch hier gewisse Überschneidungen mit Deleuze ergeben (vgl. Fischer 2009, 16). Der Einfluss Bazins auf Deleuzes Kinobücher sollte daher keinesfalls unterschätzt werden. 68 Die Gefahr einer solchen Zuschreibung besteht freilich darin, dass die philosophische Motivation und der eigenständige Charakter von Deleuzes Ästhetik aus dem Blick zu geraten drohen, wenn man ihr ein derart altbekanntes Label anheftet. Zudem existieren zwischen
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ren Wertschätzung der amerikanischen Literatur gerade nicht im Wege steht, ergibt sich im Falle des Films ein ganz anderes Bild. Denkt man Deleuzes Reflexionen über die Literatur folglich mit denen über das Kino zusammen, dann lässt sich eine nahezu seitenverkehrte Kartographie erstellen: Während im Bereich des Kinos nämlich der amerikanische Film für den »klassischen« Film steht und der »moderne« Film vornehmlich durch den europäischen Film verkörpert wird, ist es im Falle der Literatur genau umgekehrt, d.h. der europäische Roman gilt hier als der »klassische«, während die amerikanische Literatur als die »modernere« begriffen wird. In diesem Sinne kann in der Tat behauptet werden, dass in Deleuzes Filmbüchern eine gewisse »Unterlegenheit des amerikanischen Films« diagnostiziert wird, für die einmal mehr Bazin die entscheidenden Stichworte geliefert haben mag. Dieser hatte dem amerikanischen Roman nämlich einen ästhetischen Modernismus attestiert, der im Bereich des Films gerade nicht durch das amerikanische Kino verkörpert werde, sondern vom italienischen Neorealismus, der »exemplarischen Tendenz des modernen Films« (Bazin 2009a, 32). Dementsprechend begreift Bazin den Neorealismus als »das filmische Äquivalent zum amerikanischen Roman«, was folgendermaßen begründet wird: »Wohlverstanden, es handelt sich hier um etwas ganz anderes als um eine banale Adaption. Hollywood ›adaptiert‹ die amerikanischen Romanschriftsteller unablässig für die Leinwand. Und man weiß, was Sam Wood aus For whom the Bell tolls […] gemacht hat. Im Grunde interessierte ihn nur die reine Handlung […]. Man kann die amerikanischen Filme an zehn Fingern abzählen, die es verstanden haben, etwas vom Stil des Schriftstellers in Bilder zu übertragen, das heißt etwas von der Struktur der Erzählung, von jenem Gesetz der Schwerkraft, das die Anordnung der Tatsachen bei Faulkner, Hemingway oder Dos Passos bestimmt. Erst Orson Welles vermittelte uns eine Ahnung davon, wie der amerikanische Roman auf der Leinwand aussehen könnte. Während also Hollywood einen Bestseller nach dem anderen verfilmt und sich dabei immer weiter vom Geist dieser Literatur entfernt, wird in Italien vollkommen selbstverständlich und mit einer Ungezwungenheit, die jeden Gedanken an eine bewußte und willentliche Kopie ausschließt, aufgrund völlig eigenständiger Drehbücher das Kino zur amerikanischen Literatur realisiert.« (Bazin 2009e, 323)
Obwohl sich der Text sicherlich einer anderen philosophischen Begründung bedienen würde, wenn Deleuze ihn geschrieben hätte, fällt nichtsdestotrotz auf, wie sehr Bazins kulturelles und ästhetisches Koordinatensystem mit demjenigen von Deleuze übereinstimmt – und das sowohl hinsichtlich der Wertschätzung des amerikanischen Romans, des italienischen Neorealismus und der Filme von Orson Welles als auch angesichts der Skepsis gegenüber Hollywood. Deleuzes Fokussierung »auf ein ganz bestimmtes Kino, das sich jenseits des Mainstreams bewegt« und vorwiegend mit den »Erzähltechniken der Nouvelle Vague« operiert (Schaub 2003b, 283), bedeutet allerdings nicht, dass sich seine Filmphilosophie zur Analyse des zeitgenössischen Hollywoodfilms grundsätzlich nicht eignen würde. Wie nämlich eine Vielzahl von Autoren in den letzten Jahren verdeutlicht haben, ist es sehr wohl möglich, von Deleuzes Kinobüchern auch im Rahmen von film- und kulturwissenschaftlichen Unterdem klassischen Modernismus und der Perspektive von Deleuze auch eine Reihe von Differenzen, auf die z.B. Guattari verweist, wenn er »the formalist abuses and reductions of modernism« kritisiert (Guattari 1996, 109).
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suchungen des gegenwärtigen Mainstreamkinos einen sinnvollen Gebrauch zu machen – auch wenn es hierbei mitunter zu einer weniger strengen Auslegung der Unterscheidung zwischen Zeit- und Bewegungs-Bild kommen mag. So hat z.B. David Martin-Jones darauf hingewiesen, dass man im heutigen Hollywoodfilm nicht selten auf eine Mischform stößt, die sich zwischen den Kategorien des klassischen und modernen Kinos verorten lässt, weshalb er mit dem Begriff des »hybriden Films« arbeitet, dessen zeitliche Struktur sowohl Elemente des Bewegung-Bildes als auch des Zeit-Bildes beinhaltet.69 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Patricia Pisters in ihrer Studie The Matrix of Visual Culture, wenn sie mit Blick auf Quentin Tarantinos Pulp Fiction (1994) und David Finchers Fight Club (1999) erläutert: »Both Fincher and Tarantino present images that play with the status of the movement-image that has become ›contaminated‹ with characteristics of the time-image« (Pisters 2003, 104).70 Mehr noch als Martin-Jones und Pisters widmet sich Michaela Ott den zeitgenössischen amerikanischen »Blockbuster- und Großfilmproduktionen« (Ott 2005b, 11), wobei sie nicht nur auf Deleuzes Kinobücher rekurriert, sondern auch mit dessen Konzeption des Phantasmas arbeitet. Mit dem Mainstreamkino beschäftigt sich außerdem Anna Powells Studie Deleuze and Horror Film, in der Deleuzes Filmphilosophie als Alternative zu psychoanalytischen Ansätzen präsentiert wird, die im Bereich des Horrorgenres bislang dominant waren (vgl. Powell 2006). Am deutlichsten aber wird der aktuelle Trend einer populärkulturellen Öffnung von Deleuzes Kinobüchern vermutlich in David Martin-Jones’ und Damien Suttons Buch Deleuze Reframed veranschaulicht. Hier nämlich wird die Analyse nicht nur auf den amerikanischen Hybrid- und Blockbusterfilm ausgeweitet, sondern zudem auf Videospiele und Fernsehserien wie beispielsweise Lost oder Doctor Who (vgl. Martin-Jones/Sutton 2008). Was all diese Studien miteinander teilen, ist die Auffassung, dass Deleuzes eigene ästhetische Vorlieben der Anwendbarkeit seiner Kinobücher im Kontext der zeitgenössischen Populärkultur keinesfalls im Wege stehen. Dies impliziert freilich nicht, dass der Autoren- oder Independentfilm heute keiner weiteren Analyse bedarf oder dass der Blockbuster- und Mainstreamfilm nun unkritisch affirmiert werden soll; angesichts von dessen enormer kultureller Relevanz und Ausstrahlungskraft wä69 Zu jenen »Hybridfilmen« zählt Martin-Jones Produktionen wie Memento (2000), Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004), Lola rennt (1998) oder The Butterfly Effect (2004), die zwar häufig mit einem nonlinearen Zeitmodell operieren, dieses aber zumeist im Rahmen einer eher klassischen narrativen Struktur einsetzen, die dem Modell des BewegungsBildes angepasst ist. Vgl. Martin-Jones 2006, 2: »As Deleuze posited the time-image as an alternative to the movement-image, these ›hybrid‹ (movement-/time-image) films enable both a rethinking of Deleuze’s categories, and provide a range of new contexts within which to apply his terms«. Am Ende des zweiten Kinobuches hat Deleuze allerdings selbst schon betont, dass es zwischen Bewegungs-Bild und Zeit-Bild »eine Vielzahl möglicher Überleitungen« gibt (ZB 346). 70 Vgl. auch Pisters 2003, 217-218: »I have not always followed an ›auteurist‹ approach, as Deleuze did in his cinema books. This is because I think Deleuze’s concepts, to be productive, should be ›applicable‹ to a wide range of audiovisual images. Therefore, I have chosen not to make any hierarchical distinctions between art and images of popular culture«.
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re es aber sicherlich falsch, sich zu sehr auf den Kunst- und Autorenfilm zu versteifen, der – zumindest in seiner klassischen Form – heute zunehmend zum Nischenprodukt geworden ist. Wenn im nun folgenden zweiten Teil der Studie auf Deleuzes Filmphilosophie zurückgekommen wird, dann kommt es bewusstermaßen zu einer gewissen Vermittlung zwischen Mainstreamkino und Autorenfilm. Mit dem Western wird hier nämlich ein zweifellos populäres – und zudem vermeintlich »amerikanisches« – Genre untersucht, das zwar Teil von Deleuzes Filmkanon ist, allerdings ausschließlich im ersten Band seiner Studie und somit im Kontext des klassischen Aktionskinos behandelt wird. Wie aber besonders am Beispiel von Jim Jarmuschs Film Dead Man aufgezeigt werden soll (vgl. Teil II, Kap. 2.6), finden sich auch im (aktionsorientierten) Westerngenre eine Reihe von Filmen, die prinzipiell dem Kino des Zeit-Bildes entsprechen oder zumindest auf einer Kombination von Elementen des Zeit-Bildes mit denen des Bewegungs-Bildes beruhen.71
71 Hier lässt sich freilich hinzufügen, dass sich Jarmusch durchaus selbst am europäischen Autorenfilm orientiert – auch wenn dies im Falle von Dead Man im Rahmen des vielleicht »amerikanischsten« aller Filmgenres und unter Einsatz von Hollywoodstars wie Johnny Depp geschieht. Die Tendenz zu einer Deterritorialisierung des Westerngenres lässt sich allerdings auch anhand einer Vielzahl von anderen Produktionen aufzeigen, die sich mehr noch als Jarmuschs Film (der erstaunlich gut in Deleuzes Kategorie des Zeit-Bildes passt) als »Hybridfilme« im Sinne von Martin-Jones begreifen lassen (vgl. Martin-Jones 2006, 2).
T EIL II: D AS AMERIKANISCHE R HIZOM
»Man müßte Amerika einen besonderen Platz einräumen. Gewiß, es ist nicht frei von der Herrschaft der Bäume und der Suche nach Wurzeln. Das merkt man sogar in der Literatur, an der Suche nach einer nationalen Identität und sogar nach einer europäischen Abstammung und Genealogie (Kerouac auf der Suche nach seinen Vorfahren). Trotzdem geschieht alles, was wichtig war und ist, durch das amerikanische Rhizom.« (TP 33)
»Mit all diesen geographischen Zuweisungen sind wir auf einen falschen Weg geraten. In eine Sackgasse. Um so besser. Wenn es um den Beweis dafür geht, daß auch Rhizome ihren eigenen Despotismus, ihre eigene Hierarchie haben, die natürlich noch härter sind, auch gut, denn es gibt keinen Dualismus, keinen ontologischen Dualismus von hier und dort, keinen axiologischen Dualismus von Gut und Böse, keine Vermischung oder amerikanische Synthese. Es gibt baumartige Verknotungen in Rhizomen und rhizomatische Triebe in Wurzeln. Es gibt sogar despotische Formationen der Immanenz und Kanalisierung, die spezifisch für Rhizome sind. Im transzendenten System der Bäume gibt es anarchische Deformationen, Luftwurzeln und unterirdische Stränge [...]. Wir ziehen den einen Dualismus nur heran, um den anderen zu verwerfen. Wir benutzen den Dualismus von Modellen nur, um zu einem Prozeß zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen wird. Wir brauchen immer wieder geistige Korrektoren, die die Dualismen auflösen, die wir im übrigen nicht festlegen wollten, durch die wir nur hindurchgehen.« (TP 35)
1. Deleuze und Moby-Dick
1.1 M ELVILLE , D ELEUZE
UND DIE
AMERICAN S TUDIES
Das vorliegende Kapitel fungiert gewissermaßen als Fallstudie, in der die im ersten Teil des Buches entwickelten theoretischen Konzepte für die Analyse von Moby-Dick (1851) – einem der bekanntesten Romane der amerikanischen Literaturgeschichte – nutzbar gemacht werden sollen. Die Gründe, weshalb ausgerechnet dieser Klassiker der Weltliteratur ausgewählt wurde, um die Möglichkeiten einer von Deleuze inspirierten Literaturanalyse zu verdeutlichen, sind vielfältig. So gehört Moby-Dick zu den eher wenigen Büchern aus dem klassischen Kanon, die die revisionistische Zäsur weitgehend schadlos überstanden haben und von Old Americanists wie New Americanists gleichermaßen aufmerksam rezipiert wurden.1 Während die »Myth-and-Symbol«-Critics etwa der Symbolik des weißen Wals nachgingen, das Verhältnis von Ahab und Ishmael in den Blick nahmen und das Buch als Parabel des Kampfes zwischen »Demokratie« und »Totalitarismus« deuteten, unternahmen viele New Americanists eine genauere historische Kontextualisierung des Romans oder konzentrierten sich auf seine »transnationalen« Aspekte.2 Diese andauernde Rezeption des Buches 1
2
Der Begriff Old Americanists wurde an dieser Stelle allein aus Gründen der Symmetrie gewählt und verweist auf Autoren wie Leo Marx oder Henry Nash Smith, die in der Regel der »Myth-and-Symbol«-School zugerechnet werden. Zur andauernden Relevanz Melvilles im Kontext des amerikanistischen Revisionismus, siehe etwa die von Myra Jehlen herausgegebene Essaysammlung, die u.a. Aufsätze von Sacvan Bercovitch, Donald Pease, Michael Paul Rogin und Wai-chee Dimock enthält. In Jehlens Einleitung heißt es: »[Melville] has been no less interesting to these critics than he ever was to those who propounded the Great Tradition« (Jehlen [Hg.] 1994, 2). Da vermutlich zu keinem anderen amerikanischen Roman so viel Sekundärliteratur existiert wie zu Moby-Dick, kann an dieser Stelle nur eine kleine Auswahl der Interpretationen genannt werden, die innerhalb des amerikanistischen Diskurses von Bedeutung sind. Im Kontext der »Myth-and-Symbol«-School oder der älteren Amerikanistik sei hier vor allem auf D.H. Lawrence (Lawrence 1923), F.O. Matthiessen (Matthiessen 1968), Charles Olson (Olson 1947), Richard Chase (Chase 1949), C.L.R. James (James 2001) und Leo Marx (Marx 1964), im Kontext der neueren Amerikanistik auf Michael Paul Rogin (Rogin 1983), Donald Pease (Pease 1987 und 2002), Toni Morrison (Morrison 1989), Wai-chee Dimock (Dimock 1991), William Spanos (Spanos 1995), Winfried Fluck (Fluck 1995), Samuel Otter (Otter 1999) und Robert Tally Jr. (Tally Jr. 2009) verwiesen. Vgl. außerdem die von
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verweist zunächst darauf, dass Moby-Dick offenbar auch heutigen Lesern noch etwas zu sagen hat. In der Tat beinhaltet die Geschichte der Pequod, deren multiethnische Besatzung unter der Führung des charismatischen Ahab Jagd auf den weißen Wal macht, schon allein in inhaltlicher Hinsicht eine Vielzahl von Aspekten, die den Roman auch im Kontext der Gegenwart noch lesenswert erscheinen lassen. So artikuliert Moby-Dick etwa im Hinblick auf das Verhältnis von Technik und Natur, Mensch und Tier, Land und Meer, Rationalität und Leidenschaft sowie Macht und Recht eine Vielzahl von äußerst komplexen Konflikten und Gemengelagen, deren Relevanz über den romantischen Kontext von Melvilles Literatur hinausweist. Zudem kommt wohl kaum ein Roman des klassischen Kanons dem derzeitigen Trend, literarische Texte nicht mehr primär im Rahmen von nationalen Kontexten, sondern hinsichtlich ihrer transnationalen Bezüge zu begreifen, so sehr entgegen wie Moby-Dick. Dass der Roman nichtsdestotrotz einmal als Musterstück der »American Renaissance«-Literatur galt, wird daher von Kritikern wie Robert Tally Jr. heute weithin als Missverständnis gedeutet: »Moby-Dick is, above all, a baroque text. It never belonged to any renaissance, American or otherwise, and all of its forces are mobilized in opposition to the national narrative implied by the discourse of cultural renascence« (Tally Jr. 2009, 1). Angesichts des zentralen Stellenwerts, den Melville und Moby-Dick heute nicht nur im Kontext der Amerikanistik einnehmen, sollte indes nicht vergessen werden, dass der Verweis auf »Melville’s unquestioned greatness« (Jehlen [Hg.] 1994, 5) erst relativ spät zum vorherrschenden Beschreibungsmuster seiner Literatur geworden ist. Denn während Melville mit seinen frühen Büchern – insbesondere den exotischen Abenteuerromanen Typee (1846) und Omoo (1847) – zwar einigen Erfolg erzielte, wurde sein wesentlich komplexeres späteres Werk zunehmend kritisch aufgenommen und nach dem nur mäßig erfolgreichen Moby-Dick weitestgehend ignoriert. Nach den bei Kritikern und Lesern komplett gescheiterten Romanen Pierre; or, The Ambiguities (1852) und The Confidence-Man (1857) beendete Melville gezwungenermaßen seine professionelle Schriftstellerkarriere, um seinen Lebensunterhalt u.a. als Zollinspektor in New York zu verdienen, wo er 1891 starb. Zwar entstanden nach Melvilles Rückzug vom Leben als Berufsautor noch mehrere Gedichtbände und die posthum veröffentlichte Erzählung Billy Budd; aus dem öffentlichen Bewusstsein war er zunächst jedoch fast vollständig verschwunden, was sich erst in den 1920er Jahren änderte, in denen die Wiederentdeckung seines Werkes begann. So wird Melville z.B. in den einflussreichen Studies in Classic American Literature von D.H. Lawrence behandelt, dessen Fokussierung auf Autoren wie Cooper, Hawthorne, Melville, Whitman und Poe den klassischen Kanon der amerikanischen Literatur wesentlich prägen sollte (vgl. Lawrence 1923). Bekräftigt wurde der Status Melvilles als Klassiker des amerikanischen Romans dann vor allem in F.O. Matthiessens American Renaissance von 1941 – einem Buch, das nicht nur eine wesentliche Inspirationsquelle für die Arbeiten der »Myth-andSymbol«-Critics darstellt, sondern auch noch im Zusammenhang mit den Kanondebatten der 1980er Jahre als Referenzpunkt fungiert, insofern viele New Americanists
Richard Chase (Chase [Hg.] 1962), Richard Brodhead (Brodhead [Hg.] 1986) und Myra Jehlen (Jehlen [Hg.] 1994) herausgegebenen Essaysammlungen.
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nun explizit gegen Matthiessen Stellung bezogen.3 An Matthiessens Projekt wurde insbesondere die Fokussierung auf eine bestimmte Gruppe weißer, männlicher Autoren kritisiert (Emerson, Whitman, Hawthorne, Melville und Thoreau), deren Werke das Buch zu amerikanischen »masterworks« (Matthiessen 1968, xi) erklärte, während afro-amerikanische Autoren wie Frederick Douglass oder die von Frauen dominierte »Sentimental Novel« unberücksichtigt blieben (vgl. Tompkins 1989). American Renaissance wurde zudem als wesentlich nationalistisches Projekt begriffen, da es Matthiessen – parallel zu den ideologischen Konflikten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs – darum gegangen sei, Möglichkeiten zur Identifikation mit der amerikanischen Kultur aufzuzeigen, deren Geschichte er jedoch erheblich verklärt habe.4 Unstrittig ist, dass sich in Matthiessens Buch der Wille zur Etablierung eines festen Kanons der amerikanischen Nationalliteratur äußert (die hier als explizit demokratische Literatur verstanden wird), was bei den revisionistischen Autoren der 1980er Jahre naturgemäß auf Ablehnung stieß. Doch während sich Matthiessens Inszenierung einer »demokratischen« Tradition der amerikanischen Kultur noch mit Blick auf die reale Bedrohung durch den europäischen Faschismus nachvollziehen lässt, wurde den »Mythand-Symbol«-Critics der Nachkriegsjahre vorgeworfen, ihre eigene Affirmation einer spezifisch amerikanischen Nationalliteratur stütze nicht nur die Ideologie des amerikanischen Exzeptionalismus, sondern indirekt auch die Ziele der Containment-Politik zur Zeit des Kalten Krieges. Und wie vor allem Donald Pease gezeigt hat, sollte dieser politische Kontext ganz wesentlich auch die Moby-Dick-Lektüre der »Myth-andSymbol«-Critics prägen (vgl. Pease 1987). Auffällig an der amerikanistischen Moby-Dick-Rezeption von Richard Chase bis Leo Marx (vgl. Chase 1949 und Marx 1964) ist in diesem Zusammenhang zunächst die deutliche Fokussierung auf das Verhältnis der beiden Hauptfiguren Ishmael und Ahab. So galt Ahab den Autoren der »Myth-and-Symbol«-School gemeinhin als Figur mit einem totalitären Wahrheits- und Herrschaftsanspruch, während Ishmael als Repräsentant »amerikanischer« Werte wie Pluralismus, Individualismus und Demokratie gedeutet wurde, der auch im Kontext der damaligen Gegenwart noch das Erbe der freiheitlichen Tradition Amerikas zu verkörpern schien.5 Diese Lesart – »a reading of Moby Dick that has become canonical« (Pease 1989, 113) – mag, wie beispielsweise Donald Pease argumentiert, das politische Unbewusste einer ganzen Ge3 4
5
Zur Auseinandersetzung der New American Studies mit Matthiessens American Renaissance, vgl. Michaels/Pease (Hg.) 1989. So hat z.B. Jonathan Arac argumentiert, dass Matthiessen die Rolle des Bürgerkriegs deutlich relativiert habe, um seine positive Darstellung des »Zeitalters von Emerson und Whitman« aufrechterhalten zu können: »The Civil War was not even indexed, although it was not literally absent from the book. It allowed for tragic poetry by Melville and Whitman, and it was mentioned again and again […] as a marker, dividing the American Renaissance from an age of rampantly destructive individualism. But the war was not integrated into any understanding of the renaissance« (Arac 1989, 97). Wie Donald Pease erläutert, spielt hierbei auch eine Rolle, dass Ishmael die Jagd auf Moby Dick als Einziger überlebt: »That final cataclysmic image of total destruction motivated Matthiessen and forty years of Cold War critics to turn to Ishmael, who in surviving must, the logic would have it, have survived as the principle of America’s freedom and who hands over to us our surviving heritage« (Pease 1989, 144).
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neration von Amerikanisten zum Ausdruck bringen, deren Weltbild maßgeblich durch den Kontext des Kalten Krieges, d.h. den binären Gegensatz von »Totalitarismus« und »Demokratie« geprägt war. Auffällig an ihr ist jedoch auch, dass sie auf einem ästhetischen Beurteilungsschema beruht, das einen spezifischen Typ von Zeitlichkeit impliziert. Insofern die »Myth-and-Symbol«-Critics nämlich den Grundkonflikt ihrer eigenen Epoche in den Werken der »Renaissance«-Autoren wiederzufinden meinten, neigten sie dazu, Schriftsteller wie Melville als »zeitlos« und deren Botschaften als »universell gültig« zu qualifizieren. In ihrer Moby-Dick-Interpretation wird Ahabs Wille folglich nicht mehr als Ausdruck einer psychologischen Disposition gedeutet (der »Monomanie«, wie es im 19. Jahrhundert hieß6), sondern als Idealtyp der einen Seite eines vermeintlich universellen Dualismus, der wahlweise zwischen Dogmatismus und Pluralismus, absolutistischem Solipsismus und aufgeklärtem Individualismus oder Totalitarismus und Demokratie unterscheidet. Dass im Zuge der revisionistischen Transformation der American Studies wesentliche Kritik an der dominanten Moby-Dick-Lesart der »Myth-and-Symbol«-School geäußert wurde, ist daher folgerichtig und nur allzu berechtigt. Das Problem besteht jedoch darin, dass sich die revisionistischen Moby-Dick-Interpretationen vielfach in einer fast reaktiven Umhierarchisierung der von der klassischen Amerikanistik gesetzten Dualismen erschöpfen: Während die Old Americanists etwa Melvilles »Zeitlosigkeit« betonen, geht es den New Americanists stattdessen darum, dessen »Zeitgebundenheit« nachzuweisen.7 Während Ishmael in der klassischen Lesart gegenüber Ahab favorisiert wurde, drehen die Revisionisten dieses Schema oftmals lediglich um und verteidigen nun Ahab gegen Ishmael.8 Auch wenn sich viele Einzelaspekte der revisionistischen Kritik aus heutiger Sicht sehr gut nachvollziehen lassen, entsteht somit dennoch der Eindruck einer grundsätzlichen Verengung der Diskussion insgesamt, die nicht immer etwas über die Literatur Melvilles auszusagen scheint, sondern sich teilweise eher aus der Entwicklung der Amerikanistik erklärt. Ziel des vorliegenden Kapitels ist daher, der beschriebenen Verengung entgegenzuwirken und zu einer sinnvollen Aktualisierung Moby-Dicks im Kontext gegenwärtiger kulturtheoretischer und philosophischer Fragestellungen zu gelangen. Im Dialog mit der Philosophie von Deleuze geht es dabei explizit auch um Alternativen zu den 6
7
8
Vgl. Pease 1987, 391: »In Melville’s time, Ahab’s need for absolute power over the crew was interpreted in the psychological terms of monomania rather than the political term ›totalitarianism‹«. Vgl. Dimock 1991, 6: »[M]y goal obviously is not to uncover a timeless meaning in Melville’s writings, but to multiply within them some measure of their density of reference: to examine them, in short, not in their didactic relation to the twentieth century, but in their dialogic relation to the nineteenth«. Ähnlich heißt es in Jehlens Einleitung zu dem von ihr herausgegebenen Melville-Buch: »For most of the critics whose essays appear here, there are no universal and eternal verities, but only a variety of local veracities« (Jehlen [Hg.] 1994, 5). Vgl. hierzu etwa Morrison 1989, wo Ahab zum »only white male American heroic enough to try to slay the monster« (17) erklärt wird (gemeint ist die rassistische Idealisierung von »Whiteness«). Siehe außerdem die Perspektive Dimocks, die Ahab nicht als dämonischen Täter, sondern als Opfer eines »negativen Individualismus« – sowie seines »monarchischen« Autors – begreift (Dimock 1991).
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Ansätzen von »alter« und »neuer« Amerikanistik. Angesprochen auf die Wahl zwischen den Methoden der Old Americanists und der New Americanists ließe sich folglich im Sinne von Bartlebys Formel »I prefer not to« antworten – einer Formel, die sich laut Deleuze der erzwungenen Wahl zwischen zwei gleichermaßen problematischen Alternativen verweigert (vgl. Melville 1987; KK 97-98). Im Anschluss an Cesare Casarino wird deshalb im Folgenden auch die falsche Alternative zwischen einem »zeitlosen« und einem »zeitbedingten« Melville zurückgewiesen, um stattdessen einen »unzeitgemäßen« Melville zu präsentieren (vgl. Casarino 2002), dessen bekanntester Text speziell im Hinblick auf zeit-, raum-, macht- und affekttheoretische Aspekte untersucht werden soll. Dabei wird der romantische Kontext des Romans freilich nicht ausgeblendet, doch geht es in erster Linie nicht um eine Historisierung Melvilles, sondern um eine Aktualisierung, die den Wert Moby-Dicks in Abhängigkeit von den Gebrauchsmöglichkeiten bestimmt, durch die sich der Roman auch für den heutigen Leser noch als relevant darstellt. Dies heißt allerdings nicht, dass MobyDick »Lösungen« für gegenwärtige Probleme oder »Antworten« auf aktuelle Fragestellungen parat hätte. Eine möglichst präzise Form der Aktualisierung – d.h. der Versuch, die unzeitgemäßen Aspekte des Romans für die Gegenwart zu öffnen – macht es aber immerhin möglich, zu einer genaueren Wahrnehmung der Probleme, Bedingungen und Möglichkeiten zu gelangen, die mit jenen Fragestellungen korrespondieren. Was die Relevanz Moby-Dicks in Bezug auf die Komplexität der Gegenwart zuallererst begründet, ist die Tatsache, dass Melville stets ein genaues Verständnis für die Komplexität seiner eigenen Epoche zum Ausdruck gebracht hat, die er eher in prozessualen und dynamischen als in statischen Begriffen, eher mit Blick auf ihre Übergänge und Mischungen als hinsichtlich ihrer fixen Dualismen und Trennungen beschrieben hat. Eine Aktualisierung Melvilles impliziert in dieser Hinsicht also nicht, ihn allzu sehr »verbiegen« zu müssen, um seine Literatur für den heutigen Leser nutzbar zu machen. Die Tatsache, dass Deleuze selbst über Melville geschrieben und sich auch vielfach auf Moby-Dick bezogen hat, spielt im Folgenden eine eher untergeordnete Rolle. Zwar bietet sich Deleuzes Aufsatz »Bartleby oder die Formel« (vgl. KK 94-123) – in dem außer Melvilles Kurzgeschichte auch viele andere seiner Texte behandelt werden – durchaus für eine Melville-Lektüre an, die sich quer zu den Ansätzen von Old Americanists und New Americanists positioniert.9 Doch auch wenn einige von Deleuzes Motiven (so etwa das »Wal-Werden« Ahabs) aufgegriffen bzw. weitergedacht werden, geht es nicht darum, zu wiederholen, was Deleuze bereits über Melville geschrieben hat. Stattdessen wird auf eine Reihe allgemeinerer Begriffe aus dem Kontext von Deleuzes Werk zurückgegriffen, wann immer dies für die konkrete Analyse sinnvoll erscheint. Dabei geht es jedoch nicht bloß um eine Anwendung bestimmter 9
Interessanterweise beruft sich Deleuze in seinem Text fast ausschließlich auf französischsprachige Autoren (z.B. Philippe Jaworski, Régis Durand oder Viola Sachs), die vom amerikanistischen Mainstream bislang kaum beachtet wurden. Hinzu kommt, dass Deleuze sich nur wenig für die Beziehung von Ahab und Ishmael interessiert, die im Fokus des amerikanistischen Diskurses steht. Stattdessen geht es Deleuze um eine systematische Analyse von Melvilles Figuren insgesamt, wobei die Monomanischen (Ahab, Claggart, Babo), die Hypochonder (Bartleby, Billy Budd, Benito Cereno) und die Männer des Gesetzes (Ishmael, Kapitän Vere, der Anwalt aus »Bartleby«) unterschieden werden (vgl. KK 108-116).
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Aspekte von Deleuzes Philosophie, sondern mehr noch um eine Verhandlung, in deren Verlauf die Produktivität der gewählten Perspektive im kritischen Dialog mit einer Vielzahl von anderen Autorinnen und Autoren demonstriert werden soll.
1.2 D ER N OMOS
DES M EERES : GEKERBTER R AUM
G LATTER
UND
In seinem Buch Modernity at Sea: Melville, Marx, Conrad in Crisis (Casarino 2002) hat Cesare Casarino eine Art »dritten Weg« zwischen den literaturtheoretischen Ansätzen von Old Americanists und New Americanists vorgeschlagen, der zugleich auf eine andere Form der literarischen Zeit verweist. Während nämlich die Old Americanists die »Zeitlosigkeit« (timelessness) Melvilles und anderer Autoren des literarischen Kanons betonen, geht es den New Americanists im Gegenteil darum, auf den »zeitgebundenen« oder »zeitgemäßen« (timely) Charakter jener Autoren hinzuweisen, d.h. aufzuzeigen, wie sich in deren Werken die Ideologien, Mentalitäten und dominanten Denkweisen ihrer Epoche »widerspiegeln«. Dementsprechend verfolgt der revisionistische Kritiker die Aufgabe, das Konzept der ästhetischen Autonomie zu dekonstruieren und den literarischen Text in den ideologischen Kontext zurückzuversetzen, aus dem er ursprünglich hervorgegangen ist (vgl. Jehlen 1987). Wai-chee Dimock, deren Melville-Studie Empire for Liberty von Casarino als Beispiel für die Perspektive der New Americanists herangezogen wird, argumentiert in diesem Sinne, Melville sei der dominanten Denkströmung seiner Zeit auf tiefgreifende Weise verhaftet, da seine Werke die imperialistischen Ambitionen der Ära des »Manifest Destiny« artikulierten.10 So heißt es zu den Absichten ihres Buches: »Melville will emerge, in my account, as something of a representative author, a man who speaks for and with his contemporaries, speaking for them and with them, most of all, when he imagines himself to be above them, apart from them, opposed to them. […] Given such a premise, my goal obviously is not to uncover a timeless meaning in Melville’s writings, but to multiply within them some measure of their density of reference: to examine them, in short, not in their didactic relation to the twentieth century, but in their dialogic relation to the nineteenth.« (Dimock 1991, 6)
Dem bei Dimock zum Ausdruck kommenden Binarismus von »timeless« und »timely«, der das Zentrum der gegensätzlichen Lesarten von Old Americanists und New Americanists bildet, begegnet Casarino nun dadurch, dass er zunächst auf den reaktiven Charakter dieser dialektischen Gegenüberstellung hinweist: »[I]n rejecting the myth of the timeless genius, Dimock wishes to present us instead with a timely Melville, that is, with a ›representative author‹ malgré soi in ›dialogic relation‹ with his time. I don’t doubt the fact that there is an only too timely Melville to be read in his works. But
10 Das »Manifest Destiny«-Konzept geht ursprünglich auf eine Formulierung John L. O’Sullivans zurück, der 1845 in einem Zeitschriftenartikel »our manifest destiny to overspread the continent allotted by Providence for the free development of our yearly multiplying millions« beschworen hatte (O’Sullivan 1845, 5).
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why read it? This is not a rhetorical question. What I want to put into question, in other words, is the desire at work in such a reading: it seems to me that this is to a large degree a reactive desire. In reacting against the myth of the timeless genius, we run the risk of rushing to the opposite pole of this binary relation – namely, the timely writer – without, however, having necessarily stepped outside of the conceptual, epistemological, and political perimeter of the binarism. This is, in other words, a reversal without a displacement. In this way, the logic at work in that binarism is at the very least left untouched and perhaps even reinforced – thereby reconfirming the fact that the pole we meant to critique and to abandon, namely, the myth of the timeless genius, still holds us very much in its oedipal sway as something against which we are made to feel we must at all costs react.« (Casarino 2002, xxxviii)
Wie in diesem Zitat deutlich wird, ist Casarinos Kritik an Dimock aus einer Vielzahl recht unterschiedlicher Elemente zusammengesetzt. So beruft er sich einerseits auf die dekonstruktive Figur der Verschiebung (»a reversal without a displacement«), während er andererseits im Sinne von Deleuzes und Guattaris Anti-Ödipus argumentiert (»still holds us very much in its oedipal sway«). In zeittheoretischer Hinsicht interessant ist jedoch vor allem, was Casarino der binären Unterscheidung von »timeless« und »timely« entgegensetzt. Gewissermaßen als Antwort auf jenen Dualismus bringt er mit der nietzscheanische Kategorie des Unzeitgemäßen nämlich noch eine dritte Form der Zeitlichkeit ins Spiel, was folgendermaßen erläutert wird: »What remains unthought in the oedipal and dialectical strictures of the binary relation between the timeless and the timely is the untimely – and the Nietzschean echo here is at once inevitable and intentional. The untimely is the temporal register of that which is nonsynchronous with its own history, of that which at once is in history and yet can never completely belong to it: the untimely is the unhistorical time of potentiality.« (xxxix-xl)11
Das Verhältnis des Unzeitgemäßen zur Geschichte lässt sich demnach als ein wesentlich komplexes beschreiben. Denn zweifellos steht das Unzeitgemäße nicht einfach über oder außerhalb der Geschichte (wodurch es sich kaum von der Idee des Ewigen oder Zeitlosen unterschiede); eher entspricht es jener »Dunstschicht des Unhistorischen«, von der die Geschichte laut Nietzsche in jedem Moment ihres Werdens »umhüllt« wird.12 Das Unzeitgemäße lässt sich folglich als das von Rechts wegen ungeschichtliche Element der Geschichte definieren, das die Voraussetzung jedes histori11 Casarinos Konzeption des Unzeitgemäßen geht primär auf das zweite Stück von Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen (»Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«) zurück und ist wesentlich von Deleuzes und Guattaris Lesart in Was ist Philosophie? inspiriert (vgl. Nietzsche 1994, Band I, 209-285 sowie WP 110-111 und 129-131). 12 Vgl. Nietzsche 1994, Band I, 215: »Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden. Es ist wahr: erst […] durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaße von Historie hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen. Wo finden sich Taten, die der Mensch zu tun vermöchte, ohne vorher in jene Dunstschicht des Unhistorischen eingegangen zu sein?«
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schen Wandels darstellt, sofern es als Aktualisierungsmöglichkeit fungiert, die – virtuell – mit der historischen Gegenwart koexistiert. Liest man Melville als unzeitgemäßen Autor, dann betont man also jene Aspekte seines Werkes, die sich einer vollständigen historischen Lokalisierung entziehen, da sie gleichermaßen innerhalb wie außerhalb der Geschichte stehen (und somit im Sinne Casarinos genau dasjenige verkörpern, »which at once is in history and yet can never completely belong to it«). Doch gerade aufgrund jener Aspekte, die sich dagegen sperren, derart lokalisiert, d.h. in ihrem ursprünglichen historischen Kontext »eingesperrt« zu werden, ist Melvilles Literatur heute überhaupt noch von Interesse. Wie auch Casarino verdeutlicht, ist es demzufolge das Unzeitgemäße in der Literatur Melvilles – und nicht ihr vermeintlich zeitloser Charakter –, durch das es möglich wird, sein Werk in die Gegenwart zu übersetzen und in einem anderen Kontext zu reaktivieren: »an untimely Melville is neither the timeless genius abstracted from his world nor the timely writer fully belonging to his world but rather a thinker who is at once fully in his as well as in our world and yet nonsynchronous with both« (Casarino 2002, xl). Betrachtet man jene Aspekte in Melvilles Werk genauer, dann wird deutlich, dass eine wesentliche Verbindung zwischen dem Unzeitgemäßen seiner Romane und der Tatsache existiert, dass diese nahezu alle auf dem Meer angesiedelt sind.13 Es stellt sich mithin die Frage, ob das Genre der Sea Narrative nicht schon an sich gewisse Elemente beinhaltet, die in einer besonderen Beziehung zum Unzeitgemäßen stehen. In diesem Kontext sollte zunächst jedoch daran erinnert werden, dass der Walfang eine der wichtigsten kapitalistischen Industrien des 19. Jahrhunderts darstellt, wobei es in kommerzieller Hinsicht besonders auf das kostbare Walöl ankam, das vor dem Durchbruch des Petroleums vor allem für den Gebrauch von Lampen benötigt wurde. Als kapitalistische Industrie basiert der Walfang naturgemäß auf einer strengen Arbeitsteilung, einem präzisen timing der einzelnen Arbeitsprozesse, einem Verständnis der Komplexität jener Prozesse und folglich auf einem hohen Maß an Selbstdisziplin auf Seiten aller, die an den Arbeitsprozessen beteiligt sind. In Moby-Dick kommen allerdings auch viele Aspekte zum Ausdruck, die dieser kapitalistischen Tendenz der Waljagd prinzipiell entgegengesetzt sind. Wenn das Schiff z.B. in eine unerwartete Flaute gerät, so gibt es an Bord kaum etwas anderes zu tun als das berühmte »Seemannsgarn« zu spinnen, d.h. die tote Zeit zu überbrücken, indem man Erzählungen vergangener Abenteuer austauscht.14 Anders gesagt: Die Zeit an Bord des Schiffes ist nicht nur die kapitalistische Zeit der Arbeit, sondern auch die Zeit des Erzählers, wie sich in Anlehnung an Walter Benjamins Essay über das erzählerische Werk Nikolai Lesskows formulieren lässt (vgl. Benjamin 1977c). Benjamin zufolge handelt es sich bei der Erzählung um eine »handwerkliche Form der Mitteilung«, die nicht darauf 13 Eine Ausnahme bilden lediglich Pierre; or the Ambiguities (1852) und The ConfidenceMan (1857). 14 Vgl. Casarino 2002, 54: »At a time when labor was undergoing unprecedented restructurations and when the laborer’s periods of inactivity were rapidly shrinking, to be a sailor, along with being a soldier, was one of the last occupations that – inhuman treatment, extreme danger, and exhausting physical exertion aside – still allowed for long spells of idleness and boredom, such as days spent in an unexpected calm at sea. These are the spells that would then be filled by hours of storytelling and that would make storytelling possible at all«.
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angelegt ist, »das pure ›an sich‹ der Sache zu überliefern wie eine Information oder ein Rapport. Sie senkt die Sache in das Leben des Berichtenden ein, um sie wieder aus ihm hervorzuholen« (393).15 Dass die Kunst des Erzählens im Zeitalter der Moderne allmählich zu verschwinden scheint, lässt sich mit Benjamin folglich dadurch erklären, dass sich die Erzählung »nicht abkürzen« lässt, wie mit Verweis auf Valéry erläutert wird: »alle diese Hervorbringungen ausdauernder, entsagungsvoller Bemühungen sind im Verschwinden, und die Zeit ist vorbei, in der es auf Zeit nicht ankam. Der heutige Mensch arbeitet nicht mehr an dem, was sich nicht abkürzen läßt« (394). In diesem Kontext ist es interessant, dass Benjamin neben der Figur des »seßhaften Ackerbauern« vor allem auf den »handeltreibenden Seemann« verweist, der einen eigenen »Grundtyp« der Erzählung hervorgebracht habe (386). Hier lässt sich jedoch hinzufügen, dass die Seefahrt auch unter modernen Vorzeichen noch gewisse Inseln einer Zeitlichkeit bewahren konnte, die aus jener Vergangenheit stammen, »in der es auf Zeit [im Sinne von kapitalistisch verwertbarer Arbeitszeit] nicht ankam«. Wenn das Schiff somit bei Foucault als »Heterotopie par excellence« bezeichnet wird (Foucault 2005b, 942), dann lässt sich zugleich auch auf die heterochronischen Besonderheiten der Schifffahrt verweisen.16 Denn so sehr das Schiff im Kontext des Walfangs eine kapitalistische Zeit der Beschleunigung verkörpert, so sehr ermöglicht es außerdem die Erfahrung von Entschleunigung, Leerlauf, Aufschub und Langeweile, die laut Benjamin die Grundbedingung für die Produktion der Erzählung darstellt (vgl. Benjamin 1977c, 392-393). All dies soll freilich nicht heißen, dass es sich bei Moby-Dick um eine Erzählung im Sinne Benjamins handelt. Im Gegenteil: Moby-Dick wird zu Recht als Vorläufer des modernen Romans (wenn nicht gar als dessen erste vollwertige Verkörperung) begriffen, und wie Benjamin deutlich macht, ist der Roman der Erzählung grundsätzlich entgegengesetzt.17 Nichtsdestotrotz aber beinhaltet Moby-Dick eine Vielzahl von 15 Vgl. hierzu auch das zweite Kapitel in Casarinos Modernity at Sea (Casarino 2002, 45-61), wo Benjamins Thesen über den Erzähler am Beispiel von Melvilles Roman White-Jacket diskutiert werden. 16 In Foucaults einflussreichem Aufsatz über die Heterotopien heißt es, dass »das Schiff für unsere Zivilisation vom 16. Jahrhundert bis heute nicht nur das wichtigste Instrument zur wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist […], sondern auch das größte Reservoir für die Fantasie. Das Schiff ist die Heterotopie par excellence. In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, versiegen die Träume. An die Stelle des Abenteuers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle der Freibeuter die Polizei« (Foucault 2005b, 942). Eher beiläufig verwendet Foucault im gleichen Text auch den Begriff der Heterochronie: »Heterotopien stehen meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen, das heißt, sie haben Bezug zu Heterochronien, wie man aus rein symmetrischen Gründen sagen könnte. Eine Heterotopie beginnt erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben« (939). Als Beispiele für eine derartige Verbindung von Heterotopie und Heterochronie nennt Foucault u.a. den Friedhof, die Bibliothek, das Museum und den Jahrmarkt (939-940). 17 Vgl. Benjamin 1977c, 389: »Was den Roman von der Erzählung […] trennt, ist sein wesentliches Angewiesensein auf das Buch […]. Der Erzähler nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Geschichte zuhören. Der Romancier hat sich abgeschieden. Die Geburts-
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eingeschobenen Erzählungen, die den Handlungsverlauf immer wieder unterbrechen und das Buch mit einer jeweils anderen Geschwindigkeit und einem anderen Ton ausstatten.18 Neben den schier endlosen Reflexionen über das Wesen des Walfangs und des Meeres, den cetologischen Abhandlungen, literarischen Anspielungen, metaphysischen Spekulationen und historischen Abschweifungen dienen somit auch jene eingeschobenen Erzählungen dazu, Moby-Dick nicht als simplen Abenteuerroman mit einer spannenden Handlung und einer symbolischen Botschaft zu lesen. Zwar betreffen jene Erzählungen mitunter auch den Handlungsverlauf, in erster Linie affizieren sie jedoch die Intensität der Lektüre, die sie entschleunigen und mit zahlreichen Brüchen versehen. Demnach hat man es hier mit dem eher kuriosen Fall zu tun, dass die Erzählung der Narration entgegenwirkt. Die Narration nämlich stellt gleichsam den »Handlungsvektor« der aktionsreichen Jagd auf den weißen Wal dar, »whose terminal and sharp arrowhead is the pointed blade of Ahab’s harpoon shooting into the whale« (Casarino 2002, 60).19 Dieser Handlungsbogen bildet praktisch das sensomotorische Schema des Romans, auf das sich z.B. John Huston in seiner Moby-DickVerfilmung von 1956 konzentriert. Im Roman selbst wird dieses Schema jedoch immer wieder außer Kraft gesetzt, weshalb das Problem an Hustons Verfilmung keinesfalls die prinzipiellen Schwierigkeiten betrifft, die sich bei der Übersetzung eines literarischen Textes in das Medium des Films ergeben. Problematisch ist vielmehr, dass Huston sich einem Roman mit den Mitteln des Bewegungs-Bildes annimmt, dessen Form dem Kino des Zeit-Bildes wesentlich näher steht.20 Bei Hustons Moby kammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben«. Mit Blick auf Melville und MobyDick, siehe diesbezüglich außerdem Casarino 2002, 57: »The process that takes Melville from the writing of White-Jacket to the writing of Moby-Dick – his next work – spells a paradox: if he, like Ahab, was condemned to solipsism, then he would make himself solitary to an extreme; if he could no longer be a storyteller, then he would produce the first modernist novel, namely, Moby-Dick«. 18 Vgl. hierzu etwa die Zusammentreffen der Pequod mit den Schiffen Town-Ho und Jerobeam in Kapitel 54 und 71 (Melville 2003, 265-284 und 341-347). 19 Laut Hanjo Berressem betrifft dieser auf die ultimative Katastrophe zusteuernde Handlungspfeil auch die Darstellung des Ozeans, der am Ende des Romans – parallel zur zunehmenden Beschleunigung der Narration – zu einem einzigen Strudel wird: »At the end of Moby-Dick, the multiplex space of the sea becomes a maelstrom into which all of the problematics of the novel are drawn […]. Not only the Pequod, the whale, and the crew, but with it the whole, itself highly overcoded narrative is sucked into the vortex and compressed to a point of extreme poetological density« (Berressem 2004a, 239). 20 Aufgrund der medienspezifischen Eigenheiten von Literatur und Film sollten die Analogien zwischen dem sensomotorischen Schema des klassischen Kinos und dem narrativen Handlungsbogen im Roman freilich nicht überstrapaziert werden. Gewisse Parallelen lassen sich indes nicht von der Hand weisen: So kann der Einbruch des Erzählerischen, der in Moby-Dick zu einer wiederholten Unterbrechung des Handlungsverlaufs beiträgt, etwa damit verglichen werden, wie sich Deleuze zufolge der Sprechakt im Kino von Rohmer oder Bresson »nicht mehr in die Verkettung von Aktionen und Reaktionen« einfügt, son-
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Dick handelt es sich somit nicht allein um eine Übersetzung, sondern mehr noch um eine Abkürzung. Und vielleicht ist es das, was Melvilles Roman noch am ehesten in die Nähe von Benjamins Konzeption der Erzählung bringt: die Tatsache, dass MobyDick von Rechts wegen einen Text darstellt, der sich nicht abkürzen lässt, ohne dass es gleichzeitig zu einer qualitativen Veränderung, einer Deformation seines »Wesens« käme. Die Ästhetik der wechselnden Intensitäten, der Zu- und Abnahme von Geschwindigkeit, der abrupten Brüche und heterogenen Stimmen, Themen, Genres und Dauern, die Moby-Dick zu einem derart sonderbaren Roman macht, sollte daher keinesfalls als dem Gegenstand des Romans äußerlich verstanden werden. Denn wenn Casarino Recht hat, dass Moby-Dick auf der Grundlage von Melvilles Motivation entstanden ist, sich quasi in die historische Formation des Walfangs hineinzuschreiben, dann kann die Ästhetik des Buches als der ambitionierte Versuch gelten, dem unzeitgemäßen Charakter des Walfangs auch in formaler Hinsicht zu entsprechen.21 In diesem Sinne wäre es zu kurzgegriffen, die Ästhetik von Moby-Dick primär als Verkörperung einer allgemeinen Methode des literarischen Schreibens zu verstehen, die im Anschluss an Melville von den modernistischen Autoren des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt worden ist. Gerade die spezifische Modernität des Romans geht nämlich in vielerlei Hinsicht ganz wesentlich auf jene Welt des Walfangs zurück, von deren unzeitgemäßem Charakter Melvilles ausufernder, überbordender und »barocker« Stil spürbar durchdrungen ist.22 Aufgrund der Genauigkeit, mit der Melville die Ardern eine »kinematographische Autonomie« gewinnt (ZB 311). Auf ähnliche Weise lässt sich auch den eingeschobenen Erzählungen in Moby-Dick eine gewisse Autonomie gegenüber dem Handlungsbogen attestieren, den sie eher unterlaufen als stabilisieren. 21 Vgl. Casarino 2002, 76-77: »In Moby-Dick, Melville has taken up nothing less than a world, nothing less than a whole historical formation, which needs more than the unfolding of narratives to be narrated in its untrammeled entirety and to be produced anew in writing. Hence the cross-generic and cross-disciplinary wilderness of this text: to conjure up this whole world of whaling, and to trace all of its future ramifications and past genealogies, Melville needs to produce and to combine with each other very different types of writing«. 22 Zu Melvilles »barockem« Stil, vgl. insbesondere die Studie von Robert Tally Jr., der MobyDick als wesentlich postnationalen Text versteht (Tally Jr. 2009). Von Winfried Fluck dagegen wird jene barocke Vielstimmigkeit im Kontext des »expressiven Individualismus« analysiert, der im Zuge der Entwicklung der Moderne den »ökonomischen Individualismus« im Stile Benjamin Franklins abgelöst habe (vgl. Fluck 1995). Auch wenn Fluck viele Argumente auf seiner Seite hat, wirft zumindest die axiomatische Grundlage seiner Perspektive – laut der das literarische Schreiben in erster Linie dem Wunsch nach kultureller Anerkennung folgt – gewisse Fragen auf. Denn wie in Anlehnung an Michael Fried bereits an anderer Stelle erläutert wurde, lässt sich im Schreiben nicht nur jene theatrale Ebene der kulturellen Produktion ausmachen, sondern zugleich auch eine Ebene der Absorption (vgl. Fried 1980). In Bezug auf Moby-Dick wäre es daher durchaus vorstellbar, beide Aspekte in den Blick zu nehmen und voneinander zu differenzieren: einerseits das theatrale und an den »impliziten Leser« (vgl. Iser 1972) gerichtete Element der expressiven Sprach- und Forminnovation, andererseits aber auch die Ebene der Absorption, auf der die Sprache den Fluchtlinien des Meeres und des Walfangs folgt und somit nicht mehr gemäß einer Logik der Anerkennung operiert, sondern im Sinne einer Logik des Werdens.
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beitsabläufe des Walfangs schildert, wird zugleich deutlich, dass dieser nicht als romantische Flucht in ein transzendentes Außen konzipiert wird, sondern vielmehr eine Fluchtlinie darstellt, die dem Kapitalismus und den historischen Koordinaten der Epoche – auf wiederum unzeitgemäße Weise – immanent ist.23 Dennoch wird bereits auf den ersten Seiten von Moby-Dick klar, dass Ishmaels Wunsch, zur See zu fahren, auf dem Begehren beruht, in einen anderen Seinsmodus einzutauchen. Melvilles Meer stellt somit durchaus eine alternative Raumkategorie dar, die zugleich mit einer anderen »Ontologie« korrespondiert, wobei der Walfang als eben jene Fluchtlinie fungiert, die den Zugang zu diesem deterritorialisierten Territorium ermöglichen soll. So erklärt Ishmael gleich zu Beginn des ersten Kapitels: »Some years ago – never mind how long precisely – having little or no money in my purse, and nothing particular to interest me on shore, I thought I would sail about a little and see the watery part of the world. It is a way I have of driving off the spleen, and regulating the circulation. Whenever I find myself growing grim about the mouth; whenever it is a damp, drizzly November in my soul; whenever I find myself involuntarily pausing before coffin warehouses, and bringing up the rear of every funeral I meet; and especially whenever my hypos get such an upper hand of me, that it requires a strong moral principle to prevent me from deliberately stepping into the street, and methodically knocking people’s hats off – then, I account it high time to get to sea as soon as I can. This is my substitute for pistol and ball.« (Melville 2003, 3)
Diese letzte Bemerkung hinsichtlich der See als Alternative zu »pistol and ball« ist insofern brisant, als sie auf die populäre Vorstellung des Ozeans als einer anderen Art von frontier verweist. Ähnlich wie der »wilde Westen« ließe sich dementsprechend auch das Meer als quasi vorzivilisatorisches Territorium begreifen, dessen outlaws von Piraten und Freibeutern verkörpert werden. Die Analogie hat jedoch nur in begrenztem Maße Gültigkeit, da sich die Wildnis des Meeres unmöglich in einen Garten verwandeln lässt.24 Dieses Argument wird indirekt auch in Carl Schmitts Studie Der Nomos der Erde vertreten, die im Hinblick auf die politischen und ontologischen Differenzen von Land und Meer an dieser Stelle näher untersucht werden soll. Hierbei ist zunächst auf den Kontext der Studie hinzuweisen, die zu einer Zeit entstand, in der Schmitts Denken in zunehmendem Maße von raumtheoretischen Überlegungen beeinflusst war. Diese Hinwendung zum Raum kann in gewisser Weise als Beginn des Schmittschen Spätwerkes gelten, das sich vom dezisionistischen Frühwerk vor allem dadurch unterscheidet, dass als Grundlage jeder politischen Ordnung nun auf die Vorgängigkeit einer territorialen Raumordnung verwiesen wird.25 Auf 23 Vgl. hierzu Fluck 1995, 210: »Obviously, the usefulness of the Pequod to function as metaphor for a new society lies in the possibility it offers to bring together a wide range of different regions, races, and cultures. Ishmael’s decision to go to sea is thus not an escape from society but its reconstitution on a new basis«. 24 Zur Entgegensetzung von »Wildnis« und »Garten« sowie zur Bedeutung der Metapher des Gartens im Kontext der amerikanischen Mythengeschichte, vgl. Marx 1964. Das Buch enthält zudem eine der einflussreichsten Deutungen Moby-Dicks im Kontext der »Myth-andSymbol«-School. 25 Vgl. hierzu die Studie von Bastian Ronge, der diesbezüglich von einem »spatial turn« als Zäsur zwischen Schmitts Früh- und Spätwerk spricht (Ronge 2008, 10).
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recht eigenwillige Weise – und konträr zur Lesart von Deleuze – leitet Schmitt den griechischen Begriff des Nomos daher von dem deutschen Wort »Nahme« ab, womit er deutlich zu machen meint, dass jedem »positivistischen Legalitätssystem« eine ursprüngliche Landnahme, d.h. eine Inbesitznahme und Aufteilung der Erde vorausgeht.26 Der Nomos wird folglich im Sinne eines »konstituierenden, raumordnenden Ur-Aktes« konzipiert (Schmitt 1974, 47), wobei stets auf den »erdhaften« Charakter jenes Aktes verwiesen wird. Vom fluiden Raum des Meeres unterscheidet sich das Festland somit dadurch, dass es eine implizite Verbindung zum Recht aufweist, was Schmitt folgendermaßen begründet: »Das Recht ist erdhaft und auf die Erde bezogen. Das meint der Dichter, wenn er von der allgerechten Erde spricht und sagt: justissima tellus. Das Meer kennt keine solche sinnfällige Einheit von Raum und Recht, von Ordnung und Ortung […]. In das Meer lassen sich auch keine Felder einsäen und keine festen Linien eingraben. Die Schiffe, die das Meer durchfahren, hinterlassen keine Spur. ›Auf den Wellen ist alles Welle‹. Das Meer hat keinen Charakter in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Charakter, das von dem griechischen Wort charassein, eingraben, einritzen, einprägen kommt. Das Meer ist frei. Das bedeutet nach dem neueren Völkerrecht, daß das Meer kein Staatsgebiet ist und daß es für drei sehr verschiedenartige Bereiche menschlicher Aktivität, nämlich für die Fischerei, für die friedliche Schiffahrt und für die Kriegsführung, allen in gleicher Weise offenstehen soll.« (13-14)
Der scharfen Trennung von Land und Meer, die hier zum Ausdruck kommt, liegt freilich ein politisches Motiv zugrunde, das deutlich wird, wenn man es auf die qualitative Unterscheidung bezieht, die Schmitt zwischen »Landmächten« und »Seemächten« vornimmt. In dieser Hinsicht hat Schmitts Argumentation fraglos auch eine Legitimierung der Landnahme zur Folge, hinter der sich in der Lesart Friedrich Balkes nichts anderes als der brutale Tatbestand der Kolonialisierung verbirgt (vgl. Balke 1996, 331). In Schmitts geopolitischem Koordinatensystem kommt der Landnahme indes ein wesentlich ordnungsstiftender Charakter zu, weshalb sich der Nomos von »den bloßen schnell sich selbst zerstörenden Gewalttaten« unterscheide (Schmitt 1974, 50). Im klassischen europäischen Völkerrecht, das er zwischen dem 16. und dem Ende des 19. Jahrhunderts datiert, erblickt Schmitt folglich eine Raumordnung, in der »mehrere flächenmäßig in sich geschlossene Machtgebilde mit einheitlicher zentraler Regierung und […] festen Grenzen« ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte realisierten hätten und es somit zu einer »Hegung des europäischen Krieges« gekommen sei (112). Schmitt ist sich allerdings bewusst, dass diese einigermaßen stabi26 Im Gegensatz zu Schmitt bezieht Deleuze den Nomosbegriff auf das »Nomadische«, wodurch er auf eine Art der Verteilung verweist, die gerade keine Aufteilung des Raumes impliziert: »Ganz anders eine Verteilung, die man nomadisch nennen muß, ein nomadischer nomos, ohne Besitztum, Umzäunung und Maß. Hier gibt es kein Aufteilen eines Verteilten mehr, sondern eher die Zuteilung dessen, was sich verteilt, in einem unbegrenzten offenen Raum, in einem Raum, der zumindest keine genauen Grenzen kennt«. Als Beispiel einer derart »nomadischen Verteilung« nennt Deleuze die Verteilung des Viehs auf das Weideland in der homerischen Gesellschaft: »Es handelt sich nicht um eine Verteilung des Lands auf das Vieh, sondern im Gegenteil darum, das Vieh selbst zu verteilen, es hier und dort über einen unbegrenzten Raum, Wald oder Berghang hinweg aufzuteilen« (DW 60).
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le Raumordnung das Resultat einer sehr heterogenen Gemengelage war. So sieht er für die positive Verfasstheit jenes Nomos, den er als großen zivilisatorischen Fortschritt begreift, in erster Linie die kontinentalen Territorialmächte verantwortlich, während die Seemacht England aufgrund ihrer »Entscheidung für das Element des Meeres« eine Politik der »Entortung« betrieben und einen diskriminierenden Kriegsbegriff etabliert habe (Schmitt 1974, 149). Den Zerfall des klassischen europäischen Völkerrechts deutet Schmitt daher auch als Niederlage des kontinentalen Modells gegenüber dem britischen, das als Konsequenz aus der »maritimen Existenz« Englands die Einheit von Ordnung und Ortung gesprengt habe.27 Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass es in Schmitts raumpolitischem Denken zu einer wesentlichen Privilegierung der territorialen »Landmächte« gegenüber »Seemächten« wie England kommt, die er implizit mit der Recht- und Gesetzlosigkeit des »freien Meeres« assoziiert.28 Insofern die zentrale Land/Meer-Unterscheidung auf derart offensichtliche Weise von Schmitts reaktionären Motiven überlagert wird, stellt sich mithin die Frage nach ihrem eigentlichen Wert. Unabhängig von der durchsichtigen politischen Motivation lässt sich jedoch behaupten, dass Schmitts Unterscheidung immerhin den ambivalenten Rechtsstatus aufzuzeigen vermag, der dem Raum des Meeres auch heute noch zukommt. Dies soll freilich nicht heißen, dass Recht und Gesetz über keinerlei Zugang zum Meer verfügten, wie Schmitt durch seine Betonung der maritimen Rechtlosigkeit mitunter suggeriert. Doch lässt sich zweifellos argumentieren, dass z.B. militärische oder andere inner- und zwischenstaatliche Konflikte in »internationalen Gewässern«, Piraterie, die mit dem Meer assoziierte Flüchtlingsproblematik oder auch Tiefseebohrungen auf hoher See dem Recht – in nationaler und internationaler Hinsicht – nach wie vor gravierende Probleme bereiten.29 Wollte man somit an den produktiven Aspekten von Schmitts Unterscheidung festhalten und zugleich deren reaktionär-essentialistischen Unterbau aufgeben, liegt es nahe, seine Überlegungen zu Land und Meer im Sinne von Deleuzes und Guattaris Unterscheidung zwischen »glattem Raum« und »gekerbtem Raum« umzuformulieren 27 Für Schmitt ist es insofern auch kein Wunder, dass der Begriff der »Utopie« auf einen britischen Autor zurückgeht: »Die Insel wurde der Träger des Raumwandels zu einem neuen Nomos der Erde, potenziell sogar schon zum Absprungfeld für den späteren Sprung in die totale Entortung der modernen Technik. Das kündet sich in einer neuen Wortprägung an, von der ich glaube, daß sie nur damals und nur auf der englischen Insel entstehen konnte, um von dort zur Signatur eines ganzen Zeitalters zu werden: in dem neuen Wort Utopie, das den berühmten Titel der Schrift des Thomas Morus bildet« (Schmitt 1974, 149). 28 In diesem Zusammenhang hat Friedrich Balke argumentiert, dass das Meer in Schmitts Überlegungen »für das Völkerrecht strenggenommen kein geeignetes Objekt« darstellt (Balke 1996, 338). 29 Hier sei etwa an die Enterung mehrerer mit Hilfsgütern für den Gazastreifen beladener Schiffe im Mai 2010 durch die israelische Marine gedacht, bei der insgesamt zehn Aktivisten zu Tode kamen. Während Israel die Rechtmäßigkeit des eigenen Vorgehens betonte (das der Durchsetzung einer geltenden Seeblockade gedient habe), machten Menschenrechtsaktivisten darauf aufmerksam, dass sich die Aktion der israelischen Marine in »internationalen Gewässern« ereignete und folglich illegal gewesen sei. Zur Piraterie und zum Problem der rechtlichen Qualifizierung der Figur des Piraten, vgl. Heller-Roazen 2009.
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(vgl. besonders TP 657-693).30 Hier fällt zunächst auf, wie frappierend nahe Deleuzes und Guattaris diesbezügliche Formulierungen in den Tausend Plateaus denjenigen von Schmitt kommen – auch wenn dieser an keiner Stelle erwähnt wird. Denn während Schmitt etwa auf »feste Linien«, »Umzäunungen und Einhegungen, Grenzsteine, Mauern« und »Felder« verweist, die die Einheit von Ordnung und Ortung auf dem Festland bewerkstelligten (Schmitt 1974, 13), sehen Deleuze und Guattari den »Raum der Seßhaftigkeit« durch »Mauern, Einfriedungen und Wege zwischen den Einfriedungen eingekerbt«. Der »nomadische Raum« dagegen wird als »glatt« bezeichnet und teilt mit Schmitts Beschreibung des Meeres den Umstand, dass er »nur mit ›Merkmalen‹ markiert wird, die sich mit dem Weg verwischen und verschieben« (TP 524). Ganz ähnlich heißt es bei Schmitt: »Die Schiffe, die das Meer durchfahren, hinterlassen keine Spur. ›Auf den Wellen ist alles Welle‹« (Schmitt 1974, 13). Während der fluide Charakter des Meeres bei Schmitt jedoch vor allem in negativer Abgrenzung von den Eigenschaften des Festlands bestimmt wird, sind Deleuze und Guattari darum bemüht, auch wesentlich positive Kriterien für den glatten Raum zu benennen. Dementsprechend heißt es: »Der glatte Raum wird viel mehr von Ereignissen oder Haecceïtates als von geformten oder wahrgenommenen Dingen besetzt. Er ist eher ein Affekt-Raum als ein Raum von Besitztümern. Er ist eher eine haptische als eine optische Wahrnehmung. Während im gekerbten Raum die Formen eine Materie organisieren, verweisen im glatten Raum die Materialien auf Kräfte oder dienen ihnen als Symptome. Es ist eher ein intensiver als ein extensiver Raum, ein Raum der Entfernungen und nicht der Maßeinheiten. Intensives Spatium anstatt Extensio. Organloser Körper statt Organismus und Organisation.« (TP 663-664)
Was Deleuzes und Guattaris Modell somit auch von Schmitt unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Differenzierung von Glattem und Gekerbtem nicht auf die raumtheoretische Grundunterscheidung von Land und Meer beschränkt bleibt. So exemplifizieren Deleuze und Guattari ihr Modell außerdem anhand von mathematischen, technischen, ästhetischen oder musikalischen Räumen und machen deutlich, dass sich auch Wüsten, Steppen oder Eislandschaften als glatte Räume qualifizieren lassen. Nichtsdestotrotz wird jedoch betont: »[D]as Meer ist der glatte Raum par excellence« (664). Hinsichtlich der Differenzen zur Konzeption von Schmitt ist allerdings wesentlich, dass Deleuze und Guattari keine essentialistische Gegenüberstellung von glatten und gekerbten Räumen vollziehen, sondern vielmehr hervorheben, dass »die Unterschiede nicht objektiv sind« (668). Dementsprechend geht es ihnen vor allem um die wechselseitigen Prozesse der Einkerbung und Glättung, d.h. um die Frage, wie »der Raum unaufhörlich unter der Einwirkung von Kräften eingekerbt wird« und wie zugleich »inmitten der Einkerbung neue glatte Räume entstehen« (693). In diesem Sinne lässt sich auch das Meer nicht ein für alle Mal als glatter Raum beschreiben, da dieses schon seit Jahrhunderten »mit den Anforderungen einer immer stren-
30 Für eine sinnvolle Kurzdefinition der Unterscheidung, siehe Berressem 2004a, 219: »Deleuze and Guattari develop a general logic of spaces in-between the fluid and the solid through the notions of what they call smooth space, which is dynamic, topological and continuous, and striated space, which is static, geometrical and discrete«.
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geren Einkerbung konfrontiert« ist (TP 664).31 Andererseits lässt sich selbst die Stadt – der Prototyp des gekerbten Raums – in einen tendenziell glatten Raum verwandeln, wie Deleuze und Guattari etwa mit Blick auf die Literatur Henry Millers verdeutlichen (vgl. 668). In Bezug auf Moby-Dick ist diese komplexere Art der Differenzierung, die mit der Betonung der »Mischungen« von Glattem und Gekerbtem einhergeht, durchaus von Bedeutung. Denn zwar tendiert Melville prinzipiell dazu, das Meer dem Land als essentiell verschiedene Form des Raumes und der Existenz gegenüberzustellen. Mitunter fungiert das Meer allerdings auch in Moby-Dick als Territorium, in dem sich unterschiedliche Arten von Zusammentreffen zwischen Elementen des Glatten und Gekerbten ereignen. So macht Melville etwa deutlich, dass allein der Waljäger aus Nantucket für sich beanspruchen kann, das Meer als wirklich glatten Raum zu bewohnen, während es von Handels-, Kriegs- und selbst Piratenschiffen lediglich aus der Perspektive des Gekerbten bevölkert wird: »Merchant ships are but extension bridges; armed ones but floating forts; even pirates and privateers, though following the sea as highwaymen the road, they but plunder other ships, other fragments of the land like themselves, without seeking to draw their living from the bottomless deep itself. The Nantucketer, he alone resides and rests on the sea […]. He lives on the sea, as prairie cocks in the prairie; he hides among the waves, he climbs them as chamois hunters climb the Alps. For years he knows not the land; so that when he comes to it at last, it smells like another world, more strangely than the moon would to an Earthsman.« (Melville 2003, 7071)
Trotz aller romantischen Anklänge macht somit auch Melville deutlich, dass sich Land und Meer nicht per se zu glatten oder eingekerbten Räumen erklären lassen, sondern dass die räumliche Verfasstheit beider Territorien mit den Praktiken korrespondiert, die sich in und auf ihnen ereignen. Vergleicht man Deleuzes und Guattaris Modell nun abschließend mit den Überlegungen von Schmitt, dann stellt sich zunächst als vorteilhaft dar, dass ihre Unterscheidung von Glattem und Gekerbtem auf keinerlei geopolitischem Essentialismus basiert. Zwar ist es durchaus so, dass Deleuze und Guattari dem glatten Raum (und mithin auch der Fluidität des Meeres) tendenziell den Vorzug vor dem gekerbten geben, was auf den ersten Blick wie eine bloße Umkehrung des Schmittschen Schemas wirkt. Doch machen sie zugleich auch auf die Gefahren des glatten Raumes aufmerksam und betonen durchweg »die Übergänge und Kombinationen bei den Glättungs- und Einkerbungsvorgängen« (TP 693).32 31 Vgl. TP 664-665: »Der maritime Raum wird ausgehend von zwei Errungenschaften, einer astronomischen und einer geographischen, eingekerbt: durch den Punkt der Position, den man durch eine Reihe von Berechnungen auf der Grundlage einer genauen Beobachtung der Sterne und der Sonne bekommt; und durch die Karte, die die Meridiane und Breitenkreise, sowie die Längen- und Breitengrade verbindet und so die bekannten oder unbekannten Regionen rastert […]. Es ist als ob das Meer nicht nur der Archetypus aller glatten Räume gewesen ist, sondern der erste dieser Räume, der eine Einkerbung erdulden mußte, die ihn in zunehmendem Maße unterwarf und ihn hier oder da, erst von der einen und dann von der anderen Seite mit Rastern überzog«. 32 Zu den Gefahren des glatten Raumes heißt es mit Verweis auf die Thesen Virilios: »am Ende seiner Einkerbung gibt das Meer eine Art von glattem Raum zurück, der zunächst
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Dieser Vorteil des Modells von Deleuze und Guattari bedeutet freilich nicht, dass Schmitts Kopplung des Rechts an den gekerbten Raum prinzipiell falsch wäre. In der Tat lässt sich nämlich zeigen, dass die mit dem Meer assoziierten rechtlichen Probleme mit den Schwierigkeiten korrespondieren, den maritimen Raum vollends einzukerben. Deleuzes und Guattaris Modell macht es indes möglich, die essentialistische Vorstellung von der prinzipiellen Freiheit und Rechtlosigkeit des Meeres aufzugeben und dieses stattdessen als der Tendenz nach glatten Raum zu qualifizieren, in dem das Recht beständig an seine Grenzen stößt. Demnach verkörpert der maritime Raum nicht die vollständige Rechtlosigkeit, sondern eher einen Grenzfall des Rechts: ein deterritorialisiertes Territorium, in dem das Gesetz fortlaufend mit den Kräften seines Außen konfrontiert wird.33 In genau diesem Sinne lässt sich das Meer als generelles Modell des Politischen verstehen, das am Ende des Zeitalters der klassischen Staatssouveränität den Bedingungen der Globalisierung und der Deterritorialisierung des Nationalstaates Rechnung trägt. Wenn es scheint, als hätte Moby-Dick in politischer Hinsicht auch der Gegenwart etwas zu sagen, dann liegt dies nicht zuletzt daran, dass Melvilles Roman sowohl die Hoffnungen als auch die Albträume aufscheinen lässt, die diesem postnationalen Modell heute innewohnen. So veranschaulicht das Buch einerseits die von den multiethnischen »Mariners, Renegades and Castaways« (James 2001) verkörperte Utopie von universeller Bruderschaft in einem ungekerbten, transnationalen oder kosmopolitischen Raum; und andererseits die kritische Frage nach Souveränität und politischer Herrschaft im Rahmen eines »Ausnahmezustands« (vgl. Agamben 2004), in dem die Ordnung des Rechts zusammengebrochen ist. In Moby-Dick oszilliert das Bild des Meeres somit genau zwischen diesen beiden Polen, die im schlimmsten Fall dazu tendieren, sich anzugleichen und de facto ununterscheidbar zu werden. Jene Ununterscheidbarkeit – die die Möglichkeit impliziert, dass sich das Begehren nach »transnormalistischer Exploration« (Link 1999, 33) mit dem Nihilismus einer Fluchtlinie verbindet, die in eine reine »Destruktionslinie« (TP 584) mutiert ist – wird von keiner anderen Figur Melvilles so wirkungsvoll zum Ausdruck gebracht wie von Ahab. Denn wie schon Winfried Fluck argumentiert hat, ist Ahab »Rebell und Tyrann zugleich« (Fluck 1997, 235), d.h. er ist Exekutant eines autoritären Machtanspruchs, verkörpert gleichzeitig aber ein kollektives Begehren, das danach strebt, die Schranken des Gesetzes und der »Einkerbung« zu durchbrechen. Dass dieses Begehren von Ahab weniger besessen als verkörpert wird, liegt wesentlich darin begründet, dass es sich nicht nur um sein eigenes Begehren handelt, sondern dieses nahezu überall auf der Pequod zirkuliert. Ohne dieses Begehren, an von der fleet in being besetzt wird und dann von der ständigen Bewegung des strategischen Unterseebootes, das über jede Rasterung hinausgeht und ein neues Nomadentum erfindet, das im Dienste einer Kriegsmaschine steht, die noch beunruhigender ist als die Staaten, die sie an der Grenze ihrer Einkerbungen neu erstehen lassen. Das Meer und dann die Luft und die Stratosphäre werden wieder zu glatten Räumen, jetzt allerdings, in der verrücktesten Umkehrung, um das eingekerbte Land besser kontrollieren zu können« (TP 665). 33 Wie noch genauer erläutert wird, gilt dies insbesondere für Moby-Dick, wo das Gesetz nicht einfach verschwunden ist, sondern z.B. durch Starbuck, den ersten Steuermann, repräsentiert wird. Im folgenden Abschnitt wird daher auch die Frage behandelt, weshalb der »rechtsgläubige« Starbuck am Ende das Nachsehen gegenüber dem »Paktbrecher« Ahab hat (vgl. hierzu auch KK 108).
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dem so gut wie jedes Mitglied der Crew auf seine Weise Anteil hat, wäre auch Ahabs Machtposition faktisch nicht aufrechtzuerhalten. Genauer gesagt: Ahabs »Souveränität« konstituiert sich paradoxerweise auf der Grundlage des Begehrens eben jener Männer, die letztlich von seinem monomanischen Nihilismus in den Tod gerissen werden. Der eigentlich politischen Dimension von Moby-Dick liegt daher die im folgenden Abschnitt diskutierte Frage zugrunde, wie und mittels welcher Mechanismen es Ahab gelingt, das Begehren der Crew zu vereinnahmen und in den Dienst seiner eigenen Absichten zu stellen.
1.3 P OLITIK
DES AFFEKTS : AHABS S OUVERÄNITÄT UND DIE M ACHT DER MULTITUDO
Bezüglich der Frage nach der Konstitution von Souveränität ist die wichtigste Stelle in Melvilles Roman zweifellos das vieldiskutierte »Quater-Deck«-Kapitel (Melville 2003, 174-181). Hier macht Ahab seinen rachsüchtigen Plan öffentlich, ausschließlich Moby Dick zu jagen, wofür er letztlich die Unterstützung der übergroßen Mehrheit seiner Mannschaft erhält. Die einzige Person, die sich Ahab zunächst entgegenstellt, ist Starbuck, der erste Steuermann der Pequod, der den Plan, Rache an einer stummen Kreatur (»dumb brute«) zu nehmen, als irrationalen und blasphemischen Akt denunziert: »I came here to hunt whales, not my commander’s vengeance. How many barrels will thy vengeance yield thee even if thou gettest it, Captain Ahab? It will not fetch thee much in our Nantucket market […]. Madness! To be enraged with a dumb thing, Captain Ahab, seems blasphemous.« (177-178)
Wie hier deutlich wird, repräsentiert Starbuck quasi die Standardversion kapitalistisch-demokratischer Souveränität im Amerika des 19. Jahrhunderts. Er wird als ebenso gesetzestreu wie rational beschrieben und verkörpert Moral und Religion in gleichem Maße wie die Interessen des Marktes. Ahab dagegen hat nur Hohn und Spott für den »Nantucket market« übrig, was ihn dezidiert als Gegner der kapitalistischen Logik des Walfangs ausweist.34 Dadurch, dass er Moby Dick aus der Masse an
34 Dies ist ein Punkt, der in der Sekundärliteratur gerne übergangen wird. So wirft Niels Werber zwar die Frage auf, ob Ahabs »monomane Jagd nach Moby Dick nicht so übermächtig geworden ist, daß diese Manie des Kapitäns dem gemeinsamen Interesse der shareholder nach einem möglichst hohen Profit […] entgegenläuft« (Werber 2007, 121). Trotzdem aber versteht er die Pequod als Symbol für die »Öffnung von Märkten« und den weltweiten »Kommerz« (129). Diese Tendenz findet sich auch bei Casarino, der Ahabs Marktverächtung »dialektisch« liest und folglich im Dienste einer höheren Logik des Kapitals sieht (Casarino 2002, 87-88). Das Motiv scheint hier zu sein, das Ideal der Kapitalismuskritik nicht mit Ahab identifizieren zu wollen, sondern auf Seiten der Crew – als Verkörperung der unrealisierten Potentialität »lebendiger Arbeit« (129) – zu verorten. Es lässt sich allerdings behaupten, dass eine derartige Aufteilung der Komplexität von Melvilles Konzeption nicht gerecht wird, da diese, wie im Folgenden gezeigt wird, einem einfachen Gegensatz zwischen Ahab und der Crew zuwiderläuft.
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Walen auswählt, verrät er Deleuze zufolge »das Gesetz der Walfischfänger, das lautet, jeden gesunden Wal, auf den man trifft, zu jagen, und zwar ohne auszuwählen«. Indem er diese »monströse Vorliebe« (KK 108) zur Maßgabe seines Handelns macht, stellt Ahab sich ausdrücklich über das Gesetz. De facto lässt sich daher behaupten, dass er seine Souveränität als Kapitän der Pequod im Sinne von Carl Schmitts berühmter Formulierung des Ausnahmezustands geltend macht, die besagt: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« (Schmitt 2004, 13). Ahabs Souveränität konstituiert sich demnach nicht auf der Basis einer schon bestehenden Rechtsordnung, sondern lässt sich mit den Worten Agambens als die »legale Form dessen« begreifen, »was keine legale Form annehmen kann« (Agamben 2004, 7). Der konstitutive Akt, durch den Ahab zum vermeintlich unumschränkten Souverän der Pequod wird, ereignet sich allerdings in keiner gänzlich rechtsfreien Zone, sondern in einem rechtlich-räumlichen Grenzbereich, in dem sich – vom »Gesetz der Walfischfänger« bis zum »Recht auf Meuterei« – eine Vielzahl potentieller Rechtsinstrumente anrufen und aktualisieren ließe. Letztlich fügt sich die Crew jedoch dem Willen ihres Kapitäns und die vielbeschworene Meuterei bleibt aus, was einmal mehr die Frage nach den Grundlagen von Ahabs Souveränität aufwirft.35 Hinsichtlich dieser Grundlagen ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass sich Ahabs Souveränität nicht in einem transzendenten Bereich der politischen »Entscheidung« verorten lässt, der von der mikropolitischen Dimension der Macht und des Begehrens isoliert wäre. Denn jede noch so totalitäre Form von autoritärer Machtausübung lässt sich von Rechts wegen nur bottom up erklären, d.h. im Hinblick auf ihre Genese und ihre Konstitutionsbedingungen, die auf die eine oder andere Weise stets das gesamte Kollektiv betreffen. Würden die Anordnungen des Souveräns nicht auf sämtlichen Ebenen des Funktionszusammenhangs befolgt und weitergetragen werden, dann wäre dessen Souveränität ihrer nötigen Infrastruktur beraubt und würde schlichtweg scheitern.36 Jede ernsthafte Diskussion des Problems der Souveränität ist folglich an die 35 Wie Ishmael in Kapitel 46 erläutert, wäre eine Revolte gegen Ahab, nachdem dieser der Crew seine tatsächlichen Absichten offenbart hat, in rechtlicher wie moralischer Hinsicht vollständig gedeckt gewesen: »Having […] revealed the prime but private purpose of the Pequod’s voyage, Ahab was now entirely conscious that, in so doing, he had indirectly laid himself open to the unanswerable charge of usurpation; and with perfect impunity, both moral and legal, his crew if so disposed, and to that end competent, could refuse all further obedience to him, and even violently wrest from him the command« (Melville 2003, 232). Der Frage, weshalb die Crew dennoch nicht aufbegehrt, kommt in der Literatur zu MobyDick daher auch ein bedeutender Stellenwert zu (vgl. etwa James 2001, 50-55 und Casarino 2002, 117-129). 36 In einer für die politische Philosophie ausgesprochen interessanten Textpassage hat Lluís Companys, Präsident der Generalitat von Katalonien zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs, beschrieben, was von der staatlichen Souveränität übrigbleibt, sobald sie ihre notwendige Infrastruktur verliert. So erläutert er mit Blick auf die Ereignisse vom Juli 1936, als Francos Putschversuch in Barcelona zunächst niedergeschlagen wurde und sich Spaniens »kurzer Sommer der Anarchie« (Enzensberger 1972) ereignete: »Der Staat ist kein Mythos, keine Maschine, die außerhalb der menschlichen Taten funktioniert. Der Staat besteht aus lebendigen Menschen, die sich gemäß eines vorgegebenen Führungssystems bewegen, einer autoritären oder liberalen Hierarchie, die als ›Transmissionsriemen‹ dient. Der Präsi-
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Voraussetzung gekoppelt, dass diese nicht als »immer schon« konstituiert oder als bloße rechtlich-politische Form begriffen werden darf. In Bezug auf Moby-Dick würde es daher auch nicht ausreichen, lediglich auf Ahabs Willenskraft und Durchsetzungsfähigkeit zu verweisen, ohne dabei zugleich erklärbar zu machen, wie und weshalb dessen Wille von einem entscheidenden Anteil des Kollektivs auf der Pequod mitgetragen (oder zumindest hingenommen) wird. Denn wäre dies nicht der Fall, wäre es für die Crew der Pequod freilich ein Leichtes, sich ihres monomanischen Kapitäns zu entledigen. Mehr noch als die Frage nach Ahabs Herrschaft über seine Mannschaft ist in dieser Hinsicht die Frage entscheidend, weshalb und auf welche Weise die Crew seine Souveränität überhaupt erst konstituiert. In diesem Zusammenhang und mit Blick auf all jene Fragen der politischen Philosophie lohnt es sich, Spinozas Politischen Traktat heranzuziehen, der unvollendet geblieben ist und 1677, kurz nach Spinozas Tod, veröffentlicht wurde. Generell unterscheidet Spinoza hier die Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie voneinander, weist zugleich aber darauf hin, dass von Rechts wegen jede Form der politischen Souveränität durch »die Macht der Menge [potentia multitudinis] definiert wird« (Spinoza 1994, 29). Wesentlich an dieser Formulierung ist zunächst, dass Spinoza explizit nicht vom »Volk« (populus), sondern von der »Menge« (multitudo) spricht. Dass diese Unterscheidung wichtig ist, wird deutlich, wenn man sie im historischen Kontext ihrer Zeit begreift. So hat z.B. Thomas Hobbes in seiner 1642 erschienenen Schrift De Cive (»Vom Bürger«) explizit davor gewarnt, die »Menge« mit dem »Volk« zu verwechseln, wobei vom Volk nur als integriertem und vereinheitlichtem Kollektivzusammenhang im Kontext eines staatlichen Gemeinwesens gesprochen werden könne: »Das Volk ist eine Einheit mit einem Willen und ist einer Handlung fähig; all das kann von einer Menge nicht gesagt werden« (Hobbes 1994, 198-199).37 Die Differenzen zwischen der politischen Philosophie Spinozas und derdent erteilt einen Befehl, und dieser wird automatisch dem Minister oder Staatsrat übermittelt, dem die Zuständigkeit obliegt, für seine Durchführung zu sorgen. Der Minister besitzt seinen eigenen ›Transmissionsriemen‹, der über die Sekretäre und Unterstaatssekretäre bis zu jenen Stufen der Hierarchie führt, wo man sich mit dem Bürger die Hand schüttelt und ihn auf den Weg leitet, den der Präsident ausgewählt oder festgelegt hat. So jedenfalls funktioniert ein ›normaler‹ Staat. Am 19. Juli drückte ich die Klingel in meinem Büro, um meinen Sekretär zu rufen. Es fing damit an, daß die Klingel nicht ertönte, weil kein Strom da war. Ich begab mich zur Tür meines Amtszimmers – der Sekretär war nicht da. Er hatte nicht zum Regierungspalast kommen können; wäre er aber dort gewesen, so hätte er sich nicht mit dem Sekretär des Ministerialdirektors verständigen können, weil dieser nicht in der Generalitat eingetroffen war. Und wenn der Sekretär des Ministerialdirektors tausend Schwierigkeiten überwunden hatte und auf seinem Posten war, dann hatte sein Vorgesetzter den Termin versäumt« (zit. nach Paz 1994, 431-432). Companys macht somit deutlich, dass das eigentliche »Wesen« der staatlichen Souveränität – nämlich die Tatsache, dass diese stets von einer komplizierten Infrastruktur abhängt und einer Vielzahl von Mikrobedingungen unterliegt, für die im gesamten Funktionszusammenhang gesorgt sein muss – jeweils erst in der Krisensituation zu Tage tritt. 37 Ganz im Sinne dieser repräsentations- und identitätslogischen Bestimmung erklärt Hobbes sogar, dass das Volk in der Monarchie der König sei: »Das Volk herrscht in jedem Staate, selbst in der Monarchie […]. In der Demokratie und Aristokratie sind die Bürger die Men-
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jenigen von Hobbes werden daher auch besonders sinnfällig, wenn man die höchst unterschiedliche Qualifizierung der Begriffe »Volk« und »Menge« bei beiden Autoren in Betracht zieht. Hierzu bemerkt Paolo Virno: »Für Spinoza verweist die multitudo auf eine Vielheit, die als solche im öffentlichen Raum fortbesteht, im kollektiven Handeln, in der Erledigung der öffentlichen Angelegenheiten, ohne in einer Einheit aufzugehen, ohne sich in einer zentripetalen Bewegung aufzulösen. Multitude ist die soziale und politische Existenzform der Vielen als Vieler: eine bleibende Form, keine vorläufige oder vorübergehende. Für Spinoza ist die multitudo die wesentliche Trägerin der zivilen Freiheiten. Hobbes verachtet […] die Multitude, er bekämpft sie mit aller Kraft. In der sozialen und politischen Existenz der Vielen als Vieler, in der Vielheit, die nicht in einer synthetischen Einheit aufgeht, macht er die größte Gefahr für die ›oberste Herrschaft‹ aus, also für das Monopol hinsichtlich der politischen Entscheidung, das der Staat darstellt.« (Virno 2008, 26)
Für Hobbes also kann ein Staat oder überhaupt jedes kollektive Gemeinwesen nur dann funktionieren, wenn die multitudo zu einem populus geworden ist und folglich einen einzigen Willen verkörpert sowie mit einer Stimme spricht. Hobbes’ »Volk« umfasst somit nicht einfach die Gesamtheit der Bürger, sondern meint diese im politischen Aggregatzustand eines bereits konstituierten »Staatsvolkes«, dem eine wesentlich homogene Identität zukommt.38 In diesem Kontext wird auch deutlich, weshalb der spinozistische Begriff der multitudo in der heutigen Sozialtheorie und Politikwissenschaft eine solch einflussreiche Wiederbelebung erfahren hat (vgl. Hardt/ Negri 2001 und 2004 sowie Virno 2008).39 Denn während der analytische Wert von Hobbes’ Begriff des Volkes im Kontext einer zunehmend »postnationalen« Wirklichkeit umso mehr in Frage steht, stellt sich Spinozas Konzeption der multitudo – mit ihrer Betonung des heterogenen und vielheitlichen Charakters der Menge als konstitutiver Instanz von politischer Souveränität – gerade im Rahmen gegenwärtiger politischer Bezüge als grundsätzlich anschlussfähig dar. Dies lässt sich durchaus ge, und die Versammlung ist das Volk; in der Monarchie sind die Untertanen die Menge, und (wenn dies auch paradox ist) der König ist das Volk« (Hobbes 1994, 199). 38 Vgl. Hardt/Negri 2001, 103: »The people […] tends toward identity and homogeneity internally while posing its difference from and excluding what remains outside of it. Whereas the multitude is an inconclusive constituent relation, the people is a constituted synthesis that is prepared for sovereignty. The people provides a single will and action that is independent of and often in conflict with the various wills and actions of the multitude. Every nation must make the multitude into a people«. 39 Bei Hardt und Negri wird der Begriff der Multitude in mancher Hinsicht durchaus anders konzipiert als bei Virno, der ihn hauptsächlich verwendet, um die im Kontext des Postfordismus »vorherrschende Seinsweise« zu beschreiben (Virno 2008, 33). Hardt und Negri dagegen beziehen sich, zumindest was die ontologische Dimension ihres Ansatzes betrifft, offensichtlich auf Deleuzes Begriff der Mannigfaltigkeit (vgl. Hardt/Negri 2001, 103: »The multitude is a multiplicity, a plane of singularities, an open set of relations«). Als politischen Begriff benutzen sie das Konzept zudem auf wesentlich idealisiertere Weise als Virno. Zu Hardts und Negris Verständnis der Multitude als gleichermaßen politische wie ontologische Figur, siehe Hardt/Negri 2004, 219-227.
