Kultur und Rasse [Reprint 2021 ed.]
 9783112403402, 9783112403396

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K u l t u r und Rasse Von

Franz Boas

Mit einer Kurve im Text

Leipzig Verlag von Veit & Comp. 1914

Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.

Vorwort. Das vorliegende Buch ist eine Neubearbeitung meiner im Jahre 1911 in englischer Sprache erschienenen Schrift „The Mind of Primitive Man". Im einzelnen sind mancherlei Einwände gegen ihren Inhalt erhoben worden: ich habe versucht meine Ansichten deutlicher zum Ausdruck zu bringen und die Ausführungen überzeugender zu gestalten. Zugleich habe ich die Interessen des deutschen Publikums, die Fragen, weiche die deutsche Öffentlichkeit beschäftigen, in stärkerem Maße berücksichtigt als das in der ursprünglichen Gestalt geschehen konnte. Aus diesen Gründen ist das Material umgeordnet worden und vielerlei ist neu zugesetzt. Das Schlußkapitel, das sich mit amerikanischen Verhältnissen beschäftigt, ist ausgefallen und an seine Stelle ist eine allgemeinere kurze Diskussion des Rassenproblems im sozialpolitischen Leben getreten. Meinen Freunden, die mich durch Anregungen verpflichtet haben, meinen Dank, besonders aber meinem Freunde Professor Dr. R u d o l f L e h m a n n in Posen für sein Interesse an der Arbeit und für ausgiebige Hülfe beim Lesen der Korrektur! Columbia-Universität, New York, im August 1914. Der Verfasser.

Inhalt. I. E i n l e i t u n g . Die B e w e r t u n g der M e n s c h e n rassen Leistungen und Begabung der Rassen 1. Hat die weiBe Rasse den höchst entwickelten Typus? 2. Sind die Kulturleistungen von erblicher Anlage abhängig? 4. Rassenzugehörigkeit der Schöpfer der Zivilisationen 4. Frühkulturen in Amerika 5. Deutung der Geschwindigkeit der Kulturentwicklung 7. Die allmähliche Verbreitung der Kulturen 9. Der amerikanische Neger 15. Zusammenfassung 17. II. E i n f l u ß der E r b l i c h k e i t auf den T y p u s des Menschen Begriff der Variabilität 18. Unterschied zwischen Konstanten und Variablen 20. Die Verschiedenartigkeit gleichmaßiger Individuen zweier Reihen 20. Übergreifen der Reihen und Beurteilung des Typenunterschiedes 22. Spezifische Unterschiede früh angelegt 23. Zunahme der individuellen Differenzen mit dem Alter 23. Geringe Zunahme der Typendifferenz bei zunehmendem Alter 23. Einfluß verschiedenartiger Wachstumsgesetze auf die Zunahme von Typendifferenzen 25. Die Erblichkeit 27. Aufspalten von Mischrassen 28. Erblichkeit bei einheitlicheren Rassen 31. Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern von der Homogenität der Rasse bestimmt 32. Variabilität von Geschwistern 35. Ähnlichkeitswerte 35. Homogenität einer Bevölkerung 36. Zusammensetzung verschiedener Bevölkerungstypen 39. Ursprung von Lokaltypen 39. Vermischung von Lokaltypen 40. Erblichkeit geistiger Eigenschaften 41. Die Zusammensetzung europäischer Völker 43. Die moderne Völkermischung 45. Bastardrassen 47.

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Inhalt. III. E i n f l u ß d e r U m w e l t auf d e n T y p u s d e s Menschen Unterschied zwischen kulturarmen und zivilisierten Völkern gleicher Rasse 50. Die Unbeständigkeit der Typen 51. Durch Wachstum bedingte Änderungen der Körperform 52. Änderungen, die nicht durch Wachstum bedingt sind 56. Stadt- und Landbevölkerung 56. Natürliche Auslese 58. Unmittelbare Einwirkung der Umwelt auf das Individuum 61. Veränderungen in der Körperform bei Nachkommen von Auswanderern 61. Ursachen dieser Änderungen 63. Veränderungen der geistigen Merkmale 66. Bestehenbleiben der Typenunterschiede trotz der Umweltseinflüsse 66. Domestikation 67. Einwirkung der Lebensweise 70. Künstliche Auswahl 72. Kreuzung 73. Domestikation beim Menschen 73. IV. B e z i e h u n g e n z w i s c h e n K ö r p e r m e r k m a l e n u n d Beanlagung Tier und Mensch 74. Psychologische Umdeutung von anatomischen Unterschieden 76. Die phylogenetische Untersuchung 77. Fortschreitende Neubildungen 78. Ihre Erblichkeit 79. Überleben alter Formen 80. Der Grad der Differenzierung zwischen Rassen und Tieren 81. Bedeutung dieser Merkmale für die Begabung 82. Größe des Gehirns 84. Mangel naher Beziehungen zwischen Gehirngröße und Begabung 85. Feinerer Bau des Gehirns 87. Psychologische Rassenmerkmale 88. Deutung dieser Unterschiede als durch Kultur bedingt 89. Einfluß von Rasse und Kultur 90. Experimentell-psychologische Untersuchungen 92. Einfluß der Zivilisation auf Geisteseigenschaften 95.