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auch der politischen Philosophie Melvilles bescheinigen, der die Besatzung der Pequod wesentlich eher als »Menge« im Sinne Spinozas denn als »Volk« im Sinne von Hobbes charakterisiert. »They are a pack of ragamuffins picked up at random from all parts of the earth«, heißt es bei C.L.R. James über jenen zusammengewürfelten Haufen von multiethnischen (und vielfach staatenlosen) Seefahrern, die dem Leser von Moby-Dick präsentiert werden: »They are a world-federation of modern industrial workers […]. They owe no allegiance to anybody or anything except the work they have to do and the relations with one another on which that work depends« (James 2001, 18-20). Das entscheidende »spinozistische« Problem dieser Konstellation betrifft nun die Frage, wie und auf welche Weise sich Ahabs Souveränität ausgehend von der von Rechts wegen bestehenden Macht der Crew konstituiert. Wie bereits mit Bezug auf Spinozas Politischen Traktat verdeutlicht wurde, sind letztlich sämtliche Formen von Souveränität mit dem gleichen Problem konfrontiert: der Tatsache nämlich, dass die Durchsetzung des eigenen Herrschaftsanspruchs stets in letzter Instanz von der »Macht der Menge« abhängt, der es im Rahmen jeder Art von Regierung somit Herr zu werden gilt. Folgte man Hobbes, könnte man diesbezüglich also annehmen, Ahabs Problem würde darin bestehen, aus der heterogenen multitudo seiner Mannschaft ein einheitliches »Volk« zu gewinnen, welches bereit wäre, die eigene Macht in seine Hände zu legen und die unumschränkte Souveränität des Kapitäns anzuerkennen. Dies jedoch trifft offenkundig nicht den Kern der Situation auf der Pequod. Im Gegenteil: Ahab fungiert nicht als Souverän, der danach strebt, seine Mannschaft »vertragstheoretisch« an sich zu binden; vielmehr stellt er sich als derjenige dar, der sämtliche Verträge gebrochen hat und das Schiff praktisch im Sinne eines Ausnahmezustands regiert. Warum also gelingt es Ahab dann, die Unterstützung der Crew für sein rachsüchtiges Vorhaben zu gewinnen und sich gegen Starbuck durchzusetzen, der rechtmäßig behaupten kann, auf der Seite des Gesetzes zu stehen? In Anlehnung an die Machttheorie Max Webers ließe sich die Auseinandersetzung zwischen Starbuck und Ahab freilich als Kampf zwischen »legaler« und »charismatischer« Herrschaft charakterisieren.40 Die entscheidende Frage jedoch, weshalb Ahabs vermeintliches »Charisma« die Oberhand gegenüber der durch Starbuck repräsentierten »Legalität« gewinnt, findet auch auf diese Weise keine Antwort. In mehreren Texten, die in den 1980er Jahren entstanden sind, hat sich Donald Pease mit genau diesem Problem beschäftigt (vgl. Pease 1987 und Pease 1989). Pease argumentiert, dass es Ahab deshalb gelingt, die Crew von seinen Absichten zu überzeugen, weil er Starbuck in rhetorischer Hinsicht überlegen ist. Indem er z.B. die Banalität von dessen finanziellen Interessen betont, gelingt es Ahab, Starbucks Religiosität zu neutralisieren und schließlich ihn als blasphemisch darzustellen. Auf ähnliche Weise ist Ahab in der Lage, Starbucks Zorn zu provozieren, so dass er behaupten kann, seinem Gegenüber fehle, was dessen Argumente angeblich repräsentieren,
40 Neben der legalen und der charismatischen Herrschaft geht Weber noch von einem dritten Typus, nämlich der traditionalen Herrschaft aus. Zu den Unterschieden der drei Herrschaftstypen, vgl. Weber 1993, 9-11 und Weber 2005, 157-222. Zu den Anwendungsmöglichkeiten des Weberschen Charismabegriffs auf Moby-Dick, vgl. Vogl 2007.
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nämlich Vernunft und Rationalität.41 All diese Argumente sind durchaus stichhaltig und lassen sich auf der Basis des Textes kaum widerlegen. Indem Pease den wesentlichen Akzent seiner Analyse jedoch auf die Sprache legt und den zentralen Machtkonflikt zwischen Ahab und Starbuck als Kampf zwischen verschiedenen »Rhetoriken« bestimmt, weist sein Ansatz zugleich auch genau jene textualistischen Beschränkungen auf, die für die Amerikanistik der 1980er Jahre – einschließlich dem New Historicism – charakteristisch sind.42 Mit Blick auf Deleuzes und Guattaris Konzeption der im Anti-Ödipus konzipierten »Mikropolitik des Begehrens« soll an dieser Stelle argumentiert werden, dass Ahabs Überlegenheit gegenüber Starbuck nicht nur rhetorisch bedingt ist, sondern ganz wesentlich mit dessen Fähigkeit zur Modulation und Vereinnahmung von Affekten zusammenhängt.43 Affektivität und Begehren fungieren folglich als Schlüsselkonzepte einer politischen Ontologie, die die von Rechts wegen bestehende »Macht der Menge« in die Analyse jeder Art von Souveränität miteinbezieht und mithin zur 41 Pease zufolge betrifft Ahabs rhetorische Neutralisierung Starbucks explizit auch die Frage nach dem Ausbleiben einer möglichen Rebellion auf der Pequod. Denn während Starbuck der Crew für eine Revolte gegen Ahab zwar die legitime Begründung liefert, ist es letztlich Ahab selbst, der die Idee der Revolte tatsächlich verkörpert: »Instead of remaining the cruel captain whose exploitation of his crew would justify Starbuck’s mutiny, Ahab, in turning into the enraged victim of a cruel cosmic design, lays claim to the right to mutiny. In taking Starbuck down onto his little lower layer, he acts out Starbuck’s motive for mutiny, but does so on a scene that has at once co-opted the terms of Starbuck’s potential mutiny but also virtually eliminated any part for Starbuck to play. On this other scene, in other words, Ahab idealizes the impulse to mutiny. By elevating defiance onto an apocalyptic scene where it appears utterly coincident with his character, Ahab, instead of remaining a force to be defied, gives defiance its most noble expression« (Pease 1987, 386). 42 Zum Stellenwert des Begriffs der Rhetorik im Kontext von New Historicism und New American Studies, vgl. Fisher 1992. 43 Der Begriff des Affekts wird an dieser Stelle weitestgehend im Sinne der bereits im ersten Teil des Buches skizzierten spinozistischen Konzeption verwendet, an die auch die weiterführenden Überlegungen von Deleuze und Guattari anknüpfen. Wie Spinoza im dritten Teil seiner Ethik erläutert (Spinoza 2007, 219-371), kommt jedem Körper die Fähigkeit zu affizieren und affiziert zu werden zu, so dass jeder Einzelkörper stets – vermittelt über den Affekt – mit einer Vielzahl anderer Körper interagiert und (virtuell) verschaltet ist. Darüber hinaus geht Spinoza von einer wesentlichen Verbindung zwischen dem Affekt und dem sogenannten conatus aus, der der spinozistischen Terminologie zufolge das Streben oder die Wirkungs- und Handlungsmacht des Körpers bezeichnet, im Folgenden jedoch – in Anlehnung an Deleuze und Guattari – als Begehren bestimmt wird. Laut Spinoza lässt sich der Zusammenhang zwischen Affekt und Begehren so begreifen, dass die jeweilige Qualität der affektiven Einwirkung auf den Körper entweder eine Steigerung oder eine Minderung des Begehrens zur Folge hat. So wird das Begehren z.B. durch den Affekt der Freude gesteigert, während es durch Trauer oder Angst gemindert wird. In diesem Sinne lässt sich formulieren, dass Affektpolitik, d.h. die gezielte Modulation kollektiver Affekte zur Durchsetzung politischer Absichten, immer auch mit einer Politik des Begehrens korrespondiert, da die Affizierung des Körpers zugleich unmittelbar auf das Begehren zielt – unabhängig davon, welche Wirkung hieraus letztlich resultiert.
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Entwicklung eines konsequent immanent gedachten Begriffs des Politischen beitragen will.44 Denn hinsichtlich der Tatsache, dass politische Souveränität stets in letzter Instanz von der Macht der Menge ausgeht, kommt dem Affekt eine entscheidende Funktion zu, da er Qualität und Quantität jener kollektiven Macht auf wesentliche Weise beeinflusst. Gemäß der spinozistischen Auffassung, nach der jedem Körper die Fähigkeit zu affizieren und affiziert zu werden zukommt, befindet sich die Macht der Menge freilich niemals in einem endgültigen Gleichgewichtszustand, sondern muss als virtuelle Potentialität begriffen werden, die sich den jeweiligen Kräfteverhältnissen entsprechend – auf diese oder jene Weise – organisiert.45 Um zu verstehen, wie es Ahab gelingt, die Macht der Crew für seine eigenen Absichten zu nutzen, ist es folglich notwendig, den Blick auf die Mechanismen der affektiven Anreizung und Steuerung des kollektiven Begehren zu richten, das auf der Pequod zirkuliert. Anders gesagt muss somit vom Bereich jener »Mikropolitik des Begehrens« ausgegangen werden, die Deleuze und Guattari in ihrem Anti-Ödipus diskutieren. Wie bereits an anderer Stelle erläutert wurde, beziehen sich Deleuze und Guattari hier sowohl auf Spinoza als auch auf Wilhelm Reich, da politische Herrschaft bei beiden Autoren primär auf der Ebene des Wunsches – und nicht (oder jedenfalls nicht allein) auf der Ebene der Ideologie – behandelt wird. In diesem Kontext heißt es: »Selbst die repressivsten und demütigsten Formen gesellschaftlicher Produktion werden vom Wunsch innerhalb der Organisation erzeugt, die unter einer jeweiligen Bedingung, die wir zu analysieren haben, sich daraus ergibt. So bleibt die grundlegende Frage der politischen Philosophie immer noch jene, die Spinoza zu stellen wußte (und die Reich wiederentdeckt hat): Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil?« (AÖ 39)46
44 Aufgrund seines immanenten Charakters steht Deleuzes Politikverständnis in deutlichem Kontrast zum dezisionistischen Begriff des Politischen im Stile von Carl Schmitt (Schmitt 1987). Denn während der Dezisionismus die Entscheidung als quasi transzendenten Ursprungsakt begreift, der jeder Ordnung oder Norm vorausgeht (vgl. Schmitt 2004, 16), wird sie bei Deleuze in die Immanenz des Begehrens zurückversetzt und auf die kollektive Macht der Menge bezogen. In Anlehnung an Deleuze lässt sich somit formulieren, dass die Entscheidung niemals ursprünglich oder autonom ist, sondern stets auf einer Verkettung basiert, die sie überhaupt erst möglich macht. 45 Vgl. hierzu auch Massumi 2002b, 212-213: »What a body is, [Spinoza] says, is what it can do as it goes along. This is a totally pragmatic definition. A body is defined by what capacities it carries from step to step. What these are exactly is changing constantly. A body’s ability to affect or be affected – its charge of affect – isn’t something fixed«. 46 Deleuze und Guattari beziehen sich hier auf eine Formulierung aus Spinozas Vorrede zu seinem Theologisch-Politischen Traktat. Dort heißt es wörtlich: »Aber mag es auch das letzte Geheimnis einer monarchischen Regierung bleiben und völlig in ihrem Interesse liegen, die Menschen in der Täuschung zu erhalten, und die Furcht, durch die sie im Zaum gehalten werden sollen, unter dem schönen Namen Religion zu verbergen, damit sie für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil, und damit sie es nicht für eine Schande, sondern für die höchste Ehre halten, für den Ruhm eines Menschen Blut und Leben hinzugeben, so kann doch in einem freien Staatswesen nichts Unglücklicheres ersonnen oder versucht werden als dieses« (Spinoza 2006, 5-6).
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Und wiederum in Bezug auf Reich heißt es an anderer Stelle: »Der Wunsch wird niemals getäuscht. Getäuscht, verkannt oder verraten werden kann das Interesse, nicht jener. Deshalb der Ruf von Reich: Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus gewünscht – und das heißt es zu erklären…« (AÖ 331). Deleuzes und Guattaris Mikropolitik des Begehrens unterscheidet sich in diesem Sinne wesentlich von der klassischen Ideologiekritik, deren »negative« Konzeption der Macht sie ebenso kritisieren wie die zu einseitige Fokussierung auf die Ebene des Bewusstseins. Während die Ideologiekritik in der Regel »objektive Interessen« voraussetzt und das Subjekt, sofern es jenen Interessen zuwiderhandelt, von der Ideologie getäuscht sieht, lässt sich das Begehren weder täuschen, noch kennt es »wahre« oder »falsche« Interessen. Da es also immer wieder vorkommt, dass das investment des Begehrens die eigenen Interessen konterkariert, reicht es Deleuze und Guattari zufolge nicht aus, bei der Analyse von Machtbeziehungen allein der Frage der Ideologie nachzugehen. Der Mikropolitik des Begehrens geht es stattdessen darum, politische Herrschaft und Souveränität auf der körperlich-affektiven Ebene des Wunsches und »in dessen Begriffen zu erklären« (39), d.h. den Blick auf Operationen zu richten, »die kein Verkennen, keine Mißverständnisse sind, sondern vollkommen reaktionäre unbewußte Besetzungen« (331). Mit Bezug auf das Modell der Mikropolitik des Begehrens lässt sich die Konfrontation zwischen Ahab und Starbuck nun genauer hinsichtlich ihrer affekttheoretischen Aspekte in den Blick nehmen, die für das Verständnis der Grundlagen von Ahabs Souveränität wesentlich sind. Wie nämlich im Laufe des »Quarter-Deck«-Kapitels deutlich wird, hängt die Tatsache, dass Ahab aus der Konfrontation mit Starbuck als Sieger hervorgeht, insbesondere mit seiner Fähigkeit zur Modulation und Steuerung von Affekten zusammen. So wird Starbuck zwar als rechtschaffener und vernünftiger Charakter präsentiert, der die Interessen der Crew zu artikulieren vermag, wenn er an den ursprünglichen Sinn des Unternehmens – nämlich die ökonomisch motivierte Lieferung von Walöl an den »Nantucket market« (Melville 2003, 177) – erinnert. Starbuck gelingt es jedoch nicht, die Mannschaft auch affektiv zu erreichen, d.h. ihr vermeintlich »objektives Interesse« als »Objekt des Begehrens« zu artikulieren. Ahab hingegen entpuppt sich im »Quater-Deck«-Kapitel als wahrer Meister des Affekts, der die Crew einerseits direkt auf der Ebene des Wunsches adressiert, dem andererseits aber auch eine affektive Übercodierung ihrer mutmaßlichen Interessen gelingt. Mit Brian Massumi lässt sich dementsprechend formulieren, dass Ahabs Politik des Begehrens die Körper »von der dispositionellen Seite ihrer Affektivität her« anspricht, »anstatt sich an die Subjekte über deren positionelle Seite der Ideenbildung zu wenden«. Ahab wird somit zum Träger einer Regierungsfunktion, die nicht in erster Linie über »Glaubensvermittlung« funktioniert, sondern auf unmittelbare Aktivierung abzielt (Massumi 2010, 110). So nagelt Ahab z.B. eine spanische Goldmünze an den Mast, die als potentielle Belohnung für denjenigen fungiert, der den weißen Wal als Erster sichtet (vgl. Melville 2003, 175-176). Außerdem arrangiert er diverse Rituale und Zeremonien – in denen u.a. Alkohol und Waffen eine Rolle spielen –, die der Mannschaft das Gefühl vermitteln sollen, mit einer erhabenen Macht im Bunde zu stehen.47 Vergleichbar mit Deleuzes und Guattaris auf Wilhelm 47 Vgl. Melville 2003, 180-181: »›Advance, ye mates! Cross your lances full before me. Well done! Let me touch the axis‹. […] Forthwith, slowly going from one officer to the other,
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Reich zurückgehende Analyse, nach der Hitler die Faschisten »im wahrsten Sinne des Wortes […] aufgegeilt« hat (AÖ 135), beinhaltet also auch die Regierungstechnik von Ahab ein Element der affektiven Anreizung und Stimulation. Von besonderem Interesse ist dabei das bereits erwähnte Beispiel der Goldmünze, da dem Walfänger des 19. Jahrhunderts in der Regel kein Lohn bezahlt wurde, sondern ein jeweils genau zu berechnender Anteil des Gewinns. Dementsprechend erklärt Ishmael: »I was already aware that in the whaling business they paid no wages; but all hands, including the captain, received certain shares of the profits called lays, and that these lays were proportioned to the degree of importance pertaining to the respective duties of the ship’s company« (Melville 2003, 84). Ahabs Strategie, denjenigen mit Gold zu belohnen, der den Wal zuerst sichtet, vereinnahmt somit einerseits das finanzielle Interesse des einzelnen Seemanns. Wichtiger noch ist allerdings die Tatsache, dass der abstrakten Welt der prozentualen Berechnung hierdurch andererseits auch eine affektive Dimension hinzugefügt wird, insofern die an den Mast genagelte Goldmünze nun als sichtbare Verkörperung eines kollektiven Begehrens fungiert.48 In diesem Sinne lässt sich Ahab also durchaus bescheinigen, dass er die Mitglieder der Crew auf geschickte Weise »manipuliert«, indem er ihre Affekte vereinnahmt und das zwischen den Männern zirkulierende Begehren in den Dienst seiner eigenen Absichten stellt. Hierbei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Ahabs Autorität auch ganz wesentlich von jenem Begehren abhängt, welches er weder besitzt noch in Alleinregie hervorzubringen vermag. Auf die in der Literatur zu Moby-Dick immer wieder aufgeworfene Frage: »Warum haben die Männer nicht rebelliert?«, lässt sich folglich eine ebenso einfache wie beunruhigende Antwort finden, nämlich: »Weil sie nicht danach begehrten!« Als sie die Möglichkeit hatten, zwischen dem rechtschaffenen Starbuck und dem Rechtsbrecher Ahab zu wählen, entschieden sie sich für den Letzteren – und zwar nicht trotz dessen Verachtung für das Gesetz, sondern vielmehr [Ahab] brimmed the harpoon sockets with the fiery waters from the pewter. […] The long, barbed steel goblets were lifted; and to cries and maledictions against the white whale, the spirits were simultaneously quaffed down with a hiss […]. Once more, and finally, the replenished pewter went the rounds among the frantic crew«. 48 Ahabs und Starbucks konträre Strategien zur Vereinnahmung der Macht der Menge lassen sich auf sinnvolle Weise unterscheiden, wenn man sie auf Deleuzes und Guattaris Analyse des Verhältnisses von Kriegsmaschine und Staatsapparat bezieht (vgl. TP 481-655). Demnach stünde Starbuck dem Gefüge des Staatsapparates nahe, da er sich auf die Arbeit, das Gesetz und generell die Form des »business we follow« beruft (Melville 2003, 177). Ahab hingegen ließe sich auf der Seite der Kriegsmaschine verorten, die kein Regime der Form darstellt, sondern ein »Regime der Affekte« (TP 552). Hierzu passt auch Ahabs Affinität zu Waffen und Schmuck (der Goldmünze), die laut Deleuze und Guattari beide eine besondere Verbindung zu den Affekten aufweisen: »Affekte sind Projektile, genauso wie Waffen […]. Es gibt eine affektive Beziehung zur Waffe, wie nicht nur die Mythologien zeigen, sondern auch die Heldenlieder, Ritterromane und höfischen Romane. Waffen sind Affekte, und Affekte sind Waffen« (552). Zum Schmuck, vgl. etwa TP 554: »Der umherziehende Schmied verbindet die Goldschmiedekunst mit der Waffe und umgekehrt. Gold und Silber haben viele andere Funktionen, können aber nicht ohne diesen nomadischen Beitrag der Kriegsmaschine verstanden werden […]. Schmuckstücke sind Affekte, die den Waffen entsprechen, sie werden vom selben Geschwindigkeitsvektor getragen«.
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deswegen. Ahabs Vorhaben, »die Mauer zu durchstoßen« (Melville 2003, 178), lässt sich somit als Artikulation des Begehrens der Crew nach transgressiver Überschreitung, der Offenheit des Meeres und der Exzeptionalität des Walfangs verstehen.49 Doch ist es Ahab gelungen, die Männer von dem einen Pol des »Außen« der Legalität zu dem anderen zu führen, d.h.: vom glatten Raum des Meeres als deterritorialisiertem Territorium, welches das Versprechen nach »transnormalistischer Exploration« (Link 1999, 33) in Aussicht stellt, zum Territorium des Ausnahmezustands, in dem am Ende nicht nur das Gesetz suspendiert ist, sondern alle grenzüberschreitenden Möglichkeiten ebenfalls hinfällig sind. In diesem Sinne lässt sich formulieren, dass die Crew Ahab gefolgt ist, weil dieser einer Fluchtlinie den Weg bahnte, die einen Ausweg aus dem gekerbten Raum des Gesetzes, der organisierten Arbeit und der Staatlichkeit aufzuzeigen schien. Was die Männer indes mehrheitlich nicht sehen wollten, ist die Tatsache, dass Ahabs Fluchtlinie – vermittelt durch den monomanischen Hass auf den weißen Wal – keinen explorativen, sondern bloß destruktiven, auf die ultimative Katastrophe hinsteuernden Verlauf nehmen würde. Der fast vollständigen Zerstörung, mit der der Leser am Ende von Moby-Dick konfrontiert wird, liegt folglich eine fatale Verwechslung von »Fluchtlinie« und »Destruktionslinie« zugrunde, wie sich in Anlehnung an Deleuze und Guattari sagen lässt. »Der Unterschied zwischen den beiden Polen ist groß«, heißt es hierzu allerdings, »selbst und vor allem im Hinblick auf den Tod: die Fluchtlinie, die schöpferisch ist, oder sich in eine Destruktionslinie verwandelt« (TP 584).50 An dieser Stelle wird freilich deutlich, dass sich Melvilles Moby-Dick auch ganz wesentlich im Kontext der amerikanischen Romantik begreifen lässt. So fungiert das Meer – oder besser: die Natur insgesamt – vor allem bei den Autoren des Transzendentalismus als Raum, der dem Subjekt eine Art der ästhetischen Erfahrung zu vermitteln verspricht, durch welche dieses dazu ermächtigt werden soll, aus dem gekerbten Raum der Gesellschaft in einen schöpferischeren oder aufgeklärteren Seinsmodus einzutreten (vgl. Emerson 1983 und Thoreau 1966). Melvilles Roman, der weniger mit dem Transzendentalismus als mit dem »dunklen« Flügel der amerikanischen Romantik assoziiert wird (Hawthorne, Poe etc.), bleibt diesem Diskurs zumindest insofern noch verhaftet, als er sich auch als Warnung vor der Naivität eines solchen Naturverständnisses lesen lässt.51 Gleichwohl stellt die romantische Herkunft des 49 Vgl. Melville 2003, 178: »If man will strike, strike through the mask. How can the prisoner reach outside except by thrusting through the wall? To me, the white whale is that wall, shoved near to me. Sometimes I think there’s naught beyond. But ‘tis enough«. Im folgenden Abschnitt wird diese Passage – dann aber mit Blick auf Ahabs Entgrenzung des klassischen Verhältnisses von Mensch und Tier – noch genauer behandelt (vgl. Teil II, Kap. 1.4). 50 Deleuze und Guattari beziehen sich hier auf die beiden Pole der Kriegsmaschine, die sie in ihrer Analyse unterscheiden: »Am einen Pol ist der Krieg ihr Ziel und sie bildet eine Destruktionslinie, die bis an den Rand des Universums verlängert werden kann […]. Der andere Pol scheint uns der des Wesens zu sein, bei dem die Kriegsmaschine mit unendlich geringen ›Quantitäten‹ nicht den Krieg zum Ziel hat, sondern die Bahnung einer schöpferischen Fluchtlinie, die Bildung eines glatten Raumes und die Bewegung der Menschen in diesem Raum« (TP 584). 51 Dies zeigt sich deutlich am Ende des Kapitels »The Mast-Head« (Melville 2003, 167-173), wo die »pantheistische« Romantisierung des Meeres mit den realen Gefahren der Natur
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Romans keinen Hinderungsgrund für eine produktive Aktualisierung dar, da in anderer Hinsicht auch wesentliche Anknüpfungspunkte zu Fragen und Problemen der Gegenwart existieren. So lässt sich etwa darauf hinweisen, dass der Leser von MobyDick mit einer Art der Regierungstechnik konfrontiert wird, die sich nicht auf das Gesetz beruft, sondern es vielmehr subvertiert und unterwandert, was im politikwissenschaftlichen Diskurs von heute vielfach unter dem Stichwort des »Ausnahmezustands« diskutiert wird (vgl. Agamben 2004). Dies lässt darauf schließen, dass es sich als durchaus fruchtbar erweisen könnte, Moby-Dick noch ausführlicher mit Blick auf jene postnationalen und postdemokratischen Formen von Souveränität zu lesen als es auf den vorangehenden Seiten möglich gewesen ist.52 Liest man den Roman im Kontext gegenwärtiger kulturtheoretischer Debatten, so eignet er sich außerdem dazu, jene »routines of theory« zu problematisieren, von denen die Literatur- und Kulturwissenschaften laut Adam Frank und Eve Sedgwick spätestens seit den 1990er Jahren maßgeblich geprägt sind (Frank/Sedgwick 1995, 512).53 Franks und Sedgwicks Kritik lässt sich fraglos auch auf die American Studies beziehen, in denen es zur Hochphase der New Americanists durchaus nicht unüblich war, »Macht« als hegemoniales kulturelles Gesetz zu konzipieren, so dass die Subversion des Gesetzes als Widerstand gegen die Macht erscheint.54 Dieser Ansatz (in dem Macht ausschließlich top down, d.h. nicht als potentia oder puissance, sondern als potestas oder pouvoir konzipiert wird) stößt im Falle von Moby-Dick jedoch offenkundig an seine Grenzen, da konfrontiert wird: »But while this sleep, this dream is on ye, move your foot or hand an inch, slip your hold at all; and your identity comes back in horror. Over Descartian vortices you hover. And perhaps, at mid-day, in the fairest weather, with one half-throttled shriek you drop through that transparent air into the summer sea, no more to rise for ever. Heed it well, ye Pantheists!« (173). 52 Vgl. in diesem Kontext Donald Peases Aufsatz »C.L.R. James, Moby-Dick, and the Emergence of Transnational American Studies« (Pease 2002), in dem u.a. mit Agambens Konzeption des Ausnahmezustands argumentiert wird. Leider wird der Wert des Textes allerdings durch eine recht mutwillige Lesart der Melville-Studie von C.L.R. James (James 2001) geschmälert, der hier augenscheinlich zum Helden einer transnational ausgerichteten Amerikanistik gekürt werden soll. 53 Zu diesen »Routinen«, vgl. Frank/Sedgwick 1995, 501: »The most important question to ask about any cultural manifestation is, subversive or hegemonic? Intense moralism often characterizes such readings. […] To demonstrate (or even assert) that something is not ›natural‹ or not ›essential‹ is always to perform a powerful act«. 54 Diese Art der Argumentation erfolgt für gewöhnlich im Anschluss an Lacan oder im Zuge einer kuriosen Vermählung von Lacans Konzeption des Gesetzes mit Foucaults Mikrophysik der Macht – »a kind of Lacanian-Foucauldianism«, wie es bei Sedgwick und Frank heißt (Frank/Sedgwick 1995, 501). Dass Foucault den psychoanalytischen Gesetzesbegriff aber – genau wie Deleuze – explizit abgelehnt hat, wird dabei häufig übersehen. Vgl. hierzu Sarasin 2010, 156: »Foucaults Position wird nur verständlich, wenn man sich vor Augen hält, gegen welche Theorie er sich im Sinne einer frontalen Kampfansage in La volonté de savoir stellte: Es ist Lacans psychoanalytisches Konzept des ›Gesetzes‹, welches darin besteht, das Subjekt dem nom-du-père und damit einer symbolischen (und normativen) Ordnung zu unterwerfen […]. Foucault wirft der psychoanalytischen Konzeption des Gesetzes vor, einem juridischen Modell zu folgen und ›formell‹ zu bleiben«.
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der fruchtlose Binarismus von Hegemonie und Subversion in Melvilles Roman von vornherein ausgehebelt wird. Insofern Ahab nämlich sowohl eine zerstörerische Macht ausübt als auch das Gesetz und die dominanten kulturellen Werte des 19. Jahrhunderts subvertiert, verkompliziert Melville die Vorstellung einer simplen Dialektik von Macht und Widerstand, Hegemonie und Subversion, die allzu oft auch in den »kritischen Interventionen« der New Americanists zum Ausdruck kommt. Stattdessen hebt Melville die Komplexität, Prozessualität und Pluralität von Machtbeziehungen hervor, indem er auf die von Rechts wegen bestehende Macht der Menge verweist, zugleich aber verschiedene Strategien erörtert, mittels derer diese zu unterschiedlichen Zwecken mobilisiert und vereinnahmt wird. Der Macht begegnet man bei Melville somit nicht als transzendenter Ordnung oder in der Form des hegemonialen Gesetzes, sondern nur als Resultat eines Widerstreits konkurrierender Kräfte und Strategien, wobei die Kraft des Gesetzes bloß eine von vielen Möglichkeiten der Machtausübung darstellt und – wie alle anderen auch – prinzipiell scheitern kann. Eine Reaktivierung von Moby-Dick im Kontext der aktuellen macht- und souveränitätstheoretischen Debatten könnte daher auch zu einer fruchtbaren Revision der theoretischen Gemeinplätze beitragen, die den Diskurs der Amerikanistik und der Cultural Studies in den letzten Jahrzehnten dominiert haben. Ein weiterer Aspekt, der eine aktuelle Relevanz von Melvilles Roman nahelegt, betrifft den gesamten Komplex der Politik des Affekts, die im Zentrum der Analyse auf den vorangehenden Seiten stand. Auch wenn Melvilles Kontext freilich ein wesentlich anderer war, enthält die Darstellung von Ahabs affektiver Regierungskunst doch eine ganze Reihe von Aspekten, die für eine zeitgemäße Machtanalytik relevant sein könnten. So macht Melville zunächst deutlich, dass Souveränität nicht als transzendent zu verstehen ist, sondern selbst im Falle des repressivsten Ausnahmezustands an die immanente Macht der Menge gekoppelt ist, von der sie – durch aktive Unterstützung oder passives Geschehenlassen – stets in letzter Instanz autorisiert wird. Wie sich am Beispiel von Moby-Dick aufzeigen lässt, kommt dem Affekt somit eine zentrale politische Funktion zu, da er wesentlich an der Hervorbringung der jeweiligen Verfasstheit des sozialen Kollektivs beteiligt ist, die das Ausüben von Souveränität zuallererst möglich macht. Zwar ist dies kein prinzipiell neues Phänomen; es lässt sich jedoch die Frage stellen, ob einer derartigen Affektpolitik nicht heute eine besondere Relevanz zukommt, da sie im Kontext der medialen und politischen Verfasstheit der Gegenwart eine der wenigen Möglichkeiten darzustellen scheint, die der jeweiligen Regierung noch zur Verfügung stehen, um ihre Bevölkerung als Ganzes zu erfassen. Wie z.B. Brian Massumi argumentiert, kann aufgrund der zunehmenden sozialen und kulturellen Pluralisierung – auch und gerade in den USA – heute kaum mehr von einer linearen »Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Nachweis, Überredungsversuch und Argumentation« auf der Seite der Regierung und »der daraus resultierenden Aktion« auf der Seite der Bevölkerung ausgegangen werden (Massumi 2010, 109). Dementsprechend ist es der Bush-Regierung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nicht primär »ideologisch« oder »argumentativ« gelungen, die amerikanische Bevölkerung weithin zu vereinnahmen und auf zwei parallel geführte Kriege einzuschwören, sondern durch den gezielten Einsatz einer affektiven Politik der Angst, d.h. einer Regierungsform, die auf einem permanenten Alarmzu-
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stand basiert.55 Ähnlich wie Melvilles Ahab ist es somit auch Bush darum gegangen, einen »Signalzugriff auf das Nervensystem und auf die somatischen Ausdrucksformen« der Menge zu erlangen (Massumi 2010, 109), wobei es sich hier jedoch um eine qualitativ andere Art der Affizierung handelt. Spinoza zufolge wird nämlich das Begehren durch die Einwirkung von Angst gehemmt, während etwa Freude eine mobilisierende Wirkung erzielt und das Tätigkeitsvermögen des Körpers steigert. 56 Im Falle von Moby-Dick mag auf Seiten der Crew zwar auch Angst vor der Autorität Ahabs dazu beigetragen haben, dass die Revolte letztlich ausgeblieben ist. Im Ganzen aber hatte Ahab nicht die Zähmung der Crew zum Ziel, sondern die instrumentelle Anreizung und Steigerung ihres kollektiven Tätigkeitsvermögens, was den komplizierten Sachverhalt unterstreicht, dass die im spinozistischen Sinne »guten« Affektionen des Körpers nicht notwendigerweise mit sozialen Gefügen korrespondieren, die sich ebenfalls als gut bezeichnen ließen.57 Um es mit Nietzsche zu sagen: Die Politik des Affekts befindet sich jenseits von gut und böse (vgl. Nietzsche 1994, Band II, 797), was sie allerdings weder weniger gefährlich noch weniger politisch macht.58 Für die wissenschaftliche Analyse sollte dies Anlass genug sein, das Affektive nicht länger dem Ideologischen oder Symbolischen unterzuordnen, sondern es als wesentlichen Faktor bei der Konstitution von Souveränität zu begreifen, d.h. als Baustein eines immanenten Politikbegriffs. 55 Vgl. hierzu Massumis Aufsatz »Fear (The Spectrum Said)« (Massumi 2005), der sich auf das Terrorwarnsystem der Bush-Regierung bezieht: »The Bush administration’s fear inaction is a tactic as enormously reckless as it is politically powerful. Confusingly, it is likely that it can only be fought on the same affective, ontogenetic ground on which it itself operates« (47). Die obigen Zitate stammen aus der deutschen Übersetzung des Textes (Massumi 2010, 105-129). Siehe in diesem Kontext außerdem Massumi (Hg.) 1993. 56 In der Ethik wird die Furcht als »eine unbeständige Trauer« definiert, »die der Idee einer zukünftigen oder vergangenen Sache entsprungen ist, über deren Ausgang wir in bestimmter Hinsicht im Ungewissen sind« (Spinoza 2007, 345). Wie im Falle der Trauer vermindert daher auch die Furcht »des Menschen Wirkungsmacht […], d.h. […] vermindert oder hemmt das Streben, mit dem ein Mensch in seinem Sein zu verharren strebt«. Die Freude dagegen »vermehrt oder fördert« die Wirkungsmacht, so dass »der mit Freude affizierte Mensch nichts anderes begehrt, als sie zu erhalten und zwar mit umso größerer Begierde, je größer die Freude ist« (287-289). 57 Die Komplexität von Ahabs Affektmodulation, die einerseits mit Elementen der Angst operiert, andererseits aber auch auf die Anreizung des Begehrens abzielt, wird im Anschluss an das »Quarter-Deck«-Kapitel folgendermaßen charakterisiert: »I, Ishmael, was one of that crew; my shouts had gone up with the rest; my oath had been welded with theirs; and stronger I shouted, and more did I hammer and clinch my oath, because of the dread in my soul. A wild, mystical, sympathetical feeling was in me; Ahab’s quenchless feud seemed mine« (Melville 2003, 194). 58 Noch wesentlicher ist freilich die Tatsache, dass Ahabs Politik des Affekts nicht nur jenseits von gut und böse steht, sondern auch das spinozistische Verhältnis von »gut« und »schlecht« verkompliziert. Spinoza zufolge bewirken »gute« Affektionen jedoch nicht nur eine Steigerung der Wirkungsmacht des Körpers, sondern sind auch »der Erhaltung unseres Seins dienlich« (Spinoza 2007, 395). Während Ersteres durchaus auf Ahabs Strategie der Affektmodulation zutrifft, kann dies von Letzterem zweifellos nicht gesagt werden.
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1.4 »T HE LIVING L EVIATHAN «: T IER -W ERDEN UND R EPRÄSENTATIONSKRITIK Wenn sich die im vorangehenden Abschnitt vollzogene Bestimmung des Konstitutionsprozesses von Handlungsmächtigkeit und Souveränität in Moby-Dick als noch in mancher Hinsicht unvollständig darstellt, so insbesondere deshalb, weil das Politische hier bislang fast ausschließlich unter »sozialen« Gesichtspunkten betrachtet wurde. Zwar wurde mithilfe des spinozistischen Konzepts der multitudo aufgezeigt, dass sich das Politische nicht ausgehend von einer transzendenten Instanz konstituiert, sondern bottom up, d.h. in der Immanenz des jeweiligen kollektiven Gefüges; doch obwohl die Rolle nicht-menschlicher Entitäten (wie etwa der Goldmünze) durchaus in Betracht gezogen wurde, konnte hier noch der Eindruck erweckt werden, das Kollektiv bestünde letzten Endes aus der Gesamtheit der menschlichen Akteure, die gemeinsam die Schiffsbesatzung der Pequod bilden. Inwiefern sich die Pequod als »Metapher« des Politischen anbietet, liegt somit auf der Hand. Denn der Begriff der multitudo verkörpert nicht nur auf passende Weise die Heterogenität von Melvilles Crew; er weist zudem darauf hin, dass die Politik nicht nur Sache des Hobbesschen »Staatsvolkes« ist, sondern dass die gesamte Mannschaft – unabhängig von Herkunft oder Staatsangehörigkeit – machtkonstitutiv und, auf diese oder jene Weise, am politischen Prozess beteiligt ist. Auch wenn hierdurch zweifellos eine Erweiterung des klassischen Politikbegriffs erreicht werden konnte, stellt sich die Frage, ob der Begriff der multitudo nicht trotzdem noch zu eng gefasst wurde, um »Kollektivität« in einem wirklich umfassenden Sinne zu artikulieren.59 In der Tat scheint MobyDick in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiterzugehen, da der Roman nicht zuletzt auch die Frage nach der Wirkmächtigkeit nicht-menschlicher Akteure aufwirft, so dass ein anderer Begriff des Kollektivs zum Ausdruck kommt und die klassischen Grenzen des Sozialen und Politischen mithin verschoben werden. Nicht von ungefähr markiert der Wal für Ahab daher eine Grenze oder Mauer, die es zu durchbrechen gilt, wobei die etymologische Nähe von wall und whale durchaus von Bedeutung ist: »How can the prisoner reach outside except by thrusting through the wall? To me, the white whale is that wall, shoved near to me« (Melville 2003, 178). Die durch Ahabs monströse »Identifikation mit Moby Dick« (KK 108) durchbrochene Mauer verweist demnach zugleich auf jene Grenzlinie, die die zentrale Grundunterscheidung des klassischen politischen Denkens und jeglicher Anthropologie markiert: die Grenze zwischen Mensch und Tier nämlich, die bereits in der Politik des Aristoteles zur Begründung der »guten Gemeinschaft« herangezogen wird. »Der Mensch«, heißt es dort, sei das »einzige Lebewesen, das Sprache (lógos) besitzt«, weshalb ihm »im Gegensatz zu den Tieren« die Fähigkeit zukomme, »sich vom Guten (agathón) und Schlechten (kakón), von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen« (Aristoteles 1994, 47). Im Kontext des neuzeitlichen Rationalismus ist diese Trennung beispielsweise von Descartes bekräftigt worden, der den Menschen ebenso
59 Zu einem solchermaßen »umfassenden« Kollektivitätsbegriff, vgl. die Studie von Daniel Falb (Falb 2015), in der das Thema ausgehend von Platon und Aristoteles, der Statistik, dem mittelalterlichen Universalienstreit sowie den soziologischen Theorien von Tarde und Latour behandelt wird.
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aufgrund seines Vermögens, vernunftgemäß denken und durch Sprache kommunizieren zu können, von den Tieren unterscheidet. Descartes geht in seiner Konzeption jedoch weiter als Aristoteles, da er von einer »absoluten Differenz« ausgeht, die nicht nur zwischen Mensch und Tier entscheidet, sondern allgemein den menschlichen vom nicht-menschlichen Bereich trennt.60 So heißt es in dem 1637 erschienenen Discours de la Méthode, Tiere seien künstlichen Automaten oder Maschinen gleichzusetzen, da es ihnen ebenfalls an einer »unsterblichen Seele« mangele, über die allein der vernunftbegabte Mensch verfüge (Descartes 1990, 97). Dementsprechend kommt Descartes zu dem Schluss: »Wenn es Maschinen mit den Organen und der Gestalt eines Affen oder eines anderen vernunftlosen Tieres gäbe, so hätten wir gar kein Mittel, das uns nur den geringsten Unterschied erkennen ließe zwischen dem Mechanismus dieser Maschinen und dem Lebensprinzip dieser Tiere; gäbe es dagegen Maschinen, die unseren Leibern ähnelten und unsere Handlungen insoweit nachahmten, wie dies für Maschinen wahrscheinlich möglich ist, so hätten wir immer zwei ganz sichere Mittel zu der Erkenntnis, daß sie deswegen keineswegs wahre Menschen sind. Erstens könnten sie nämlich niemals Worte oder andere Zeichen dadurch gebrauchen, daß sie sie zusammenstellen, wie wir es tun, um anderen unsere Gedanken bekanntzumachen […]. Das zweite Mittel ist dies: Sollten diese Maschinen auch manches ebensogut oder vielleicht besser verrichten als irgendeiner von uns, so würden sie doch zweifellos bei vielem anderen versagen, 60 Vgl. Badmington 2000, 4: »There is, in other words, an absolute difference between the human and the inhuman: only the former has the capacity for rational thought. Reason belongs solely to the human and, as such, serves to unite the human race. ›We‹ may have different types of bodies, but because reason is a property of the mind (which, for Descartes, is distinguishable from the body), deep down ›we‹ are all the same«. Wie Neil Badmington hiermit verdeutlicht, begründet die Unterscheidung von Mensch und Tier einen humanistischen Essentialismus, der im politischen und philosophischen Diskurs nach wie vor eine Rolle spielt. Zugleich ist Descartes’ Dualismus allerdings auch immer wieder kritisiert worden. So hat Jeremy Bentham bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts erklärt, dass es weniger um die Frage der Sprach- und Vernunftfähigkeit der Tiere als um ihre Leidensund Affektfähigkeit gehe, die sie prinzipiell mit den Menschen teilten: »The French have already discovered that the blackness of the skin is no reason why a human being should be abandoned without redress to the caprice of a tormentor. It may come one day to be recognized, that the number of the legs, the villosity of the skin, or the termination of the os sacrum, are reasons equally insufficient for abandoning a sensitive being to the same fate. What else is it that should trace the insuperable line? Is it the faculty of reason, or, perhaps, the faculty of discourse? But a full-grown horse or dog is beyond comparison a more rational, as well as a more conversable animal, than an infant of a day, or a week, or even a month, old. But suppose the case were otherwise, what would it avail? The question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer?« (Bentham 2007, 311; vgl. auch Jacques Derridas Kommentar zu dieser Textpassage in Derrida 2008, 27-29). In der aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung wird der klassische Dualismus von Mensch und Tier vor allem im Kontext der durch Peter Singers Animal Liberation angestoßenen Tierrechtsdebatte sowie von Seiten des »Posthumanismus« in Frage gestellt (vgl. Singer 1975, Halberstam/Livingston [Hg.] 1995, Badmington [Hg.] 2000, Wolfe 2003 und 2009, Calarco 2008, Castricano [Hg.] 2008 und Haraway 2008).
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wodurch offen zutage tritt, daß sie nicht aus Einsicht handeln, sondern nur zufolge der Einrichtung ihrer Organe. […] Diese zwei Mittel kennzeichnen nun auch den Unterschied zwischen Mensch und Tier; denn es ist ganz auffällig, daß es keinen so stumpfsinnigen und dummen Menschen gibt, nicht einmal einen Verrückten ausgenommen, der nicht fähig wäre, verschiedene Worte zusammenzuordnen und daraus eine Rede aufzubauen, mit der er seine Gedanken verständlich macht; und daß es im Gegenteil kein anderes Tier gibt, so vollkommen und glücklich veranlagt es sein mag, das ähnliches leistet […]. Dies zeigt nicht bloß, daß Tiere weniger Verstand haben als Menschen, sondern vielmehr, daß sie gar keinen haben.« (Descartes 1990, 91-95)
Bei Descartes wird das Verhältnis von Mensch und Tier demnach durch eine scheinbar unüberbrückbare Linie bestimmt – eine »insuperable line«, wie es bei Bentham heißt (Bentham 2007, 311) –, entlang der den Tieren, wie auch allen anderen nichtmenschlichen Entitäten, der bloße Status des Objekts zukommt, während der Mensch zum selbsttätig denkenden und handelnden Subjekt erklärt wird. Im Hinblick auf Moby-Dick wird diesbezüglich deutlich, dass der rechtschaffene Starbuck den weißen Wal ganz im Sinne von Descartes und dem anthropozentrischen Subjekt/Objekt-Dualismus versteht, wenn er ihn als »dumb brute« bzw. »thing« bezeichnet, das allein als Rohstoff für den »Nantucket market« von Nutzen sei (Melville 2003, 177-178). Ahab dagegen setzt sich über den Subjekt/Objekt-Dualismus und die von Descartes gezogene Grenze wissentlich hinweg (weshalb ihn Starbuck für verrückt erklärt), indem er ein »widernatürliches Bündnis« (KK 107) mit Moby Dick eingeht und diesen als ebenbürtigen Feind anerkennt. Diesen Vorgang hat Deleuze als Ahabs »Wal-Werden« beschrieben und von der bloßen Imitation unterschieden: »Es handelt sich nicht mehr um ein Problem der Mimesis, sondern des Werdens: Ahab ahmt den Wal nicht nach, er wird Moby Dick, er wechselt in die Nachbarschaftszone, in der er sich nicht mehr von Moby Dick unterscheiden kann, und verwundet sich selbst, indem er ihn verwundet. Moby Dick ist die ›ganz nahe Wand‹, mit der er sich vermischt« (107). Wie Mary Bryden betont, wird auf diese »Vermischung« von Mensch und Wal bereits recht frühzeitig verwiesen, da Ahabs Beinprothese ausgerechnet aus dem Kieferknochen eines Pottwals gefertigt ist. Während der Wal also Ahabs Bein verschlungen hat, hat sich im Gegenzug ein Teil des Walkörpers – bereits vor dem Beginn der eigentlichen Jagd – mit dem Körper von Ahab vermischt. Mit Beginn der Jagd auf Moby Dick gewinnt das Wal-Werden Ahabs dann zunehmend an Intensität, bis es jenen Punkt der kompletten Selbstauslöschung erreicht, an dem Ahabs gesamter Körper seinem bereits verschlungenen Bein in den ozeanischen Abgrund folgt (vgl. Bryden 2003, 107-111). Auch wenn sich Ahabs Wal-Werden am Ende des Romans als tödlich erweist, ist es dennoch erstaunlich, dass ausgerechnet er, der rachsüchtige und monomanische Kapitän der Pequod, als Agent eines neuen Begriffs des Kollektivs gelten kann. Sicherlich: Ahab »hasst« Moby Dick und hat keinerlei Interesse an der wechselseitigen Assoziation von Menschen und nicht-menschlichen Wesen im Kontext einer neuen Form der multitudo, für die der Subjekt/Objekt-Dualismus keine Gültigkeit mehr hat. Doch gerade weil er ihn so hasst – weil er sich durch die Macht des Affekts an ihn bindet –, wird der Subjekt/Objekt-Dualismus ausgehebelt und die kartesische Grenze
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überschritten.61 Und wie Bruno Latour erläutert, lässt sich eine derartige Außerkraftsetzung des Subjekt/Objekt-Dualismus als Voraussetzung für einen neuen Begriff des »sozialen Kollektivs« verstehen, in dem nun auch für nicht-menschliche Wesen Platz ist, die folglich als Akteure zu begreifen sind. Hierzu heißt es: »Jetzt wird deutlich, daß durch die Erweiterung des Kollektivs eine ganz andere Präsentation von Menschen und nicht-menschlichen Wesen möglich ist, als jener kalte Krieg zwischen Objekten und Subjekten verlangt. Dort wurde ein Nullsummenspiel gespielt: Was der eine verlor, gewann der andere, und umgekehrt. Menschliche und nicht-menschliche Wesen können sich hingegen summieren, ohne daß ihr Gegenüber verschwinden müßte. Noch einmal anders formuliert: Objekte und Subjekte können sich nie assoziieren, Menschen und nicht-menschliche Wesen dagegen wohl. Sobald wir aufhören, die nicht-menschlichen Wesen für Objekte zu halten, wir ihnen also Zugang gewähren zum Kollektiv in Form neuer, noch nicht festumrissener Entitäten, die zögern, beben, perplex machen, können wir ihnen ohne weiteres die Bezeichnung Akteure zugestehen.« (Latour 2010, 109-110)
Gemäß einer derartigen Neukonzeption der Idee des sozialen Kollektivs ließe sich Melvilles weißer Wal mit Jodey Castricano als »Animal Subject« bezeichnen (Castricano [Hg.] 2008) – dies jedoch nicht, um den Subjektbegriff, konträr zum Anliegen Latours, auszuweiten; vielmehr geht es darum, ihn an seine eigene Grenze zu treiben, um so das politische und philosophische Problem zu markieren, das mit der Abtrennung von Subjekt und Objekt im klassischen Humanismus (und im klassischen politischen Denken insgesamt) einhergeht. Denn gerade in dieser Hinsicht ist der Subjektbegriff keinesfalls unschuldig. Vergleichbar damit, wie Giorgio Agamben zufolge die Etablierung des Rechts als Voraussetzung für die Abtrennung einer Zone der vollständigen Rechtlosigkeit fungiert, wurde (und wird) auch der Subjektbegriff eingesetzt, um denjenigen Rechte zu verweigern, denen kein vollwertiger Subjektstatus eingeräumt wird.62 Anhand der amerikanischen Geschichte lässt sich dementspre61 Im Abécédaire hat Deleuze auf ähnliche Weise behauptet, Jäger stünden den Tieren näher als »tierliebe« Hunde- oder Katzenbesitzer. Während diese nämlich oftmals eine »ödipale« Beziehung zu ihrem Haustier pflegten, sei der Jäger (z.B. wenn er den Spuren des gejagten Tieres folgt) dazu gezwungen, eine »animalische Beziehung« zum Tier einzugehen. Mit Bezug auf Donna Haraway, die Deleuzes Geringschätzung für Haustiere und deren Besitzer deutlich kritisiert hat (Haraway 2008, 27-30), lässt sich freilich darauf hinweisen, dass es auch im häuslichen Bereich zu Formen des »Tier-Werdens« kommt, die Haraway als »becoming with« von Mensch und Tier beschreibt (3). Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Positionen von Deleuze und Haraway wirklich so unterschiedlich sind, wie Haraway suggeriert. So hat Deleuze im Zusammenhang mit seinen Aussagen über Haustiere nämlich auch erklärt, dass Kinder in der Regel keine ödipale, sondern eine animalische Beziehung zu Haustieren eingingen (siehe L’Abécédaire de Gilles Deleuze, Stichwort »A wie Animal«). 62 Auf diese Zone der vollständigen Rechtlosigkeit wird bei Agamben mit dem Begriff des »nackten Lebens« verwiesen, bei dem es sich nicht um eine vorpolitische oder vorrechtliche Verfasstheit des Lebens handelt, sondern um eine Entität, die im Grenzbereich eines jeweils spezifischen Rechtsverhältnisses oder rechtlichen Ausnahmezustands produziert wird. In Agambens Homo sacer heißt es hierzu: »Die fundamentale Leistung der souverä-
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chend beobachten, dass die Entrechtung von Schwarzen oder Frauen fast immer unter Rückgriff auf den Subjekt/Objekt-Dualismus legitimiert wurde, der z.B. dazu diente, die Grenze zwischen Sklavenhalter und Sklave oder Ehemann und Ehefrau als Grenze zwischen »Eigentümer« (Subjekt) und »Eigentum« (Objekt) zu definieren. Dass sich diese Abtrennung mit der Begründung rechtfertigen ließ, Schwarze und Frauen verfügten nicht über die gleichen Vernunftanlagen wie weiße Männer (weshalb ihnen in der Regel nur partiell der Status des »Menschen« zuerkannt wurde63), lässt sich durchaus auf die Grundlagen des Humanismus selbst beziehen. Denn wie bereits Heidegger in seinem berühmten »Humanismusbrief« erklärt, ist der humanistische Begriff des Menschen keinesfalls inklusiver Natur, sondern hatte im ursprünglichen römischen Kontext eine Abtrennung ermöglichen sollen, die den »homo humanus« dem »homo barbarus« entgegensetzt.64 Das Wesen des humanistischen Subnen Macht ist die Produktion des nackten Lebens als ursprüngliches politisches Element und als Schwelle der Verbindung zwischen Natur und Kultur, zōḗ und bίos«. Diese Feststellung veranlasst Agamben zu der rigorosen Bewertung, »daß die abendländische Politik von Anfang an eine Biopolitik ist, so daß sich jeder Versuch, die politischen Freiheiten auf den Bürgerrechten zu gründen, als nichtig erweist« (Agamben 2002, 190). Eine für die Thematik des vorliegenden Kapitels besonders interessante Fortsetzung finden Agambens Überlegungen in dem Buch Das Offene, in dem die Grenze zwischen Mensch und Tier mit der Existenz einer »anthropologischen Maschine« verknüpft wird (Agamben 2003, 42-48), die die politische Konstitution der Humanität im Sinne einer fortwährenden Entscheidung über Mensch und Nicht-Mensch zum Ziel habe. Dementsprechend heißt es: »Der entscheidende politische Konflikt in unserer Kultur, der über jeden anderen Konflikt herrscht, ist derjenige zwischen Animalität und Humanität« (88). 63 Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte »3/5-Klausel« aus der amerikanischen Verfassung, nach der nicht sämtliche, sondern nur drei Fünftel aller Sklaven bei nationalen Volkszählungen mitgezählt werden durften. Dies kam vor allem den Südstaaten zugute, da Sklaven zwar nicht wählen durften, bei der Sitzzuteilung im Repräsentantenhaus kurioserweise aber als »Drei-Fünftel-Menschen« berücksichtigt wurden. Vgl. in diesem Kontext auch Spivak 1991, 229: »[T]he great doctrines of identity of the ethical universal, in terms of which liberalism thought out its ethical programmes, played history false, because the identity was disengaged in terms of who was and who was not human. That’s why all these projects, the justification of slavery, as well as the justification of Christianization, seemed to be alright; because, after all, these people had not graduated into humanhood, as it were«. Trotz der Tatsache, dass die kulturellen Grundlagen rassistischer und sexistischer Exklusionspraktiken ganz offensichtlich mit dem Dualismus von Mensch und Tier zusammenhängen, ist »speciesism« (Singer 1975) in den Cultural Studies jedoch erst kürzlich zum Thema geworden. Vgl. hierzu etwa Wolfe 2003, Castricano (Hg.) 2008 sowie – mit Blick auf die möglichen Überschneidungen von »Animal Studies« und Feminismus – Adams/Donovan (Hg.) 2006. 64 Vgl. Heidegger 2000, 12: »Ausdrücklich unter ihrem Namen wird die Humanitas zum erstenmal bedacht und erstrebt in der Zeit der römischen Republik. Der homo humanus setzt sich dem homo barbarus entgegen. Der homo humanus ist hier der Römer, der die römische virtus erhöht und sie veredelt durch die ›Einverleibung‹ der von den Griechen übernommenen παιδεία«. Heideggers Kritik am Humanismus basiert somit auf der Feststellung, dass dieser immer schon von einem »Wesen« des Menschen ausgeht, das als transzendent
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jektbegriffs liegt daher nicht in dessen positiver Benennung von menschlicher Handlungsmächtigkeit und Autonomie begründet, sondern in dem, was er im Zuge dieser Markierung abtrennt und auf die andere Seite jener fundamentalen Grenzlinie verbannt, die dem politischen Denken seit der griechischen Antike innewohnt. Darauf, dass Melvilles Moby-Dick diese Grenze verschiebt und folglich zur Dezentrierung der anthropozentrischen Vorstellung von menschlicher Autonomie beiträgt, hat ausgerechnet Carl Schmitt hingewiesen. So heißt es in dessen Land und Meer: »Herman Melville, der selber noch mehrere Jahre auf einem Walfischjägerschiff als Matrose gedient hat, schildert in seinem ›Moby Dick‹, wie hier eine, man kann sagen persönliche Beziehung und eine innige, feind-freundschaftliche Bindung zwischen dem Jäger und seinem Wild eintritt. Der Mensch wird hier, durch den Kampf mit dem anderen Lebewesen der See, immer weiter in die elementare Tiefe maritimer Existenz hineingetrieben.« (Schmitt 2001, 33)
Schmitts Darstellung des Verhältnisses von Waljäger und Wal ist somit der Charakterisierung von Deleuze, der die Beziehung von Ahab und Moby Dick als »widernatürliches Bündnis« (KK 107) beschrieben hat, durchaus nicht unähnlich – obwohl schon in begrifflicher Hinsicht (»persönliche Beziehung«, »feind-freundschaftliche Bindung« etc.) auch gravierende Unterschiede bestehen. Dass Schmitt in seinem Buch überhaupt auf Moby-Dick verweist, lässt sich insofern erklären, als er seine allgemeinen Thesen zum Verhältnis von Land und Meer am Beispiel von Ahabs »WalWerden« bestätigt sieht. So erlebt der Waljäger Schmitt zufolge generell – wenn er »den geheimnisvollen Bahnen der Wale« folgt und in die Tiefen »maritimer Existenz« gerät (Schmitt 2001, 33-34) – eine Art von transformativer Metamorphose, die seinen subjektiven Willen übersteigt. Die Beziehung zwischen Waljäger und Wal kennzeichnet Schmitt zudem als Konfrontation zweier Anomalien. Der Mensch nämlich, den Schmitt ursprünglich als »Landtreter« versteht (7), erfährt eine relative Deterritorialisierung, wenn er das Ufer verlässt und zum »Seeschäumer« (9) wird. Mehr noch gilt dies für den Wal, bei dem es sich nicht um einen Fisch, sondern um ein durch Lungen atmendes Säugetier handelt, dessen Vorfahren erst im Laufe der Evolution zu Wasserlebewesen wurden. Laut Schmitt ist es »erstaunlich«, dass »ein solcher warmblütiger Riese dem Element des Meeres ausgeliefert ist, ohne daß seine physiologische Anlage ihn dazu bestimmt« (31). Im Sinne dieser tendenziellen Unbestimmtheit und Kontingenz lässt sich auch das Zusammentreffen von Wal und Waljäger begreifen, das Schmitt zufolge durchaus von Bedeutung für die Geschichte der Moderne und des Wissens gewesen ist: »Wer hat die Zonen und Straßen des Ozeans entdeckt? Mit einem Wort: Wer hat den Erdball entdeckt? Der Wal und der Walfischjäger!« (34).65 Entscheidend an dieser Formulierung ist die Tatsache, dass vorausgesetzt wird. Nichtsdestotrotz aber hält er die traditionelle Trennung von Mensch und Tier aufrecht, wenn er den zur Sprache fähigen Menschen in der »Lichtung des Seins« verortet und zugleich auf die Weltarmut von »Gewächs und Getier« verweist (18). Zu Heideggers ambivalenter Haltung gegenüber dem Mensch/Tier-Dualismus, vgl. auch Derrida 1992 (vor allem 58-70), Agamben 2003 (vor allem 57-88) und Calarco 2008 (vor allem 1553). 65 Schmitt bezieht sich hier auf den französischen Historiker Jules Michelet und dessen Buch La Mer von 1861. Ferner heißt es: »Ohne den Walfisch hätten sich die Fischer immer nur
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Schmitt den Waljäger nicht allein zum Subjekt jener »Entdeckung« des globalen Raumes erklärt, sondern ausdrücklich auf die Kooperation von Waljäger und Wal verweist und den Wal somit – ganz im Sinne der Konzeption des »sozialen Kollektivs« von Latour oder des Gefügebegriffs von Deleuze – zum Teilakteur einer Handlungsverkettung macht. Waljäger und Wal stehen sich folglich nicht als Subjekt und Objekt gegenüber, sondern assoziieren sich im Kontext einer neuen Form von Kollektiv, das aus Menschen und nicht-menschlichen Wesen besteht. Im Folgenden soll nun analysiert werden, ob und inwiefern diese Perspektive auch einer genaueren Lektüre von Moby-Dick standhält. Denn es ist eine Sache, den Subjekt/Objekt-Dualismus außer Kraft zu setzen und Menschen und Tiere im Rahmen einer handlungsorientierten Konzeption des Kollektivs zu assoziieren. Das Problem, das sich darüber hinaus jedoch stellt, betrifft die Frage, ob dies auf Kosten einer simplen Anthropomorphisierung des Tieres geschieht (wie es in Fabeln, Comics oder allegorischen Erzählungen oft der Fall ist66), oder ob diesem eine nicht-menschliche Eigentümlichkeit zugestanden wird, die sich dennoch nicht mehr durch den Subjekt/ Objekt-Dualismus definiert. Bevor diese Frage aber Gegenstand einer ausführlicheren Diskussion sein wird, lässt sich zunächst festhalten, dass der Wal dem reinen Objektstatus in Melvilles Roman vor allem insofern entkommt, als er erstens als Akteur und zweitens als Träger eines Wissens präsentiert wird. Beides zeigt sich etwa am Beispiel der von Schmitt erwähnten »geheimnisvollen Bahnen der Wale« (Schmitt 2001, 34), von denen sich Melvilles Ishmael besonders deshalb fasziniert zeigt, weil sie durch die abgelegensten Meerestiefen verlaufen und den Verfolgern des Pottwals weithin unerklärlich sind. In diesem Sinne heißt es: »[T]he hidden ways of the Sperm Whale when beneath the surface remain, in great part, unaccountable to his pursuers; and from time to time have originated the most curious and contradictory speculations regarding them, especially concerning the mystic modes whereby, after sounding to a great depth, he transports himself with such vast swiftness to the most widely distant points.« (Melville 2003, 197-198) an die Küste gehalten. Der Wal hat sie auf die Ozeane gelockt und von der Küste emanzipiert. Durch den Wal hat man die Meeresströmungen entdeckt und den Durchgang im Norden gefunden« (Schmitt 2001, 34). 66 Eine Tendenz zur Anthropomorphisierung des Nicht-Menschlichen findet sich indes auch in der gegenwärtigen posthumanistischen und neo-materialistischen Theorie. Als Beispiel hierfür lässt sich das Buch Vibrant Matter von Jane Bennett nennen, der es um die Überwindung des »historischen Materialismus« zugunsten eines »vitalen Materialismus« geht, auf den sie sich u.a. mit Verweis auf Spinoza, Deleuze und Latour beruft (vgl. Bennett 2010). Die Kritik am Subjekt/Objekt-Dualismus geht hier allerdings nicht nur mit einem mehr als fragwürdigen Begriff des Politischen einher, sondern zugleich auch mit einer ausgeprägten Tendenz zur Anthropomorphisierung, die sich ebenso auf den Bereich des Animalischen wie auf den Bereich der Dinge erstreckt. Zum grundsätzlichen Problem von Ansätzen wie diesem hat sich Alberto Toscano wie folgt geäußert: »Doesn’t the more-or-less panpsychist dramatization of the alliances of actants in jauntily anthropomorphic terms enact the ultimate reduction, whereby objects and things are thought as analogies of human action, in ways far less challenging or surprising than the ›reductive‹ explanations of mechanists and determinists?« (zit. aus Latour/Harman/Erdélyi 2011, 140).
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Neben der hier geschilderten Mobilität, die den Pottwal als Akteur auf eigene Rechnung ausweist, macht Ishmael außerdem deutlich, dass der Wal über ein Wissen verfügt, das dem Menschen zumeist verborgen bleibt. So heißt es im weiteren Textverlauf: »It is a thing well known to both American and English whaleships, and as well a thing placed upon authoritative record years ago by Scoresby, that some whales have been captured far north in the Pacific, in whose bodies have been found the barbs of harpoons darted in the Greenland seas. Nor is it to be gainsaid, that in some of these instances it has been declared that the interval of time between the two assaults could not have exceeded very many days. Hence, by inference, it has been believed by some whalemen, that the Nor’ West Passage, so long a problem to man, was never a problem to the whale.« (Melville 2003, 198)
Dieses vom Wal verkörperte »Wissen« legt es nahe, Melvilles Moby-Dick auf die Überlegungen von Benjamin Bühler und Stefan Rieger zu beziehen. In ihrem Buch Vom Übertier: Ein Bestiarium des Wissens geht es Bühler und Rieger nämlich darum, eine »Inversion« der klassischen Blickrichtung zu vollziehen, aus der heraus der Mensch jahrhundertelang als »Krone der Schöpfung« begriffen wurde, d.h. als ein Wesen, das seinen tierischen Wurzeln durch die Herausbildung spezifisch menschlicher Eigenschaften entwachsen sei:67 »Der Mensch ist das Tier, das zur Staatenbildung, zur Sprache und Kommunikation befähigt ist, das arbeiten, spielen, weinen, lachen, lügen, lernen, sprechen, helfen und morden kann« (Bühler/Rieger 2006, 7). Indes gehen Bühler und Rieger davon aus, dass der Mensch sein Wissen in aller Regel vom Tier her konstituiert, das somit als Maßgabe dessen fungiert, »wohin der Mensch sich allererst noch zu entwickeln hat oder hätte – etwa im Sinne einer Evolution sozialer Einrichtungen und technischer Errungenschaften, von Medien und Apparaturen. In einer Verkehrung von Präfiguration und Postformation wird das Tier dem Menschen zu einem Vorbild, zu einer idealen Verkörperung von Fähigkeiten, über die der Mensch – jedenfalls als (natürliches) Wesen – nicht verfügt. Das Tier wird zum Übertier.« (9)
Als ein derartiges Übertier lässt sich auch der Pottwal in Melvilles Roman bezeichnen, der gleichwohl ein Wissen zu verkörpern scheint, über das der Mensch nicht nur »nicht verfügt«, sondern das sich ihm auch permanent entzieht. Während Bühler und Rieger also beschreiben, wie das Tier als »Wissensfigur« am Konstitutionsprozess menschlicher Erkenntnis teilhat, indem es technische Entwicklungen motiviert und zum »Agenten je neuer Forschungsrichtungen« wird (11), gelingt es dem Wal in Moby-Dick, den menschlichen Zugriff auf sein Wissen weitgehend zu verhindern. Zwar macht es durchaus Sinn, zu argumentieren, dass der Mensch sein Wissen evolutionsgeschichtlich in der Tat auch »vom Wal her« konstituiert hat, wobei neben der von Schmitt thematisierten Entdeckung der »Zonen und Straßen des Ozeans« (Schmitt 67 Vgl. Bühler/Rieger 2006, 9: »Vor diesem Hintergrund lohnt eine Inversion der Blickrichtung – Tiere sehen den Menschen an oder genauer noch: Wissenschaftler sehen durch die Augen der Tiere auf den Menschen, und was sie sehen, sind Defizite und Mängel nicht des Tieres, sondern des Menschen. Die Krone der Schöpfung scheint in dieser Verkehrung als das Defizitär der Figur des Tieres«.
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2001, 34) nicht zuletzt auch die Entwicklung des U-Bootes zu nennen wäre.68 In Moby-Dick gelingt es jedoch grundsätzlich nicht, das vom Wal verkörperte Wissen operationalisierbar zu machen. Dieses Scheitern wird besonders am Beispiel der beiden Protagonisten des Romans und ihrer konträren Vereinnahmungsstrategien sinnfällig, denn weder Ahabs buchstäbliche Jagd auf den Wal, noch Ishmaels (in den »cetologischen« Kapiteln geschilderter) Versuch, dem Wal konzeptuell und wissenschaftlich habhaft zu werden, ist letztlich von Erfolg gekrönt. In diesem Kontext hat z.B. Astrid Recker argumentiert, dass Ishmaels cetologische Ausführungen gerade nicht dazu dienen, eine definitive Erkenntnis über den Wal zu artikulieren, da sie, ganz im Gegenteil, der klassischen Naturgeschichte ihre Grenzen aufzeigen. Laut Recker kommt es somit zu einer Subversion des klassischen Wissenschaftsmodells, auf dem Ishmaels Ausführungen zwar generell beruhen, das sie zugleich jedoch einer impliziten Dekonstruktion und Parodie unterziehen: »Even if Ishmael thus avails himself of the techniques and practices of classical natural history in his attempt to present his readers with a ›systematized exhibition of the whale in his broad genera‹ […] and in his meticulous description of the sperm whale in the cetological chapters, his doing so eventually subverts the basic principles and convictions of natural history […]. Hence, Ishmael’s unsuccessful attempts at describing and classifying the whale, the futility of his endeavor to somehow grasp its essence, make apparent that the nature which manifests itself in this whale is fundamentally different from nature as conceptualized by classical science […]. Fully aware of this, Ishmael presents his readers with a classification and description of the whale that derides and parodies classical natural history and its approach to nature.« (Recker 2008, 129)69
Dass Ishmael die an klassischen Mustern orientierte wissenschaftliche Kategorisierung des Wals misslingt, wird insbesondere in dem berühmten Kapitel »The Whiteness of the Whale« (Melville 2003, 204-212) deutlich. Zwar ist dieses Kapitel nicht 68 Zwar fehlt der Pottwal in Bühlers und Riegers Bestiarium, doch wäre eine Berücksichtigung aufgrund der von ihnen selbst erstellten Kriterien gut vorstellbar. Siehe Bühler/Rieger 2006, 12: »Die Helden dieser Liste sind nicht die Tiere der Emblematik oder der Fabel, nicht der Bibel oder des alten oder neuen Physiologus […]. Vielmehr sind die Helden dieser Geschichte Tiere als Wissensfiguren, als Agenten eines Wissens, das sich aus diesen Figuren generiert«. 69 Aufgrund der Diskontinuitäten und Paradoxien, die für Ishmaels Denken charakteristisch sind, identifiziert Recker dessen Weltbild mit den (anti-)epistemologischen Grundlagen der Quantenphysik, während sie Ahab als Verkörperung des Newtonschen Wissenschaftsmodells begreift: »The fact that Ishmael perceives these discontinuities, which Ahab not only does not see but which also do not seem to exist in his realm, strongly implies that their realms are indeed governed by different principles, associated with classical Newtonian continuity in Ahab’s case, and with complementary discontinuity in Ishmael’s« (Recker 2008, 17). So fruchtbar sich Reckers Überlegungen mit Blick auf die Übergänge zwischen den »zwei Kulturen« (Natur- und Geisteswissenschaften) erweisen, so sehr drängt sich zugleich jedoch der Gedanke auf, dass ihre Studie letztlich eine Reaktualisierung der klassischen Moby-Dick-Interpretation aus der Frühphase der American Studies vollzieht, nach der Ahab ein totalitäres und Ishmael ein demokratisches Weltbild verkörpert.
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auf den Pottwal als solchen, sondern speziell auf Moby Dick und dessen individuelle Anomalie der weißen Farbe gemünzt; wie auch Recker argumentiert, enthält das Kapitel allerdings eine Fülle von Implikationen, die Ishmaels cetologische Überlegungen insgesamt – und mehr noch: die wissenschaftliche Erfassbarkeit der Welt im Allgemeinen – betreffen.70 Zu Beginn des Kapitels kommt es zunächst aber zu einer Katalogisierung alles Anmutigen und Ehrenvollen, das für gewöhnlich mit der weißen Farbe assoziiert wird, wobei u.a. auf die christlichen und herrschaftlichen Verbindungen zum Weiß als Farbe der Reinheit, auf die Milde des Alters oder die Unschuld der Braut verwiesen wird (204-205). Trotz dieser positiven Assoziationen spürt Ishmael jedoch auch, dass von dem weißen Farbton (d.h. der Abwesenheit einer wirklichen Farbe) zugleich ein schwer fassbares, unheimliches Grauen ausgeht, das folgendermaßen charakterisiert wird: »[Y]et for all these accumulated associations, with whatever is sweet, and honorable, and sublime, there yet lurks an elusive something in the innermost idea of this hue, which strikes more of panic to the soul than that redness which affrights in blood« (205).71 Wie im weiteren Verlauf des Kapitels deutlich wird, ist es gerade jenes »elusive something« an der weißen Farbe, d.h. ihr ungreifbarer und unbestimmter Charakter, der Ishmael erschaudern lässt und seinen cetologischen Absichten zuwiderläuft. Moby Dicks weiße Farbe unterstreicht demnach lediglich die generelle Unmöglichkeit, mit den Mitteln des klassischen Wissenschaftsbegriffs zu einer adäquaten Repräsentation und Klassifizierung des Wales zu gelangen, den Recker daher zum »complementary object« erklärt.72 Auch auf Moby 70 Vgl. Recker 2008, 253: »What […] distinguishes this chapter from the others which form the novel’s cetological center is primarily its concern with a particular whale – Moby Dick – rather than Leviathan in general. Yet, Ishmael’s lament that all the chapters of MobyDick ›might be naught‹ […] should he fail to solve the puzzle of whiteness makes it clear that despite its more limited focus, ›The Whiteness of the Whale‹ has relevance for the entire cetological center and hence provides information also about ›Leviathan‹ rather than only about Moby Dick«. 71 Angesichts der Relevanz des Themas race in der neueren Amerikanistik verwundert es nicht, dass Ishmaels Grauen vor der Abgründigkeit der weißen Farbe seit den 1980er Jahren vielfach auch als Kommentar zur amerikanischen Rassenproblematik gelesen wurde. Verwiesen sei hier vor allem auf Toni Morrisons Aufsatz »Unspeakable Things Unspoken: The Afro-American Presence in American Literature« (Morrison 1989), in dem argumentiert wird, dass das Grauen, das von der weißen Farbe Moby Dicks ausgeht, unmittelbar mit der Idealisierung von whiteness im 19. Jahrhundert sowie der Ideologie der weißen Vorherrschaft verknüpft ist. Gegenüber der klassisch-amerikanistischen Moby-Dick-Interpretation legt diese Perspektive folglich eine wesentlich andere Qualifizierung Ahabs nahe, den Morrison nicht als »maniacal egocentric« versteht, sondern als »the only white male American heroic enough to try to slay the monster that was devouring the world as he knew it« (17). An dieser Formulierung offenbaren sich zugleich auch die Schwächen von Morrisons Interpretation, die nur unter der Voraussetzung Sinn ergibt, dass Moby-Dick als »Allegorie« und der weiße Wal als »Symbol« (hier: als Symbol für die Ideologie der weißen Vorherrschaft) gelesen wird. Auf die Probleme, die mit einer solchermaßen allegorischen Lektüre einhergehen, wird im Folgenden noch genauer eingegangen. 72 Vgl. hierzu Recker 2008, 16-17: »As a complementary object, the whale therefore withstands all classical efforts of observing it, and renders futile any attempt to ›capture‹ it in a
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Dick trifft somit zu, was Edgar Allan Poe (ein weiterer Protagonist der dunklen Romantik) am Anfang seiner Kurzgeschichte »The Man of the Crowd« von einem »certain German book« behauptet: »›es lässt sich nicht lesen‹ – it does not permit itself to be read« (Poe 1986, 179). Ishmaels epistemologische Zweifel, die sich zunächst an der Impression der weißen Farbe des Wals entzünden, verwandeln sich am Schluss des Kapitels in eine geradezu ontologische Krisenerfahrung, aus der resultiert, dass nun selbst die Grundfesten des Universums in Frage stehen. Parallel dazu betreffen Ishmaels Reflexionen auch nicht mehr nur das Weiß als Farbton, sondern darüber hinaus die Gesetze der Lichtbrechung, woraufhin sie in eine pessimistische Klage über die vermeintliche Leere des Universums münden: »Is it that by its indefiniteness it shadows forth the heartless voids and immensities of the universe, and thus stabs us from behind with the thought of annihilation, when beholding the white depths of the milky way? Or is it, that as in essence whiteness is not so much a color as the visible absence of color, and at the same time the concrete of all colors; is it for these reasons that there is such a dumb blankness, full of meaning, in a wide landscape of snows – a colorless, allcolor of atheism from which we shrink? And when we consider that other theory of the natural philosophers, that all other earthly hues – every stately or lovely emblazoning – the sweet tinges of sunset skies and woods; yea, and the gilded velvets of butterflies, and the butterfly cheeks of young girls; all these are but subtile deceits, not actually inherent in substances, but only laid on from without; so that all deified Nature absolutely paints like the harlot, whose allurements cover nothing but the charnel-house within; and when we proceed further, and consider that the mystical cosmetic which produces every one of her hues, the great principle of light, for ever remains white or colorless in itself, and if operating without medium upon matter, would touch all objects, even tulips and roses, with its own blank tinge – pondering all this, the palsied universe lies before us a leper; and like wilful travellers in Lapland, who refuse to wear colored and coloring glasses upon their eyes, so the wretched infidel gazes himself blind at the monumental white shroud that wraps all the prospect around him. And of all these things the Albino whale was the symbol. Wonder ye then at the fiery hunt?« (Melville 2003, 212)
An dieser bemerkenswerten Textpassage, die zweifellos als Ausdruck einer Krisenerfahrung zu begreifen ist, lässt sich zunächst die auffällige Konzeptionalisierung des Lichts hervorheben. Galt das Licht nämlich von der Antike bis zur Aufklärung in erster Linie als Bedingung für die adäquate Erkennbarkeit der Dinge und stand somit traditionell im Zusammenhang mit den epistemologischen Grundlagen der klassischen Konzeption von Wahrheit und menschlichem Geist, vollzieht Melville hier eine wesentliche Inversion dieses Prinzips. Denn das »weiße Licht«, das Moby Dick absondert, ist keines, das mit einer erhellenden Erkenntnis korrespondiert; vielmehr ist es ein Licht, das Erkenntnis geradezu unmöglich macht, indem es den Beobachter blendet wie die arglosen Wanderer in Lappland »who refuse to wear colored and coloring glasses upon their eyes« (212). Diese erkenntniskritische Perspektive entspricht freilich einer dominanten Tendenz im Kontext der dunklen Romantik und mag in erster Linie gegen den Wahrheitsoptimismus der Transzendentalisten gerichtet sein. Befaithful representation«. Zum ursprünglich aus der Quantenmechanik stammenden Begriff der »Komplementarität«, siehe Plotnitsky 1994.
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zieht man Ishmaels Ausführungen jedoch auf die Philosophie von Deleuze, dann werden außerdem die ontologischen Aspekte deutlich, auf die Melvilles Konzeption des Lichts – wenigstens implizit – ebenfalls verweist. Deleuze selbst diskutiert das Problem des Lichts vor allem im ersten Band seiner Kinostudie, wo er die Positionen von Bergson und Husserl gegenüberstellt, um so zu einem Bildbegriff zu gelangen, der ausdrücklich gegen die Phänomenologie gerichtet ist. In diesem Zusammenhang beruft sich Deleuze abermals auf Bergsons Studie Materie und Gedächtnis, der er bescheinigt, eine quasi »kinematographische« Konzeption des Universums zu beinhalten: »Tatsächlich befinden wir uns vor der Exposition einer Welt, in der BILD = BEWEGUNG ist« (BB 86).73 Wie Deleuze deutlich macht, resultiert aus Bergsons kosmologischer Perspektive eine Konzeption des Lichts, die »eine Abkehr von der gesamten philosophischen Tradition« bedeutet, insofern jene nämlich »das Licht mehr dem Geist zuordnete und aus dem Bewußtsein ein Strahlenbündel machte, das die Dinge aus ihrer ursprünglichen Dunkelheit holte« (90). Hieraus resultiert ferner, dass sich Bergsons Position auch wesentlich von Husserl und der Phänomenologie unterscheidet: »Die Phänomenologie stand noch völlig in der antiken Tradition; anstatt aus dem Licht ein inneres Licht zu machen, blendete sie es nach außen auf, ein wenig, wie wenn Bewußtseinsintentionalität der Strahl einer elektrischen Lampe wäre (›alles Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas…‹). Bergson ist ganz gegenteiliger Ansicht. Es sind die Dinge, die aus sich selbst leuchten, ohne daß irgendetwas sie beleuchten würde: alles Bewußtsein ist etwas, es fällt mit der Sache zusammen, das heißt mit dem Bild des Lichts. Dennoch handelt es sich um ein richtiges Bewußtsein, das sich überall verteilt und nicht enthüllt; es handelt sich wirklich um ein bereits aufgenommenes und entwickeltes Foto in allen Dingen und für alle Punkte, wenngleich um ein ›transluzides‹. […] Kurz, nicht das Bewußtsein ist Licht, sondern die Menge der Bilder – oder das Licht, das der Materie immanent ist – ist Bewußtsein. Was unser faktisches Bewußtsein angeht, so ist es nur die Lichtundurchlässigkeit, ohne die sich ›das immer weiter ausbreitende Licht niemals offenbart hätte‹. In dieser Hinsicht besteht ein radikaler Gegensatz zwischen Bergson und der Phänomenologie.« (BB 90)
Verbindet man diese Überlegungen nun mit Melvilles Moby-Dick, dann lassen sich Ishmaels Reflexionen über das Licht und die weiße Farbe des Wals in etwa folgendermaßen charakterisieren: Insofern Ishmael im Zusammenhang mit seinen cetologischen Absichten zunächst einer Vorstellung des Lichts verpflichtet war, die der »klassischen« – von der Antike bis zur Phänomenologie führenden – Traditionslinie entspricht, ging es ihm ursprünglich darum, den Wal zum Wissensobjekt seiner Be73 Vgl. auch BB 88: »Das materielle Universum, die Ebene der Immanenz, ist die automatische Anordnung der Bewegungsbilder. Daraus ergibt sich ein ungewöhnlicher Vorsprung Bergsons: Er sieht das Universum als Film an sich, als Meta-Film, und das bedeutet für den Film eine ganz andere Betrachtungsweise als jene, die er in seiner expliziten Kritik entwickelte«. In Bergsons Materie und Gedächtnis heißt es in diesem Zusammenhang: »Für uns ist die Materie eine Gesamtheit von ›Bildern‹. Und unter ›Bild‹ verstehen wir eine Art der Existenz, die mehr ist, als was der Idealist ›Vorstellung‹ nennt, aber weniger, als was der Realist ›Ding‹ nennt – eine Existenz, die halbwegs zwischen dem ›Ding‹ und der ›Vorstellung‹ liegt« (Bergson 1964, 45).
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wusstseinsintentionalität zu machen und seinem Erkenntnissinteresse entsprechend »zu beleuchten«. Im Zuge der Erfahrung des andauernden Scheiterns dieses Anspruches, ist Ishmael allerdings zu der Einsicht gelangt, dass die Dinge vielmehr aus sich selbst heraus leuchten, »ohne daß irgendetwas sie beleuchten« müsste (BB 90). Diese Erkenntniskrise manifestiert sich insbesondere am Beispiel von Moby Dick, der sich der erzwungenen Objektivierung auf vielfältige Weise entzieht, so dass Ishmael dessen weiße Farbe wie ein blendendes »Gegenlicht« wahrnimmt, das ihn an der »Lesbarkeit der Welt« (vgl. Blumenberg 1989) insgesamt zweifeln lässt. Nichtsdestotrotz wäre es jedoch falsch, würde man Ishmaels epistemologische Zweifel allein den – von ihm selbst erkannten – Grenzen des menschlichen Bewusstseins zuschreiben und das Weiß somit rein negativ bestimmen, d.h. als Symbol für die Abwesenheit der Wahrheit oder die »Ungreifbarkeit« des Universums. Sicherlich: Ishmael realisiert, dass es keine Entsprechung zwischen der vermeintlichen Substanz der Dinge und ihren beobachtbaren Ausdrucksqualitäten gibt, weshalb er die Welt als Verkettung andauernder Täuschungen versteht (»subtile deceits, not actually inherent in substances, but only laid on from without«).74 Auf den ersten Blick scheint Melville demnach zu suggerieren, der an Moby Dick sinnfällig werdenden Krise der Repräsentation liege eine Dialektik von Sein und Schein zugrunde. Doch die Welt, mit der Ishmael in »The Whiteness of the Whale« konfrontiert wird, ist nicht deshalb ungreifbar, weil sie sich als rein imaginär oder als Fiktion entpuppt; ungreifbar ist sie vielmehr im Sinne einer wirklichen Realität, die allerdings wesentlich virtuell und im Ungefähren verbleibt: »real ohne aktuell zu sein, ideal ohne abstrakt zu sein« (DW 264). Wie nun lässt sich diese Realität aber überhaupt wahrnehmen? Im Falle von Ishmael ist es so, dass sie in erster Linie gedacht wird – dies jedoch ausgehend von einer sinnlichen Erfahrung, die ihn an der klassischen Vorstellung der Realität als einer Ansammlung von objektivierbaren Festkörpern und Substanzen zweifeln lässt. Denn wie aus Ishmaels assoziativen Reflexionen hervorgeht, lässt die weiße Farbe Moby Dicks in ihm die Vorstellung von einer Welt entstehen, die von quasi autonomen Intensitäten und Qualitäten bevölkert wird, welche zu keinem Objekt mehr gehören und demnach auch keine bleibende Form aufweisen. Das Weiß des Wals entspricht somit dem Grinsen der Katze in Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland, da es sich in beiden Fällen um Ausdrucksqualitäten handelt, die unabhängig von ihrem jeweiligen »Träger« geworden sind – ganz so, »als ob die expressiven Züge der Form entgehen würden« (KK 106). In Deleuzes Logik des Sinns heißt es: »[Die Katze] verschwindet, indem sie nur ihr Grinsen zurückläßt […]. In ihrem Wesen ist die Katze das, was sich zurückzieht, sich abwendet« (LS 290).75 Dasselbe lässt 74 In dieser Hinsicht kommen Ishmaels Überlegungen denen von Ahab im »Quater-Deck«Kapitel nahe. Denn Ahabs Äußerung, alle sichtbaren Dinge wären nichts weiter als »pasteboard masks« (Melville 2003, 178), verweist ebenfalls auf den Riss, der zwischen Substanz und Ausdrucksqualität verläuft. Doch anders als bei dem zweifelnden Ishmael ist Ahabs Wille, die »Essenz« hinter jenen Masken gewaltsam freizulegen, ungebrochen – und das obwohl er sogleich zu verstehen gibt: »Sometimes I think there’s naught beyond« (178). 75 Vgl. hierzu auch die entsprechende Textpassage in Alice’s Adventures in Wonderland: »›All right‹, said the Cat; and this time it vanished quite slowly, beginning with the end of the tail, and ending with the grin, which remained some time after the rest of it had gone.
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sich über den weißen Wal in Melvilles Moby-Dick sagen: Der Wal ist derjenige, der sich weder klassifizieren noch fixieren lässt, der in die tiefsten Meerestiefen abtaucht und nur mehr ein blendendes Weiß zurücklässt, das einem »nicht-organischen Leben der Dinge« zum Ausdruck verhilft: »einem entsetzlichen Leben, das von der Selbstbeschränkung und den Grenzen des Organismus nichts weiß« (BB 77).76 Wenn es gerade dieses nicht-organische Leben ist, das Ishmael derart in Grauen versetzt, dann deshalb, weil dessen Streben nach Klassifizierung und Objektivierung auf dieser Ebene nur ins Leere laufen kann. So wird Ishmael durch die Entdeckung des farblosen Lichts als Immanenzebene der sichtbaren Wirklichkeit mit einer Welt konfrontiert, in der es weder Subjekte noch Objekte, weder Substanzen noch Wesenheiten gibt: »Es ist eine Welt universeller Veränderlichkeit, universeller Wellenbewegung, des universellen Plätscherns: in ihr gibt es weder Achsen noch Zentrum, weder rechts noch links, weder oben noch unten…« (87). Freilich ist dies nicht unsere Welt (nicht die Welt jedenfalls, die uns im Regelfall in unserem Alltagsleben begegnet). Es ist aber die Welt, wie sie sich aus der kosmologischen Perspektive Bergsons in einem noch unsynthetisierten, quasi »gasförmigen Zustand« (87) manifestiert, der Ishmaels Beschreibung des Universums am Schluss von »The Whiteness of the Whale« in mehrfacher Hinsicht ähnelt. Und jene weithin ungeformte, nicht-zentrierte Welt, die sich dem Beobachter allenfalls als blendendes Licht offenbart, lässt sich auch nicht auf angemessene Weise repräsentieren oder »fixieren«, da sie weder deutlich sichtbar noch jemals überhaupt »in Ruhe« ist. Wie also deutlich wird, handelt es sich bei der von Ishmael erfahrenen Krise der Repräsentation auch und gerade um eine Krise der Objektivität, was mehr noch als in »The Whiteness of the Whale« in »Of the Monstrous Pictures of Whales« (Melville 2003, 285-289) zum Ausdruck kommt. Allerdings bezieht sich dieses Kapitel nicht ausschließlich auf Moby Dick, sondern auf den Wal im Allgemeinen, was die Vermutung nahelegt, dass der weiße Wal lediglich bestimmte Tendenzen auf besondere Weise verkörpert, die auf den Pottwal generell zutreffen. Wie der Titel des Kapitels nahelegt, handelt der Abschnitt von den bildlichen Darstellungen des Wals, über deren teilweise »monströsen« Charakter sich Ishmael auf hämische Weise lustig macht. Denn unabhängig davon, ob es sich um Bilder der altertümlichen Griechen, Hindus und Ägypter handelt oder um Darstellungen von christlichen und neuzeitlichen Malern: überall sieht Ishmael in erster Linie »Zerrbilder«, denen es allesamt nicht ge›Well! I’ve often seen a cat without a grin‹, thought Alice; ›but a grin without a cat! It’s the most curious thing I ever saw in all my life!‹« (Carroll 1994, 78). 76 Ishmaels Entsetzen über jenes nicht-organische Leben, von dem am Schluss von »The Whiteness of the Whale« die Rede ist, lässt sich in mancher Hinsicht auf das DynamischErhabene bei Kant beziehen (Kant 1996b, 185-207). Vgl. hierzu BB 80: »Im DynamischErhabenen erhebt sich die Intensität zu einer solchen Macht, daß sie unser organisches Wesen blendet oder vernichtet, in Entsetzen versetzt, jedoch eine Denkfähigkeit hervorruft, durch die wir uns dem, was uns vernichtet, überlegen fühlen […]: folglich fürchten wir uns nicht mehr, da wir wissen, daß unsere geistige ›Bestimmung‹ im eigentlichen Sinne unbezwinglich ist«. In »The Whiteness of the Whale« fehlt dieser harmonische Ausklang freilich, so dass sich hier anstatt vom »Dynamisch-Erhabenen« – paradoxerweise – besser vom »dunklen Erhabenen« (Dark Sublime) sprechen lässt, das laut Klaus Poenicke für die amerikanische Romantik insgesamt charakteristisch ist (vgl. Poenicke 1972).
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lingt, ein wahrheitsgetreues Portrait des Wals entstehen zu lassen. So erblickt er in einer der Darstellungen anstelle eines Wals einen »Kürbis«, ein anderes Mal meint er, eine »beinamputierte Sau« zu erkennen.77 Auch wenn Ishmael besonders im folgenden Kapitel (Melville 2003, 290-293: »Of the Less Erroneous Pictures of Whales, and the True Pictures of Whaling Scenes«) auch auf einige gelungenere Versuche der Verbildlichung des Wals hinweist, kommt nichtsdestotrotz zum Ausdruck, dass sich der Wal grundsätzlich nicht adäquat repräsentieren lässt: »[A]ny way you may look at it, you must needs conclude that the great Leviathan is that one creature in the world which must remain unpainted to the last« (289). Interessant ist Ishmaels Begründung dafür: »But these manifold mistakes in depicting the whale are not so very surprising after all. Consider! Most of the scientific drawings have been taken from the stranded fish; and these are about as correct as a drawing of a wrecked ship, with broken back, would correctly represent the noble animal itself in all its undashed pride of hull and spars. Though elephants have stood for their full-lengths, the living Leviathan has never yet fairly floated himself for his portrait. The living whale, in his full majesty and significance, is only to be seen at sea in unfathomable waters; and afloat the vast bulk of him is out of sight, like a launched line-of-battle ship; and out of that element it is a thing eternally impossible for mortal man to hoist him bodily into the air, so as to preserve all his mighty swells and undulations. And, not to speak of the highly presumable difference of contour between a young sucking whale and a full-grown Platonian Leviathan; yet, even in the case of one of those young sucking whales hoisted to a ship’s deck, such is then the outlandish, eel-like, limbered, varying shape of him, that his precise expression the devil himself could not catch.« (288-289)
Wie Ishmael also deutlich macht, misslingt die adäquate Repräsentation des Wals vor allem deshalb, weil das »Wesen« des Wals allein im Kontext seines eigenen Lebensraums zum Ausdruck kommt, d.h. in jenen »unfathomable waters«, in denen er weitgehend im Verborgenen agiert und sich somit auch der visuellen Darstellung zu entziehen vermag. Bei sämtlichen bildlichen Repräsentationen des Wals handelt es sich folglich um unzulässige Abstraktionen, denen die »full majesty and significance« des Wals entgeht, da sie den lebendigen Wal (»the living Leviathan«) nicht nur nicht in seinem Lebensraum erfassen, sondern notwendigerweise auch in ein totes Objekt (»the stranded fish«) verwandeln müssen, um überhaupt ein »objektives« Portrait erstellen zu können. Nun handelt es sich bei dem Wal aber eben nicht um ein fix-und-fertiges Objekt, das den Ansprüchen der Repräsentation nach Sichtbarkeit, Unbeweglichkeit und einer fest umrissenen Form entgegenkommt, sondern vielmehr um eine Verkettung von Handlungsvariationen und unbeständigen Formelementen (»varying shape«), die als prinzipiell unrepräsentierbare Mannigfaltigkeit lebendiger Singularitäten zu begreifen ist. Die in Melvilles Roman zum Ausdruck kommende Repräsentationskritik weist somit durchaus Parallelen zur Ontologie von Deleuze auf, da die Kritik der Repräsentation in beiden Fällen auf einer zeit- und bewegungstheoretischen Grundlage steht. D.h. für beide Autoren gilt: Aufgrund des prozessua77 Vgl. Melville 2003, 287-288: »I do not wish to seem inelegant, but this unsightly whale looks much like an amputated sow […]. In a word, Frederick Cuvier’s Sperm Whale is not a Sperm Whale, but a squash«.
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len Charakters der Wirklichkeit kann es de facto keine adäquate Repräsentation geben, da dieser von Rechts wegen das notwendige »Objekt« fehlt.78 Auch wenn Ishmaels Zweifel an der Adäquanz objektivierender Darstellungsweisen ausdrücklich auf den Wal gemünzt sind, lässt sich daher argumentieren, dass in »Of the Monstrous Pictures of Whales« letztlich eine grundsätzliche Kritik der Repräsentation zum Ausdruck kommt, die lediglich am Beispiel des Wals veranschaulicht wird. Denn Ishmaels Beobachtung, dass in den Abbildungen des Wals nie vom lebendigen, sondern immer nur vom gestrandeten Wal ausgegangen wird, gilt in gewisser Weise für die Repräsentation als solche. Da das Werden der Repräsentation nämlich ebenso entgleitet wie die nasse, aalglatte Haut des Pottwals in Moby-Dick, behandelt sie die Dinge generell so, als handelte es sich jeweils um »gestrandete Wale« oder »Schiffswracks« – anstatt um bewegliche Körper und »Prozessobjekte« (vgl. Falb 2015), die sich nicht nur im Raum, sondern gleichermaßen in der Zeit befinden. Mit Verweis auf die am Beispiel des Wals sinnfällig werdende Repräsentationskritik lässt sich nun aufzeigen, dass es in Moby-Dick generell nicht zu einer Anthropomorphisierung des Wals kommt, der folglich auch nicht als simple Projektion fungiert. So zeichnet sich der Wal in Melvilles Roman grundsätzlich durch eine nichtmenschliche Eigentümlichkeit aus, die sich anthropomorphen Zuschreibungsmustern ebenso entzieht wie den cetologischen Kategorien Ishmaels. Im Falle von Moby Dick mag dies zunächst noch anders erscheinen, da dieser aufgrund seiner weißen Farbe, seines Namens und seiner mutmaßlich »menschlichen« Eigenschaften (Boshaftigkeit, Arglist usw.) deutlich als Individuum markiert ist. Im Laufe des Romans entpuppen sich aber auch die Attribute, die Moby Dick zugeschrieben werden, als untaugliche Hilfskonstruktionen, die nur versuchsweise dazu dienen sollen, der Fremdheit des Wals – seiner »outlandish[ness]« (Melville 2003, 289) – Herr zu werden. Allerdings: Auch wenn es somit offenkundig scheint, dass es in Moby-Dick gerade nicht zu einer »Anthropologisierung des Tieres« (Bühler/Rieger 2006, 13) kommt, ließe sich immer noch argumentieren, dass Melville einen lediglich symbolisch-metaphorischen Gebrauch des Wals macht.79 Dieses Argument mag zwar auf den ersten Blick schwieriger zu entkräften sein als der Vorwurf der Anthropologisierung; letzten Endes hält es einer kritischen Lektüre aber ebenfalls nicht stand. Die Auseinandersetzung mit der Frage, ob und inwiefern sich Moby-Dick als Allegorie und der gleichnamige Wal als Symbol begreifen lässt, ist freilich von maßgeblicher Bedeutung für die Plausibilität der Perspektive, aus der heraus der Roman 78 Freilich existieren hier auch Unterschiede: Anders nämlich als in der Philosophie von Deleuze begreift Ishmael die Idee einer »naturgetreuen Abbildung« noch als Ideal – auch wenn er zugleich deren Unmöglichkeit betont. 79 Zur »Anthropologisierung des Tieres« heißt es bei Bühler und Rieger genauer: »Die Angleichung an den Menschen und an entsprechende Berichterstattungen erfolgt über die Beobachtung oder über die Dressur menschlicher Vermögen. Tiere, die speichern und merken, die rechnen und spielen können, die moralanalog handeln und auch sonst auf die Gepflogenheiten menschlicher Umgangsformen verpflichtet werden, sind Figuren einer solchen Angleichung […]: ob Ernst Haeckel in seinen Büchern vom Liebesleben der Hirsche berichtet oder ob Bernhard Grzimek dem Fernsehpublikum die Sonntagnachmittagsspaziergänge afrikanischer Löwen vor Augen stellt – das entsprechende Narrativ bleibt ungebrochen« (Bühler/Rieger 2006, 13).
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im vorliegenden Abschnitt untersucht worden ist. In gewisser Weise kann jene Perspektive nämlich nur dann überzeugen, wenn es in Melvilles Roman tatsächlich um Wale und Waljäger, d.h. um das »metamorphische« Verhältnis von Mensch und Tier und nicht bloß um eine »metaphorische« Annäherung geht. In dieser quasi »buchstäblichen« Ausrichtung unterscheidet sich die hier angestellte Lesart wesentlich von allegorischen oder symbolischen Interpretationen, laut denen es in Melvilles Roman allenfalls am Rande um den Walfang oder das Mensch/Tier-Verhältnis geht. Insofern im Rahmen dieser Ansätze davon ausgegangen wird, dass der weiße Wal in MobyDick als reines Symbol fungiert, kann er freilich den jeweiligen Interpretationsmustern entsprechend die unterschiedlichsten Sachverhalte repräsentieren. Die Tatsache, dass der Kontext des Romans das Meer darstellt – dass hier also von Walen und Waljägern die Rede ist –, kann dann auch problemlos als sekundär, trivial oder weitestgehend irrelevant gedeutet werden. Die Auffassung, dass man den weißen Wal dezidiert als Symbol lesen müsse, hat sich spätestens seit dem einflussreichen Moby-Dick-Essay von D.H. Lawrence durchgesetzt. »Of course«, schreibt Lawrence, »he is a symbol«. Die Frage jedoch, was genau der weiße Wal symbolisieren soll, wird hier bewusstermaßen offengelassen: »Of what? I doubt if even Melville knew exactly« (Lawrence 1923, 214). Zwar ist Lawrence darin zuzustimmen, dass die offenbare Doppelbödigkeit von Melvilles Text es nahelegt, Moby-Dick nicht einfach als spannende Sea Narrative über die abenteuerliche Jagd nach einem weißen Wal zu lesen. Nichtsdestotrotz ist es aber erstaunlich, dass das Thema des Verhältnisses von Mensch und Tier, das in dem Roman einen derart hervorstechenden Platz einnimmt, in der Literatur zu Moby-Dick bislang weitgehend vernachlässigt wurde.80 Denn selbst wenn Moby-Dick als Allegorie der Grenzen menschlicher Erkenntnis, der Gefahren solipsistischen Größenwahns oder des Triumphs demokratischer Offenheit über totalitäres Machtstreben zu verstehen wäre, stellt sich mithin die Frage, weshalb Melville seine Erzählung ausgerechnet in der Welt des Walfangs situiert. Diesen Kontext auszuklammern hieße, sich dem Roman nicht ausgehend von der Immanenz seines eigenen Materials zu nähern, sondern auf der Grundlage eines – syntagmatischen oder paradigmatischen – Substitutionsverfahrens. Dies soll freilich nicht heißen, dass Melvilles Roman im Kontext des Walfangs »eingeschlossen« werden sollte. Im Gegenteil, denn in der Tat sondert der Text fortwährend Fluchtlinien ab, welche zu immer neuen Implikationen und Öffnungen, Passagen und Übergängen führen, die jeden Kontext aufbrechen und entgrenzen. Diese Fluchtlinien bilden jedoch keine vertikale Hierarchie, im Rahmen derer es zu einer Suspendierung des »Konkreten« zugunsten des »Abstrakten« oder einer Ablösung der »wörtlichen« durch eine »übertragene« Bedeutung käme; vielmehr lassen sie ein horizontales Verbindungsnetz entstehen, in dem sich »die Runzeln, die sich von der Stirn Ahabs zur Stirn des Wals winden« mit den »abstrakten Linien einer unbekannten Schrift« vermischen und gemeinsam mit den verknoteten Riemen und 80 Vgl. Buell 2001, 207: »Professional Melvillians are taught to suppose that […] [MobyDick’s] engagement is with whales as symbols rather than with whaleness as such«. Auffälligerweise gilt dies bisweilen sogar noch für den Kontext des »Ecocriticism«, dem auch der Text von Buell entstammt. Siehe hierzu etwa Hubert Zapfs einflussreiche Studie über Literatur als kulturelle Ökologie, in der der weiße Wal als »Signifikant des Unverfügbaren« analysiert wird (Zapf 2002, 96-100).
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Fangleinen zu einem »wirren Knäuel« werden (KK 106). Deleuze spricht in diesem Zusammenhang von einem Patchwork, »das unendlich wuchert«: »Das amerikanische Patchwork wird zum Gesetz des Melvilleschen Werks, das jeden Zentrums, jeder Rückseite und Vorderseite beraubt ist« (106). Dies heißt letztlich auch, dass in Moby-Dick keine »höhere« Ebene, keine übergeordnete Essenz oder Bedeutung existiert, die nicht zugleich ein immanenter Teil dieses Patchworks wäre. Auch bei dem weißen Wal handelt es sich folglich nicht um einen metaphorischen dummy, der lediglich als Vehikel für eine allgemeine Erkenntnis fungiert. Stattdessen sollte in der vorangehenden Analyse deutlich geworden sein, dass der durch »dunkle Gewässer« tauchende Pottwal notwendigerweise als Agent all dessen fungiert, was Melville nicht auf andere Weise hätte sagen können. So bleibt der Wal der Erkenntnis- und Repräsentationskritik Melvilles keinesfalls äußerlich, sondern ist direktermaßen mit dieser verkoppelt, indem er die lebendige Verkörperung des Zusammenbruchs der kartesianischen Entgegensetzung von Mensch und Tier, Subjekt und Objekt darstellt. Die Thematisierung des Verhältnisses von Waljäger und Wal dient in Melvilles Roman somit nicht als Metapher oder Allegorie, sondern verweist – buchstäblich – auf dessen Leitmotiv.81 Nichtsdestotrotz weist Moby-Dick auch eine Reihe von Aspekten auf, die eine allegorische Lektüre zunächst durchaus nahelegen. So wird der Wal in Melvilles Roman etwa fortlaufend als »Leviathan« tituliert, d.h. mit einem symbolisch außerordentlich aufgeladenen Begriff, der weniger auf das konkrete Lebewesen als auf das »charismatische Tier« (vgl. Vogl 2007) einer heroisch-politischen Emblematik verweist.82 Allerdings lässt sich zugleich beobachten, dass die symbolische Konnotation jener Titulierung im Verlaufe des Romans immer wieder an der Konkretheit der Darstellung des Wals als Lebewesen – des »living Leviathan«, wie es paradoxerweise heißt (Melville 2003, 288) – abzuprallen scheint. Dabei folgt Melville grundsätzlich der klassischen Bedeutung, laut der der Leviathan als das »mächtigste Tier« gilt. Doch scheint er den Beweis für die Macht und Stärke des Wals nicht einfach mit Verweis auf jene tradierte Bedeutung erbringen zu wollen, sondern mit Blick auf den tatsächlichen Körper des Wals und dessen »mighty swells and undulations« (288). Hieraus resultiert eine merkwürdige Spannung, so als wenn der Wal als Lebewesen seine symbolische Bedeutung abschütteln wollte, diese aber nie vollständig loswer81 Am Beispiel der Erzählung »Bartleby, the Scrivener« argumentiert auch Deleuze dagegen, Melville allegorisch zu lesen: »Bartleby ist keine Metapher des Schriftstellers, so wenig wie das Symbol von irgendetwas. Es ist ein ungemein komischer Text, und das Komische ist immer buchstäblich. Wie eine Erzählung von Kleist, von Dostojewski, von Kafka oder Beckett, zu denen er eine heimliche und bestechende Verwandtschaft besitzt. Er will nur sagen, was er buchstäblich sagt. Und was der Text sagt und wiederholt, lautet: ICH MÖCHTE LIEBER NICHT, I would prefer not to« (KK 94). 82 Nicht von ungefähr hat Hobbes die Metapher des Leviathan zum Titel seines staatstheoretischen Hauptwerks auserkoren und dadurch eine Verbindung zwischen dem »Königstier des Meeres« und der Autorität des Staates hergestellt. Für Carl Schmitt beschwört Hobbes hierdurch »ein mythisches Symbol von hintergründiger Sinnfülle […]. In der langen, an bunten Bildern und Symbolen, an Ikonen und Idolen, an Paradigmen und Phantasmen, Emblemen und Allegorien überaus reichen Geschichte der politischen Theorien ist dieser Leviathan das stärkste und mächtigste Bild« (Schmitt 1982, 9).
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den kann, da seine körperliche Machtfülle zugleich auch einen wesentlichen Teil jener Bedeutung ausmacht. Die mitunter sezierend genaue Anschaulichkeit der Darstellung des Walkörpers und seiner Innereien dient folglich im Sinne einer Konkretisierung der Metapher, wobei freilich stets von einem getöteten Wal ausgegangen wird, was dem Ziel der adäquaten Repräsentation des Wals als Lebewesen wiederum entgegenwirkt.83 In Ishmaels cetologischen Ausführungen offenbart sich der Wal somit niemals in seiner unmittelbaren Präsenz und Vitalität, sondern jeweils nur als »Spur« eines vergangenen Lebens, das sich von der Repräsentation allenfalls nachträglich einholen lässt. Diese tendenzielle Undarstellbarkeit des Wals ist jedoch keineswegs als Zeichen der Vorgeordnetheit seiner symbolischen Implikationen zu begreifen. Denn wenn sich der Wal als »lebendiges Wesen« seiner Repräsentation entzieht, geschieht dies in Moby-Dick nicht gemäß einer allegorischen oder metaphorischen Konzeption der Literatur, sondern auf der Grundlage einer temporalen oder gleichsam »vitalistischen« Ontologie. Mit anderen Worten: Die symbolische Bedeutung des Wals (als Leviathan) mag in Melvilles Roman durchaus zur Intensivierung oder »Verdopplung« der Lektüre beitragen, ist aber nicht – wie es etwa bei Fabeltieren der Fall ist – im Sinne einer sprachlichen Ersatzoperation zu verstehen. Melvilles Wal fungiert somit nicht als Platzhalter »für etwas anderes« und stellt sich weder als Metapher noch als Anthropomorphismus dar. Ebenso wenig vollzieht Melville jedoch eine rein naturalistische Beschreibung des Wales oder macht dessen Animalität zum Objekt einer klassifizierenden Repräsentation. Stattdessen wird der Wal als nicht-menschlicher, lebendiger Akteur charakterisiert, der auf derselben ontologischen Ebene wie der Mensch agiert, diesem aber nichtsdestotrotz fremd bleibt und sich allen Objektivierungs- und Humanisierungsversuchen gleichermaßen entzieht. Dies kommt am deutlichsten am Beispiel von Moby Dick zum Ausdruck, der den Zusammenbruch des Subjekt/Objekt-Dualismus am anschaulichsten verkörpert. Mit Latour lässt sich Melvilles weißer Wal folglich als Akteur im Kontext eines netzwerkartigen Kollektivs von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen beschreiben, während er sich mit Deleuze in jener »Nachbarschaftszone« verorten lässt, 83 Ishmaels anatomische Bemerkungen über den Walkörper haben ihren Ausgangspunkt in den Kapiteln 61 und 73 (Melville 2003, 307-312 und 353-358), in denen es der Schiffsbesatzung jeweils gelingt, einen Wal zu töten und an Bord der Pequod zu ziehen. Ein Grund für die mangelnde Adäquanz des cetologischen Wissens, die etwa in den Kapiteln »The Sphynx«, »The Prairie« und »The Nut« (338-340, 378-380 und 381-383) demonstriert wird, stellt mithin die Tatsache dar, dass als Modell jenes Wissens nicht der lebendige Wal, sondern der leblose Körper eines getöteten Wals fungiert. Ein zentraler Aspekt von Melvilles Erkenntniskritik beruht demnach auf der Prämisse, dass jedem objektiven Wissen eine – oftmals gewaltsame – Operation der Objektivierung vorausgeht, die sich als determinierender Faktor auf das Resultat der jeweiligen Erkenntnisermittlung auswirkt. Vgl. hierzu auch Samuel Otters Studie Melville’s Anatomies, in der argumentiert wird, dass die cetologischen Kapitel die Gewalt der wissenschaftlichen Anatomisierung und »Verdinglichung« sowie die Obsessionen des Beobachters veranschaulichten: »Melville represents the process of cutting into the skin and head of the whale as extraordinarily violent and liquid, violating the integrity of the object and threatening to inundate the observer. He associates knowledge with appropriation, representing the ways in which anatomy enables commodity and the parts of the body become vendible« (Otter 1999, 132).
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in der es »überhaupt keine Tiere und Menschen mehr [gibt], da sie sich gegenseitig deterritorialisieren in einem Intensitätskontinuum« (K 32). Aus beiden Perspektiven wird Moby-Dick als ein Werk der »politischen Zoologie« kenntlich, die Anne von der Heiden und Joseph Vogl mit folgendem Anspruch verknüpfen: »Hinter dem Bildüberschuss des Gattungswesens tritt eine Möglichkeit hervor, in der über ein Leben der Vielen und über die Vielheit der Lebens-Formen noch nichts entschieden ist« (von der Heiden/Vogl [Hg.] 2007, 12).84
1.5 M ETAMORPHOSE VS . M ETAPHER : E INE W ELT DER Ü BERGÄNGE Die Kritik des Metaphorischen, die in Deleuzes Philosophie auf bisweilen recht pauschale und kategorische Weise zum Ausdruck kommt (vgl. K 31-32, D 25-26 und U 46-47), mag gerade im Kontext der Literatur- und Kulturwissenschaften zunächst irritieren; wie aber Jean-Jacques Lecercle erläutert hat, ist sie aufgrund der repräsentationskritischen Prämissen von Deleuzes Philosophie durchaus nachvollziehbar.85 Dies macht Lecercle deutlich, indem er zunächst auf die Analogien zwischen »Repräsentation« und »Metapher« verweist, die er an fünf gemeinsamen Eigenschaften (»Differenz«, »Trennung«, »Ersatz«, »Hierarchie« und »Abstraktion«) festmacht. So heißt es mit Blick auf die Eigenschaften der Metapher: »First, metaphor is based on difference: there must be sufficient distance between tenor and vehicle for the metaphor to work: you do not choose your metaphors if the objects of the implicit simile are too closely related. Second, this difference involves separation: if the literal relation is by definition true (a rose is a rose is a rose), the metaphorical relation is blatantly false (Sally is not an English rose). The metaphorical sign is a false sign, separated from the literal sign that picks out the referent. Thirdly, metaphor involves replacement. The evoked tenor of the metaphor (the literal lion that Richard is not) is doubly absent: replaced by the true sign, displaced in the metaphorical sign. […] Fourthly, metaphor involves hierarchy. That relation has always been central to the theory of metaphor. The usual posture is that literal meaning, in so far as it
84 Dies meint freilich nicht, dass die Differenzierung von Mensch und Tier in Gänze aufzugeben ist. So hat auch Deleuze bezüglich der Tausend Plateaus präzisiert, dass es zwei Arten gibt, »den Schnitt zwischen Natur und Kultur« in Frage zu stellen: »Die eine besteht darin, tierisches Verhalten und menschliches Verhalten einander anzunähern (das hat Konrad Lorenz getan, mit beunruhigenden politischen Konsequenzen). Wir dagegen sagen, daß der Begriff des Gefüges den des Verhaltens ersetzen kann und daß in bezug auf diesen Begriff die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur nicht mehr relevant ist« (SG 171). 85 Zugleich weist Lecercle jedoch darauf hin, dass Deleuzes Metaphernkritik im Widerspruch zu seiner eigenen metaphorischen Schreibweise steht: »It is all very well to claim that metaphor is one of the reasons why one must despair of literature or to coin the slogan ›not metaphor but metamorphosis‹, but there is a problem if one, in the same breath, describes a face as a combination of a black hole and a blank wall. The black hole is a metaphor borrowed from one of the hard sciences and the whole construction of the concept of ›face‹ (and the co-occurent concept of ›faciality‹, ›visagéité‹) is itself metaphorical« (Lecercle 2010, 123).
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is ›true‹, is more valuable than metaphorical meaning, which it precedes. But this is not always the case: the tradition of hostility to metaphor (from Locke and Hobbes onwards) is now opposed by another tradition, of the centrality of metaphor, from Rousseau and Vico to de Man. Lastly, metaphor involves abstraction. Whether ontological, orientational or structural […], metaphor abstracts and generalises.« (Lecercle 2010, 125)
Wie Lecercle also verdeutlicht, basiert die Metapher auf einer grundsätzlichen Trennung, die sowohl die ontologischen Sphären von »Wort« und »Objekt« als auch die Unterscheidung von »buchstäblicher« und »metaphorischer Bedeutung« betrifft. Die Qualifizierung einer Sprachpraxis als »metaphorisch« ergibt folglich nur dann einen Sinn, wenn zugleich ein Kontrast zu einer nicht-metaphorischen Dimension der Sprache hergestellt wird, die implizit als stabil, buchstäblich (»literal«) und wahrheitsgetreu (»true«) begriffen wird. Deleuzes Konzept der Metamorphose hingegen – »Die Metamorphose […] ist das Gegenteil der Metapher« (K 32) – verwischt genau jene Trennung, auf der der Begriff der Metapher basiert: »Metamorphosis connects what metaphor, in spite of its revolutionary aura, carefully keeps apart, at a safe distance« (Lecercle 2010, 126).86 Deleuzes Präferenz für den Begriff der Metamorphose impliziert somit, dass die Sprache insgesamt deutlich weniger stabil ist (d.h. sich im »Ungleichgewicht« befindet), so dass auch die Vorstellung einer Hierarchie zwischen buchstäblicher und metaphorischer (der »eigentlichen« und der »übertragenen«) Bedeutung anfechtbar wird. Ferner problematisiert Deleuze die generelle ontologische Trennung von Wörtern und Gegenständen, wobei der Begriff der Metamorphose nahelegt, dass das Wort den Gegenstand nicht mehr nur repräsentiert, sondern quasi selbst zum Gegenstand wird und in den Lauf der Dinge eingreift, d.h. interveniert: »With metamorphosis, in spite of the obvious ontological difference between mice and horses, a pumpkin and a carriage, there is no parallelism in the links between words (taken literally or metaphorically) and their referents, because words and things are taken as being on the same ontological level […]: words no longer represent objects because they are themselves objects (they have material shape, they exert force, they mix with objects) […]. From this point of view, metaphor is seen as an attempt to deflate the violent potential of words, their ability to intervene, as objects, among objects.« (125-126)
Während sich die Welt der Metapher also durch eine vertikale Struktur auszeichnet, in der es zu einer prinzipiellen Trennung von buchstäblichem und übertragenem Sinn 86 Vgl. hierzu Deleuzes und Guattaris Ausführungen in der Kafka-Studie: »Bewußt zerstört Kafka alle Metaphern, alle Symbolismen, jede Bedeutung und jede Designation. Die Metamorphose – das heißt die Verwandlung – ist das Gegenteil der Metapher. Es gibt keinerlei Sinn mehr, weder primären noch übertragenen, es gibt nur noch Verteilung von Zuständen über das aufgefächerte Wort. Die ›Sachen‹ und die ›anderen Sachen‹ sind nur noch Intensitäten, durchzogen von deterritorialisierten Lauten oder Worten, die ihren Fluchtlinien folgen. Es geht nicht mehr um Ähnlichkeit zwischen menschlichem und tierischem Verhalten – und schon gar nicht um ein Wortspiel […]. Das Tier spricht nicht ›wie‹ ein Mensch, sondern schält bedeutungslose Tonalitäten aus der Sprache heraus […]. Die Sequenzen vibrieren, das Wort öffnet sich unerhörten inneren Intensitäten, kurzum, die Sprache wird asignifikant, also intensiv benutzt« (K 32).
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sowie Worten und Gegenständen kommt, stellt sich die Welt der Metamorphose als eine Welt der horizontalen Übergänge und der wechselseitigen Interferenzen dar, in der jene Trennungen von Rechts wegen in Frage stehen. »Deleuze’s ontology«, schreibt Lecercle, »is sometimes said to be ›flat‹ because all entities exist on the same plane of immanence« (Lecercle 2010, 126).87 Wenn Melvilles Moby-Dick nun abschließend als ein Roman bezeichnet werden soll, der eher mit dem horizontalen Modell der »Metamorphose« als mit dem vertikalen Modell der »Metapher« korrespondiert, dann meint dies nicht, dass Melville auf Metaphern grundsätzlich verzichten würde.88 Vielmehr besteht die »metamorphische« Dimension Moby-Dicks darin, dass es sich dezidiert um einen Roman der Übergänge, Verbindungen und Verwandlungen handelt, in dem eine Vielzahl von überlieferten Trennungen – die oftmals mit einer binären Hierarchie einhergehen – in Zweifel gezogen oder gar ausgehebelt werden. Dies stellt gewissermaßen den »roten Faden« dar, dem im vorliegenden Kapitel gefolgt wurde. Genauer gesagt: Das Prinzip des Übergangs, der Verknüpfung und Grenzverwischung betrifft nicht nur die literarische Form des Romans, der die üblicherweise gezogenen Grenzen zwischen Genres und Textsorten auf unkonventionelle Weise verschiebt; ebenso gilt es in zeitlicher Hinsicht, da in Moby-Dick keine lineare Trennung zwischen Gegenwart und Vergangenheit besteht, sondern eine unzeitgemäße Form der Koexistenz. Jenes Prinzip betrifft außerdem die kartesianische Entgegensetzung von Mensch (Subjekt) und Tier (Objekt), die durch Ahabs Wal-Werden und die Darstellung der Eigenschaften Moby Dicks in Frage gestellt wird. Und genauso gilt es für das Verhältnis von Souverän und multitudo, da die Herrschaft Ahabs nicht unabhängig von der »Macht der Menge«, d.h. dem Begehren der Crew begriffen werden kann, die ihrem monomanischen Kapitän nicht lediglich unterworfen ist, sondern dessen Souveränität zuallererst konstituiert. In den beiden letztgenannten Fällen hebt Melville somit diverse Übergänge und Mischungen hervor, die zwischen den vermeintlichen Trennungen existieren, wobei insbesondere der Affekt als dasjenige Element qualifiziert wird, dem die Herstellung einer »Konsistenz«, d.h. einer intensiven Kontinuität zwischen »ganz verschiedenen Dingen« gelingt (SG 171). Der Affekt ist demnach wesentlich daran beteiligt, dass man es in Moby-Dick mit einer komplexen Wirklichkeit zu tun hat, die gleichwohl nicht als arbiträres Sammelsurium von Heterogenitäten präsentiert wird, sondern – in den Worten von Deleuze – als ein »präzises Inkommensurabilitätsverhältnis« (ZB 327). Ein wesentliches Anliegen des nun abzuschließenden Kapitels bestand darin, Melvilles Moby-Dick im Kontext des kulturtheoretischen Diskurses der Gegenwart 87 Lecercle verweist hier auf Žižek, der diesbezüglich formuliert: »The wager of Deleuze’s concept of the ›plane of consistency‹, which points in the direction of absolute immanence, is that of his insistence on the univocity of being. In his ›flat ontology‹, all heterogeneous entities of an assemblage can be conceived at the same level, without any ontological exceptions or priorities« (Žižek 2004, 53). 88 Selbst die Pequod oder der weiße Wal ließen sich freilich als Metaphern verstehen, sofern der Leser die von Lecercle geschilderten Probleme in Kauf nimmt, die – gerade in diesem Fall – mit einer metaphorischen Lektüre einhergehen. Der auf den vorangehenden Seiten erfolgten Problematisierung ging es somit vor allem darum, jene Probleme (und dadurch den Preis einer metaphorischen Lektüre) offenzulegen und zu spezifizieren.
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zu reaktivieren und dabei aufzuzeigen, dass – und inwiefern – sich eine derartige ReLektüre des Romans als fruchtbar darstellt. Dies sollte und konnte freilich nicht bedeuten, den romantischen Kontext des Romans zu leugnen oder schlichtweg auszuklammern. Wenn Melvilles Roman allerdings trotz seiner romantischen Herkunft eine Reihe von Anknüpfungspunkten aufweist, die ihn mit der Gegenwart kommunizieren lassen, so mag dies nicht zuletzt an der komplexen Konzeption der Wirklichkeit liegen, die der Roman zum Ausdruck bringt. Moby-Dicks Welt der Übergänge und Metamorphosen, in der die überlieferten Trennungen und Lokalisierungen prinzipiell in Frage stehen, scheint somit auf die heutige (postnationale) Epoche der Globalisierung vorauszuweisen, die stärker noch als Melvilles eigene Zeit von der Deterritorialisierung vermeintlich stabiler räumlicher und sozialer Territorialitäten geprägt ist. Hierzu schreibt Robert Tally Jr.: »Standing between the dominant nationalism of his day and the emergent postnationalism, visible in its barest outlines in the whaling industry and the development of postnational forces in the cities and the edges of the world, Melville projects a no-place and every-place, a worldsystem larger and more complex than the Hobbesian leviathan of his day.« (Tally Jr. 2009, 136)
Nur mit Blick auf diese spezifische Art der »Nachbarschaft«, die keine Nivellierung von Differenzen oder Vermengung von Kontexten meint, Melvilles Welt aber nichtsdestotrotz mit der heutigen Gegenwart in Verbindung setzt, lässt sich außerdem formulieren: »Melville at least provides some clues – bread crumbs left on the path of his own transitional moment for us to follow now – as to the nature and practice of the work to be done« (136).89
89 Tally Jr. bezieht sich hier auf einen berühmten Brief Melvilles an Hawthorne, in dem es heißt: »Leviathan is not the biggest fish; – I have heard of Krakens«. Ausgehend von der symbolischen Bedeutung des Leviathan als politisches Emblem des Hobbesschen Nationalstaates ließe sich die Figur des »Kraken« folglich – wollte man Melville an dieser Stelle doch einmal allegorisch lesen – als Symbol für das postnationale System einer sich zusehends globalisierenden Welt begreifen. »The work to be done« würde somit auf die Aufgabe verweisen, vor dem Hintergrund der globalen Verfasstheit der Gegenwart eine Kartographie dieser komplexen Formation des Politischen zu erstellen: »The urgent project of criticism and literature in our own time, in the postmodern condition of the era of globalization, may find its vocation in the cartography of the kraken« (Tally Jr. 2009, 136).
2. Vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild: Deleuze und der Westernfilm
2.1 M YTHOLOGIE
UND
R EVISIONISMUS
Im vorliegenden Kapitel kommt es einerseits zu einem Wechsel des Mediums, insofern im Anschluss an die Literatur nun erneut der Film – und zwar das »uramerikanische« Genre des Westernfilms – im Fokus steht. Andererseits kommt es auch zu einem Raumwechsel, da die Analyse der amerikanischen Topologie, die im letzten Kapitel mit Blick auf Melvilles »glatten« Raum des Meeres begonnen wurde, nun eine Fortsetzung im Kontext der Wüsten, Steppen und Farmlandschaften des amerikanischen Westens findet.1 Ziel des Kapitels ist dabei zunächst, im Dialog mit den bereits im ersten Teil der Studie thematisierten filmphilosophischen Überlegungen von Deleuze zu einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Western zu kommen, d.h. mit demjenigen Genre, das André Bazin einst als »das amerikanische Kino par excellence« bezeichnet hat (Bazin 2009c). Hierbei soll aufgezeigt werden, dass sich Deleuzes Filmphilosophie trotz dessen Favorisierung des europäischen Autorenfilms und des minoritären Third Cinema auf fruchtbare Weise dazu eignet, auch ein weitgehend »amerikanisches« Genre wie den Westernfilm in den Blick zu nehmen. Dies impliziert zugleich, dass die von Deleuze beschriebene Entwicklung vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild zumindest tendenziell auch innerhalb des Westerngenres nachvollzogen werden kann, was im Folgenden am Beispiel von drei ausgewählten Filmen veranschaulicht werden soll, die in gewisser Hinsicht die Entwicklung des Genres insgesamt verkörpern. Als Beispiel des »klassischen« Westerns soll dabei zunächst auf John Fords Film Stagecoach (1939) eingegangen werden, der das Genre auf grundlegende Weise definiert und beeinflusst hat. Im Anschluss daran er1
Das Verhältnis von »glattem« und »gekerbtem« Raum spielt freilich auch hier eine Rolle, insofern die Westexpansion der amerikanischen Siedler durchaus als »Einkerbung« eines vormals tendenziell glatten Raumes verstanden werden kann (vgl. etwa TP 658). In diesem Kontext schreibt Neil Campbell: »One cannot think of the West as rural or urban space without visualizing the powerful checkerboard symmetries of the meshlike grid as it arrests and orders space, seemingly cutting up and arranging nature into culture, ordering chaotic flows into a defined ›schedule‹« (Campbell 2008, 9-10). Zum Verhältnis der heterotopischen Räume des Meeres und des Westens in der amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts, vgl. LeMenager 2004, 109-135.
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folgt eine Analyse von Fred Zinnemanns »Über-Western« (Bazin 2009d, 270) High Noon (1952), der zwar eine gewisse Transformation des Genres anzeigt, grundsätzlich aber weiterhin mit den klassischen Mitteln des Aktionsbildes operiert. Abschließend steht dann mit Jim Jarmuschs Dead Man (1995) ein Film im Fokus, der nicht nur die revisionistische Tendenz des neueren Westerns verkörpert, sondern sich zudem auch im Sinne von Deleuzes »Zeit-Bild« charakterisieren lässt. Dass Dead Man in dieser Hinsicht eher eine Ausnahme darstellt – also auch die meisten revisionistischen Westernfilme noch in der klassischen Tradition des Aktionskinos stehen oder allenfalls als »Hybridfilme« aus Bewegungs-Bild und Zeit-Bild gelten können (Martin-Jones 2006, 2) –, ließe sich in etwa so erklären: Deutlicher noch als im Falle der anderen klassischen Hollywoodgenres scheint nämlich die ursprüngliche Form des Westerns exakt dem temporal-ästhetischen Modell des Aktionskinos zu entsprechen, sei es hinsichtlich seiner üblichen Rape/Revenge-Struktur, sei es mit Blick auf das standesgemäße »Duell«. Jarmuschs Dead Man wurde somit zwar einerseits ausgewählt, da der Film gewisse Tendenzen zum Ausdruck bringt, die für den revisionistischen Western insgesamt charakteristisch sind; da er in ästhetischer und temporaler Hinsicht aber zugleich eine Ausnahme bildet, eignet er sich andererseits auch dazu, um – im Dialog mit den Konzepten von Deleuze – verschiedene Probleme zu markieren, die nicht nur den klassischen Western, sondern auch die weniger komplexen Varianten des Western-Revisionismus selbst betreffen.2 Als Western-Revisionismus sollen im Folgenden allgemein solche Ansätze bezeichnet werden, in denen eine grundlegende Problematisierung jener klassischen Mythologie des amerikanischen Westens vollzogen wird, die 1893 von Frederick Jackson Turner zu einer griffigen »These« verarbeitet wurde (vgl. Turner 1998). Eine grundsätzliche Kritik an jener Mythologie ist in den American Studies verstärkt seit den 1970er Jahren geäußert worden, so etwa im umfangreichen Werk von Richard Slotkin, der sich dem Frontiermythos aus einer kritisch-revisionistischen Perspektive gewidmet hat, die das Selbstverständnis der New Americanists wesentlich beeinflussen sollte (vgl. Slotkin 1973, 1998a und 1998b). Analog zur akademischen Diskussion erschienen – besonders im Kontext von New Hollywood – zeitgleich auch zahlreiche Westernfilme, die die klassische Westernmythologie ebenfalls in Frage stellten und mit einer Reihe von Genrekonventionen brachen. Seit den 1990er Jahren zeigt sich selbst im Mainstream-Western ein gewisser Revisionismus, was z.B. daran erkennbar ist, dass in großen Hollywoodproduktionen wie Dances with Wolves (1990) oder Geronimo (1993) ein deutlich positiveres Bild der Native Americans zum Ausdruck kommt als noch in der klassischen Ära des Westernfilms. Es lässt sich folglich argumentieren, dass die Kritik an der klassischen Westernmythologie heute nicht nur die akademische Reflexion über das Thema dominiert, sondern auch Eingang in die Populärkultur gefunden hat. Der Western-Revisionismus ist somit quasi »kanonisch« geworden.
2
Hier ließe sich z.B. an Filme wie Kevin Costners Dances with Wolves (1990) oder Mario Van Peebles Posse (1993) denken. Melinda Szaloky schreibt in diesem Zusammenhang, dass Dead Man nicht nur »[the] basic generic conventions of the western [and] its underlying mythology« demontiert, sondern sich auch gegen »simplistic (i.e., countermythical) revisionist strategies« richtet (vgl. Szaloky 2001, 49).
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DER
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Wenn im Folgenden also die Entwicklung vom klassischen zum revisionistischen Western nachvollzogen und diskutiert wird, dann soll jene mittlerweile etablierte Kritik keinesfalls lediglich wiederholt werden. Mithilfe von Deleuzes Filmphilosophie soll vielmehr untersucht werden, mit welchen temporal-ästhetischen Mitteln der Westernfilm dabei operiert, d.h. inwiefern der Bezug zur Mythologie des amerikanischen Westens mit einer jeweils zu bestimmenden »Bildlichkeit« korrespondiert. Anders gesagt: Nicht nur der mythologische (oder anti-mythologische) »Inhalt« des entsprechenden Films – dasjenige also, was das Bild zeigt – ist hierbei von Interesse, sondern mehr noch das Bild selbst, d.h. das visuelle, temporale und ästhetische Modell, das dem Film zugrunde liegt und seine jeweilige Art der Darstellung des Westens ermöglicht und bedingt. Was Dead Man in diesem Kontext von anderen Westernfilmen seit den 1990er Jahren unterscheidet, ist die Tatsache, dass sich der Revisionismus des Films nicht allein auf dessen »Inhalt« beschränkt, sondern Jarmusch zugleich auch das ästhetische Modell und die temporalen Strukturen demontiert (allen voran das sensomotorische Schema des Protagonisten), auf denen der klassische Western basiert. Hierdurch beugt der Film zugleich der Gefahr vor, eine bloße Umhierarchisierung dergestalt zu vollziehen, dass nun etwa die Indianer die »Guten« und die Cowboys die »Bösen« verkörpern, während das temporal-ästhetische Modell – und damit auch die tieferliegende Struktur der Identifikation an sich – erhalten bleibt. Zudem wird gelegentlich übersehen, dass »Revisionismus« nicht per se die subversive Minorisierung einer majoritären Form bedeutet. So stellt sich im Falle nicht weniger revisionistischer Westernfilme vielmehr die Frage, ob ihr jeweiliger Grad der Abweichung von der Politik und den Werten des klassischen Westerns nicht eher als Anpassung an ein neues majoritäres Modell zu verstehen ist, das – im Zeitalter von Globalisierung und Neoliberalismus – einen kulturellen Pluralismus repräsentiert, der heute bereits vielfach dominant ist.3 Mit Verweis auf Deleuze und am Beispiel von Dead Man soll daher im Folgenden auch untersucht werden, auf welche Weise es dem Western-Revisionismus gelingen kann, »ein wirklich neues Bild« (BB 282) des Westens entstehen zu lassen, anstatt lediglich »den Inhalt« jenes Bildes zu ändern, d.h. lediglich eine alte Mythologie des Westens durch eine neue, vermeintlich zeitgemäßere Mythologie zu ersetzen (vgl. Slotkin 1998b, 654-660). Worin genau besteht nun aber jene Mythologie, die spätestens seit Anfang der 1970er Jahre zum Gegenstand der revisionistischen Kritik geworden ist? An dieser Stelle macht es Sinn, etwas genauer auf die einflussreiche Frontierthese Frederick Jackson Turners einzugehen, die den Mythos der amerikanischen frontier besonders anschaulich zum Ausdruck bringt. Hierbei sollte zunächst jedoch darauf hingewiesen werden, dass der Begriff der »These« nicht unbedingt beim Wort genommen werden muss. Denn bei Turners Essay »The Significance of the Frontier in American History« (Turner 1998) handelt es sich in erster Linie nicht um eine wissenschaftlich begründete historische Behauptung, sondern eher um die Aktualisierung einer Mythologie, welche durch Turner den Charakter einer »großen Erzählung« erhält, die vorgibt, das Ganze der amerikanischen Identität erklärbar zu machen. Unter den amerikanischen Gründungsmythen (Amerikanischer Traum, »Manifest Destiny«, »Melting Pot« usw.) nimmt der Frontiermythos somit eine nicht unwesentliche Sonderstellung 3
Zur Frage, inwiefern das gängige Modell von »Diversity« heute implizit einer neoliberalen Politik der sozialen Ungleichheit Vorschub leistet, vgl. Michaels 2006.
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ein. In gewissem Sinne kann er als die »westliche« Variante dessen begriffen werden, was gemeinhin als amerikanischer Exzeptionalismus gilt, während dessen »östliche« Variante auf die Puritaner und deren Vorstellung von Amerika als weltgeschichtlichem Vorbild und »neuem Jerusalem« verweist (vgl. Fluck 2008, 720).4 Beiden Erzählungen gemeinsam ist jedoch die Auffassung, dass sich die amerikanische Identität nicht allein in Differenz zu anderen Nationen und Kulturen bestimmen lässt, sondern zugleich eine wesentliche Überlegenheit beanspruchen kann.5 In Turners Essay wird jene Überlegenheit nun primär durch den Einfluss begründet, den die Existenz der frontier auf den amerikanischen Nationalcharakter gehabt haben soll. »The existence of an area of free land«, schreibt Turner, »its continuous recession, and the advance of American settlement westward, explain American development« (Turner 1998, 31). Was die amerikanische frontier demnach von den europäischen Grenzstreifen oder Grenzländern unterscheidet, ist die Tatsache, dass es sich in Europa um weitgehend feste Grenzlinien zwischen gleichermaßen besiedelten Gebieten handelt. Die amerikanische frontier hingegen, die im Laufe der amerikanischen Geschichte immer weiter nach Westen verschoben wurde, befinde sich stets »at the hither edge of free land« (33). Die hiermit einhergehende Idee einer fortwährenden Grenzverschiebung macht laut Turner den fluiden Charakter des amerikanischen Lebens erklärbar, wobei die Bewegung nach Westen auch eine Abkehr vom Erbe des alten Kontinents (Europa) impliziert. Noch wesentlicher mit Blick auf die Besonderheiten der amerikanischen Kultur ist für Turner jedoch die ständige Konfrontation zwischen »Wildnis« und »Zivilisation« – »the frontier is […] the meeting point between savagery and civilization« (32) –, der der Pionier auf der jeweiligen Grenzlinie ausgesetzt sei. Denn die Wildnis, so Turner, zwinge den Siedler zunächst dazu, sich seinen europäischen Sitten zu entledigen und sich auf die »primitiven« Bedingungen der frontier einzulassen: »The wilderness masters the colonist. It finds him a European in dress, industries, tools, modes of travel, and thought. It takes him from the railroad car and puts him in the birch canoe. It strips off the garments of civilization and arrays him in the hunting shirt and the moccasin. It puts him in the log cabin of the Cherokee and Iroquois and runs an Indian palisade around him. Before long he has gone to planting Indian corn and plowing with a sharp stick […]. In short, at the frontier the environment is at first too strong for the man.« (Turner 1998, 33)
Im nächsten Schritt gelinge dem Siedler jedoch eine zunehmende Zivilisierung der Wildnis, wobei das Ergebnis dieser Transformation nicht mehr den europäischen Vorstellungen von Zivilisation und Zivilisiertheit gleichkomme, sondern nun in einem dezidiert »amerikanischen« Kontext stehe: 4 5
Zur Mythologie des Puritanismus, vgl. Miller 1956 sowie Bercovitch 1978 und 1993. Zum Begriff des amerikanischen Exzeptionalismus, siehe Madsen 1998 und Pease 2009. Die Konkurrenz zwischen den beiden Narrativen bezüglich der Frage, welches Modell die bessere Auslegung der amerikanischen Kultur beinhalte, erklärt auch die Kritik von Perry Miller – dem wohl bekanntesten Repräsentanten der »puritanischen« Erzählung – an »Turner’s ›thesis‹ that democracy came out of the forest. […] Immense as is the debt that all seekers after national self-knowledge owe to Turner, we have to insist – at least I do – that he did as much to confuse as to clarify the deepest issue« (Miller 1956, 1).
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»Little by little he transforms the wilderness, but the outcome is not the old Europe, not simply the development of Germanic germs, any more than the first phenomenon was a case of reversion to the Germanic mark. The fact is, that there is a new product that is American.« (33-34)
Hegelianisch gesprochen ist es also zu einer »Aufhebung« der Wildnis gekommen, die durch den Sieg der Zivilisation zwar einerseits niedergerungen worden sei, andererseits aber nun in verfeinerter Form im amerikanischen Charakter weiterlebe. Laut Winfried Fluck begreift Turner die frontier somit nicht nur als Ursprung der amerikanischen Identität, sondern auch als »Ort einer Erfahrung, aus der sich die amerikanische Gesellschaft immer wieder zu erneuern vermag« (Fluck 2008, 724). Für Turner stellt sich die Besiedlung des Westens demnach nicht lediglich als »Zivilisierung der Wildnis« dar, vielmehr erklärt er die Frontiererfahrung zur Geburtsstunde einer exzeptionellen amerikanischen Identität, gemäß der sich der Amerikaner sowohl vom »unzivilisierten« Indianer als auch vom »überzivilisierten« Europäer unterscheidet.6 So trete der Amerikaner zwar prinzipiell als zivilisierende Kraft in Erscheinung, erfahre aufgrund seines steten Kontakts mit der Wildnis jedoch eine kontinuierliche »Revitalisierung«, die ihn davor bewahre, sich – wie der Europäer – auf den Früchten der Zivilisation auszuruhen. In Turners romantisierender Beschreibung wird die frontier folglich zum idealtypischen »Ort einer Bewährung, die, wo sie erfolgreich ist, eine Wiedergeburt mit neuer Identität verspricht« (723). Zugleich stellt sich die frontier aber auch als diejenige Zone dar, in der solch vermeintlich »amerikanischen« Werte wie Individualismus, Fortschritt, Tapferkeit, Solidarität, Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit in ihrer reinsten Form zu Tage treten.7 Der Westernfilm (und zuvor bereits die Westernliteratur) hat jene Werte zu einem kodifizierten Frontierethos zusammengesetzt, der – wie sich anhand der Masse an verherrlichenden Darstellungen des gunfighters belegen lässt – ausdrücklich auch die Ausübung von Gewalt miteinschließt, die mithin als legitimes Mittel für die Durchsetzung von Zivilisation und Fortschritt begriffen wird. Der Kult des Revolverhelden und die alttestamentarisch anmutende Moral der Gewalt stellen somit die bei Turner selbst weitgehend unausgesprochen bleibende Rückseite der Frontierthese dar.8 6
7
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Analog dazu handelt es sich beim Westernhelden zumeist um eine quasi liminale Figur, die »Zivilisation« und »Wildnis« in sich vereint. Vgl. Cawelti 1999, 29: »Three central character roles dominate the Western: the townspeople or agents of civilization, the savages or outlaws […], and the heroes who are above all ›men in the middle‹, possessing many qualities and skills of the savages but fundamentally committed to the townspeople«. In vielen revisionistischen Arbeiten ist jedoch hervorgehoben worden, dass Turners Modell der frontier auf einer wesentlich ethnozentrischen Grundlage steht. Wenn die frontier somit als Metapher für Fortschritt und den Prozess der Zivilisation fungiert, ist hiermit grundsätzlich white progress, d.h. der Fortschritt des weißen Amerikaners mit angelsächsischen Wurzeln (WASP) gemeint. Vgl. hierzu Limerick 2006, 21: »Turner was, to put it mildly, ethnocentric and nationalistic. English-speaking white men were the stars of his story«. Zur Rolle der Gewalt im Kontext der Frontiermythologie, vgl. vor allem das Werk Richard Slotkins, auf das im Folgenden noch genauer eingegangen wird (Slotkin 1973, 1998a und 1998b). Laut Slotkin ist der Kult des Revolverhelden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert besonders einflussreich durch Buffalo Bill (alias William Cody) – »the archetype of the American frontier hero« (Slotkin 1993, 169) – verkörpert worden. Die gewaltver-
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Ironischerweise fällt der Zeitpunkt von Turners These – die er erstmals 1893 auf der World’s Columbian Exposition in Chicago präsentierte – genau mit dem Zeitpunkt zusammen, da die vollständige Besiedlung des amerikanischen Kontinents erreicht war, so dass von der Existenz einer tatsächlichen frontier gar nicht mehr die Rede sein konnte.9 Wie sich allerdings gezeigt hat, sollte dies der weiteren Verbreitung der Westernmythologie keinen Abbruch tun. Im Gegenteil: Durch Schriftsteller wie Owen Wister oder Politiker wie Theodore Roosevelt – der in The Winning of the West eine eigene »Frontierthese« vorlegte, die deutlich an die imperialistischen Ambitionen der USA angepasst war – erfuhr der Frontiermythos zur Zeit der Jahrhundertwende eine wesentliche Popularisierung und Weiterverbreitung. Im 20. Jahrhundert knüpfte beispielsweise John F. Kennedy an den Mythos an, indem er in seiner »Acceptance Speech« von 1960 den Begriff der New Frontier verwendete, der im Kontext des Kalten Krieges auf eine Reihe von sozialen, wirtschaftlichen, militärischen und wissenschaftlichen Herausforderungen gemünzt war: »I stand here tonight facing west on what once was the last frontier. From the lands that stretch three thousand miles behind us, the pioneers gave up their safety, their comfort and sometimes their lives to build our new West. […] Some would say that those struggles are all over, that all the horizons have been explored, that all the battles have been won, that there is no longer an American frontier. But I trust that no one in this assemblage would agree with that sentiment; for the problems are not all solved and the battles are not all won; and we stand today on the edge of a New Frontier – the frontier of the 1960’s, the frontier of unknown opportunities and perils, the frontier of unfilled hopes and unfilled threats.« (Kennedy 1960)
Die in Kennedys Rede artikulierte Möglichkeit einer transhistorischen Übersetzung und Reaktivierung des Frontiermythos für die ideologischen Zwecke in einem gänzlich anderen Kontext verdeutlicht auf anschauliche Weise den Ansatzpunkt der revisionistischen Kritik seit den 1970er Jahren. Denn wie z.B. Richard Slotkin erläutert, bietet es sich aufgrund der allgemeinen Vertrautheit des Mythos und seiner Verankerung im »kollektiven Gedächtnis« der Amerikaner an, ihn zur Rechtfertigung von Gewalt und als narrative Grundlage für die Durchsetzung einer Machtpolitik zu nutzen, die sich einmal mehr als ordnende Kraft an der Schwelle zwischen »Zivilisation« und »Wildnis« verortet. So ist es laut Slotkin etwa zu einer Übertragung des mythologischen Cowboy/Indianer-Dualismus auf den Vietnamkrieg gekommen, wobei der Vietcong nun die »unzivilisierten Indianer« verkörperte, während dem amerikanischen Militär die Rolle des Ordnung schaffenden »Cowboys« zukam.10 Auf ganz herrlichende Inszenierung der Frontiermythologie in dessen populären Wild West Shows sei dabei explizit auf die imperialistischen Bestrebungen der USA bezogen gewesen und habe zu deren Rechtfertigung beigetragen. 9 Das offizielle Ende der frontier ist 1890 in einem Bericht der amerikanischen Zensusbehörde verkündet worden, was Turner zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt. So heißt es zu Beginn seines Textes: »This brief official statement marks the closing of a great historic movement. Up to our own day American history has been in a large degree the history of the colonization of the Great West« (Turner 1998, 31). 10 Vgl. Slotkin 1987, 71: »The war in Vietnam sometimes seemed so alien to American experience and expectations that it might have been happening on some other planet […]. The
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ähnliche Weise begegnet man dieser Logik noch in George W. Bushs Rhetorik des Ausnahmezustands – mit dem Unterschied freilich, dass der Feind nun nicht mehr vom Vietcong, sondern von islamistischen Terroristen verkörpert wird. In Bezug auf eine Pressekonferenz vom 17. September 2001 schreibt hierzu Stephen McVeigh: »Bush offers a portrait of an enemy who ›likes to hide and burrow in‹, who have ›no rules‹, who are ›barbaric‹, who ›slit throats‹, and who ›like to hit, and then they like to hide out‹. If these characteristics sounded familiar to Americans acquainted with a century of Westerns, Bush’s response was similarly resonant: ›But we’re going to smoke them out‹« (McVeigh 2007, vii-viii).11 Unter denjenigen Autorinnen und Autoren, die sich der Westernmythologie und ihrer politischen Aktualisierung in den letzten Jahrzehnten aus einer ideologiekritischen Perspektive genähert haben, nimmt Richard Slotkin sicherlich einen besonderen Platz ein, da seine Trilogie zweifellos die umfangreichste revisionistische Auseinandersetzung mit dem Frontiermythos darstellt. Doch trotz der Fülle an Material, das Slotkin verwendet, gelingt es ihm nicht wirklich (und es ist wohl auch nicht sein primäres Ziel), ein »neues Bild« des Westens entstehen zu lassen. Denn Slotkin geht es in seiner Studie nicht in erster Linie um die Geschichte des Westens, sondern vielmehr um die Geschichte der Westernmythologie und ihrer ideologischen Aktualisierungen. Dennoch formuliert er als Ziel seines Projekts jedoch die Absicht, durch die konsequente Historisierung von Mythen zu einer anderen – nämlich »entmystifizierten« – Sicht der Geschichte zu gelangen: »We can only demystify our history by historicizing our myths – that is, by treating them as human creations, produced in a specific historical time and place, in response to the contingencies of social and personal life« (Slotkin 1987, 80).12 language of the Cowboys and Indians ›game‹ was one way to get a handle on experiences too terrible, too upsetting to be morally acceptable«. 11 In Bezug auf Osama bin Laden erklärt Bush auf derselben Pressekonferenz: »[W]hen I was a kid I remember that they used to put out there in the old West, a wanted poster. It said: ›Wanted, Dead or Alive‹. All I want and America wants [is to see] him brought to justice« (zit. aus McVeigh 2007, vii). Bush verdeutlicht somit, dass sich die Rhetorik des Frontiermythos hervorragend im Sinne einer Politik des »Ausnahmezustands« nutzen lässt (vgl. Agamben 2004). Dass Bushs Wildwest-Rhetorik allerdings auch vielfach Kritik auf sich gezogen hat, weist zugleich darauf hin, dass die klassische Westernmythologie heute selbst in den USA nicht mehr unumstritten ist. So hat Bush rückblickend auch eingeräumt, mitunter die falschen Worte gewählt zu haben. Vgl. hierzu Kollin 2007, ix: »In May 2006 […], President George W. Bush offered a surprising confession to news reporters when he admitted his political mistake in using ›tough talk‹ shortly after 9/11 […]. ›I learned some lessons about expressing myself‹, the president explained, especially about the need to adopt a more ›sophisticated manner‹ in his speeches on terrorism«. 12 Hinsichtlich der theoretischen Grundlagen von Slotkins Ansatz argumentiert Thomas Claviez, dass zwischen dem ersten und zweiten Band seiner Trilogie ein wesentlicher Bruch existiert, der sich primär auf den Einfluss der Mythentheorie von Roland Barthes zurückführen lässt (vgl. Barthes 1964). Während Barthes im ersten Band (Regeneration Through Violence) nämlich überhaupt nicht erwähnt wird, spielt er im zweiten Band (The Fatal Environment) eine konzeptionell wichtige Rolle. Den ersten Band versteht Claviez daher als kritisch gewendete Fortführung einer »mythopoetisch« ausgerichteten Amerikanistik, wo-
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Dieses Projekt der Rehistorisierung bringt gleichwohl eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich, so etwa die Frage, auf welcher Grundlage sich eigentlich ein derart »realistischer« Begriff der Geschichte in Anspruch nehmen lässt, wenn zugleich mit Verweis auf Roland Barthes erläutert wird, dass es zum Prinzip des Mythos gehöre, Geschichte in Natur zu verwandeln (vgl. Slotkin 1987, 80). »Myth«, heißt es an anderer Stelle, »is invoked as a means of deriving usable values from history, and of putting those values beyond the reach of critical demystification« (Slotkin 1998a, 19; Hervorhebung von S.S.). Abgesehen von derlei methodischen Schwierigkeiten, stellt sich aber insbesondere noch eine andere Frage. Denn während Slotkin zwar viel dafür tut, die ideologische Funktionsweise des Mythos offenzulegen und die verdrängten traumatischen Aspekte der west expansion aufzuzeigen, bleibt der Stellenwert des Frontiermythos als vorherrschendes Erklärungsmodell der amerikanischen Entwicklung in seiner Studie weitgehend intakt. Insofern nämlich sämtliche Fakten, die Slotkin gegen den Mythos (oder zu dessen Demaskierung) mobilisiert, stets fundamental auf diesen bezogen bleiben, bleibt zugleich dessen Status als master narrative unangetastet, so dass sich Slotkin zumindest in dieser Hinsicht wenig von den Autoren der »Myth-and-Symbol«-School unterscheidet.13 Hierzu heißt es bei Thomas Claviez: »Slotkins Trilogie stellt gewissermaßen den Höhepunkt und Abschluß einer Periode der American Studies dar, in der der ›frontier‹-Mythos und die geschichtliche Erfahrung, dessen [sic] symbolische Verarbeitung er repräsentiert als ein für die kulturelle Identität Amerikas bestimmendes Phänomen angesehen wird« (Claviez 1998, 296). Somit verwundert es auch nicht, dass Slotkin am Ende des letzten Bandes seiner Trilogie nicht mehr ausschließlich gegen den Mythos argumentiert, sondern nun für eine fortschrittliche Erneuerung der Frontiermythologie eintritt, die sich den multikulturellen Gegebenheiten der Gegenwart anzupassen habe.14 Versucht man Slotkins Revisionismus nun mit Deleuze (und mit Blick auf das hier entwickelte Konzept der »kulturellen Komplexität«) zu qualifizieren, dann stellt sich dessen mythenkritischer Ansatz – trotz des eindrucksvollen kulturhistorischen Wissens, das in seinen Büchern zum Ausdruck kommt – als doch in mancher Hinsicht limitiert dar. Hier ist an erster Stelle der bereits erwähnte Umstand zu nennen, dass der Frontiermythos bei Slotkin als zentrales Organisationsprinzip kultureller Erhingegen er im zweiten Band eine zunehmend ideologie- und mystifizierungskritische Tendenz ausmacht (vgl. Claviez 1998, 270-296). 13 Von der Mehrzahl der Autoren der »Myth-and-Symbol«-School unterscheidet sich Slotkin allerdings dadurch, dass sich seine Studie auch ausgiebig den Native Americans widmet. Henry Nash Smith hat in diesem Kontext selbstkritisch eingeräumt, dass sein eigenes Buch Virgin Land (vgl. Smith 1978) noch allzu sehr von Turners Konzeption des Westens als »an area of free land« beeinflusst war (Smith 1987, 28). Über Slotkin heißt es bei Smith etwa: »Richard Slotkin’s Regeneration Through Violence is an embarrassment to me because it reveals how massive a body of writing about the West lies behind the documents considered in my own study« (29). 14 Vgl. Slotkin 1998b, 655: »We require a myth that can help us make sense of the history we have lived and the place we are living in […]. Even in its liberal form, the traditional Myth of the Frontier was exclusionist in its premises, idealizing the White male adventurer as the hero of national history. A new myth will have to respond to the demographic transformation of the United States and speak to and for a polyglot nationality«.
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fahrung bestehen bleibt, so dass der kulturelle Raum Amerikas als weitgehend homogen erscheint. Besonders im zweiten Band der Studie stellt sich jener Raum wie ein Raum ohne wirkliche »Ereignisse« dar, insofern hier nahezu jedes historische Detail eine der dominanten Lesart des Mythos entsprechende Einordnung erfährt. Zwar gibt sich Slotkin alle Mühe, den Mythos nicht als »transzendent« zu konzipieren (d.h. so, als wenn er von den »immanenten« menschlichen Praktiken getrennt wäre und auf einer übergeordneten Ebene existierte); doch vermittelt er zugleich auch den Eindruck, dass der Mythos praktisch als Zentrum der jeweiligen Ordnung fungiert, von dem aus die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen auf quasi magische Weise erfasst werden.15 Dies impliziert ferner, dass Kultur – ganz im Sinne des CulturalStudies-Mainstreams der letzten Jahrzehnte – primär als symbolisches Bedeutungssystem zu begreifen ist, das auf der Basis einer kollektiven »Semantik« operiert.16 Um ein »neues Bild« des Westens entstehen zu lassen, das nicht mehr in erster Linie auf den Mythos und dessen kulturelle Logik bezogen ist, bietet sich daher nicht Slotkins, sondern ein anderes revisionistisches Modell an, das ursprünglich aus dem Kontext des Postkolonialismus stammt. Gemeint ist Mary Louise Pratts Konzept der »contact zone«, das die Autorin wie folgt definiert: »One coinage that recurs throughout the book is the term ›contact zone‹, which I use to refer to the space of imperial encounters, the space in which peoples geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality, and intractable conflict […]. ›Contact zone‹ in my discussion is often synonymous with ›colonial frontier‹. But while the latter term is grounded within a European expansionist perspective (the frontier is a frontier only with respect to Europe), ›contact zone‹ shifts the center of gravity and the point of view. It invokes the space and time where subjects previously separated by geography and history are co-present, the point at which their trajectories now intersect. The term ›contact‹ foregrounds the interactive, improvisational dimensions of imperial encounters so easily ignored or suppressed by accounts of con15 Vgl. Slotkin 1998a, 24: »Mythic statements are human statements, and are subject to the various pressures of knowledge, intention, politics, and contingency that shape human discourse. But because they appear merely to be repetitions of ageless and transcendent traditions and principles, myths are things that have lost ›the memory that once they were made‹. They have transformed ›history into nature‹, temporal contingency into divine law«. Slotkin macht somit zwar deutlich, dass Mythen von Rechts wegen keinerlei Transzendenz zukommt; indem der Mythos grammatikalisch hier aber den Platz des Subjekts einnimmt (»They have transformed ›history into nature‹…«), wird die Wirkmächtigkeit des Mythos gewissermaßen selbst mystifiziert. Denn der Mythos – so könnte man in Abwandlung eines Zitats von Latour formulieren – »ist nicht, was uns zusammenhält, sondern was selbst zusammengehalten wird« (Latour 2006, 209). Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie wäre eine konsequent immanente Analyse des Mythos unter der Voraussetzung möglich, dass das klassische »Diffusionsmodell« durch ein Modell der »Übersetzung« abgelöst wird (zur Definition der beiden Begriffe, vgl. 197-200). 16 Diesbezüglich sei daran erinnert, dass es Barthes’ wesentlicher Beitrag zur Mythentheorie war, den Mythos als »Sprache« zu begreifen (vgl. Barthes 1964, 7). Slotkin scheint Barthes in dieser Hinsicht zu folgen, da er ganz ähnlich auf die »Sprache des Frontiermythos« verweist (vgl. Slotkin 1998a, 49-106 und Slotkin 1998b, 10-16).
244 | K ULTURELLE K OMPLEXITÄT quest and domination told from the invader’s perspective. A ›contact‹ perspective emphasizes how subjects get constituted in and by their relations to each other. It treats the relations among colonizers and colonized, or travelers and ›travelees‹, not in terms of separateness, but in terms of co-presence, interaction, interlocking understandings and practices, and often within radically asymmetrical relations of power.« (Pratt 2008, 8)
Obwohl Pratts Begriff ursprünglich nicht auf den amerikanischen Westen, sondern auf die imperialen Räume Afrikas und Lateinamerikas gemünzt war, stellt sich eine Aktualisierung des Konzepts im Sinne des Western-Revisionismus als äußerst fruchtbar dar. Was den Begriff der contact zone zunächst vom Modell Slotkins unterscheidet, ist die Tatsache, dass es Pratt offenbar nicht in erster Linie um die Frage der »Bedeutung«, sondern um (materielle wie immaterielle) »Praktiken« geht. Und obwohl sich jene Praktiken zumeist in einem höchst stratifizierten Raum ereignen, der gemäß der imperialen Hierarchie organisiert und eingerichtet ist, wäre es laut Pratt falsch, davon auszugehen, dass diese Hierarchie die Richtung und das Resultat jener Praktiken in jeder Hinsicht determiniert. Anders als bei Slotkin lässt sich bei Pratt somit in der Tat von »Ereignissen« sprechen, die sich aus den konkreten Zusammentreffen (encounters), Beziehungen (relations) und Interaktionen (interactions) in der contact zone ergeben. »Es ist nicht so, daß es keine Hierarchie gäbe«, heißt es ganz ähnlich bei Latour: »Bloß muß man, um von einem Ort an den anderen zu gelangen, die vollen Kosten der Verbindung, Beziehung, Fortbewegung und Information zahlen« (Latour 2007, 305). Es liegt auf der Hand, dass sich dieses Modell – angewendet auf den amerikanischen Westen – fundamental von jeder mythologischen Sicht auf den Raum der frontier unterscheidet. So steht bei Turner zwar ebenfalls das Problem des »Kontakts« im Vordergrund, nämlich der Kontakt zwischen Zivilisation und Wildnis, »zivilisiertem« Pionier und »unzivilisiertem« Indianer; doch birgt dieser Kontakt keinerlei Offenheit, da er im Sinne von Turners dialektischer Teleologie jeweils nur dafür sorgt, aus dem Europäer einen Amerikaner zu machen. Mit Verweis auf Latour lässt sich folglich argumentieren, dass Turner eben nicht bereit ist, »die vollen Kosten der Verbindung« zu übernehmen. In Pratts Modell dagegen wird jener Kontakt (trotz der von ihr beschriebenen »Asymmetrie«) als von Rechts wegen offen charakterisiert, da sein Resultat nicht immer schon feststeht. Demnach versteht Pratt die contact zone als Raum, der durch eine Vielzahl von heterogenen Akteuren und Logiken geprägt ist, aus deren Interferenz etwas unabsehbar Neues resultieren kann.17 Die primäre Absicht des Konzepts liegt dabei freilich darin, die »Kolonisierten« (im Kontext des amerikanischen Westens also vornehmlich die Native Americans) nicht lediglich als Objekte einer imperialen Logik zu begreifen, sondern einen Perspektivwechsel zu vollziehen, durch den sie als Akteure kenntlich werden. Wenn Pratt betont, der Unterschied zwischen dem Begriff der »contact zone« und dem der »colonial frontier« 17 Der Begriff der »contact zone« mag – auch weil er aus dem Kontext des Postkolonialismus stammt – an Homi Bhabhas Konzept des »dritten Raumes« erinnern (vgl. Bhabha 1993). In philosophischer Hinsicht bietet sich als Analogie aber mehr noch das Spätwerk Althussers, d.h. sein »Materialismus der Begegnung« an (vgl. Althusser 2010). Innerhalb der Amerikanistik ist der Begriff u.a. im Rahmen der »Border Studies« rezipiert worden, so etwa mit Blick auf die frontera zwischen den USA und Mexiko (vgl. Saldívar 1997).
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bestehe darin, dass letzterer die Komplexität der »imperial encounters« stets im Sinne von »accounts of conquest and domination told from the invader’s perspective« darstelle, dann scheint hier auch Kritik am Revisionismus im Stile Slotkins mitzuschwingen, der zwar eine Delegitimierung des dominanten Modells, aber keine tatsächliche Dezentrierung bewirkt. Mit Blick auf seine ontologischen Implikationen beinhaltet Pratts Konzept somit eine ganze Reihe von Aspekten, an die sich auf sinnvolle Weise mit der Philosophie von Deleuze – und genauso mit Latours Akteur-Netzwerk-Theorie – anknüpfen lässt. So könnte man die contact zone als tendenziell rhizomatischen Raum beschreiben, der durch raumzeitliche »Koexistenz« geprägt ist, von Segmentierungs- und Fluchtlinien durchzogen wird und in dem es im Zuge nicht-linearer Werdensprozesse zu »widernatürlichen Bündnissen« kommt. Dabei ist freilich zu beachten, dass contact in Pratts Perspektive auf eher konventionelle Weise konzipiert wird und sich hier in erster Linie zwischen Menschen und Kulturen – d.h. zwischen »subjects« und »peoples« (Pratt 2008, 8) – ereignet. Gleichwohl spricht prinzipiell nichts dagegen, den Begriff des Kontakts zu erweitern, d.h. die postkoloniale Außerkraftsetzung der dualistischen Trennung von Subjekt und Objekt auszudehnen, um im Sinne von Deleuze und Latour auch die posthumanistischen Formen von Koexistenz und Vermischung in den Blick zu nehmen. Es lässt sich argumentieren, dass dies gerade im Falle des Westerngenres sinnvoll wäre, da dieses ganz wesentlich auf dem (gleichermaßen asymmetrischen) Kontakt von Mensch und Tier beruht. Oder anders gesagt: Ohne das »widernatürliche Bündnis« von Cowboy und Pferd wäre der Western – zumindest in seiner klassischen Form – kaum vorstellbar. Begreift man den amerikanischen Westen folglich als contact zone, dann wird es möglich, unterhalb der konventionellen Frontiermythologie einen »rhizomatischen Westen« (Campbell 2008) sichtbar zu machen, dem nun ein »neues Bild« entspricht: ein Bild, das sich als Alternative zum traditionellen Bild des Westens, aber auch zu den weniger komplexen Spielarten des Western-Revisionismus manifestiert.18 Hierbei sollte jedoch darauf geachtet werden, dass ein solchermaßen »neues Bild« keinem neuen Exzeptionalismus Vorschub leistet – in dem Sinne etwa, dass die Exzeptionalität des Westens jetzt nicht mehr auf die Schwelle zwischen Zivilisation und Wildnis bezogen wäre, sondern auf die Vielfalt an (multikulturellen) Kontakten, die 18 Etwa in diesem Sinne ließe sich auch das Projekt von Neil Campbell charakterisieren, dem es in seinem Buch The Rhizomatic West darum geht, das Bild eines quasi »deterritorialisierten« Westens sichtbar zu machen, welches der nationalmythologischen Konzeption entgegengesetzt wird: »I am exploring an anomaly in western studies between the ›lines of flight‹ – that is, mobility and migration existing both as ideas and as the material conditions that transformed the region as tribes, immigrants, nomads, conquerors, traders, trappers, farmers, and many other forms of transient peoples passed through – and the mythic quest for rootedness, settlement, and synthesis so often accepted as the outcome, the final point, and the essential identity of this fluid movement« (Campbell 2008, 1). Ein gewisses Manko des Buches stellt indes die Tatsache dar, dass Campbell die Philosophie von Deleuze und Guattari vornehmlich durch die Brille der »Transnational Studies« liest (Paul Gilroy, James Clifford, Paul Giles etc.), so dass deren Besonderheiten mitunter zu verwässern drohen. Nichtsdestotrotz gehört Campbell aber zu den wenigen Autoren, die zeigen, dass sich im Kontext der (Post-)Western Studies auf fruchtbare Weise mit Deleuze arbeiten lässt.
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der heterogene Raum des Westens ermöglicht. Denn auf diese Weise würde der Westen weiterhin als identitätsstiftendes Territorium fungieren, das sich hervorragend zur Begründung eines neuen (nun unter den Vorzeichen von Identitätspolitik und kulturellem Pluralismus stehenden) amerikanischen Exzeptionalismus heranziehen ließe.19 In diesem Zusammenhang hat z.B. Theo D’haen erläutert, dass selbst die revisionistischen New Americanists noch vielfach mit essentialistischen Annahmen bezüglich der Frage der amerikanischen Identität operieren: »Old and New Americanists […] take the same ›essentialist‹ attitude toward their object of study, the Old Americanists seeking a unitary sensibility expressive of the essence of ›Americanness‹, the New Americanists positing a minority essence as essential to being American multicultural-style« (D’haen 1997, 389). Die Gefahr einer in diesem Sinne verstandenen »Re-Essentialisierung« des Westens unter umgekehrten Vorzeichen lässt sich wesentlich minimieren, sofern der Begriff der contact zone ontologisch verstanden wird, d.h. nicht rein exklusiv nur einen ganz bestimmten Typ von Territorium impliziert. So ließe sich prinzipiell jedes von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren besiedelte Territorium als contact zone begreifen, wobei es allerdings nötig wäre, die jeweils spezifischen Formen des Kontakts voneinander zu unterscheiden. Je heterogener und komplexer ein Raum beschaffen ist, desto vielfältiger sind freilich die Kontakte, die sich in diesem Raum ereignen. Da es sich beim amerikanischen Westen um ein Gebiet handelt, das aus den unterschiedlichsten Gründen von einer Vielzahl heterogener Akteure durchwandert, besiedelt und besetzt wurde, sind zweifellos auch eine Fülle an Kontakten nachweisbar, die sich mithilfe des Modells der contact zone sinnvoll qualifizieren ließen. Dies sollte jedoch keinesfalls zu einer exzeptionalistischen Sicht des Westens führen, da es sich diesbezüglich lediglich um graduelle Differenzen handelt, die zudem nicht als Grundlage irgendeines Superioritätsanspruchs taugen. Auch wenn sich der Begriff der contact zone als effektive Alternative zum mythologischen Modell des Westens anbietet, wird es – um der jeweiligen Konzeption der ausgewählten Filme gerecht zu werden – im Folgenden notwendig sein, mitunter auch auf den Frontiermythos zu rekurrieren. Insofern etwa Stagecoach und High Noon noch maßgeblich von der Mythologie des Westens geprägt sind, wird es hier darum gehen, das temporal-ästhetische Modell offenzulegen, das den Bezug zu jener Mythologie auf der Ebene des Bildes bewerkstelligt. Im Falle von Dead Man verhält es sich insofern anders, als der Westernmythos in Jarmuschs Film einer fundamentalen Kritik unterzogen wird. Hier wird es somit darum gehen, die filmischen Aspekte jener Kritik zur Diskussion zu stellen, zugleich aber auch zu veranschaulichen, inwiefern der Film ein »neues Bild« des Westens präsentiert, der sich nun ganz wesentlich als contact zone darstellt.
19 Als Beispiel einer revisionistischen Form der Re-Essentialisierung des Westens lässt sich auf einen Text von Beth Loffreda verweisen, die in Bezug auf Ang Lees Brokeback Mountain von einem »queer remaking« der nostalgischen Identität des amerikanischen Westens spricht. »And that’s a West«, heißt es weiter, »that, while still volatile and unpredictable, is finally starting to grow as spacious as it should be« (Loffreda 2007, 170-171). Auch wenn sie mit einem neuen Inhalt gefüllt wird, bleibt die exzeptionalistische Rhetorik des amerikanischen Westens hier wesentlich intakt.
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2.2 E XKURS I: D ELEUZE
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Um nun im Dialog mit Deleuzes Filmphilosophie zu einer fokussierten Einzelanalyse der Filme Stagecoach, High Noon und Dead Man zu gelangen, macht es Sinn, zunächst auf Deleuzes grundsätzliche Überlegungen zum Westernfilm einzugehen. Deleuze behandelt den Western fast ausschließlich im ersten Band seiner Kinostudie, d.h. mit Blick auf das Kino des Bewegungs-Bildes und – genauer – den besonders im amerikanischen Film dominanten Typus des »Aktionsbildes«. Insgesamt analysiert Deleuze drei solcher Unterkategorien des Bewegungs-Bildes, nämlich das Wahrnehmungsbild, das Affektbild und schließlich das Aktionsbild. Zugleich macht Deleuze jedoch deutlich, dass kein Film »nur aus einer Art von Bildern« besteht, da es durch die Montage stets zu einer Kombination der drei Varianten kommt: »Die Montage ist (unter einem ihrer Aspekte) die Anordnung der Bewegungs-Bilder, mithin das Verteilungsverhältnis von Wahrnehmungsbildern, Affektbildern und Aktionsbildern. Allerdings überwiegt in einem Film – wenigstens in seiner einfachsten Charakterisierung – stets ein Bildtypus« (BB 102). Auch im Western wird man somit auf alle drei Bildtypen stoßen, doch überwiegt hier zweifellos das sensomotorisch veranlagte Aktionsbild, das im Zuge der Entwicklung des amerikanischen Films (und seines charakteristischen »Realismus«) zur dominanten kinematographischen Form geworden ist.20 Im Rahmen seiner Überlegungen zum Aktionsbild dienen Deleuze die Westernfilme von John Ford als klassisches Beispiel für die sogenannte »große Form« dieses Typus (vgl. BB 193-216). Jene »große Form« – ein Begriff, der auf den Filmwissenschaftler Noël Burch zurückgeht (194) – lässt sich Deleuze zufolge daran erkennen, dass das sensomotorische Schema in der klassischen Form von SAS oder SAS’ zu Tage tritt: Auf die Artikulation einer die wesentlichen Aspekte des Films »umgreifenden« Situation (S) folgt demnach im Verlauf der Handlung eine entscheidende Aktion (A), die entweder die Ausgangssituation wiederherstellt (SAS) oder eine veränderte Situation zur Folge hat (SAS’).21 Wenn der klassische Western dieses lineare Handlungsschema besonders exemplarisch zu veranschaulichen scheint, dann tut er dies in erster Linie deshalb, weil der Westernheld auf geradezu idealtypische Weise diejenige Instanz verkörpert, die eine die Situation transformierende (oder zu dieser zurückführende) Handlung zu vollziehen vermag. Der Westernheld stellt somit fast immer das Zentrum des sensomotorischen Schemas dar, von dem aus die Handlung 20 Die vom Aktionsbild geprägten Hollywoodgenres (neben dem Western z.B. der Historienfilm, der psychosoziale Film oder der Gangsterfilm) werden von Deleuze insofern dem Realismus zugerechnet, als hier – anders als etwa im deutschen Expressionismus – »die Qualitäten und Potentiale in geographisch und historisch bestimmbaren Umgebungen oder Zuständen aktualisiert« sind: »Der Realismus des Aktionsbildes tritt in Gegensatz zum Idealismus des Affektbildes« (BB 171). 21 Im anschließenden Kapitel (BB 217-240) beschreibt Deleuze auch eine »kleine Form« des Aktionsbildes, für die prinzipiell das Schema ASA oder ASA’ gilt. Im Westerngenre sieht er diese Form besonders bei Howard Hawks (Red River, Rio Bravo, El Dorado) und – auf andere Weise – im »Neo-Western« (z.B. Little Big Man von Arthur Penn oder The Wild Bunch von Sam Peckinpah) zum Ausdruck kommen. Vgl. hierzu auch Teil II, Kap. 2.5 in der vorliegenden Studie.
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(meistens im Zuge eines zentralen Duells) entscheidend vorangetrieben wird. Dabei repräsentiert der Held die Gemeinschaft, von der er sich zugleich aber auch unterscheiden muss: »In seiner Eigenschaft als Repräsentant der Gemeinschaft wird der Held zu einem Handeln befähigt, das ihn dem Milieu ebenbürtig macht und dessen zufällig oder periodisch in Frage gestellte Ordnung er wiederherstellt: die Gemeinschaft und das Land sind notwendig vermittelnde Momente, damit sich eine Führergestalt herausbilden kann und überhaupt ein Individuum einer so bedeutenden Handlung fähig wird« (BB 199). Deleuze macht deutlich, dass die meisten klassischen Westernfilme nach dem Schema SAS’ verfahren, weshalb sich die durch die Tat des Helden hervorgebrachte Situation durchaus von der Ausgangssituation unterscheidet. Hieraus ergibt sich eine gleichsam »spiralförmige« Struktur, bei der die »neue Situation [...] mit der Ausgangssituation ein Paar [bildet]« (194).22 Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die veränderte Situation nicht »die Veränderung eines Ganzen ausdrückt, sondern sich innerhalb eines Umgreifenden vollzieht«, welches »das Maß der Bewegung abgibt, den organischen Rhythmus ausmacht« (200). Dieses »Umgreifende« stellt einen der Schlüsselbegriffe in Deleuzes Analyse des klassischen Westerns dar und verweist auf den »organischen« Charakter des Aktionsbildes, von dem in Bezug auf die unterschiedlichen Montagetechniken bei Eisenstein und Griffith bereits im ersten Teil der Studie die Rede war. So unterscheidet Deleuze grundsätzlich zwischen Eisensteins »dialektischer Montage« und Griffiths »organischer Montage«, wobei letztere wie folgt charakterisiert wird: »Die Komposition der Bewegungs-Bilder hat Griffith als eine Organisation, einen Organismus, eine große organische Einheit verstanden. Das war seine Entdeckung. Der Organismus ist zunächst eine Einheit in der Vielfalt, das heißt eine Gesamtheit unterschiedlicher Teile: es gibt Männer und Frauen, Reiche und Arme, Stadt und Land, den Norden und den Süden, Innen- und Außenräume usw… Diese Teile werden in binäre Relationen gebracht, die eine alternierende Parallelmontage ausbilden, wobei, einem Rhythmus entsprechend, ein Bild aus dem einen Teil auf das aus dem anderen folgt. Aber auch Teil und Ensemble müssen untereinander in Beziehung treten, ihre aufeinander bezogenen Dimensionen müssen zu einem Austausch kommen.« (BB 50-51)
Ferner heißt es zu Eisensteins Konzeption der Montage und dessen Kritik am Ansatz von Griffith: »Auch wenn Eisenstein anerkennt, was er Griffith zu verdanken hat, erhebt er dennoch […] Einwände. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, daß die unterschiedlichen Teile des Ensembles durch sich selbst gegeben sind, als unabhängige Phänomene. Wie etwa beim Schinken, in dem sich Fettes und Mageres abwechseln: es gibt Arme und Reiche, Gute und Böse, Schwarze und Weiße usw. […] Griffith läßt außer acht, daß Reiche und Arme nicht als unabhängige Phänomene gegeben sind, sondern von einer gemeinsamen Ursache herrühren, der gesellschaftlichen Ausbeutung… Diese Kritik an der ›bürgerlichen‹ Anschauung Griffith’ bezieht 22 Vgl. auch BB 201: »Die Anlage des Films, seine organische Repräsentation, entspricht nicht einem Kreis, sondern einer Spirale: die am Ende erreichte Situation weicht von der Ausgangssituation ab (SAS’)«.