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V. S p r a c h e , R a s s e u n d K u l t u r Beziehungen zwischen Rasse, Sprache und Kultur 98. Klassifikationen von diesen drei Gesichtspunkten aus sind unvereinbar 101. Typenpermanenz und Wechsel der Sprache 101. Sprachenpermanenz bei Wechsel des Typus 103. Kulturwechsel bei Permanenz von Typus und Sprache 105. Ursprünglicher Mangel an Zusammenhang zwischen Rasse, Sprache und Kultur 107. Verschiedenartigkeit der bei jeder Rasse vorkommenden Kulturtypen 109.

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VI. D e r C h a r a k t e r d e r K u l t u r a r m e n Schwierigkeiten der Beschreibung 113. Willenskraft 115. Sorglosigkeit 118. Aufmerksamkeit 119. Originalität 120. Individualität 121.

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Inhalt. VII. Die a l l g e m e i n e G l e i c h a r t i g k e i t d e r K u l t u r merkmale Ähnlichkeit der Kulturmerkmale bei Völkern verschiedener Rasse 124. Erklärung als Ergebnis gleichartiger geographischer Bedingungen 127. Umgestaltender Einfluß der Landesnatur 128. Einfluß geschichtlicher Bedingungen 130. Geographische und ethnologische Fragestellung 132. Kulturähnlichkeiten als Überbleibsel aus der Urzeit 133. Spätere Kulturübertragungen 135. Übertragungsgebiete 137. Psychologische Begründung von Kulturähnlichkeiten 139. VIII. Der e n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t l i c h e S t a n d p u n k t Zusammenhänge zwischen Kulturelementen 141. Gibt es eine einzige Entwicklungsreihe der Kultur? 142. Beispiele: Gesellschaftsordnung 143. Erfindungen 144. Ackerbau und Tierzucht 145. Zierkunst 145. Weltanschauung 146. Die Gleichartigkeit der Entwickelung 147. Unähnlichkeiten in der Reihenfolge der Erfindungen 148. Methodische Untersuchung vermittels der Prähistorie und der geographischen Verbreitung 151. Allgemeiner Mangel an Korrelationen zwischen geistigen Merkmalen 151. Divergente Entwicklungen 154. Konvergenzerscheinungen 157. Unvergleichbarkeit der Beobachtungen 160. Beispiele: Ethik 161. Leben nach dem Tode 162. Totemismus 163. Psychologische Konvergenz 164. Historische Deutung von Reihen, die nach ihrer Einfachheit und Komplexität geordnet sind 166. Historische Deutung psychologischer Reihen 167. IX. D a s G e i s t e s l e b e n d e r K u l t u r r a s s e n u n d d e r Kulturfortschritt Materielle Kulturarmut 169. ökonomisch unselbständige Stämme 169. Bewertung der Kultur nach der Entwicklung der spielenden Technik 171. Der Ackerbau 172. Die Volksvermehrung 173. Bedingtheit der intellektuellen und künstlerischen Fortschritte 173. Differenzierung der Volksschichten 174. Primitive Denkformen 174. Die Elemente der Sprache 178. Klassifikation der Erfahrung 179. Formale Elemente des Denkens und Sprechens 185. Zusammenhang zwischen Sprache und Denken 186. Abstrakte Vorstellungen 186. Zahlsystem 189. Bewußtwerden der Klassifikationen 191. Wirkung der Überlieferung auf das Denken 191. Beispiel: Die Entwicklung der Idee der Gleichberechtigung der Menschen 194.

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Inhalt.