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sich nicht nur auf die Art, eine Geschichte zu erzählen oder die Geschichte zu verstehen. Sie bezieht sich unmittelbar auf die Parallelmontage […]. Eisenstein macht Griffith den Vorwurf, bei einer ganz empirischen Auffassung des Organismus, ohne Entstehungs- und Entwicklungsgesetz, stehengeblieben zu sein: er habe ihn in einer ganz äußerlichen Weise, als Konglomerat zusammengefaßter, einander berührender Teile verstanden und eben nicht als Produktionseinheit, Zelle, die ihre eigenen Teile durch Teilung und Differenzierung hervorbringt; […] Griffith hat eben nicht die dialektische Natur des Organismus und seines Aufbaus gesehen. Das Organische ist gewiß eine große Spirale, aber die Spirale darf nicht empirisch, sondern muß ›wissenschaftlich‹ konzipiert sein, gemäß einem Entstehungs-, einem Wachstums- und einem Entwicklungsgesetz.« (BB 53-54)23
Bezieht man diese Ausführungen nun auf die »große Form« des klassischen Westerns, dann wird deutlich, dass diese Deleuze zufolge noch wesentlich in der organischen Tradition von Griffith steht. Denn wie im Folgenden insbesondere am Beispiel von Stagecoach aufgezeigt werden soll, gilt auch für die Filme Fords in der Regel, dass die sozialen Konflikte kaum mit Blick auf ihre historischen Ursachen untersucht werden, sondern sich im Zuge fortwährender Duelle artikulieren, die sich zwischen den individuierten »Teilen« (den Cowboys und Banditen, den Soldaten und Indianern, den Besitzenden und Besitzlosen etc.) im Rahmen eines organischen »Ganzen« ereignen.24 Anders als Jean Mitry geht Deleuze allerdings nicht davon aus, dass es sich in Fords Westernfilmen daher um »einen geschlossenen Raum ohne reale Bewegung« handelt. Für Deleuze ist vielmehr entscheidend, dass die Bewegung hier stets innerhalb der Grenzen eines umgreifenden Ganzen verbleibt, weshalb er sie mit dem organischen Rhythmus der Atmung vergleicht: »Uns scheint es eher so zu sein, daß die Bewegung durchaus real ist, aber daß sie nicht schrittweise verläuft oder die Veränderung eines Ganzen ausdrückt, sondern sich innerhalb eines Umgreifenden vollzieht, dessen Atmen sie zum Ausdruck bringt« (BB 200). Die neue Situation, die im Rahmen des Schemas SAS’ eintritt, verkörpert somit von Rechts wegen eine Veränderung, die das organische Ganze aber niemals wirklich affiziert, sondern stets in dessen Grenzen verbleibt. S und S’ liegen daher in der Regel nah beieinander: Die 23 Deleuze bezieht sich hier primär auf Eisensteins Aufsatz »Dickens, Griffith und wir« (vgl. Eisenstein 2006, 301-366). Dort heißt es etwa: »Griffiths soziale Sicht reichte, wie wir gesehen haben, nicht weiter als bis zur Einteilung der Gesellschaft in Reiche und Arme. Bürgerliche Ethik, Moral und Soziologie lehren, diese beiden immanenten Kategorien seien ganz bestimmt ein Werk Gottes. Von diesem […] Gesichtspunkt aus gibt es ›Arme‹ und ›Reiche‹, die als zwei selbständige, voneinander unabhängige und […] noch dazu unerklärliche parallele Erscheinungen nebeneinander existieren. […] Und so ist es ganz natürlich, daß Griffiths Konzeption der Montage wie ein Spiegelbild seiner dualistischen Auffassung von der Welt wirkt […]. Nicht weniger natürlich ist es, daß unsere Konzeption der Montage vollkommen anders sein mußte, weil unsere Sicht der Erscheinungen in einer monistischen und dialektischen Weltanschauung wurzelt« (345-347). 24 Dieser Organizismus bringt es Deleuze zufolge mit sich, dass sich der klassische amerikanische Film – anstatt den historischen Ursachen nachzugehen – gewöhnlich damit begnügt, »die Erschlaffung einer Zivilisation (auf der Ebene des Milieus) und das Eingreifen eines Verräters (auf der Ebene der Handlung) anzuführen« (BB 206). Allgemein zu Hollywoods Begriff der Geschichte, vgl. 203-206.
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Ordnung, die im Verlaufe der Handlung in die Krise geraten ist, wird wiederhergestellt, aber unter Einschluss einer spezifischen Differenz. Dies kommt bei Ford etwa durch das Verfahren des »modifizierten Bildes« zum Ausdruck, das Deleuze am Beispiel der Filme Two Rode Together (1961) und The Man Who Shot Liberty Valance (1962) beschreibt: »Ein Bild wird zweimal gezeigt, aber das zweite Mal erscheint es als modifiziertes oder ergänztes, so daß der Unterschied zwischen S und S’ spürbar wird. In Liberty Valance zeigt das Ende den wahren Tod des Gangsters mit dem schießenden Cowboy, während man vorher das verkürzte Bild gesehen hatte, das die offizielle Version wiedergibt (der Gangster wird vom zukünftigen Senator getötet). In Two Rode Together wird zweimal die gleiche Silhouette, die gleiche Haltung eines Sheriffs gezeigt, nur ist es beim zweiten Mal die eines anderen Sheriffs.« (BB 201)
In Bezug auf die »große Form« des klassischen Westerns ist für Deleuze also wesentlich, dass sich die Bewegung hier jeweils im Innern eines Umgreifenden ereignet, von dem sie auf gleichsam natürliche Weise begrenzt wird. Wie bereits erwähnt, korrespondiert diese organische Film- und Montagekonzeption mit einem bestimmten Verständnis des »Ganzen« (Nation und Gemeinschaft) und seiner einzelnen »Teile« (Arme und Reiche, Schwarze und Weiße, Gute und Böse...);25 sie kommt aber auch in der Darstellung der Landschaft und mit Blick auf das Verhältnis von Land und Gemeinschaft zum Ausdruck. So hat Deleuze etwa auf die Rolle des Himmels verwiesen, der die organische Kontinuität von Land und Gemeinschaft, nature und nation (vgl. Miller 1967), auf bildhafte Weise anschaulich macht. »Das Allesumgreifende ist der Himmel« schreibt Deleuze: »nicht nur bei Ford, sondern sogar bei Hawks, der in The Big Sky eine der Personen sagen läßt: Das ist ein großes Land, nur der Himmel ist noch größer…Der Himmel umfaßt das Milieu, das seinerseits die Gemeinschaft umgreift« (BB 199). Dementsprechend fungiert der Himmel als quasi »schützendes Dach«, das die Landnahme des amerikanischen Westens »von oben herab« rechtfertigt. Die demokratische Ordnung, deren kontinuierliche Ausbreitung im Rahmen der amerikanischen Nationalmythologie zur schicksalhaften Bestimmung (manifest destiny) erklärt wird, kommt somit als geradezu »kosmische Ordnung« zur Darstellung, die Himmel und Erde vereint.26 Zugleich zeichnet sich am Himmel aber auch kom25 In dieser Hinsicht ergeben sich eine Reihe von interessanten Parallelen zur amerikanischen »historical novel«, die Winfried Fluck folgendermaßen beschreibt: »[H]istorical novels are almost always told by an omniscient narrator who is able to link the fates of individualized but ›typical‹ characters to the national conditions which shape their existence […]. The nation is seen as an organic body, often compared to the family, where all parts or members have their place and function – which also means that existing social hierarchies can be presented as seemingly ›natural‹ and political disagreements can be reconceptualized as family quarrels« (Fluck 2011, 122-123). 26 Charakteristisch für den klassischen Western ist demnach eine wesentlich pastorale Konzeption des Verhältnisses von menschlicher und natürlicher Ordnung. Deleuze spricht in diesem Kontext von einer »kosmisch oder episch gewordenen SAS-Struktur«, wobei sich der Held dem Milieu angleicht und dessen »zyklische Ordnung« wiederherstellt (BB 200). Vgl. auch 313, Fn. 5: »Das (pastorale) Epos definiert sich durch die Adäquation von Seele
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mendes Unheil ab – und zwar entweder symbolisch, sofern die Verdunklung des Himmels das nahende Duell ankündigt oder für eine Störung im Innern der Gemeinschaft steht; oder indexikalisch, wenn die Rauchzeichen der Indianer auf eine Gefahr hinweisen, mit der sie direktermaßen verknüpft sind. Deleuzes Analyse des klassischen Westerns lässt sicherlich eine Reihe von Fragen offen und ist in mancher Hinsicht limitiert. Dies betrifft einerseits den idealtypischen Charakter seines Modells, d.h. die Tatsache, dass kaum ein Film ausnahmslos alle Kriterien erfüllt, die Deleuze an den Western anlegt, da es natürlich vielfach zu Variationen, Modifikationen und Abweichungen vom dominanten Modell des Aktionsbildes kommt. Darüber hinaus wird der Western von Deleuze nicht primär als eigenständiges Genre behandelt (auch wenn ihm eine Reihe von spezifischen Merkmalen zuerkannt werden), sondern als exemplarischer »Fall« des Aktionsbildes, das in der klassischen Phase des amerikanischen Films auch in vielen anderen Genres dominiert. Letzteres muss allerdings nicht unbedingt von Nachteil sein, da Deleuzes Ansatz, den klassischen Western als spezifische Artikulation eines allgemeinen temporal-ästhetischen Modells zu verstehen, zumindest einer komparativ ausgerichteten Filmanalyse produktive Möglichkeiten an die Hand gibt. Was Deleuzes Perspektive zudem auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie zwar auf die allgemein bekannten Verbindungen zwischen dem klassischen Western und den zentralen amerikanischen Gründungsmythen verweist, zugleich aber deutlich macht, dass diese nur im Rahmen eines Bildmodells zum Ausdruck gelangen, das mit einer bestimmten Montagekonzeption und einer spezifischen Organisation von Bewegung und Zeit einhergeht.27 (So korrespondiert etwa die Vorstellung einer legitimen Rache für ein vormals erlittenes Unrecht – die klassische Rape/Revenge-Struktur – nicht nur mit einer »Moral der Gewalt«, sondern auch mit einem temporalen Modell, in dem von einer linearen Zeit ausgegangen wird). Die revisionistische Kritik an der Ideologie des klassischen Westerns lässt sich mit Deleuze somit umformulieren und auf der Ebene des Bildes selbst ansetzen, dessen temporal-ästhetisches Modell quasi die Infrastruktur eines jeden Inhalts darstellt. Hierbei ist freilich zu beachten, dass Deleuzes »Kritik« stets nur implizit, d.h. im Hinblick auf das favorisierte Modell des Zeit-Bildes zum Ausdruck kommt (und zugleich mit einer spürbaren Wertschätzung klassischer Regisseure wie und Welt, von Held und Milieu; selbst die Indianer sind bloß böse Kräfte, die aber den Kosmos und seine Ordnung nicht mehr in Frage stellen als eine Katastrophe, eine Feuerbrunst oder eine Überschwemmung«. 27 Mit Blick auf die »transnationale« Ausrichtung der gegenwärtigen Amerikanistik lässt sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, weshalb der Western eigentlich international so erfolgreich war (und ist), wenn sein Handlungsschema doch so wesentlich mit einer nationalen Mythologie verknüpft ist. Einige Überlegungen Bazins gehen in diese Richtung, etwa wenn er die »naive Größe« hervorhebt, die »die einfachsten Menschen – und die Kinder – in aller Herren Länder im Western erkennen, trotz der verschiedenen Sprachen, Landschaften, Gebräuche und Kleider. Denn die epischen und die tragischen Helden sind universell. Der Sezessionskrieg gehört zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, der Western hat daraus einen modernen Trojanischen Krieg gemacht. Der Treck nach Westen ist unsere Odyssee« (Bazin 2009c, 264-265). Zur den transnationalen Bezüge des Westerns, vgl. auch Bleton/Saint-Germain (Hg.) 1997 sowie (in Bezug auf den »Spaghetti«-Western) Eleftheriotis 2001, 92-133 und Martin-Jones 2008.
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Ford oder auch Hawks einhergeht). Vereinfacht lässt es sich vielleicht so formulieren, dass Deleuzes Haltung nicht in erster Linie als Kritik an den Überzeugungen und Glaubensinhalten des klassischen Westerns zu verstehen ist, sondern als rückschauende Skepsis gegenüber den Implikationen eines spezifischen Bildmodells – und der diesem entsprechenden Konzeption von Bewegung und Zeit –, das die kinematographische Artikulation jener Inhalte überhaupt erst ermöglicht hat. Im Folgenden soll jenes Bildmodell, das auf den vorangehenden Seiten auf eher allgemeine Weise beschrieben wurde, nun konkret am Beispiel von Fords Stagecoach analysiert werden.
2.3 D IE ORGANISCHE R EPRÄSENTATION : J OHN F ORDS S TAGECOACH Bei Stagecoach (1939) handelt es sich weder um den ersten bedeutenden Westernfilm, noch handelt es sich um den ersten wichtigen Western von Ford, dessen fünfzehn Jahre zuvor gedrehtes Stummfilmepos The Iron Horse (1924) heute ebenfalls als Klassiker des Genres gilt. Wie auch Thomas Schatz argumentiert, ist die Geschichte des Westerngenres »as long and varied as Hollywood’s own« (Schatz 1981, 45).28 Zweifellos markiert Stagecoach aber einen wesentlichen Einschnitt in dieser Geschichte, worauf etwa Bazin verweist, der den Film als »Idealbeispiel für die Reife eines klassisch gewordenen Stils« bezeichnet: »John Ford ist es gelungen, gesellschaftliche Mythen, geschichtliche Reminiszenzen, psychologische Wahrheit und die traditionelle Thematik der Westerninszenierung in ein vollkommenes Gleichgewicht zu bringen […]. Stagecoach ist wie ein vollkommenes Rad, das in jeder Position, in die man es bringt, auf seiner Achse im Gleichgewicht bleibt« (Bazin 2009d, 267). Es lässt sich argumentieren, dass Stagecoach einen wesentlichen Anteil an der Revitalisierung des Westerns Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre hatte, nachdem das Genre mehrere Jahre lang vor allem von B-Filmen und Serienwestern dominiert wurde. Dies änderte sich spürbar ab etwa 1939, als – zweifellos begünstigt durch den populistischen Patriotismus, der unter der Präsidentschaft Roosevelts auflebte – wieder viele eher »anspruchsvolle« Westernfilme entstanden, die die klassische Epoche des Genres einleiteten.29 Neben Stagecoach zählen hierzu auch Filme wie Union Pa-
28 Schatz fügt hinzu: »The Western is without question the richest and most enduring genre of Hollywood’s repertoire. Its concise heroic story and elemental visual appeal render it the most flexible of narrative formulas« (Schatz 1981, 45). Spätestens seit den 1980er Jahren hat der Western allerdings spürbar an Popularität eingebüßt – auch wenn neuere Filme wie Dances with Wolves (1990), Unforgiven (1992), The Last of the Mohicans (1992), Geronimo (1993), Posse (1993), Wyatt Earp (1994), Dead Man (1995), Lone Star (1996), Ride with the Devil (1999), Open Range (2003), Brokeback Mountain (2006), The Assassination of Jesse James (2007), True Grit (2010), Meek’s Cutoff (2010), Cowboys & Aliens (2011), Django Unchained (2012) sowie die Popularität der Fernsehserie Deadwood (2004-2006) verdeutlichen, dass vom (oft vorhergesagten) »Tod« des Genres keine Rede sein kann. 29 Als klassische Epoche des Westerns gelten gemeinhin die 1940er und 1950er Jahre, in denen Filme wie Duel in the Sun (King Vidor, 1946), My Darling Clementine (John Ford, 1946), Red River (Howard Hawks, 1948), Broken Arrow (Delmer Daves, 1950), Winchester ’73 (Anthony Mann, 1950), High Noon (Fred Zinnemann, 1952), Shane (George Ste-
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cific (Cecil B. DeMille, 1939), Dodge City (Michael Curtiz, 1939), Drums Along the Mohawk (John Ford, 1939), The Return of Frank James (Fritz Lang, 1940) und The Westerner (William Wyler, 1940). Als »Einschnitt« lässt sich Stagecoach jedoch nicht nur bezüglich der Entwicklung des Westerngenres begreifen, sondern auch mit Blick auf das weitere Werk von John Ford. Hierfür sind vor allem drei Gründe maßgeblich: Erstens leitete der Film eine Phase im Werk Fords ein, in der sich dieser als prototypischer »Western-Regisseur« etablierte. Zwar sollte Ford auch weiterhin bedeutende Filme wie Young Mr. Lincoln (1939), The Grapes of Wrath (1940), How Green Was My Valley (1941) oder The Quiet Man (1952) drehen, die nicht in den Kontext des Genres gehören. Wie jedoch sein vielzitiertes lakonisches Statement aus dem Jahr 1950 verdeutlicht – »My name’s John Ford. I make Westerns« (Studlar/Bernstein [Hg.] 2001, 2) –, sind es seit Stagecoach besonders die Westernfilme gewesen, die seine Reputation als Regisseur begründeten. Zweitens handelt es sich bei Stagecoach um den ersten Film, den Ford im Monument Valley drehte, das fortan zum ikonographischen Markenzeichen seiner Filme wurde und das Bild des amerikanischen Westens wesentlich beeinflussen sollte. Drittens schließlich etablierte der Film John Wayne – der sich vorher lange mit drittklassigen Rollen im Serienwestern zufriedengeben musste – als ideale Besetzung für die Figur des western hero, die er auch in einer Vielzahl weiterer Ford-Filme verkörperte. Auch wenn Stagecoach in Deleuzes Kinostudie nur an einer einzigen Stelle erwähnt wird, ist der Film dennoch bestens dafür geeignet, das Schema der »großen Form« des Aktionsbildes zu exemplifizieren. Allerdings weist die Handlungsstruktur des Films eine spezifische Modifikation auf, die eine Erweiterung der üblichen Formel SAS oder SAS’ nötig macht. Da Stagecoach nämlich aus zwei separaten Handlungsblöcken besteht – d.h. auch aus zwei unterschiedlichen »Situationen«, die jeweils durch eine entscheidende Aktion transformiert werden –, macht es Sinn, dem Film das Schema S1 S2 A1 S1’A2 S2’ zuzuordnen.30 Auf die erste Situation (S1) wird bereits vor dem Beginn der eigentlichen Handlung hingewiesen, da der Film mit einer Sequenz beginnt, in der abwechselnd reitende Kavalleriesoldaten und bedrohlich wirkende Indianer zu sehen sind. Der Film beginnt also mit einer visuellen Trennung, für die der Soundtrack eine akustische Entsprechung findet, die sich im Laufe des Films stets aufs Neue aktualisiert.31 In dieser ersten Parallelmontage wird somit bereits deutlich, dass ein wesentliches Thema des Films die Konfrontation mit den Invens, 1953), Johnny Guitar (Nicholas Ray, 1954), The Searchers (John Ford, 1956), Forty Guns (Samuel Fuller, 1957) und Rio Bravo (Howard Hawks, 1959) entstanden. 30 Deleuze selbst hat erwähnt, dass das übliche SAS’-Schema nicht selten eine Diversifizierung oder Zersplitterung erfährt. So wird der »Übergang von der Situation zur Aktion« oftmals »von einer Verschachtelung der Duelle« begleitet (BB 209). Zudem heißt es in Bezug auf die Filme Kazans: »Was Kazan interessiert und was die Entwicklung seines Werkes bestimmt, ist die Verkettung von Aufspeichern und Explosion, um damit eine fortlaufende Strukturierung (mehr noch als eine zweipolige Struktur) zu erreichen […]. Und hierin liegt die Orthodoxie des Actor’s Studio: eine große ›globale Aufgabe‹, SAS’, zerlegt sich in fortlaufende, aufeinanderfolgende, ›lokale Aufgaben‹ (s1 a2 s2, s2 a2 s3…)« (213). 31 Zum Soundtrack von Stagecoach – vor allem mit Blick auf die musikalische Unterscheidung zwischen Weißen und Indianern –, vgl. Gorbman 2001, 181-182.
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dianern sein wird. Dies wird mit Beginn der eigentlichen Handlung sogleich offenkundig: Geronimos Apachen, so wird von zwei Boten berichtet, haben das Kriegsbeil ausgegraben und die Telegrafenleitungen durchschnitten, weshalb die Kommunikation von Stadt zu Stadt unterbrochen ist. Das eingegangene Telegramm ist daher unvollständig und weist lediglich ein einziges Wort auf: Geronimo. Für die Markierung von S1 als umgreifende Situation mit einem mehr oder weniger präzisen »Datum« reicht dieses eine Wort jedoch vollkommen aus. Denn der Name Geronimo steht einerseits für die Gefahr, die von den Apachen ausgeht, andererseits verdeutlicht er den historischen Kontext des Films, den er mit einem »authentischen« Orientierungsmerkmal versieht.32 Die Situation korrespondiert folglich mit einem raumzeitlich lokalisierten Bedrohungsszenario, welches nach einer entscheidenden Aktion verlangt: einem Duell, das zur Überwindung der Krise nötig sein wird. Die zweite Situation (S2) betrifft den eigentlichen »Helden« des Films, der seinen ersten Auftritt zwar erst nach knapp zwanzig Minuten hat, dessen Platz allerdings »längst vorbereitet ist, bevor er ihn wirklich einnimmt« (BB 208). So geht aus einer Unterhaltung zwischen dem Postkutschenfahrer Buck und Marshal Curly hervor, dass »The Ringo Kid« (John Wayne) aus dem Gefängnis ausgebrochen ist, um Rache an Luke Plummer, dem Mörder seines Vaters und seines Bruders, zu nehmen. Plummer und seine beiden Brüder halten sich offenbar in der Stadt Lordsburg auf, die zugleich das Ziel der Postkutsche darstellt. Um Ringo von seiner Tat abzuhalten und wieder ins Gefängnis zu bringen, entscheidet sich Curly schließlich, Buck auf der Fahrt zu begleiten. Ringo, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgetreten ist, wird im Laufe des Films das »Scharnier« bilden, das die Situationen S1 und S2 miteinander verbindet. Denn einerseits spielt er eine wesentliche Rolle im Duell mit den Indianern (S1), was ihn andererseits dazu befähigt, auch als siegreicher Protagonist der revenge narrative zu fungieren (S2). In beiden Fällen wird Ringo zum Agenten einer zielgerichteten Gewalt, die der Film als Reaktion auf ein erlittenes Unrecht legitimiert. Im Kontext von S1 handelt es sich jedoch um ein aktuelles Unrecht (die nicht näher begründete Attacke der angreifenden Indianer), während es sich im Kontext von S2 um ein »virtuelles« Unrecht handelt, das sich in einer weitgehend unbestimmten Vergangenheit ereignet hat, von der der Film zwar berichtet, die er aber nicht zeigt.33 Beide Situationen werden von Ringo gemeistert, so dass er nicht nur mit sei32 Vgl. Buscombe 1993, 20: »Westerns often seek to anchor their stories in a legitimising historical reality by starting with a place and a date. Ford’s later film The Searchers begins with the legend ›Texas, 1868‹. Stagecoach has no such dateline, but the mention of Geronimo links the events of the film to a particular location and period, the Arizona border with Mexico during the period 1881-6, when Geronimo and his Chiricahua band of Apache had escaped the reservation and were playing cat and mouse with the US army«. 33 Legt man das Schema zugrunde, das Kurt Bayertz in seinem Aufsatz »Zur Ästhetik des Western« entwickelt hat, dann decken die Situationen S1 und S2 beide Arten von Bedrohung ab, die für den Western maßgeblich sind. Im Falle von S1 hat die Gefahr demnach einen »äußeren Ursprung« und befindet sich »jenseits der frontier«, während es im Falle von S2 um eine Bedrohung geht, die sich »diesseits der frontier, im Inneren der Zivilisation« befindet (Bayertz 2004, 13). Laut Bayertz geht es dem klassischen Western also nicht nur um den Kampf gegen eine bedrohliche Wildnis (»einschließlich der Indianer«), sondern auch um den Kampf »für das Recht«. Der Western zeigt folglich, »dass der zivilisatorische
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ner Freiheit belohnt wird, sondern auch mit der Ex-Prostituierten Dallas, die ihn in der Schlusseinstellung des Films – einmal mehr vor dem Hintergrund der erhabenen Landschaft des Monument Valley – in ein neues Leben begleitet: ein Leben fernab von den »blessings of civilization«, wie Doc Boone ironisch anmerkt. Obwohl Ringo über nahezu alle Elemente verfügt, die der Westernheld benötigt, lässt sich nichtsdestotrotz argumentieren, dass er – vor allem mit Blick auf S1 – nicht das alleinige Zentrum des Films darstellt. In der Sequenz etwa, die den erfolgreich abgewehrten Angriff der Indianer zeigt (A1), wird Ringo zwar als selbstlos agierender »Mann der Tat« kenntlich, der die Kutsche mutig gegen die attackierenden Apachen verteidigt; letztlich werden die Indianer jedoch durch die plötzlich auftauchende Kavallerie besiegt, nachdem Ringo und seinen Mitreisenden die Munition ausgegangen ist. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass John Wayne zum Zeitpunkt von Stagecoach noch nicht der etablierte Hollywoodstar gewesen ist, als der er in späteren Ford-Filmen agierte.34 Als umso bemerkenswerter erweist sich daher die Szene, in der Ford den ersten Auftritt seines Protagonisten inszeniert, der hier – trotz seines noch jungen Alters – in jeder Hinsicht als »Autorität« kenntlich wird: »It’s one of the most stunning entrances in all of cinema. We hear a shot, and cut suddenly to Ringo standing by the trail, twirling his rifle. ›Hold it‹, cries the unmistakable voice of John Wayne. The camera dollies quickly in towards a tight close-up – a rarity for Ford, whose preferred method of shooting was to plonk the camera down four-square and move the actors around it. So fast is the dolly in that the operator can’t quite hold the focus. But as the camera settles securely on Wayne’s sweat-stained face Buck, agog with the anticipation of excitement to come, calls out, ›Hey look, it’s Ringo!‹« (Buscombe 1993, 9)
Fords visuelle Inszenierung markiert Ringo zweifellos als den »Helden« seines Films (und in gewisser Weise auch als kommenden Helden des Genres insgesamt), der trotz der problematischen Situation, in der er sich befindet – sein Pferd ist offenbar zusammengebrochen und er ist allein in der Wüste unterwegs –, seine Umgebung zu beherrschen scheint. Erst kürzlich aus dem Gefängnis geflüchtet, betritt er mit der Postkutsche nun den Raum der Zivilisation und gesellt sich zu den anderen Reisenden, die jeweils einen vollständig typisierten Charakter verkörpern (der korrupte Bankier, die Prostituierte »mit dem goldenen Herzen«, der gutmütige Alkoholiker, der zwielichtige southern gentleman usw.). Alle zusammen bilden gleichsam einen Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft, wobei Ringo als liminale Figur heraussticht, die sich am ehesten als Protagonist der frontier – d.h. als Mittler zwischen »Zivilisation« und »Wildnis« – eignet. Ringos kritische (oder zumindest ambivalente) Haltung gegenüber Zivilisation, Fortschritt und Gesellschaft wird an mehreren Stellen des Films deutlich hervorgehoben: Während des ersten Halts der Postkutsche Prozess erst zu seinem Ziel kommen kann, wenn dem Sieg über die Wildnis ein Sieg über das Böse gefolgt ist« (13). 34 Laut Edward Buscombe wollte David O. Selznick, der den Film ursprünglich produzieren sollte, die männliche und weibliche Hauptrolle nicht mit John Wayne und Claire Trevor, sondern den »wirklichen Stars« Gary Cooper und Marlene Dietrich besetzen. Doch obwohl Wayne den Part des Ringo Kid letztlich bekam, steht er mit seiner Gage von $3,700 in der Gehaltsliste von Stagecoach nur an neunter Stelle (vgl. Buscombe 1993, 12-19).
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etwa findet sich die Reisegesellschaft zu einer gemeinsamen Mahlzeit zusammen, wobei die vermeintliche Prostituierte Dallas von denjenigen Reisenden gemieden wird, die sich als klassenbewusste Repräsentanten gesellschaftlicher respectability darstellen, was besonders auf Hatfield – den undurchsichtigen southern gentleman – und Lucy – Tochter eines bekannten Südstaatengenerals – zutrifft. Ringo, der für derlei Distinktionsrituale kein Verständnis hat (und sie offenbar auch nur teilweise begreift), kommentiert dies folgendermaßen: »Well, I guess you can’t break out of prison and into society in the same week« (vgl. Buscombe 1993, 51). Eher denn als tatsächlicher outlaw wird Ringo somit als Vertreter eines egalitären Individualismus präsentiert, der sich über die gesellschaftlichen Vorurteile hinwegsetzt und die Regeln der polite society missachtet. Zugleich wird er jedoch als »guter Junge« (»good kid«) mit einem legitimen Anliegen präsentiert, der – hieran lässt der Film keinen Zweifel – zu Unrecht im Gefängnis gelandet ist. Die Sympathien der Zuschauer sind daher von Anfang an auf der Seite von Ringo, der nicht nur undemokratische Normen missbilligt, sondern sich zudem als Kenner der Wildnis entpuppt und etwa die Rauchzeichen der Indianer entziffern kann. Wenn man den Western im Anschluss an Bayertz als das amerikanische Nationalepos par excellence begreift, dann ist es trotz allem jedoch Ringo, der, ungeachtet seiner Ambivalenz und Skepsis gegenüber der Zivilisation, als Agent »eines kollektiven Kolonisierungs- und Zivilisierungsprozesses« fungiert (Bayertz 2004, 12). Bayertz begreift den Western grundsätzlich als »Epos«, da er die wichtigsten Merkmale der epischen Form beinhalte, die Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik formuliert hat.35 So spielten sich Epen »stets auf dem Boden eines bestimmten Weltzustandes ab«, wobei sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und die handelnden Individuen in einem »Gleichgewicht« befänden: »Die Individuen befinden sich nicht mehr in einem – wie Hegel sagt ›barbarischen‹ – Ur- oder Naturzustand; sie befinden sich aber noch nicht in einer voll etablierten und institutionalisierten Gesellschaft. Ansätze zur Ausbildung von Institutionen bestehen zwar schon, diese haben sich aber noch nicht von den Individuen gelöst und gegenüber ihrem Wollen und Handeln verselbständigt« (16). Von Hegel selbst wird dies folgendermaßen formuliert: »Einen schon zu organisierter Verfassung herausgebildeten Staatszustand mit ausgearbeiteten Gesetzen, durchgreifender Gerichtsbarkeit, wohleingerichteter Administration, Ministerien, Staatskanzleien, Polizei usf. haben wir als Boden einer echt epischen Handlung von der Hand zu weisen. Die Verhältnisse objektiver Sittlichkeit müssen wohl schon gewollt sein und sich verwirklichen, aber nur durch die handelnden Individuen selbst und deren Charakter, nicht aber sonst schon in allgemein geltender und für sich berechtigter Form ihr Dasein erhalten können.« (Zit. aus Bayertz 2004, 17)
Die Geschichtsauffassung im Epos stellt sich somit als wesentlich »heroische« dar, denn es sind die tatkräftigen Individuen selbst (und nicht bereits formalisierte Institutionen), die den Prozess der Zivilisation voranbringen. Der klassische Western – 35 Vgl. Hegel 1993, 325-415. Neben Homer und der griechischen Antike behandelt Hegel hier auch »orientalische«, »römische« und »romantische« Epen. Eher beiläufig wird außerdem auf den Roman Bezug genommen, den Hegel zur »modernen bürgerlichen Epopöe« erklärt (392).
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zumindest in seinen gängigsten Ausprägungen – ließe sich demnach als Epos charakterisieren, insofern Recht und Gesetz hier ebenfalls noch nicht »in allgemein geltender und für sich berechtigter Form« existieren, sondern von heroischen Individuen verkörpert werden, die »die Eigenschaften ihres Volkes ebenso wie seine Zwecke in sich vereinigen und zu konstitutiven Elementen ihres Charakters machen« (Bayertz 2004, 17-18).36 In Stagecoach wird dieser Typus zweifellos von Ringo personifiziert, der den kollektiven Zivilisierungsprozess zwar heroisch repräsentiert, sich selbst aber nicht als (im starken Sinne) »zivilisiert« darstellt. »[V]ermittelt über die Gemeinschaft«, schreibt Deleuze, »gleicht sich der Held dem Milieu an« (BB 200) und verteidigt dessen ethische Ordnung, auch wenn er seinen Status als gesellschaftlicher Außenseiter und »liminale Figur« (im Sinne von Turners Frontierthese) nicht völlig aufgeben darf. In dieser Hinsicht bezeichnend ist das Ende von Stagecoach: Im Gegensatz zu vielen anderen Westernfilmen reitet der Held (Ringo) hier nämlich nicht allein davon, sondern mit einer Frau (Dallas). Dennoch kommt es nicht zu einer vollständigen »Domestizierung« des Helden, da es sich bei der Ex-Prostituierten Dallas ebenfalls um eine Außenseiterin handelt. Die Flucht des Außenseiterpaares durch die Wüste – in Richtung einer unbestimmten Zukunft – exemplifiziert folglich die Ambivalenz von Mythos und Utopie einer demokratischen Wiedergeburt jenseits der frontier. Denn einerseits wenden sich Ringo und Dallas von der Zivilisation ab (»They’re saved from the blessings of civilization«), andererseits aber verkörpern sie auf eben diese Weise den kollektiven Prozess der Zivilisierung des amerikanischen Westens, dessen rechtlich-moralische Ordnung Ringo zuvor durch sein heroisches Handeln verteidigt hat. Stagecoach fällt somit zweifellos in den Bereich der Nationalmythologie, die zwar im Western auf besonders offensichtliche Weise zum Ausdruck kommt, von der der klassische amerikanische Film aber insgesamt geprägt ist. Hierzu heißt es bei Deleuze: »Letztlich hat das amerikanische Kino nie aufgehört, ein Grundthema immer wieder neu zu verfilmen: die Geburt einer nationalen Zivilisation, von der Griffith uns die erste Fassung geliefert hat« (202). Stagecoach präsentiert dem Zuschauer eine ebenso charakteristische wie stilbildende Version des Westernhelden, zudem aber auch eine organische Konzeption von Held und Gemeinschaft, Gemeinschaft und Land. Die ikonische Kulisse des Monument Valley ist dabei als wesentlich »imaginäres« Territorium zu begreifen, das aufgrund seiner visuellen Spezifik als einprägsames Zeichen der amerikanischen Landnahme fungiert.37 Fords berühmt gewordene Außenaufnahmen stellen zwar einerseits 36 Bayertz’ Schema stellt sich für die Analyse des Westerns als durchaus fruchtbar dar; die normative Charakterisierung des Genres als ausschließlich epische Gattung ist jedoch in ihrer Verallgemeinerung nicht haltbar. Mit Verweis auf Jean Mitry schreibt in diesem Sinne auch Deleuze, »daß der Western von Anfang an alle Richtungen – die epische, die tragische, die romanhafte, mit bereits nostalgisch gestimmten, einsamen, alternden, oder gar als Verlierer geborenen Cowboys, mit rehabilitierten Indianern – ausprobiert hat« (BB 200). 37 Zu dieser imaginären Komponente des Monument Valley, vgl. auch Buscombe 1993, 45: »Though a real place, Monument Valley functions in Stagecoach as imaginary geography. The journey supposedly takes two days. […] When [the passengers] leave Tonto at the outset of the journey they enter Monument Valley. Yet when Ringo and Dallas drive out of Lordsburg together in the final shot, they are still recognisably in Monument Valley. Sometimes virtually the same shot is used at widely separated parts of the narrative«.
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die fremdartige Erhabenheit einer Landschaft heraus, deren kinematographische Darstellung zur damaligen Zeit noch als Neuheit empfunden wurde; andererseits dient jene Landschaft aber auch als Gegenstand einer »organischen Repräsentation«, so dass sich der glatte Raum der Wüste in das virtuelle Objekt einer nationalen Inbesitznahme und Einkerbung verwandelt. Die organische Zusammengehörigkeit von Gemeinschaft und Land, deren Einheit der allesumgreifende Himmel bewerkstelligt, wird lediglich durch den Angriff der Indianer gestört, der keine Ursache zu haben scheint und einer bloßen Naturkatastrophe ähnelt. Schon die Rauchzeichen der Indianer stören die Eintracht von Himmel, Land und Gemeinschaft – und ihr plötzlicher Angriff kommt einem Sturm gleich, der erst durch das (ebenso plötzliche) Eingreifen der Kavallerie gebändigt wird. Dass die Indianer als Kräfte des Außen fungieren, für die im Innern der Gemeinschaft kein Platz ist, verdeutlicht bereits die Signalwirkung der typischen »Indian Music« (Gorbman 2001, 182), die das harmonisch abgestimmte Leitmotiv (eine Orchesterversion des Klassikers »O Bury Me Not On the Lone Prairie«) immer wieder bedrohlich konterkariert.38 Was die Darstellung der Gemeinschaft betrifft, so macht sich hier jener sozialkritische »Populismus« bemerkbar, der für Ford – zumindest in den 1930er und 1940er Jahren – charakteristisch ist. So stellen die Reisenden in der Postkutsche eine bunte Mischung amerikanischer »Typen« dar, wobei sich die Außenseiter (die selbsternannten dregs) als wesentlich tatkräftiger und solidarischer präsentieren als die Vertreter der polite society. In diesem Sinne wird z.B. die Prostituierte als selbstlos, mitfühlend und hilfsbereit dargestellt, und der Alkoholiker entpuppt sich als pflichtbewusster Mann, der – als es darauf ankommt – seine frühere Tätigkeit als Arzt verantwortungsvoll auszuüben versteht. Der Bankier Gatewood hingegen wird als engstirniger und vollkommen auf sich selbst fixierter Betrüger charakterisiert, der zudem mit chauvinistischen und marktliberalen Thesen aufwartet, die spürbar gegen den vorherrschenden Geist des New Deal gerichtet sind (»What’s good for the banks is good for the country«; »The government must not interfere with business«; »America for Americans« usw.).39 Trotz unsympathischer oder zwielichtiger Charaktere wie 38 Vgl. Gorbman 2001, 181: »[T]he Indian in 1930s westerns was a threat to the white hero, and the music playing behind him was de rigueur stereotypical. The score of John Ford’s Stagecoach […] is a locus classicus of Indian music in the pre-World War II sound western, and demonstrates how such music functioned as an efficient narrative cue«. 39 Auch wenn Ford im Alter zunehmend konservativ wurde, verstand er sich in den 1930er und frühen 1940er Jahren zweifellos als »man of the left« (Buscombe 1993, 32) und sympathisierte mit Roosevelts New Deal. Dies zeigt sich mitunter auch in seinen Filmen, so etwa – nur ein Jahr nach Stagecoach – in seiner Verfilmung von Steinbecks The Grapes of Wrath (1940). Allerdings hat Peter Lehman bemerkt, dass es bei Ford so gut wie nie zu einer strukturellen Kritik am Kapitalismus kommt und der amerikanische Westen fortlaufend idealisiert wird: »For Ford the West is won by families who care not for money but for the land, and by the cavalry that selflessly fights to protect those settlers on the land«. Kritik am Kapitalismus äußert sich daher allenfalls am Beispiel einzelner Charaktere wie Gatewood, die aber nicht die generellen ökonomischen Bedingungen des Westens verkörpern, sondern ihre persönliche Gier: »To redeploy the cliché about the vanishing West in the Western genre, it could be said that it is not only the West that vanishes in Ford’s films, but also the true nature of capitalism« (Lehman 2001, 150).
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Gatewood und Hatfield dominiert in Stagecoach jedoch ein prinzipiell positives Bild der Gemeinschaft, wobei sich die Handlung des Films als Aktualisierungsprozess verstehen lässt, in dessen Verlauf es zur Konstitution eines demokratischen Kollektivs kommt, das seinen Helden autorisiert und sich seiner unbrauchbaren Elemente entledigt: Gatewood, der in Tonto die Bank geplündert hat, wird in Lordsburg verhaftet; und Hatfield – Repräsentant einer undemokratischen Südstaatenaristokratie – fällt dem Angriff der Apachen zum Opfer (vgl. Buscombe 1993, 51). Wie so oft bei Ford entfaltet sich der Aktualisierungsprozess der Gemeinschaft im Zuge von »intensiven Momenten kollektiven Lebens« (BB 199), wobei es im Falle von Stagecoach besonders die unerwartete Geburt des Kindes von Lucy Mallory ist, durch die die »guten« Elemente der Gemeinschaft zu solidarischer Kooperation gebracht werden. Das Motiv der Geburt ist darüber hinaus von entscheidender symbolischer Bedeutung und exemplifiziert das utopische Element des »Anfangs« oder »Neuanfangs«, das nicht nur – wie Hannah Arendt gezeigt hat – auf die Amerikanische Revolution verweist (vgl. Arendt 1994, 262-276), sondern zugleich im Mythos des amerikanischen Traums weiterexistiert.40 Zudem deutet die Szene direktermaßen auf die Geburt (oder Wiedergeburt) des demokratischen Kollektivs selbst hin, das sich unter den Bedingungen einer äußeren Bedrohung – und trotz seiner inneren Heterogenität – als intakter Organismus erweist. Fords Postkutsche fungiert somit quasi als Mikromodell der Nation, welches das Grundprinzip der amerikanischen Demokratie veranschaulicht: dass nämlich ausgehend von einer ursprünglichen Verschiedenartigkeit eine funktionierende Einheit entstehen muss (E pluribus unum). So ist es zwar primär der Held, der die Gemeinschaft und ihre Werte durch sein heroisches Handeln repräsentiert; zugleich ist dieser jedoch – und zwar trotz seines Individua40 Wenn sich Fords Kino als »Kino des amerikanischen Traums« darstellt, dann allerdings nicht im Sinne einer naiven Verklärung der Wirklichkeit. Wie sich besonders anhand späterer Filme wie Fort Apache (1948) oder The Man Who Shot Liberty Valance (1962) zeigen lässt, werden die Illusionen und Mythen bei Ford oftmals eindeutig als solche kenntlich gemacht, letztlich aber dennoch affirmiert. Hierzu erklärt Fluck: »For Ford, myths may distort historical facts and can thus, strictly speaking, be called fictions or even a tissue of lies; and yet, we need them because they are able to create positive versions of national or regional identity« (Fluck 2009, 472). Ähnlich bemerkt Deleuze, dass die Fähigkeit, »gewisse Illusionen« über sich selbst zu hegen, für Ford »einen wichtigen Unterschied zwischen einem gesunden und einem pathogenen Milieu« darstellt: »Jack London hat in bewundernswerter Weise gezeigt, daß die Alkoholikergemeinschaft sich letztlich keine Illusionen über sich macht. Der Alkohol, weit davon entfernt, einen träumen zu lassen, ›verwehrt dem Träumer das Träumen‹. Seine Wirkung ähnelt derjenigen der ›reinen Vernunft‹, die uns davon überzeugt, daß das Leben ein Mummenschanz, die Gemeinschaft ein Dschungel, das Leben Verzweiflung ist (daher der Spott der Alkoholiker). Das gleiche könnte man von kriminellen Gemeinschaften sagen. Dagegen ist eine Gemeinschaft als gesund zu bezeichnen, solange eine Art Konsensus herrscht, der es ihr erlaubt, sich Illusionen über sich, die Motive ihres Bestehens, ihre Wünsche und Begehrlichkeiten, ihre Werte und Ideale zu machen: ›lebensnotwendige‹ Illusionen, realistische Illusionen, die wahrer sind als die reine Wahrheit. Das ist auch Fords Standpunkt […]. Man wird dem amerikanischen Traum nicht vorwerfen können, bloß ein Traum zu sein: gerade das will er ja sein, und daher bezieht er seine Kraft« (BB 202).
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lismus, der ihn überhaupt erst zur Tat befähigt – organisch auf die Gemeinschaft bezogen, wodurch er sich »als ebenso kollektive wie individuelle Gestalt« manifestiert (BB 194). »Der Held braucht tatsächlich ein Volk«, schreibt Deleuze, »eine elementare Bezugsgruppe, die ihn trägt, aber auch eine weniger einheitliche und begrenztere Gruppe von potentiellen Helfern, auf die er trifft« (210). Diese organische Eintracht von Held und Gemeinschaft wird am Ende von Stagecoach dadurch besiegelt, dass Marshal Curly sich schließlich einsichtig zeigt und Ringo laufen lässt. Stagecoach wird auch deshalb als Meilenstein angesehen, da der Film den Auftakt zu einer Reihe weiterer Ford-Westerns bildet, die heute fast allesamt als »klassisch« gelten. Ford wird sein Modell in späteren Filmen verschiedentlich variieren, gelegentlich aber auch in wesentlichen Punkten von ihm abweichen.41 In dieser Hinsicht sind vor allem die Filme The Searchers (1956), The Man Who Shot Liberty Valance (1962) und Cheyenne Autumn (1964) bedeutsam, da sie – wie noch gezeigt wird – als Vorläufer sämtlicher Richtungen des revisionistischen Westerns gelten können, den sie in punkto Komplexität bisweilen sogar übertreffen. Mit Stagecoach hat Ford allerdings ein klassisches Westernepos geschaffen, das nicht nur die amerikanische Nationalmythologie, sondern auch die »große Form« des Aktionsbildes verkörpert. Wie auf den vorangehenden Seiten dargelegt wurde, beinhaltet diese ein sensomotorisches Schema, das gemäß der »spiralförmigen« Struktur SAS’ verfährt; ein lineares Handlungsmodell, das auf ein zentrales Duell (oder wie in diesem Fall auf zwei Duelle, A1 und A2) hinausläuft; eine organische Konzeption von Held und Gemeinschaft, Gemeinschaft und Land; eine Art der Parallelmontage, die dazu dient, die zentralen Gruppen voneinander zu trennen; und nicht zuletzt eine Kommensurabilität von Bild und Ton, durch die jene Montagekonzeption eine akustische Verlängerung erfährt. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass dieses Bildmodell in vielen Punkten auch noch nach dem Krieg und speziell in High Noon zur Anwendung kommt, dass sich zugleich jedoch etwas Entscheidendes verändert hat. High Noon steht daher einerseits für die andauernde Attraktivität des Aktionsbildes, bricht aber andererseits mit der organischen Konzeption von Stagecoach und kündigt somit eine wesentliche Mutation des Genres an.
2.4 »D AS V OLK
FEHLT «:
F RED Z INNEMANNS H IGH N OON
Der Plot von High Noon ist schnell erzählt und denkbar simpel: Direkt im Anschluss an seine Hochzeit mit der Quäkerin Amy Foster (Grace Kelly) erfährt Will Kane 41 Ob sich jene Abweichungen auch als Bruch mit dem Modell des Aktionsbildes verstehen lassen, muss an dieser Stelle offenbleiben. Freilich beinhaltet aber selbst Stagecoach schon gewisse Aspekte, die dem Kino des Aktionsbildes tendenziell entgegenstehen. So handelt es sich etwa bei der Großaufnahme von Lucy Mallorys Gesicht, das während des Angriffs der Apachen zu sehen ist, um ein reines Affektbild, das keine subjektive Emotion, sondern einen »qualitativen Sprung« (BB 129) anzeigt (nämlich das bevorstehende Eingreifen der Kavallerie). Wenn Deleuze deutlich macht, dass kein Film »nur aus einer Art von Bildern« besteht (102), dann gilt dies folglich auch für Stagecoach. Zugleich entspricht die Grundstruktur des Films jedoch eindeutig dem Modell des Aktionsbildes, auf das in der Regel auch seine abweichenden Teile noch bezogen sind (z.B. dient das genannte Affektbild als Übergang zu einer Aktion, die die Situation S1 entscheidend verändern wird).
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(Gary Cooper), scheidender Marshal der Stadt Hadleyville, dass der Bandit Frank Miller begnadigt wurde und auf dem Weg in die Stadt ist. Kane hatte Miller fünf Jahre zuvor ins Gefängnis gebracht, weshalb sich dieser nun offenbar rächen will. Aus Liebe zu seiner Frau, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen jede Gewalt ablehnt, wollte Kane sein Amt eigentlich niederlegen und Hadleyville mit ihr verlassen. Nach anfänglichem Zögern (und gegen den Willen seiner Frau) entscheidet er sich nun jedoch zu bleiben, um Millers Ankunft mit dem 12-Uhr-Zug abzuwarten. Da der Versuch, Unterstützung für das drohende Duell zu finden, scheitert – denn abgesehen von einem Krüppel und einem kleinen Jungen erklärt sich niemand bereit, ihm zu helfen –, macht Kane sich schließlich allein auf, um Miller und seine Kumpanen auszuschalten. Obwohl sich die Banditen deutlich in der Überzahl befinden, geht Kane aus dem Duell als Sieger hervor, da ihm seine Frau zu Hilfe kommt, die eigentlich abreisen wollte und bereits im Zug saß. Als sie allerdings die ersten Schüsse hört, eilt sie zurück in die Stadt und schießt – entgegen ihren religiösen Überzeugungen – einem der Banditen in den Rücken. Nach dem Duell strömt das Volk auf die Straße, Kane wirft seinen Marshalstern angewidert zu Boden und verlässt wortlos mit seiner Frau die Stadt. Oberflächlich betrachtet mag es zunächst so erscheinen, als wäre High Noon dem klassischen Modell des Aktionsbildes sogar noch stärker verhaftet als Fords Stagecoach. So ist die Handlung linear auf das angekündigte Duell zugeschnitten und verfährt streng nach dem Schema SAS bzw. SAS’, wobei Kane zweifellos als Held fungiert und im Zentrum des Films und der Handlung steht. Die Situation – die Ankunft des auf Rache sinnenden Banditen Frank Miller – artikuliert sich gleich zu Beginn des Films in unmissverständlicher Klarheit, so dass die Rolle des Zuschauers im Wesentlichen darin besteht, den Helden bei seinen Bemühungen zu begleiten, »zur Tat fähig zu werden«. Dass die gesamte Handlung auf das zentrale Duell um zwölf Uhr mittags hinausläuft, wird zudem durch die eigentümliche temporale Struktur des Films unterstrichen, der weitgehend in Echtzeit verläuft (d.h. eine Minute im Film entspricht jeweils ca. einer Minute, die der Zuschauer vor der Leinwand verbringt).42 Im Verbund mit der dynamischen Filmmusik Dimitri Tiomkins steigert das gefühlte Ticken der Uhr somit die Spannung und festigt zugleich die sensomotorischen Verbindungen. Dabei existiert zwischen Situation und Aktion allerdings ein großer Abstand, was Deleuze zufolge charakteristisch für viele Westernfilme ist: »zwischen der Situation und der zukünftigen Handlung muß ein großer Abstand vorhanden sein, ein Abstand, der nur dazu da ist, um überbrückt zu werden und zwar durch einen Prozeß, der von Rückschlägen und Fortschritten gekennzeichnet ist« (BB 211). Zwar könne man »sich durchaus eine Situation vorstellen, die sich unmittelbar in ein Duell verwandelt«; dies jedoch wäre »komisch« (209), wohingegen sich High Noon – ganz im Gegenteil – als »ernst bis ins Mark« darstellt (Prinzler 2003, 158). Während Figuren wie Doc Boone oder Buck in Stagecoach für einen insgesamt heiteren Ton sorgen, fehlen derartige Charaktere in High Noon völlig. In Zinnemanns Film herrscht nicht nur ein ernsthafterer Ton und ein geradezu existentielles Pathos vor, sondern auch – verstärkt durch die affektive Wirkung der Echtzeitinszenierung – eine fortwährende Anspannung, die selbst noch das erfolgreich absolvierte Duell zu überdauern scheint. 42 High Noon kann in dieser Hinsicht als Vorläufer von Formaten wie der TV-Serie 24 gelten, in der das Prinzip der Echtzeitsimulation noch deutlich perfektioniert wird.
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Dieser andere Ton ist indes nicht der einzige Aspekt, durch den sich High Noon von Stagecoach unterscheidet. Als der Film 1952 in die Kinos kam, wurde er von Beginn an kontrovers diskutiert: Während ihn einerseits viele Kommentatoren als kunstvollen »Edelwestern« priesen, der die wesentlichen Zutaten des Genres auf elegante Weise neu zusammensetze, wurde ihm andererseits Unaufrichtigkeit, Intellektualismus und eine gekünstelte Herangehensweise an das Genre vorgeworfen.43 Bazin etwa ordnet High Noon der Kategorie des »Über-Westerns« zu, der im Kontext der Nachkriegszeit und der 1950er Jahre »den Gegensatz zur Klassik der Jahre um 1940« bilde: »Sagen wir, der ›Über-Western‹ ist ein Western, der sich schämt, nur er selbst zu sein, und versucht, seine Existenz durch ein zusätzliches Interesse ästhetischer, soziologischer, moralischer, psychologischer, politischer oder erotischer Art zu rechtfertigen, kurz: durch einen dem Genre äußerlichen Wert, von dem man annimmt, er bereichere es« (Bazin 2009d, 269).44 Bazin wirft dem Über-Western somit vor, das Genre auf künstliche Weise intellektuell und ästhetisch zu überformen, so dass die »naive Größe« (Bazin 2009c, 264), die noch den klassischen Western ausgezeichnet habe, verloren zu gehen drohe. Sein Urteil über High Noon fällt daher insgesamt durchwachsen aus: »Ich gehöre nicht zu denen, die bei High Noon ins Schwärmen geraten. Ich finde, er ist ein schöner Film, und ich ziehe ihn auf jeden Fall Stevens’ Shane vor. Aber sicher ist, daß das sehr geschickte Drehbuch von Carl Foreman versucht, eine Geschichte, die auch in einem anderen Genre gut hätte entfaltet werden können, mit einem klassischen Westernthema zur Deckung zu bringen. Das heißt, er behandelt dieses wie eine Form, die einen Inhalt braucht.« (Bazin 2009d, 270)
Während Bazin seine Vorbehalte gegenüber High Noon in erster Linie ästhetisch und genrespezifisch begründet, stehen die Reaktionen anderer Kritiker des Films in unmittelbarem Zusammenhang mit dem politischen Kontext des Kalten Krieges. In dieser Hinsicht charakteristisch sind etwa die Äußerungen von John Wayne und Howard Hawks, die Ende der 1950er Jahre mit dem Western Rio Bravo (1959) – bei dem Hawks Regie führt und Wayne die Hauptrolle besetzt – eine direkte »Antwort« auf High Noon präsentieren. Hierzu erläutert Hawks: »Rio Bravo was made because I didn’t like a picture called High Noon. I saw High Noon […] and we were talking about western pictures, and they asked me if I liked it, and I said, ›Not particularly‹. I didn’t think a good sheriff was going to go running around town like a chicken with his head off asking for help, and finally his Quaker wife had to save him. That isn’t my idea of a good western sheriff.« (McBride 1982, 130) 43 Hierbei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass es sich bei High Noon um Zinnemanns einzigen Western handelt. So bemerkt etwa Richard Combs, dass der Film nicht nur von puristischen Kommentatoren à la Robert Warshow abgelehnt wurde (vgl. Warshow 1954), sondern auch von »auteurist critics, who felt the genre really belonged to its regular practitioners (Ford, Hawks) and not to visitors like […] Zinnemann, Foreman and Kramer, who seemed to be trying to haul it into middlebrow respectability« (Combs 1998, 169). 44 Als Beispiele für die Kategorie des »Über-Westerns« nennt Bazin neben High Noon vor allem King Vidors Duel in the Sun (1946) und George Stevens’ Shane (1953).
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Hawks hat stets betont, dass er sich als unpolitischen Regisseur versteht, dem primär daran gelegen ist, seine Zuschauer zu unterhalten.45 Zudem ist Hawks bekannt dafür, in vielen seiner Filme die Umkehrbarkeit der Geschlechterrollen zu demonstrieren – so etwa in Bringing Up Baby (1938) oder I Was a Male War Bride (1949), wo Cary Grant jeweils ein die Geschlechtergrenzen überschreitendes crossdressing praktiziert und vorübergehend die Rolle der Frau einnimmt.46 Gleichwohl steht im Zentrum von Hawks’ Filmen fast immer die Männerfreundschaft und das Thema des male bonding, wobei gerade seine Westernfilme von einem maskulinen Heroismus geprägt sind, der schon in Red River (1948) zum Ausdruck kommt.47 Was Hawks daher an High Noon missfiel, war einerseits die fehlende männliche Solidarität der Stadtbewohner, vor allem aber der vermeintlich mangelnde Heroismus Kanes (»running around town like a chicken with his head off asking for help«). Besonders der letzte Punkt wirkt geradezu widersinnig, wenn man ihn auf die eigentliche Aussage des Films bezieht, der den heroischen Individualismus des Marshals keinesfalls in Zweifel zieht, sondern vielmehr untermauert. Für Stephen McVeigh dient Hawks’ Statement daher als Illustration der »hysterischen« Kultur des Kalten Krieges: Obwohl Kane nämlich der Konfrontation mit dem outlaw Miller gerade nicht aus dem Weg geht und diesen am Ende besiegt, sieht Hawks den Mythos vom stets triumphalen Frontierhelden in Frage gestellt. Im Kontext der paranoiden Atmosphäre des McCarthyismus mag Hawks’ Bemerkung somit in der Tat die tiefgreifende Angst vor einer möglichen »Subversion« widerspiegeln, die zum Zeitpunkt von High Noon in erster Linie auf den Kommunismus bezogen war (vgl. McVeigh 2007, 99). Politisch wesentlich expliziter als Hawks hat sich freilich John Wayne geäußert, der damals als Präsident der rechtskonservativen »Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideals« fungierte. An High Noon kritisiert Wayne – ähnlich wie Hawks – die Darstellung fehlender gemeinschaftlicher Solidarität, die er ferner als expliziten Ausdruck einer »unamerikanischen« Haltung wertet: »[F]our guys come in to gun down the sheriff. He goes to the church and asks for help and the guys go, ›Oh well, oh gee‹. And the women stand up and say, ›You’re rats…‹. So Cooper goes out alone. It’s the most un-American thing I’ve ever seen in my whole life. The last thing in the
45 Vgl. McBride 1982, 154: »I’ve never made a statement. Our job is to make entertainment. I don’t give a God damn about taking sides«. 46 Deleuze, der das Kino von Hawks mit der »kleinen Form« des Aktionsbildes verbindet, spricht diesbezüglich von einem reinen Funktionalismus, der »tendenziell die umgreifende Struktur« ersetzt: »Von daher erklärt sich auch der beständig wirksame Mechanismus der Umkehrung bei Hawks, der ganz offen und unabhängig von einem symbolischen Hintergrund abläuft […]. Wenn Innen und Außen reine Funktionen sind, dann kann das Innen auch die Funktion des Außen übernehmen; auch die Frau kann die Rolle des Mannes bei der Verführung übernehmen, oder der Mann die der Frau« (BB 224-225). 47 Vgl. McBride 1982, 139: »I’m much more interested in the story of a friendship between two men than I am about a range war or something like that. There’s probably no stronger emotion than friendship between men«. Zu Hawks’ Ideal von »heroic masculinity«, vgl. Girgus 1998, 108-154. Allgemein zur Frage der Geschlechterverhältnisse im Westernfilm, vgl. Tompkins 1992 und Mitchell 1996.
264 | K ULTURELLE K OMPLEXITÄT picture is old Coop putting the United States marshal’s badge under his foot and stepping on it.« (Zit. aus Whitfield 1996, 148-149)
Besonders die Schlussszene des Films, in der Kane seinen Marshalstern vor der versammelten Menge wortlos zu Boden wirft, scheint Wayne demnach als subversive Provokation empfunden zu haben: »That was like belittling a Medal of Honor« (148). Bezeichnend für den »hysterischen« Charakter der Kultur des Kalten Krieges ist dabei, dass Wayne das Ende des Films falsch wiedergibt. Denn zwar wirft Kane seinen Marshalstern tatsächlich zu Boden, doch ist es keinesfalls so, dass er ihn mit Füßen tritt. Waynes Statement kann somit – deutlich expliziter noch als die Aussage von Hawks – als hysterisches Symptom einer kulturellen Paranoia gelesen werden, ohne die die politische Kontroverse um High Noon vermutlich niemals entbrannt wäre.48 Beigetragen zu jener Kontroverse hat zweifellos auch die Personalie Carl Foreman, der für das Drehbuch des Films verantwortlich war und auf der sogenannten blacklist landete, da er als ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei vor dem House Un-American Activities Committee (HUAC) aussagen sollte, aber nicht kooperierte: Foreman nannte keine Namen, sondern machte von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch, was schließlich dazu führte, dass er in Hollywood keine Arbeit mehr fand und nach England ins Exil ging. John Wayne brüstete sich seinerseits noch viele Jahre später damit, dazu beigetragen zu haben, dass Foreman die USA verlassen musste.49 Um nun das Verhältnis von Held und Gemeinschaft in High Noon noch genauer charakterisieren zu können, macht es Sinn, den Film im Kontext der soziologischen Diskurse der damaligen Zeit zu betrachten. Während sich die kritischen Intellektuellen der 1930er Jahre nämlich noch in erster Linie mit Fragen der ökonomischen Ungleichheit befassten und die kapitalistische Ausbeutung anprangerten (was sich in Stagecoach etwa an der Darstellung Gatewoods zeigt), kam es in den 1950er Jahren zu einer wesentlichen Verschiebung. Statt exploitation wurde nun conformity zum privilegierten Gegenstand einer populären Gesellschaftskritik, die sich Themen wie der Massengesellschaft, Anpassung, sozialem Konformismus und der konsumorientierten Kultur der amerikanischen Mittelklasse widmete. Diese Entwicklung, die sich anhand solch einflussreicher Studien wie David Riesmans The Lonely Crowd (1950), C. Wright Mills’ White Collar (1951), Erich Fromms The Sane Society (1955), Wil48 Wie Richard Hofstadter gezeigt hat, lässt sich der paranoide Antikommunismus McCarthys als Aktualisierung eines spezifischen »Stils« begreifen, der weit in die amerikanische Geschichte zurückreicht. Vgl. Hofstadter 2008, 3-4: »[The paranoid style] is a style of mind […] that has a long and varied history. I call it the paranoid style simply because no other word adequately evokes the qualities of heated exaggeration, suspiciousness, and conspiratorial fantasy that I have in mind […]. When I speak of the paranoid style, I use the term much as a historian of art might speak of the baroque or the mannerist style. It is, above all, a way of seeing the world and of expressing oneself«. 49 Paradoxerweise hat Wayne zugleich jedoch behauptet, eine blacklist habe niemals existiert. Vgl. hierzu Whitfield 1996, 149: »›I’ll never regret having helped run Foreman out of this country‹, [Wayne] bragged in a 1971 interview, a claim that was quickly, partially retracted, since [he] insisted – despite overwhelming evidence to the contrary – that ›there was no blacklist at that time, as some people said‹«.
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liam H. Whytes The Organization Man (1956), Erving Goffmans Asylums (1961) und noch Herbert Marcuses One-Dimensional Man (1964) veranschaulichen lässt, markiert also insofern einen Wendepunkt, als in den geläufigen Spielarten der Sozialtheorie nun nicht mehr primär ökonomisch argumentiert wurde, sondern das Feld der Kultur in den Fokus rückte.50 Und was die amerikanische Gesellschaft der 1950er Jahre in den Augen vieler Intellektueller auszeichnete, war eine Kultur des Konformismus, die durch den paranoiden Antikommunismus McCarthys, die Angst vor einem bevorstehenden Atomkrieg, den konsensorientierten Konservatismus Eisenhowers, die neue Rolle der Massenmedien sowie den zunehmenden gesellschaftlichen Einfluss einer auf Status und Konsum fixierten Mittelklasse begünstigt wurde. In diesem Sinne stellt sich die Stadt Hadleyville in High Noon auf geradezu idealtypische Weise als Ort einer von Unsicherheit, Konformismus, Feigheit und Angst geprägten Bevölkerung dar, die sich – in den Worten David Riesmans – als Ansammlung »außengeleiteter« Charaktertypen entpuppt.51 Ganz im Gegensatz zu Ringos Rolle in Stagecoach stellt sich Kanes heroischer Individualismus somit nicht als Verkörperung der rechtschaffenen Potentialität eines demokratischen Volkes dar, das den Held »trägt« und organisch auf ihn bezogen ist; vielmehr wird der Held hier zu seinem Heroismus gezwungen, da die Gemeinschaft aktive Hilfe und Solidarität vermissen lässt. Während Ringo also am Rand der Gemeinschaft steht, ihre Bestimmung aber nichtsdestotrotz am adäquatesten auszudrücken vermag, kommt Marshal Kane aus ihrer Mitte, wird jedoch zum Einzelkämpfer, da das demokratische Wertesystem, das er anstelle der Gemeinschaft gegen deren Feinde verteidigt, von dieser nur noch als leere Form (und nicht mehr als Ausdruck eines kollektiven Begehrens) begriffen wird.52 Für High Noon gilt daher, was Deleuze im zweiten Band seiner Kinostudie 50 Zu dieser allgemeinen Entwicklung der 1950er und frühen 1960er Jahre (die nicht nur in den genannten Studien der Gesellschaftstheorie zum Ausdruck kommt, sondern ebenso in der Literatur, der Kunst und dem Film), vgl. auch Schleusener 2006 und 2013. 51 Riesman verortet den außengeleiteten Charaktertypen in der »neuen« amerikanischen Mittelklasse und unterscheidet ihn sowohl vom innengeleiteten als auch vom traditionsgeleiteten Typus. Vgl. Riesman 1953, 9: »[T]he society of insipient population decline develops in its typical members a social character whose conformity is insured by their tendency to be sensitized to the expectations and preferences of others. These I shall term other-directed people and the society in which they live one dependent on other-direction«. Zu den Parallelen zwischen Riesmans The Lonely Crowd und High Noon, vgl. Girgus 1998, 142-144 und McVeigh 2007, 111-113. 52 Gerade deshalb ist es jedoch abwegig, die Figur Kanes mit Eisenhower gleichzusetzen, wie es von verschiedenen Autoren vorgeschlagen wird (vgl. McVeigh 2007, 106-109 und Girgus 1998, 139-140). Denn für den Riss, der zwischen Kanes heroischem Individualismus und dem Konformismus der Masse verläuft, existiert mit Blick auf die Präsidentschaft Eisenhowers keine vergleichbare Analogie. So lässt sich der Kriegsheld Eisenhower auch keinesfalls als Einzelkämpfer begreifen, der der konformistischen Tendenz der 1950er Jahre entgegensteht, da er vielmehr als perfekte Verkörperung jenes majoritären »Konsenses« fungiert, dessen organische Repräsentation High Noon in Frage stellt. In diesem Sinne betreibt der Film durchaus »Gesellschaftskritik«, die aber – hierfür spricht auch sein ausgeprägter Antipopulismus – gerade nicht auf sozialistischen oder kommunistischen Idealen beruht (vgl. Whitfield 1996, 147-148). Stattdessen macht der Film einen maskulinen Indi-
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bezüglich der strukturellen Voraussetzungen des »modernen politischen Kinos« formuliert hat: »das Volk fehlt« (ZB 279). Wie bereits im ersten Teil der Studie erläutert wurde, behandelt Deleuze die Figur des fehlenden Volkes vor allem in Bezug auf das minoritäre Kino »postkolonialer« Regisseure wie Glauber Rocha, Ousmane Sembene oder Youssef Chahine. Denn angesichts einer durch Armut, Kolonialismus, ethnische Spannungen, Krieg und Analphabetismus gespaltenen und vielfach traumatisierten Bevölkerung, stellt es für jene Regisseure eine faktische Unmöglichkeit dar, in ihren Filmen von der Existenz eines bereits konstituierten Volkes auszugehen. Dabei bedeutet die »Feststellung eines fehlenden Volkes […] keine Absage ans politische Kino, sondern bildet im Gegenteil das neue Fundament, auf dem es sich von nun an in der Dritten Welt und den Minoritäten errichtet« (280). Laut Deleuze geht es dem minoritären Third Cinema weder um den »Mythos eines vergangenen Volkes« (287) noch einfach um die Repräsentation der prekären Gegenwart, sondern vielmehr um die Fabulation und Erfindung eines zukünftigen Volkes. Das fehlende Volk verkörpert demnach einen objektiven Mangel, verweist aber zugleich auf »eine Zukunft« (280), die das Kino den desolaten Bedingungen des Alltagslebens stets aufs Neue abzuringen hat. Auch wenn die Figur des »fehlenden Volkes« ihre spezifischste Gestalt somit im Third Cinema realisiert, weist Deleuze darauf hin, dass nach dem Zweiten Weltkrieg auch im amerikanischen Film registriert werden kann, wie die Existenz eines vereinten Volkes zunehmend in Frage steht. Denn während das Volk im klassischen Hollywoodkino gemeinhin als einmütige Figur präsentiert wird – »sei es auf dem Tiefpunkt seines Elends, sei es auf dem Höhepunkt seiner Hoffnung« (ZB 278) –, macht sich nach dem Krieg eine relative Zerrüttung bemerkbar, die auch den Western betrifft. So macht Deleuze noch bei Ford ein »Gemeinschaftsgefühl« aus, das von der Existenz eines Volkes »in seinen Schicksalsprüfungen, seinen Schicksalsbewältigungen und Selbstfindungen« zeugt (278). Im »Neo-Western« der Nachkriegsjahre hingegen kommt vielfach eine »Zersetzung des amerikanischen Volkes« zum Ausdruck, »das sich nicht mehr als Schmelztiegel vergangener Völker empfand, aber genausowenig als Keim eines künftigen Volkes« (279).53 Am Beispiel von Stagecoach und High Noon lässt sich diese Entwicklung auf anschauliche Weise verdeutlichen: Das Volk in Stagecoach ist durchweg präsent, insofern es durch das gemeinsame Zusammenwirken nationalspezifischer »Typen« eine kinematographische Repräsentation erfährt, die mit einem idealtypischen Modell der demokratischen Gemeinschaft korrespondiert. Zwar durchlebt das Volk bei Ford stets Krisen und Prüfungen, doch steht seine Existenz nie in Frage. Ganz anders in High Noon: Hier existiert das Volk allenfalls als Ansammlung charakterschwacher Individuen, die kein gemeinsames Wertesystem mehr verkörpern, sondern nur mehr durch Angst und den Willen zur Anpasvidualismus geltend und bezieht seine kritische Haltung somit ganz wesentlich aus dem Mainstream der amerikanischen Tradition selbst. 53 Der Begriff des »Neo-Westerns« wird von Deleuze auf eher unspezifische Weise verwendet, meint jedoch primär eine revisionistische Abweichung vom »organischen« Modell des klassischen Westerns im Sinne der »kleinen Form« des Aktionsbildes (vgl. BB 225-228 sowie den folgenden Abschnitt der vorliegenden Studie, in dem der Begriff noch genauer erläutert wird). Als Vertreter des »Neo-Westerns« verweist Deleuze u.a. auf Arthur Penn, Budd Boetticher, Anthony Mann und Sam Peckinpah.
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sung geleitet sind. Zwar werden die Motive derjenigen, die Kane ihre Hilfe verweigern, z.T. als durchaus nachvollziehbar präsentiert; in der Summe jedoch wirken die Argumente wie billige Ausflüchte, die auf einen Mangel an Prinzipienfestigkeit und Solidarität schließen lassen, welcher dem klassischen Idealbild der Frontiermentalität radikal entgegensteht. Während einige der Einwohner offen mit dem Banditen Miller sympathisieren und ihre Ablehnung Kanes zum Ausdruck bringen, wird von anderen mehrfach betont, dass man Kane – der »Recht und Gesetz« nach Hadleyville gebracht habe – viel verdanken würde. Doch trotz jener prinzipiellen Sympathie und Dankbarkeit für den Marshal, steht diesem (außer seiner Ehefrau) niemand aktiv zur Seite.54 Wie Stephen McVeigh erläutert, verhält sich die Mehrheit weitgehend indifferent zu der Frage, ob Kane oder Miller aus dem Duell als Sieger hervorgeht: »The town of Hadleyville as a society seems prepared for nothing more or less than autocratic control. They do not want Kane to stay and fight, but neither do they want to involve themselves in pushing him out, and although the thought of Miller returning fills many of them with dread, they are prepared to suffer his authority and its inevitable consequences rather than act. Whatever the outcome of the Kane/Miller showdown, they are allowing the will of one man to rule over the majority.« (McVeigh 2007, 101)
Am Ende des Films überlässt Kane die Bewohner Hadleyvilles jedoch sich selbst und verlässt mit seiner Frau die Stadt. Die finale Geste Kanes, der seinen Marshalstern vor der versammelten Menge in den Schmutz wirft, macht dabei umso mehr deutlich, dass die organische Verbindung zwischen Held und Gemeinschaft, die noch in Stagecoach von konstitutiver Bedeutung ist, in High Noon keinen Bestand mehr hat. Dieses Scheitern der organischen Repräsentation macht sich auch noch in anderer Hinsicht bemerkbar. So fällt auf, dass es in High Noon so gut wie keine Indianer gibt, keinen weiten Himmel und keinen offenen Horizont.55 Das epische Element, welches in Stagecoach durch die erhabene Kulisse des Monument Valley verkörpert wird, fehlt in High Noon völlig, d.h. genauso wie der Held nicht mehr von der Gemein54 Die einzigen, die Kane ihre aktive Unterstützung anbieten, sind ein kleiner Junge und ein humpelnder, alter Trinker. In beiden Fällen weist Kane die angebotene Hilfe jedoch zurück, worauf sich Hawks offenkundig in Rio Bravo bezieht. Hier nämlich lehnt der Sheriff fortwährend die Hilfe anderer ab, kann sich aber auf die Unterstützung durch seine drei Deputys verlassen, bei denen es sich – freilich nicht zufällig – um einen Alkoholiker, einen Teenager und einen humpelnden alten Kauz handelt (vgl. Wood 1998). 55 Bayertz ist daher der Ansicht, dass der Kampf gegen die »äußeren Widrigkeiten« in High Noon bereits abgeschlossen ist, der Kampf für »Recht und Ordnung« jedoch weitergeht. Vgl. Bayertz 2004, 14: »Manchmal stehen die äußeren Widrigkeiten stark im Vordergrund; sie können aber auch vollkommen marginal sein. Die freie Natur entfällt dann als Schauplatz der Handlung; das Geschehen spielt sich ganz im innerstädtischen Bereich ab: Wir sehen staubige Straßen, ein karges Sheriffbüro, den Saloon oder das Innere der Kirche. High Noon ist das bekanntes[te] Beispiel für diesen Typus: Bis auf einige marginale Szenen kommen Natur und Landschaft nicht vor, die gesamte Handlung vollzieht sich in den Gebäuden und auf den Straßen von Hadleyville. Die Natur ist hier bereits gezähmt (der Ort ist Eisenbahnstation), aber der Kampf für Recht und Ordnung ist noch nicht zu Ende«.
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schaft umfasst wird, steht nun auch die Gemeinschaft in keiner organischen Beziehung mehr zu Himmel oder Natur. Als einziges »Umgreifende« des Films verbleibt folglich die gleich zu Anfang verdeutlichte Situation (S) – die Ankunft Millers –, die die Handlung des gesamten Films vorstrukturiert. Dieses Umgreifende erfährt allerdings keinerlei organische oder epische Verlängerung, weshalb dem Film der »große Atem« fehlt, der besonders für Ford charakteristisch ist, sich aber auch in den Westernfilmen von Hawks manifestiert (BB 225). Stattdessen dominiert in High Noon eine nahezu klaustrophobische Enge und Atemlosigkeit, was durch die temporale Struktur des Films noch unterstrichen wird. Manche Kommentatoren haben daher die Auffassung vertreten, High Noon sei nicht nur als Western zu begreifen, sondern ebenso als film noir.56 Insgesamt fällt es somit schwer, den Status der heroischen Aktion Kanes angemessen zu qualifizieren. Zwar gelingt es Kane, Miller und seine Verbündeten zu besiegen und dadurch die Ausgangssituation wiederherzustellen (SAS); doch lässt sich diese Restitution nur bedingt als Wiederherstellung der Rechtsordnung verstehen, da jener Ordnung buchstäblich »das Volk fehlt«, dem es bedürfte, um eine nachhaltige Herrschaft des Rechts zu gewährleisten.57 Einen wirklichen Triumph stellt der Sieg über Miller daher nur für Kane selbst dar, der letztlich auf eigene Rechnung agiert und Hadleyville am Schluss des Films verlässt. Insofern Kane – im Anschluss an die siegreiche Tat – gemeinsam mit seiner Frau abreist, zeigt sich eine deutliche Parallele zu Stagecoach. Doch obwohl die Filme in formaler Hinsicht auf ganz ähnliche Weise enden, ist die Stimmung der beiden Schlussszenen völlig verschieden. Während der Aufbruch des Paares in Stagecoach nämlich eine offene Zukunft (und implizit die weitere Verschiebung der frontier nach Westen) verheißt, wird in High Noon auf jede utopische Assoziation verzichtet. So repräsentieren der pensionierte Kane und seine Frau Amy weder eine Gemeinschaft, noch verkörpern sie einen neuen Anfang; vielmehr impliziert ihr gemeinsamer Aufbruch Kanes wohlverdienten Rückzug ins Private. Somit verweist die Schlussszene des Films jedoch nicht nur auf das Ende von Kanes Karriere als Marshal, sondern zugleich auf das Ende des klassischen Westerns insgesamt, dem High Noon zwar wesentlich verbunden bleibt, dessen Finale der Film aber gleichwohl einläutet.
2.5 E XKURS II: D ELEUZE
UND DER
N EO -W ESTERN
Während Zinnemanns Film hinsichtlich seiner temporalen Struktur fast alle Kriterien des klassischen Westerns erfüllt, zugleich aber dessen Transformation ankündigt, indem er einen Bruch mit der organischen Repräsentation vollzieht, handelt es sich bei Jim Jarmuschs Dead Man um einen Film, der auch das sensomotorische Schema aufgibt und in vielerlei Hinsicht dem Kino des Zeit-Bildes entspricht. Zugleich gehört 56 Vgl. Cawelti 1999, 97: »Many critics have remarked how much High Noon, an archetypal classic Western, can also be seen as a Western film noir«. 57 Insofern die vor der Ankunft Millers bestehende (und am Ende des Films wiederhergestellte) Situation von Anfang an eine Degeneration der klassischen Westernschematik darstellt, lässt sich argumentieren, dass auf High Noon faktisch nicht SAS, sondern S’AS’ zutrifft: Auf die Bedrohung einer ursprünglich abweichenden Ausgangssituation folgt eine heroische Tat, die die anfängliche Abweichung wiederherstellt.
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Dead Man in jene Kategorie von Filmen, die für gewöhnlich als »revisionistische« Westernfilme, »Post«-, »Neo«- oder »Anti«-Westerns gelten. Bevor Jarmuschs Film im Folgenden einer abschließenden Einzeluntersuchung unterzogen wird, soll daher zunächst auf jene Form der Kategorisierung eingegangen werden, wobei vor allem Deleuzes eigene Überlegungen zum »Neo-Western« im Fokus stehen. So soll einerseits sichergestellt werden, dass bei der Analyse von Dead Man auch der filmhistorische Kontext und die generischen Innovationen berücksichtigt werden, die den Western spätestens seit den 1970er Jahren auf nachhaltige Weise verändert haben. Andererseits soll dabei deutlich werden, dass Dead Man auch innerhalb des Western-Revisionismus einen besonderen Platz einnimmt und sich weder auf Deleuzes Überlegungen zum Neo-Western reduzieren lässt noch gänzlich in jene Kategorien passt, die heute den filmwissenschaftlichen und amerikanistischen Diskurs über den revisionistischen Western dominieren. Beruft man sich auf die Perspektive von Deleuze, dann lässt sich der Neo-Western zuallererst dadurch kennzeichnen, dass er in der Tradition der »kleinen Form« des Aktionsbildes steht, d.h. den Westernfilmen von Hawks wesentlich ähnlicher ist als denen von Ford. Im Gegensatz zur bereits dargestellten »großen Form« ist für diese »kleine Form« entscheidend, dass der Film nicht mit der Enthüllung der Situation (S) beginnt, sondern diese erst als Resultat einer Verkettung von Handlungselementen (A) kenntlich wird, die zunächst keiner »umgreifenden« Logik zu gehorchen scheint: »SAS’, die große Form, ging von der Situation über zur Aktion, welche die Situation modifizierte. Eine andere Form hingegen verläuft von der Aktion über die Situation zu einer neuen Aktion: ASA’. Hier deckt die Handlung die Situation beziehungsweise ein Stück oder einen Aspekt davon auf, was wiederum eine neue Handlung auslöst. Die Handlung läuft blind ab, und die Situation enthüllt sich im Dunkeln beziehungsweise in der Zweideutigkeit. Von Handlung zu Handlung wird die Situation erst allmählich sichtbar, verändert sich, liegt schließlich offen zutage oder bewahrt ihr Geheimnis […]. Das senso-motorische Schema hat sich jetzt umgekehrt. Die Repräsentation ist jetzt nicht mehr global, sondern lokal; sie tritt nicht mehr in Form einer Spirale, sondern als Ellipse auf, sie ist nicht mehr struktural organisiert, sondern folgt den Ereignissen.« (BB 217)
Deleuze macht zudem deutlich, dass die kleine Form des Aktionsbildes in einem generellen Gegensatz zum epischen oder ethischen Gehalt der großen Form steht und stattdessen »Anlaß zu einer Komödie geben kann, obgleich sie nicht notwendig komisch ist und durchaus dramatisch sein kann« (217). Aufgrund dieser relativen Affinität zur Komödie verwundert es nicht, dass Deleuze die kleine Form primär mit dem Kino von Regisseuren wie Chaplin oder Lubitsch identifiziert. Als Beispiel für den Western werden vor allem die Filme von Howard Hawks genannt, die sich Deleuze zufolge maßgeblich von der durch Ford etablierten großen Form des Genres unterscheiden und eher den Kriterien der kleinen Form entsprechen. Zwar bleibt Hawks der klassischen Form des Westerns in vielerlei Hinsicht verhaftet, doch verfährt er mit ihr in einer Weise, »die sie zutiefst affiziert und umgestaltet« (223). So tendiert Hawks in der Regel dazu, von den wesentlichen Bausteinen des Genres einen »funktionalen« anstatt »organischen« Gebrauch zu machen und den Ereignissen den Vorrang vor der umgreifenden Struktur zu geben:
270 | K ULTURELLE K OMPLEXITÄT »Zunächst beginnen die Orte, ihr organisches Leben zu verlieren […]. Das Gefängnis in Rio Bravo ist rein funktional geworden, man braucht nicht einmal seinen Insassen zu sehen; die Kirche in El Dorado legt nur noch von ihrer ehemaligen Funktion Zeugnis ab; die Stadt in Rio Lobo ist auf einen bloßen ›Aufriß‹ reduziert […]. Gleichzeitig wird die tragende Bezugsgruppe zu etwas völlig Vagem, und die einzige noch sichtbare Gemeinschaft ist eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, die sich zufällig zusammengefunden hat (ein Alkoholiker, ein Greis, ein ganz junger Mann…): hier handelt es sich um eine funktional ausgerichtete und nicht mehr organisch begründete Gruppe.« (BB 224)
Verglichen mit den Westernfilmen von Ford lässt sich somit argumentieren, dass Hawks eine relative »Verkleinerung« des Genres bewirkt. Zwar bewahren sich seine Filme einen »großen Atem«, da er keinen kompletten Bruch mit der organischen Repräsentation vollzieht, sondern eine »topologische Umgestaltung« vornimmt; die organische Einbettung der Orte und Figuren, die für Fords Filme so charakteristisch ist, weicht bei Hawks jedoch einer wesentlich fluideren Topologie sowie dem Spiel mit »Umkehrungen und funktionalen Vertauschungen«. Deleuze geht deshalb davon aus, dass der Neo-Western – dem er Filme von Anthony Mann (The Naked Spur, Man of the West), Sam Peckinpah (Major Dundee, The Wild Bunch), Budd Boetticher (Seminole) oder Arthur Penn (Little Big Man) zuordnet – Hawks »viel zu verdanken hat«, dass zugleich aber auch wesentliche Differenzen bestehen (BB 225). Denn verglichen mit Hawks’ spielerischer Umgestaltung der großen Form bewirkt der Neo-Western einen viel tiefgreifenderen Bruch mit der organischen Repräsentation und den Genrekonventionen des Westerns insgesamt. So lässt sich die zentrale Bezugsgruppe im Neo-Western oftmals kaum mehr von anderen Gruppen unterscheiden, während sie bei Hawks zwar als »bunt zusammengewürfelter« Haufen erscheint, nichtsdestotrotz aber stets eindeutig auszumachen ist. Damit einher geht die Tatsache, dass die moralische Unterscheidung von gut und böse, die bei Hawks zumindest weitgehend intakt bleibt, im Neo-Western oftmals vollständig aufgehoben wird. Das Prinzip der »Regeneration durch Gewalt« (Slotkin) büßt somit zunehmend an Gültigkeit ein, denn insofern die Gewalt nicht mehr als Mittel zum (moralischen) Zweck, sondern als reines Machtinstrument oder Zweck an sich fungiert, geht ihre moralische Legitimation weitestgehend verloren: »Die Gewalt wird zur Hauptantriebskraft und nimmt an Heftigkeit und Plötzlichkeit zu: in Seminole von Boetticher tötet ein unsichtbarer, im Sumpf verborgener Gegner […]. [I]nnerhalb einer Gruppe und von einer Gruppe zur anderen unterhalten die Männer so viele Beziehungen und stehen in so komplexen Verbindungen, daß sie immer weniger unterscheidbar voneinander werden und ihre Gegensätze sich ständig verschieben (Major Dundee und The Wild Bunch von Peckinpah). Der Unterschied zwischen dem Verfolger und dem Verfolgten, aber auch zwischen dem Weißen und dem Indianer wird immer geringer: in The Naked Spur von Mann scheinen der Kopfjäger und seine Beute lange Zeit fast identische Männer zu sein. Und in Little Big Man von Penn ist der Held stets weiß bei den Weißen und indianisch bei den Indianern. Die Grenze, die er dabei in beiden Richtungen überschreitet, ist minimal.« (BB 226)
Der Neo-Western steht laut Deleuze also in deutlichem Gegensatz zur organischen Form des klassischen Westerns, verbleibt aber innerhalb des Aktionsbildes, das nun nicht mehr mit dem Schema SAS, sondern mit der »kleineren« Form ASA korres-
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pondiert. Dies unterscheidet den Neo-Western auch von High Noon, da hier noch die »große Form« SAS dominiert und der Held als Zentrum des Films und moralische Instanz fungiert. Zinnemanns Film ähnelt dem Neo-Western allerdings darin, dass tendenziell das »Umgreifende« fehlt und die organische Bindung von Held und Gemeinschaft, Gemeinschaft und Land, zunehmend in Frage steht. Die von Deleuze genannten Eigenschaften des Neo-Westerns (die veränderte Darstellung der Gewalt, das neue Bild der Indianer, die Zersetzung der Bezugsgruppe usw.) verbinden seine Analyse in mancher Hinsicht mit der Kategorie des »Post-Westerns«, die u.a. auf den Film- und Literaturwissenschaftler John Cawelti zurückgeht (vgl. Cawelti 1999, 99126).58 Insofern Deleuze seine Analyse allerdings damit beginnt, dass er zunächst auf die Filme von Hawks verweist, sieht er den Neo-Western aus einer Form hervorgehen, die ihren Platz im Zentrum der Tradition Hollywoods hat, zugleich aber als Alternative zur »großen Form« fungiert, die er vor allem mit Ford identifiziert. Eine andere Möglichkeit, den revisionistischen »Post«- oder »Neo«-Western genealogisch zu verorten, bestünde darin, das Werk Fords selbst als Ausgangspunkt nahezu sämtlicher Richtungen zu nehmen, die bis heute für den revisionistischen Westernfilm charakteristisch sind. Mit Blick auf die Aspekte, Formen und Themen, die im Diskurs über den »Western-Revisionismus« aktuell dominieren, ließen sich dabei insbesondere die folgenden drei Richtungen nennen. 1. Der dekonstruktiv-parodistische Western: Der Western ist nun nicht mehr unkritisches Sprachrohr der Frontiermythologie, sondern weist auf den durchweg künstlichen Charakter des Mythos hin, dessen Funktionsweise er offengelegt. Anders gesagt: Durch die offenbare Inszenierung des Mythos wird dieser zugleich in wesentlichen Teilen demontiert. Man kann argumentieren, dass dies bereits in Fords The Man Who Shot Liberty Valance (1962) geschieht, auch wenn es Ford letztlich um die Rechtfertigung des Mythos auf einer neuen Grundlage geht (vgl. Fluck 2009, 471472). Besonders in späteren Westernfilmen korrespondiert die dekonstruktive Methode vielfach mit »Parodie«, d.h. die einzelnen Elemente des Westerns bleiben erhalten, aber zirkulieren auf satirische oder parodistische Weise, so dass dessen klassisches Schema als weithin artifizielles Konstrukt kenntlich wird (siehe etwa Arthur
58 Cawelti selbst beruft sich auf Philip French, der den Begriff des »Post-Westerns« bereits 1977 verwendet hat (vgl. French 1977). Allerdings benutzt Cawelti den Begriff auf wesentlich andere Weise als French, nämlich in Bezug auf jene Filme und Texte »that continued to make use of or to refer to Western images or myths in spite of the decline of the genre as a major component of American popular culture« (Cawelti 1999, 102). Zwar bezieht sich Cawelti vor allem auf Filme aus den 1990er Jahren (u.a. Dances with Wolves und Unforgiven); den Übergang vom »klassischen Western« zum »Post-Western« datiert er jedoch auf die Mitte der 1960er Jahre, als die klassische Western- und Frontiermythologie einen Teil ihrer kulturellen Kraft bereits verloren hatte: »However, in the films of the middle 1960s, the patterns of the ›classic‹ film of the 1940s and early 1950s were beginning to break up […]. Though several striking new versions of the formula brought audiences to films like Butch Cassidy and the Sundance Kid, True Grit, The Wild Bunch, and above all to the ›Spaghetti Westerns‹ of Sergio Leone and Clint Eastwood, these did not lead to the emergence of another cycle of traditional Westerns. In fact, these films marked the end of the ›classic‹ Western, and the emergence of […] the ›Post-Western‹« (98).
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Penns The Missouri Breaks oder – als aktuelleres Beispiel – das True Grit-Remake der Coen-Brüder). 2. Der formalistisch-fatalistische Western: Der Western behält hier das übliche formelle Gerüst von Rache und Gewalt bei, die im klassischen Western jedoch moralisch gerechtfertigt wird (»Regeneration through Violence«). Im revisionistischen Western fehlt nun diese moralische Legitimation, so dass die Gewalt als Zweck an sich fungiert: der Western selbst wird somit zum amoralischen, düsteren Spektakel, die Westernmythen von Aufrichtigkeit, Individualismus, Tapferkeit, Gesetz und Gerechtigkeit werden ausgehebelt und verlieren ihren legitimierenden Charakter. Diese Spielart des Neo-Westerns wurde insbesondere von Sergio Leone und Sam Peckinpah perfektioniert (und teilweise von Clint Eastwood fortgesetzt). Es lässt sich argumentieren, dass Fords Klassiker The Searchers (1956) diese Form bereits vorwegnimmt, da der durch John Wayne verkörperte »Held« des Films mit einer übermäßigen Gewalt ausgestattet wird, mit der sich der gewöhnliche Zuschauer nicht mehr uneingeschränkt identifizieren kann. 3. Der multikulturell-rehabilitierende Western: In dieser Spielart des Revisionismus geht es insbesondere um eine Rehabilitierung der Indianer, deren Repräsentation im klassischen Western gemeinhin auf rassistischen Stereotypen basiert. Nun aber kommt es vielfach zu einer Umkehrung dergestalt, dass die Identifikation nicht mehr bei den Weißen, sondern den Indianern liegt. Mitunter rücken jetzt auch andere soziale und ethnische Gruppen ins Zentrum, die im klassischen Western marginalisiert waren (Frauen, Mexikaner, Afro-Amerikaner). Als Beispiele ließen sich neben Kevin Costners Dances with Wolves (1990) – wo die Identifikation mit den Indianern allerdings über einen Weißen verläuft – etwa auch Walter Hills Geronimo (1993), Mario van Peebles Posse (1993) oder Kelly Reichhardts Meek’s Cutoff (2010) nennen. Schon bei Ford lässt sich jedoch eine zunehmend sensiblere Darstellung der Indianer ausmachen, die noch in Stagecoach als gesichtslose Barbaren fungieren. Am deutlichsten kommt diese Tendenz in Fords Spätwestern Cheyenne Autumn (1964) zum Ausdruck, der sich – allen Defiziten zum Trotz – um eine Perspektive bemüht, die den indianischen Standpunkt miteinbezieht. Die Unterteilung des revisionistischen Westerns in die genannten Kategorien (dekonstruktiv-parodistisch, formalistisch-fatalistisch und multikulturell-rehabilitierend) ermöglicht eine schematische Differenzierung, die sich an den zentralen Themen und Aspekten des Westerns in der post-klassischen Ära orientiert. Dem Deleuzeschen »Hawks-Modell« ließe sich somit ein »Ford-Modell« gegenüberstellen, das den Western-Revisionismus mit Blick auf bestimmte Tendenzen verortet, die bereits im späteren Werk Fords angelegt sind und daher der »großen Form« selbst entspringen. Beide Modelle teilen zwar eine Reihe von Aspekten, verfahren insgesamt aber weitgehend komplementär: Während dem »Ford-Modell« zweifellos eine genauere thematische Differenzierung des post-klassischen Westerns gelingt als dem »Hawks-Modell« (das sich der Gefahr eines gewissen Formalismus aussetzt), unterschlägt es genau jene Aspekte, die bei Deleuze im Vordergrund stehen, nämlich die temporale Struktur der Filme, ihr Handlungsschema und Bildmodell. Interessanterweise gelingt es allerdings beiden Modellen nicht, den besonderen Charakter von Dead Man zu erfassen. Zwar verhält es sich im Falle des »Ford-Modells« so, dass alle drei Kategorien auf Aspekte verweisen, die in Dead Man von Bedeutung sind (weshalb der Film genaugenommen
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in jede der Kategorien passt).59 Gleichwohl stellen sich die Kategorien aber allesamt als nicht hinreichend dar, um die charakteristischen Merkmale von Dead Man aufzuzeigen, da diese wesentlich mit dem »Stil« des Films – seinem Bildmodell und seiner temporalen Struktur – verkoppelt sind. Demnach bietet sich zur Analyse des Films naturgemäß das »Hawks-Modell« an, das Dead Man aber ebenfalls nicht adäquat zu bestimmen vermag, was mit Deleuzes relativ eingeschränktem Blick auf den Western zusammenhängt. Denn unabhängig davon, ob es sich um den »klassischen Western« oder den »Neo-Western« handelt, scheint Deleuze das Genre ausschließlich auf das Kino des Bewegungs-Bildes zu beziehen. So bewirkt der Neo-Western zwar eine Transformation der großen Form des klassischen Westerns, was eine Umkehrung des sensomotorischen Schemas zur Folge hat (ASA anstelle von SAS); trotzdem bleibt dieses aber letztlich in Kraft, so dass die Identifikation des Westerns mit dem Aktionsbild weiterbesteht. Dementsprechend verwundert es auch nicht, dass der Western in Das Zeit-Bild keinerlei Rolle mehr spielt, was sich so verstehen lässt, dass Deleuze die Entwicklungsgeschichte des Genres als prinzipiell abgeschlossen betrachtet.60 Zwar wird am Ende des ersten Kinobuches argumentiert, dass das Aktionsbild – analog zu allen anderen klassischen Genres – auch im Western in die Krise geraten sei (was in erster Linie auf das New-Hollywood-Kino gemünzt ist); aus dieser Krise sieht Deleuze im amerikanischen Kontext jedoch kein neues Bildmodell hervorgehen, was dadurch begründet wird, dass der amerikanische Film eine Tradition hervorgebracht habe, aus der man sich »in der Mehrzahl der Fälle nicht anders als negativ befreien kann«. Anders gesagt: Man »begnügt sich mit der Parodie des Klischees, anstatt ein wirklich neues Bild entstehen zu lassen […]. Die großen Gattungen dieses Films, der psychosoziale Film, die schwarze Serie, der Western und die amerikanische Komödie sind zwar zusammengebrochen, aber ihr leerer Rahmen steht noch immer« (BB 282). Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass diese Sichtweise zumindest nicht auf Dead Man zutrifft. Zwar beinhaltet der Film auch eine Reihe parodistischer Elemente, auf die er sich allerdings nicht reduzieren lässt. Insofern lässt sich argumentieren, dass es Jarmusch durchaus gelingt, ein »neues Bild« des Westens entstehen zu lassen, das sich weder in negativer Parodie erschöpft noch in Deleuzes Kategorie des 59 Besonders offensichtlich ist dabei zunächst der rehabilitierende Charakter des Films, der von Autoren wie Ward Churchill oder Jacquelyn Kilpatrick für seine außergewöhnlich »authentische« Darstellung der indianischen Kultur gelobt wurde (vgl. Rosenbaum 2009, 25). Zugleich enthält Dead Man jedoch auch Elemente, die in die Kategorie des formalistischfatalistischen Westerns passen, da die dargestellte Gewalt tendenziell keine »regenerative« Wirkung entfaltet und moralisch nicht gerechtfertigt wird. (Dies wird bereits ganz zu Anfang des Films deutlich, wo die massenhafte Erschießung wilder Büffel – aus einem fahrenden Zug heraus – als vollkommen willkürlicher, brutaler Akt präsentiert wird.) Schließlich ließe sich Dead Man auch als (allerdings nur teilweise parodistische) Dekonstruktion des Genres verstehen, wie u.a. Gregg Rickman argumentiert: »As we’ve seen the film ›erases‹, inverts, and upends all the various western conventions, from the idea of the western hero down through its final shootout« (Rickman 1998, 399). 60 Der einzige Western, der in Das Zeit-Bild erwähnt wird, ist ausgerechnet High Noon. Hier geht Deleuze aber lediglich auf das Verhältnis des melodischen Ritornells zum »Rhythmus des Galopps« in der Filmmusik von Dimitri Tiomkin ein (vgl. ZB 126).
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Neo-Westerns passt, sondern sich vielmehr mit Rekurs auf den Begriff des Zeit-Bildes analysieren lässt.
2.6 T ODESRAUM UND CONTACT ZONE : J IM J ARMUSCHS D EAD M AN Dass es sich bei Dead Man nicht um einen Neo-Western im Sinne der kleinen Form des Aktionsbildes handelt, lässt sich bereits daran erkennen, dass Jarmusch grundsätzlich eine Form des »Umgreifenden« bestehen lässt, die den Charakter und Verlauf des Films auf wesentliche Weise bestimmt. Nur verweist jenes Umgreifende hier nicht mehr auf die organische Verbindung von Gemeinschaft und Land, die im klassischen Western mit dem Exzeptionalismus der amerikanischen Nationalmythologie korrespondiert. Wie nämlich schon der Titel des Films andeutet, ist es stattdessen das Motiv des Todes, das dem Film seinen spezifischen Charakter verleiht.61 Anders als in den Filmen von Ford (d.h. gemäß der »großen Form« des klassischen Westerns), aktualisiert sich das Umgreifende in Dead Man somit nicht als organisch pulsierender »Atemraum«, sondern verweist auf das traumatische Erbe der amerikanischen Westausdehnung, das im klassischen Western gemeinhin unterschlagen wird. Bezüglich der umgreifenden Struktur des Films lässt sich der Westen demnach ganz buchstäblich als »Todesraum« bezeichnen, der hier als Schauplatz von unterschiedlichen Formen der Auslöschung und Vernichtung fungiert, wobei vor allem der Genozid an den Indianern thematisiert wird. Ähnlich wie viele andere revisionistische Westernfilme nutzt Dead Man das Genre folglich dazu, um sich dezidiert den Schattenseiten der amerikanischen Geschichte zu widmen. Besonders daran ist jedoch die Art und Weise, in der der Film dabei vorgeht. Denn nicht nur bricht Dead Man mit dem sensomotorischen Schema, das auch im Falle der allermeisten post-klassischen Westerns in Kraft bleibt; auch widmet sich der Film der Geschichte auf eher untypische Weise, da er diese weniger als »vergangene Gegenwart« adressiert, sondern Gegenwart und Vergangenheit, Aktualität und Virtualität, im Sinne eines komplexen Koexistenzverhältnisses beschreibt. Dadurch, dass die beiden Protagonisten des Films – das Greenhorn William Blake und sein indianischer Begleiter Nobody – ihre eigene Gegenwart quasi als Fremde erfahren, gelingt es Jarmusch, ein tendenziell unzeitgemäßes Bild des amerikanischen Westens und seiner Geschichte zu entwerfen, das nicht nur als kritische Rekonstruktion der Vergangenheit dient, sondern zugleich auch den Blick auf die Gegenwart affiziert. Von einigen Kommentatoren ist angemerkt worden, dass Dead Man wesentliche Ähnlichkeiten zur Literatur Kafkas aufweist (siehe Mauer 2006, 203-204 und 213-
61 Der Titel Dead Man verweist auf ein Zitat von Henri Michaux, das dem Film vorangestellt wird: »It is preferable not to travel with a dead man« (vgl. Rosenbaum 2009, 87, Fn. 2). Freilich hat das Motiv des Todes – wie z.B. Peter French gezeigt hat (vgl. French 1997) – im Western schon immer eine bedeutende Rolle gespielt. Während der klassische Western aber trotz seiner »fixation on death« (151) in der Regel einer affirmativen Sicht des historischen »Fortschritts« verhaftet bleibt, steht Dead Man eher der Geschichtsauffassung Benjamins nahe, dessen »Engel der Geschichte« von jenem Fortschritt allein den Trümmerhaufen zu sehen bekommt, den dieser fortlaufend produziert (vgl. Benjamin 1977b, 255).
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215). Offensichtliche Parallelen existieren etwa zu Kafkas Prozeß, mehr noch aber zu dem unvollendeten Kurzroman Amerika. Dort reist der naive Protagonist Karl Roßmann mit dem Schiff von Europa nach Amerika, findet hier aber nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten vor, sondern stattdessen eine von Konkurrenz, Habgier, Ausgrenzung und Hierarchie geprägte Gesellschaft, die unter dem Diktat des Geldes steht. Im ersten Kapitel des Buches (dem separat veröffentlichten Text »Der Heizer«) verläuft sich Karl im Innern des Schiffs und begegnet dabei dem Schiffsheizer, mit dessen Schicksal er sich insofern identifiziert, als dieser unter genau jenem Unrecht zu leiden scheint, das Karl im Laufe des Romans selber zustoßen wird (vgl. Kafka 1967, 5-30).62 Dead Man beginnt ebenfalls mit einer Reise in ein unbekanntes Land, denn das mittellose Greenhorn William Blake (Johnny Depp) macht sich von Cleveland gen Westen auf, um in der Kleinstadt Machine eine Stelle als Buchhalter in der Metallfabrik des Industriellen John Dickinson anzutreten. Während der Bahnfahrt trifft er auf den Heizer des Zuges, der ihm sogleich prophezeit, dass er keine Arbeitsstelle, sondern vielmehr den Tod finden wird. Auf Blakes Bemerkung, dass er kürzlich seine Eltern verloren und sich zudem seine Verlobte von ihm getrennt habe, entgegnet der Heizer: »Well, that doesn’t explain why you’ve come all the way out here – all the way out here to hell […]. I’ll tell you one thing for sure: I wouldn’t trust no words written down on no piece of paper, especially from no Dickinson out in the town of Machine. You’re just as likely to find your own grave.«
Die Figur des Heizers verdeutlicht die Parallelen zwischen Dead Man und Amerika auf besonders anschauliche Weise. Auch wenn der Heizer in Kafkas Amerika eine weniger eindeutig »prophetische« Rolle spielt als in Dead Man, nimmt dessen Erniedrigung nichtsdestotrotz ein Motiv vorweg, das für den Roman – in dessen Verlauf Karl zunächst von seinem Onkel verstoßen wird und später seine Stelle als Liftboy verliert – von wesentlicher Bedeutung ist. Während Kafka allerdings beabsichtigte, Karl letztlich vor dem Unheil zu retten und seinen Roman hoffnungsvoll enden zu lassen, ist William Blake in Dead Man von Anfang an dem Tode geweiht.63 Jarmuschs Heizer fungiert somit als klassischer Todesprophet, was weniger auf Kafkas Amerika als auf einen anderen Klassiker der Weltliteratur verweist: auf Melvilles Moby-Dick nämlich, wo zu Anfang ebenfalls die Vorhersage einer kommenden Katastrophe steht, die hier der wirre Prophet Elijah ankündigt.64 Es lässt sich folglich ar62 Gemäß der Kafka-Lesart von Deleuze und Guattari sollte Karls Identifikation mit dem Heizer daher nicht als ödipale Sehnsucht nach einer Vaterfigur verstanden werden, sondern im Kontext ihrer »gesellschaftlichen Verkettung« (vgl. K 113). 63 Zum geplanten Ende von Amerika, vgl. Max Brods Bemerkung im Nachwort des Romans: »Aus Gesprächen weiß ich, daß das vorliegende unvollendete Kapitel über das ›Naturtheater in Oklahoma‹ [...] das Schlußkapitel sein und versöhnlich ausklingen sollte. Mit rätselhaften Worten deutete Kafka lächelnd an, daß sein junger Held in diesem ›fast grenzenlosen‹ Theater Beruf, Freiheit, Rückhalt, ja sogar die Heimat und die Eltern wie durch paradiesischen Zauber wiederfinden werde« (Kafka 1967, 233). 64 Vgl. hierzu das Kapitel »The Prophet« (Melville 2003, 100-103). Noch andere Parallelen zwischen Dead Man und Moby-Dick werden im weiteren Verlauf des Films deutlich. So
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gumentieren, dass in Dead Man und Moby-Dick gleichermaßen ein Umgreifendes existiert, das nicht als »Atemraum«, sondern als »Todesraum« konzipiert wird und den Tod – auch wenn Melvilles Ishmael die Katastrophe letztlich überlebt – zum Endpunkt der Handlung bestimmt. Gleichwohl lassen sich die zwei Werke nicht auf diesen Handlungsvektor reduzieren, da es in beiden Fällen zu komplexen Prozessen der Öffnung und des Werdens kommt, die dem Tod als ultimativem Endpunkt der Handlung zuwiderlaufen. Dass auch Jarmusch seinen Film so verstanden hat, macht er deutlich, indem er Blakes Prozess des Sterbens als »eine Art Wiederbelebung« charakterisiert. So wird Blake, den Worten des prophetischen Heizers entsprechend (»I wouldn’t trust no words written down on no piece of paper, especially from no Dickinson out in the town of Machine«), die Stelle als Buchhalter verweigert. Weil er außerdem Dickinsons Sohn – ohne sich dessen Identität bewusst zu sein – aus Notwehr erschießt, muss er schwer verletzt aus der Stadt fliehen. »Wäre er in Machine geblieben, hätte er gearbeitet bis ins hohe Alter: eine ›depressive Vorstellung, ohne jede Magie‹«. Doch aufgrund jener Verkettung von Zufällen und unglücklichen Umständen, die seine Flucht und schließlich den (kommenden) Tod zur Folge hat, könne Blake wenigstens auf ein Leben zurückblicken, das »angereichert mit außergewöhnlichen Erfahrungen« gewesen sei (vgl. Mauer 2006, 215).65 Wenn es im Folgenden darum gehen soll, Dead Man als Beispiel für das Kino des Zeit-Bildes zu qualifizieren, dann lässt sich dies zunächst anhand der raumzeitlichen Koordinaten des Films festmachen. Denn im Gegensatz zu High Noon existiert in Dead Man alles andere als ein straff organisierter Zeit-Raum: Die Zeit »plätschert dahin«, was nicht zuletzt durch die improvisierte Gitarrenmusik von Neil Young unterstrichen wird, die den Soundtrack des Films bildet. Die zwischen reiner Akustikgitarre und schroffer Verzerrung wechselnde Filmmusik klingt oftmals wie der unendlich in die Länge gezogene Auftakt zu einem Stück, das allerdings nie wirklich einsetzt und sein eigentliches Thema zu keinem Zeitpunkt vollständig enthüllt. Diese offene und tendenziell unfokussiert wirkende Klangstruktur korrespondiert vielfach mit »falschen Anschlüssen« und einer visuellen Orientierungslosigkeit, die den Zuschauer sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht erfasst.66 Zudem verweist die schleppende, teils mit starkem Hall unterlegte Gitarrenmusik auch auf die »toten Zei-
erinnert das Verhältnis zwischen Blake und dem Indianer Nobody (Gary Farmer) in mancher Hinsicht an die Freundschaft von Ishmael und Queequeg. Darüber hinaus lässt sich die Schlussszene des Films, in der der sterbende Blake in einem Kanu aufs offene Meer treibt, als Verweis auf das Ende von Moby-Dick deuten, in dem Ishmael dem sicheren Tod in einem schwimmenden Sarg entkommt. 65 In den zitierten Abschnitten bezieht sich Roman Mauer auf zwei separate Interviews mit Jim Jarmusch, die im Januar 1996 in der Münchener Abendzeitung und der taz erschienen sind (vgl. Peulecke 1996 und Fricke 1996). 66 Vgl. Buchanan 2011, 291: »Almost everything about this film is strange and disorienting – its tone, its settings, the edits, and the remarkable improvised score by Neil Young all work together to dislocate the viewer in both time and space«. Genauer bezüglich der Filmmusik heißt es an anderer Stelle: »It is significant that […] the musical theme is never fully resolved. In this way, the music both sutures itself to the film’s affect of dislocation and disorientation, and ventures beyond it« (296-297).
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ten«, von denen Dead Man in stilistischer Hinsicht wesentlich geprägt ist.67 Charakteristisch für Jarmuschs Film ist dementsprechend eine allgemeine Lockerung der »sensomotorischen Verbindungen« (ZB 21), aus der letztlich ein vollständiger Bruch mit dem Kino des Aktionsbildes resultiert. Diese Tendenz manifestiert sich zuallererst am Beispiel von Blake, der wiederholt in rein optische Situationen gerät (vgl. 1213), die nicht nur sein Handlungspotential außer Kraft setzen, sondern auch seine Wahrnehmungskapazität überfordern. Aufgrund von Dead Man’s deterritorialisiertem Handlungsverlauf – dem zwar eine relativ linear angelegte Narration zugrunde liegt, die jedoch mehrfach durch virtuelle Bilder und halluzinatorische Visionen unterbrochen wird –, hat Jonathan Rosenbaum den Film als Acid Western qualifiziert und somit auf einer Traditionslinie verortet, die bis zu Monte Hellmans The Shooting (1966) zurückreicht.68 »What I partly mean by ›acid Westerns‹«, schreibt Rosenbaum, »are revisionist Westerns in which American history is reinterpreted to make room for peyote visions and related hallucinogenic experiences, LSD trips in particular« (Rosenbaum 2009, 51). In Dead Man spielt Drogenkonsum allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Zwar erlebt auch Nobody in einer Szene des Films jene »peyote visions«, die ihn Blake (in einer Art foreshadowing des kommenden Todes) als Skelett sehen lassen; im Falle von Blake aber hängen die tranceartigen Visionen in erster Linie mit seiner Schussverletzung zusammen, durch die er gegen Ende des Films in ein regelrechtes Delirium fällt, das mit Wahnvorstellungen und Bewusstseinstrübungen einhergeht. Der Bruch mit dem sensomotorischen Schema lässt sich jedoch auch hierauf nicht reduzieren, da Blake zuvor schon in »rein optische Situationen« gerät, die den linearen Handlungsverlauf beeinträchtigen. Tatsächlich lässt sich argumentieren, dass der Bruch mit dem sensomotorischen Schema bereits ganz zu Anfang des Films eingeleitet wird. Hier ist zunächst ein angespannt und nervös wirkender Blake zu sehen, der während der Zugfahrt verblüfft auf die zunehmend fremdartige Welt blickt, die sich ihm – innerhalb wie außerhalb des Abteils – offenbart. Mit seinem karierten Anzug, seiner übergroßen Fliege und Nickelbrille hebt Blake sich merklich von den anderen Reisenden ab (»Where did you get that goddamned clown suit?«, fragt Dickinson ihn später: »Cleveland?«). Je näher der Zug der Stadt Machine kommt und je unwirtlicher sich zugleich die Land67 Als gutes Beispiel für das kinematographische Konzept der »toten Zeit« lässt sich bereits auf die schier endlos wirkende Zugfahrt verweisen, die am Anfang von Dead Man steht. Roger Ebert hat diese in seiner kritischen Rezension des Films wie folgt kommentiert: »I once traveled for two days from Windhoek to Swakopmund through the Kalahari Desert, on a train without air conditioning, sleeping at night on a hard leather bench that swung down from the ceiling. That journey seemed a little shorter than the one that opens Dead Man« (zit. aus Rosenbaum 2009, 7). 68 Als Beispiele des Acid Westerns, den er explizit mit den Idealen der Counterculture identifiziert, erwähnt Rosenbaum außerdem Hellmans Filme Ride in the Whirlwind (1966) und Two-Lane Blacktop (1971), Alexander Jodorowskys El Topo (1970), Dennis Hoppers The Last Movie (1971), Jim McBrides Glen and Randa (1971) und Robert Downeys Greaser’s Palace (1972). Als Schlüsselfigur des Genres wird der Autor Rudolph Wurlitzer genannt, der an mehreren Drehbüchern mitwirkte und u.a. die Romane Nog (1969) und Flats (1970) schrieb (vgl. Rosenbaum 2009, 49-50).
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schaft darstellt, desto unpassender wirkt auch Blakes Outfit. Zudem scheint es ihm immer weniger gut zu gelingen, seine Sinneseindrücke adäquat zu »synthetisieren«. In Machine angekommen, geht er mit unsicheren Schritten an einer Sargwerkstatt, einer Manufaktur voller Knochen und Tierkadaver sowie – nahezu einmalig in der Geschichte des Westerngenres – einem urinierenden Pferd vorbei. Als er beobachtet, wie eine Frau von einem bewaffneten Mann zum Oralverkehr gezwungen wird, scheint es, als würde der Zuschauer dem Reißen des sensomotorischen Bandes in actu beiwohnen können: Blake bleibt zunächst wie angewurzelt stehen und läuft erst dann weiter, als der Mann seine Waffe auf ihn selbst richtet. Dass Blake in dieser Situation nicht zugunsten der Frau eingreift, verdeutlicht, dass er weder den klassischen Westernhelden noch den moderneren Antihelden verkörpert, auf den man etwa im »Spaghetti«-Western (A Fistful of Dollars, Django) oder in den Filmen von Clint Eastwood (High Plains Drifter, Pale Rider) trifft. Blakes Passivität lässt sich aber auch nicht – anders als im Falle der Einwohner Hadleyvilles in High Noon – allein auf Opportunismus und Angst zurückführen, auch wenn letztere fraglos eine Rolle spielt. Noch wesentlicher ist jedoch die Tatsache, dass Blake dasjenige, was er wahrnimmt und sieht, oftmals weder richtig einordnen noch überhaupt begreifen kann. Diese Tendenz erreicht ihren Höhepunkt in der Siedlung der Makah-Indianer, in der Nobody ein Kanu besorgt, das Blake »back to the place where all the spirits come from« bringen soll. Zu diesem Zeitpunkt ist Blake bereits so geschwächt, dass er nicht mehr eigenständig laufen kann, sondern gestützt werden muss. Zudem wird seine Wahrnehmung hier mit einer ihm derart fremden Welt konfrontiert, dass die Entscheidung schwer fällt, ob man es mit »aktuellen« oder »virtuellen« Bildern, mit adäquaten Sinneseindrücken oder Halluzinationen und Erinnerungen zu tun hat. Dieser unklare Status der Bilder, der durch die zunehmend verzerrten, teils nahezu atonalen Gitarrenklänge noch verstärkt wird, geht zweifellos mit Blakes Delirium einher, das nun vollends einsetzt. Blakes Delirium bewirkt allerdings keine qualitative, sondern allenfalls eine relative Veränderung, da das sensomotorische Schema bereits davor zugunsten »rein optischer Situation« in den Hintergrund getreten ist. Im Einklang mit der Ästhetik des Zeit-Bildes macht die Einschränkung der motorischen Fähigkeiten somit einer gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeit Platz, die weniger sensomotorisch als »visionär« ausgerichtet ist. So kommt es beispielsweise in der Makah-Siedlung zu einer buchstäblichen Überblendung, bei der die Gesichter der Indianer mit Blakes eigenem Gesicht verschmelzen. In Anlehnung an Deleuze lässt sich hier von der kinematographischen Erfindung eines hybriden Volkes sprechen, das sich nicht mehr entlang ethnischer Abstammungslinien definiert. Blake trägt folglich »im Delirium« zur »Erfindung eines Volks« bei, das im Angesicht des Todes als »Lebensmöglichkeit« fungiert, die das persönliche Leben des sterbenden Blake überdauert (KK 16).69 Was Blake in seinem Delirium »sieht«, ist daher nicht die aktuelle Wirklichkeit; vielmehr handelt es sich um die Vision einer Virtualität, die niemals aktualisiert werden konnte, da die reale Besiedlungsgeschichte des amerikanischen Westens stets mit jener 69 Deleuze bezieht sich in der zitierten Textpassage allerdings nicht auf den Film, sondern auf die Literatur. Vollständig heißt es: »Das letzte Ziel der Literatur: im Delirium jene Schöpfung einer Gesundheit oder jene Erfindung eines Volks zu befördern, d.h. eine Lebensmöglichkeit. Schreiben für ein Volk, das fehlt… (wobei ›für‹ weniger ›anstelle‹ als ›um… willen‹ bedeutet)« (KK 16).
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unheilvollen Politik der Eliminierung einherging, deren Konsequenzen und Spuren der Film fortlaufend ins Bild setzt.70 Obwohl sich die Handlung des Films in einer relativ linearen Art und Weise entfaltet, kommt es somit nichtsdestotrotz vielfach zu Bildern einer zeitlichen Koexistenz, auf denen die aktuelle Gegenwart von den Spuren der Vergangenheit heimgesucht zu werden scheint. In einem Fall – der Erzählung Nobodys, die von seiner Gefangennahme durch britische Soldaten, seiner Verschleppung nach England und seiner Rückkehr in die Heimat handelt – wird das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit auf eher konventionelle Weise durch mehrere Rückblenden vermittelt. Oftmals jedoch wird der Zuschauer mit Bildern konfrontiert, deren temporaler Status nicht gänzlich klar ist. So erscheint etwa das Bild einer niedergebrannten Indianersiedlung doppelt: einmal im Rahmen einer Rückblende, die Nobodys Rückkehr nach Amerika und seine Konfrontation mit den an seinem Volk verübten Gewalttaten zeigt (»I saw many sad things as I made my way back to the lands of my people«); und ein zweites Mal, während Nobody und Blake auf dem Weg zur Siedlung der Makah sind. In letzterem Fall scheint es sich zunächst um ein einfaches Wahrnehmungsbild der aktuellen Gegenwart zu handeln, da es so aussieht, als würden Nobody und Blake beide von der völlig zerstörten Siedlung Notiz nehmen. Da das Bild aber zuvor schon im Rahmen der Rückblende zu sehen war, die sich auf Nobodys frühere Erlebnisse bezog, bleibt die Frage offen, ob es sich nicht doch um ein traumatisches Erinnerungsbild handelt (vgl. Szaloky 2001, 65) oder die Verdoppelung des Bildes den zyklisch-kontinuierlichen Charakter der Gewalt verdeutlichen soll, die mit der Besiedlung des Westens einherging. Wie auch immer man das Bild jedoch auslegt: Was in jedem Falle deutlich wird, ist die Tatsache, dass Jarmusch mit einer komplexen Konzeption der kinematographischen Zeit operiert, die sich im Wesentlichen dadurch manifestiert, dass sich Bilder der Vergangenheit beständig in die Gegenwart schieben und der weithin lineare Handlungsablauf durch temporale Unbestimmtheiten und Koexistenzen unterbrochen wird.71 Im Verlauf des gesamten Films weist Dead Man 70 Interessanterweise ist die direkte Anwendung von Gewalt in Dead Man fast immer parodistischer Natur, während die Spuren von Gewalt (niedergebrannte Siedlungen, zerstörte Zelte und Hütten, Knochen und Skelette) auf wesentlich ernsthaftere Weise zur Darstellung kommen. Dass Jarmusch bei der Repräsentation des Duells jeden Pathos vermeidet, mag dem Willen geschuldet sein, eine Ästhetisierung der Gewalt im Stile von Peckinpahs »ballet of the bullet« zu vermeiden. Vgl. hierzu Szaloky 2001, 62-63: »Jim Jarmusch is no partisan of [Peckinpah’s] aesthetic. In spite of Nobody’s comparison of poetry to the word of the gun, there is nothing poetic about the representation of violence in Dead Man […]. The portrayal of the killings is never melodramatic; rather, these acts of extreme violence have a banal air«. Zur Rolle der Gewalt in Dead Man, vgl. außerdem Nieland 2001. 71 Roman Mauer hat darauf hingewiesen, dass sich Blakes geographische Reise auch als Zeitreise in die amerikanische Vergangenheit verstehen lässt, die in der bereits industrialisierten Westernstadt Machine beginnt und sich dann quasi rückwärts vollzieht, um schließlich auf dem Meer zu enden, »dem Ursprung allen Lebens« (Mauer 2006, 197). Wie Mauer jedoch ebenfalls bemerkt, ist vor allem der zweite Teil des Films von »Déja-Vu-Momente[n]« geprägt, die »kreisende Rückbindungen« (198) erzeugen, so dass vom linearen Modell der »Reise in die Vergangenheit« immer wieder abgewichen wird. Auch wenn das Motiv der zeitlichen Simultanität eine weniger offensichtliche Rolle spielt als z.B. in Jar-
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somit immer wieder Merkmale auf, die charakteristisch für Deleuzes Konzeption des Zeit-Bildes sind. Am Ende des Films liegt Blake bewegungslos in dem Kanu, das sein Sarg sein wird, und muss mitansehen, wie Nobody und der Killer Cole Wilson sich (im Sinne einer generischen Parodie des final shootout) gegenseitig erschießen. Blake kann nicht mehr eingreifen, doch – auch ohne seine Brille, die Nobody ihm entwendet hat – »sieht« er noch. Auch für Dead Man gilt daher, was Deleuze mit Blick auf den italienischen Neorealismus bemerkt hat: »Wir haben es nunmehr mit einem Kino des Sehenden [cinéma de voyant] und nicht mehr mit einem Kino der Aktion zu tun« (ZB 13).72 Das Umgreifende stellt sich in Dead Man folglich nicht als Situation dar, die von einem Protagonisten »gemeistert« wird, dem die Fähigkeit zukommt, sich seiner Umgebung gleichermaßen anzupassen wie sie zu beherrschen. Stattdessen weist es einen wesentlich fatalistischen Charakter auf, wobei es jedoch zu ausdrucksstarken Visionen und »abweichenden Bewegungen« (ZB 59) kommt, die nicht mehr der Logik des sensomotorischen Schemas gehorchen. Auch wenn Blake dadurch nicht denselben Status hat, über den der Held im klassischen Western (als Zentrum des sensomotorischen Schemas) verfügt, nimmt er dennoch einen zentralen Platz ein. Ihm zur Seite steht mit Nobody allerdings eine weitere Figur, die eine durchaus ebenso wichtige Rolle spielt. Das Verhältnis zwischen Blake und dem Indianer Nobody scheint auf den ersten Blick ein Motiv zu aktualisieren, das in der amerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte eine lange Tradition hat. So heißt es in Fiedlers Love and Death in the American Novel etwa: »Ever since, the typical male protagonist of our fiction has been a man on the run, harried into the forest and out to sea, down the river or into combat – anywhere to avoid ›civilization‹, which is to say, the confrontation of a man and woman which leads to the fall to sex, marriage, and responsibility […]. To ›light out for the territory‹ or seek refuge in the forest seems easy and tempting from the vantage point of a chafing and restrictive home; but civilization once disavowed and Christianity disowned, the bulwark of woman left behind, the wanderer feels himself without protection, more motherless child than free man. To be sure, there is a substitute for wife or mother presumably waiting in the green heart of nature: the natural man, the good companion, pagan and unashamed – Queequeg or Chingachgook or Nigger Jim.« (Fiedler 2003, 26)
Laut Fiedler verkörpert die Figur des Indianers in der amerikanischen Literatur- und Kulturgeschichte zwar einerseits Brutalität und rohe Gewalt, d.h. die Gefahr, die vom muschs früherem Film Mystery Train (1989), kommt es folglich auch in Dead Man zu einer komplexen Verschränkung unterschiedlicher Zeitebenen. 72 Siehe diesbezüglich auch die sogenannte »vision quest« (vgl. Hertzberg [Hg.] 2001, 164165 und Mauer 2006, 218-221), auf die Blake – wohl ohne es zu wissen – von Nobody geschickt wird, der ihn vorübergehend allein (und ohne Essen und Trinken) zurücklässt. Eines Nachts am Lagerfeuer »sieht« Blake dann auch die rituell bemalten Gesichter mehrerer Indianer, die sogleich wieder im Wald verschwunden sind. Auch hier ist nicht klar, ob es sich um aktuelle oder virtuelle Bilder handelt, d.h. um die adäquate Wahrnehmung der Gegenwart – oder um die Geister einer traumatischen Vergangenheit, von denen die Gegenwart mittels visionärer Zeit- und Erinnerungsbilder heimgesucht wird.
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»unzivilisierten Anderen« ausgeht;73 gleichwohl fungiert der Indianer aber auch als romantische Projektionsfläche jener »radikalen Unschuld«, die der weiße Amerikaner jenseits der frontier – und jenseits der Restriktionen, Verantwortlichkeiten und Begrenzungen des zivilisierten Lebens – imaginiert und begehrt.74 Die Freundschaft zwischen dem weißen, männlichen Protagonisten und seinem indianischen (oder in anderer Hinsicht »exotischen«) Begleiter korrespondiert in der amerikanischen Literatur somit vielfach mit primitivistischen Fantasien und einer Markierung des »Anderen« als unzivilisiert. Wie etwa Justus Nieland erläutert hat, stellt sich das Verhältnis von Nobody und Blake in Dead Man jedoch deutlich komplexer dar.75 So wird Nobody als ausgestoßener »Mischling« präsentiert, dessen Eltern zwei separaten und teilweise verfeindeten Stämmen angehörten (dem Blackfoot und dem Blood Tribe), was den einfachen Binarismus von »Weißen« und »Indianern« wesentlich verkompliziert. Zudem stellt sich heraus, dass der Indianer Nobody mit der Lyrik des englischen Dichters William Blake vertraut ist, dessen Verse er auswendig aufsagen kann. Auch wenn Nobody aufgrund seines Federschmucks äußerlich durchaus dem typischen Klischee des »Plains Indian« entspricht, wird er folglich keinesfalls als unzivilisiert präsentiert. Vielmehr handelt es sich bei Nobody um einen grundsätzlich hybriden Charakter, der – seinem Namen entsprechend – keine fixierbare Identität aufweist und sich zwischen allen Welten befindet: Die Weißen, die er fortwährend als »stupid fucking white men« bezeichnet, hatten ihn als Kind gefangen genommen und nach England verschleppt, wo er den staunenden Europäern wie ein Tier im Zoo (»like a captured animal«) präsentiert wurde.76 Nach seiner Flucht zurück in die 73 Dementsprechend heißt es weiter: »But the figure of the natural man is ambiguous, a dream and a nightmare at once. The other face of Chingachgook is Injun Joe, the killer in the graveyard and the haunter of caves« (Fiedler 2003, 26). Zur literarischen Repräsentation der Figur des Indianers, siehe auch Fiedler 1969. 74 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Winfried Flucks Aufsatz »Playing Indian: Aesthetic Experience, Recognition, Identity« (Fluck 2009, 433-451), in dem die (weiße) Faszination für die Figur des Indianers anhand von ausgewählten Portraits des »Indianerfotografen« Edward S. Curtis untersucht wird. Wie Fluck argumentiert, begegnet der weiße Betrachter den Bildern der Native Americans stets im Kontext eines »kulturellen Imaginären«, das der Wahrnehmung eine narrative Grundlage verschafft. Die ethnische Differenz, die in den Indianerportraits zum Ausdruck kommt, dient somit als Markierung einer ersehnten Andersheit – der Indianer wird z.B. als »naturverbunden«, »authentisch« oder »würdevoll« wahrgenommen –, die das Resultat einer kulturellen Zuschreibung darstellt. Dadurch fungieren die Bilder aber nicht bloß als Projektionsfläche der eigenen Identität, sondern ermöglichen dem Betrachter eine ästhetische Erfahrung, aus der eine imaginäre Selbsterweiterung resultiert: »Aesthetic experience does not fix identities, because it provides an ever new construction and performance of identity, not its fixation in a unified subjectivity. It establishes all kinds of complicated relations between myself and an other, and in doing so, it has the potential to extend and enlarge identities« (447). 75 Vgl. Nieland 2001, 177: »[A]gainst so many of the ›Cult of the Indian‹ anti-Westerns in the 1960s and 1970s, [Dead Man’s] critique of a rotting Western socius never becomes a romantic embrace of a primitive, pre-modern culture«. 76 Jarmusch hat in einem Interview betont, dass für das Schicksal Nobodys zahlreiche historische Vorbilder existieren: »I read accounts of natives that were taken all the way to Europe
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Heimat ist er zudem von seinem indianischen Stamm verstoßen worden, weshalb er fortan außerhalb jeder Bezugsgruppe lebt: »I was left to wander the earth alone«. In gewisser Weise handelt es sich bei Blake und Nobody also gleichermaßen um »Ausgestoßene«, d.h. von ihren ursprünglichen Bezugsgruppen marginalisierte Figuren, deren Verbindung keine neue Synthese anzeigt, sondern sich vielmehr als »widernatürliches Bündnis« darstellt (KK 107). Justus Nieland hat in diesem Sinne argumentiert, dass der spezifische Charakter des Verhältnisses von Nobody und Blake jenes archetypische Szenario, das eingangs mit Verweis auf Fiedlers Love and Death in the American Novel beschrieben wurde, einer merklichen Deterritorialisierung unterzieht: »And while the relationship between Blake and Nobody, ›red man‹ and ›dead man‹, replays what Leslie Fiedler once called the ›archetypal image in American literature…in which a white and a colored American male flee from civilization into each other’s arms‹, it also complicates this drama by denying that Blake and Nobody are purely white or purely colored.« (Nieland 2001, 177)
Zudem macht Jarmusch deutlich, dass Nobodys und Blakes Freundschaft auf einem reinen Missverständnis basiert. Dies ist für Jarmuschs Kino generell charakteristisch, denn auch in Filmen wie Stranger than Paradise (1984), Down by Law (1986), Mystery Train (1989) oder Ghost Dog (1999) ist es so, dass der Zuschauer auf Figuren stößt, deren Verbindung keinerlei Verstehen impliziert, sondern vielmehr mit Missverständnissen korrespondiert, die zu keinem Zeitpunkt aufgeklärt werden.77 In Dead Man etwa wird William Blake von Nobody für die Reinkarnation des englischen Dichters gleichen Namens gehalten, von dem der aktuelle Blake aus Cleveland indes nie zuvor gehört hat. Dementsprechend versteht Blake im Laufe des gesamten Films auch kaum eine Äußerung Nobodys (»I haven’t understood a single word you’ve said since I met you«), dessen Spiritualismus ihm ebenso verschlossen bleibt wie die Poesie seines Namensvetters, die fortlaufend von Nobody zitiert wird.78 Als Blake am and put on display in London and Paris, and paraded like animals« (zit. aus Hertzberg [Hg.] 2001, 163). 77 In Bezug auf Mystery Train schreibt hierzu etwa Roman Mauer: »Festhalten lässt sich, dass Jarmuschs Figuren sich gegenseitig nicht erkennen und verstehen: Schwerer als die sprachlichen Differenzen wiegen dabei der Ethno- oder Egozentrismus, bzw. die Vorurteile, welche den Blick auf das Gegenüber verstellen« (Mauer 2006, 145). Wie im Folgenden am Beispiel von Dead Man gezeigt wird, sind die Missverständnisse in Jarmuschs Filmen allerdings nicht rein negativ konnotiert, sondern haben vielfach auch positive Konsequenzen. So kommt bei Jarmusch grundsätzlich eine Form der sozialen Kollektivität zum Ausdruck, die keinem gemeinsamen Code gehorcht, sondern eher einen »maschinischen« Charakter hat. Anders gesagt: Die Dinge funktionieren generell auch ohne dass man sich versteht, da es immer wieder zu Nachahmungs- und Wiederholungspraktiken, Rückkopplungseffekten, affektiven Interferenzen und produktiven Missverständnissen kommt. 78 Zu seiner Entdeckung der Texte von William Blake in England bemerkt Nobody: »So they placed me into the white man’s schools. And it was there that I discovered in a book the words that you, William Blake, had written. They were powerful words, and they spoke to me«. Jens Martin Gurr zufolge lässt sich Nobodys Aneignung der Lyrik Blakes als subver-
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Ende des Films bereits in dem für seine letzte Reise geschmückten Kanu liegt, das ihn aufs offene Meer tragen soll, wird deutlich, dass sich an dieser Grundkonstellation bis zum Schluss nichts geändert hat: NOBODY: »I prepared your canoe with cedar bows. It’s time for you to leave now, William Blake. Time for you to go back to where you came from«. BLAKE: »You mean Cleveland?« NOBODY: »Back to the place where all the spirits came from, and where all the spirits return. This world will no longer concern you«. BLAKE: »I found some tobacco«. NOBODY: »The tobacco is for your voyage, William Blake«. BLAKE: »Nobody – I don’t smoke«.
Blakes Ahnungslosigkeit zeigt sich in diesem letzten Dialog des Films nicht nur daran, dass er Nobody missversteht, als dieser erklärt, es sei nun an der Zeit, zu seinem Ursprungsort zurückzukehren (»to go back to where you came from«). Noch wesentlicher ist die Tatsache, dass Blake die Funktion des Tabaks nicht begreift, der hier als reines Sakrament – und nicht als alltägliches Suchtmittel – fungiert. Wie Jarmusch in einem Interview mit Jonathan Rosenbaum bemerkt, verweist das kontinuierlich wiederkehrende Motiv des Tabaks in Dead Man vor allem auf die Diskrepanz des je unterschiedlichen Tausch- und Gebrauchswertes, der dem Tabak bei den Indianern und den Weißen zukommt: »I have a real respect for tobacco as a substance, and it just seems very funny how the Western attitude is, ›Wow, people are addicted to this, think of all the money you can make off it‹. For indigenous people here, it’s still a sacrament, it’s what you bring to someone’s house, it’s what you smoke when you pray.« (Zit. aus Hertzberg [Hg.] 2001, 159) sive Strategie begreifen, um dem Kolonisator in dessen eigener Sprache entgegenzutreten: »In Nobody’s appropriation of him as a canonical figure in Anglophone literature, Blake thus literally becomes the spokesperson of a Native American. This can be read as a subversive ›Citing Back‹ of Blake texts« (Gurr 2007, 196). Als gutes Beispiel für diese Lesart lässt sich der Anfang des Gedichts »The Everlasting Gospel« nennen, den Nobody zitiert, um auf die rassistischen Beleidigungen eines missionarischen Händlers zu antworten: »The Vision of Christ that thou dost see/ Is my Vision’s greatest Enemy« (Blake 1995, 297). Jarmuschs eigene Erklärung für den zentralen Stellenwert der Lyrik Blakes in Dead Man legt jedoch noch eine andere Lesart nahe: »Blake just walked into the script right before I was starting to write it […]. He was sort of a late development because I was reading a lot of books by Indians, and to take a break from that, I just picked up a copy of the collected works of Blake […] and started reading Proverbs of Hell. And that’s when I thought, ›Wow, man, this is so close to the other stuff I’ve been reading‹. You know – ›Expect poison from the standing water‹. All those little aphorisms« (zit. aus Rosenbaum 2009, 75). Mit Verweis auf Deleuze lässt sich diesbezüglich von einer »Ununterscheidbarkeitszone« (KK 116) sprechen, durch die die übliche Trennung von indianischer Mystik und europäischer Poesie zunehmend verwischt. Dass Nobody beide Diskursarten deterritorialisiert und im Kontext eines neuen Äußerungsgefüges zusammenfließen lässt, unterstreicht einmal mehr seinen Status als hybride Figur ohne festgelegte Identität.
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Demzufolge ließe sich argumentieren, dass das Nicht-Verstehen Blakes die generelle Ignoranz des Westens gegenüber der Kultur der Indianer zum Ausdruck bringt, so dass sich der Film als insgesamt pessimistisch in Bezug auf die Möglichkeit interkulturellen (und interethnischen) Verständnisses darstellt.79 Möglich ist jedoch auch eine andere Lesart, die beispielsweise Roman Mauer nahelegt, wenn er die Kommunikation zwischen Blake und Nobody wie folgt charakterisiert: »Die Dialoge balancieren auf einem feinen Grad zwischen Ernst und Komik in Analogie zu dem feinen Lächeln, das sich Nobody und Blake manchmal zuwerfen, so als wüssten beide um ihr falsches Rollenspiel – einen Spaß, den sie nicht entlarven wollen, weil es ihre Form ist, freundschaftlich miteinander zu kommunizieren« (Mauer 2006, 207-208). Dies soll zwar nicht heißen, dass Nobody und Blake die bestehenden Missverständnisse lediglich in parodistischer Manier inszenieren würden, diese also gar nicht wirklich existierten. Es lässt sich allerdings die Annahme vertreten, dass beiden Protagonisten die prinzipielle Inkommensurabilität ihrer Welten durchaus bewusst ist, sie es aber nicht für nötig halten, ihre Missverständnisse aufzuklären, da es das Nicht-Verstehen selbst ist, das die Grundlage ihres »widernatürlichen Bündnisses« bildet. In Anlehnung an Deleuze lässt sich dementsprechend argumentieren, dass es Nobody und Blake nicht um Kommunikation im eigentlichen Sinne geht, sondern darum, »leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen« (U 252). Es kommt ihnen folglich darauf an, den jeweils Anderen »nicht allzu sehr […] zu explizieren« und stattdessen als Möglichkeit, d.h. als »Ausdruck einer möglichen Welt« (DW 327) zu begreifen. Diese Konzeption der Figur des Anderen, die Deleuze in Differenz und Wiederholung und der Logik des Sinns präsentiert, ist explizit gegen diejenigen Theorien gerichtet, in denen sich der Andere nicht als strukturelle Komponente des Wahrnehmungsfeldes a priori darstellt, sondern »entweder auf ein besonderes Objekt oder auf ein anderes Subjekt« (LS 370) reduziert wird:80 »Doch der andere ist weder ein Objekt in meinem Wahrnehmungsfeld noch ein Subjekt, das mich wahrnimmt: Er ist zunächst eine Struktur des Wahrnehmungsfeldes, ohne die dieses Feld in seiner Gesamtheit nicht so funktionieren würde, wie es funktioniert. Daß diese Struktur durch reale Personen, durch wechselnde Subjekte verwirklicht wird – Ich für euch und ihr für mich –, verhindert nicht, daß sie als allgemeine Organisationsbedingung noch vor den Termen existiert, die sie in jedem organisierten Wahrnehmungsfeld aktualisieren […]. Doch welches ist 79 Vgl. Szaloky 2001, 66: »Dead Man projects a distinctly pessimistic view of the possibilities of concord and understanding between races, suggesting that the different points of view and versions of history can only meet ›where the sea meets the sky‹, in the unattainable infinity of the ever-receding horizon – the only place, presumably, that lies beyond physical and symbolic violence«. 80 In seine Kritik schließt Deleuze auch die komplexe Konzeption Sartres aus Das Sein und das Nichts mit ein, über die es heißt: »Der Fehler der Theorien liegt genau darin, unaufhörlich zwischen einem Pol, an dem der Andere auf den Status eines Objekts reduziert ist, und einem Pol, wo er zum Status des Subjekts erhoben wird, zu schwanken. Selbst Sartre begnügte sich damit, dieses Schwanken in den Anderen als solchen einzuschreiben, indem er zeigte, daß der Andere Objekt wird, wenn ich Subjekt bin, und selbst nicht Subjekt wird, ohne daß ich meinerseits Objekt bin. Dadurch blieb die Struktur des Anderen ebenso verkannt wie seine Funktionsweise in den psychischen Systemen« (DW 326).
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diese Struktur? Es ist die des Möglichen. Ein erschrockenes Gesicht ist der Ausdruck einer erschreckenden möglichen Welt oder von etwas Schrecklichem in der Welt, das ich noch nicht sehe. Das Mögliche ist hier also wohlverstanden keine abstrakte Kategorie, die etwas nicht Existierendes bezeichnet: Die ausgedrückte mögliche Welt existiert selbstverständlich, doch sie existiert (aktuell) nicht außerhalb dessen, wodurch sie ausgedrückt wird.« (LS 370)
Als »Ausdruck einer möglichen Welt« ist der Andere demzufolge in die Wirklichkeit der existierenden Welt eingebunden, dies allerdings nicht als aktualisiertes Subjekt oder Objekt, sondern im Sinne von nicht-explizierten »Potentialitäten oder Virtualitäten« (LS 369), die einen wesentlich umhüllenden Charakter haben: »Als Anderer, der niemand ist, sondern ich für den Anderen und der Andere für mich, definiert sich der Andere a priori in jedem System durch seinen expressiven, d.h. impliziten und umhüllenden Wert« (DW 326).81 In der Regel strebt das Subjekt allerdings danach, »die durch den Anderen ausgedrückte Welt zu explizieren, zu entwickeln, sei es, um daran teilzuhaben, sei es, um sie zu widerlegen«. Dies wiederum führt dazu, dass sich die Struktur des Anderen auflöst und dieser »im einen Fall auf den Status eines Objekts« reduziert wird, »im anderen Fall in den Status eines Subjekts« erhoben wird (327). Im Falle des Verhältnisses von Nobody und Blake kommt es allerdings zu keiner konsequenten »Explikation« des jeweils Anderen, der folglich weiterhin als Möglichkeit fungiert, die in der Welt des Gegenübers nicht im eigentlichen Sinne aufgeht, sondern diese lediglich umhüllt und affiziert, ohne tatsächlich realisiert zu werden. Und diese wechselseitige Weigerung, den Anderen zu explizieren, um so »seine impliziten Werte zu erhalten« (327), macht das eigentlich Besondere der Verbindung von Nobody und Blake aus, der es in jeder Hinsicht an gegenseitigem Verstehen mangelt, die aber dennoch im Sinne einer Freundschaft funktioniert.82 Denn trotz des Mangels an Verständnis und Verstehen stellt sich der Kontakt zwischen Nobody und Blake als keinesfalls unergiebig dar. Im Gegenteil: Beide Charaktere geraten aufgrund jenes Kontakts in einen Werdensprozess, in dessen Verlauf es zu einer reziproken Transformation ihrer jeweiligen Form von Subjektivität kommt. Anders als im Falle der Frontierthese Turners, dessen Qualifizierung des Kontakts zwischen weißem Siedler und Indianer im Rahmen einer weitgehend eindimensionalen Teleologie erfolgt, wird das Zusammentreffen von Nobody und Blake somit als wesentlich »er81 Diese Konzeption des Anderen als »niemand« (nobody) unterscheidet sich freilich von Ansätzen aus dem Umfeld der Race-and-Gender Studies, die den Anderen durch die hegemoniale Macht zur rechtlosen Unperson degradiert sehen (vgl. Szaloky 2001, 59-61). Obwohl Nobody seinen Namen primär deshalb trägt, weil er in mehrfacher Hinsicht als »Ausgestoßener« fungiert, verweist der Name zugleich auf seinen Status als Anderer im Sinne von Deleuze – d.h. im Sinne der Verkörperung einer »möglichen Welt«, die sich weder mit der Welt der Weißen noch mit derjenigen seines Stammes deckt. 82 Es lässt sich argumentieren, dass Deleuzes Konzeption des Anderen gewisse Parallelen zu Victor Segalens Begriff des »Exotismus« aufweist, der sich ebenfalls gut zur Charakterisierung des Verhältnisses von Nobody und Blake eignet. Vgl. etwa Segalen 1994, 44: »Der Exotismus ist also keine Anpassung; es ist also nicht das vollkommene Begreifen eines Nicht-Ich, das man sich einverleiben könnte, sondern die scharfe, unmittelbare Wahrnehmung einer ewigen Unverständlichkeit«. Das Werk Segalens findet bei Deleuze allerdings an keiner Stelle Erwähnung.
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eignishaft« präsentiert. Während Turners Konzeption nur eine Richtung kennt – nämlich diejenige der Verwandlung des Europäers in einen Amerikaner, wobei der Indianer lediglich als Medium oder Vehikel fungiert –, zeichnet sich das Verhältnis von Nobody und Blake durch eine prinzipielle Offenheit aus (die freilich durch Blakes nahenden Tod begrenzt wird, auf den der Film von Anfang an hinausläuft). Dabei ist der Mythos in Jarmuschs Film allenfalls noch in parodistischer Hinsicht von Bedeutung: Nobody und Blake verkörpern zwar äußerlich identifizierbare »Typen«, die im Kontext der Westernmythologie ihren Platz haben; beide Figuren zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie in merklicher Distanz zu ihren jeweiligen Bezugsgruppen stehen und nicht wirklich mit den Rollenklischees zusammenpassen, die sie – oberflächlich betrachtet – verkörpern. Diese relative Deterritorialisierung, die beide Charaktere sowohl von ihren Bezugsgruppen als auch den dominanten Klischees der Westernmythologie trennt, ermöglicht ihnen zugleich ein Werden, in dessen Verlauf es zu vielfältigen Formen von Aneignung, Tausch und Vermischung kommt. Besonders deutlich wird dies bei Blake, der durch seinen Kontakt mit Nobody in ein »IndianerWerden« gerät, das sich auch äußerlich bemerkbar macht: Während Blake zu Anfang des Films noch in einem karierten Anzug steckt und zudem Fliege, Hut und Nickelbrille trägt, nimmt er im Laufe des Films zunehmend das Äußere eines Nordwestküsten-Indianers an, trägt Gesichtsbemalung und ist in ein Bärenfell gehüllt. Unter der Fellkleidung ragen jedoch »noch die alten karierten Hosen hervor«, wie Roman Mauer bemerkt. Dies lässt sich als Hinweis darauf verstehen, dass der Prozess der »Indianisierung« – Blakes Verwandlung in einen Indianer – nicht vollständig abgeschlossen ist. Was also hat sich ereignet: »Metamorphose oder nur Verkleidung?« (Mauer 2006, 217). Mehrere Kommentatoren von Dead Man haben die Auffassung vertreten, dass die Verwandlung Blakes als gezielte Operation zu begreifen ist, die von Nobody ausgeht und planvoll gesteuert wird. Quasi als Antwort auf die erzwungene »Europäisierung« Nobodys mache dieser es sich nun zur Aufgabe, einen Weißen zu »indianisieren« und als Werkzeug im Kampf gegen die Kolonialherren einzusetzen.83 Dieser Lesart zufolge fungiert in Dead Man also der Indianer als »Motor der Geschichte und nicht der Weiße, denn Nobody moduliert Blake zum ›murder[er] of white men‹, instrumentalisiert ihn für den Krieg gegen die Euroamerikaner« (Mauer 2006, 217). Nobodys vermeintlicher Plan, aus Blake einen »killer of white men« zu machen, geht im Wesentlichen sogar auf, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Denn obwohl Blake die Rolle wenigstens teilweise anzunehmen scheint, passt er ganz und gar nicht zum Klischee des Revolverhelden. Während der Held im klassischen Western nämlich seine Umgebung dominiert und auf die Erfordernisse der jeweiligen Situation mit einer adäquaten Handlung zu antworten weiß, mangelt es Blake in jeder Hinsicht an sensomotorischer Adäquanz. Dass sich das Greenhorn aus Cleveland dennoch als treffsicherer Schütze entpuppt, der seine Widersacher und Verfolger der Reihe nach 83 Vgl. Nieland 2001, 187-188: »For Nobody, Blake functions, at least in part, as an instrument of retributive violence against white men […]. Importantly, while Blake’s transformation to quasi-mythic white killer – his becoming-warrior – is initially unwitting and, in fact, accidental, as Blake’s fame grows, and the ›wanted‹ posters of himself that he encounters mark the increasingly long record of his crimes, he begins to accept the identity Nobody has conferred upon him«.
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ausschaltet, ist eine Pointe, die von Jarmusch allzu kalkuliert eingesetzt wird. Was diesbezüglich allerdings deutlich wird, ist die Tatsache, dass Blakes Metamorphose mit einem »Riss« korrespondiert, der sich zwischen seinem ursprünglichen Habitus und der Existenzweise auftut, die er sich auf der Flucht gezwungenermaßen zu eigen macht. Anders gesagt: Auch wenn er die Waffe letztlich zu benutzen weiß, wirkt sie trotzdem stets wie ein Fremdkörper, der nur durch Zufall in seinen Besitz geraten ist.84 Blakes Transformationsprozess führt somit nicht dazu, dass er seine alte Identität zugunsten einer neuen Identität abstreift. Eher ist es so, dass er fortwährend zwischen beiden Polen – dem Greenhorn aus Cleveland und dem »killer of white men«, dem weißen Buchhalter und dem visionären Indianer – hin und her schwankt, was genau dem fluiden Subjektstatus von Nobody entspricht, der sich ebenfalls als hybride Figur ohne feste Identität manifestiert. Dies heißt allerdings auch, dass Blake nicht lediglich als Nobodys »Marionette« zu verstehen ist (Mauer 2006, 217), was sich auch daran zeigt, dass seine Indianisierung allenfalls teilweise gelingt. Das Zusammentreffen von Nobody und Blake lässt sich daher wesentlich präziser als Ereignis mit offenem Ausgang begreifen, von dem letztlich beide Charaktere affiziert werden. Zwar ist es durchaus zutreffend, dass Nobody den dominanten Part in der Verbindung mit Blake darstellt; schließlich geht aber auch er aus dem Kontakt verändert hervor, da Blake ihn ungewollt dazu animiert, sich stückweise in den gleichnamigen Dichter zu verwandeln, dessen Sprache er sich mehr und mehr aneignet. Ironischerweise ist es also Nobody, der in die Rolle William Blakes schlüpft, während sein Gegenüber (den er als dessen Reinkarnation begreift) stets von sich behauptet, absolut nichts von Poesie zu verstehen: »I don’t know anything about poetry«. Um die Beziehung von Nobody und Blake abschließend qualifizieren zu können, macht es an dieser Stelle Sinn, noch einmal genauer auf Deleuzes und Guattaris Konzeption des »Werdens« einzugehen. Hierzu heißt es in den Tausend Plateaus: »Ein Werden ist immer in der Mitte, man kann es nur in der Mitte erfassen. Ein Werden ist weder eins noch zwei, noch die Beziehung zwischen beiden, sondern es ist dazwischen, die Grenze oder Fluchtlinie, die Fallinie, die vertikal zu beiden verläuft. Das Werden ist ein Block (Linien-Block), weil es eine Zone der Nachbarschaft und Ununterscheidbarkeit bildet, ein Niemandsland, eine nicht lokalisierbare Beziehung, die die beiden entfernten oder angrenzenden Punkte mitreißt und den einen in die Nachbarschaft des anderen trägt.« (TP 400)
Im Sinne von Deleuze und Guattari lässt sich dementsprechend argumentieren, dass Blake und Nobody den jeweils Anderen nicht imitieren, sondern miteinander eine »Nachbarschaftszone« bilden, in der es zu einer wechselseitigen Deterritorialisierung kommt.85 Zwar lassen sich in Dead Man auch Beispiele finden, die eher den Charak84 Vgl. Jarmuschs folgende Aussage aus dem Interview mit Rosenbaum: »[Blake is] branded an outlaw totally against his character […]. Even the scene in the trading post where the missionary [Alfred Molina] says, ›Can I have your autograph?‹ and then pulls a gun on him, and Blake stabs him in the hand and says, ›There, that’s my autograph‹. It’s like all these things are projected onto him« (zit. aus Hertzberg [Hg.] 2001, 164). 85 Vgl. hierzu auch das oft genannte Beispiel der Beziehung von Wespe und Orchidee: »Die Orchidee deterritorialisiert sich, indem sie ein Bild formt, das Abbild einer Wespe; aber die
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ter von Imitationen haben, so etwa wenn Nobody Blakes Brille und Hut aufsetzt und dessen Verhalten auf parodistische Weise nachäfft.86 Hier allerdings werden die Identitäten noch einer binären Segmentierung unterzogen, was sich im Laufe des Films zunehmend ändert. Dass Blake letztlich nicht vollständig zum Indianer wird, zeigt in dieser Hinsicht einmal mehr, dass er nicht einfach nur von einer Identität in die andere wechselt. In gewisser Weise ähnelt Blakes Verwandlung somit dem »IndianerWerden« Le Clézios, das Deleuze folgendermaßen beschreibt: »Wenn Le Clézio Indianer-wird, so ist dies ein stets unvollkommener Indianer, der nicht weiß, wie man ›den Mais anbaut oder eine Piroge haut‹: Er tritt eher in eine Nachbarschaftszone ein, als dass er formale Merkmale erwirbt« (KK 12).87 In dieser Nachbarschaftszone versteht Blake nach wie vor die sakramentale Funktion des Tabaks nicht und hat noch immer keine Vorstellung von jenem Land, »where all the spirits come from, and where all the spirits return«. Trotzdem hat er im Zuge seines Werdens aber etwas gesehen und erfahren, das ihn wesentlich verändert hat, so dass er auch nicht mehr in seine ursprüngliche Rolle als weißer Buchhalter aus Cleveland passt. Die Begegnung Wespe reterritorialisiert sich auf diesem Bild. Die Wespe dagegen deterritorialisiert sich, indem sie selber zu einem Teil des Fortpflanzungsapparates der Orchidee wird; aber sie reterritorialisiert die Orchidee, weil sie deren Pollen transportiert […]. Man könnte sagen, daß die Orchidee die Wespe imitiert, deren Bild sie auf signifikante Weise reproduziert […]. Gleichzeitig geht es jedoch um etwas anderes: […] es geht um wirkliches Werden, Wespe-Werden der Orchidee, Orchidee-Werden der Wespe, und jedes Werden sichert die Deterritorialisierung des einen und die Reterritorialisierung des anderen Terms, das eine und das andere Werden verbinden sich miteinander und wechseln sich in einem Kreislauf von Intensitäten ab, der die Deterritorialisierung immer weiter vorantreibt« (TP 20). 86 Vgl. hierzu die Interpretation von Jens Martin Gurr, der die Szene als perfektes Beispiel für das postkoloniale »Mimikry«-Konzept deutet: »It almost seems as though Dead Man drastically literalizes this concept in two brief glimpses in which Nobody puts on Blake’s tophat and glasses respectively and mockingly apes him – and ›white‹ behaviour in general« (Gurr 2007, 198). 87 Blakes »Indianer-Werden« unterscheidet sich in dieser Hinsicht grundlegend von der Indianisierung John Dunbars in Kevin Costners Dances with Wolves (1990). Denn während Dunbar sich zu seinem Übertritt zu den Sioux-Indianern bewusstermaßen entscheidet, geschieht das Indianer-Werden Blakes weitgehend unwillentlich. Dunbar, so lässt sich mit Deleuze sagen, erwirbt nach und nach die »formalen Merkmale« der Sioux, indem er sich mit ihren Gebräuchen vertraut macht, Federschmuck trägt und ihre Sprache lernt. Da er die Stationen der Verwandlung seiner Identität reflektiert und minutiös in seinem Tagebuch festhält, wird er als Charakter präsentiert, der seine eigene Metamorphose wesentlich steuert und kontrolliert. Blake hingegen entscheidet sich weder dafür, zum Indianer zu werden, noch versteht er deren Sprache oder Kultur; vielmehr affiziert ihn etwas, das er zu keinem Zeitpunkt wirklich begreift, dem er sich aber dennoch nicht entziehen kann. Seine Verwandlung stellt daher – konträr zu Dances with Wolves – nicht die Selbsterweiterung einer willensstarken Persönlichkeit dar, sondern einen Werdensprozess, der weitgehend im Unbewussten operiert. Anders gesagt: Während Dunbars Verwandlung im Zeichen der »Theatralität« steht (siehe etwa die Tagebucheinträge, die sich an einen imaginären oder »impliziten« Leser richten), lässt sich Blakes Minoritär-Werden eher mit Verweis auf den Begriff der »Absorption« charakterisieren (vgl. Fried 1980).
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zwischen Blake und Nobody ereignet sich demnach in genau jenem von Deleuze und Guattari erwähnten »Niemandsland«, auf das Nobody bereits durch seinen Namen verweist, das aber ebenso durch Blake verkörpert wird. Mit Bezug auf den Anfang des vorliegenden Kapitels lässt sich jenes »Niemandsland« auch treffend als contact zone charakterisieren, d.h. als komplexer Zeit-Raum, »where subjects previously separated by geography and history are co-present […] [and] their trajectories now intersect«: »A ›contact‹ perspective […] treats the relations among colonizers and colonized, or travelers and ›travelees‹, not in terms of separateness, but in terms of co-presence, interaction, interlocking understandings and practices, and often within radically asymmetrical relations of power« (Pratt 2008, 8). Die Beziehung von Nobody und Blake verkörpert in dieser Hinsicht eine Art des Kontakts, der (auch wenn er innerhalb eines höchst asymmetrischen MachtRaumes stattfindet) nicht nur eine Richtung kennt, sondern als Ereignis mit prinzipiell offenem Ausgang fungiert. Allerdings wird der Westen in Dead Man nicht nur als contact zone beschrieben, sondern zugleich auch als Todesraum, in dem sich jeder Kontakt, der Dickinsons Profit- und Eroberungsstreben zuwiderläuft, der Gefahr aussetzt, eliminiert zu werden. Wie in den Klassikern des Genres fungiert der Westen folglich auch bei Jarmusch noch als »Schlachtfeld« – mit dem Unterschied jedoch, dass dieses nun nicht mehr auf die Grenze von Zivilisation und Wildnis oder den Konflikt zwischen aufrechten Siedlern und Banditen verweist, sondern auf den nahezu unbegrenzten Zerstörungswillen einer gnadenlosen Profitgier.88 Es ist genau diese Tendenz – und nicht der vermeintliche Mangel an Verständnis für den Anderen –, die den Kontakt zwischen Weißen und Indianern (sowie zwischen Mensch und Tier, »Kultur und Natur« etc.) de facto übercodiert und einer letztlich fatalen Entwicklung aussetzt. Gleichwohl scheint in Jarmuschs »Niemandsland« aber auch die Möglichkeit eines anderen Westens auf, in dem die Rollen noch nicht derart verteilt sind, d.h. »über die Vielheit der Lebens-Formen noch nichts entschieden ist« (von der Heiden/Vogl [Hg.] 2007, 12). Wenn Blake während seiner vision quest ein erlegtes Reh umarmt und sein eigenes Blut mit dem Blut des toten Tieres vermischt, dann zeigt Jarmusch einerseits, dass Blakes Indianer-Werden zugleich mit einem »Tier-Werden« und einer veränderten Sensibilität für andere Lebensformen einhergeht.89 Andererseits betont er hierdurch die Gewalt, die im Kontext der amerikanischen Westausdehnung nicht nur den Kontakt zwischen weißen Siedlern und Indianern bestimmt hat, sondern auch denjenigen zwischen Mensch und Tier. Das Besondere an Dead Man besteht nicht zuletzt darin, dass der Film dieser Gewalt zwar keinesfalls ausweicht, dass er zugleich aber kinematographisch an jenen Punkt zurückzukehren versucht, an dem das Schicksal des Westens noch nicht endgültig besiegelt ist. »Statt sich an der Ikonographie eines Peckinpah oder Kasdan abzuarbeiten«, schreibt Andreas Kilb, »kehrt Jarmusch zu den ältesten Erinnerungen des Genres zu88 Jonathan Rosenbaum hat den Film daher als »one of the ugliest portrayals of white American capitalism to be found in American movies« bezeichnet (vgl. Rosenbaum 2009, 18). 89 Vgl. Buchanan 2011, 305: »Jarmusch has given us in Blake’s journey a fascinating meditation on life as becoming […]. For example, a key scene in the film in which Blake encounters a dead fawn in a clearing and marks himself with the animal’s blood before lying down next to it illuminates his growing sense of affinity and connection with other forms of life; as well as a form of ›becoming animal‹«.
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rück, zu den Bildern, die George Catlin vor dem Beginn der großen Eroberung aus der Welt jenseits des Missouri mitbrachte« (Kilb 2003, 362). Diese Bilder werden dem Zuschauer jedoch nicht als anthropologische Fundstücke aus einem fernen oder vergangenen Land präsentiert, sondern im Sinne des Fiebertraums eines Sterbenden, der im Delirium eine »Lebensmöglichkeit« erblickt, die sich allein im Niemandsland der Geschichte entdecken lässt.
2.7 E IN NEUES B ILD DES W ESTENS ? Im Laufe des nun abzuschließenden Kapitels ist deutlich geworden, dass sich die ausgewählten drei Filme auf fruchtbare Weise dazu eignen, die allgemeine Entwicklung des Westerngenres vom klassischen zum revisionistischen Western nachzuzeichnen und zur Diskussion zu stellen. Zwar bricht bereits High Noon in mancher Hinsicht mit dem kinematographischen Modell des klassischen Westerns, da der Film die »organische« Verbindung von Held und Gemeinschaft, Gemeinschaft und Land (die noch in Stagecoach von wesentlicher Bedeutung ist), merklich in Frage stellt; in anderer Hinsicht aber lässt der Film jenes Modell – mitsamt seiner Mythologie des Revolverhelden – prinzipiell intakt, so dass High Noon allenfalls für eine gewisse Umgestaltung des Genres, nicht aber für einen vollständigen Bruch mit dem Modell des klassischen Westerns steht. Zu einem nahezu totalen Bruch kommt es allerdings mit Jarmuschs Film Dead Man, der auch die wesentlichen Aspekte des Western-Revisionismus in der Fassung des weiter oben erläuterten »Ford-Modells« aufweist. So lässt sich der Film zugleich als dekonstruktiv-parodistisch, formalistisch-fatalistisch und multikulturell-rehabilitierend bezeichnen, wobei der letzte Punkt besonders offensichtlich ist, da es Jarmusch nicht zuletzt auch darum ging, ein Bild der Indianer zu präsentieren, das sich grundlegend von den im Western lange Zeit üblichen Klischees unterscheidet.90 Würde man Stagecoach, High Noon und Dead Man allein mit Blick auf diesen Aspekt vergleichen, dann ließen sich bereits wesentliche Aspekte der Entwicklung des Genres insgesamt aufzeigen: In Stagecoach nämlich werden die Indianer noch als weitgehend barbarisch und gesichtslos dargestellt, d.h. als unheilvolle, »böse Kräfte« (BB 313), deren bedrohlicher Charakter keiner weiteren Erklärung bedarf. In High Noon hingegen sind die Indianer so gut wie komplett abwesend, was darauf hinweist, dass der Film keine Gefahr mehr thematisiert, die die amerikanische Demokratie von außen bedroht, sondern sich vielmehr auf eine Bedrohung konzentriert, die von innen kommt: Die dominanten Themen des Films – Konformismus, Feigheit, Opportunismus und Angst – können dementsprechend als Verweis auf den McCarthyismus und 90 Hierzu erklärt Jarmusch genauer: »In Hollywood Westerns even in the thirties and forties, history was mythologized to accommodate some kind of moral code. And what really affects me deeply is when you see it taken to the extent where Native Americans become mythical people. I think it’s in The Searchers where John Ford had some Indians who were supposedly Commanche, but he cast Navajos who spoke Navajo […]. In regards to Dead Man, I just wanted to make an Indian character who wasn’t either A) the savage that must be eliminated, the force of nature that’s blocking the way for industrial progress, or B) the noble innocent that knows all [which] is another cliché. I wanted him to be a complicated human being« (zit. aus Hertzberg [Hg.] 2001, 163).
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die Kultur des Kalten Krieges begriffen werden, so dass eine mögliche Einbeziehung der Indianer vermutlich als unnötig erachtet wurde. In Dead Man allerdings kehren die Indianer zurück, wobei sich Jarmusch nun auf die Kultur der Nordwestküsten-Indianer konzentriert, die im Western generell eher selten thematisiert wurde. Zudem geht es dem Film darum, weder das Klischee des »primitiven Barbaren« noch das des »edlen Wilden« aufrechtzuerhalten, sondern die Welt der amerikanischen Ureinwohner schlichtweg als andere – wenn auch aufgrund des Vormarschs der weißen Kolonisatoren in ihren Grundfesten bedrohte – »Zivilisation« zu präsentieren. Charakteristisch ist dabei jedoch, dass Jarmusch die Identitäten von Weißen und Indianern nicht essentialisiert, sondern sich auch Formen von Hybridität und Vermischung widmet, was besonders am Verhältnis von Blake und Nobody deutlich wird. Bezieht man sich in diesem Sinne selektiv auf bestimmte Themen und Motive des Films, dann ließe sich Dead Man durchaus als gewöhnliches Beispiel des WesternRevisionismus beschreiben, d.h. als ein Film, der mit der klassischen Form des Westerns und der mit dieser einhergehenden Nationalmythologie auf weitgehend typische Weise gebrochen hat. Wie eingangs bereits argumentiert wurde, stellt sich ein solcher Ansatz allerdings als nicht hinreichend dar, um die wirklichen Besonderheiten von Dead Man aufzuzeigen, die in erster Linie mit dem spezifischen Bildmodell und der temporalen Struktur des Films verkoppelt sind. Rechnete man z.B. Dances with Wolves und Dead Man gleichermaßen der Kategorie des revisionistischen Westerns zu, dann würde man insbesondere missachten, dass die Differenzen zwischen beiden Filmen in vielen grundsätzlichen Punkten weit stärker ins Gewicht fallen als ihre vermeintlichen Analogien. Ein wesentliches Ziel des vorliegenden Kapitels ist daher gewesen, die übliche Einteilung des Westerns in »klassische« und »revisionistische« Filme zu verkomplizieren, um mit Bezug auf Deleuzes Konzeption des BewegungsBildes und des Zeit-Bildes eine alternative Entwicklungsgeschichte des Genres aufzuzeigen, die zwar vielfach parallel zur üblichen Einteilung verläuft, mit dieser aber letztlich nicht zusammenfällt. Zwar ist es auch im Falle der Konzeption von Deleuze so, dass der Bruch mit dem Modell des klassischen Westerns zugleich einen Bruch mit der klassischen Westernmythologie zur Folge hat; Letzteres betrifft laut Deleuze aber nicht das kinematographische Bild als solches, sondern nur dessen »Inhalt«, d.h. dasjenige, was das Bild darstellt. Für eine buchstäbliche Re-Vision – im Sinne eines »neuen Bildes« – würde es jedoch einer tatsächlichen Transformation des Bildes selbst bedürfen, worunter Deleuze insbesondere eine Transformation auch der temporalen Struktur versteht, die der jeweilige Film aufweist. (Anders gesagt: Kinematographische Bildkonzeption und Temporalität dürfen Deleuze zufolge gerade nicht zu lediglich »formalen« Kriterien erklärt werden, von denen angenommen wird, dass sie der »Politik« des Films und seiner mehr oder weniger revisionistischen Haltung äußerlich sind). Wenn es sich daher als problematisch darstellt, einen Film wie Dances with Wolves als wirklich revisionistischen Western (im obenstehenden Sinne) zu begreifen, so nicht in erster Linie deshalb, weil der Film etwa die Indianer nach wie vor auf klischeehafte Weise repräsentiert – auch wenn dies teilweise sicherlich der Fall ist.91 Noch wesentlicher ist indes die Tatsache, dass der Film die temporale Struktur 91 Über die Frage, wie die Darstellung der Indianer in Dances with Wolves zu bewerten sei, existiert in der Sekundärliteratur keine Einigkeit. Während z.B. Jane Tompkins den Film lobt und in Bezug auf die Darstellung der Sioux als positive Ausnahmeerscheinung begreift
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und das sensomotorische Schema des klassischen Westerns intakt lässt, die Hauptfigur zum Zentrum jenes sensomotorischen Schemas macht, die lineare Erzählweise des klassischen Modells beibehält und allenfalls eine Umverteilung innerhalb der herkömmlichen Identifikationsstruktur bewirkt, nicht aber ihre grundsätzliche Problematisierung. Dementsprechend bringt der Film zwar eine (moderate) Kritik am »Inhalt« der klassischen Westernmythologie zum Ausdruck; seine temporale und bildspezifische »Form« ermöglicht jedoch eine Remythologisierung, die sich nunmehr im Einklang mit den Werten eines multikulturellen Pluralismus befindet, der das monokulturelle Modell der WASP-Ideologie heute weitestgehend abgelöst hat.92 Die Frage nach der revisionistischen Qualität von Filmen wie Dances with Wolves verlangt daher nach einer Antwort, die sich dem Thema auf komplexere Weise widmet, als es in den meisten historiographischen Arbeiten zum Western geschieht. Wie im vorliegenden Kapitel demonstriert wurde, bietet sich die Filmphilosophie von Deleuze durchaus an, um Filme wie Dead Man und Dances with Wolves auf angemessene Weise unterscheidbar zu machen und mithin zu einer genaueren Differenzierung des Western-Revisionismus insgesamt zu gelangen. Bislang allerdings spielen Deleuzes Kinobücher im amerikanistischen und kulturwissenschaftlichen Diskurs über den Western kaum eine Rolle. So wird Deleuze in den großangelegten Westernstudien von Jane Tompkins (1992), Peter French (1997), Richard Slotkin (1998), John Cawelti (1999), Jim Kitses (2004), Stephen McVeigh (2007) oder Martin Holtz (2011) jeweils an keiner Stelle erwähnt, was einmal mehr die Missachtung unterstreicht, mit der dem Werk von Deleuze lange Zeit in den American Studies und Cultural Studies begegnet wurde. Fast schon kurios mutet jene Missachtung bei Cawelti an, der in dem 1999 erschienenen Sequal zu seinem Standardwerk The Six-Gun Mystique auch eine Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen Westernliteratur aus den letzten Jahren präsentiert. Obwohl er in diesem Zusammenhang – mit Verweis auf das Buch der kanadischen Autoren Paul Bleton und Richard Saint-Germain (Bleton/ Saint-Germain [Hg.] 1997) – mehrfach von einer »Deterritorialisierung des Westerns« spricht (vgl. Cawelti 1999, 164), versäumt er es, zu erwähnen, dass der Begriff ursprünglich von Deleuze und Guattari stammt. Auch wenn Oliver Fahle sicherlich recht hat, dass Deleuzes Filmtheorie »längst kein Geheimtipp mehr« ist (Fahle 2011, 115), wird dementsprechend deutlich, dass sich die Bezugnahme auf Deleuze zumindest in der amerikanistischen und kulturwissenschaftlichen Filmkritik noch keinesfalls von selbst versteht.93 (vgl. Tompkins 1992, 10), kommen andere Kommentatoren zu einem deutlich kritischeren Urteil. So schreibt etwa Martin Holtz: »In Dances with Wolves the portrayal of the Sioux is wholly sympathetic, following the cliché of the noble savage […]. The film creates respect and understanding in the viewer for an alternative and oppressed culture. At the same time it absolves the viewer from any guilt of its annihilation, as we can very easily distance ourselves from the crudely depicted racist army slaughterers, who are almost grotesque in their uncivilized, filthy, asocial demeanor« (Holtz 2011, 222). 92 Vgl. auch Keller 2001, 30: »Dances with Wolves plays on the familiarity of the western form […] to revise and critique the content of the western myth. But it does almost nothing to problematize the form of that myth«. 93 In der letzten Zeit sind allerdings auch einige Aufsätze zu ausgewählten Westernfilmen erschienen, in denen auf die Konzepte von Deleuze Bezug genommen wird. Vgl. hierzu etwa
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Wie jedoch am Beispiel von Jarmuschs Dead Man aufgezeigt wurde, könnte die Einbeziehung von Deleuzes Filmphilosophie zu einer wesentlichen Bereicherung der analytischen Bestimmung des Western-Revisionismus – gerade auch im Kontext der American Studies und der Cultural Studies – beitragen. Was hierbei allerdings berücksichtigt werden muss, ist die Tatsache, dass die konzeptuellen Werkzeuge, mit deren Hilfe Dead Man im Rahmen der hiesigen Untersuchung der Ästhetik des ZeitBilds zugeordnet werden konnte, von Deleuze selbst ganz explizit nicht für den Western konzipiert wurden. So hat Deleuze die Möglichkeit weitestgehend ausgeschlossen, dass im Kontext des amerikanischen Genrefilms »ein wirklich neues Bild« entstehen könnte, das sich nicht bloß »mit der Parodie des Klischees« (BB 282) begnügen würde. Diese Problematik ist durchaus auch mit Blick auf Dead Man von Relevanz, da sich der Film zweifellos als parodistisch begreifen lässt, sofern man sich selektiv auf einzelne seiner Aspekte konzentriert. Autoren wie Gregg Rickman (Rickman 1998) oder Martin Holtz haben auf diese Weise argumentiert, dass sich das ästhetische Programm des Films darauf beschränke, den klassischen Western und den Mainstream-Revisionismus einer dekonstruktiven Parodie zu unterziehen. So heißt es bei Holtz: »With the disruption of the possibility for the genre to construct a meaningful and coherent image of history the film parodies the revisionist efforts of its predecessors and expands cultural relativism to the level of complete relativity of perception and understanding of reality« (Holtz 2011, 278). Was hier jedoch gänzlich übersehen wird, ist die Tatsache, dass sich Dead Man keinesfalls im parodistischen Gestus erschöpft, sondern (wie weiter oben gezeigt wurde) fast sämtliche Kriterien erfüllt, die Deleuze mit der Entstehung eines »neuen Bildes« verknüpft, das nicht mehr in die Kategorie des Bewegungs-Bildes gehört. Als exemplarisches Beispiel für das Kino des Zeit-Bildes stellt Dead Man sicherlich auch innerhalb des Western-Revisionismus eine Ausnahme dar. Dadurch allerdings, dass der Film dem nach wie vor populären Genre des Westerns angehört, die Hauptrolle mit Johnny Depp besetzt ist und die Filmmusik von Neil Young stammt, lässt sich Dead Man gleichwohl nicht als reines Nischenprodukt verstehen, das sich allenfalls an den intellektuellen Art-Film-Zuschauer richtet. Das Besondere an Dead Man besteht gerade darin, dass der Film zwar einerseits einer konsequenten Bildkonzeption verpflichtet ist, die dem Hollywood-Mainstream in vielerlei Hinsicht entgegensteht; dass er andererseits aber auch kein reines Avantgardekino verkörpert, sondern sein ästhetisch-politisches Programm im weiteren Kontext der amerikanischen Populärkultur präsentiert und somit ein vergleichsweise heterogenes Publikum anspricht.94 Der »hybride« Charakter des Films liegt daher weniger in seinem bildspezifischen Modell begründet, das mit Deleuzes Modell des Zeit-Bildes überraschend deutlich Tom Conleys Essay über Anthony Mann (Conley 2006), David Martin-Jones’ Aufsatz zu Django und dem »Spaghetti-Western« (Martin-Jones 2008), Neil Campbells Analyse von John Hustons The Treasure of the Sierra Madre (Campbell 2013) sowie – in Bezug auf Dead Man – die Texte von Justus Nieland und Ruth Buchanan (Nieland 2001 und Buchanan 2011). 94 Jonathan Rosenbaum hat zudem darauf hingewiesen, dass Dead Man zu den wenigen Westernfilmen gehört, die sich explizit auch an ein indianisches Publikum richten. So werden in dem Film etwa drei verschiedene indianische Sprachen (Blackfoot, Cree und Makah) gesprochen (vgl. Rosenbaum 2009, 23-26).
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übereinstimmt. Wesentlich in dieser Hinsicht ist stattdessen die Tatsache, dass Dead Man zwar eine alternative Ästhetik verkörpert, diese jedoch nicht gänzlich außerhalb des Mainstreams operiert, sondern vielmehr als Intervention in den Mainstream zu verstehen ist.95 Analog dazu, dass Dead Man in kinematographischer Hinsicht ein »neues Bild« verkörpert, das vom klassischen Modell auf weithin positive Weise divergiert, lässt sich behaupten, dass der Film zugleich ein »neues Bild des Westens« entwirft, das nicht nur auf den Mythos oder dessen Parodie bezogen bleibt, sondern Wahrnehmung und Denken auf neuartige Weise in Bewegung setzt. Zwar ist Jarmusch bei der Konzeption jenes Bildes in erster Linie darum bemüht, der historischen Realität des Genozids an den Indianern gerecht zu werden, so dass das neue Bild teilweise wie das genaue Gegenstück der klassischen Darstellung des Westens als mythisches promised land wirkt, d.h. einen dunklen und nahezu fatalistischen Eindruck vermittelt. In dieser Hinsicht korrespondiert das Bild des Westens mit einem historischen Revisionismus, der darauf abzielt, die Kehrseite dessen zu zeigen, was der Fortschrittsmythos in der Regel wesentlich idealisiert.96 In anderer Hinsicht aber ändert sich gleichsam der »ontologische« Charakter des Bildes selbst, d.h. der Westen bleibt nicht mehr, im positiven oder negativen Sinne, auf den Mythos bezogen, sondern wird zur immanenten contact zone, die weder als Utopie noch als Dystopie fungiert. Dieser »rhizomatische Westen« (Campbell 2008), der in Dead Man zumindest ansatzweise sichtbar wird, stellt keine aktualisierte Variante der frontier dar, sondern verweist schlichtweg auf die Dynamik der (möglichen) Kontakte und Begegnungen, die sich innerhalb der contact zone ereignen – noch bevor die Würfel gefallen und die Rollen endgültig verteilt sind. Dementsprechend lässt sich argumentieren, dass Dead 95 Genau dies macht Gurr dem Film zum Vorwurf, wenn er auf »Jarmusch’s role as a figure on the fringes of the mainstream« verweist: »he is ›outside‹ artistically and largely also economically, but ›inside‹ in terms of cult factor and also to some extent economically, because Dead Man was distributed by none other than Miramax. […] Ultimately, one might say, as a fait filmique, as an aesthetic object on the screen, Dead Man is radically subversive and entirely eludes Bercovitch’s trap of becoming complicit in serving the American Ideology. As a fait cinématographique, as a cultural product, it is inescapably mired in the system. ›Es gibt kein richtiges Leben im falschen‹« (Gurr 2007, 199-200). Wenn Dead Man als »kulturelles Produkt« per Definition zum Komplizen »des Systems« erklärt wird, dann unterstreicht dies jedoch allenfalls die mangelnde Eignung von Gurrs (offenbar an Adorno geschultem) Ansatz für die kulturwissenschaftliche Filmanalyse. In Bezug auf das Werk von Jarmusch ist vielmehr die relative Unabhängigkeit hervorzuheben, die sich dieser – trotz seiner »Komplizenschaft« mit dem Mainstream – bewahrt hat. Wie Rosenbaum erläutert, heißt dies u.a. auch, dass Jarmusch stets für den final cut seiner Filme verantwortlich ist (vgl. Rosenbaum 2009, 15-17). 96 Justus Nieland hat diesbezüglich die Auffassung vertreten, dass Dead Man als produktive Intervention in »America’s historical archive« (Nieland 2001, 171) begriffen werden kann: »On one level, then, by sifting through the representational archives of the Western, eschewing comfortable clichés, and demythologizing narratives of Western progress and civilization (and the racist ideologies that underwrite them), Jarmusch offers us a series of radically demetaphorized images of feral industrial modernity and violent aggression« (180). Zu Nielands Begriff des Archivs, vgl. Derrida 1995.