X. Die g e f ü h l s m ä ß i g e n A s s o z i a t i o n e n b e i d e n Kulturartnen Assoziationstypen in der Zivilisation 196. Gewohnheitsmäßige Handlungen und ihr Gefühlswert 197. Sekundäre Erklärungen 200. Vorkommen ähnlicher Assoziationen bei Kulturarmen 205. Der ungewollte Ursprung von gewohnheitsmäßigen Handlungen 206. Das Bewußtwerden gewohnheitsmäßiger Handlungen 208. Sekundäre Erklärungen 209. Den Kulturarmen eigentümliche Assoziationstypen 211. Das Ritual 212. Mythologie 213. Zierkunst 213. Totemismus 217. Ursprung dieser Assoziationen 219. Wichtigkeit von Gefühlsmomenten in der Bildung der Assoziationen 220. XI. Z u s a m m e n f a s s u n g XII. D a s R a s s e n p r o b l e m im s o z i a l - p o l i t i s c h e n Leben Rassenreinheit 229. Rasse und Nation 231. Berührung verschiedener Rassen 234. Rassenhygiene 234. A n h a n g . Die M e ß b a r k e i t der V a r i a b i l i t ä t Literaturnachweise

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I. Die Bewertung der Menschenrassen. Unter den Lebensbedingungen der Neuzeit hat sich eine Völkerwanderung entwickelt, die durch ihre Großartigkeit die Volksbewegungen des Altertums klein und unbedeutend erscheinen läßt. Das Eindringen der nordeuropäischen Barbaren in das Mittelmeergebiet und die Eroberungszüge der nordasiatischen Stämme setzten wohl beträchtliche Menschenmassen in Bewegung, die einen Teil der Alten Welt durchzogen: heute aber hat sich ein gewaltiger Strom entwickelt, der von dem dichtbesiedelten Europa aus die fernsten Gestade des Weltmeeres erreicht und zur Bildung neuer großartiger Staaten geführt hat, deren Bürger nach vielen Millionen zählen, — ein Strom, der, langsam einsetzend, in immer breiterem Bette fließt und allmählich rückwärts greifend alle dicht bevölkerten Gebiete des Erdballes in sein Quellgebiet einzuschließen scheint. Durch diese Ereignisse und die damit verbundene Leichtbeweglichkeit des Individuums hat die Berührung zwischen verschiedenen Menschenrassen und -Typen einen früher unbekannten Umfang angenommen, besonders in Ländern, wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo verschiedene Rassen aufeinanderstoßen; und bei Völkern, wie den Engländern, deren Unternehmungsgeist sie in enge Berührung mit allen Nationen gebracht hat. Daher ist unserer Zeit die Verschiedenartigkeit der Leistungen und des geistigen Verhaltens der Rassen und Völker mit besonderer Stärke zum Bewußtsein gekommen, und die Frage nach ihrer Entwicklungsfähigkeit hat große B o a s , Kultur und Rasse.

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Bedeutung f ü r das tägliche Leben gewonnen; denn anders gestaltet sich unser Verhalten, wenn wir in einigen Rassen oder Völkern nicht nur zurückgebliebene Mitglieder der Menschheit sehen, sondern sie auch unfähig zu weiterem Fortschritt halten; anders, wenn wir eine gleichartige Entwicklungsfähigkeit aller Menschenrassen anerkennen. Am schärfsten stellt sich naturgemäß der Unterschied im Entwicklungszustande dar, wenn man die höchstzivilisierten Völker mit den sogenannten Naturvölkern, den Kulturarmen, vergleicht. Dürfen wir da nicht stolz auf die Stämme herabsehen, die auf niederer Kulturstufe verh a r r e n ? W i r beherrschen die Naturkräfte und haben sie in unseren Dienst gezwungen. Unwirtliche Wälder haben wir in fruchtbare Gefilde verwandelt; die Gebirge bringen uns ihre Schätze dar; die wilden Tiere, welche die menschliche Arbeit bedrohten, sind ausgerottet, während wir andere, die uns nützlich sind, veranlassen, sich tausendfältig zu vermehren. Der Ozean trägt unsere Schiffe vbn einem Lande zum anderen, und unnahbare Gebirgszüge setzen unseren Straßen keine Schranken mehr in den Weg. Unser Geist hat den trägen Stoff in kraftvolle Maschinen umgestaltet, die nur der Berührung durch einen Finger bedürfen, um unseren mannigfachen Bedürfnissen zu dienen. Welchen Gegensatz weisen hingegen die Völker auf, die es nicht verstanden haben, sich die Natur dienstbar zu machen, die mit Mühe eine armselige Existenz den Erzeugnissen der Wildnis abringen; die vergeblich versuchen, die Früchte ihrer Arbeit vor den wilden Tieren zu schützen; deren Bewegungen vom Ozean und von Gebirgen eingeschränkt sind; und die mit wenigen und einfachen Werkzeugen notdürftig ihre Lebensbedürfnisse befriedigen! Es ist leicht verständlich, daß dieser augenfällige Gegensatz der Kulturformen zunächst als ein Gegensatz im Wesen der Kulturträger aufgefaßt wird, und daß der zivilisierte Mensch sich f ü r ein höher organisiertes Wesen, im Vergleich zu dem Unzivilisierten, Kulturarmen, hält.

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Es ist offenbar, daß wir bei dieser Auffassung unwillkürlich Kulturleistung und Kulturbefähigung gleichsetzen, und doch ist diese Annahme nicht ohne weiteres zwingend. Wir folgern, daß, weil die Kultur der zivilisierten Völker entwickelter ist, auch ihre Kulturfähigkeit größer sein muß; und da diese wieder vermutlich von der erblichen, anatomischen und physiologischen Entwicklung des Körpers und der davon bedingten Entwicklung des Geistes abhängt, so schließen wir, daß die zivilisierten Völker, insbesondere die der weißen Rasse, den vollkommensten Menschentypus repräsentieren. Wir begründen also unser Urteil auf der stillschweigenden Annahme, daß Kulturleistungen ausschließlich, oder doch wesentlich, von der Kulturfähigkeit abhängen. Die Voraussetzung einer höheren Befähigung des Europäers führt unmittelbar zu einem zweiten Schlüsse bezüglich der Unterschiede zwischen unserem Rassentypus und denen anderer Kontinente, oder sogar bezüglich der Typenunterschiede zwischen verschiedenen europäischen Völkern. Wir schließen etwa folgendermaßen: da die Fähigkeiten des Europäers am größten sind, ist auch sein körperlicher und geistiger Typus am höchsten entwickelt, und deshalb ist jede Abweichung vom europäischen Typus notwendigerweise ein Merkmal eines niederen Typus. Unter sonst gleichen Bedingungen wird daher eine Rasse gewöhnlich als um so tiefer stehend betrachtet, je tiefgreifender ihr Unterschied von der weißen Rasse ist. Die Wirkung dieser Anschauung kann man auch in der wissenschaftlichen Literatur daran erkennen, daß die Versuche, anatomische Merkmale niederer Formen im Körperbau kulturarmer Völker zu finden, einen breiten Raum einnehmen und daß die Abwesenheit solcher Merkmale bei anderen Rassen besonders betont wird, wenn sie bei der weißen vorkommen. Im Unterbewußtsein der Forscher schlummert eben die Erwartung, daß die weiße Rasse den höchstentwickelten Menschentypus repräsentiert. Untersuchungen, die auf Volkssitten gerichtet sind, 1*

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liegt oft derselbe Gesichtspunkt zugrunde. Man nimmt an, daß die weiße Rasse die höchsten geistigen Fähigkeiten hat, weil ihre geistige Entwicklung am höchsten ist. Da die Grundformen der geistigen Beanlagung nicht so klar zu erkennen sind wie anatomische Merkmale, wird das Urteil über die geistige Beanlagung eines Volkes wesentlich durch den Unterschied zwischen seinen Gesellschaftsformen und den unseren bestimmt. Je größer der Unterschied zwischen ihrem intellektuellen, gefühlsmäßigen und moralischen Leben und dem unseren ist, um so härter fällt das Urteil über das betreffende Volk aus. Nur wenn ein Tacitus die Tugenden vergangener Zeiten unter fremden Völkern wiederzufinden glaubt, oder wenn ein Rousseau sich einen idealen Naturzustand erträumt, erscheinen die Sitten andersgearteter Völker als erstrebenswerte Ideale. Nun könnte man vielleicht sagen, daß, obwohl Leistungen nicht notwendigerweise ein Maß der geistigen Anlagen sind, man doch im großen und ganzen vermuten darf, daß beide in engem Zusammenhange stehen. Die meisten Rassen haben doch gleich lange Zeit zur Entwicklung gehabt. Warum sollte denn allein die weiße Rasse, wenn ihr nicht eine besondere Anlage zur Hilfe gekommen wäre, eine Zivilisation entwickelt haben, welche die ganze Welt erobert, und im Vergleich mit der alle anderen Zivilisationen als schwache Ansätze erscheinen, die im Keime erstickt oder in ihrer Entwicklung gehemmt und auf früher Stufe stehen geblieben sind? Ist es nicht wenigstens wahrscheinlich, daß die Rasse, welche die höchste Kultur entwickelt hat, auch die begabteste ist, und daß Rassen, die auf tieferen Stufen verharren, unfähig waren, sich über dieselben zu erheben? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns in kurzen Umrissen die Entwicklung unserer! Zivilisation vor Augen führen und uns einige tausend Jahre zurückdenken, in die Periode, in der die Kulturen West- und Ostasiens in ihrer Kindheit waren. Im Laufe der Zeit wurden diese von einem Volke zum anderen übertragen. Völker, die eine Zeitlang die höchste Kulturentwicklung