D ELEUZE UND
DER
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Man gerade nicht den (von Beginn an ausgemachten) Tod von William Blake zum Thema hat, sondern vielmehr sein endloses Sterben als prozessuales Ereignis: ein Entregelungsprozess, der zwar auf einen ultimativen Endpunkt hinausläuft, welcher im Laufe des Films aber niemals erreicht wird.
3. Deleuze und die (amerikanische) Fotografie
3.1 S KEPSIS
GEGENÜBER DEM FOTOGRAFISCHEN
B ILD
Das vorliegende Kapitel zur Fotografie weicht von den vorangehenden Abschnitten zum amerikanischen Film und zur amerikanischen Literatur in konzeptioneller Hinsicht auf wesentliche Weise ab. Denn während Deleuze von der Literatur und dem Film einen ausgesprochen produktiven (und positiven) Gebrauch gemacht hat, gehört die Fotografie zu den wenigen Künsten, die in seiner Philosophie kaum eine Rolle spielen. Anhand der spärlichen Textstellen, in denen Deleuze die Fotografie überhaupt behandelt, wird zudem deutlich, dass seine ästhetische Würdigung des Mediums eher begrenzt gewesen ist. Diese »Skepsis« gegenüber der Fotografie soll daher im Folgenden zunächst anschaulich gemacht und erläutert werden. Ferner soll versucht werden, eine mögliche Herangehensweise an die Fotografie aufzuzeigen, die Deleuzes expliziten Äußerungen über das Medium widerspricht, sich aber weitgehend im Einklang mit den generellen Prämissen seiner Philosophie befindet. Dies soll zwar nicht heißen, dass die von Deleuze hervorgehobenen Beschränkungen des Mediums hinfällig wären; doch wäre es zweifellos falsch, ein Medium mit einer derartigen kulturellen Relevanz schlichtweg zu ignorieren.1 Zudem soll im Folgenden auf eine Reihe fotografieimmanenter Möglichkeiten hingewiesen werden, die den von Deleuze diskutierten Beschränkungen zumindest teilweise zuwiderlaufen. In der Terminologie von Deleuze ließe sich somit formulieren, dass es nicht um die Aburteilung oder Aufwertung der Fotografie insgesamt geht, sondern um die Entdeckung neuer Affirmations- und Gebrauchsmöglichkeiten. Im Laufe des Kapitels werden hierfür ausgewählte Arbeiten verschiedener Fotografen behandelt (u.a. Eadweard Muybridge, Robert Frank, Nicholas Nixon und Hiroshi Sugimoto), die vornehmlich dem amerikanischen Kontext entstammen. Zumindest einigen jener Werke soll dabei attestiert werden, dass sie Möglichkeiten aufzeigen, wie sich das fotografische Bild 1
Auch wenn vielerorts über ein mögliches »Ende des fotografischen Zeitalters« spekuliert wird (vgl. Wolf [Hg.] 2002 und 2003), lässt sich der Fotografie nach wie vor eine bedeutende kulturelle Relevanz bescheinigen. Grundlage dieser Qualifizierung ist die Annahme, dass der Übergang von analoger zu digitaler Fotografie als Teil der Entwicklungsgeschichte des Mediums selbst zu verstehen ist und daher nicht vorschnell von einem »Tod der Fotografie« ausgegangen werden sollte. Zu den Besonderheiten der Digitalfotografie – die freilich keinesfalls relativiert werden sollen –, vgl. Mitchell 1992, von Amelunxen/Iglhaut/ Rötzer (Hg.) 1996 und Lunenfeld 2000.
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der Sphäre der Repräsentation entwenden ließe, um es vom »Standbild« in eine Art »Denkbild« zu verwandeln. Besonders gut lässt sich dies anhand der Theaters-Serie von Hiroshi Sugimoto aufzeigen, so dass diese im letzten Teil des Kapitels den Anlass zu einer abschließenden Diskussion des Verhältnisses von Ästhetik und Ontologie bietet, wobei die zeittheoretischen Überlegungen von Deleuze den Rahmen bilden. Worin genau besteht nun aber das Unbehagen, das Deleuze der Fotografie gegenüber empfunden hat? Auch wenn die wenigen Textpassagen, in denen sich Deleuze explizit zu dieser Frage äußert, vieles offenlassen, machen sie doch zweierlei deutlich: nämlich erstens, dass Deleuze der Fotografie bescheinigt, stets auf das »Gleichartige« und »Ähnliche« bezogen zu bleiben (weshalb er die Malerei vorzieht); und zweitens, dass er sie in temporaler Hinsicht für beschränkt hält (weshalb er den Film favorisiert). Der erste Punkt kommt besonders anschaulich in der Studie über den irischen Maler Francis Bacon zum Ausdruck, den Deleuze dafür schätzt, eine Art Mittelweg zwischen Abstraktion und Figuration gewählt zu haben. Deleuze zufolge geht es Bacon darum, die Figur der Figuration zu entreißen und auf diese Weise eine dezidiert »moderne« Malerei zu erschaffen, die sich weder als rein abstrakt noch als figurativ darstellt. Aufgrund des Festhaltens an der Figur räumt Deleuze zwar ein, dass das »Ähnliche« in der Malerei Bacons durchaus noch eine wichtige Rolle spielt; im Gegensatz zur Fotografie wird Ähnlichkeit in der Malerei jedoch »durch unähnliche Mittel« erreicht, so dass Deleuze hier von keiner »ursprünglichen«, sondern einer »produzierten Ähnlichkeit« spricht (FB 71). Dies hat zur Folge, dass der Maler – anders als der Fotograf – die Möglichkeit zu einer umfassenden Modulation des dargestellten Gegenstandes erhält. Auch im Falle der Fotografie ist es grundsätzlich zwar so, dass zwischen Bild und Ausgangsobjekt ein gewisser »Spielraum« existiert. Letzten Endes geht Deleuze aber davon aus, dass das fotografische Bild der Ähnlichkeit stets auf ursprüngliche Weise verhaftet bleibt: »Die Ähnlichkeit ist produktiv, wenn die Verhältnisse zwischen Elementen eines Dings unmittelbar in die Verhältnisse zwischen Elementen eines anderen Dings eingehen, das folglich das Bild des ersten sein wird: so etwa bei einem Photo, das Lichtverhältnisse festhält. Daß diese Verhältnisse über genügend Spielraum verfügen, so daß das Bild große Differenzen zum Ausgangsobjekt aufweisen kann, verschlägt nicht folgendes: daß man nämlich diese Differenzen nur durch nachlassende Ähnlichkeit erhält, sei es, daß sie in ihrem Vollzug dekomponiert, sei es, daß sie in ihrem Resultat transformiert wird. Die Analogie ist hier also figurativ und die Ähnlichkeit bleibt prinzipiell ursprünglich. Das Photo kann dieser Grenze nicht entkommen, trotz all seiner Ambitionen. Demgegenüber spricht man von einer produzierten Ähnlichkeit, wenn sie mit einem Mal als das Resultat aller anderen Verhältnisse – deren Reproduktion sie gerade nicht übernommen hat – erscheint: Die Ähnlichkeit taucht dann als das unerwartete Produkt unähnlicher Mittel auf.« (FB 71)
Auffällig an diesen Überlegungen ist zunächst, dass der indexikalische Charakter der Fotografie, der theoriegeschichtlich den spezifischen »Wert« des fotografischen Bildes ausmacht (vgl. Krauss 1986, 203), nun eher als Nachteil begriffen wird, da er auf genau jene »ursprüngliche Ähnlichkeit« verweist, die von Deleuze als Problem erkannt wird. Der Vorteil der Malerei wird folglich darin gesehen, dass die Ähnlichkeit hier erst »als das unerwartete Produkt unähnlicher Mittel« entsteht, weshalb sie nicht
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auf ursprüngliche Weise an dem Bild haftet, sondern mittels »Sensation« erfahren werden muss (FB 71). Mit der Unterscheidung von »Karte« und »Kopie« findet sich ein ähnlicher Dualismus auch im »Rhizom«-Kapitel der Tausend Plateaus, der hier in erster Linie dazu dient, die programmatische Gegenüberstellung von Rhizommodell und Baummodell zu veranschaulichen. Zwar verwenden Deleuze und Guattari in diesem Zusammenhang eine andere Terminologie, das Argument geht aber in die gleiche Richtung. So wird die Kopie vor allem deshalb mit dem Baummodell identifiziert, da sie stets »auf das Gleiche« bezogen bleibt. Die Karte hingegen wird mit dem Modell des Rhizoms assoziiert, da sich ihre Ähnlichkeit zum dargestellten Raum als lediglich sekundäres Merkmal erweist. Folglich lässt sich die Karte auch nicht auf ihre Reproduktionsoder Ähnlichkeitsfunktion reduzieren, denn sie ist »ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert« (TP 23-24). Während die Kopie also (ähnlich wie das Foto) zum Kontext der Reproduktion gehört, ist die Karte (ähnlich wie die Malerei) eher als Modulation der Wirklichkeit denn als einfaches Abbild zu begreifen: »Die Karte ist offen, sie kann in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden, sie kann ständig neue Veränderungen aufnehmen […]; sie kann sich Montagen aller Art anpassen; sie kann von einem Individuum, einer Gruppe, einer gesellschaftlichen Organisation angelegt werden […]. Eine Karte hat viele Zugangsmöglichkeiten, im Gegensatz zur Kopie, die immer nur ›auf das Gleiche‹ hinausläuft. Bei einer Karte geht es um Performanz, während die Kopie immer auf eine angebliche ›Kompetenz‹ verweist.« (24)
Wichtig für das Verständnis von Deleuzes Haltung gegenüber der Fotografie ist dieser Exkurs deshalb, weil er deutlich macht, dass das fotografische Bild in dessen Philosophie letztlich nahezu deckungsgleich zur Kopie konzipiert wird, nämlich als reines »Abziehbild«. So werfen Deleuze und Guattari im weiteren Verlauf des Kapitels z.B. der Psychoanalyse vor, »immer nur Kopien oder Photos vom Unbewußten« gemacht zu haben (TP 25). Das Foto wird demnach explizit auf der Seite der Kopie und des Baumes verortet, die – trotz gewisser Vermittlungsversuche2 – das (negative) Gegenstück zur Seite des Rhizoms und der Kartographie bildet. Zur Praxis der Psychoanalyse, die Deleuze und Guattari hier besonders am Beispiel der Kinderanalysen von Freud und Melanie Klein diskutieren, heißt es dementsprechend wie folgt: 2
Wie an anderer Stelle bereits erläutert wurde, werden Dualismen von Deleuze und Guattari nicht primär im Sinne von identifizierenden Festlegungen verwendet, sondern als »geistige Korrektoren«, die das Denken in Bewegung halten sollen: »Wir ziehen den einen Dualismus nur heran, um den anderen zu verwerfen« (TP 35). Diesem prozessualen Schreibverfahren entsprechend wird auch der Dualismus von Karte und Kopie im Laufe des »Rhizom«-Kapitels wieder in Frage gestellt: »Stellen wir nun doch einen einfachen Dualismus wieder her, wenn wir Karten und Kopien als gut und böse gegenüberstellen? Gehört es nicht zu einer Karte, daß sie kopiert werden kann? […] Enthält nicht auch eine Karte redundante Phänomene, die schon als ihre eigene Kopie erscheinen?« (24-25). Zu einer prinzipiellen »Vermittlung« von Karte und Kopie kommt es letztlich dadurch, dass Deleuze und Guattari erklären, man müsse »die Kopien wieder mit der Karte verbinden, die Wurzeln und Bäume auf ein Rhizom beziehen« (26).
300 | K ULTURELLE K OMPLEXITÄT »Man kann sehen, was schon mit dem kleinen Hans geschehen ist, ein typischer Fall der Kinderanalyse: man hat immer wieder sein Rhizom zerstört, seine Karte übermalt, man hat sie eingegrenzt und ihm alle Ausgänge versperrt, bis er schließlich selber seine Scham und Schuld wünschte […]. Freud geht ausdrücklich auf die Kartographie des kleinen Hans ein, aber immer nur, um sie auf ein Familienphoto zurückzuprojizieren. Und was macht Melanie Klein mit den geopolitischen Karten des kleinen Richard? Sie macht Photoabzüge davon, Kopien […]. Wenn ein Rhizom verstopft ist, wenn man einen Baum daraus gemacht hat, dann ist es vorbei, dann kann das Begehren nicht mehr strömen, denn das Begehren wird nur durch das Rhizom bewegt und erzeugt.« (TP 25-26)
Verbindet man diese Überlegungen nun mit den weniger polemischen Gedanken aus der Bacon-Studie, dann lassen sich Deleuzes Vorbehalte gegenüber der Fotografie in etwa folgendermaßen zusammenfassen: Anders als die Karte oder die Malerei kann das fotografische Bild nicht umhin, dem Gleichartigen und Ähnlichen auf immanente Weise verhaftet zu bleiben. Die Fotografie ist somit (wie die Kopie) in erster Linie auf der Ebene der Reproduktion zu verorten, was in den Tausend Plateaus nicht allein technologisch begründet wird, sondern im Falle des »Familienphotos« zudem mit einer Politik des Bildes korrespondiert. Denn das Familienfoto impliziert nicht nur die technische Reproduktion im Sinne des fotografischen Verfahrens, sondern zugleich auch die soziale Reproduktion der Familienordnung, d.h. die Reproduktion bestehender Machtverhältnisse. Dass Deleuze und Guattari hier auf nahezu bruchlose Weise von der Fotografie an sich zum Genre des Familienfotos wechseln, sollte (zumal in der Kafka-Studie eine ganz ähnliche Denkbewegung vollzogen wird3) durchaus nicht als rein zufällig qualifiziert werden. Vielmehr scheinen Deleuze und Guattari nämlich in der Tat verdeutlichen zu wollen, dass das »Wesen« des fotografischen Bildes im Familienfoto am treffendsten zum Ausdruck gelangt. Im Koordinatensystem der Deleuzeschen Philosophie nimmt das fotografische Bild demnach eine denkbar schlechte Position ein. Denn nicht nur ist es mit dem Gleichartigen und der Reproduktion verkoppelt und verkörpert mithin die Ordnung der Repräsentation sowie das klassische Bild des Denkens; auch steht es in einer besonderen Beziehung zum »Ödipalismus«, der vor allem in den gemeinsamen Arbeiten mit Guattari attackiert wird. Nun ist Kritik an der Fotografie freilich nichts Neues und das fotografische Bild im kunsttheoretischen Diskurs seit jeher mit Skepsis betrachtet worden. So zitiert Walter Benjamin in seiner »kleinen Geschichte der Fotografie« etwa einen Autor des Leipziger Stadtanzeigers, der der »französischen Teufelskunst« mit einer Mischung aus religiösen, deutschnationalen und (genie-)ästhetischen Argumenten entgegentritt: 3
Am Beispiel der Literatur Kafkas untersuchen Deleuze und Guattari u.a. die Differenz zwischen der Musik (die das Begehren antreibt) und der Fotografie (die es zugunsten der Erinnerung blockiert). So wird das Foto etwa in Kafkas »Brief an den Vater« thematisiert, wo es mit dem übermächtigen Vaterbild verkoppelt ist: »Das Ziel ist eine Vergrößerung des ›Fotos‹, eine Aufblähung ins Absurde. Das maßlos überzeichnete Bild des Vaters wird auf die geographische, historische und politische Karte der Welt projiziert« (K 15-16). Während in den Tausend Plateaus also das »Familienphoto« für die Engführung von Reproduktion und Ödipalismus steht, wird diese Funktion in der Kafka-Studie vom »Vaterportrait« übernommen.
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»Flüchtige Spiegelbilder festhalten zu wollen […], dies ist nicht bloß ein Ding der Unmöglichkeit, wie es sich nach gründlicher deutscher Untersuchung herausgestellt hat, sondern schon der Wunsch, dies zu wollen, ist eine Gotteslästerung. Der Mensch ist nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen, und Gottes Bild kann durch keine menschliche Maschine festgehalten werden. Höchstens der göttliche Künstler darf, begeistert von himmlischer Eingebung, es wagen, die gottmenschlichen Züge, im Augenblick höchster Weihe, auf den höheren Befehl seines Genius, ohne jede Maschinenhilfe wiederzugeben.« (Zit. aus Benjamin 1969b, 68-69)
Benjamin zufolge kommt hier »mit dem Schwergewicht seiner Plumpheit« der »fetischistische, von Grund auf antitechnische Begriff von Kunst« zum Ausdruck, der die Fotografie bis ins 20. Jahrhundert hinein – wenn überhaupt – als minderwertige (weil mittels technischer Reproduktion verfahrende) Kunst charakterisieren sollte (69). Insofern Deleuze in seiner Bacon-Studie ebenfalls von der Malerei als einer »höheren Kunst« spricht (FB 13), die der Fotografie gegenüber ästhetisch überlegen sei, ließe sich durchaus die Frage stellen, ob seine fotografiekritischen Ansichten nicht möglicherweise noch in der Tradition des klassischen Vorurteils gegen das fotografische Bild stehen. Dies jedoch ist augenscheinlich nicht der Fall. Denn wie schon aufgrund von Deleuzes positiver Qualifizierung des Kinos deutlich wird, ist es keineswegs die technologische Dimension der Fotografie, die er für problematisch hält. Dass Film und Fotografie von Deleuze auf derart unterschiedliche Weise rezipiert werden, mag zunächst durchaus erstaunen. Benjamin etwa behandelt die beiden Medien weitgehend analog, wenn er seine These vom Verschwinden der »Aura« des Kunstwerks im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit artikuliert. Und ist nicht auch Jeff Wall im Recht, wenn er behauptet, dass der Film letztlich nichts anderes tue als 24 Fotos pro Sekunde zu präsentieren?4 Wie Laura Mulvey angemerkt hat, gelten Film und Fotografie gleichermaßen als »indexikalische« Medien, da in beiden Fällen eine direkte »Spur« vom Zeichen auf den repräsentierten Gegenstand verweist, die jeweils nachträglich entziffert werden muss.5 Aus Deleuzes Perspektive betrachtet, stellen sich diese Beispiele jedoch allesamt als unzureichend dar, da sie das Wesentliche des Kinos unterschlagen, nämlich die Tatsache, dass hier ein Bild in Bewegung – d.h. ein Bewegungs-Bild – präsentiert wird. Genau diese verschiedenartige temporale Qualität ist auch die Ursache dafür, dass Deleuze die vermeintliche Zusammengehörigkeit von Fotografie und Film in Frage stellt. In dessen Philosophie scheint es vielmehr so zu sein, dass zwischen den zwei Medien eine kaum überbrückbare Grenze verläuft, die zugleich in ästhetischer wie ontologischer Hinsicht besteht. Hierauf hat beispielsweise D.N. Rodowick hingewiesen, der Deleuze eine grundsätzliche »Skepsis« gegenüber dem fotografischen Bild bescheinigt: »This skepticism concerning ›photography‹ is in fact a critique of how Western philosophy models representation through optical metaphors«. In Bezug auf die Differenz zwischen Fotografie und Film hebt auch Rodowick den Aspekt der Bewegung hervor, was folgendermaßen erläutert wird: »[P]hotography ›drains‹ movement from objects, unlike 4 5
Dies hat Wall sinngemäß am 3. November 2007 auf einer Veranstaltung geäußert, die anlässlich der Ausstellung Jeff Wall: Belichtung im Museum Deutsche Guggenheim stattfand. Vgl. Mulvey 2006, 9: »Both [cinema and photography] have the attributes of the indexical sign, the mark of trauma or the mark of light, and both need to be deciphered retrospectively across delayed time«.
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cinema, which ›extracts‹ movement, as it were, from variable relations between objects« (Rodowick 2003, 31). Neben der Annahme, dass das fotografische Bild stets auf das Gleichartige und Ähnliche bezogen sei, verweist die temporale und kinematische Beschränktheit der Fotografie somit auf das zweite Motiv für Deleuzes Skepsis gegenüber dem Medium. Wie Rodowicks Zitat allerdings deutlich macht, sind beide Argumente grundsätzlich miteinander verwoben. Denn was den Film laut Deleuze davor bewahrt, auf seine indexikalische Natur reduziert zu werden (und seine Wirkung lediglich aufgrund seiner »ursprünglichen Ähnlichkeit« zum Gegenstand zu entfalten), ist eben die Tatsache, dass er als wesentlich temporales Medium zu begreifen ist. Wie Rodowick im Sinne von Deleuze verdeutlicht, geht es dem Film folglich gar nicht um die Repräsentation von Objekten, sondern vielmehr um die Darstellung der variablen Relationen zwischen den Dingen, d.h. um die Darstellung einer Welt in kontinuierlicher Variation. »Denn das Bewegungs-Bild«, schreibt Deleuze, »ist nicht im Sinne einer Ähnlichkeit analog: es ist nicht einem Objekt ähnlich, das es repräsentiert […]. Das BewegungsBild ist der Gegenstand, es ist die Sache selbst, die in der Bewegung als kontinuierliche Funktion erfaßt wird. Das Bewegungs-Bild ist die Modulation des Gegenstands selbst« (ZB 44). Was den Film insofern auszeichnet, ist nicht allein die Tatsache, dass hier die Zeit – wie auch in der Musik oder im Theater – als direkter Bestandteil der Komposition fungiert, sondern mehr noch, dass er ein Bild präsentiert, das auf immanente Weise von Zeit und Bewegung durchdrungen ist. Der Film kann folglich auch nicht darauf reduziert werden, dass er 24 Einzelfotos pro Sekunde präsentiert, da der Betrachter (wie Deleuze auf überraschend »phänomenologische« Weise erläutert) keines dieser Standbilder wahrzunehmen vermag, sondern stets mit einem Durchschnittsbild konfrontiert wird, in dem Zeit und Bewegung »unmittelbar gegeben« sind (BB 14). Dem fotografischen Bild hingegen fehlt diese Dimension, weshalb es Deleuze zufolge lediglich eine stumme Reproduktion der Objektwelt vollziehen kann und dementsprechend stets mit dem Gleichartigen und Ähnlichen verkoppelt bleibt.
3.2 F OTOGRAFIEDISKURSE : I NDEXIKALITÄT , R EALISMUS , KULTURELLE Z EICHENPRAXIS Zwischen Deleuzes Fotografiekritik und Bergsons Einwänden gegen den Film – denen Deleuze in Das Bewegungs-Bild einen »allzu summarischen« Charakter bescheinigt (BB 11) – lässt sich somit durchaus eine gewisse Ähnlichkeit ausmachen. Denn insofern Deleuze die Entwicklungsgeschichte des Mediums außer Acht lässt und keinen Unterschied zwischen den in temporaler Hinsicht beschränkten »Mitteln« der Fotografie und dem jeweiligen »Ergebnis« macht, bleiben seine Aussagen (genauso wie diejenigen Bergsons über den Film) vergleichsweise oberflächlich.6 Oder anders
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Deleuzes Kritik an Bergsons Qualifizierung des Films betrifft eben diese zwei Punkte: Zunächst problematisiert er Bergsons Methode, »von der Künstlichkeit der Mittel auf die Künstlichkeit des Ergebnisses« (BB 14) zu schließen und verweist darauf, dass das Bewegungs-Bild (obwohl es aus einer Vielzahl von unbewegten Einzelbildern besteht) jeweils unmittelbar »in Bewegung« erlebt wird. Zudem macht Deleuze auf die Entwicklungsge-
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gesagt: Analog zu Bergsons Qualifizierung des Film als »das typische Beispiel einer falschen Bewegung« (BB 14) dient das fotografische Bild bei Deleuze als das typische Beispiel eines »falschen Bildes«. Hierzu bemerkt Damian Sutton: »Throughout Deleuze’s work, the photograph is used as an example of the wrong sort of image to represent time, space, and especially immanence: the life of the world that can only be expressed through the traces that it leaves behind« (Sutton 2010, 309).7 Was Deleuzes Überlegungen trotz ihres zuweilen oberflächlichen Charakters allerdings interessant macht, ist die Tatsache, dass mit der temporalen Beschränktheit der Fotografie ein Aspekt ins Zentrum der Analyse rückt, der im Diskurs über das fotografische Bild vielfach einen »blinden Fleck« darstellt. Eher denn als Kritik der Fotografie eignen sich Deleuzes Reflexionen somit im Sinne einer Problematisierung der ontologischen Prämissen, die im theoretischen Diskurs über die Fotografie seit deren Anfangstagen im Spiel sind. Im Folgenden soll dieser Diskurs daher zunächst genauer in den Blick genommen werden. Wie Bernd Stiegler in seiner Theoriegeschichte der Photographie betont, galt das fotografische Bild quasi immer schon als »Ikone des Realen« (Stiegler 2006, 418), d.h. als visueller Darstellungsmodus, der über eine einzigartige Nähe zur Wirklichkeit verfügt.8 So wurde die Fotografie in ihren Anfangstagen als eine Art »Selbstmitteilung der Natur« begriffen, was Stiegler anhand eines Zitats aus dem Hamburger Correspondent vom 29. November 1839 verdeutlicht. »Diese Lichtzeichnungen oder Abdrücke jeder Schattennuancierung der Gegenstände«, heißt es dort, »sind in sich selbst so vollkommen, wie man sie in einer gewöhnlichen Darstellung durch Pinsel oder Griffel nie erreichen kann; sie sind die Natur und der Gegenstand selbst, soweit es im Bilde möglich ist« (18). Zwar wird jener »naive ontologische Bildrealismus« (17) von Stiegler rückblickend in Zweifel gezogen; über viele Jahre jedoch wurde der theoretische Diskurs von derlei Überlegungen weitgehend dominiert. So kommt beispielsweise Bazin noch Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem durchaus vergleichbaren Schluss:
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schichte des Films aufmerksam, wodurch er verdeutlicht, dass Bergsons Einwände allenfalls auf den frühen Film zutreffen: »Ja, in welcher Situation war denn der Film am Anfang? Zum einen war der Aufnahmestandpunkt fixiert, die Einstellung was also räumlich, unbeweglich; zum anderen war das Aufnahmegerät noch ungeschieden von dem mit gleichmäßig-abstrakter Zeit arbeitenden Projektionsapparat. Die Entwicklung des Films, die Eroberung seiner Wesenseigentümlichkeit oder Neuartigkeit, setzt mit der Montage, der beweglichen Kamera und der Trennung von Aufnahme und Projektion ein« (15-16). Damian Sutton gehört zu den wenigen Autoren, die sich systematisch mit Deleuzes Beziehung zur Fotografie auseinandergesetzt haben. Trotz Deleuzes Skepsis gegenüber dem fotografischen Bild geht Sutton davon aus, dass dessen Zeitphilosophie (und besonders das Konzept des Zeit-Bildes) eine wesentliche Bereicherung für die Fotografietheorie darstellt: »I can even forgive Deleuze’s adherence […] to the Bazinian idea of the photograph as the immobile entity from which cinema is constituted. This is because his idea of the timeimage is so instrumental in appreciating the complex relationship we have with the photograph and photography« (Sutton 2009, xi). Mit der Formulierung »Ikone des Realen« scheint Stiegler auf das gleichnamige Buch von Ronald Berg anzuspielen, das die Fotografiekonzeptionen von Henry Fox Talbot, Walter Benjamin und Roland Barthes zum Thema hat (vgl. Berg 2001).
304 | K ULTURELLE K OMPLEXITÄT »Die Objektivität der Photographie verleiht ihr eine Überzeugungsmacht, die allen anderen Bildwerken fehlt. Welche kritischen Einwände wir auch haben mögen, wir sind gezwungen, an die Existenz des wiedergegebenen Gegenstands zu glauben, der ja tatsächlich wiedergegeben, das heißt in Raum und Zeit wieder gegenwärtig gemacht wird. […] Und ist nicht zugleich die Malerei nur noch eine unvollkommenere Methode, Ähnlichkeit herzustellen, ein Ersatz für die Reproduktionsverfahren? Nur das Objektiv gibt uns ein Bild von dem Gegenstand, das imstande ist, jenes Bedürfnis in der Tiefe unseres Unterbewußtseins ›auszutoben‹, den Gegenstand durch etwas zu ersetzen, das besser ist als eine annähernde Kopie: diesen Gegenstand selbst, doch befreit von den Zufällen seiner Zeitlichkeit. Das Bild mag verschwommen sein, verzerrt, farblos, ohne dokumentarischen Wert, es gründet durch die Art seiner Entstehung im Dasein des Modells; es ist das Modell.« (Bazin 2009b, 37)
Die Qualität, die Bazin hier so treffend beschreibt, entspricht genau jener Eigenschaft des fotografischen Bildes, die im Zuge der Semiotisierung der Kunst- und Kulturwissenschaften zumeist als »Indexikalität« bezeichnet wurde. Es ist daher kein Wunder, dass Rosalind Krauss in ihren »Notes on the Index« von Bazins Formulierung ausgeht und erläutert: »Whatever else its power, the photograph could be called sub- or pre-symbolic, ceding the language of art back to the imposition of things« (Krauss 1986, 203). Dass Krauss die Verbindung zwischen der Fotografie und dem repräsentierten Objekt als indexikalisch begreift, geht auf das Zeichensystem von Charles Sanders Peirce zurück, in dem zwischen den drei grundlegenden Zeichentypen Ikon, Index und Symbol unterschieden wird.9 Laut Peirce bildet das Ikon die erste Zeichenklasse und operiert mit dem Mittel der Ähnlichkeit. Die meisten Zeichnungen oder Bilder wären demzufolge als Ikonen zu verstehen, sofern sie mittels Ähnlichkeit auf das Objekt verweisen, das sie bezeichnen (so etwa die Zeichnung eines Autos, eines Menschen, eines Regenschirms etc.). Das Symbol wiederum ordnet Peirce der dritten Zeichenkategorie zu; es ist weniger bildlich als sprachlich zu fassen, da die Ähnlichkeit hier keine Rolle spielt und die Bedeutung des Zeichens durch einen erlernbaren Code sichergestellt wird. Das Wort »Regenschirm« etwa verweist auf den Gegenstand nicht mittels Ähnlichkeit, sondern im Rahmen einer sprachlichen Konvention, d.h. eines Codes, der erlernt und entziffert werden muss. Ikon und Symbol lassen sich somit auf recht einfache Weise auseinanderhalten: Während z.B. die Höhlenmalerei zweifellos ikonischer Natur ist, zeichnet sich die Schrift durch ihren grundsätzlich symbolischen Charakter aus. Etwas komplizierter verhält es sich im Falle der Indizes bzw. »Indexzeichen«, die Peirce zufolge die zweite Zeichenkategorie bilden. Hier besteht das Wesentliche darin, dass das Zeichen eine direkte und in der Regel physische Verbindung zu dem jeweiligen Gegenstand aufweist, den es repräsentiert. Der Rauch etwa, der auf ein Feuer verweist, befindet sich »in einer wirklichen Reaktion mit seinem Objekt« (Peirce 1991, 349). Er ähnelt dem Feuer nicht und ebenso wenig verweist er auf dieses im Rahmen eines Codes; stattdessen existiert hier eine direkte, physische und kausale 9
Vgl. Peirce 1998, 5: »There are three kinds of signs. Firstly, there are likenesses, or icons; which serve to convey ideas of the things they represent simply by imitating them. Secondly, there are indications, or indices; which show something about things, on account of their being physically connected with them […]. Thirdly, there are symbols, or general signs, which have become associated with their meanings by usage«.
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Verbindung. Nun gibt es jedoch auch solche Indizes, bei denen die Zuordnung weniger klar ist, da sie (genauso wie die ikonischen Zeichen) dem Gegenstand, den sie repräsentieren, ähnlich sind. Zu denken wäre hier etwa an die Spuren eines Tieres im Schnee, bei denen durchaus eine Ähnlichkeit zu der entsprechenden Tierpfote besteht. Wie Peirce deutlich macht, handelt es sich bei solcherlei Zeichen allerdings ausnahmslos um Zeichen der zweiten Kategorie, da ihre (ikonische) Ähnlichkeit zum repräsentierten Gegenstand als Resultat eines physischen »Abdrucks« zu begreifen ist, also stets auf indexikalische Weise erzwungen wird. Das fotografische Bild muss demnach ebenfalls als Indexzeichen gelten und der zweiten Kategorie zugeordnet werden, worauf Peirce sogar ausdrücklich hinweist: »Photographs, especially instantaneous photographs, are very instructive, because we know that they are in certain respects exactly like the objects they represent. But this resemblance is due to the photographs having been produced under such circumstances that they were physically forced to correspond point by point to nature. In that aspect, then, they belong to the second class of signs, those by physical connection.« (Peirce 1998, 5-6)
Insofern Fotografien also eine direkte, physische Verbindung zu dem jeweiligen Gegenstand aufweisen, den sie repräsentieren, gehören sie Peirce zufolge in die Kategorie der Indexzeichen. Diese semiotische Bestimmung bekräftigt somit die naturalistische Ansicht aus den Anfangstagen der Fotografie, dass dieser die Fähigkeit zukomme, die Realität auf besonders authentische Weise abzubilden. Ähnlich wie Peirce weist später auch Bazin darauf hin, dass die Fotografie in gewissem Sinne als physischer »Abdruck« zu gelten hat. So verortet Bazin das fotografische Bild weniger im Kontext der Malerei als im Kontext bestimmter Guss- und Formtechniken, in denen – wie bei der Herstellung von Totenmasken – die Subjektivität des Künstlers der Objektivität einer Mechanik untergeordnet wird.10 Betont man also die fotografische Indexikalität, so betont man weniger den subjektiven Künstlerblick oder den »photographischen Signifikanten« (Barthes 1989, 13) als die Objektivität der Kamera und die quasi vorsymbolische, physische Verbindung, die das fotografische Bild an den jeweiligen Referenten kettet. Obwohl Bazin den Indexbegriff nicht explizit verwendet, deckt sich seine Bestimmung der Fotografie mit diesem in nahezu allen wesentlichen Aspekten.11 Dies zeigt sich auch daran, dass er den »Realismus« der Fotografie kategorisch vom »Illusionismus« der Malerei unterscheidet: »Denn die Malerei strengte sich im Grund[e] vergeblich an, uns zu täuschen – diese Täuschung genügte 10 Vgl. Bazin 2009b, 41: »In diesem Zusammenhang sollte man indes die Psychologie kunsthandwerklicher Skulpturgattungen wie die der Totenmasken untersuchen, bei deren Reproduktionen gleichfalls ein gewisser Automatismus eine Rolle spielt. In diesem Sinn ließe sich die Photographie als ein mit Hilfe des Lichts genommener Abguß oder Abdruck des Gegenstandes betrachten«. 11 Konträr zu den meisten Ansätzen, die sich dezidiert auf die fotografische Indexikalität berufen, deutet Bazin allerdings an, dass Fotografie und Film auch als Sprache verstanden werden müssen: »Andererseits ist der Film eine Sprache« (Bazin 2009b, 40). Interessant hieran ist die Tatsache, dass Bazin mit der doppelten Bestimmung der Fotografie als »objektive Abbildung« und »Sprache« zwei Positionen zusammendenkt, die sich normalerweise ausschließen (vgl. hierzu auch Stiegler 2006, 345).
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der Kunst; Photographie und Film hingegen sind Erfindungen, die das Verlangen nach Realismus ihrem Wesen nach endgültig befriedigen« (Bazin 2009b, 36). Der Gedanke, dass die Fotografie über eine direkte Verbindung zum Referenten verfügt und ihr daher ein gleichsam »objektiver« Wahrheitswert zukommt, findet sich auch in den bereits erwähnten »Notes on the Index« von Rosalind Krauss. Doch obwohl sie explizit auf Bazin verweist, geht es Krauss nicht primär um die Frage, ob und inwiefern das fotografische Bild eine naturgetreue Repräsentation der Realität bewerkstelligt. Das Foto dient ihr vielmehr als prototypisches Beispiel einer indexikalischen Ausdrucksweise, die sich dem Symbolischen und der Signifikation verweigert, d.h. nur mehr als »Spur« einer physischen Präsenz fungiert.12 Dementsprechend heißt es: »Every photograph is the result of a physical imprint transferred by light reflections onto a sensitive surface. The Photograph is thus a type of icon, or visual likeness, which bears an indexical relationship to its object […]. If the Symbolic finds its way into pictorial art through the human consciousness operating behind the forms of representation, forming a connection between objects and their meaning, this is not the case for photography. Its power is an index and its meaning resides in those modes of identification which are associated with the Imaginary.« (Krauss 1986, 203)
Mit Verweis auf Lacan stellt Krauss die Fotografie somit aufgrund ihres indexikalischen Charakters der symbolischen Ordnung entgegen und sieht sie stattdessen mit dem Imaginären im Bunde. Dabei geht es Krauss jedoch gar nicht in erster Linie um die Fotografie an sich. Vielmehr zieht sie die Fotografie nur deshalb heran, um auf einen verallgemeinerten »Indexikalismus« hinzuweisen, den sie in der Kunst der 1970er Jahre – so etwa im Fotorealismus, in der abstrakten Malerei oder der Videokunst, im Kontext von Earthworks, Tanz, Body Art und diversen Spielarten der Konzeptkunst – generell am Werk sieht.13 Insofern Krauss all diese Kunstrichtungen, die sie sowohl der symbolischen Vermittlung als auch der traditionellen Konzeption von künstlerischem Stil zuwiderlaufen sieht, gemeinsam unter dem Dach des fotografischen Index versammelt, erklärt sie die Fotografie quasi zur »Mutter des Realismus«, wie es zugespitzt bei Stiegler heißt (Stiegler 2006, 417). Die Auffassung jedoch, dass das fotografische Bild auf besondere Weise mit »der Realität« verbunden sei, scheint spätestens seit der Entwicklung der Digitalfotografie zunehmend anfechtbar geworden zu sein. Mit Verweis auf Johannes Völz lässt sich diesbezüglich argumentieren, dass sich die vermeintliche Krise der Fotografie im 12 Vgl. Krauss 1986, 211: »It is the order of the natural world that imprints itself on the photographic emulsion and subsequently on the photographic print. This quality of transfer or trace gives to the photograph its documentary status, its undeniable veracity«. 13 Vgl. Krauss 1986, 206: »If we are to ask what the art of the ‘70s has to do with all of this, we could summarize it very briefly by pointing to the pervasiveness of the photograph as a means of representation. It is not only there in the obvious case of photo-realism, but in all those forms which depend on documentation – earthworks, particularly as they have evolved in the last several years, body art, story art – and of course in video. But it is not just the heightened presence of the photograph itself that is significant. Rather it is the photograph combined with the explicit terms of the index«.
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Zeitalter der Digitalisierung tatsächlich als Krise des Index darstellt.14 Dementsprechend hat auch Peter Lunenfeld erklärt, dass die Indexikalität des fotografischen Bildes durch das Aufkommen der Digitalfotografie keine wirkliche Geltung mehr besitzt, weshalb der Wahrheitsgehalt eines Fotos heute kaum noch anders zu bewerten sei als der Wahrheitswert eines Textes.15 Doch schon bevor der Trend zur Digitalisierung den Fotografiediskurs zu einer wesentlichen Umorientierung zwang, wurde der klassische (d.h. weithin »ontologische«) Blick auf das Medium vielfach in Frage gestellt.16 So ist die Ansicht, das fotografische Bild verfüge über einen privilegierten Bezug zum Realen, etwa auch in den Cultural Studies kritisiert worden, die die Fotografie stattdessen als »Zeichenpraxis« konzipierten, welche keinen universellen oder objektiven Wahrheitswert besitze, sondern kulturell vermittelt sei. In diesem Sinne formuliert z.B. Allan Sekula: »Photographic ›literacy‹ is learned. And […] if we accept the fundamental premise that information is the outcome of a culturally determined relationship, then we can no longer ascribe an intrinsic or universal meaning to the photographic image« (Sekula 1982, 86).17 Innerhalb der Amerikanistik hat sich in diesem Zusammenhang auch der Blick auf die Fotografiegeschichte gewandelt: Galten einst etwa die Arbeiten der Bürgerkriegsfotografen des 19. Jahrhunderts oder der FSA-Künstler der 1930er Jahre als Zeugnisse, die einen Abschnitt der amerikanischen Geschichte auf besonders authentische Weise dokumentierten, wurde der Wahrheitsgehalt jener Bilder nun vielfach in Frage gestellt, indem z.B. auf diverse Inszenierungs- und Interventionspraktiken hingewiesen wurde.18 Zudem ist aufgezeigt worden, dass die Retusche bereits im 14 Vgl. Völz 2007, 81: »If digital photography has brought about a crisis of the image, this has really been a crisis of the index«. 15 Vgl. Lunenfeld 2000, 61: »[T]he digital photograph must now be treated as having the same truth value (or lack thereof) as a written text. We have thus returned, in some sense, to the aesthetic of the pre-photographic era, to a signscape that is once again reduced to the dichotomy between the word and the image, though now both are merely different outputs from the same binary code«. 16 Gerade die Debatte um die Digitalisierung des Mediums wird jedoch auch vielfach von quasi »restaurativen« Ansichten bestimmt. Stiegler formuliert dies folgendermaßen: »Das Bild der analogen Photographie, das in ihrem Abgesang entworfen wird, ist das eines beschönigenden, aber auch verzerrenden Nachrufs, der allerdings nicht ohne Hintergedanken ist. Die Stilisierung der Photographie als Mutter des Realismus diente vor allem dazu, ihr diesen erst zuzusprechen, um ihn ihr dann mit der Digitalisierung wieder zu entwenden« (Stiegler 2006, 417). 17 Was sich an der kulturwissenschaftlichen Kritik am mutmaßlichen Realismus des Mediums bisweilen als problematisch erweist, ist die Tatsache, dass hier vielfach nicht konsequent zwischen »Wahrheit« und »Wirklichkeit« unterschieden wird. So bleibt etwa Bazins primär technologisches Argument, das auf die Wirklichkeit des von der Fotografie repräsentierten Objekts verweist, von der Frage nach dem Wahrheitswert des fotografischen Bildes (oder dessen Bedeutung) faktisch unberührt. Und wie bereits erwähnt wurde, lässt sich Bazins »Realismus« mit dem Verständnis der Fotografie als »Zeichenpraxis« oder Sprache durchaus vereinbaren (vgl. Bazin 2009b, 40). 18 Zum revisionistischen Blick auf die Fotografie in der neueren Amerikanistik, vgl. etwa Trachtenberg 1989, xvi: »My argument throughout is that American photographs are not
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19. Jahrhundert als viel genutztes Mittel zur Nachbearbeitung von Fotografien fungierte, was deutlich macht, dass der Verweis auf die fotografische Indexikalität auch schon vor dem Vormarsch der Digitalisierung nicht frei von Widersprüchen und Problemen war.19 Hinzu kommt, dass die neuerliche Skepsis gegenüber der vermeintlichen Objektivität des Mediums seit den 1970er Jahren auch im Kontext der amerikanischen Fotografie selbst beobachtet werden kann. So nutzen Künstlerinnen und Künstler wie Cindy Sherman, Laurie Simmons, Sherrie Levine, Duane Michals, Jeff Wall, Gregory Crewdson oder David Levinthal die Fotografie nicht mehr primär dazu, um das Reale auf möglichst authentische Weise wiederzugeben. Vielmehr wird genau jene Vorstellung von Authentizität in den inszenierten Arbeiten dieser von der Postmoderne geprägten Künstlergeneration selbst zum Gegenstand der Kritik, worauf etwa Laurie Simmons hinweist, die den noch von Krauss postulierten Wahrheitsgehalt der Fotografie bestreitet: »I think of scientific veracity as an idea from the past […]: An actual retouched photo? An actual collaged photo? People are much more willing to believe that pictures lie than that they can express any kind of truth« (zit. aus Orvell 2003, 175). Zusammenfassend lassen sich innerhalb des Diskurses über die Fotografie also zwei grundsätzlich verschiedene Positionen ausmachen: Zum einen handelt es sich um einen quasi ontologischen Ansatz, der oftmals im Anschluss an den Peirceschen Indexbegriff argumentiert und von einer »objektiven« Qualität des fotografischen Bildes ausgeht, dem mithin eine weitgehend unvermittelte Verbindung zum Realen attestiert wird. Demgegenüber steht eine (explizit oder implizit) ontologiekritische Perspektive, die vor allem im Kontext der Postmoderne und der Cultural Studies verortet werden kann.20 Der Fotografie wird hier kein besonderer Wahrheitswert oder simple depictions but constructions, that the history they show is inseparable from the history they enact: a history of photographers employing their medium to make sense of their society«. Zur Frage der Inszenierung in der Bürgerkriegsfotografie, vgl. insbesondere den Abschnitt »Photographing the War Dead« in Nudelman 2004, 103-131. Zur FSA-Fotografie der 1930er Jahre, vgl. Curtis 1989, Stange 1989, Trachtenberg 1989, 231-285, Guimond 1991, 99-148 und Fluck 2010. 19 Als exemplarisches Beispiel für den Einsatz der Retusche kann auf den Fall des berühmten »Indianerfotografen« Edward Curtis verwiesen werden, der bei seinen romantischen Portraits der Native Americans nicht nur auf Kostüme, Perücken und inszenierte Settings zurückgriff, sondern gelegentlich auch Spuren der westlichen Zivilisation wegretuschierte. So fehlt in der publizierten Version von »In a Piegan Lodge« z.B. eine Uhr, die auf der ursprünglichen Aufnahme noch zu sehen ist (vgl. Scherer 2008, 78-79). Die allgemeine Frage, ob und inwiefern die fotografische Indexikalität durch die Praxis der Retusche in Zweifel gezogen wird, lässt sich allerdings unterschiedlich beantworten. Da es sich bei der Retusche um eine nachträgliche Bildbearbeitung handelt, kann durchaus argumentiert werden, dass sie auf den fotografischen Prozess als solchen – und damit auch auf die Indexikalität des fotografischen Bildes – genaugenommen keinen Einfluss hat. 20 Zur Differenz zwischen der ontologischen Konzeption des Mediums und dem kulturwissenschaftlich-postmodernen Verständnis der Fotografie als »kulturelle Zeichenpraxis«, vgl. Stiegler 2006, 339. Es stellt sich jedoch die Frage, ob dem Problem der Ontologie des fotografischen Bildes so einfach beizukommen ist, wie im Kontext der Cultural Studies und der Postmoderne vielfach suggeriert wird. Denn schließlich basiert auch die Annahme, dass die
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Realitätsbezug bescheinigt und das Medium stattdessen als kulturell vermittelte Zeichenpraxis begriffen, die es im Rahmen des historischen und politischen Kontextes zu analysieren gilt.21 An dieser Stelle lässt sich nun einerseits die Frage stellen, wie sich diese beiden Positionen aus der Perspektive von Deleuze qualifizieren lassen; und andererseits, wie sich dessen fotografieskeptische Haltung darstellt, wenn sie in den Kontext des soeben beschriebenen Diskurses über die Fotografie versetzt wird. Was in dieser Hinsicht zuallererst auffällt, ist die Tatsache, dass die temporale Beschränktheit der Fotografie (die für Deleuzes Haltung gegenüber dem Medium maßgeblich ist) im theoretischen Diskurs über deren »Ontologie« zumeist eine allenfalls marginale Rolle spielt. Zwar gibt es die berühmte Aussage Rodins, der die Fotografie angesichts der Bewegungsstudien von Muybridge der Lüge bezichtigte, da die Zeit »in Wirklichkeit« nicht still stehe.22 Insgesamt aber ist die Statik des fotografischen Bildes kaum jemals ein Hinderungsgrund gewesen, wann immer der Fotografie ihr besonderer Realitätsbezug, d.h. ihre »Naturtreue« bescheinigt wurde. Was allerdings jene »Naturtreue« betrifft, so lässt sich bekanntlich zwischen natura naturans und natura naturata, der produzierenden und der produzierten Natur, unterscheiden.23 Wenn der Fotografie im theoretischen Diskurs also eine besondere Naturtreue attestiert wird, dann meint dies de facto stets die produzierte Natur (natura naturata). Die produzierende Natur (natura naturans) muss hingegen von Rechts wegen als unrepräsentierbar verstanden werden und bleibt der Fotografie daher notwendig verborgen. Auf diese Ambivalenz hat insbesondere Roland Barthes hingewiesen, der in seinen fotografietheoretischen Texten zwar die natürliche Verbindung des fotografischen Bildes zum Referenten betont, zugleich aber deutlich macht, dass das Bild jene Referenz stets in die Vergangenheit versetzt und dadurch in gewisser Weise mit dem »Tod« assoziiert.24 Was Barthes in diesem Sinne aufzeigt, ist die Tatsache,
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Fotografie als kulturelle Signifikations- und Bedeutungspraxis verstanden werden müsse, auf – in der Regel uneingestandenen – ontologischen Prämissen. Vgl. etwa Holschbach 2003, 7: »Die Fotografie gibt es nicht. Sie besitzt keine Identität, keine Eigenart, keine spezifische Bedeutung unabhängig von derjenigen, die ihr in den kulturellen, gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten ihrer vielfältigen Einsätze zugewiesen wird«. Vgl. Rodin 1979, 73: »[D]er Künstler ist wahr, und die Photographie lügt; denn in Wirklichkeit steht die Zeit nicht still: und wenn es dem Künstler gelingt, den Eindruck einer mehrere Augenblicke lang sich abspielenden Gebärde hervorzubringen, so ist sein Werk ganz sicher minder konventionell, als das wissenschaftlich genaue Bild, worin die Zeit brüsk aufgehoben ist«. Die Unterscheidung von natura naturans und natura naturata findet sich bereits bei den Scholastikern und wurde später u.a. von Spinoza, Schelling, Coleridge und Emerson aufgegriffen. Mit Blick auf den hiesigen Kontext, vgl. etwa Schelling 1985, 352: »Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie)«. Vgl. Barthes 2002, 385: »Wenn man wirklich in einer ernsthaften Weise von der Fotografie sprechen will, muß man sie in Beziehung zum Tod setzen. Die Fotografie ist nämlich tatsächlich Zeuge, jedoch ein Zeuge dessen, was nicht mehr ist«. Zur Verbindung von Fotografie und Tod, siehe außerdem Barthes 1989, 102-105.
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dass der vermeintliche Realismus der Fotografie lediglich als Realismus des Gewesenen zu begreifen ist, der das Reale immer nur nachträglich erfasst.25 Somit ist die Fotografie zwar durchaus objektive Re-Präsentation, doch kann sie allein dasjenige wiedergeben, was sie zuvor stillgestellt und zum Objekt gemacht hat. Wenn dem ontologischen Strang des Fotografiediskurses aus Sicht von Deleuze demnach etwas vorgeworfen werden kann, dann betrifft dies in erster Linie die meist stillschweigende Ineinssetzung von »Realität« und »Objektivität«, von »Natur« und »natura naturata«. Es ist daher nicht der ontologische Charakter der klassischen Fotografietheorie schlechthin, dem mit Deleuze zu widersprechen wäre, vielmehr ist es jener Typ von Ontologie, zu dem sich seine prozessuale Philosophie des Werdens im Gegensatz befindet. Wenn das fotografische Bild nämlich zum visuellen Zeugnis des Realen bestimmt wird, dann geschieht dies stets auf der Basis einer objektivierenden Ontologie, die den Dingen ihre Dauer entzieht, was letztlich eine Trennung von Realität und Zeit impliziert.26 Problematisch ist folglich weniger die Immobilität des fotografischen Bildes an sich als vielmehr die Tatsache, dass dieses trotz jener Immobilität zur »Ikone des Realen« (Berg 2001) stilisiert wurde. Denn wenn das (unbewegte) fotografische Bild zum realistischen Abbild der Welt erklärt wird, dann verfestigt sich auch die Vorstellung, das Reale lasse sich bruchlos als Objekt der Repräsentation behandeln. Deleuzes Skepsis gegenüber der Fotografie lässt sich in dieser Hinsicht gerade auch als Skepsis gegenüber ihrem vermeintlichen Realitätsgehalt verstehen. Insofern das Foto nämlich als »Ikone des Realen« fungiert, versinnbildlicht es eine reduktive Ontologie, die das Reale gleichsam als Objekt konzipiert und somit zum Gegenstand des Ähnlichen und Gleichartigen macht.27 Wie im Falle des kulturwissenschaftlich-postmodernen Strangs des Fotografiediskurses kann dem fotografischen Bild demnach auch mit Deleuze kein privilegierter 25 Vgl. Barthes 1989, 87: »Der Name des Noemas der PHOTOGRAPHIE sei also: ›Es-ist-sogewesen‹ oder auch: das UNVERÄNDERLICHE. Im Lateinischen […] hieße dies zweifellos: ›interfuit‹: das, was ich sehe, befand sich dort, an dem Ort, der zwischen der Unendlichkeit und dem wahrnehmenden Subjekt (operator oder spectator) liegt; es ist dagewesen und gleichwohl auf der Stelle abgesondert worden; es war ganz und gar, unwiderlegbar gegenwärtig und war doch bereits abgeschieden«. 26 Dies lässt sich sogar Bazin vorwerfen, der generell ein ausgeprägtes Gespür für die temporale Natur des fotografischen Bildes zeigt (und sich zudem auf Bergsons Konzept der Dauer beruft). Doch wenn Bazin den Realismus der Fotografie hervorhebt, indem er ihr eine Befreiung des Gegenstandes von den »Zufällen seiner Zeitlichkeit« attestiert (Bazin 2009b, 37), dann behandelt er das Verhältnis von Zeit und Ding unter der Hand als rein äußerliches. Dementsprechend würde die wirkliche Natur des Gegenstandes umso deutlicher zum Vorschein kommen, je stärker dieser seine temporale Qualität verlöre. 27 In diesem Zusammenhang lässt sich auch die kategorische Ontologiekritik poststrukturalistischer Autoren wie Jacques Derrida oder Judith Butler verorten. In Butlers Gender Trouble heißt es etwa: »Ontology is […] not a foundation, but a normative injunction that operates insidiously by installing itself into political discourse as its necessary ground« (Butler 2007, 203). Deleuze hingegen stellt das ontologische Denken nicht an sich in Frage, sondern verweist auf die Möglichkeit einer anderen Ontologie, die ausdrücklich keine normative oder identifizierende Festschreibung eines Wesenskerns der Dinge zum Ziel hat, sondern das Werden und die Differenz selbst zum ontologischen »Anfang« macht.
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Realismus bescheinigt werden. Dies heißt allerdings nicht, dass Deleuzes Sicht auf die Fotografie ansonsten viel mit dem kulturwissenschaftlich-postmodernen Ansatz gemeinsam hätte. So werden etwa wesentliche Unterschiede deutlich, wenn man die jeweilige Form der Repräsentationskritik in den Blick nimmt, die für die beiden Ansätze spezifisch ist. Während das postmoderne Denken der Repräsentation nämlich die vermeintlich unüberbrückbare »Dialektik zwischen Sein und Schein« (Wall 1986, 101) entgegenstellt, wird das »Sein« bei Deleuze mit dem »Werden« konfrontiert, so dass die Möglichkeit einer adäquaten Repräsentation auf der Grundlage einer prozessualen Wirklichkeitskonzeption hinterfragt wird. Zudem unterscheidet sich Deleuzes Ansatz von der Fotografiekritik in den Cultural Studies aufgrund der kulturwissenschaftlichen Tendenz, das fotografische Bild als »diskursiven« Bedeutungsträger zu behandeln, was in der Vergangenheit vielfach zu einer Vernachlässigung der affektiven Bildwahrnehmung und der spezifisch visuellen Eigenschaften der Fotografie geführt hat.28 Doch insofern das »Kultur-als-Text«-Paradigma heute zunehmend auch in den Cultural Studies in Frage steht, ist es zumindest vorstellbar, dass die Philosophie von Deleuze – unabhängig von dessen expliziter Qualifizierung des Mediums – in Zukunft auch eine bedeutendere Rolle im Kontext der Fotografietheorie spielen wird.29
3.3 D AS UND
UNZEITGEMÄSSE B ILD : F OTOGRAFIE , IM 19. J AHRHUNDERT
B EWEGUNG
Z EIT
Nachdem Deleuzes Skepsis gegenüber der Fotografie dargestellt und auf die beiden wohl einflussreichsten Stränge des theoretischen Diskurses über das Medium bezogen wurde, soll in diesem und dem nächsten Abschnitt nun mithilfe von Deleuzes Philosophie auf die amerikanische Fotografiegeschichte geblickt werden. Dabei steht besonders die Frage der temporalen Beschränktheit des fotografischen Bildes im Zentrum, die ja einen der Hauptgründe für Deleuzes Skepsis gegenüber dem Medium darstellt. Mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Mediums soll allerdings auch
28 Auch wenn der klassischen kulturwissenschaftlichen Argumentation darin zugestimmt werden kann, dass sich die fotografische Praxis (und die Rezeption derselben) nicht ausgehend von der ontologischen Verfasstheit des fotografischen Bildes ableiten lässt, wäre es nichtsdestotrotz falsch, den medienspezifischen Charakter der Fotografie als irrelevant abzutun. Stattdessen könnte gerade die Verbindung von kritischer Praxisanalyse und ontologischer Herangehensweise zu interessanten Ergebnissen führen. Ansätze in dieser Richtung finden sich neuerdings bei W.J.T. Mitchell, der die postmoderne »Versprachlichung« des Bildes explizit in Frage stellt: »Vision is as important as language in mediating social relations, and it is not reducible to language, to the ›sign‹, or to discourse. Pictures want equal rights with language, not to be turned into language« (Mitchell 2005, 47). 29 Neben der bereits erwähnten Studie von Damian Sutton, in der Deleuzes Philosophie für die Fotografietheorie nutzbar gemacht wird (Sutton 2009), beruft sich etwa auch John Tagg (z.B. in The Disciplinary Frame) auf Deleuze. Allerdings ist Taggs Ansatz wesentlich diskursiv ausgerichtet, da er das fotografische Bild vor allem hinsichtlich seiner »Bedeutung« im Kontext diskursiver Formationen analysiert (vgl. Tagg 2009). Zum Verhältnis der Fotografietheorie zum Denken von Deleuze und Guattari, vgl. außerdem Bleyen (Hg.) 2012.
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untersucht werden, ob sich Deleuzes recht eindimensionale Qualifizierung der fotografischen Temporalität nicht noch genauer spezifizieren ließe. Denn ungeachtet der Tatsache, dass Deleuze stets von dem Foto im Singular spricht, stellt sich die Frage, ob ausgehend von der Geschichte der unterschiedlichen fotografischen Praktiken nicht auch unterschiedliche Temporalitäten zu bestimmen wären. Sicherlich kann sich die Fotografie nicht dem Faktum entziehen, dass sie Bewegung nur »einfangen« kann, indem sie die Zeit quasi »anhält«. Aber ist hiermit wirklich schon alles gesagt? Haben nicht auch technologische Entwicklungen – wie etwa die sukzessive Verkürzung der Belichtungszeit im Laufe des 19. Jahrhunderts – einen Einfluss darauf gehabt, wie Bewegung und Zeit im fotografischen Bild jeweils zur Darstellung kommen? Hat es nicht immerhin Versuche gegeben, die Immobilität des Mediums zu überwinden oder sie – mittels der limitierten Möglichkeiten der Fotografie selbst – wenigstens zum Thema zu machen? Im Sinne von Deleuzes Kritik an Bergson lässt sich diesbezüglich erneut darauf hinweisen, dass nicht vorschnell von den beschränkten »Mitteln« auf das jeweilige »Ergebnis« geschlossen werden darf (BB 14). Im Folgenden soll mit Deleuze daher genauso verfahren werden, wie es Deleuze in seiner Kinostudie mit Bergson getan hat. D.h. genauer: Seine zeit- und bewegungsphilosophischen Einsichten sollen für die konkrete Auseinandersetzung mit der Fotografie nutzbar gemacht werden, auch wenn dies auf eine Weise geschehen sollte, die seinen expliziten Äußerungen über das Medium widerspricht. In diesem Sinne wird zunächst die Fotografie des 19. Jahrhunderts – von der frühen Portraitfotografie bis zu Eadweard Muybridges Bewegungsstudien – behandelt, woraufhin dann im letzten Teil des Kapitels (Kap. 3.4) auf diverse Strategien der Temporalisierung des fotografischen Bildes im 20. Jahrhundert eingegangen wird. Was im Hinblick auf die Frühphase der Fotografie sogleich deutlich wird, ist der prinzipiell unzeitgemäße Charakter des Mediums. So erscheint die Fotografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Zeit, in der die amerikanische Kultur noch ganz wesentlich im Zeichen der Romantik steht, was die damals gängigen Vorbehalte gegenüber einem quasi »mechanisch« erzeugten Bild zumindest teilweise erklärt. Denn die vielfach gepriesene Objektivität der Kamera konnte anfangs nur begrenzt mit dem vorherrschenden Habitus des Künstlers in Einklang gebracht werden, der sich – ganz im Sinne des romantischen Programms – nicht die Objektivierung der Natur zum Ziel setzte, sondern ihre subjektive Erfahrbarkeit. Sogar im Kontext der Fotografie selbst ist die Objektivität des fotografischen Bildes daher nicht selten mit Skepsis betrachtet worden.30 Der Einsatz von Soft Focus, Gummidrucken, Retusche und Gravuren in der piktorialistischen Fotografie lässt sich dementsprechend als Versuch deuten, der von Benjamin diagnostizierten Verdrängung der künstlerischen Aura im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit entgegenzuwirken.31 Die Fotogra30 Dies änderte sich erst mit dem Aufkommen der »Straight Photography« gegen Anfang des 20. Jahrhunderts. Siehe hierzu etwa die modernistische Kritik von Paul Strand, laut der die Fotografie erst mit Stieglitz ihr eigentliches Wesen entdeckt hat. Im Gegensatz zu den Piktorialisten plädiert Strand dafür, sich nicht an die Malerei anzubiedern, sondern das technische Potential der Fotografie konsequent auszuschöpfen – »without tricks of process or manipulation, through the use of straight photographic methods« (Strand 1980, 142). 31 Vgl. Benjamin 1969b, 80: »Die Photographen jedoch sahen in der Zeit nach 1880 ihre Aufgabe vielmehr darin, die Aura, die von Hause aus mit der Verdrängung des Dunkels durch
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fie des 19. Jahrhunderts kann somit als künstlerisch-wissenschaftliches Zwitterwesen gelten, deren Ort sich in der Mitte zweier gegenläufiger Tendenzen findet. Denn obwohl die Faszination an der Fotografie in erster Linie als Faszination an der zunehmenden Objektivierung der Optik zu verstehen ist, war es gerade dieser Aspekt des fotografischen Bildes, der im Bereich der Kunst lange mit Argwohn betrachtet wurde. Mit Blick auf die temporale Verfasstheit der frühen Fotografie lässt sich zudem ein weiterer Aspekt des Unzeitgemäßen aufzeigen, der hauptsächlich mit den damals noch äußerst langen Belichtungszeiten zusammenhängt, die zur tendenziellen »Statik« des fotografischen Bildes noch zusätzlich beitrugen. Folgt man nämlich Benjamin, dann handelt es sich bei der Fotografie um ein Medium, das von Beginn an auf die Moderne bezogen war und im Bereich der Kunst zu einer »gewaltigen Erschütterung des Tradierten« (Benjamin 1969a, 16) beitrug.32 Während die Moderne aber seit jeher für Beschleunigung, Geschwindigkeit und »Deterritorialisierung« steht, geht besonders die frühe Fotografie mit einer Ästhetik einher, die nicht selten als leblos und statisch wahrgenommen wurde, d.h. eher das Gegenteil auszudrücken scheint. Die Tatsache, dass es im Laufe des 19. Jahrhunderts – von der Erfindung der Eisenbahn bis zur Entwicklung der Funktechnik – zu einer fundamentalen Temporalisierung sämtlicher Lebensverhältnisse kam, artikuliert sich daher auch weniger in der Fotografie als etwa in der Malerei.33 Zwar finden sich erst in der Malerei des frühen 20. Jahrhunderts radikale Ansätze einer visuellen Verzeitlichung, wenn z.B. die Futuristen die Welt nicht mehr als fixierbare Form repräsentieren, sondern in sogenannte »Kraftlinien« aufspalten, die »der fotografischen Wirklichkeit keineswegs entsprechen« (Talpo 2001, 68).34 Doch schon in der Malerei des 19. Jahrhunderts
lichtstärkere Objektive aus dem Bilde genau so verdrängt wurde wie durch die zunehmende Entartung des imperialistischen Bürgertums aus der Wirklichkeit – sie sahen es als ihre Aufgabe an, diese Aura durch alle Künste der Retusche, insbesondere jedoch durch sogenannte Gummidrucke vorzutäuschen«. 32 Dies begründet Benjamin etwa mit dem Hinweis darauf, dass die Fotografie den Gedanken der auratischen »Echtheit« – und somit auch den Traditionswert des Kunstwerks – in Frage stellt: »Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles vom Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken […]. Man kann, was hier ausfällt, im Begriff der Aura zusammenfassen und sagen: was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura« (Benjamin 1969a, 15-16). 33 Mehr noch gilt dies freilich für die Wissenschaften und die Philosophie. So zeichnen sich nahezu alle wichtigen philosophischen und wissenschaftlichen Theorien des 19. Jahrhunderts durch eine weitreichende Verzeitlichung klassischer Denkansätze aus. Als Beispiele hierfür ließen sich Darwins Evolutionslehre, die marxistische Geschichtsphilosophie, der amerikanische Pragmatismus und die Zeitphilosophie Bergsons nennen. 34 Das Zitat stammt von Umberto Boccioni. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass einige ihrer Repräsentanten dem italienischen Faschismus nahestanden, drohen die zeit- und bewegungstheoretisch interessanten Aspekte der futuristischen Kunst mitunter in Vergessen-
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wurde vielfach der Versuch unternommen, Bewegung und Zeit als maßgebliche Facetten der Wirklichkeit ins Bild zu setzen. Wie Maurice Merleau-Ponty erläutert, geht es der Malerei – im Gegensatz zur Fotografie – im Wesentlichen darum, »eine Bewegung ohne Ortsveränderung durch Vibration oder Ausstrahlung« hervorzubringen, d.h. den Eindruck zeitlichen Übergangs und Simultanität entstehen zu lassen (Merleau-Ponty 2003, 309).35 Stellt man dementsprechend etwa ein Bild von J.M.W. Turner oder Cézanne einer Daguerreotypie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber, dann wird deutlich, weshalb nicht wenige zeitgenössische Betrachter den »Realismus« des fotografischen Bildes als leblos und steril empfanden.36 Abb. 1: Robert Cornelius, Seated Couple (ca. 1840)
In den Anfangstagen der Fotografie hängt dieser Eindruck des Starren und Sterilen ganz wesentlich mit der Notwendigkeit langer Belichtungszeiten zusammen, die in der Portraitfotografie zur Folge hatten, dass sich die jeweils abgelichtete Person bis zu mehrere Minuten lang vollkommen regungslos verhalten musste. Sehr deutlich zeigt sich dies etwa auf den frühen Portraitaufnahmen von Robert Cornelius. So ist beispielsweise auf dem Bild Seated Couple (Abb. 1) ein Paar mit steifer Mimik und weit aufgerissenen Augen zu sehen, das sich offenbar große Mühe gibt, möglichst nicht zu blinzeln. Um zu erreichen, dass sich die portraitierten Personen während der Aufnahme tatsächlich nicht bewegten, wurde häufig auch von Kopfstützen und ähnheit zu geraten. So beriefen sich die Futuristen bei ihrem Versuch, eine Ästhetik des Werdens zu begründen, etwa ausdrücklich auf die Philosophie Bergsons (vgl. Talpo 2001). 35 Zur Frage der »Simultanität« in der Malerei, vgl. außerdem die Schriften des französischen Malers Robert Delaunay (Delaunay 1983). 36 Vgl. hierzu von Brauchitsch 2002, 71: »Um den Beigeschmack des Toten und Sterilen aus seinen Dioramen zu vertreiben, der vielen Besuchern trotz aller aufgebotenen Effekte nicht entgangen war, hatte Daguerre in seine Berglandschaften sogar leibhaftige Alphornbläser und Schweizer Sänger einbezogen. Angesichts seiner ersten, menschenleeren fotografischen Aufnahmen sah er sich dann unmittelbar mit dem gleichen Vorwurf konfrontiert, ohne allerdings die Möglichkeit zu besitzen, zu jeder Daguerreotypie raffinierte Lichtwechsel oder Musik mitliefern zu können«.
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lichen Hilfsmitteln Gebrauch gemacht. Hiervon zeugt etwa eine zeitgenössische Karikatur aus Godey’s Lady’s Book (Abb. 2), über die Miles Orvell sich folgendermaßen geäußert hat: »In this cartoon […], the dignity of the subject is compromised by the posing apparatus, which was standard equipment in the photographer’s studio. The rigidity of facial expressions and bodily posture is often the result of such constraints in early portraiture, which required at least several seconds of exposure time« (Orvell 2003, 23). Abb. 2: Anonym, The Daguerreotypist (1849)
In diesem Zusammenhang lässt sich durchaus argumentieren, dass die vielbeschworene Faszination der frühen Fotografie für den Tod nicht nur in kultureller oder ideologischer Hinsicht zu begründen ist, sondern auch mit einem rein technischen Argument verknüpft war. Denn aus fotografietechnischer Perspektive war die Ablichtung des toten Körpers – dessen Regungslosigkeit dem gleichermaßen fixierten wie fixierenden Kamerablick entgegenkam – freilich von Vorteil. Alexander Gardners, Timothy O’Sullivans oder Mathew Bradys Aufnahmen der im Bürgerkrieg gefallenen Soldaten sollten somit nicht nur als wertvolle ereignishistorische Dokumente betrachtet werden, sondern auch als Zeugnisse, die ein bestimmtes Stadium in der Entwicklungsgeschichte ihres Mediums zum Ausdruck bringen (Abb. 3). Und dies gilt nicht bloß für die Bürgerkriegsfotografie, sondern ebenso für die sogenannte »postmortem photography«, die im Amerika des 19. Jahrhunderts äußerst verbreitet gewesen ist (Abb. 4).37 37 Zur Bürgerkriegsfotografie, vgl. Gardners klassisches Sketch Book (Gardner 1959) sowie Trachtenberg 1985. Zur »postmortem photography« heißt es bei Orvell: »It was the com-
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Abb. 3: Timothy O’ Sullivan, Field Where General Reynolds Fell, Gettysburg (1863)
Abb. 4: »Postmortem«-Fotografie eines unbekannten Mädchens (ca. 1850). Courtesy of George Eastman House, International Museum of Photography and Film
mon practice, in nineteenth-century America, for photographers to be hired following the death of a loved one – especially in the case of children – in order to create what might be the only portrait of the subject. These pictures of the dead would very often be made with the body posed to suggest a sleeping subject, in line with the Victorian sentiment that softened the absoluteness of death with this solace to the bereaved« (Orvell 2003, 25). Siehe außerdem Ruby 1995 und Nudelman 2004, 103-131.
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In der frühen Fotografie ist es somit nicht allein die Kamera, die den Körper zum Objekt macht, vielmehr ist es der Fotograf selbst, der in seiner Funktion als Regisseur hinter der Kamera dafür Sorge trägt, dass sich der abzulichtende Körper gleichsam wie ein »toter Körper« geriert, sofern es sich nicht buchstäblich um einen toten Körper handelt. Gerade die frühe Fotografie befand sich daher in einer gewissermaßen paradoxen Situation, die sowohl mit ihrer vermeintlichen Naturtreue als auch mit ihrer Temporalität zusammenhängt. Denn während die Fotografie einerseits für ihre naturalistische Präzision gefeiert wurde, musste sie andererseits, um überhaupt ein Bild der Natur präsentieren zu können, diesem zunächst die Bewegung entziehen, so dass das Resultat oftmals leblos und statisch wirkte. Die Fixierung der lebendigen Dauer, d.h. der »ablaufenden Zeit«, kann der Fotografie somit nur in Gestalt der »abgelaufenen Zeit« gelingen (Bergson 1999, 164), was den paradoxen Effekt zur Folge hat, dass das abfotografierte Leben immer schon auf der Seite des Todes zu stehen scheint.38 Diese von Roland Barthes so eloquent diagnostizierte Verbindung zwischen Fotografie und Tod (vgl. Barthes 1989) war dem französischen Schriftsteller Paul de Kock bereits 1842 aufgefallen. »Mir scheint es«, schreibt dieser, »als ob die Natur zur Strafe dafür, daß wir ihre Geheimnisse ablauschen, ein todtes Bild geben will« (zit. aus von Brauchitsch 2002, 15). Allerdings entwickelte sich die Fotografie in den Jahrzehnten nach ihrer Erfindung 1839 äußerst rasant, so dass die Belichtungszeit mittels neuer Verfahren bald wesentlich reduziert werden konnte. Hierdurch wurde es dem Fotografen ermöglicht, auch Körper in Bewegung festzuhalten, was einen bedeutsamen Einschnitt in der Geschichte der Fotografie darstellt. Denn wie beispielsweise Eadweard Muybridges Aufnahmen galoppierender Pferde aus den 1870er Jahren veranschaulichen, gelang es der Kamera nun, Facetten der Realität sichtbar zu machen, die mit dem bloßen Auge zuvor nicht erfasst werden konnten. So konnte etwa die genaue Gangart des Pferdes und die Stellung der Hufe beim Galopp nur erahnt werden, bevor Muybridge seine berühmten chronofotografischen Momentaufnahmen von den Rennpferden des kalifornischen Ex-Gouverneurs Leland Stanford machte (Abb. 5).39 Die Perfektionierung der Momentaufnahme durch Fotografen wie Muybridge, Etienne-Jules Marey, Ottomar Anschütz oder Thomas Eakins beförderte daher die Vorstellung der Kamera als einer technischen Maschine, die ein quasi »objektives Sehen« ermöglicht, das weder den Illusionen des subjektiven Blicks noch den physiologischen Beschränkungen 38 Vgl. Orvell 2003, 25: »All photographs embody a paradoxical temporal quality: freezing a living moment, they are at the same time records of morbidity, for by the time we view the image, the instant is already past«. 39 Der Legende nach wurde Muybridge von Stanford angeheuert, da dieser zuvor mit dem Reitstallbesitzer Frederick MacCrellish gewettet hatte, »ob ein Pferd an einem Punkt des Galopps mit allen vier Hufen in der Luft sei oder nicht« (von Brauchitsch 2002, 72). Die ersten Aufnahmen für Stanford entstanden vermutlich schon im April 1872. Der endgültige Durchbruch des Verfahrens gelang jedoch erst einige Jahre später, wobei nun 24 nebeneinander aufgestellte Kameras zum Einsatz kamen, die durch eigens konstruierte Bodenkontakte automatisch ausgelöst wurden. Die Methode von Muybridge war somit deutlich aufwendiger als diejenige Mareys, der nur eine einzige »fotografische Flinte« benötigte, um die Phasenbilder eines Bewegungsablaufs zu fixieren (vgl. Solnit 2004, 177-205 und Dagognet 1992, 65-128).
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des menschlichen Sehapparates unterliegt.40 Wenn sich der Kamera folglich mit Benjamin attestieren lässt, sie verhelfe dem »Optisch-Unbewußten« zum Ausdruck (Benjamin 1969b, 72), dann zeigt dies zugleich eine gewisse Verschiebung innerhalb des Diskurses um den fotografischen Realismus an. Wie nämlich Muybridges Pferdefotografien veranschaulichen, lässt sich der vermeintliche Realismus des fotografischen Bildes hier nicht mehr allein auf das Sichtbare beziehen, da die Kamera nun außerdem eine Verbindung zum Unsichtbaren herstellt. Dies betrifft einerseits das Verhältnis der Fotografie zur Wissenschaft, andererseits aber auch ihre Beziehung zur Kunst. So heißt es bekanntermaßen bei Paul Klee, die Kunst gebe »nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar« (Klee 1976, 118). Ganz ähnlich kann dies auch über die ultraschnellen Momentaufnahmen von Muybridge oder Marey gesagt werden, die Bewegungen im »Millisekundenbereich« (Kittler 2002, 212) erfassen, d.h. den Betrachter mit einem Bereich der Wirklichkeit konfrontieren, der dem menschlichen Auge zuvor gemeinhin verborgen war. Abb. 5: Eadweard Muybridge, The Horse in Motion (1878)
Dies soll freilich nicht heißen, dass die Vertreter der Moment- oder Bewegungsfotografie in erster Linie künstlerische Ambitionen gehabt hätten. Wie Marta Braun aufgezeigt hat, gilt dies insbesondere nicht für Marey – auch wenn dessen Verfahren, bei
40 Aufgrund der sogenannten »Nachbildwirkung« kann das menschliche Auge nur etwa 14 bis 16 Bilder pro Sekunde einzeln wahrnehmen, was (im Zusammenspiel mit dem Stroboskopeffekt) auch dafür verantwortlich ist, dass die kinematographische Abfolge von 24 Einzelbildern pro Sekunde als kontinuierliche Bewegung empfunden wird. Diese »Trägheit« des menschlichen Auges ist laut Stiegler bereits im 19. Jahrhundert beobachtet worden und spielte eine wesentliche Rolle im Diskurs über die Momentfotografie. Insofern es Muybridge und Marey nämlich gelang, Bewegungen im Tausendstelsekundenbereich mit der Kamera festzuhalten, ist das physiologische Handicap des menschlichen Sehapparates für jedermann sichtbar geworden (vgl. Stiegler 2006, 90-100).
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Abb. 6: Étienne-Jules Marey, Bird in Flight (1886)
dem die Bewegungsphasen mittels Mehrfachbelichtung auf einer einzigen Platte abgebildet werden (Abb. 6), zunächst »sinnlicher« wirken mag als Muybridges kühle Gitterstruktur. Braun erläutert jedoch, dass es Marey ausschließlich um den wissenschaftlichen Wert seiner Bewegungsstudien gegangen sei. »His graphic, chronophotographic, and cinematographic instruments«, schreibt Braun, »were to him only instruments with which to observe and record movement in such a way that it could be measured and then quantified so that its principles might be known. The subject of his pictures, broadly speaking, was nature; their content, knowledge […]; the audience he imagined and addressed was made up of scientists like himself and of those artists who aligned themselves with the scientific quest for truth« (Braun 1992, xx).41 Es lässt sich folglich argumentieren, dass die Momentfotografie des späten 19. Jahrhunderts zwar als Methode zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren verstanden werden kann; dies allerdings nicht im Sinne des Malers, der Deleuze zufolge ebenfalls darauf abzielt, »Kräfte sichtbar zu machen, die nicht sichtbar sind« (FB 39).42 So ging es den Momentfotografen insbesondere darum, einen Bereich der Wirklichkeit, der vom Auge nur unzureichend erfasst werden konnte, mittels technischer Präzi-
41 Anders als Marey, der als Wissenschaftler zur Fotografie kam, hatte Muybridge sich zunächst als Landschaftsfotograf einen Namen gemacht und ist wohl eher zufällig zur Wissenschaft gestoßen. Braun bestreitet daher auch den wissenschaftlichen Charakter von Muybridges Werk und argumentiert, dass dessen piktorialistische Ästhetik den Charakter seiner Bewegungsstudien beeinflusst habe: »[His photographs] are in fact not scientific depictions of movement, but fictions« (Braun 1992, xvi). Auch wenn Braun darin zugestimmt werden kann, dass Muybridges ästhetische Interessen die Wissenschaftlichkeit seines Werkes mitunter schmälern (so etwa im Falle der falschen Anordnung mehrerer Einzelbilder seiner Bewegungssequenzen), wäre es wenig sinnvoll, sein Werk allein »künstlerisch« zu beurteilen. Immerhin sorgten Muybridges Bewegungsstudien zunächst in Zeitschriften wie La Nature und Scientific American für Aufsehen, was darauf hinweist, dass das Interesse an seiner Momentfotografie durchaus wissenschaftlich motiviert war. Eine fruchtbare Einordnung von Muybridges Werk gelingt insbesondere Rebecca Solnit, die dessen Momentfotografie im Kontext eines spezifisch »kalifornischen« Modernismus behandelt, der eine kuriose Verbindung von Business, Technologie, Wissenschaft, Entertainment und Kunst ermöglicht habe (vgl. Solnit 2004). 42 Wie Joel Snyder erläutert, verstand Marey die Momentfotografie gleichermaßen als Methode zur Verdeutlichung von Sichtbarem wie als Methode zur Sichtbarmachung von Unsichtbarem: »Chronofotografien können uns also ein Gebiet erschließen, das wir nicht sehen können; doch gleichzeitig können sie uns auch zeigen, was wir sehen, obwohl wir nicht garantieren können, es auch ohne den bildlichen Beweis, der von den Präzisionsinstrumenten hergestellt wurde, gesehen zu haben« (Snyder 2002, 164).
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sionsinstrumente wissenschaftlich auszumessen und zu »objektivieren«. Während es aber Muybridge darauf ankam, die einzelnen Bewegungspositionen seiner Figuren voneinander zu isolieren und dem ruhenden Auge des Betrachters in einem jeweils separaten Feld zugänglich zu machen (Abb. 7), war es das ultimative Ziel Mareys, eine abstrakte »Syntax der Bewegungsbilder zu entwickeln, in der die Bewegungen in graphischen Kategorien, d.h. in Kurven oder Linien aufgezeichnet werden« (Stiegler 2006, 97). Dies zeigt sich besonders gut in denjenigen Arbeiten, für die Marey seine Probanden vor einem dunklen Hintergrund in fast gänzlich schwarzer Kleidung fotografierte. Auf den schwarzen Anzügen wurden zuvor jedoch leuchtende Knöpfe angebracht, die die Gelenkpunkte des Achsenskeletts markierten und durch reflektierende Streifen miteinander verbunden waren. Das Resultat dieser »geometrischen Chronofotografien« – für die Marey z.B. marschierende Soldaten fotografierte (Abb. 8) – kommt buchstäblich einer diagrammatischen Aufzeichnung von Bewegungsabläufen gleich, die mit der natürlichen Wahrnehmung jener Prozesse so gut wie nichts mehr gemeinsam hat. Abb. 7: Eadweard Muybridge, Boys Playing Leap Frog (1883–86)
Abb. 8: Étienne-Jules Marey, Joinville Soldier Walking (1883)
Dadurch, dass die Momentfotografie seit den 1870er Jahren gewissermaßen als Korrektiv der menschlichen Sinneswahrnehmung fungierte, wurde letztlich auch die imaginäre Dimension eliminiert, von der die Bewegungswahrnehmung bis dato geprägt war (vgl. Kittler 2002, 214). In diesem Kontext lässt sich auch die Debatte verorten,
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die im Anschluss an die Veröffentlichung von Muybridges Aufnahmen des Pferdegalopps innerhalb der Kunstwelt entbrannte. Sollten etwa die Maler den Galopp des Pferdes bislang immerzu »falsch« repräsentiert haben? Wie Rebecca Solnit erläutert, geriet z.B. der französische Maler Jean Louis Ernest Meissonier in eine regelrechte Schaffenskrise, nachdem ihm bewusst geworden war, dass er sich während seines dreißig Jahre dauernden Versuchs, den Galopp des Pferdes auf möglichst akkurate Weise wiederzugeben, geirrt hatte: »After thirty years of absorbing and concentrated study, I find I have been wrong. Never again shall I touch a brush!« (zit. nach Solnit 2004, 197). Zwar sollte Meissonier seine Ankündigung nicht wahr werden lassen, doch machte er fortan – wenn auch »nur zur Kontrolle«, wie Kittler schreibt (Kittler 2002, 215) – von Muybridges Fotografien Gebrauch, um den Realismus seiner Gemälde zu perfektionieren.43 Mit Solnit lässt sich demnach argumentieren, dass Muybridges Chronofotografie eine Krise der Repräsentation ausgelöst hatte, die ganz unmittelbar die Malerei betraf.44 Auf die Herausforderung durch die Momentfotografie reagierten die zeitgenössischen Künstler jedoch insgesamt sehr unterschiedlich. Rodin etwa – der grundsätzlich der Meinung war, die Malerei würde die Bewegung auf wahrheitsgetreuere Weise wiedergeben als die Fotografie – hat sich von Muybridges Aufnahmen nur wenig beeindruckt gezeigt. Unabhängig davon, wie Rodins fotografiekritische Haltung aus heutiger Sicht zu bewerten ist, macht es bezüglich des Problems der fotografischen Temporalität durchaus Sinn, seine Argumentation an dieser Stelle etwas genauer in den Blick zu nehmen. So begründet Rodin seine Kritik an der Momentfotografie mit dem Hinweis darauf, dass es dieser gerade nicht um die Bewegung geht. Was die Fotografie vom bewegten Körper nämlich allenfalls erfassen kann, ist die versteinerte Pose eines auf wunderliche Weise unbewegt wirkenden Körpers, der, »obgleich in voller Aktion festgehalten, wie jäh in der Luft erstarrt« erscheint (Rodin 1979, 72). Indem die Fotografie somit nur einzelne Augenblicksansichten aus dem kontinuierlichen Fluss der Zeit herausnimmt und isoliert, kann sie zu keiner wahrheitsgetreuen Repräsentation der Bewegung gelangen, sondern liefert ein höchst abstraktes Bild der Wirklichkeit. In diesem Sinne »lügt« die Fotografie also, »denn in Wirklichkeit steht 43 Die Werke vieler Maler und anderer Künstler weisen bis heute sichtbare Einflüsse der Momentfotografie von Muybridge und Marey auf, wobei allerdings nicht immer die Frage der »Adäquanz« im Vordergrund steht. Während sich etwa Marcel Duchamp oder Francis Bacon für die chronofotografische Dekomposition der Bewegung interessierten, war der Minimalist Sol LeWitt besonders von Muybridges Gitterstruktur und der seriellen Konzeption seines Werkes fasziniert. Futuristische Maler wie Giacomo Balla favorisierten dagegen die dynamischer wirkenden Bewegungsstudien Mareys, da diese – vergleichbar mit den langzeitbelichteten Fotoarbeiten des italienischen Futuristen Anton Giulio Bragaglia – einen Gesamteindruck des Bewegungsablaufs vermitteln. Zum Einfluss Mareys auf den Futurismus und die moderne Malerei insgesamt, vgl. Braun 1992, 264-318. Zum Verhältnis von Momentfotografie und Kunst in Bezug auf die Arbeiten von Muybridge, vgl. Forster-Hahn 1972 und Gunning 2003. 44 Vgl. Solnit 2004, 196-197: »Muybridge created a crisis of representation for realist painters […]. What a high-speed photograph showed and what the eye saw were in conflict, but the evidence of the camera was incontrovertible to those who had dedicated themselves to realism«.
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die Zeit nicht still«. Anders als im Falle der Fotografie geht es Rodin zufolge in der Malerei und der Skulptur hingegen darum, den Gesamteindruck der fortschreitenden Entwicklung einer »mehrere Augenblicke lang sich abspielenden Gebärde« zu erfassen (Rodin 1979, 73). Dementsprechend verteidigt Rodin auch den französischen Maler Théodore Géricault, dessen 1821 entstandenes Gemälde Das Derby in Epsom (Abb. 9) vier galoppierende Pferde mit gleichzeitig ausgestreckten Vorder- und Hinterbeinen zeigt – in einer Stellung also, die gemäß den Erkenntnissen der Momentfotografie »kein galoppierendes Pferd jemals eingenommen hat« (Merleau-Ponty 2003, 311). Nichtsdestotrotz ist Rodin jedoch der Auffassung, dass das Gemälde die Bewegung wirklichkeitsgetreuer wiedergibt als die Fotografie, was er folgendermaßen begründet: »Ich […] glaube, daß Géricault gegen die Photographie im Recht ist, denn seine Pferde scheinen wirklich zu rennen. Und das kommt daher, daß der Beschauer, wenn er sie von hinten nach vorn betrachtet, zunächst sieht, wie die muskulösen Schenkel die Kraft erzeugen, woraus der allgemeine Schwung entspringt; wie dann der Leib sich streckt und endlich die Vorderbeine weitausgreifend den Boden suchen. Als Ganzes genommen, wirkt das in seiner Gleichzeitigkeit natürlich falsch; betrachtet man aber die einzelnen Phasen nacheinander, so wirkt der Eindruck durchaus richtig, ja man hat dann die einzige Wahrheit, die für uns von Wichtigkeit ist, weil wir sie tatsächlich sehen, und sie uns lebhaft fesselt.« (Rodin 1979, 74)
Abb. 9: Théodore Géricault, Das Derby in Epsom (1821)
Was dieses Zitat verdeutlicht, ist zunächst einmal Rodins Bestreben, Realismus und Wahrnehmung in Einklang zu bringen. Bekanntlich war Rodin der Ansicht, dass der Künstler stets der Natur »gehorchen« muss (29), sich dabei aber – anders als der Fotograf – nicht mit der äußeren Nachbildung abfinden darf. Stattdessen muss er die äußere Gestalt der Dinge in einen Empfindungsblock verwandeln, der zwar mit der natürlichen Wahrnehmung korrespondieren sollte, zugleich aber einen Übergang
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»von den äußeren Formen zu den inneren Wahrheiten« ermöglicht (Rodin 1979, 32). Géricault ließe sich in diesem Sinne attestieren, dass er die »innere Wahrheit« der Dauer besser erfasst hat als Muybridge, da es ihm gelungen ist, die Dynamik der dargestellten Situation in einen gleichermaßen dynamischen Ausdruck zu übersetzen. Denn anders als Muybridge, dem es darum ging, den Bewegungsablauf in seine einzelnen Positionen aufzubrechen, hat Géricault die Bewegung als einen unteilbaren Fluss dargestellt, wobei jede Bewegungsphase unmittelbar in die nächste übergeht. Äußerst treffend hat dies Merleau-Ponty formuliert: »Die Photographie hält die Augenblicke offen, die das Vorwärtstreiben der Zeit sofort wieder schließt, sie zerstört das Überschreiten, das Ineinandergreifen, die ›Metamorphose‹ der Zeit, die die Malerei dagegen sichtbar macht, weil die Pferde die Bewegung ›von hier nach dort‹ in sich haben, weil sie in jedem Augenblick einen Fuß setzen« (Merleau-Ponty 2003, 311). Rückblickend betrachtet wird deutlich, dass Rodins ästhetiktheoretische Ansichten aufgrund der technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung schon damals weitestgehend überholt waren. Dass Rodin die Adäquanz der natürlichen Wahrnehmung – sofern sie eine dem Auge des Künstlers entsprechende Verfeinerung erfährt45 – gegen den sezierenden Blick der Kamera in Stellung bringt, lässt sich folglich als Selbstverteidigungsstrategie einer klassischen Kunstauffassung gegen die Konkurrenz seitens der optischen Medien des Industriezeitalters verstehen. Nichtsdestotrotz kann seinen Äußerungen zur fotografischen Wiedergabe der Bewegung allerdings in mancher Hinsicht zugestimmt werden. Denn in der Tat lässt sich die Frage stellen, wo sich in Muybridges Bewegungsstudien eigentlich die Bewegung befindet. Merleau-Ponty etwa hat darauf hingewiesen, dass fotografische Momentansichten die Bewegung keinesfalls wiedergeben, sondern vielmehr »versteinern« würden – »wie es soviele Photographien zeigen, auf denen der Athlet für immer erstarrt ist. Man würde ihn nicht auftauen, indem man die Ansichten vermehrte« (Merleau-Ponty 2003, 309-310). Ganz ähnlich argumentiert auch Deleuze, der mit Verweis auf Bergson verdeutlicht, dass »man noch so sehr zwei Punkte in Raum oder Zeit bis gegen unendlich einander annähern [mag]: die Bewegung wird sich immer in dem Intervall zwischen ihnen ergeben, also hinter unserem Rücken« (BB 13). Muybridges Momentaufnahmen zeigen somit also nicht die Bewegung an sich, mehr noch: Sie können es gar nicht. Was sie vielmehr zeigen, sind die bewegungslosen Haltungen des Körpers, die im Zuge des kontinuierlichen Bewegungsablaufs eingenommen und quasi durchlaufen werden. Die Bewegung selbst aber ist in keiner der Einzelaufnahmen enthalten und findet sich auch nicht in der Gesamtsequenz, sondern muss anhand der unbewegten Einzelansichten nachträglich vom Betrachter rekonstruiert werden. Wie jedoch Bergson argumentiert, ist dieses Verfahren mit einem wesentlichen Problem behaftet: Rekonstruiert man die Bewegung nämlich ausgehend 45 Vgl. Rodin 1979, 32-33: »Ich gebe Ihnen zu, daß der Künstler die Natur ganz anders wahrnimmt, als sie der großen Menge erscheint, weil sein umfassenderes und intensiveres Gefühl ihn von den äußeren Formen zu den inneren Wahrheiten gelangen läßt […]. Der Künstlerberuf ist nun einmal nicht für die Durchschnittsmenschen gemacht, und selbst die besten Ratschläge könnten ihnen kein Talent vermitteln. Der Künstler dagegen ›sieht‹: sein Auge, in engster Verbindung mit seinem Herzen, dringt tief in den Schoß der Natur. Deshalb darf der Künstler nur seinen Augen trauen«.
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von unbewegten Momentschnitten, dann läuft man Gefahr, die zentrale Qualität der Bewegung zu unterschlagen, d.h. die Tatsache, dass es sich bei dieser um einen kontinuierlichen Prozess in einer jeweils konkreten Dauer handelt, um »ein unteilbares Ganzes« also (Bergson 1964, 195). Muybridges Momentfotografie stellt daher das perfekte Beispiel einer Verräumlichung der Zeit dar. Wenn nämlich davon ausgegangen wird, man könne die Gesetze der Bewegung durch die Teilung des Bewegungsablaufs in einzelne Momentansichten erfassen, dann gerät die Tatsache aus dem Blick, dass zwar der Raum teilbar ist, nicht aber die Dauer, in der die Bewegung sich ereignet.46 In Muybridges Verfahren der abstandsgleichen Teilung des Bewegungsablaufs wird die Dauer folglich wie ein zerlegbarer Teil des Raumes gehandhabt, wobei die Momentansichten als »singuläre Punkte« (BB 19) fungieren, während die Bewegung ihre prozessuale Qualität verliert.47 Die Verräumlichung der Zeit korrespondiert demnach mit einer Objektivierung (und somit letztlich Aufhebung) der Bewegung, wodurch der Betrachter zweifelsfrei interessante Ansichten eines scheinbar aus der Zeit gefallenen Körpers und dessen Haltungen gewinnt; wer allerdings annimmt, Muybridges Bewegungsstudien würden die Bewegung an sich erfassen, verfällt laut Bergson einer uralten »Illusion der Bewegtheit« (Bergson 1967, 305), auf die man bereits im Kontext der Zenonischen Paradoxien stößt.48 Versucht man nämlich, die Bewegung aus dem Nacheinander unbewegter »Zustände« zu rekonstruieren, so geht man letztlich nicht anders vor als ein Kind, »das die Hände zusammenschlägt, um Rauchwölkchen einzufangen. Die Bewegung entschlüpft in das Intervall, weil jeder 46 Vgl. Bergson 1964, 197-198: »Wenn die Linie AB die abgelaufene Dauer der von A nach B vollzogenen Bewegung symbolisiert, kann sie, unbeweglich wie sie ist, eben nicht die sich vollziehende Bewegung, die ablaufende Dauer repräsentieren; und daraus, daß diese Linie in Teile zerlegbar ist, und daraus, daß sie in Punkten endigt, darf man nicht schließen, daß die entsprechende Dauer sich aus getrennten Teilen zusammensetze, noch, daß sie durch Augenblicke begrenzt sei«. 47 Wie Deleuze deutlich macht, handelt es sich bei den »singulären Punkten« der Momentfotografie nicht mehr um Posen oder transzendente Formen, sondern um die beliebigen Momente eines Bewegungsablaufs: »Diese Augenblicke haben mit Posen nichts mehr zu tun, ja, sie wären als Posen schlechterdings nicht möglich. Herausgehobene Momente sind sie nur, insofern sie auffallende oder singuläre Punkte einer Bewegung sind, nicht aber Aktualisierungsmomente einer transzendenten Form« (BB 19). Dies ist auch der Grund dafür, dass Deleuze die Momentfotografie zur »Vorgeschichte des Films« zählt (18). 48 Bei den Bewegungsparadoxien des vorsokratischen Philosophen Zenon von Elea handelt es sich um vier verschiedene »Rätsel«, in denen durch eine scheinbar absurde Zuspitzung logischer Argumente bestimmte Grundannahmen über die Bewegung problematisiert werden (vgl. Kirk/Raven/Schofield 2001, 290-308). So argumentiert Zenon etwa, dass es keine wirkliche Bewegung geben könne, da ein Läufer, der eine unendlich teilbare Strecke zurücklegt, dabei auch unendlich viele Punkte passieren müsse. Da es aber nicht möglich sei, unendlich viele Punkte in einer endlichen Zeit zu passieren, könne der Läufer sein Ziel nie erreichen. Bergson zufolge liegt der Grundirrtum Zenons darin, »Zeit und Bewegung mit der Linie, die sie unterspannt, zusammenfallen zu lassen, ihnen dieselbe Unterteilung zuzuschreiben, kurz jene wie diese zu behandeln« (Bergson 1964, 198). Zenons Paradoxien dienen Bergson somit als anschauliches Beispiel seiner These, dass die Zeit im abendländischen Denken seit jeher verräumlicht wird.
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Versuch, Veränderung aus Zuständen zu rekonstruieren, die sinnlose Voraussetzung einschließt, Bewegung bestehe aus Unbewegtheiten« (305). Doch wie ist Muybridges Momentfotografie nun abschließend aus fotografietheoretischer Perspektive (und auch kulturhistorisch) zu bewerten? Sicherlich lässt sich argumentieren, seine Bewegungsstudien veranschaulichten lediglich das grundsätzliche Dilemma der Fotografie, nämlich dass ihr Realismus auf einem Verfahren beruht, durch das die Zeit gewissermaßen »eingefroren« wird. Muybridges Verräumlichung der Zeit wäre dann bloß der adäquate Ausdruck der ontologischen Begrenztheit des fotografischen Bildes insgesamt, denn obwohl die Verkürzung der Belichtungszeit fotografiehistorisch einen wesentlichen Einschnitt bedeutet und eine gänzlich neue Art des Sehens ermöglicht hat, hat sich an der fotografischen »Immobilität« nichts Grundlegendes geändert. Genauer gesagt: Für dasjenige, was auf dem jeweiligen Einzelfoto zu sehen ist, scheint die Zeit nach wie vor aufgehoben zu sein. Mit Blick auf die amerikanische Kultur des 19. Jahrhunderts lässt sich indes argumentieren, dass bei Muybridges Bewegungsstudien noch etwas anderes im Spiel ist. Wenn es nämlich stimmt, dass die Temporalität die »große Obsession« des 19. Jahrhunderts darstellt (Foucault 2005b, 931), dann handelt es sich bei Muybridges Momentfotografie um eine äußerst lehrreiche Art der Auseinandersetzung mit dieser Obsession. Es liegt auf der Hand, dass die fortschreitende Modernisierung und Industrialisierung der USA im Anschluss an den Bürgerkrieg auch zu einer spürbaren »Temporalisierung« der amerikanischen Gesellschaft geführt hat. Insofern Muybridges Momentaufnahmen nun darauf abzielen, die wissenschaftliche Erfassbarkeit von Mobilität – ihre Objektivierbarkeit – nachzuweisen, wird dieser Prozess zugleich als wesentlich kontrollierbar präsentiert. Denn scheinbar kann jede noch so hohe Geschwindigkeit durch Muybridges Verfahren angehalten werden, jede Bewegung lässt sich in ihre Einzelteile zerlegen, um (mithilfe des »Zoopraxiskops«49) anschließend wieder zusammengesetzt zu werden. Es handelt sich hier also fast immer um die Vorstellung einer regelhaften und weitgehend geordneten Bewegung, deren einzelne Phasenbilder auf wundersame Weise stets in dem dafür vorgesehenen Rechteck landen, wo sie vom neugierigen Betrachter sorgfältig studiert werden können.50 Zudem kommt den
49 Bei dem Zoopraxiskop handelt es sich um eine eigens von Muybridge hergestellte Vorrichtung, durch die seine Momentaufnahmen gleichzeitig in Rotation versetzt und in den Raum projiziert werden konnten, so dass der Effekt einer Reanimation der ursprünglichen Bewegung entstand. Aufgrund der Kombination von Bewegungseffekt, Projektionstechnik und Fotografie gilt das Zoopraxiskop gemeinhin als der erste Filmprojektor. So legitim es jedoch ist, Muybridges Rolle in der Genealogie des Films zu betonen, so sehr ist zugleich darauf hinzuweisen, dass sein Hauptanliegen nicht die Produktion von Bewegung, sondern ihre Zergliederung betraf. Dementsprechend war das Zoopraxiskop für Muybridge insbesondere deshalb wichtig, weil es dabei half, den Wahrheitswert seiner Momentfotografie zu veranschaulichen (vgl. Brookman 2010, 89). 50 Etwas aus dem Rahmen fallen hierbei allerdings die »anormalen« Bewegungsabläufe der Körperbehinderten, die im achten Band von Muybridges Animal Locomotion (Muybridge 1887) zu begutachten sind. Doch insofern Muybridges analytisches Verfahren das Anormale lokalisiert (und daher in gewisser Weise zugleich »normalisiert«), wirken auch diese Sequenzen keinesfalls chaotisch oder ziellos. Analog dazu, dass das vermeintlich Ungeordne-
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Bewegungen in Muybridges Sequenzen eine jeweils vorgegebene Richtung zu: Das Rennpferd etwa galoppiert gemäß der Anleitung eines professionellen Trainers auf einer zuvor angelegten Bahn, die sich bereits im Visier der zumeist 24 Kameras befindet. Die Bewegung des Pferdes wird dabei freilich nicht als Singularität begriffen, sondern scheint vielmehr auf ein allgemeines Gesetz zu verweisen, d.h. auf einen quasi universellen Galopp, dessen innere Logik und Gesetzmäßigkeit die Momentaufnahmen zu entschlüsseln versprechen. Muybridges insgesamt 781 Tafeln umfassendes Hauptwerk Animal Locomotion kann somit als ein regelrechter »Atlas der Bewegung« gelten: ein Atlas, der der modernen Obsession mit der Temporalität durchaus gerecht werden konnte und diese zugleich dem dominanten Ordnungssinn des 19. Jahrhunderts entsprechend richtete.51 Nicht die Ereignishaftigkeit von Zeit und Bewegung steht bei Muybridge also im Vordergrund, sondern ihre vermeintliche Messbarkeit, d.h. die Möglichkeit, Zeit und Bewegung beliebig zu zerlegen, sie einem allgemeinen Gesetz zu unterstellen und als adäquates Objekt der wissenschaftlichen Analyse zu behandeln. Es liegt daher nahe, Muybridges Bewegungsstudien im Kontext von Frederick Winslow Taylors Scientific Management zu betrachten, das die Rationalisierung und Steuerung von Arbeitsabläufen zum Ziel hatte, wobei die wissenschaftliche Ermittlung der jeweils »allein richtigen« Bewegungsfolge von wesentlicher Bedeutung war.52 Dies soll freilich nicht heißen, dass Muybridge auch die Absichten des Taylorismus teilte, dem es in erster Linie um Produktivitätssteigerung und Profitmaximierung ging. Dass sich die Bewegungsfotografie jedoch hervorragend im Sinne des Scientific Management nutzen ließ, lässt sich etwa am Beispiel des Taylor-Schülers Frank Bunker Gilbreth aufzeigen, der Taylors legendäre Stoppuhr durch die Fotografie ersetzte, um der angepeilten Optimierung der Arbeitsabläufe eine noch exaktere Bewegungsanalyse zugrunde zu legen.53 Was somit die Affinitäten zwischen Scientific Management und Momentfotografie erklärbar macht, ist die Tatsache, dass beide gemäß einer ähnlichen Logik operieren. Hier wie dort handelt es sich nämlich um eine Logik der Zergliederung und Segmentierung, die im späten 19. Jahrhundert die Transformation des klassisch-humanistischen Weltbildes in ein wesentlich mechaniste hier nur im Rahmen einer Ordnung veranschaulicht wird, scheint auch das Unregelmäßige noch einer allgemeinen Regel zu gehorchen. 51 Zur Rolle von Atlanten bei der Herausbildung eines neuen Typus der wissenschaftlichen Objektivität im späten 19. Jahrhundert, vgl. Daston/Galison 1992. 52 Interessanterweise begann Taylor seine berühmten Arbeitsanalysen mit der Stoppuhr in den 1880er Jahren, d.h. genau zu der Zeit, als die Bewegungsstudien von Muybridge ihre größte Popularität erlangten. Vor allem mit Blick auf Marey sind die Verbindungen zwischen Chronofotografie und Taylorismus bereits näher analysiert worden (vgl. Rabinbach 1992, 84-119, und Braun 1992, 320-348). 53 Anders als Taylor ging es Gilbreth weniger um Geschwindigkeit als um die Reinigung des Arbeitsprozesses von »unnötigen« Bewegungen, zu deren Identifizierung er die Fotografie benötigte. Wie Martha Braun aufgezeigt hat, entsprach seine Methode weitgehend derjenigen von Marey, dessen Einfluss Gilbreth selbst jedoch herunterspielte: »[Gilbreth’s] aim was to find the ›one best way‹ to get work done, and his method, though he never acknowledged it, was Marey’s chronophotographic method of temporal decomposition in space« (Braun 1992, 340).
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tisches anzeigt, das – wie Anson Rabinbach verdeutlicht hat – im Zeichen der Metapher vom »menschlichen Motor« steht (Rabinbach 1992). An der mit dieser Entwicklung einhergehenden »Entmystifizierung« der klassischen Auffassung von der Einheit des Subjekts und der Adäquanz des menschlichen Wahrnehmungsapparates hat Muybridges Momentfotografie einen nicht unwesentlichen Anteil. Das gleiche gilt jedoch auch für die Beförderung jenes anderen »Mythos«, der die mechanistische Erfassbarkeit sämtlicher Phänomene des Universums impliziert, die Zeit analog zum Raum behandelt und das Wohl der Menschheit an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt koppelt. Auf nachhaltige Weise wird diese Vorstellung in der amerikanischen Kulturgeschichte erst wieder im Laufe des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt. Im folgenden Abschnitt soll daher aufgezeigt werden, wie diese neuerliche Entwicklung – besonders in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg – auch die fotografische Darstellung von Bewegung und Zeit erfasst, die nun einen grundlegend anderen Charakter aufweist als noch in der Ära Muybridges und der klassischen Momentfotografie. Exemplarisch sollen diese Veränderungen anhand von drei verschiedenen ästhetischen Strategien aufgezeigt werden, die zugleich mit drei unterschiedlichen fotografischen Temporalitäten korrespondieren. Als erstes wird dabei auf die »Street Photography« von Robert Frank und dessen Buch The Americans eingegangen, das in der Geschichte der amerikanischen Fotografie eine wesentliche Zäsur darstellt; danach werden verschiedene »Re-Photography«-Projekte von Fotografen wie Christopher Rauschenberg, Camilo José Vergara, Mark Klett und Nicholas Nixon untersucht; und abschließend wird Hiroshi Sugimotos Theaters-Serie thematisiert, bei der es sich um eine fotografische Arbeit handelt, die sich aufgrund ihrer zeitphilosophischen Implikationen besonders gut mit Deleuzes prozessualer Ontologie und Repräsentationskritik vereinbaren lässt.
3.4 D IE T EMPORALISIERUNG DES FOTOGRAFISCHEN B ILDES IM 20. J AHRHUNDERT : V ON R OBERT F RANK BIS H IROSHI S UGIMOTO Wenn nun recht unvermittelt vom späten 19. in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gesprungen wird, so soll hierdurch freilich nicht gesagt sein, dass Zeit und Bewegung in der Zwischenzeit für die Fotografie keine Rolle gespielt hätten. Zwar kann durchaus behauptet werden, dass sich die Fotografie wieder verstärkt auf ihre Qualität als Standbild besann, nachdem die Darstellung von Bewegung und Zeit ab 1896 zur vorrangigen Sache des Films geworden war; die Entscheidung, von Muybridge aus in die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg überzugehen und zunächst die »Street Photography« von Robert Frank in den Blick zu nehmen, hat jedoch einen anderen Grund. Wie bereits erwähnt, hatten Muybridges Momentaufnahmen eine Krise der Repräsentation ausgelöst, indem sie die Überlegenheit der »objektiven Kamera« gegenüber dem menschlichen Auge demonstrierten. Was hiermit in Frage stand, war indes nicht bloß eine Darstellungsform (wie etwa die realistische Malerei). In die Krise geriet vielmehr ein ganzes Weltbild, das noch auf die Adäquanz der natürlichen Wahrnehmung vertraute und das »menschliche Maß« zur Richtschnur der Moral und des Lebens machte. Was aber sollte an die Stelle jenes Denkens treten, das nun unweigerlich als veraltet galt? Es lässt sich argumentieren, dass sich – ausge-
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löst durch die neuen Erkenntnisse, die u.a. die Momentfotografie lieferte – alsbald auch die Vorstellung durchsetzte, der Mensch würde seine angeborenen Mängel durch den Fortschritt in Technologie und Wissenschaft zumindest teilweise kompensieren können.54 Dies verweist auf die allgemeine Tendenz, dass die Idee des wissenschaftlichen Fortschritts (die nicht zuletzt auch für die Bewegungsstudien von Muybridge zentral war) im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer zunehmend moralischen Frage geworden war, von der das Wohl der Nation und gar der Menschheit insgesamt abzuhängen schien.55 Insofern jener »Fortschritt« nicht ohne Mobilität und zielgerichtete Entwicklung gedacht werden kann, lässt sich nachvollziehen, weshalb Zeit und Bewegung im Denken des 19. Jahrhunderts ein derart hoher Stellenwert zukommt. Im Kontext dieses wesentlich »szientistischen« Modells manifestieren sich Zeit und Bewegung allerdings in einer spezifischen Form, die zwei aufeinander bezogene Komponenten enthält: nämlich die Messbarkeit der Zeit und die Linearität der Bewegung.56 Freilich war das szientistische Fortschrittsdenken bereits im 19. Jahrhundert keinesfalls unumstritten. Dies lässt sich nicht zuletzt auch am Beispiel der Ideen Taylors und des Scientific Management selbst verdeutlichen, die auf Seiten der Arbeiterschaft einen erheblichen Widerstand erfuhren, der sich nur aufgrund der Aussicht auf höhere Löhne eindämmen ließ.57 Doch erst im Laufe des 20. Jahrhunderts (und angesichts der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der Massenarbeitslosigkeit und der Welt54 Vgl. hierzu die einflussreiche anthropologische Qualifizierung des Menschen als »Mängelwesen«, die auf Arnold Gehlen zurückgeht (siehe Gehlen 1940). 55 In Bezug auf die Ansichten Taylors formuliert Judith Merkle in diesem Sinne: »Much as Saint-Simon before him, Taylor saw science as a moral system taking the place of a dying Christianity in the new industrial order. The machine, with its universally imposed discipline, was the visible symbol of that new moral order« (Merkle 1980, 40). 56 Der Begriff »szientistisch« ist in diesem Zusammenhang nicht auf das wissenschaftliche Denken an sich gemünzt, sondern verweist auf den Glauben, wissenschaftlich-technischer Fortschritt führe automatisch auch zu sozialem Fortschritt und dem Wohl der Menschheit insgesamt. Dem Bild der Wissenschaft in diesem Modell entspricht nicht selten ein Hang zu Naturbeherrschung, Rationalisierung, Objektivierung, Fixierung und Zergliederung. Dieses Bild lässt sich in mancher Hinsicht analog zu Deleuzes und Guattaris Modell der »Königswissenschaft« beschreiben, das in den Tausend Plateaus konzipiert wird. Darüber hinaus thematisieren die Autoren allerdings auch eine »mindere« oder »nomadische« Form der Wissenschaft, die sich vom erstgenannten Modell grundsätzlich unterscheidet und eher mit dem Modell des glatten als dem des gekerbten Raums korrespondiert (vgl. TP 495514). 57 Zur Frage der vergleichsweise hohen Löhne im Taylorismus, vgl. Gramsci 2007, 76-77: »Die Anpassung an die neuen Produktions- und Arbeitsmethoden kann nicht nur durch gesellschaftlichen Zwang erfolgen […]. Wäre die Situation ›normal‹, würde der Zwangsapparat, der nötig ist, um das gewollte Ergebnis zu erzielen, mehr kosten als die hohen Löhne. Der Zwang muss daher klug mit der Überzeugung und dem Konsens kombiniert werden, und dies kann in den der gegebenen Gesellschaft eigenen Formen durch ein höheres Entgelt erreicht werden, das einen bestimmten Lebensstandard erlaubt, der die Möglichkeit bietet, die vom neuen Typus der Erschöpfung verschlissenen Arbeitskräfte zu erhalten und wiederherzustellen«.
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wirtschaftskrise) ist jenes Weltbild in eine wirkliche Legitimationskrise geraten, als deren Kulminationspunkt zweifellos der Zweite Weltkrieg gelten kann. Denn wenn Krieg und Faschismus eines verdeutlicht haben, dann wohl die Tatsache, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt keinesfalls das Heil der Menschheit garantiert, sondern vielmehr auf schlimmste Weise in Komplizenschaft mit den zerstörerischsten Kräften geraten war. So machte die teleologische Konzeption des Fortschrittsgedankens spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einem anderen Denken Platz, das die vermeintliche Zielgerichtetheit des historischen Verlaufs (und den Mythos der zivilisatorischen Kraft von Wissenschaft und Technologie) grundsätzlich in Zweifel zog.58 Die Krise der Repräsentation, die zu Muybridges Zeiten noch im Zeichen von wissenschaftlichem Fortschritt und Objektivität stand, wurde somit von einer neuerlichen Krise eingeholt, in der das szientistische Fortschrittsdenken nun selbst in Frage stand. Wie im Folgenden am Beispiel der »Street Photography« aufgezeigt werden soll, hatte all dies auch einen maßgeblichen Einfluss auf die fotografische Darstellung der Bewegung, die in der neueren amerikanischen Fotografie zunehmend die vorgegebene Richtung und ihren allgemeinen Charakter verlor, d.h. zur »spontanen« oder »abweichenden« Bewegung wurde. Auch wenn der Vergleich etwas hinkt, zeigen sich hier durchaus Parallelen zu Deleuzes Beschreibung des Übergangs vom Kino des Bewegungs-Bildes zum Kino des Zeit-Bildes, wobei ebenfalls der Zweite Weltkrieg als Zäsur fungiert.59 Dass der Vergleich hinkt,
58 Vgl. hierzu Parr 2008, 1-2: »The essence of history framed by a teleological principle of progress […] was quickly suspended post World War Two. For if history has a goal or meaning then it can also be measured in terms of consequences, yet the consequence of the holocaust was that millions were murdered. What could involuntary death on such a large scale as this possibly prove? To even consider that genocide has a truth-value, or that the objective of genocide can be justified by historical progress […] seems crude at best […]. Many people were forced into the realization that all we do is simply live; sometimes directions emerge through the motions of life but no single direction ever fully commands the unpredictable and unfathomable movement that life can take at any given moment«. Laut Fredric Jameson erfuhr das in Misskredit geratene Fortschrittsdenken nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch ein gewisses »Nachleben« im Kontext der Modernisierungstheorie, wobei die Anpassung von Staat und Politik an die Erfordernisse des freien Marktes nun quasi als telos einer neoliberalen Geschichtsphilosophie fungierte (vgl. Jameson 2002, 7-10). 59 Hier ist freilich darauf hinzuweisen, dass Deleuze, wenn er den Zweiten Weltkrieg als historische Zäsur beschreibt, die den Übergang vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild ermöglicht hat, zunächst auf den europäischen Film (und zwar den italienischen Neorealismus) abzielt. Für die USA aber, die 1945 zur unbestrittenen Weltmacht wurden, spielt der Krieg eine ganz andere Rolle als für Europa. Es wäre jedoch zu kurzgegriffen, hier allein die »triumphalistischen« Aspekte zu nennen, die der Weltkrieg für das Selbstverständnis Amerikas zweifellos verkörpert. Zugleich lassen sich in diesem Zusammenhang nämlich auch wesentlich »traumatische« Aspekte nachweisen, die nicht allein die direkte Kriegserfahrung betreffen, sondern mehr noch die generelle Tatsache, dass das Ereignis des Zweiten Weltkriegs – einschließlich der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki – auch deutliche Spuren im Denken hinterlassen hat. Symptomatisch hierfür sind die existenzialistischen Tendenzen, die sich nach dem Krieg z.B. in der amerikanischen Literatur (Mai-
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liegt freilich daran, dass das fotografische Bild aufgrund seines prinzipiell »statischen« Charakters gerade nicht imstande ist, sich als tatsächliches »BewegungsBild« zu manifestieren. Der Vergleich passt aber dann, wenn man der Fotografie zugesteht, Bewegung zumindest im Rahmen ihrer eigenen Immobilität – und nur auf diese Weise – zum Ausdruck zu bringen. Dies bedeutet zwar, dass man in den Fotografien von Muybridge kein sensomotorisches Schema auffinden wird; die Art der Bewegung aber, die in dessen Momentfotografie (auf gänzlich unbewegte Weise) zum Ausdruck gelangt, teilt viele Eigenschaften mit Deleuzes klassischem Bewegungs-Bild, da sie auf ein vorgegebenes Ziel ausgerichtet ist und einen linearen Verlauf aufweist. Dagegen finden sich im fotografischen Werk Robert Franks eine Vielzahl von Bildern, die gewisse Eigenschaften mit Deleuzes Zeit-Bild teilen, da sie (auf wiederum rein immobile Weise) Bewegungen zum Ausdruck bringen, die allzu flüchtig, spontan und ungeordnet erscheinen, als dass man ihnen eine vorgegebene Richtung oder einen linearen Verlauf attestieren könnte. Auch in der Fotografiegeschichte variiert die Art der Darstellung von Bewegung und Zeit demnach vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung, wobei sich in der amerikanischen Fotografie ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein neuer Typ der Bewegungsdarstellung abzeichnet, der einen deutlichen Bruch mit der Ästhetik und Motivation der Momentfotografie markiert. Wenn nun Robert Franks Buch The Americans (Frank 1978) herangezogen wird, um diesen neuen Typus der fotografischen Bewegungsdarstellung zu veranschaulichen, dann geschieht dies auch deshalb, weil der Band einen wesentlichen fotografiehistorischen Einschnitt verkörpert – was sogar manchen Autor dazu bewogen hat, die Fotografie des 20. Jahrhunderts in eine Zeit vor Frank und eine Zeit nach Frank zu unterteilen.60 Doch obwohl The Americans heute als Meilenstein der amerikanischen Fotografie gilt, fiel die Resonanz auf das Buch (für das Frank mithilfe eines Guggenheim-Stipendiums durch mehr als 30 Bundesstaaten gereist war61) zunächst vergleichsweise negativ aus. Was die Kritiker Frank vorwarfen, war besonders seine schonungslose Darstellung des amerikanischen Alltagslebens, die nicht selten als antiamerikanische Propaganda ausgelegt wurde. Zudem ist Franks charakteristischer Stil bemängelt worden, der sich deutlich von den Qualitätsstandards unterscheidet, die in den 1950er Jahren etwa durch Fotoagenturen wie Magnum und Zeitschriften ler, Ellison etc.), dem Film Noir, der Malerei des Abstrakten Expressionismus und sogar im Jazz finden. 60 So hat z.B. Philip Gefter seinem Band zur zeitgenössischen Fotografie den Titel Photography After Frank gegeben (Gefter 2009). Für W.J.T. Mitchell steht Franks Amerikabuch, da es von der klassischen Ikonographie Amerikas lediglich die visuelle Banalität des Nationalen übriglasse, gar für das Ende der amerikanischen Fotografie insgesamt – wobei er allerdings hinzufügt: »That ending was also a beginning for much of American photography after Frank« (Mitchell 2005, 293). 61 Frank wurde 1924 in der Schweiz geboren und emigrierte Ende der 1940er Jahre in die USA. Da er erst 1963 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, gilt er als der erste europäischstämmige Fotograf, dem ein Guggenheim-Stipendium verliehen wurde. Von den ca. 27 000 Fotos, die auf seiner Amerikareise entstanden, wurden letztlich 83 Abzüge für die Endfassung des Buches ausgewählt, das 1958 in Frankreich und ein Jahr später in den USA erschien (vgl. Greenough 2009).
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wie Life definiert wurden. Aufgrund seiner spontan wirkenden, teils grobkörnigen oder unscharfen Schwarzweißfotografien – denen offensichtlich nicht die klassischen Regeln der Bildkomposition zugrunde liegen – galt The Americans als eine Mischung aus Provokation und ästhetischem Dilettantismus. Das Urteil von Arthur Goldsmith in der Zeitschrift Popular Photography kann somit als charakteristisch für die anfängliche Rezeption des Buches gelten: »Frank has managed to express, through the recalcitrant medium of photography, an intense personal vision, and that’s nothing to carp at. But as to the nature of that vision I found its purity too often marred by spite, bitterness, and narrow prejudices just as so many of the prints are flawed by meaningless blur, grain, muddy exposure, drunken horizons, and general sloppiness. As a photographer, Frank shows contempt for any standards of quality or discipline in technique: as a poet he is too ready to lapse into the jargon of propaganda.« (Zit. aus Tucker/ Brookman [Hg.] 2005, 36-37)
Was die zeitgenössischen Kritiker damals empört und irritiert hat, wird heute freilich ganz anders bewertet. Für Hans Belting etwa verweist Franks Vorgehensweise auf eine Zäsur in der »Geschichte des Blicks« (Belting 2001, 227), durch die der klassische Bildbegriff in Frage gestellt und »die Illusion von einer einzigen Wahrheit des Bildes« in sich zusammengebrochen sei: »Die Welt erschien dem Künstler als zu komplex, um sie noch in Bildern zu repräsentieren, welche Allgemeinbegriffe der Realität enthalten« (229).62 Belting verdeutlicht dies am Beispiel der ersten Fotografie aus The Americans, die den Titel »Parade – Hoboken, New Jersey« trägt (Abb. 10). Auf dem Bild ist eine schlichte Hausfassade mit zwei Fenstern zu sehen, aus der jeweils eine Frau nach draußen schaut. Die Mienen der beiden Personen sind allerdings kaum zu erkennen, da sich das Gesicht der Frau im linken Fenster im Schatten einer halb heruntergelassenen Jalousie befindet und das Gesicht der anderen Frau von einer riesigen amerikanischen Flagge verdeckt wird, die diagonal ins Bild weht. Belting zufolge demontiert Franks Aufnahme den »Symbolanspruch der amerikanischen Flagge« (229), da diese dasjenige, was sie repräsentiert, zugleich auch verbirgt. Wie so oft bei Frank fungiert die Flagge hier also nicht als das stolze Symbol eines repräsentierbaren Volkes, dessen »Nationalcharakter« sich durch einfühlsame Bilder offenbaren lässt. Was sie stattdessen verdeutlicht, ist die Tatsache, dass die Repräsentation lediglich »ihre eigene Repräsentativität repräsentiert« (DW 112). Oder anders formuliert: Die Flagge repräsentiert nichts weiter als ihre symbolische Banalität und 62 Wie in Beltings Buch deutlich wird, korrespondiert seine »anthropologische« Sicht auf Franks Arbeiten mit einer explizit subjektivistischen Konzeption des fotografischen Bildes: »Die Welt besitzt keine Bilder von sich, die man ihr nur entreißen müßte. Die Bilder entstehen in einem Blick, der nach einem neuen und persönlichen Einblick sucht. Sie sind die Bilder dessen, der auf die Welt blickt« (Belting 2001, 229). Was Belting indes unberücksichtigt lässt, ist die Tatsache, dass Franks spontane Praxis der Fotografie der Ästhetik der Beat Generation und des Abstrakten Expressionismus gerade in der Hinwendung zum Zufälligen ähnelt, das der Intentionalität des menschlichen Auges in der Regel entgleitet. Nicht von ungefähr arbeitete Frank mit einer handlichen Kleinbildkamera, die er stets – wie Jack Kerouac in seiner Einleitung zu The Americans schreibt – »mit einer Hand« bediente, ohne dabei notwendig durch das Objektiv zu blicken (vgl. Kerouac 1978, 9).
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somit zugleich das Scheitern der Repräsentation selbst, da sie nur mehr als Zeichen für dasjenige fungiert, was sie kaschiert, verdeckt und maskiert. Bei James Guimond heißt es dementsprechend: »The flag has become, visually, a mask« (Guimond 1991, 236). Abb. 10: Robert Frank, Parade – Hoboken, New Jersey (1955)
Diese repräsentationsskeptische Haltung, die im Widerspruch zum epischen Titel des Bandes steht, wird auch deutlich, wenn man The Americans dem anderen großen Fotoereignis der 1950er Jahre gegenüberstellt, nämlich der von Edward Steichen kuratierten Ausstellung The Family of Man.63 Zwar ist Frank in Steichens Ausstellung selbst mit einigen Bildern vertreten gewesen; in konzeptioneller und ästhetischer Hinsicht aber verkörpert sein Buch eine diametral gegenläufige Haltung, d.h. eine prinzipiell andere Möglichkeit der Fotografie nach 1945. Denn während Steichens Ausstellung auf die Zäsur des Zweiten Weltkriegs mit einem sentimentalen Humanismus reagiert, der die Einheit der Völker im Sinne einer universellen Familienähnlichkeit beschwört, verzichtet Frank auf jede Idealisierung seines Gegenstands (was Ian Jeffrey gar dazu bewogen hat, The Americans als »Dystopie« zu qualifizieren64). 63 The Family of Man wurde 1955 für das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) konzipiert und anschließend in vielen Ländern der Welt gezeigt. Seit Anfang der 1990er Jahre kann die Ausstellung im luxemburgischen Clerveaux besichtigt werden, wo sie als Dauerinstallation in einem renovierten Schloss untergebracht ist. Laut Belting stellt The Family of Man das »letzte Wort einer objektiven Photographie« dar, die sich am »Ideal einer wahrheitsgetreuen Bildreportage« orientiert (Belting 2001, 228). Vgl. außerdem Back/ Schmidt-Linsenhoff [Hg.] 2004. 64 Vgl. Jeffrey 2005, 63: »Mehr als alles andere […] muss man The Americans als Dystopie verstehen, eine düstere Alternative zum Wunschdenken des Zeitalters. Robert Frank mag ein Fotograf sein, aber The Americans gehört zum Genre der Dystopie, wie es sich nach dem Krieg von 1939-1945 entwickelt hatte«.
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The Family of Man hingegen aktualisiert laut Roland Barthes einen Mythos von der menschlichen Natur, insofern die Ausstellung zunächst die Verschiedenheit der diversen »Morphologien«, »Schädelformen«, »Hautfarben« und »Gebräuche« hervorhebt, man letztlich aber »auf magische Weise« wieder zu einer Einheit gelangt: »[D]er Mensch wird geboren, arbeitet, lacht und stirbt überall auf die gleiche Weise, und wenn in diesen Akten noch irgend eine ethnische Besonderheit steckt, so gibt man zumindest zu verstehen, daß hinter ihnen eine identische ›Natur‹ liege und daß die Verschiedenartigkeit nur formalen Charakters sei und der Existenz einer gemeinsamen Materie nicht widerspreche.« (Barthes 1964, 16)65
Abb. 11: Robert Frank, Trolley – New Orleans (1955)
Eben diese Absicht zur Vereinigung und Angleichung fehlt in The Americans völlig. Stattdessen unterstreicht Frank gerade jene Formen von Separation und Trennung – z.B. zwischen Schwarzen und Weißen, Armen und Reichen –, denen er in den USA der 1950er Jahre begegnet ist. Exemplarisch lässt sich dies anhand des Bildes »Trolley – New Orleans« verdeutlichen, das mehrere aus einem Straßenbahnwagen blickende Menschen zeigt (Abb. 11). Wie bei »Parade – Hoboken, New Jersey« wird die Isolation der abgebildeten Personen hier erneut durch die rechteckige Struktur der Fenster hervorgehoben, die der Getrenntheit der Einzelperson von ihren Mitmenschen einen visuellen Ausdruck verleiht. Dabei werden zugleich die Segmentierungslinien identifiziert, die den Mechanismen der gesellschaftlichen Trennung in den 1950er Jahren zugrunde lagen (hier besonders Hautfarbe, Klassenzugehörigkeit, Ge65 Barthes zufolge wird mit der Proklamation einer gemeinsamen Menschennatur zugleich deren Unveränderbarkeit suggeriert: »Ich befürchte deshalb, daß die Rechtfertigung dieses ganzen Adamismus darauf hinausläuft, für die Unveränderbarkeit der Welt die Bürgschaft einer ›Weisheit‹ und einer ›Lyrik‹ zu liefern, durch die die Gebärden des Menschen nur verewigt werden, um sie leichter zu entschärfen« (Barthes 1964, 19).
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schlecht und Alter), wobei die Weißen charakteristischerweise vorne sitzen und die Schwarzen hinten. Sarah Greenough schreibt hierzu: »With its rigid hierarchical shift from male to female and white to black, its cyclical progression of age from old to young to old again, and its poignant display of profound but pent-up emotion, ranging from disgust to uncertainty, despair, and resignation, the photograph eloquently captures the isolation, anxiety, and tension Frank had experienced in […] American society.« (Greenough 2009, 126-127)
Deutlich anders also als im Falle von The Family of Man, wo die globale Eintracht der »Menschheitsfamilie« auf der Grundlage einer formalen Verschiedenartigkeit wesentlich homogener Volksgruppen basiert, existiert in The Americans gar kein repräsentierbares nationales Subjekt mehr, das nicht zugleich auf dieser oder jener Seite einer sozialen Segmentierungslinie stünde. Eine weitere Differenz zwischen The Family of Man und The Americans zeigt sich anhand der Art und Weise, wie Steichen und Frank ihre Bilder jeweils angeordnet haben. Dass Steichen hier einem weitgehend teleologischen Schema folgt, lässt sich auch anhand der Struktur des Ausstellungskatalogs verdeutlichen, dessen Anfang und Ende durch eine weitgehend konventionelle Narration verknüpft wird. So beginnt der Katalog mit einer Reihe von Bildern der Geburt und des Anfangs, woraufhin Fotoserien des Familienlebens, der Arbeit, des Spiels und der Freizeit folgen. Gegen Ende des Bandes mehren sich dann Bilder der Zerstörung und des Todes, wobei auch problematische Themen wie Armut und Krieg nicht ausgespart werden. 66 Der Band endet jedoch wesentlich optimistisch, indem zuletzt noch einmal Bilder eines neuen Anfangs dominieren, der gleichermaßen politisch wie »naturalistisch« fundiert wird. Dies geschieht einerseits, indem das demokratische Regierungsmodell – verkörpert durch ein Zitat aus der Charta der Vereinten Nationen und Bilder von Menschen, die ihre Stimmzettel in eine Wahlurne befördern67 – als passende Antwort auf jene Krise fungiert, die die »Menschheitsfamilie« im Laufe des 20. Jahrhunderts durchgestanden hat; und andererseits, indem das Buch mit einer Serie von Bildern meist spielender Kinder endet, auf die ein Zitat von Saint-John Perse folgt: »A world to be born under your footsteps…« (Museum of Modern Art [Hg.] 2008, 192). Dieses Zitat wird symbolisch durch eine Fotografie von W. Eugene Smith illustriert, auf dem zwei Kinder – nicht zufällig ein Junge und ein Mädchen – aus einem dunklen
66 Gleichwohl haben eine Reihe von Autoren betont, dass es in Steichens Ausstellung zu einer systematischen »Entschärfung« und Marginalisierung der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts kommt – und zwar vor allem bezüglich der Repräsentation des Holocausts und der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (vgl. Schmidt-Linsenhoff 2004 und Solomon-Godeau 2004). Zudem ist es bezeichnend, dass die einzigen Bilder, die Armut in den USA thematisieren, diejenigen der FSA-Fotografen aus den 1930er Jahren sind. Hierzu erklärt Abigail Solomon-Godeau: »This representational ›past-ness‹ of American poverty is thus another form of travesti, repressing its well documented existence in the historical present« (Solomon-Godeau 2004, 45). 67 In diesem Kontext mag freilich irritieren, dass eines der Bilder, die den Akt des Wählens zeigen, aus dem kommunistischen China stammt (vgl. dazu Solomon-Godeau 2004, 37).
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Wald hervortreten und sich einer Lichtung nähern, die unschwer als Metapher für den Wunsch nach einer »helleren« Zukunft der Menschheit zu deuten ist (Abb. 12). Abb. 12: W. Eugene Smith, Foto aus der Family of Man-Ausstellung (1955)
Die temporale Struktur von The Family of Man entpuppt sich somit als gleichermaßen zirkulär wie linear, wobei die zirkuläre Abfolge der jeweiligen Lebensstadien (von der Geburt zum Tod zu einem neuen Anfang...) den von Barthes diagnostizierten »Naturalismus« unterstreicht, während die linear operierende Bildnarration zielgerichtet auf das demokratische Modell amerikanischer Prägung hinausläuft.68 In dieser Hinsicht ähnelt Steichens Ausstellungskonzept der Form jener sentimentalen Fotoessays, die im gleichen Zeitraum in Magazinen wie Life oder Look zu finden waren und über die Frank sich folgendermaßen geäußert hat: »That was another thing I hated. Those goddamned [Life] stories with a beginning and an end« (zit. aus Guimond 1991, 219). Dementsprechend verwundert es auch nicht, dass die Bildfolge in The Americans auf eine völlig andere Weise strukturiert ist. Hier folgen die Bilder nämlich weder chronologisch aufeinander, noch besteht eine geographische Kontinuität zwischen den abgebildeten Orten. Zudem lässt sich kein klar definiertes »Ziel« identifizieren, dass die Anordnung der einzelnen Bilder erklären würde. Zwar hatte Frank anfangs überlegt, das Buch in vier Kapitel zu unterteilen, wodurch es eine konventio68 Diese nationale Komponente wird nicht zuletzt auch daran ersichtlich, dass – analog zur neuen Weltmachtrolle der USA nach dem Zweiten Weltkrieg – die allermeisten Bilder der Ausstellung von amerikanischen Fotografen oder Fotoagenturen stammen. In neueren Arbeiten zu The Family of Man wird neben diesen national-triumphalistischen Aspekten allerdings zunehmend auch die Frage des Traumas und der Traumabewältigung behandelt (vgl. Solomon-Godeau 2004, Mélon 2004 und Schmidt-Linsenhoff 2004).
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nellere Gliederung erhalten hätte, die thematisch leichter nachzuvollziehen gewesen wäre (vgl. Greenough 2009, 133); in der Endfassung des Buches wurde dieser Plan jedoch aufgegeben, so dass die Bildsequenz zunächst recht ungeordnet wirkt. Was die Bilder indes zusammenhält, sind die permanent wiederkehrenden Motive – die verstreuten amerikanischen Flaggen, Kreuze, Autos, Diners, Jukeboxes usw. –, denen der Betrachter in unregelmäßigen Abständen begegnet und die ihn dazu nötigen, zwischen den Bildern Beziehungen herzustellen.69 Mit Deleuze lässt sich dementsprechend formulieren, dass The Americans kein lineares telos aufweist, sondern aus differentiellen Wiederholungselementen besteht, durch die die Einheit des Buches hergestellt wird. Die visuelle Grammatik von Franks »traurigem Gedicht« (wie es in Kerouacs Einleitung heißt70) resultiert somit »aus der Verbindung disparater Elemente oder heterogener Serien« (LS 319), die sich zwar geographisch und zeitlich datieren lassen, dabei aber weder einer linearen Sequenz noch einem ideellen Ziel verpflichtet sind. Die ästhetischen Neuerungen, die The Americans aufweist und die sich innerhalb der amerikanischen Fotografie letztlich weitgehend etablieren konnten, verweisen auf eine neue Art des »Avantgardismus« in der Nachkriegsära, an dem Künstlerinnen und Künstler aus ganz unterschiedlichen Bereichen Anteil hatten. So lässt sich Frank etwa mit den Autoren der Beat Generation, den Malern des Abstrakten Expressionismus, Filmemachern wie John Cassavetes und Jazzmusikern wie Charlie Parker oder Dizzy Gillespie assoziieren und einer »Culture of Spontaneity« zurechnen, die Daniel Belgrad zufolge sowohl gegen die organisierte »Massenkultur« als auch gegen das kulturelle Establishment opponierte.71 Der alternativen Ästhetik, die von die69 Hier sei beispielsweise auf die drei aufeinanderfolgenden Bilder verwiesen, auf denen das Kreuzmotiv in einem jeweils anderen Kontext auftaucht (vgl. Frank 1978, 104-109). Wie Sarah Greenough verdeutlicht, kommunizieren Franks Bilder oftmals jedoch auf weniger direkte Weise miteinander, so dass dem Betrachter eine wesentlich aktive Rolle bei der Rezeption des Buches zukommt: »[In Frank’s] book on America, meaning would be garnered through a deliberate progression of images that did not rely on obvious side-by-side-comparisons but instead engaged readers in a much more active manner, asking them to recall what they had seen on previous pages and reflect on their relationship to what they currently saw« (Greenough 2009, 134). 70 Vgl. Kerouac 1978, 9: »Robert Frank, Swiss, unobtrusive, nice, with that little camera that he raises and snaps with one hand he sucked a sad poem right out of America onto film, taking rank among the tragic poets of the world«. Zu den Verbindungen zwischen Frank und den Autoren der Beat Generation, vgl. Guimond 2005 und Sante 2009. 71 Vgl. Belgrad 1998, 1: »The cultural stance embodied in the art of spontaneity – and communicated through it – constituted a distinct third alternative, opposed to both the mass culture and the established high culture of the postwar period«. Belgrads Buch bezieht sich insbesondere auf die Zeit von 1940 bis 1960 und behandelt den Abstrakten Expressionismus, Jazz, die Beat Generation, Tanz und Keramik. Auffällig ist, dass die Bereiche Fotografie und Film (die Belgrad als nicht »authentisch« genug empfunden haben mag) komplett ausgespart werden. Dabei finden sich Elemente einer spontanen Ästhetik nicht nur bei Frank und anderen Vertretern der »Street Photography«, sondern auch im amerikanischen Film, so etwa im Direct Cinema oder im Werk von Cassavetes (vgl. Carney 1994). Durch am »Method Acting« geschulte Schauspieler wie Marlon Brando oder James Dean erreich-
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sen verschiedenen Bewegungen verkörpert wurde, war dabei das Streben nach einer möglichst »unmittelbaren« Form des künstlerischen Ausdrucks gemeinsam, was mit einer Hinwendung zum Zufälligen, Spontanen und Unbewussten einherging.72 Wie Belgrad deutlich macht, meint »Spontanität« in diesem Kontext allerdings nicht nur eine künstlerische Methode, sondern zugleich auch eine alternative Denk- und Lebensmöglichkeit: »In the 1940s and 1950s, spontaneity had social meaning, both for the artists who used it and for the culture at large […]. Most broadly, spontaneity implied an alternative to the vaunted rational progress of Western civilization, which had succeeded in developing technologies and principles of organization that threatened human life and freedom on an unprecedented scale. In the specific historical context of wartime and postwar America, spontaneity did battle against the culture of corporate liberalism, which was the most recent and local manifestation of these principles.« (Belgrad 1998, 15)
Für viele Künstler der Nachkriegsjahre stellte Spontanität somit eine grundsätzliche Alternative dar, die sich gegen genau jenen rationalistischen Szientismus richtete, mit dem u.a. auch Muybridges Momentfotografie assoziiert war. Doch was genau heißt Spontanität in dieser Hinsicht, vor allem in Bezug auf die Fotografie? Freilich kann hiermit keine Nachlässigkeit gegenüber den konzeptuellen Aspekten der fotografischen Praxis gemeint sein, die Frank, ganz im Gegenteil, äußerst wichtig waren. So zeigt sich schon allein daran, dass für The Americans letztlich bloß 83 Bilder aus einer Gesamtzahl von annähernd 30 000 ausgewählt wurden, wie genau Frank bei der Zusammenstellung seines Buches vorgegangen ist. Von Spontanität sollte daher nur auf der Basis eines ästhetischen »Stils« und einer Methode gesprochen werden, die es ihm ermöglichte, Elemente des Zufälligen und Flüchtigen in seine fotografische Arbeit zu integrieren. Wie Henri Cartier-Bresson hat Frank dabei von einer Kleinbildkamera Gebrauch gemacht, mit der er sich seinen potentiellen Motiven relativ unbemerkt nähern konnte. Anders als bei Cartier-Bresson findet sich in The Americans jedoch kaum irgendwo ein »entscheidender Augenblick« (Cartier-Bresson 2010), der das Gewöhnliche poetisch transzendieren oder das Bild auf eine höhere, d.h. symbolisch-metaphorische Ebene befördern würde. Dies meint genauer, dass sich Franks Ikonographie in der Regel durch einen wesentlich »flachen«, horizontalen Charakter auszeichnet und ohne »herausgehobene Momente« (BB 19) im klassischen Sinne auskommt. Was auch immer sich in seinen Bildern an Besonderem, Wahrhaftigem oder Irritierendem finden mag, muss folglich stets inmitten einer weitgehend banalen
ten Spontanität und Improvisation in den 1950er Jahren zudem auch den Mainstreamfilm (vgl. Hirsch 2002 und Strasberg 1988). 72 Die »Unmittelbarkeit« spontaner Kunst sollte freilich nicht als authentischer Ausdruck von Subjektivität verstanden werden, sondern als Teilelement einer künstlerischen Methode. Der Ästhetik der Spontanität geht es in diesem Sinne um die Einbeziehung des Körpers und der Kontingenz in den künstlerischen Produktionsprozess. Beispiele hierfür sind der »gestische« Charakter von Jackson Pollocks Action Paintings oder die Ausrichtung der Syntax in der Literatur der Beat Generation am Rhythmus der Atmung (vgl. Rosenberg 1982, 23-39, Belgrad 1998, 103-119 und 196-221 sowie Hrebeniak 2006).
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Alltagsrealität entdeckt werden und kann dieser – anders als im Falle von CartierBresson – niemals vollständig entzogen werden.73 Auch wenn sich Franks Fotografie in dieser Hinsicht deutlich von derjenigen Cartier-Bressons unterscheidet, stehen beide Ansätze dennoch gleichermaßen für eine neue Form der fotografischen Bewegungsdarstellung, die ganz wesentlich durch die Entwicklung der Leica-Kleinbildkamera ermöglicht wurde. Die Neuartigkeit dieser Darstellungsweise wird besonders gut sichtbar, wenn man Bilder aus dem Kontext der »Street Photography« mit Fotografien aus den Anfangstagen des Mediums vergleicht. So ist die Anwesenheit der Kamera in der frühen Fotografie – besonders wenn es sich um Bilder von Menschen handelt – in der Regel deutlich spürbar. Die Kamera stellt hier den zentralen Fluchtpunkt dar, d.h. denjenigen Punkt, der die visuelle Ordnung des Bildes konstituiert und auf den die Gesichter der abgebildeten Personen gerichtet sind. Mit Michael Fried lässt sich in diesem Kontext von einer wesentlich »theatralen« Form der Bildkomposition sprechen, bei der sich die fotografierten Personen in einer Art Bühnensituation befinden und dementsprechend ihr Verhalten, ihre Gesten und Gebärden »zur Aufführung« bringen.74 Mit der Entwicklung von tragbaren Kleinbildkameras, die sich wesentlich einfacher handhaben ließen und nicht auf lange Belichtungszeiten angewiesen waren, ergab sich jedoch die Möglichkeit, Menschen auch ohne deren Wissen zu fotografieren, so dass nun ein quasi »antitheatralischer« Gestus ins Bild treten konnte, der die Ästhetik der »Street Photography« wesentlich prägen sollte. Dieser Gestus kommt etwa in den berühmten »Subway Portraits« zum Ausdruck, die Walker Evans in den 1930er und 1940er Jahren mithilfe einer versteckten Kamera in der New Yorker U-Bahn gemacht hat (vgl. Evans 1966). Für The Americans geht Frank (der von Evans nicht unwesentlich beeinflusst war) in mancher Hinsicht ähnlich vor. So nehmen die Menschen auf vielen seiner Fotos offenbar keinerlei Notiz von ihm; auf anderen – deutlich zu sehen etwa auf dem Bild »Candy Store – New York City« (Abb. 13) – scheinen sie derart überrascht von dem plötzlichen Auftauchen der Kamera zu sein, dass es ihnen nicht mehr gelingt, eine (theatrale) Pose einzunehmen.75 Wenn die Art der Bewegungsdarstellung in The Americans folglich als antitheatralisch bezeichnet werden kann, so verweist dies u.a. auch auf eine deutliche Differenz zu Muybridge. Denn obwohl man es 73 Passend zu dieser Differenz hat Cartier-Bresson den »entscheidenden Augenblick« zu genau jenem Moment erklärt, »in dem sich alle Elemente in Harmonie befinden. Diesen Moment muß die Photographie erfassen und seine Balance für immer festhalten« (CartierBresson 2010, 203). In diesem Punkt könnten die Ansichten von Frank und Cartier-Bresson freilich kaum unterschiedlicher sein. 74 Wie an anderer Stelle bereits erläutert wurde, bildet die Unterscheidung zwischen »Theatralität« und »Absorption« den Schwerpunkt in Frieds kunsthistorischen Arbeiten über die französische Malerei des 18. Jahrhunderts (vgl. Fried 1980). Für das Thema des vorliegenden Kapitels hat sich indes vor allem Frieds aktuelleres Buch über die Fotografie als nützlich erwiesen (vgl. Fried 2008). 75 In Bezug auf Garry Winogrand macht Fried eine ganz ähnliche Beobachtung: »Winogrand did not hesitate to photograph persons who could not but have noticed him, if only because he stood directly in their paths and shot at fairly close range. Yet he seems to have done this so quickly and unobtrusively as to forestall all sense of posing on the part of his subjects« (Fried 2008, 239).
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Abb. 13: Robert Frank, Candy Store – New York City (1955)
bei dessen Bewegungsstudien keinesfalls mit gestellten Posen oder Posituren zu tun hat, sondern mit den »singulären Punkten« einer kontinuierlichen Bewegung, die in »beliebige Momente« zerteilt wird (vgl. BB 19), weist die Art seiner chronofotografischen Inszenierung auch durchaus theatrale Züge auf.76 So fungiert die durch weiße Kreidemarkierungen präparierte und von Kameras umstellte Bahn quasi als »Bühne«, auf der sich der jeweilige Akteur auf ein vorher definiertes Ziel zubewegt. Dies gilt freilich besonders für die Aufnahmen von menschlichen Bewegungen: eine Treppe hinabsteigen, einen Wassereimer ausschütten, einen Bocksprung machen usw. Jede dieser Bewegungssequenzen mag dem Betrachter etwas offenbaren, das dem Auge zuvor entglitten war. Zugleich aber sind sämtliche dieser Sequenzen linear auf ein vorher festgelegtes Ziel ausgerichtet und folgen somit in prozessualer Hinsicht einem weitgehend vorhersehbaren Schema. Bei den Bewegungen, auf die man in Franks Bildern stößt, ist dies normalerweise nicht der Fall, da hier keinerlei »Maß« der Bewegung existiert. Anders als Muybridge greift Frank in der Regel auch nicht in die von ihm fotografierten Situationen ein, was freilich nicht heißen soll, dass seine Bilder deshalb »authentischer« wären. Denn ebenso wie jeder andere Fotograf wählt auch Frank sein jeweiliges Motiv zunächst auf der Grundlage bestimmter ästhetischer Kriterien aus. Hinzu kommt, dass es sich bei den schließlich veröffentlichten Bildern stets nur um einen Bruchteil der tatsächlichen Aufnahmen handelt, was in besonderem Maße für The Americans gilt. Dennoch lässt sich selbst anhand eines offenbar inszenierten Fotos wie »Cape Cod« (Abb. 14) argumentieren, dass es Frank letztlich immer darum geht, den Eindruck ei76 Der kategorischen Unterscheidung zwischen Momentaufnahme und inszenierter Fotografie, die laut Deleuze »zu einer anderen Linie« gehört (BB 18), kann insofern durchaus widersprochen werden. Zwar hat Deleuze recht, dass Muybridge keinesfalls die Bewegung an sich »theatralisiert«. Die Theatralität seiner Momentfotografie resultiert jedoch aus der Inszenierung der Bedingungen, unter denen die Bewegung sich jeweils ereignet.
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Abb. 14: Robert Frank, Cape Cod (1962)
ner gewissen Zufälligkeit, Spontanität und Unkontrollierbarkeit der Bewegung festzuhalten. Obwohl dieses Bild nämlich aus einer Reihe von sorgfältig ausgewählten Elementen besteht – der Flagge, der Zeitung usw. –, die Frank seinen Kindern vermutlich gezielt für die Aufnahme an die Hand gegeben hat, verliert die Bewegung selbst keinesfalls ihren zufällig-spontanen Charakter, der von der augenscheinlichen Inszenierung nur unwesentlich beeinträchtigt wird.77 Mit Verweis auf Deleuze lässt sich der in dem Bild zur Darstellung gebrachte Bewegungstypus daher auch als »abweichende Bewegung« (ZB 55) charakterisieren, d.h. als Bewegung, die sich ohne ursprüngliche Zentrierung oder linearen Verlauf manifestiert. Aus zeit- und bewegungstheoretischer Perspektive kann die »Street Photography« im Stile Robert Franks somit abschließend wie folgt qualifiziert werden: Betrachtet man dessen fotografisches Werk in rein ontologischer Hinsicht, so weist es scheinbar weiterhin all jene Bedingungen der fotografischen Indexikalität auf, die bereits für Muybridge und die Momentfotografie galten. Der Kontext und das Motiv der Bewegungsdarstellung aber haben sich geradezu umgekehrt, was sich gut anhand des Fotos »Elevator – Miami Beach« veranschaulichen lässt (Abb. 16). Denn insofern die beiden in Bewegung erfassten und folglich nur unscharf erkennbaren Personen hier buchstäblich aus dem Bild – und damit aus der Sichtbarkeit an sich – zu fliehen 77 Dieser Vorgang lässt sich gut am Beispiel von Jeff Walls Arbeit »Milk« (1984) demonstrieren (Abb. 15). Wie bei den meisten seiner Fotografien hat Wall auch für dieses Bild einen Darsteller engagiert, der sich der Tatsache, dass er fotografiert wird, vollkommen bewusst ist. Der offensichtlichen Inszenierung des Bildes aber steht das unkontrollierte Verspritzen der Milch gegenüber, das sich im Detail nicht steuern lässt (vgl. Wall 2009). Wie viele andere Arbeiten Walls verdeutlicht somit auch »Milk«, dass eine Ästhetik der Inszenierung die künstlerische Integration des Zufälligen nicht zwangsläufig ausschließt.
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scheinen, wird deutlich, dass es (konträr zur Momentfotografie) nun nicht mehr um die Objektivierung der Bewegung und ihre vermeintlichen »Gesetze« geht. Stattdessen wird der Betrachter auf die spontane Flüchtigkeit und Kontinuität der Bewegung verwiesen, so dass diese zugleich einen Teil ihres von Rechts wegen unrepräsentierbaren Charakters zurückerhält. Abb. 15: Jeff Wall, Milk (1984)
Abb. 16: Robert Frank, Elevator – Miami Beach (1955)
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Wenn nun im Folgenden eine zweite – und wesentlich andere – Strategie der fotografischen Temporalisierung thematisiert werden soll, dann liegt es nahe, zunächst auf den schrittweisen Bedeutungsverlust der »Street Photography« in den späten 1960er und 1970er Jahren hinzuweisen. Obwohl Frank sich schon Anfang der 1960er Jahre weitgehend von der fotografischen Arbeit verabschiedet hatte, war sein Werk und die »Street Photography« insgesamt zu diesem Zeitpunkt noch in aller Munde. The Americans galt vielen jetzt als visionäres Meisterwerk, während andere »spontane« Fotografen (wie etwa Lee Friedlander oder Garry Winogrand) ihren Durchbruch erlebten. Spätestens in den 1970er Jahren änderte sich der Kontext der amerikanischen Fotografie jedoch spürbar. So waren viele Vertreter der »Street Photography« in eine kreative Sackgasse geraten und die neue Generation von Fotografinnen und Fotografen war nicht mehr in erster Linie von der Expressivität des Action Painting oder der Spontanität des Jazz beeinflusst, sondern von künstlerischen Strömungen wie dem Minimalismus, der Pop Art oder der Konzeptkunst.78 Im Zuge dieser Entwicklung kam es zu einer wesentlichen Umwertung ästhetischer Werte, die u.a. darin resultierte, dass vormals wenig hinterfragte Begriffe wie »Ausdruckskraft«, »Virtuosität«, »Authentizität« oder »Originalität« nun problematisiert und – mitsamt dem Kunstbegriff im Allgemeinen – einer grundlegenden Revision unterzogen wurden. Gegenstand dieser Kritik war nicht zuletzt auch die »Culture of Spontaneity«, deren künstlerische Praxis für viele Vertreter der Konzeptkunst oder der Pop Art noch allzu sehr auf dem klassisch-modernistischen Ideal von expressiver Virtuosität basierte und daher als Ausdruck eines subjektivistischen Kunstbegriffs galt. Wie sehr sich die der Konzeptkunst nahestehenden Künstler vom expressiven Gestus distanzierten, lässt sich gut anhand der Fotobücher Ed Ruschas aus den 1960er Jahren aufzeigen. Zu seinem Buch Various Small Fires and Milk (1964) bemerkte Ruscha etwa: »My pictures are not that interesting, nor the subject matter. They are simply a collection of ›facts‹; my book is more like a collection of ›readymades‹« (zit. aus Wolf 2004, 122). In dem Band findet sich dementsprechend auch genau das, was der Titel bereits ankündigt: eine Reihe von schlichten Fotos »kleiner Feuer« (z.B. von einer brennenden Zigarette, einem Gasherd oder einem Feuerzeug [Abb. 17]) sowie eine einzelne Aufnahme von einem Glas Milch.79 Was das Buch somit verdeutlicht, ist die Tatsache,
78 Zum Niedergang der »Street Photography« in den 1970er Jahren schreibt Russell Ferguson mit Blick auf Garry Winogrand: »[T]owards the end of his life, after he moved to Los Angeles in 1978, he shot incessantly, usually without even looking at the results. It is hard not to read some metaphorical parallels between his decline into obsessive, repetitive shooting and a broad decline in the vitality of the genre overall. It was beginning to seem more and more difficult to make pictures that were not pictures that everybody knew already, especially when direct engagement with the depicted had become so devalued« (Ferguson 2001, 14). Wie Michael Fried betont, ist es seit den 1980er Jahren jedoch zu einer gewissen Revitalisierung der »Street Photography« gekommen. In diesem Zusammenhang sind etwa die Arbeiten von Jeff Wall, Beat Streuli oder Philip-Lorca diCorcia zu nennen, die das Genre auf signifikante Weise verändert haben (vgl. Fried 2008, 235-259). 79 Jeff Wall zufolge stellen Ruschas Fotobücher eines »der reinsten und exemplarischsten Beispiele« für die konzeptkünstlerische Strategie einer »amateuristischen Mimesis« dar: »Es war eine neue Erfahrung, die allen anerkannten Vorstellungen und Normen der Kunst
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Abb. 17: Ed Ruscha, Fotografie aus Various Small Fires and Milk (1964)
dass die ästhetische Qualität des Einzelbildes im Kontext der Konzeptfotografie eine allenfalls noch marginale Rolle spielt. »In conceptual art«, schreibt Sol LeWitt, »the idea or concept is the most important aspect of the work. When an artist uses a conceptual form of art, it means that all of the planning and decisions are made beforehand and the execution is a perfunctory affair. The idea becomes a machine that makes the art. This kind of art is […] involved with all types of mental processes and it is purposeless. It is usually free from the dependence on the skill of the artist as a craftsman.« (LeWitt 1967, 80)
Diese Tendenz, den »subjektiven« Anteil des künstlerischen Produktionsprozesses so weit als möglich zu minimieren und das Kunstwerk dem jeweiligen Konzept nachzuordnen, das diesem zugrunde liegt, findet sich beispielsweise auch im Frühwerk Stephen Shores. So basiert etwa dessen Serie July 22-23, 1969, für die er seinen Freund Michael Marsh in jeweils halbstündigen Abständen fotografierte, auf einer wesentlich konzeptuellen Methode. Auf den Bildern sieht man Marsh z.B. unter der Bettdecke, am Steuer, auf der Couch oder in einem Diner (vgl. Shore 2007, 50-51), kurz: in jeweils exakt datierten Momenten eines gewöhnlichen Tagesablaufs, denen keineszuwiderlief, und es war eine der letzten Gesten, die einen avantgardistischen Schockeffekt hervorrufen konnte« (Wall 2008, 428). Weiter heißt es: »Im Photokonzeptualismus postuliert die Photographie, daß sie die Kriterien der Kunstphotographie hinter sich lassen kann, indem der Künstler sich als ein Nicht-Künstler verhält, der, obwohl Nicht-Künstler, sich dennoch gedrängt fühlt, Bilder zu machen. Diese Photographien […] sind ›langweilig‹ und ›nichtssagend‹. Aber nur dadurch konnten sie den intellektuellen Auftrag des Reduktionismus erfüllen, der den Kern des Projekts der Konzeptkunst bildet. Die Reduktion der Kunst auf ein intellektuelles Konzept ihrer selbst war ein Ziel, das jeden Begriff der sinnlichen Erfahrung von Kunst in Frage stellt« (431-432). Zum Verhältnis von Conceptual Art und Fotografie, vgl. außerdem Costello/Iversen (Hg.) 2010 sowie Godfrey 2008, 299-342.
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wegs mehr der Charakter eines »entscheidenden Augenblicks« im Sinne von CartierBresson zukommt. Diese Verschiebung vom besonderen zum datierten Moment, die für die generelle Transformation des Kunstbegriffs in den 1960er und 1970er Jahren charakteristisch ist, hat Shore rückblickend wie folgt kommentiert: »I didn’t want to wait for a good moment to take a photograph around that time. I wanted to do it at exactly that time« (Shore 2007, 48).80 Mit jenem Streben nach »exakter Datierbarkeit« kommt im Kontext der Conceptual Art und der mit ihr assoziierten künstlerischen Strömungen in den späten 1960er und 1970er Jahren eine neue Art der fotografischen Temporalität ins Spiel. Das zentrale Thema war nun nicht mehr die Flüchtigkeit und Spontanität der Bewegung, sondern die verflossene Dauer, die zwischen zwei genau datierten Momenten liegt. Dies ist der Ausgangspunkt der sogenannten »Rephotography«, die im Folgenden als zweite Strategie der fotografischen Temporalisierung im 20. Jahrhundert thematisiert werden soll. In gewissem Sinne handelt es sich bereits bei der Momentfotografie um eine Art von »Rephotography«, da der bewegte Körper hier in mehreren aufeinanderfolgenden Momenten abgelichtet wird, die häufig auch genau datiert werden. Während die Momentfotografie aber denselben Körper an unterschiedlichen Punkten im Raum erfasst und in zeitlicher Hinsicht eine möglichst dichte Abfolge der Einzelbilder impliziert, ist der Kontext der im Folgenden diskutierten »Rephotography«-Projekte ein vollkommen anderer. Hier nämlich befindet sich zwischen zwei Momentaufnahmen oftmals ein zeitlicher Abstand vieler Jahre oder gar Jahrzehnte, so dass nun Rückschlüsse auf die abgelaufene Dauer und den Prozess der Zeit gezogen werden können.81 Im Rahmen des 1977 begonnenen Rephotographic Survey Project etwa – dem wohl bekanntesten Projekt des Genres überhaupt – wurden Aufnahmen des amerikanischen Westens, die in den 1860er und 1870er Jahren von Expeditionsfotografen wie Timothy O’Sullivan oder William Henry Jackson gemacht wurden, ein ganzes Jahrhundert später refotografiert (vgl. Klett/Manchester/Verburg 1984). Ende der 1990er Jahre startete unter dem Titel Third View dann ein weiteres Projekt, für das einige der Landschaften erneut aufgesucht und fotografiert wurden, so dass zwischen der ersten und der dritten Ansicht nun ca. 130 Jahre liegen (vgl. Klett 2004). 80 Auf die Spitze getrieben wird der Hang zur exakten Datierung von dem japanischen Konzeptkünstler On Kawara, auf dessen sogenannten »Date Paintings« (vgl. Höfer/Kawara 2009) stets nur das Entstehungsdatum des jeweiligen Bildes zu sehen ist. Dieser tendenzielle Verzicht auf die ästhetische Empfindung erklärt auch Deleuzes Vorbehalte gegen die Konzeptkunst, die die Sensation »von der bloßen ›Meinung‹ eines Betrachters« abhängig mache, »dem es eventuell zukommt, zu ›materialisieren‹ oder nicht, das heißt, darüber zu entscheiden, ob dies Kunst ist oder nicht« (WP 236). Zum Verhältnis zwischen der Konzeptkunst und Deleuzes »Ästhetik der Sensation«, vgl. außerdem Zepke 2009. 81 Im weiteren Verlauf werden dementsprechend auch nur solche »Rephotography«-Projekte behandelt, in denen es zu einer expliziten Thematisierung von Prozessualität und Zeitlichkeit kommt. Arbeiten wie Sherrie Levines After Walker Evans dagegen (vgl. Godfrey 2008, 334) – die für gewöhnlich dem Kontext der »Appropriation Art« zugeordnet werden – bleiben somit unberücksichtigt. Zwar lässt sich After Walker Evans durchaus als eine Spielart der »Rephotography« begreifen, insofern Levine dessen Südstaatenportraits tatsächlich refotografiert hat. Doch ging es ihr dabei letztlich weniger um die Frage der Zeitlichkeit als um »postmoderne« Themen wie Simulation und Autorschaft.
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Aus der prozessontologischen Perspektive von Deleuze betrachtet, handelt es sich beim Modell der »Rephotography« freilich um einen ambivalenten Ansatz, da der eigentliche Prozess der Zeit letztlich abwesend bleibt und nur ausgehend von Zuständen erfasst wird, die jedoch selbst scheinbar außerhalb der Zeit stehen. Anders gesagt: Man registriert die jeweilige Veränderung nur indirekt, nämlich ausgehend von ihren Wirkungen, die anhand der später erstellten Vergleichsansicht abgelesen werden können.82 Doch während der Blick des Betrachters zwischen den verschiedenen Momentansichten hin und her wandert und die abgebildeten Kontinuitäten und Differenzen zu erfassen versucht, erfährt er zunächst nichts über die Natur der Verbindung, d.h. die tatsächliche Zeit der Metamorphose, die das ursprüngliche »Then« mit dem entsprechenden »Now« verknüpft (vgl. Ruscha 2005). Insofern sie die Kraft der Hervorbringung und Veränderung (natura naturans) nur ausgehend vom jeweils Hervorgebrachten (natura naturata) erfasst, geht die »Rephotography« also weder über die klassisch-ontologischen Grenzen der Fotografie hinaus, noch gelingt es ihr, sich dem objektivistischen Charakter des Mediums wirklich zu entziehen. Zugleich impliziert die Methode das Thema der Veränderung jedoch auf eine Weise, wie es fotografiehistorisch wohl niemals zuvor der Fall war. Douglas Levere, selbst ein Protagonist des Genres, erläutert dies wie folgt: »A single photograph gives the illusion that time stops. A rephotograph lifts that illusion. In this tangling of the old and the new, the different and the same, lies the truth that Berenice Abbott understood well. All is flux; change is the only permanence« (Levere 2005, 14).83 Bei der »Rephotography« hat man es demnach mit dem kuriosen Fall zu tun, dass ein Medium, welches die Wirklichkeit »einfriert« und mittels immobiler Standbilder repräsentiert, eine Ontologie impliziert, die von der Permanenz des Werdens ausgeht. Dies verweist – allen ontologischen Grenzen des Mediums sowie allen nostalgischen Implikationen des Genres zum Trotz – auf die unmittelbare Relevanz der »Rephotography« für die Theorie der fotografischen Zeit. Die Zeit, die die Methode der »Rephotography« erfasst, ist zunächst die historische Zeit. Laut Benjamin war dies bereits das Thema Eugène Atgets, der »die Pariser Straßen um neunzehnhundert in menschenleeren Aspekten festhielt«, so dass diese wie Tatorte wirkten, die man »der Indizien wegen« fotografiert hat: »Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget Beweisstücke im historischen Prozess zu werden« (Benjamin 1969a, 23-24). Es lässt sich allerdings argumentieren, dass Atget keinesfalls den historischen Prozess an sich thematisiert hat, sondern vielmehr eine Vision des »alten Paris«, das er von der modernen Entwicklung bedroht sah, fotografisch fixieren und für kommende Generationen bewahren wollte. Zu einer durchaus aufschlussreichen historischen Visualisierung kommt es allerdings gut hundert Jahre später in Paris Changing, einem »Rephotography«-Projekt von Christopher Rauschenberg, das auf Atgets Stadtansichten basiert (Rauschenberg 2007). Erstaunlicherweise machen Rauschenbergs Aufnahmen deutlich, dass – entgegen der Befürchtung 82 Vgl. Klett 2004, 3: »Rephotographs can show change, but they can’t explain history […]. They can express our wonder at change and imply the passage of time but not the causes or even existence of external forces«. 83 Der Bezug auf Berenice Abbott erklärt sich durch Leveres eigenes »Rephotography«-Projekt, für das er die Schauplätze aus Abbotts Buch Changing New York (1939) etwa siebzig Jahre später erneut aufgesucht und fotografiert hat (vgl. Levere 2005).
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Atgets – viele der Ansichten nach wie vor existieren, auch wenn sich aufgrund der zunehmenden Kommerzialisierung des Stadtraums, der vielen Graffitis, Verkehrsschilder und parkenden Autos auch einiges deutlich verändert hat. So ist z.B. an der Fassade des Eckhauses zwischen Rue de Jouy und Rue de Fourcy (viertes Arrondissement) noch das alte Wandrelief erhalten. Das Kopfsteinpflaster ist jedoch Asphalt und einem Zebrastreifen gewichen, und statt des Holzkarrens sind nun Autos und ein Motorroller zu sehen (Abb. 18 und 19). Abb. 18 und 19: Eugène Atget, Rue des Nonnains-d’Hyères (1900) und Christopher Rauschenberg, Rue de Fourcy (1998)
In einem ähnlich gelagerten Projekt hat Douglas Levere zwischen 1997 und 2003 die berühmten New York-Fotografien von Berenice Abbott refotografiert, um so den Wandel zu dokumentieren, der die Stadt seit den 1930er Jahren ereilt hat. Als Abbott ihre Aufnahmen für das Projekt Changing New York machte, war die Stadt gerade dabei, sich in die architektonisch eindrucksvolle Metropole zu verwandeln, als die sie seither wahrgenommen wird. Doch anders als Atget – den sie in Paris kennengelernt hatte und dessen fotografischen Nachlass sie später verwaltete – stand Abbott dem Prozess der Modernisierung insgesamt positiv gegenüber. Dementsprechend war es Abbotts erklärtes Ziel, mit dem modernen Medium der Fotografie eine Vision New Yorks als »archetypal modern city« festzuhalten (Yochelson 2005, 19), weshalb sich Changing New York (trotz der damals aktuellen Wirtschaftskrise) noch der Optimismus des vorangegangenen Baubooms anmerken lässt.84 Siebzig Jahre später veranschaulichen die Aufnahmen Leveres, dass der von Abbott dokumentierte Wandel kein Sonderphänomen der New Yorker Stadtgeschichte war. Vielmehr wird deutlich, dass die Stadt bis heute einer permanenten Transformation ausgesetzt ist, weshalb sich generell behaupten lässt, dass ihre jeweiligen »Zustände« nur als Durchgangssta84 Wie aus ihrer Bewerbung bei der Guggenheim Foundation hervorgeht, ging es Abbott darum, New Yorks »extraordinary potentialities, its size, its youth…its state of flux« zu erfassen – »with love void of sentimentality, and not solely with criticism and irony« (zit. aus Yochelson 2005, 15).
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tionen eines kontinuierlichen Werdensprozesses fungieren. So lässt sich auf Leveres Bildern z.B. erkennen, dass die Wall Street heute wesentlich dichter mit Hochhäusern bebaut ist als noch in den 1930er Jahren. Auf Abbotts aus der Vogelperspektive aufgenommenem Foto »Wall Street District« von 1938 kann man etwa – durch die Straßenschluchten hindurch – noch den East River erblicken; 1997 ist dies kaum mehr möglich, da die Sicht mittlerweile durch unzählige neue Wolkenkratzer blockiert wird (Abb. 20 und 21). Andererseits zeigt sich anhand der 2002 refotografierten Aufnahme »Vista from West Street« jedoch, dass durch den Terroranschlag vom 11. September einige von Abbotts Ansichten vorübergehend wieder sichtbar geworden sind (Abb. 22 und 23). Auf Leveres Bildern wird zudem offenkundig, dass die Entwicklung New Yorks in den letzten Jahrzehnten mit diversen Gentrifizierungsprozessen einherging, was laut Bonnie Yochelson auch vielfach zu einer »indifferent architecture« geführt hat, die das heutige Stadtbild »decidedly less heroic« erscheinen lässt (Yochelson 2005, 19). Abb. 20 und 21: Berenice Abbott, Wall Street District (1938) und Douglas Levere, Wall Street District (1997)
Vergleicht man die Aufnahmen Leveres nun mit denen von Rauschenberg, dann fällt auf, dass sich New York und Paris durch wesentlich andere »Rhythmen« auszeichnen, wie sich in Anlehnung an Henri Lefebvre formulieren lässt.85 Die Tatsache, dass 85 Dem Rhythmusbegriff widmet sich Lefebvre vor allem in seinem Spätwerk, wobei er soziale, biologische und psychologische Rhythmen zusammendenkt und auf eine theoretische Bestimmung der raumzeitlichen Dynamiken abzielt, von denen das Alltagsleben geprägt ist (vgl. Lefebvre 2004). Insofern Lefebvre das Soziale und Politische stets ausgehend von den jeweiligen temporalen und raumspezifischen Verhältnissen denkt, weist sein Werk durchaus eine Reihe von Überschneidungen zur Philosophie von Deleuze auf. Im wissenschaftlichen Diskurs sind diese Analogien bislang jedoch kaum berücksichtigt worden, was auch daran liegen mag, dass der philosophische Kontext der beiden Denkrichtungen in anderer Hinsicht sehr verschieden ist.
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Abb. 22 und 23: Berenice Abbott, Vista from West Street (1938) und Douglas Levere, Vista from West Street, Former World Trade Center Site (2002)
besonders das Zentrum von Paris während des ganzen letzten Jahrhunderts weniger sichtbaren Veränderungen ausgesetzt war als New York in kaum 70 Jahren, lässt sich in diesem Sinne mit dem Hinweis erläutern, dass das von Benjamin zur »Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts« erklärte Paris seine kulturelle Identität bis heute weitgehend aus der Vergangenheit zieht (Benjamin 1977a). Und diese Vergangenheit fungiert zugleich als der Ort einer Modernität, die man längst realisiert zu haben meint. Die futuristischen Bauprojekte im 20. Jahrhundert – allen voran das Centre Pompidou – wurden daher vielfach nicht als Zeichen von großstädtischer Vitalität wahrgenommen, sondern als störende Fremdkörper im Pariser Stadtbild. Oder wie es Lefebvre formuliert hat: als »Meteoriten, die von einem anderen Planeten gefallen sind«.86 Die Situation New Yorks stellt sich dagegen ganz anders dar, was auch daran liegen mag, dass sich die Identität der Stadt (zumindest bis Ende des letzten Jahrhunderts) stets weniger aus ihrer Vergangenheit als ihrer Zukunft nährte. Zudem manifestiert sich die Modernität New Yorks wesentlich als eine des 20. Jahrhunderts, wobei die Realisierung jener Modernität mit der Verwandlung der Stadt in eine vertikale Metropole korrespondiert, die den fortwährenden Anspruch formuliert, alle anderen Großstädte der Welt (buchstäblich) zu überragen. Die Zerstörung des World Trade Centers kann daher umso mehr als Einschnitt gelten – und das nicht nur mit Blick auf die Stadtgeschichte New Yorks. Mehr als das nämlich liefern die Anschläge vom 11. September 2001 die passende Symbolik für das Ende eines Jahrhunderts, das vielfach als »das amerikanische« bezeichnet wurde.87 In einem weiteren »Rephotography«-Projekt widmet sich Camilo José Vergara dezidiert – und auf beispiellos systematische Weise – den Schattenseiten der Entwicklung, die die amerikanischen Großstädte in den letzten Jahrzehnten genommen haben. Vergara, der sich mit den Büchern The New American Ghetto und American Ruins einen Namen als Sozialfotograf gemacht hat (vgl. Vergara 1995 und 1999), be86 Wörtlich schreibt Lefebvre über das Centre Pompidou: »And it’s a meteorite fallen from another planet, where technocracy reigns untrammeled« (Lefebvre 2004, 34). Baudrillard bemüht ein ähnliches Bild, wenn er dasselbe Gebäude mit dem schwarzen Monolithen aus Stanley Kubricks 2001 vergleicht (siehe Baudrillard 1978b, 59). 87 Die Formulierung vom 20. Jahrhundert als dem »amerikanischen Jahrhundert« stammt ursprünglich von Henry Luce. Zum tendenziellen Machtverlust der USA im 21. Jahrhundert, vgl. Wallerstein 2003 und (in Bezug auf 9/11) Baudrillard 2002.
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Abb. 24: Camilo José Vergara, Fern Street, North Camden (1979)
Abb. 25: Camilo José Vergara, Fern Street, North Camden (1988)
greift seine fotografische Arbeit dabei als lang andauerndes Projekt zur Dokumentation des Verfalls der amerikanischen Innenstädte, denen er sich mittels einer konsequent angewendeten Methodik nähert, bei der die »Rephotography« eine wesentliche Rolle spielt. Anders als Levere oder Rauschenberg geht er allerdings nicht von den Aufnahmen anderer Fotografen aus, sondern refotografiert im Abstand von mehreren Jahren seine eigenen Bilder, die dementsprechend umfangreiche »Time Lapse«-Serien bilden (Abb. 24 und 25). Mittlerweile ist auf diese Weise ein viele tausend Fotos umfassendes Archiv entstanden, das Vergara 1977 begonnen hat und das überwiegend Aufnahmen der sogenannten »Hyperghettos« in Detroit, Chicago, Los Angeles,
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New York, Camden, Newark und Gary beinhaltet.88 Zwar nennt Vergara einige der Gründe, die zu der verheerenden Situation in vielen Innenstädten der USA geführt haben, so etwa die Flucht der weißen Mittelklasse in die suburbs, den Abbau und die Dysfunktionalität des Welfare-Systems, die Deindustrialisierung ehemaliger Industriestädte, die Krise des öffentlichen Bildungssystems, Segregation, Kriminalität, Drogensucht usw. In erster Linie interessiert ihn jedoch die visuelle Topographie dieser Orte, die das geographische Zentrum vieler amerikanischer Städte bilden, von den meisten Amerikanern aber gänzlich gemieden werden (Vergara 1995, xi).89 Somit gehört auch Vergara in die Tradition derjenigen Fotografinnen und Fotografen, denen es darum geht, das »Unsichtbare sichtbar« zu machen; dies allerdings nicht, weil jenes Unsichtbare – wie bei Muybridge – mit dem bloßen Auge nicht erkennbar wäre, sondern schlichtweg deshalb, weil es von der Mehrheitsgesellschaft kaum Beachtung findet. Auf Vergaras visuellen Chroniken des städtischen Niedergangs finden sich dementsprechend Orte, denen gemeinsam ist, dass sie nur selten ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten und hauptsächlich von denjenigen bewohnt werden, denen die Flucht in eine lebenswürdigere Umgebung bisher misslungen ist. So wirken viele der Gegenden auf Vergaras Bildern wie entvölkerte Geisterstädte, die nur noch die Restbestände einer ehemals stolzen Stadtgeschichte aufweisen, d.h. ihre »Ruinen«, die zunehmend sich selbst und schließlich der Natur überlassen werden (Abb. 26). Diese Entwicklung scheint zunächst das komplette Gegenteil der Modernisierungs- und Wachstumsprozesse darzustellen, die auf vielen der New York-Fotografien von Abbott und Levere veranschaulicht werden. Faktisch gehört die Entwicklung des amerikanischen Ghettos allerdings zum gleichen historischen Prozess, d.h. zur gleichen kapitalistischen Logik von Produktion und Zerstörung (vgl. Schumpeter 1954), die unter den Bedingungen von Neoliberalismus und Globalisierung nur eine weitere Zuspitzung erfahren hat.90 88 Vgl. Vergara 1995, xii-xiii: »The New American Ghetto is the result of an uninterrupted dialogue with poor communities, their residents, and the scholars who study them. This book grows out of the ›The New American Ghetto Archive‹, my collection of over nine thousand color slides that I began taking in 1977 for the purpose of documenting the nation’s major ghettos […]. My choice of locations coincides with areas called ›hyperghettos‹ – places where at least 40 percent of the population lives below the poverty level«. 89 Zu den Problemen der neueren Stadtentwicklung in den USA, vgl. auch Davis 1992 (für Los Angeles), Sassen 2001 (für New York) und Sugrue 2014 (für Detroit). Siehe außerdem die klassischen Studien von Jane Jacobs (Jacobs 1961) und David Harvey (Harvey 2009). 90 Hier sei auf den »Engel der Geschichte« verwiesen, von dem es bei Benjamin heißt: »Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm« (Benjamin 1977b, 255). Hinsichtlich der Kontinuitäten von »altem« und »neuem« Kapitalismus heißt es bei Deleuze: »Allerdings hat der Kapitalismus als Konstante beibehalten, daß drei Viertel der Menschheit in äußerstem Elend leben: zu arm zur Verschuldung und zu zahlreich zur Einsperrung« (U 260).
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Abb. 26: Camilo José Vergara, Ransom Gillis House, Detroit (2003)
Das Irritierende und zugleich Interessante an den Bildern Vergaras ist jedoch: Viele der »amerikanischen Ruinen«, die er immer wieder fotografiert hat, sind auf eigentümliche Weise schön. Fast könnte man meinen, dass die Gebäude – der üblichen Funktion enthoben, die sie im Alltagsleben erfüllen – nur mehr für die ästhetische Wahrnehmung gedacht sind.91 Für diese »Beurlaubung« ihrer Alltagsfunktion ist indes nicht der Fotograf verantwortlich; ursächlich für den völligen Funktionsverlust einer ehemaligen Kirche, einer Fabrik oder einer Schule ist vielmehr der historische Prozess selbst, d.h. die Ignoranz oder Ohnmacht einer verfehlten Stadtpolitik.92 Vergaras Ruinen dokumentieren somit gewaltsame Verfallsprozesse, im Zuge derer sich das Soziale zunehmend zu verflüchtigen scheint, wobei es die Methode der »Repho-
91 Vgl. Peper 2002, 1: »Der Leser kann jeden Buchstaben dieses Textes ästhetisieren, indem er von seiner sprachlichen Funktion absieht« und »diese beurlaubt […]. Ästhetisieren heißt völlig wertfrei: den Gegenstand aus übergreifenden Funktionen und Sinnrastern lösen«. 92 Dies soll freilich nicht heißen, dass Vergara aus dem Verfall der von ihm fotografierten Orte keinerlei ästhetischen Nutzen zieht. Die von Winfried Fluck am Beispiel der FSA-Fotografie aufgeworfene Frage nach der »Ästhetisierung der Armut« (vgl. Fluck 2010) stellt sich daher auch mit Blick auf die Arbeiten Vergaras, der allerdings nie einen Hehl aus seiner ästhetischen Wertschätzung für die von ihm fotografierten Ruinen gemacht hat. Nicht frei von Sentimentalität und Nostalgie sieht er in seinen Aufnahmen »auch eine Hommage an die Ingenieurskunst des Industriezeitalters«, denn selbst in ihrem Niedergang bewahrten die Ruinen noch »die Erinnerung daran, dass Stein, Stahl und Marmor einst unvergänglich zu sein schienen« (Thurau 2000, III). In diesem Kontext lässt sich auch Vergaras kontrovers diskutierter Vorschlag verstehen, man solle mehrere Blocks in der Innenstadt Detroits nicht sanieren, sondern als Monumente der amerikanischen Stadtgeschichte dem allmählichen Verfall überlassen. (Zur Kritik an Vergaras »Ästhetisierung« der urbanen Krise, vgl. Kennedy 2000, 113-115.)
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tography« ermöglicht, die unterschiedlichen Stadien dieser Entwicklung sichtbar zu machen. Ob es sich bei diesen Bildern um Sozialfotografie oder um Landschaftsaufnahmen handelt, lässt sich teilweise kaum entscheiden, denn das Soziale geht hier – buchstäblich – in eine Landschaft ein, für die die klassische Trennung von Natur und Kultur keine Gültigkeit mehr besitzt. Anders als Liam Kennedy in seiner Kritik an Vergaras Bildern meint, wird dieser Prozess allerdings keinesfalls als »ahistorisch« oder »unpolitisch« charakterisiert. »Decay«, schreibt Kennedy, »connotes a natural environmental process that even [Vergara’s] sequencing is unable to temporalise as a historical and social one. The move from culture to nature (quite literally in many photographs of vegetation) is emblematic of Vergara’s propensity to elide human subjectivity in his images and ignore the ontological and experiential dimensions of black subjectivity in particular« (Kennedy 2000, 113). Ganz im Gegenteil lässt sich jedoch argumentieren, dass Vergara keine Naturalisierung von Geschichte und Politik betreibt, sondern vielmehr eine Politisierung der Geographie – oder besser: der spezifischen Beziehung, die »Natur« und »Kultur« auf seinen Fotos zueinander eingehen. Zwar betonen Vergaras Bilder, dass historische Prozesse nicht allein »den Menschen« betreffen, sondern auch auf Gebäude, Straßen, Orte und Landschaften einwirken; doch impliziert dies keine Auslöschung von Subjektivität (zumal auf vielen seiner Bilder auch Menschen zu sehen sind), sondern veranschaulicht stattdessen, dass Subjektivität und Territorialität auf grundlegende Weise verknüpft sind. Vergaras Ghettolandschaften lassen sich demnach im Sinne jener »politischen Ökologie« begreifen, der sich Félix Guattari in seinem Spätwerk gewidmet hat (vgl. Guattari 1994). Zudem verdeutlichen sie, mit Deleuze gesprochen, die »Koexistenz heterogener Dauern« (SG 277), die sich in jedem (politischen, sozialen oder ökologischen) Gefüge überlagern.93 Denn mit der historischen Zeit koexistiert auf Vergaras Bildern oftmals noch eine andere Temporalität: eine Dauer, die eher mit den Rhythmen von Flora und Fauna, den Kontingenzen der Witterung und der Langsamkeit geologischer Prozesse korrespondiert als mit den Zyklen der politischen Ökonomie (auch wenn sie von diesen keinesfalls unabhängig ist). Dies ist vielleicht die einzige Hoffnung, mit der Vergara die Betrachter seiner Bilder zurücklässt. Denn seine »amerikanischen Ruinen« verschwinden nicht einfach, sondern bestehen auf gleichsam virtuelle Weise fort. Und dies wirft immerhin die Frage auf, ob für die von Vergara dokumentierte Entwicklung nicht – jenseits der kapitalistischen Dialektik von Fortschritt und Zerstörung, Wachstum und Niedergang – noch eine andere Bestimmung oder ein anderes Werden existiert.94 93 Insofern Deleuze hier (wie auch an anderer Stelle) auf die Heterogenität unterschiedlicher Dauern verweist, hat die von Bachelard geäußerte Kritik, Bergson gehe von einer einzigen, kontinuierlichen und gleichförmigen Dauer aus (vgl. Bachelard 2000), zumindest für seine eigene Zeitkonzeption keine Gültigkeit. Siehe hierzu auch SG 276: »Zum Beispiel zeigt ein Bild einen Mann, der in einer Gebirgslandschaft an einem Wasserlauf entlanggeht: hier gibt es mindestens drei gleichzeitig bestehende ›Dauern‹, drei Rhythmen, und das Zeitverhältnis ist die Koexistenz der Dauern im Bild, die in keiner Weise mit der Gegenwart dessen verschmilzt, was das Bild darstellt«. 94 Ein interessantes Beispiel für die Wiederaneignung einer Ruine seitens der Öffentlichkeit stellt der Fall der stillgelegten »High Line«-Bahnstrecke in New York dar. Nachdem die
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Abb. 27: Monolith, the Face of Half Dome, Yosemite National Park (ca. 1927). Photograph by Ansel Adams
Landschaften, die der traditionellen Trennung von Natur und Kultur entgegenstehen, finden sich, auf andere Weise als bei Vergara, auch auf den Bildern der Fotografen des bereits erwähnten Rephotographic Survey Project. Deren Aufnahmen des amerikanischen Westens verkörpern eine neue Art der Landschaftsfotografie, nachdem das Genre lange Zeit vom Stil des Modernisten Ansel Adams dominiert wurde. Angesichts der zunehmenden Unterwerfung der Natur durch den Menschen ging es Adams in erster Linie um die Widerstandsfähigkeit der amerikanischen Wildnis, deren »Erhabenheit« auf seinen Bildern jeder anthropozentrischen Dominanz zu trotzen scheint (Abb. 27). Folglich finden sich auf Adams’ Fotos in der Regel auch keine Menschen und nur äußerst selten überhaupt irgendwelche Spuren, die den menschlichen Eingriff in die Natur hervorheben. Hierzu erläutert Mark Klett: »The natural world was seen as the antidote to unending growth, and photographs were important contributions in the fight to preserve dwindling natural spaces. The photographs were celebrations of wild places and helped to define values many came to embrace in wilderness« (Klett 2004, 6).
Gleise viele Jahre nicht genutzt wurden und das Gelände weitgehend verwilderte, forderten finanzstarke Investoren den Abriss der Trasse, um so neue Bauflächen zu gewinnen. Einer Bürgerinitiative gelang es jedoch, den Abriss zu verhindern, so dass die Anlage schließlich in einen Park verwandelt wurde. Bei der Entscheidung der Stadt gegen den Abriss spielten offenbar auch die Bilder des Fotografen Joel Sternfeld eine Rolle (vgl. Sternfeld 2009).
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Dieser Versuch, eine quasi »reine« Natur fotografisch zu isolieren, um ihre Erhabenheit zu veranschaulichen, ist seit den 1970er Jahren – so etwa im Kontext der New Topographics-Bewegung – zunehmend in Frage gestellt worden.95 Im Rephotographic Survey Project sowie im Nachfolgeprojekt Third View konnte diesem Ansatz schon deshalb nicht gefolgt werden, da man konzeptionell von den Aufnahmen der Expeditionsfotografen des 19. Jahrhunderts ausging, d.h. auch an deren Orte und den jeweiligen Wandel gebunden war, der sich seit den 1860er und 1870er Jahren dort ereignet hat. Zwar finden sich bereits auf den Bildern von Timothy O’Sullivan oder William Henry Jackson viele Spuren der menschlichen Intervention in die Natur; erwartungsgemäß mehren sich diese jedoch auf den Aufnahmen, die in den 1970er und 1990er Jahren gemacht wurden. Auf den Fotos von Mark Klett und seinen Mitarbeitern finden sich daher vielerlei Straßen, Bahngleise, Häuser, Staudämme, Zäune und Oberleitungen, so dass sich ein insgesamt sehr komplexes Bild des Verhältnisses von Natur und Kultur ergibt, das weder eine pastorale Harmonie evoziert noch – wie bei manchen anderen Fotografen im Kontext der New Topographics-Bewegung – dystopische Assoziationen auslöst.96 Allerdings könnten die Bilder, wenn man sie oberflächlich betrachtet, auch einer eher klassischen Vorstellung des Natur/Kultur-Verhältnisses Vorschub leisten: der dualistischen Ansicht nämlich, nach der die Natur mit »Passivität« assoziiert ist und jede »Aktivität« von der freien Handlung des menschlichen Subjekts abhängt. Denn wenn man die Bilder mit Blick auf den Wandel betrachtet, den sie zum Ausdruck bringen, dann fällt auf, dass dieser immer dann besonders offenkundig wird, wenn er vom Menschen verursacht ist. Sofern auf den Bildern jedoch kein nennenswerter menschlicher Eingriff erkennbar ist, scheint sich oftmals – etwa wenn es sich um Aufnahmen von Gebirgen, Felsvorsprüngen oder anderen Steinsformationen handelt – kaum etwas verändert zu haben.97 Der Betrach95 Vgl. Klett 2004, 7: »The idea that both nature and culture were fitting subjects for photography was a somewhat radical idea in the mid-1970s. The exhibition ›New Topographics‹, developed by curator William Jenkins at the George Eastman House in 1975 was perhaps the first to recognize a growing interest in the subject by contemporary photographers […]. The term New Topographics later became loosely associated with work that positioned itself in opposition to the nature-only wilderness photographs of previous decades«. 96 Vgl. hierzu etwa die Arbeiten von Richard Misrach, dessen Desert Cantos die amerikanische Wüste als ein militarisiertes wasteland portraitieren, das u.a. als Giftmülllager für nuklearen Abfall fungiert (vgl. Misrach 1992). Mark Klett zufolge dominierte im Rahmen des Third View-Projekts eine andere Konzeption der Beziehung von Mensch und Natur: »The Third View group was interested in reexamining the Western landscape in a way that didn’t condemn human connections to the land. Instead, the project wanted to accept human existence as part of nature and to confirm the complexity of that relationship« (Klett 2004, 8). 97 Dies wird z.B. sehr gut deutlich, wenn man die Serie der »Castle Rock«-Fotografien aus Wyoming (Abb. 28-30) denjenigen Aufnahmen gegenüberstellt, die vom Karnak Ridge in Nevada gemacht wurden (Abb. 31-33). Die Erstaufnahmen von 1872 bzw. 1867 stammen jeweils von Timothy O’Sullivan und zeigen in beiden Fällen eine markante Gebirgsformation auf scheinbar abgelegenem Gelände. Während der Blick auf den »Castle Rock«-Felsen auf den Fotos der 1970er und 1990er Jahre jedoch von Häusern, Gärten und Oberleitungen verstellt ist, die auf die Ausdehnung der Stadt Green River verweisen, ist am Karnak Ridge
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Abb. 28-30 (links): Timothy O’Sullivan, Green River Buttes, Green River, WY (1872); Mark Klett und Gordon Bushaw, Castle Rock, Green River, WY (1979); Mark Klett und Byron Wolfe, Castle Rock, Green River, WY (1997) Abb. 31-33 (rechts): Timothy O’Sullivan, Crab’s Claw Peak, Western Nevada (1867); Gordon Bushaw, Karnak Ridge, Trinity Range, Nevada (1979); Mark Klett und Byron Wolfe, Karnak Ridge, Trinity Range, Nevada (1998)
ter könnte sich somit dazu verleiten lassen, »die Natur« als eine weitgehend statische Bühne zu begreifen, auf der sich in unterschiedlichen Rhythmen und Zyklen das Schauspiel des menschlichen Handelns, der »kulturellen« Aktivität ereignet. Die dualistische Trennung von Natur und Kultur wäre folglich nicht außer Kraft gesetzt, sondern würde vielmehr eine Bestätigung erfahren. Im Anschluss an Deleuze ließe in Nevada so gut wie keine Veränderung erkennbar: Hier ist auch auf den entsprechenden Vergleichsansichten jeweils nur derselbe karge Gebirgskamm zu sehen, der keinerlei Anzeichen eines nennenswerten Wandels offenbart.
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sich diesbezüglich jedoch argumentieren, dass es nicht auf die Unterscheidung von Wesenheiten (Natur – Kultur, Subjekt – Objekt etc.) ankommt, sondern auf die Qualifizierung unterschiedlicher Dauern und Geschwindigkeiten, die auf derselben Immanenzebene koexistieren. Hierzu bemerkt Manuel DeLanda: »If we consider that the oceanic crust on which the continents are embedded is constantly being created and destroyed (by solidification and remelting) and that even continental crust is under constant erosion so that its materials are recycled into the ocean, the rocks and mountains that define the most stable and durable traits of our reality would merely represent a local slowing down of this flowing reality. It is almost as if every part of the mineral world could be defined simply by specifying its chemical composition and its speed of flow: very slow for rocks, faster for lava.« (DeLanda 1997, 258)
Was dementsprechend deutlich wird, sind nicht zuletzt auch die Grenzen der Fotografie. Denn um die Zeit der geologischen Prozesse zu erfassen, die – mit Ausnahme von Bergstürzen, Vulkanausbrüchen, Flutwellen usw. – von unendlicher Langsamkeit ist, lohnt sich auch der Einsatz der »Rephotography« wenig, da dem Medium schlichtweg die Dauer fehlt: die rund 175 Jahre, die seit der Erfindung der Fotografie vergangen sind, fallen diesbezüglich kaum ins Gewicht. Zudem kann die »Rephotography« freilich nur solche Veränderungen offenlegen, die sich überhaupt im Feld der Sichtbarkeit ereignen: Virtuelle oder intensive Differenzen (etwa der Temperatur, des Drucks, der molekularen Zusammensetzung der Atmosphäre etc.98) bleiben ihr dagegen grundsätzlich verborgen. Dessen ungeachtet lässt sich jedoch zeigen, dass längst nicht alle Aufnahmen von Klett und seinen Mitarbeitern mit der klassischen Sicht auf das Natur/Kultur-Verhältnis korrespondieren oder lediglich die üblichen Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung des amerikanischen Westens bestätigen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Siedlung Logan Springs in Nevada, die 1871 von Timothy O’Sullivan fotografiert wurde. Im Rahmen des ursprünglichen Rephotographic Survey Projects ist die Ansicht zwar zunächst nicht fotografiert worden, dafür aber wieder 1998 im Kontext des Third View-Projekts (Abb. 34 und 35). Zu ihrer Überraschung mussten die Fotografen feststellen, dass von der Siedlung nichts mehr zu sehen war und die Fläche, auf der einst robust wirkende Steinhäuser standen, nun wieder mit Gras und Unkraut bewachsen war. Stattdessen entdeckten sie eine einzelne Hütte, die vermutlich aus den Ruinen der ehemaligen Siedlungsgebäude errichtet wurde. Es wurden zwar Indizien gefunden, die dafür sprechen, dass die Hütte in den 1970er Jahren von einer mormonischen Familie bewohnt war und seitdem leer stand; was aber mit der Familie geschah und weshalb sich dort überhaupt wieder jemand niedergelassen hatte, konnte ebenso wenig geklärt werden wie das Schicksal der Siedlung insgesamt. Die Episode gibt zweifellos Anlass zur Spekulation: Einerseits mag sie verdeutlichen, was schon auf den Bildern Vergaras gezeigt wurde, nämlich dass der sogenannte »Fortschritt« immer auch Verlust bedeutet und mit der Produk98 Vgl. DeLanda 2002, 6: »[Deleuze] conceives difference not negatively, as lack of resemblance, but positively or productively, as that which drives a dynamical process. The best examples are intensive differences, the differences in temperature, pressure, speed, chemical concentration, which are key to the scientific explanation of the genesis of the form of inorganic crystals, or of the forms of organic plants and animals«.
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tion von Ruinen einhergeht. Andererseits aber evoziert sie eine sehr viel rätselhaftere Entwicklung, die eher auf das Unzeitgemäße als auf die Geschichte verweist (vgl. WP 129-131). Abb. 34: Timothy O’Sullivan, Water Rhyolites near Logan Springs, Nevada (1871)
Abb. 35: Mark Klett und Byron Wolfe, Water Rhyolites near Hiko, Nevada (1998)
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Die Komplexität zeitlicher Abläufe lässt sich auch anhand des letzten »Rephotography«-Projektes verdeutlichen, das nun abschließend behandelt wird. Verglichen mit den bereits dargestellten Projekten kommt diesem eine gewisse Sonderstellung zu, da es hier nicht um die Dauer von Landschaften oder Gebäuden geht, sondern um die Zeitlichkeit des menschlichen Körpers. The Brown Sisters ist ein Langzeitprojekt, für das der Fotograf Nicholas Nixon seine Frau Beverly Brown und ihre drei Schwestern seit 1975 jeweils einmal jährlich portraitiert hat. 1999 wurden die Bilder zum ersten Mal veröffentlicht, 2014 erschien die bislang aktuellste Auflage des Buches, das nun Portraits aus insgesamt vierzig Lebensjahren beinhaltet (vgl. Nixon 2014). Was auf den Bildern zu sehen ist, wirkt zunächst denkbar unspektakulär und steht erkennbar in der Tradition nostalgischer Familienaufnahmen, die weltweit unzählige Fotoalben füllen. Insofern die portraitierten Schwestern den allermeisten Betrachtern allerdings gänzlich unbekannt sind, wirkt die Intimität, die die Bilder ausstrahlen, zugleich auch irritierend. Darüber hinaus steht die Privatheit der Aufnahmen im Gegensatz zum Status der Serie als »Projekt«, das sich – anders als bei gewöhnlichen Familienfotos üblich – durch eine besondere Systematik auszeichnet. So stehen die Schwestern auf jedem Bild in der gleichen Reihenfolge nebeneinander, was dazu einlädt, die Aufnahmen miteinander abzugleichen, d.h. die jeweiligen Veränderungen zu lokalisieren, die sich von Jahr zu Jahr ereignet haben. Der Alterungsprozess erlangt hierdurch den Status einer quasi virtuellen Zeit, denn wenn man die Bilder in der Sequenz betrachtet, lässt sich – von einem Bild zum nächsten – anfangs kaum ein Unterschied erkennen. Umso deutlicher fällt dagegen die Veränderung aus, wenn man z.B. die Aufnahme von 1978 mit derjenigen von 2002 vergleicht (Abb. 36 und 37). Nun aktualisiert sich die virtuelle Zeit der Alterung und hinterlässt deutlich sichtbare Spuren, die sowohl auf die Transformationsfähigkeit des menschlichen Lebens als auch seine unabwendbare Endlichkeit verweisen. Mit Michel Serres lässt sich in diesem Sinne formulieren, dass Nixons Brown Sisters in mehreren Zeiten zugleich existieren. Einerseits nämlich befinden sie sich in einer reversiblen und zyklischen Zeit, d.h. der Zeit des sich jährlich wiederholenden Fototermins. Andererseits aber werden sie von einer irreversiblen Zeit der Transformation und Abnutzung erfasst, die zunächst kaum wahrnehmbar ist, die letztlich aber jede Reversibilität zunichtemacht.99 99 Vgl. Serres 1994, 100-101: »Es ist nicht leicht zu begreifen, daß wir zugleich in zwei verschiedenen und sogar gegensätzlichen Zeiten sind. Und dennoch ist es so. Die Welt arrangiert sich damit, und unser Körper paßt sich dem an […]. Die reversible Zeit ist die Zeit der Ordnung, die irreversible dagegen tendiert zur Unordnung«. Kurz darauf erwähnt Serres allerdings noch eine dritte Zeit, die er mit Bergson als die »schöpferische« bezeichnet und »von der man zumindest sagen kann, daß sie dem thermodynamischen Vektor entgegengerichtet ist« (101). Diese dritte Zeit wird ebenfalls als irreversibel konzipiert; sie steht der von »Entropie« und »Abnutzung« geprägten zweiten Zeit jedoch entgegen, da sie eine produktive Transformation bewirkt und dabei neue Differenzen generiert. Serres’ Schema ähnelt in vielerlei Hinsicht demjenigen aus Differenz und Wiederholung, etwa wenn er auf die simultane »Verknotung« der drei Zeitebenen verweist und somit die zeitliche Komplexität des Körpers betont: »Ein komplexes System ist [der Organismus] nicht allein aufgrund der Vielzahl seiner Elemente und Wechselwirkungen oder aufgrund der vielfältigen, hintereinandergeschalteten Integrationsprozesse, sondern weil er mehrere Systeme zugleich darstellt, weil er durch mehrere lokale Gesetze gesteuert wird, durch die der Isolierung, der
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Abb. 36: Nicholas Nixon, The Brown Sisters (1978)
Abb. 37: Nicholas Nixon, The Brown Sisters (2002)
Abschließung und der Öffnung. Daraus erklären sich diese verschiedenen Zeiten, die in mir wie Flüsse zusammenströmen […]. Dieser Zusammenfluß von Zeiten ist komplex, er bildet einen Wirbel, der aufsteigt und abfällt, der in Schwingung gerät, der desorganisiert, so daß alles zerfasert und aufspleißt, der die verstreuten Trümmer aufnimmt und neu ordnet, der eine zweifache Arbeit des Unterminierens und der Rekonstruktion aus den Rohstoffen ausführt, welche aus der Umgebung über die Grenzen gelangen, eine zeitgleiche Arbeit, synchron im starken Sinne des Wortes: nicht bloß gleichzeitig, sondern in der Verknotung mehrerer Zeiten« (102-103).
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Serres hat hierfür das Bild der Uhr bemüht, deren Zeiger eine stets reversible, zyklische Zeit anzeigen, in der es jeden Tag aufs Neue 12 Uhr mittags sein wird. »Doch letztlich«, schreibt Serres, »zeigt auch meine Uhr eine neue Zeit an, wenn sie durch Alter und Rost aus ihrem Rhythmus gerät« (Serres 1994, 97). Diese zeitliche Koexistenz – die bei Deleuze als Koexistenz von Virtualität und Aktualität konzipiert wird – lässt sich noch auf andere Weise beschreiben, wenn man einmal mehr auf Michael Frieds Unterscheidung von Theatralität und Absorption zurückgreift. In dieser Hinsicht scheinen Nixons Bilder zunächst das beste Beispiel für die Logik fotografischer Theatralität darzustellen. Denn freilich ist den Schwestern bewusst, dass sie fotografiert werden, weshalb ihr Blick fast immer auf die Kamera gerichtet ist. Obwohl die Aufnahmen keinesfalls übermäßig gekünstelt wirken, merkt man ihnen nichtsdestotrotz einen gewissen kompositorischen Willen an, der auch durch den Körperkontakt zwischen den Schwestern, durch ihre jeweiligen Haltungen, Gesten und Mimiken zum Ausdruck gelangt. Hinzu kommt die theatrale Dimension der wechselnden Moden, die – mit Blick auf Kleidung, Frisuren usw. – anschaulich dokumentiert wird. Zugleich existiert auf den Bildern jedoch noch eine andere, wesentlich »antitheatralische« Dimension, die auf Serres’ Konzeption der irreversiblen Zeit verweist. Denn während die theatralische Dimension der Bilder mit einer reversiblen Zeit (als Zeit der stets wieder einzunehmenden Pose) korrespondiert, tritt zugleich der irreversible Alterungsprozess ins Bild, der sich im Rahmen einer gänzlich anderen Logik manifestiert. In dieser Hinsicht scheinen die Schwestern von der Zeit nämlich buchstäblich absorbiert zu werden: absorbiert von einer Zeit der Transformation und Abnutzung also, die sich stets »hinter ihren Rücken« zu befinden scheint, die aber letztlich von keiner theatralen Pose oder Geste gebannt werden kann. In mehrfacher Hinsicht verdeutlichen Nixons Brown Sisters sowohl die Vorzüge der »Rephotography« als auch ihre Probleme. Dabei stellt die Nostalgie – der nostalgische oder sentimentale Blick auf dasjenige, was im Laufe der Zeit verschwunden ist – das wohl grundlegendste Problem dar. Denn wenn der Blick in die Zeit in erster Linie das Vergangene (oder besser: die vergangene Gegenwart) anvisiert, dann droht die prinzipielle Offenheit der Aktualisierungs- und Werdensprozesse in Vergessenheit zu geraten. Auf Vergaras Ruinen reagiert der Betrachter dann mit »Rührung« – anstatt mit der Frage, wie eine andere Zukunft der Stadt aussehen sollte. Keines der erwähnten »Rephotography«-Projekte ist vollkommen frei von dieser Tendenz, denn ihre Bilder können für sich genommen nicht wirklich von der Stelle kommen, sondern verweilen in einer vergangenen Gegenwart, die umso rührender wirkt, je stärker die Erinnerung von ihr Besitz ergreift. Dies gelingt gleichwohl nur unter der Bedingung, dass die Erinnerung ausgehend von einer aktuellen Gegenwart operiert, die als relativ stabil empfunden wird, so dass die Rezeption der Bilder auf der Basis dieses zeitlichen Gleichgewichts erfolgt. Gelegentlich passiert es jedoch, dass die »Rephotography« diesen Mechanismus durchbricht. Hierzu kommt es etwa dann, wenn der Betrachter realisiert, dass der Wandel, der auf den Bildern veranschaulicht wird, nicht lediglich die Vergangenheit betrifft, sondern schon jetzt (wenn auch auf kaum wahrnehmbare Weise) die aktuelle Gegenwart erfasst. In der Einleitung zu seinem Buch New York Changing berichtet Douglas Levere, wie er von solch einem zeitontologischen »Taumel« befallen wurde, als er 1997 auf eine Fotografie von Berenice Abbott stieß, auf der seine eigene Straße zu sehen war:
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»Almost every building Abbott had photographed still stood, but Broome Street back then was a two-way street paved with cobblestones. The trendy shoe store I passed every day was once the Bank of Sicily Trust. The kosher dairy restaurant in the lower right-hand corner of the photograph revealed that observant Jews in black suits populated the area that was now a major retail location. I realized I had been living in the illusion of a permanent now. My ultra-happening Broome Street would look quaint and dusty six decades into the future.« (Levere 2005, 10)
Die hier beschriebene »Illusion«, in einer permanenten Gegenwart zu leben, lässt sich mit Deleuze als Resultat einer zeitlichen Syntheseleistung verstehen und folglich mit den in Differenz und Wiederholung konzipierten ersten beiden Synthesen der Zeit verbinden (vgl. Teil I, Kap. 2.2). Dass die Methode der »Rephotography« trotz ihrer Beschränkungen das Potential hat, dieser eindimensionalen Zeitvorstellung entgegenzuwirken, lässt sich nicht nur der Aussage Leveres entnehmen, sondern sollte bereits auf den vorangehenden Seiten zum Ausdruck gekommen sein. Denn insofern die behandelten »Rephotography«-Projekte nicht nur Indizien für den Wandel liefern, der sich in der Vergangenheit ereignet hat, sondern zugleich auf die Transformationsfähigkeit der Welt a priori hinweisen, laufen sie statischen Konzeptionen der Fotografie zuwider und korrespondieren mit einer prozessualen Ontologie, die das Reale zugleich »in Veränderung« wie »als veränderbar« begreift. Nichtsdestotrotz lässt sich aber die Frage stellen, ob die Fotografie den Prozess der Zeit tatsächlich allein über den Umweg der quasi verdinglichten Zustände erfassen kann, die in den jeweiligen Momentansichten festgehalten sind. Denn letztlich besteht hier stets die bereits genannte Gefahr, dass der Betrachter jene Einzelansichten zum Objekt einer nostalgischen Erinnerung macht und der Prozess selbst – d.h. die Tatsache, dass sich sämtliche Zustände immer schon in der Zeit befinden – aus dem Blick gerät. Abschließend soll daher noch eine letzte fotografische Strategie thematisiert werden, die sich von »Street Photography« und »Rephotography« dahingehend unterscheidet, dass es sich weder um ein Genre noch um eine allgemeine Methode handelt, sondern um die Arbeit eines einzelnen Künstlers. Gemeint ist der in den USA lebende japanische Fotograf Hiroshi Sugimoto und dessen Theaters-Serie, für die er seit Mitte der 1970er Jahre eine Vielzahl amerikanischer Filmtheater (und gelegentlich auch Autokinos) fotografiert hat. Bemerkenswert an diesen Bildern ist zuallererst die Tatsache, dass Sugimoto hier jeweils eine Belichtungszeit von der Dauer eines ganzen Kinofilms verwendet (Abb. 38 und 39). Sugimoto, dessen Werk maßgeblich durch die Minimal Art und die Methode des Serialismus geprägt ist, hat sich dem Thema Zeit in vielen seiner Arbeiten gewidmet;100 doch in Theaters geschieht dies auf eine ausgesprochen unmittelbare Weise, 100 Hier wäre z.B. auch die 1980 begonnene Serie Seascapes zu nennen, für die Sugimoto an zahlreichen Orten der Erde das Meer fotografiert hat. Dabei ist er stets nach dem gleichen Schema vorgegangen: Auf den Bildern ist einzig das Meer und der Himmel zu sehen, wobei die Horizontlinie das Bild exakt in der Mitte zerschneidet. Der zeitliche Aspekt der Aufnahmen liegt darin begründet, dass es Sugimoto ursprünglich darum ging, einen Ort zu finden, der keinerlei Spuren menschlichen Lebens aufweist und theoretisch immer schon dasselbe Foto ergeben hätte: »Although the land is forever changing its form, the sea, I thought, is immutable. Thus began my travels back through time to the ancient seas of the world« (zit. aus Brougher/Elliott [Hg.] 2005, 109).
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Abb. 38: Hiroshi Sugimoto, U.A. Walker, New York (1978). © Hiroshi Sugimoto, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco
Abb. 39: Hiroshi Sugimoto, Ohio Theater, Ohio (1980). © Hiroshi Sugimoto, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco
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die in der Geschichte des Mediums so gut wie einzigartig ist. Zur Entstehungsgeschichte der Aufnahmen hat Sugimoto sich wie folgt geäußert: »I am a habitual self-interlocutor. One evening while taking photographs at the American Museum of Natural History, I had a near hallucinatory vision. My internal question-and-answer session leading up to this vision went something like this: ›Suppose you shoot a whole movie in a single frame?‹ The answer: ›You get a shining screen‹. Immediately I began experimenting in order to realize this vision. One afternoon I walked into a cheap cinema in the East Village with a large-format camera. As soon as the movie started, I fixed the shutter at a wide-open aperture. When the movie finished two hours later, I clicked the shutter closed. That evening I developed the film, and my vision exploded before my eyes.« (Zit. aus Brougher/Elliott [Hg.] 2005, 77)
Seit 1975 hat Sugimoto Dutzende von Filmtheatern auf diese Weise fotografiert, wobei das Resultat fast immer das gleiche ist: Was der Betrachter sieht, ist eine blendend-weiße Leinwand sowie der gewöhnlich barock ausgestattete Innenraum eines Filmpalastes, der durch das von der Leinwand reflektierte Licht aufgehellt wird. Der Raum, der sich sonst weitgehend im Dunkeln befindet, tritt somit ins Feld der Sichtbarkeit, während von den unzähligen Bildern des abgelaufenen Films nichts weiter zu sehen ist als ein blendend-weißes Rechteck. Vertauscht hat sich außerdem das Verhältnis von Film und Fotografie, denn es ist nun nicht mehr der Film, der sich der Fotografie bedient; vielmehr ist es das Foto, das jeweils einen ganzen Film enthält. Die Rätselhaftigkeit dieser Aufnahmen hat Anlass zu den unterschiedlichsten Interpretationen gegeben und Kritiker haben die Serie wahlweise als Kommentar zum Niedergang einer kollektiven amerikanischen Entertainmentkultur verstanden oder in den Kontext minimalistischer Formspiele gestellt.101 So hat z.B. Hans Belting argumentiert, die Aufnahmen zeigten, dass der eigentliche Ort der Bilder nicht die Leinwand sei, sondern das zuschauende Subjekt selbst: »Die Photographien, die einen leeren Ort der Bilder zeigen, bringen geradezu schmerzhaft ins Bewußtsein, wie wenig der reale Kinosaal von all den Bildern berührt und verändert wird, für die er doch gebaut wurde […]. Wenn jeder seinen Platz eingenommen hat, taucht das Publikum zwei Stunden lang in einen Bilderfluß ein, aus dem es wie aus einem Traum erwacht, wenn es den Ort verläßt, an dem es nichts mehr zu tun gibt. Das Theater der Illusion lebt von dem Kinopublikum, das den gleichen Film sieht und ihn doch verschieden erlebt. Die Filmerfahrung ist zwar kollektiv eingeübt, doch verwandelt der einzelne unbemerkt die filmischen in die eigenen Bilder.« (Belting 2001, 79)102 101 Vgl. Brougher 2005, 23: »By leaving the shutter open throughout the screening, an entire film is compressed into a single, iconic, white rectangle that speaks of many things: of abstract painting and radiant windows, of Zen voids and minimalism, and ultimately, in light of the film’s absence, of the disappearance of the classic cinema and the decline of these grand twentieth-century cathedrals«. Ähnlich schreibt Nancy Spector: »The series of theater interiors and drive-ins certainly evokes a bygone era, when entertainment was still a communal activity and cinema vied with religion to capture America’s collective unconscious« (Spector 2000, 14). 102 Belting versteht das Kino somit nicht als Ort der Produktion von Wahrnehmungsereignissen, sondern primär als Ort der Projektion, d.h. als Raum, in dem »wir im Gehäuse unse-
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Beltings Interpretation der Bilder Sugimotos basiert demnach auf einer strengen Unterscheidung zwischen dem sichtbaren Raum und der leeren weißen Leinwand. Im Gegensatz zur scheinbar stabilen Materialität des Raumes begreift er die Leinwand nämlich als Symbol für die »Vergänglichkeit der Bilder« (Belting 2001, 76), die sich seiner Analyse des Kinos zufolge primär als mentale Bilder manifestieren. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob der dualistische Kontrast zwischen der Materialität der Kinosäle und der Flüchtigkeit der Kinobilder nicht vielmehr als ironische Geste Sugimotos gegenüber dem Thema der Vergänglichkeit zu deuten ist. Denn trotz der offenbaren Stabilität der von ihm fotografierten Filmpaläste, befinden sich auch diese freilich in der Zeit und weisen allenfalls eine längere Dauer auf als der an die Leinwand projizierte (und sofort wieder erloschene) Film.103 Bezeichnenderweise ist es tatsächlich so, dass viele der glamourösen Filmtheater aus Sugimotos Serie schon heute nicht mehr existieren, da sie – parallel zur Krise des Kinos – u.a. für Videotheken oder Einkaufszentren weichen mussten. Wie die Ruinen Vergaras lassen sich somit auch die Theaters von Sugimoto als Epitaphe einer Ära begreifen, die dem »Fortschritt« nicht standgehalten hat.104 Was Sugimotos Bilder indes so eindrucksvoll macht, ist die seltsame Erfahrung, die sie dem Betrachter verschaffen, sobald dieser bemerkt, dass sein Blick gewissermaßen in die Dauer eintritt. In dieser Hinsicht kann die Theaters-Serie als der wohl radikalste fotografische Versuch gelten, eine direkte Präsentation der Zeit zu bewerkstelligen. Denn anders als etwa bei Muybridge wird der Fluss der Zeit bei Sugimoto nicht abrupt gestoppt, so dass seine Bilder gerade keine Momentansichten darstellen, sondern eine Transformation der Fotografie vom »Standbild« in eine Art »Denkbild« bewirken. De facto wird die Zeit zwar auch hier wieder verräumlicht, doch geschieht res Körpers auf Bilder starren, die wir selbst auf die Welt projizieren« (Belting 2001, 7778). Folglich kann das Kino dem Zuschauer lediglich solche Bilder liefern, die dieser bereits kennt oder für die er – ausgehend von der eigenen Subjektposition – überhaupt aufnahmefähig ist. Dabei ließe sich auch genau umgekehrt argumentieren, dass der Filmzuschauer derart von der kinematographischen Maschine absorbiert wird, dass er seine Subjektposition (zumindest temporär) »vergisst« (vgl. Fried 2008, 40). Laut Belting ist der Zuschauer im Kino jedoch fortwährend mit der Reterritorialisierung des Bilderstroms beschäftigt, so dass der Film als Wahrnehmungsereignis allenfalls in dem Maße fungiert, wie es dem Subjekt gelingt, eine vergangene Erfahrung zu »aktualisieren«. Das Problem dieser Perspektive besteht darin, dass sowohl die transformative Kapazität des Kinos als auch die Transformationsfähigkeit des Subjekts unterschätzt werden, wobei letzteres als immer schon konstituiert begriffen wird (anstatt in einem fortwährenden Prozess des konstituiert-und-desorganisiert-Werdens, der Reterritorialisierung und Deterritorialisierung). 103 Vgl. Bryson 2000, 54: »Two distinct speeds are in play. There is the rapid, twenty-fourframes-per-second movement of the film, and the accelerated, intensified tempo of the filmic narrative – these disappear into the white hole of the cinema screen; while from the margins emerges an object-world built to last, the time of architecture. In fact, this is transient also […]; it cannot be long before [Sugimoto’s theaters], too, are swept away. The container (the theater) and the contained (the movie) are both subject to the same flows of time, differing only in the relative speeds of their disappearance«. 104 Zur Blütezeit der amerikanischen »Movie Palaces« in den 1920er Jahren, vgl. Slowinska 2005.
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dies nun in völligem Gegensatz zum traditionellen Anspruch der Fotografie auf Objektivität und Repräsentation. Denn auf der Leinwand gibt es buchstäblich nichts zu sehen, d.h. nichts außer jenem blendend weißen Lichtfeld, das keine und alle Bilder des abgelaufenen Films zugleich enthält, das also virtuell enthält, was es aktuell verbirgt. Es handelt sich folglich um keine transzendente Form des Nichts oder der Abwesenheit, sondern um die von Rechts wegen bestehende Unrepräsentierbarkeit der Dinge, sofern man diese nicht objektiviert und stattdessen im ontologischen Kontext der Immanenz des Werdens denkt. Die leuchtende Leinwand stellt daher kein Loch, keine Leerstelle dar, sondern ein Bild der Zeit und des Unrepräsentierbaren, das nun sinnlich erfahrbar geworden ist. Sugimotos Theaters kann dementsprechend eine Repräsentationskritik bescheinigt werden, die – anders als in den Cultural Studies und der Kunst der Postmoderne üblich – auf keiner Dialektik von Sein und Schein, Original und Abbild oder Wahrem und Falschem beruht. Anstelle dessen wird mit Blick auf den Grund des Unrepräsentierbaren ausdrücklich auf den temporalen Charakter der Wirklichkeit verwiesen. In diesem Sinne handelt es sich um eine Repräsentationskritik, die dezidiert auf der Ebene des Ontologischen ansetzt und mit den Mitteln der Fotografie zu einer visuellen Problematisierung der repräsentationslogischen Voraussetzungen kommt, auf deren Grundlage die Realität für gewöhnlich wahrgenommen wird. Obwohl also das Medium, mit dem Sugimoto arbeitet, von Rechts wegen einer (objektivistischen) Ästhetik der Repräsentation verpflichtet ist, gelingt es seinen Bildern, den Betrachter mit einer prozessualen Konzeption der Welt zu konfrontieren, die sich mit Deleuzes Ontologie der Immanenz und des Werdens vereinbaren lässt.105 Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass sich der zeit- und bewegungstheoretische Ansatz, mit dem im vorliegenden Kapitel auf die (amerikanische) Geschichte der Fotografie geblickt wurde, als durchaus ergiebig erwiesen hat. Denn trotz der vermeintlichen Immobilität und »Statik« des fotografischen Bildes, hat sich gezeigt, dass es im gesamten Verlauf der Fotografiegeschichte zu vielfältigen Auseinandersetzungen mit Zeit und Bewegung gekommen ist. So ging es Muybridge darum, den objektivistischen Grundlagen des fotografischen Bildes im Rahmen der Momentfotografie zu ihrer vollen Entfaltung zu verhelfen, um hierdurch eine Objektivierung der Bewegung zu erreichen. Im 20. Jahrhundert ist es dann zu einer zunehmenden Problematisierung dieser Grundlagen gekommen, wobei die drei behandelten Strategien auf je verschiedene Weise zu einer alternativen Temporalisierung des fotografischen Bildes beigetragen haben. So wird Muybridges gleichermaßen lineares wie objektivistisches Bewegungsideal im Rahmen von Robert Franks »Street Photography« mit der Konzeption einer spontanen und abweichenden Bewegung konfrontiert, der auch kein lineares Schema mehr zugrunde liegt; in der »Rephotography« dient das fotografische Bild der Veranschaulichung einer Welt des Werdens und der Veränderung, wobei nun nicht mehr die Bewegung im Fokus steht, sondern die Dauer; und in der Theaters-Serie von Sugimoto kommt es zu einer ontologisch fundierten Repräsentationskritik, wobei die temporale Verfasstheit der Realität den Grund für ihre mangelnde Repräsentierbarkeit darstellt. Von allen drei Strategien 105 Zu den allgemeinen Möglichkeiten von Kunst und Ästhetik, den Betrachter in ontologische Fragestellungen zu verwickeln, vgl. (in Bezug auf die Malerei von Piet Mondrian und Willem de Kooning) Pickering 2007, 63-86.
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lässt sich dementsprechend behaupten, dass sie – auf mehr oder weniger erfolgreiche Weise – den von Deleuze bemängelten Eigenschaften des fotografischen Bildes entgegenwirken. Indem sie Zeit und Bewegung nämlich als konstitutive Grundelemente der Wirklichkeit ins Bild setzen, verweigern sie sich der klassischen Vorstellung, die Fotografie würde lediglich Abziehbilder einer objektivierbaren Welt der Dinge hervorbringen. Die Fotografie bleibt somit zwar weiterhin auf die Wirklichkeit bezogen; doch stellt sich dieser Bezug nun wesentlich komplexer dar als im klassischen Diskurs über den fotografischen Realismus.
Schluss
In dieser nun abzuschließenden Studie wurden unterschiedliche Aneignungs- und Gebrauchsmöglichkeiten der Philosophie von Deleuze im Kontext der Amerikanistik und der Cultural Studies demonstriert. Dem Projekt lag dabei die Annahme zugrunde, dass sich ausgehend von der Auseinandersetzung mit Deleuzes Philosophie ein dezidiert »komplexer« Begriff von Kultur entwickeln lässt, der sich – zumindest in einigen wesentlichen Punkten – vom Kulturbegriff des Cultural-Studies-Mainstreams unterscheidet und die amerikanistische Praxis bereichern könnte. Dieser komplexe Begriff von Kultur fungiert gewissermaßen als roter Faden der Studie, auch wenn er in deren Verlauf eher implizit als explizit zur Darstellung gekommen ist. Explizit diskutiert und definiert wurde er vor allem in der Einleitung: Kultur, so ist hier gesagt worden, lässt sich mit Deleuze als »komplex« bestimmen, da sie sich in zeitlicher und räumlicher Hinsicht als prinzipiell heterogene Zusammensetzung begreifen lässt, die aus einer Vielzahl sich überlagernder Gefüge, Logiken, Routinen und Funktionen besteht. Kultur, in all ihren Aspekten, hat einen zeitlichen Charakter, da ihre jeweilige Identität oder Besonderheit aus dem kollektiven Zusammenwirken mannigfaltiger Akteure resultiert, deren zahllose Handlungen sich fortlaufend wiederholen, d.h. genauer: sich wiederholen müssen, um die entsprechende kulturelle Formation – auf diese oder jene Weise – fortdauern zu lassen. Die Zeit der Kultur ist zudem als wesentlich »heterochron« oder »polychron« zu begreifen, wobei stets verschiedene Zeiten miteinander koexistieren und sich wechselseitig durchdringen (vgl. Serres 1994, 96-105). In der Philosophie von Deleuze wird auf diese Art der zeitlichen Koexistenz besonders mit Blick auf die Beziehung von »Aktualität« und »Virtualität« verwiesen, deren zeit- und entwicklungstheoretische Implikationen in der vorliegenden Studie vor allem im Kontext des Films behandelt wurden. Ein weiterer zentraler Aspekt des Begriffs der kulturellen Komplexität betrifft Deleuzes Kritik an »kulturellem Solipsismus« (Massumi 2002a, 39) und dem »Imperialismus des Signifikanten« (TP 93). Dies heißt genauer, dass ein komplexer Begriff von Kultur nicht allein mit Symbolen, Metaphern oder Diskursen zu tun hat, sondern ebenso sehr mit den nicht-sprachlichen Aspekten des Lebens, die für den Raum von Kultur und Gesellschaft keinesfalls irrelevant sind. Konträr zu der Annahme, dass der gesamte kulturelle Raum ausgehend von einer zentralen – in der Regel symbolisch gefassten – Instanz prozessiert wird, meint kulturelle Komplexität ein wechselseitiges Verhältnis, in dem menschliche und nicht-menschliche Akteure auf komplexe Weise verkoppelt sind. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Konzept der kulturellen Komplexität maßgeblich von solchen (sozial- oder kulturkonstruktivistischen)
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Ansätzen, in denen Kultur primär als »symbolische Ordnung« oder – in den Worten Stuart Halls – als System von »shared meanings« verstanden wird (Hall 2003, 1).1 Zu den Implikationen dieser Ansätze (gewissermaßen der »Mainstream« der Cultural Studies) schreibt Brian Massumi: »A common thread running through the varieties of social constructivism currently dominant in cultural theory holds that everything, including nature, is constructed in discourse. The classical definition of the human as the rational animal returns in new permutation: the human as the chattering animal. Only the animal is bracketed: the human as the chattering of culture. This reinstates a rigid divide between the human and the nonhuman, since it has become a commonplace, after Lacan, to make language the special preserve of the human [...]. Social constructivism easily leads to a cultural solipsism [...]. In this worst-case solipsist scenario, nature appears as immanent to culture (as its construct). At best, when the status of nature is deemed unworthy of attention, it is simply shunted aside. In that case it appears, by default, as transcendent to culture (as its inert and meaningless remainder). Perhaps the difference between best and worst is not all that it is cracked up to be. For in either case, nature as nurturing, nature as having its own dynamism, is erased. Theoretical moves aimed at ending Man end up making human culture the measure and meaning of all things in a kind of unfettered anthropomorphism precluding – to take one example – articulations of cultural theory and ecology. It is meaningless to interrogate the relation of the human to the nonhuman if the nonhuman is only a construct of human culture, or inertness. The concepts of nature and culture need serious reworking, in a way that expresses the irreducible alterity of the nonhuman in and through its active connection to the human and vice versa.« (Massumi 2002a, 38-39)
Dem von Massumi beschriebenen Hang zu »kulturellem Solipsismus« im Kontext des Sozialkonstruktivismus und der Cultural Studies steht Deleuzes Philosophie auch deshalb entgegen, da es ihr generell weniger um Signifikation, Diskurs und Bedeutung als um die Materialität des Körpers und die gesellschaftliche Rolle von Affekt und Begehren geht. Darüber hinaus wird dem Verhältnis von »Natur« und »Kultur« im Werk von Deleuze eine wesentlich komplexere Konzeption zugrunde gelegt, wobei auf die »Nachbarschaft und wechselseitige Durchdringung« der »disparatesten Dinge und Zeichen« (TP 98) verwiesen wird. Dementsprechend wird die klassische Trennung der beiden Bereiche grundsätzlich in Frage gestellt und tendenziell durch die an Hjelmslev orientierte Unterscheidung zwischen Elementen des »Inhalts« und Elementen des »Ausdrucks« ersetzt, die beide auf derselben ontologischen Ebene verortet werden. Hieraus resultiert ferner, dass nun auch der Dualismus von Realität und Repräsentation in Frage steht: Sprache »repräsentiert« also keine nicht-sprach1
In Halls Text wird zudem deutlich, dass der Kulturbegriff des Cultural-Studies-Mainstreams oftmals weitgehend analog zur klassisch-humanistischen Trennung von »Kultur« und »Natur«, dem menschlichen und dem nicht-menschlichen Bereich konzipiert ist: »Culture, we may say, is involved in all those practices which are not simply genetically programmed into us – like the jerk of the knee when tapped – but which carry meaning and value for us, which need to be meaningfully interpreted by others, or which depend on meaning for their effective operation. Culture, in this sense, permeates all of society. It is what distinguishes the ›human‹ element in social life from what is simply biologically driven« (Hall 2003, 3).
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liche Wirklichkeit mehr, sondern ist an der Konstitution von Wirklichkeit mitbeteiligt. Nachdem das Konzept der kulturellen Komplexität und die Ziele der Studie in der Einleitung dargelegt wurden, ging es im ersten Teil zunächst darum, die wesentlichen Aspekte von Deleuzes Philosophie verständlich zu machen. Dabei lag der Fokus besonders auf denjenigen Aspekten seines Werkes, die mit Blick auf den amerikanistischen und kulturwissenschaftlichen Kontext der Studie relevant erschienen. Um die Grundgedanken von Deleuzes Philosophie zu veranschaulichen, war es zudem notwendig, auch auf diejenigen Autoren Bezug zu nehmen, die sein Denken unmittelbar geprägt haben. Hinsichtlich Deleuzes Immanenz- und Affektbegriff wurde somit auf Spinoza verwiesen, Bergson wurde im Kontext der Zeitphilosophie (und später des Kinos) behandelt und auf Nietzsche wurde als Vertreter eines »neuen Bildes des Denkens« rekurriert, der die Entwicklung von Deleuzes Philosophie in mehrfacher Hinsicht grundlegend beeinflusst hat. Neben der Darstellung der ontologischen Prämissen von Deleuzes »Philosophie der Immanenz und des Werdens« (besonders in Kap. 1 und 2) ist in zwei umfangreichen Kapiteln auch auf die Literatur und das Kino eingegangen worden (Kap. 3 und 4). Hierbei ging es zunächst darum, die konzeptuellen Besonderheiten von Deleuzes Zugang zu den beiden Medien anschaulich zu machen und sie denjenigen Ansätzen gegenüberzustellen, die in der Amerikanistik und den Cultural Studies lange Zeit besonders einflussreich waren (und dies vielfach auch noch sind). Am Beispiel von Deleuzes Konzept der »minoritären Literatur« und Romanen wie Huckleberry Finn oder der Lyrik Walt Whitmans wurde dabei auch verdeutlicht, wie eine an Deleuzes Konzeption des Literarischen orientierte Lektüre der amerikanischen Literatur aussehen könnte. Ebenso wurde am Beispiel von Filmen wie The Birth of a Nation oder Schindler’s List eine mögliche Herangehensweise an den amerikanischen Film aufgezeigt, die sich an Deleuzes Philosophie des Kinos orientiert. Im jeweils letzten Abschnitt der beiden Kapitel (Kap. 3.5 und 4.5) wurde darüber hinaus die Frage diskutiert, weshalb dem amerikanischen Film und der amerikanischen Literatur in Deleuzes Philosophie ein derart unterschiedlicher Stellenwert zukommt. Im Hinblick auf den weiteren Verlauf der Untersuchung hatten die Kapitel über die Literatur und das Kino in Teil I auch eine quasi »vorbereitende« Funktion, da hier die zentralen Begriffe einer an Deleuzes Philosophie orientierten Herangehensweise an die beiden Medien bereitgestellt wurden, auf die in den ersten beiden Kapiteln des zweiten Teils der Studie dann auf je spezifische Weise Bezug genommen werden konnte. So stand im ersten Kapitel von Teil II (»Deleuze und Moby-Dick«) mit Herman Melvilles Moby-Dick (1851) einer der bekanntesten Romane der amerikanischen Literaturgeschichte im Fokus, der auch im Kontext der Amerikanistik – von der »Myth-and-Symbol«-School bis zu den New Americanists – eine bedeutende Rolle spielt. Im folgenden Kapitel (»Vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild: Deleuze und der Westernfilm«) wurde dann vom Medium der Literatur zum Medium des Films gewechselt, um mithilfe von Deleuzes Filmphilosophie das Genre des Westernfilms in den Blick zu nehmen. Das letzte Kapitel der Studie widmete sich abschließend der Fotografie, wobei verdeutlicht werden sollte, dass Deleuzes Zeitphilosophie – trotz dessen expliziter »Skepsis« gegenüber dem Medium – den Diskurs über das fotografische Bild wesentlich bereichern könnte.
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Den ausgewählten Medien und Werken kommt im zweiten Teil des Buches somit auch ein wesentlich demonstrativer Charakter zu, da sie als Beispiele dafür herangezogen wurden, dass sich im Kontext von Amerikanistik und Cultural Studies auf fruchtbare Weise mit Deleuze arbeiten lässt. Gleichwohl liegt auf der Hand, dass sich der Wert der Studie allein daran keinesfalls bemessen kann. Der Wert einer von Deleuze inspirierten Analyse der Literatur, des Films und der Fotografie bemisst sich vielmehr mit Blick auf die Frage, ob es hierbei gelingt, etwas denk- und reflektierbar zu machen, das nicht schon ohne die spezifische Aneignung dieser Philosophie (in gleicher Weise) denkbar gewesen wäre. Anders gesagt: In der entsprechenden Aneignung muss ein Gebrauchswert erkennbar werden, der sich nicht in der rein demonstrativ-exemplarischen Funktion erschöpft, sondern sich in den konkreten Analysen selbst manifestiert. Da die Antwort auf die Frage, ob dies der vorliegenden Studie gelungen ist oder nicht, folglich allein in den jeweiligen Kapiteln selbst zum Ausdruck kommt, wäre es müßig, deren allgemeine »Ergebnisse« nun abschließend pauschal zusammenzufassen. Es liegt jedoch nahe, zumindest noch einmal auf jene Aspekte näher einzugehen, die die drei Einzelanalysen im zweiten Teil der Studie mit dem Begriff der kulturellen Komplexität zusammenbringen, der dem Buch insgesamt zugrunde liegt. Im ersten Kapitel von Teil II (»Deleuze und Moby-Dick«) ging es in dieser Hinsicht zunächst darum, herauszustellen, dass sich die zeittheoretischen Implikationen von Melvilles Roman »komplexer« darstellen als in denjenigen amerikanistischen Interpretationen, die (wie die »Myth-and-Symbol«-School) entweder die »Zeitlosigkeit« des Romans oder (wie die New Americanists) seine »Zeitbedingtheit« hervorheben. Mit der Betonung des unzeitgemäßen Charakters von Melvilles Klassiker ist versucht worden, diesem Dualismus – der auf einer zu simplen zeitlichen Opposition beruht – entgegenzuwirken. Dabei sollte u.a. gezeigt werden, dass sich in Moby-Dick grundsätzlich verschiedene Zeiten überlagern, was auch mit dem Sujet des Romans, nämlich dem Walfang zusammenhängt, der zugleich mit einer (vorkapitalistischen) Zeit der Langeweile wie einer (kapitalistischen) Zeit der Beschleunigung korrespondiert. Ferner sollte durch die Qualifizierung des Romans als »unzeitgemäß« auch die Frage nach dem literarischen Gebrauchswert neu aufgeworfen werden. Insofern in vielen literaturwissenschaftlichen Ansätzen der letzten Jahre nämlich eine dezidiert historische oder historistische Herangehensweise an das Medium dominiert (New Historicism), stellt sich die Frage, welcher Gebrauchswert einem Buch wie MobyDick eigentlich mit Blick auf die heutige Gegenwart (im Kontext der Gegenwart und für die Gegenwart) zukommt. Ausgehend vom Begriff des Unzeitgemäßen ließe sich in dieser Hinsicht zumindest der Versuch unternehmen, eine Art des Bezugs zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu denken, in dem die literarischen Werke vergangener Zeiten nicht mehr nur von historischem Nutzen wären, sondern auf direktere Weise mit der Gegenwart kommunizierten. Im Hinblick auf den Begriff der kulturellen Komplexität ist das »Moby-Dick«Kapitel zudem noch auf mindestens zweierlei Weisen relevant: Erstens wurde aufgezeigt, dass Melvilles Roman durch die Charakterisierung Ahabs als »Rebell und Tyrann zugleich« (Fluck 1997, 235) den konventionellen (und auch in den Cultural Studies weit verbreiteten) Dualismus von »Subversion« und »Hegemonie« verkompliziert. Zwar ist es nicht so, dass der Roman die Grenze zwischen Souverän und multitudo vollkommen auflösen würde; er veranschaulicht jedoch, dass Souveränität in
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letzter Instanz von der »Macht der Menge« abhängt, die es im Rahmen jeder Form von Regierung daher zu vereinnahmen gilt. Wie in Moby-Dick deutlich wird, kommt dem Affekt dabei eine entscheidende Rolle zu. So beruht nämlich Ahabs Kontrolle über die Pequod ganz wesentlich auf einer »Politik des Affekts«, die umso effektiver ist, als sie auf einer subrepräsentativen Ebene ansetzt. Melvilles Roman macht demnach die generelle Komplexität der Machtbeziehungen sichtbar, die keiner simplen Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, Widerstand und Subversion entspricht (und auch nicht allein durch Ideologiekritik zu bestimmen ist). Insofern verweist Ahabs Affektpolitik – die weder auf das Symbolische noch einfach auf die Ideologie reduzibel ist – auf eine Konzeption der Macht, die sich deutlich vom Machtbegriff des Cultural-Studies-Mainstreams unterscheidet. Der letzte Aspekt von Melvilles Roman, der nun abschließend hervorgehoben werden soll, betrifft die spezifische Konzeption des Verhältnisses von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, die ebenfalls Gegenstand des Moby-Dick-Kapitels war. Da Melville den weißen Wal grundsätzlich als »Akteur« zu erkennen gibt, der sich dem Versuch der vereinnahmenden Objektivierung aktiv entzieht, verschiebt er nicht nur die traditionelle Grenze zwischen Mensch und Tier, sondern stellt auch die allgemeinere Unterscheidung von Subjekt und Objekt in Frage. Wie sich mit Bezug auf Latours Akteur-Netzwerk-Theorie argumentieren lässt, kommt es hierdurch zu einer »ganz andere[n] Präsentation von Menschen und nicht-menschlichen Wesen« (Latour 2010, 109), denen nun eingeräumt wird, sich auf vielfältige Weise zu »assoziieren«. Melvilles Roman impliziert folglich einen erweiterten Handlungsbegriff, laut dem – anders als im Falle der anthropozentrischen Unterscheidung von Subjekt und Objekt – auch nicht-menschliche Wesen als Akteure gelten können. Der klassischen Konzeption, die gemäß einer kategorischen Aufteilung operiert, stellt Melville somit (unabhängig davon, ob er dies im Einzelnen beabsichtigt hat) ein komplexeres Bild entgegen, in dem sich die möglichen Akteure als zahlreicher und ihre Relationen zueinander als vielfältiger darstellen. Im zweiten Kapitel von Teil II (»Vom Bewegungs-Bild zum Zeit-Bild: Deleuze und der Westernfilm«) lag der Begriff der kulturellen Komplexität zunächst der Auseinandersetzung um die Frontiermythologie zugrunde. Der Mythos selbst basiert freilich auf einer wesentlichen Reduktion von Komplexität, da er eine gleichermaßen teleologische wie ethnozentrische Vorstellung des Verhältnisses von »Zivilisation« und »Wildnis« transportiert, in der die Rollen und Zeiten streng verteilt sind. So geht es etwa in Frederick Jackson Turners berühmter Frontierthese primär darum, dass aus dem Europäer ein Amerikaner wird, wobei die Art des Kontakts zwischen »weißem Pionier« und »unzivilisiertem Indianer« immer schon feststeht. In Mary Louise Pratts Modell der contact zone dagegen tritt das Gebiet der frontier als prinzipiell heterogener Raum in Erscheinung, in dem sich unterschiedliche Logiken und Praktiken überkreuzen, aus deren (weithin asymmetrischer) Konfrontation etwas unabsehbar Neues resultieren kann. Pratt geht es vor allem darum, die Kolonisierten nicht bloß als Opfer oder Objekte einer kolonialen Logik, sondern auch als Akteure zur Darstellung zu bringen, um so die Geschichte der Kolonisierung nicht mehr ausschließlich »from the invader’s perspective« erzählen zu lassen. In diesem Zusammenhang kommt mithin auch ein generell anderes Handlungsmodell zum Vorschein, das der Komplexität der Relationen und Kontakte, die sich im Raum der frontier ereignen, Rechnung trägt: »A ›contact‹ perspective […] treats the relations among colonizers and colonized, or
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travelers and ›travelees‹, not in terms of separateness, but in terms of co-presence, interaction, interlocking understandings and practices, and often within radically asymmetrical relations of power« (Pratt 2008, 8). Auch wenn der Frontiermythos bereits in den revisionistischen Arbeiten Richard Slotkins einer grundlegenden Kritik unterzogen wird, fungiert er hier noch als Zentrum eines weitgehend homogenen kulturellen Raumes, von dem aus die menschlichen Praktiken und Denkweisen bestimmt werden. Anders als Slotkin geht es Pratt jedoch nicht um eine bloße Delegitimierung des dominanten Modells, sondern um eine tatsächliche Dezentrierung. Darüber hinaus stellt sich Kultur für Pratt nicht primär als übergeordnetes Bedeutungssystem oder »symbolische Ordnung« dar, sondern buchstäblich als »Kontaktzone«, in der sich die Praktiken einer Vielzahl von heterogenen Akteuren überlagern, durchmischen und wechselseitig durchdringen. Es lässt sich somit argumentieren, dass das Modell der contact zone in vielfacher Hinsicht mit dem Konzept der kulturellen Komplexität korrespondiert und sich – auch wenn im Einzelnen sicherlich Unterschiede existieren – mit dem Rhizom-Modell von Deleuze und Guattari zusammenbringen lässt (TP 11-42). Aus dieser Perspektive heraus wird ein Bild des amerikanischen Westens sichtbar, das nun nicht mehr »mythologisch« zu bestimmen ist, sondern sich als grundsätzlich »rhizomatisch« darstellt (vgl. Campbell 2008). Wie im Verlaufe des Westernkapitels deutlich geworden ist, lässt sich dieses rhizomatische Bild des Westens z.B. in Jim Jarmuschs Film Dead Man ausfindig machen, der sich von allen analysierten Filmen auch am ehesten mit dem Begriff der kulturellen Komplexität verbinden lässt. So verwandelt Jarmusch die frontier in eine Art »Nachbarschaftszone« (KK 107) oder »Niemandsland«, in dem es – wie besonders am Beispiel der Beziehung zwischen den Protagonisten Nobody und Blake deutlich wird – zu vielfältigen Formen von Vermittlung, Durchmischung, Austausch und Werden kommt: »Das Werden ist ein Block (Linien-Block), weil es eine Zone der Nachbarschaft und Ununterscheidbarkeit bildet, ein Niemandsland, eine nicht lokalisierbare Beziehung, die die beiden entfernten oder angrenzenden Punkte mitreißt und den einen in die Nachbarschaft des anderen trägt« (TP 400). Dead Man weist zudem auch wesentliche Aspekte des Kinos des Zeit-Bildes auf und operiert folglich mit einer komplexen Konzeption der kinematographischen Zeit. So kommt es mehrfach zur Unterbrechung des linearen Handlungsverlaufs durch die Darstellung »rein optischer Situationen« (ZB 13). Analog dazu wird die aktuelle Gegenwart immer wieder mit Zeit-Bildern einer traumatischen Vergangenheit konfrontiert, von der sie sich nicht zu lösen vermag und mit der sie auf heterochrone Weise koexistiert. Dem Begriff der kulturellen Komplexität ist das letzte Kapitel des Buches – »Deleuze und die (amerikanische) Fotografie« – insbesondere dahingehend verpflichtet, als es hier darum ging, eine Konzeption des fotografischen Bildes zu entwickeln, die den klassischen Diskurs über den fotografischen Realismus auf der Grundlage einer komplexeren Konzeption der Zeit konfrontiert. So basiert die klassische Bestimmung der Fotografie, gemäß der das Medium aufgrund seiner Indexikalität quasi als »Mutter des Realismus« (Stiegler 2006, 417) fungiert, in der Regel auf einer statischen Konzeption der Wirklichkeit. Genauer gesagt: Wenn der Fotografie im Rahmen dieses Diskurses eine besondere Realitätsnähe bescheinigt wird, dann wird unter der Hand mit einem reduktiven Begriff des Realen operiert, das – analog zur temporalen Verfasstheit des fotografischen Bildes – als prinzipiell statisch begriffen wird. Dieser
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(in ontologischer Hinsicht) statische Charakter der Fotografie begründet zudem die Skepsis, mit der Deleuze dem Medium generell begegnet ist. Denn anders als das kinematographische Bild, in dem Zeit und Bewegung »unmittelbar gegeben« sind (BB 14), ist das Foto Deleuze zufolge nicht in der Lage, den Gegenstand in kontinuierlicher Variation zu erfassen, sondern manifestiert sich als bloße Kopie oder Abziehbild einer stummen Welt der Dinge. Dem Kapitel über die Fotografie ging es in dieser Hinsicht darum, auf Deleuzes weitgehend »formale« Zurückweisung des Mediums mit einem genaueren Blick in dessen Entwicklungsgeschichte zu antworten. Dabei wurde der Versuch unternommen, in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen fotografischen Praktiken zu einer spezifischeren Bestimmung der fotografischen Zeit zu gelangen. Zwar kann es dem fotografischen Bild ontologisch niemals gelingen, seine temporalen Beschränkungen tatsächlich zu überwinden; es gelingt ihm jedoch durchaus, zeitliche Komplexität »zu implizieren« und so den Betrachter mit der Darstellung einer poly- oder heterochronen Konzeption der Wirklichkeit zu konfrontieren. Wie im Laufe des Kapitels verdeutlicht wurde, gelingt dies etwa im Rahmen verschiedener »Re-Photography«-Projekte, in denen der zeitliche Charakter der Wirklichkeit nun ausdrücklich als Gegenstand der fotografischen Praxis fungiert. Auf besonders eindrucksvolle Weise gelingt dies zudem in der Theaters-Serie von Hiroshi Sugimoto, deren Darstellung zeitlicher Komplexität mit einer Kritik der Repräsentation einhergeht, die (im Gegensatz zu den gängigen Spielarten der postmodernen Repräsentationskritik) auf keiner simplen Dialektik von Sein und Schein, Original und Kopie basiert, sondern sich als dezidiert zeitliche manifestiert. Sugimotos fotografische Praxis verweist somit implizit auf eine ontologische Konzeption der Zeit – oder besser: eine zeitliche Konzeption der Ontologie –, die der Philosophie von Deleuze in wesentlichen Punkten entspricht.
Siglenverzeichnis
Zur Bezeichnung der Schriften von Deleuze werden die folgenden Siglen verwendet. Die genauen bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. AÖ
Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie 1 (mit Félix Guattari)
AV
»Das Aktuelle und das Virtuelle«
BB
Das Bewegungs-Bild. Kino 1
D
Dialoge (mit Claire Parnet)
DH
David Hume
DW
Differenz und Wiederholung
EI
Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974
F
Foucault
FB
Francis Bacon – Logik der Sensation
HB
Henri Bergson zur Einführung
IM
»Die Immanenz: ein Leben…«
K
Kafka: Für eine kleine Literatur (mit Félix Guattari)
KK
Kritik und Klinik
KP
Kants kritische Philosophie
KS
Kleine Schriften
LB
Die Falte. Leibniz und der Barock
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LS
Logik des Sinns
NL
Nietzsche. Ein Lesebuch
NP
Nietzsche und die Philosophie
PM
»Philosophie und Minorität«
PP
Spinoza: Praktische Philosophie
PZ
Proust und die Zeichen
S
Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie
SG
Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995
SM
»Sacher-Masoch und der Masochismus«
TP
Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2 (mit Félix Guattari)
U
Unterhandlungen 1972-1990
WP
Was ist Philosophie? (mit Félix Guattari)
ZB
Das Zeit-Bild. Kino 2
Literaturverzeichnis
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Filmverzeichnis
12 Angry Men (Regie: Sidney Lumet. USA, 1957) 24 (TV-Serie, USA, 2001-2010) 2001: A Space Odyssey (Regie: Stanley Kubrick. USA/GB, 1968) A Fistful of Dollars (Regie: Sergio Leone. Italien/Spanien, 1964) A Letter to Three Wives (Regie: Joseph L. Mankiewicz. USA, 1949) All About Eve (Regie: Joseph L. Mankiewicz. USA, 1950) Bringing Up Baby (Regie: Howard Hawks. USA, 1938) Brokeback Mountain (Regie: Ang Lee. USA/Kanada, 2006) Broken Arrow (Regie: Delmer Daves. USA, 1950) Bronenossez Potjomkin (Regie: Sergei Eisenstein. Sowjetunion, 1925) Butch Cassidy and the Sundance Kid (Regie: George Roy Hill. USA, 1969) Cheyenne Autumn (Regie: John Ford. USA, 1964) Citizen Kane (Regie: Orson Welles. USA, 1941) Cowboys & Aliens (Regie: Jon Favreau. USA, 2011) Dances with Wolves (Regie: Kevin Costner. USA, 1990) Dead Man (Regie: Jim Jarmusch. Deutschland/Japan/USA, 1995) Deadwood (TV-Serie, USA, 2004-2006) Django (Regie: Sergio Corbucci. Italien/Spanien, 1966) Django Unchained (Regie: Quentin Tarantino. USA, 2012) Doctor Who (TV-Serie, GB, 1963-1989, 2005-) Dodge City (Regie: Michael Curtiz. USA, 1939) Down by Law (Regie: Jim Jarmusch. Deutschland/USA, 1986) Drums Along the Mohawk (Regie: John Ford. USA, 1939) Duel in the Sun (Regie: King Vidor. USA, 1946) El Dorado (Regie: Howard Hawks. USA, 1966) El Topo (Regie: Alexander Jodorowsky. Mexiko, 1970). Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Regie: Michel Gondry. USA, 2004) Europa ’51 (Regie: Roberto Rossellini. Italien, 1952) Fight Club (Regie: David Fincher. Deutschland/USA, 1999) Foreign Correspondent (Regie: Alfred Hitchcock. USA, 1940) Fort Apache (Regie: John Ford. USA, 1948) Forty Guns (Regie: Samuel Fuller. USA, 1957) For Whom the Bell Tolls (Regie: Sam Wood. USA, 1943) Germania, anno zero (Regie: Roberto Rossellini. Italien/Deutschland, 1947) Geronimo: An American Legend (Regie: Walter Hill. USA, 1993)
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Ghost Dog: The Way of the Samurai (Regie: Jim Jarmusch. USA, 1999) Glen and Randa (Regie: Jim McBride. USA, 1971) Gone With the Wind (Regie: Victor Fleming. USA, 1939) Greaser’s Palace (Regie: Robert Downey. USA, 1972) High Noon (Regie: Fred Zinnemann. USA, 1952) High Plains Drifter (Regie: Clint Eastwood. USA, 1973) Hiroshima mon amour (Regie: Alain Resnais. Frankreich/Japan, 1959) How Green Was My Valley (Regie: John Ford. USA, 1941) I Was a Male War Bride (Regie: Howard Hawks. USA, 1949) Johnny Guitar (Regie: Nicholas Ray. USA, 1954) L’Abécédaire de Gilles Deleuze (Regie: Pierre-André Boutang. Frankreich, 1988-89) L’année dernière à Marienbad (Regie: Alain Resnais. Frankreich/Italien, 1961) Little Big Man (Regie: Arthur Penn. USA, 1970) Lola rennt (Regie: Tom Tykwer. Deutschland, 1998) Lone Star (Regie: John Sayles. USA, 1996) Lost (TV-Serie, USA, 2004-2010) Major Dundee (Regie: Sam Peckinpah. USA, 1965) Man of the West (Regie: Anthony Mann. USA, 1958) Meek’s Cutoff (Regie: Kelly Reichardt. USA, 2010) Memento (Regie: Christopher Nolan. USA, 2000) Moby Dick (Regie: John Huston. USA, 1956) My Darling Clementine (Regie: John Ford. USA, 1946) Mystery Train (Regie: Jim Jarmusch. USA/Japan, 1989) Nuit et brouillard (Regie: Alain Resnais. Frankreich, 1955) Oktjabr (Regie: Sergei Eisenstein. Sowjetunion, 1928) Olympia, Teil I: Fest der Völker (Regie: Leni Riefenstahl. Deutschland, 1938) Olympia, Teil II: Fest der Schönheit (Regie: Leni Riefenstahl. Deutschland, 1938) Open Range (Regie: Kevin Costner. USA, 2003) Pale Rider (Regie: Clint Eastwood. USA, 1985) Permanent Vacation (Regie: Jim Jarmusch. USA, 1980) Posse (Regie: Mario Van Peebles. USA, 1993) Prénom Carmen (Regie: Jean-Luc Godard. Frankreich, 1983) Pulp Fiction (Regie: Quentin Tarantino. USA, 1994) Red River (Regie: Howard Hawks. USA, 1948) Ride in the Whirlwind (Regie: Monte Hellman. USA, 1966) Ride with the Devil (Regie: Ang Lee. USA, 1999) Rio Bravo (Regie: Howard Hawks. USA, 1959) Rio Lobo (Regie: Howard Hawks. USA, 1970) Satansbraten (Regie: Rainer Werner Fassbinder. Deutschland, 1976) Schindler’s List (Regie: Steven Spielberg. USA, 1993) Seminole (Regie: Budd Boetticher. USA, 1953) Shane (Regie: George Stevens. USA, 1953) Shoah (Regie: Claude Lanzmann. Frankreich, 1985) Stagecoach (Regie: John Ford. USA, 1939) Staroye i novoye (Regie: Sergei Eisenstein. Sowjetunion, 1929) Stranger than Paradise (Regie: Jim Jarmusch. Deutschland/USA, 1984) Stromboli (Regie: Roberto Rossellini. Italien, 1949)
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Terra em Transe (Regie: Glauber Rocha. Brasilien, 1967) The Assassination of Jesse James (Regie: Andrew Dominik. USA, 2007) The Barefoot Contessa (Regie: Joseph L. Mankiewicz. USA, 1954) The Big Sky (Regie: Howard Hawks. USA, 1952) The Birth of a Nation (Regie: D.W. Griffith. USA, 1915) The Butterfly Effect (Regie: Eric Bress und J. Mackye Gruber. USA, 2004) The Grapes of Wrath (Regie: John Ford. USA, 1940) The Great Dictator (Regie: Charles Chaplin. USA, 1940) The Iron Horse (Regie: John Ford. USA, 1924) The Lady from Shanghai (Regie: Orson Welles. USA, 1947) The Last Movie (Regie: Dennis Hopper. USA, 1971) The Last of the Mohicans (Regie: Michael Mann. USA, 1992) The Man Who Shot Liberty Valance (Regie: John Ford. USA, 1962) The Missouri Breaks (Regie: Arthur Penn. USA, 1976) The Naked Spur (Regie: Anthony Mann. USA, 1953) The Quiet Man (Regie: John Ford. USA, 1952) The Return of Frank James (Regie: Fritz Lang. USA, 1940) The Searchers (Regie: John Ford. USA, 1956) The Shooting (Regie: Monte Hellman. USA, 1966) The Treasure of the Sierra Madre (Regie: John Huston. USA, 1948) The Westerner (Regie: William Wyler. USA, 1940) The Wild Bunch (Regie: Sam Peckinpah. USA, 1969) Triumph des Willens (Regie: Leni Riefenstahl. Deutschland, 1935) True Grit (Regie: Henry Hathaway. USA, 1969) True Grit (Regie: Ethan und Joel Coen. USA, 2010) Two-Lane Blacktop (Regie: Monte Hellman. USA, 1971) Two Rode Together (Regie: John Ford. USA, 1961) Unforgiven (Regie: Clint Eastwood. USA, 1992) Union Pacific (Regie: Cecil B. DeMille. USA, 1939) Vaghe stelle dell’orsa (Regie: Luchino Visconti. Italien/Frankreich, 1965) Viaggio in Italia (Regie: Roberto Rossellini. Italien, 1953) Winchester ’73 (Regie: Anthony Mann. USA, 1950) Wyatt Earp (Regie: Lawrence Kasdan. USA, 1994) Yol (Regie: Yılmaz Güney. Türkei, 1982) Young Mr. Lincoln (Regie: John Ford. USA, 1939)
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Robert Cornelius, Seated Couple. Daguerreotypie (ca. 1840). Aus: Mary Warner Marien. Photography: A Cultural History (2nd Edition). London: Laurence King Publishing, 2006, S. 61. Abb. 2: Anonym, The Daguerreotypist. Karikatur aus Godey’s Lady’s Book (1849). Aus: Miles Orvell. American Photography. Oxford: Oxford UP, 2003, S. 23. Abb. 3: Timothy O’ Sullivan, Field Where General Reynolds Fell, Gettysburg, July, 1863. Alternativer Titel: Battlefield of Gettysburg. Bodies of dead Federal soldiers on the field of the first day’s battle (1863). Courtesy of the Library of Congress (LC-DIG-ppmsca-32922). Web. 4. Januar 2015. . Siehe außerdem: Alexander Gardner. Gardner’s Photographic Sketchbook of the Civil War. New York: Dover, 1959, Plate 37. Abb. 4: »Postmortem«-Fotografie eines unbekannten Mädchens (ca. 1850). Courtesy of George Eastman House, International Museum of Photography and Film. Daguerreotypie (Southworth & Hawes). Maße: 16,5 x 21,5 cm. Abb. 5: Eadweard Muybridge, The Horse in motion. »Sallie Gardner«, owned by Leland Stanford; running at a 1:40 gait over the Palo Alto track (1878). Library of Congress (LC-DIG-ppmsca-06607). Web. 4. Januar 2015. . Abb. 6: Étienne-Jules Marey, Chronofotografie eines fliegenden Vogels – »Bird in Flight« (1886). Sammlung des Metropolitan Museum of Art. Maße: 3,3 x 17,3 cm. Web. 4. Januar 2015. . Abb. 7: Eadweard Muybridge, Boys Playing Leap Frog (1883–86, Druck: 1887). Sammlung des Metropolitan Museum of Art. Web. 4. Januar 2015. . Abb. 8: Étienne-Jules Marey, Geometrische Chronofotografie eines laufenden Soldaten – »Joinville Soldier Walking« (1883). Aus: Mary Ann Doane. The Emergence of Cinematic Time: Modernity, Contingency, The Archive. Cambridge und London: Harvard UP, 2002, S. 54. Abb. 9: Théodore Géricault, Das Derby in Epsom (1821). Aus: 40.000 Meisterwerke: Gemälde, Zeichnungen, Grafiken (2 DVD-ROMs). Digitale Bibliothek, Zeno.org Nr. 050. Berlin: Directmedia Publishing, 2008. Abb. 10: Robert Frank, Parade – Hoboken, New Jersey (1955). Aus: Robert Frank. The Americans. New York: Aperture, 1978, S. 13.
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Abb. 11: Robert Frank, Trolley – New Orleans (1955). Aus: Robert Frank. The Americans. New York: Aperture, 1978, S. 47. Abb. 12: W. Eugene Smith, Fotografie aus der Ausstellung The Family of Man (1955). Aus: The Museum of Modern Art. The Family of Man (Ausstellungskatalog). New York: Museum of Modern Art, 2008, S. 192. Abb. 13: Robert Frank, Candy Store – New York City (1955). Aus: Robert Frank. The Americans. New York: Aperture, 1978, S. 31. Abb. 14: Robert Frank, Cape Cod (1962, Druck später). Im Besitz des Baltimore Museum of Art (Purchase with exchange funds from the Edward Joseph Gallagher III Memorial Collection; and partial gift of George H. Dalsheimer, Baltimore). Silbergelatineabzug. Maße: 22,7 x 35,5 cm (gesamt) und 22,6 x 33,7 cm (Bild). Objektnummer: 1988.322. Fotografiert von Mitro Hood. Abb. 15: Jeff Wall, Milk (1984). Aus: Jeff Wall. Transparencies. München: Schirmer/Mosel, 1986, S. 69. Abb. 16: Robert Frank, Elevator – Miami Beach (1955). Aus: Robert Frank. The Americans. New York: Aperture, 1978, S. 99. Abb. 17: Ed Ruscha, Fotografie aus Various Small Fires and Milk (1964). Aus: Sylvia Wolf. Ed Ruscha and Photography. New York: Whitney Museum of American Art und Göttingen: Steidl, 2004, S. 125. Abb. 18: Eugène Atget, Rue des Nonnains-d’Hyères (1900). Aus: Christopher Rauschenberg. Paris Changing: Revisiting Eugène Atget’s Paris. New York: Princeton Architectural Press, 2007, S. 74. Abb. 19: Christopher Rauschenberg, Rue de Fourcy (1998). Aus: Christopher Rauschenberg. Paris Changing: Revisiting Eugène Atget’s Paris. New York: Princeton Architectural Press, 2007, S. 75. Abb. 20: Berenice Abbott, Wall Street District (1938). Aus: Douglas Levere. New York Changing: Revisiting Berenice Abbott’s New York. New York: Princeton Architectural Press, 2005, S. 40. Abb. 21: Douglas Levere, Wall Street District (1997). Aus: Douglas Levere. New York Changing: Revisiting Berenice Abbott’s New York. New York: Princeton Architectural Press, 2005, S. 41. Abb. 22: Berenice Abbott, Vista from West Street, Nos. 115-118 between Dey and Cortlandt Street (1938). Aus: Douglas Levere. New York Changing: Revisiting Berenice Abbott’s New York. New York: Princeton Architectural Press, 2005, S. 84. Abb. 23: Douglas Levere, Vista from West Street, Former World Trade Center Site (2002). Aus: Douglas Levere. New York Changing: Revisiting Berenice Abbott’s New York. New York: Princeton Architectural Press, 2005, S. 85. Abb. 24: Camilo José Vergara, View West, 937 Fern Street, North Camden (1979). © Camilo José Vergara. Siehe: http://invinciblecities.camden.rutgers.edu./intro.html sowie Camilo José Vergara. The New American Ghetto. New Brunswick: Rutgers UP, 1995, S. 14. Abb. 25: Camilo José Vergara, View West, 937 Fern Street, North Camden (1988). © Camilo José Vergara. Siehe: http://invinciblecities.camden.rutgers.edu./intro.html sowie Camilo José Vergara. The New American Ghetto. New Brunswick: Rutgers UP, 1995, S. 14-15.
A BBILDUNGSVERZEICHNIS | 411
Abb. 26: Camilo José Vergara, Ransom Gillis House, Detroit (2003). © Camilo José Vergara. Siehe: Camilo José Vergara. American Ruins. New York: The Monacelli Press, 1999, S. 67. Abb. 27: Ansel Adams, Monolith, the Face of Half Dome, Yosemite National Park (ca. 1927). Collection Center for Creative Photography, The University of Arizona. © 2015 The Ansel Adams Publishing Rights Trust. Abb. 28: Timothy O’Sullivan, Green River Buttes, Green River, Wyoming (1872). Aus: Mark Klett. Third Views, Second Sights: A Rephotographic Survey of the American West. Santa Fe: Museum of New Mexico Press, 2004, S. 61. Abb. 29: Mark Klett und Gordon Bushaw (Rephotographic Survey Project), Castle Rock, Green River, Wyoming (1979). Aus: Mark Klett. Third Views, Second Sights: A Rephotographic Survey of the American West. Santa Fe: Museum of New Mexico Press, 2004, S. 62. Abb. 30: Mark Klett und Byron Wolfe (Third View Project), Castle Rock, Green River, Wyoming (1997). Aus: Mark Klett. Third Views, Second Sights: A Rephotographic Survey of the American West. Santa Fe: Museum of New Mexico Press, 2004, S. 63. Abb. 31: Timothy O’Sullivan, Crab’s Claw Peak, Western Nevada (1867). Aus: Mark Klett. Third Views, Second Sights: A Rephotographic Survey of the American West. Santa Fe: Museum of New Mexico Press, 2004, S. 93. Abb. 32: Gordon Bushaw (Rephotographic Survey Project), Karnak Ridge, Trinity Range, Nevada (1979). Aus: Mark Klett. Third Views, Second Sights: A Rephotographic Survey of the American West. Santa Fe: Museum of New Mexico Press, 2004, S. 94. Abb. 33: Mark Klett und Byron Wolfe (Third View Project), Karnak Ridge, Trinity Range, Nevada (1998). Aus: Mark Klett. Third Views, Second Sights: A Rephotographic Survey of the American West. Santa Fe: Museum of New Mexico Press, 2004, S. 95. Abb. 34: Timothy O’Sullivan, Water Rhyolites near Logan Springs, Nevada (1871). Aus: Mark Klett. Third Views, Second Sights: A Rephotographic Survey of the American West. Santa Fe: Museum of New Mexico Press, 2004, S. 82. Abb. 35: Mark Klett und Byron Wolfe (Third View Project), Water Rhyolites near Hiko, Nevada (1998). Aus: Mark Klett. Third Views, Second Sights: A Rephotographic Survey of the American West. Santa Fe: Museum of New Mexico Press, 2004, S. 83. Abb. 36: Nicholas Nixon, The Brown Sisters (1978). Aus: Ders., The Brown Sisters: Thirty-three Years. New York: Museum of Modern Art, 2007, o.S. Abb. 37: Nicholas Nixon, The Brown Sisters (2002). Aus: Ders., The Brown Sisters: Thirty-three Years. New York: Museum of Modern Art, 2007, o.S. Abb. 38: Hiroshi Sugimoto, U.A. Walker, New York (1978). Fotografie aus der Theaters-Serie. © Hiroshi Sugimoto, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco. Abb. 39: Hiroshi Sugimoto, Ohio Theater, Ohio (1980). Fotografie aus der TheatersSerie. © Hiroshi Sugimoto, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco.
American Culture Studies Philipp Dorestal Style Politics Mode, Geschlecht und Schwarzsein in den USA, 1943-1975 2012, 370 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2125-9
Marcel Hartwig Die traumatisierte Nation? »Pearl Harbor« und »9/11« als kulturelle Erinnerungen 2011, 256 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1742-9
Kathleen Loock Kolumbus in den USA Vom Nationalhelden zur ethnischen Identifikationsfigur 2014, 454 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2740-4
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