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entfaltet hatten, sanken ins Dunkel zurück, und andere nahmen ihre Stelle ein. In der Dämmerung der Frühgeschichte sehen wir, wie die Kultur an gewissen Stellen haftet und bald von einem Volke, bald von einem anderen weitergeführt wird. In den häufigen Kriegen dieser Zeiten geschah es oft, daß das höher entwickelte Volk besiegt wurde. Die Sieger lernten aber von den Besiegten die Künste der höher entwickelten Lebensführung und setzten die Kulturarbeit fast ohne Unterbrechung fort. Auf diese Weise bewegten sich die Kulturzentren in einem kleinen Gebiete hin und her, und der Fortschritt war langsam und unsicher. Zu jener Zeit waren die Ahnen der Völker, die jetzt am höchsten zivilisiert sind, in keiner Weise von den Kulturarmen unserer Zeit zu unterscheiden. Es fragt sich nun, ob die Zivilisation des frühen Altertums so beschaffen war, daß wir für ihre Schöpfer eine von der aller anderen Rassen verschiedene Begabung annehmen müssen. Wir müssen nun zunächst bedenken, daß keine einzige dieser Zivilisationen das ausschließliche Geisteserzeugnis eines einzigen Volkes war. Gedanken und Erfindungen verbreiteten sich damals ebensowohl wie heute, und obwohl der Verkehr langsam vor sich ging, trug doch jedes Volk, das an dieser frühen Kulturentwicklung teilnahm, zum allgemeinen Fortschritte bei. Zahllose Belege beweisen, daß Gedanken sich verbreitet haben, seit Völker miteinander in Berührung gekommen sind, und daß weder Rasse noch Sprache ihrer Ausbreitung je eine Grenze gesetzt haben. Da nun viele Völker zur Entwicklung der Frühkulturen beigetragen haben, müssen wir die Begabung aller gleichmäßig anerkennen, gleichviel, ob sie Hamiten, Semiten, Indoeuropäer oder Mongolen waren. Es fragt sich nun, ob es nicht andere Rassen gibt, die gleich- oder ähnlichwertige Frühkulturen geschaffen haben. Es scheint mir, daß man die Kultur des alten Peru oder des alten Yukatan und Mexiko wohl mit den Frühkulturen der Alten Welt vergleichen darf. Obwohl der Gebrauch der Metalle nur in beschränktem Maße bekannt war und durchweg nichtmetallische Werk-

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zeuge gebraucht wurden, war doch die Entwicklung der Kunstfertigkeiten in beiden Gebieten nicht wesentlich verschieden, wie ein Blick auf die Weberei, Töpferei und den Ackerbau lehrt. Besonders lehrreich ist der Vergleich der Bauwerke Amerikas mit denen Ägyptens und Babyloniens, denn an Beherrschung der Technik und Großartigkeit halten beide wohl den Vergleich aus. Edle Metalle und andere nutzbare Mineralien wurden durch Minenbau gewonnen. Die Schrift war schon aus den Anfangsstadien der Entwicklung herausgetreten, das Rechnen war bekannt und die astronomischen Kenntnisse waren bedeutend. Auch die politische und priesterliche Organisation in beiden Erdteilen steht auf etwa gleich hoher Stufe. Die Zähmung von Tieren dagegen war weit hinter der Entwicklung der Haustiere in der alten Welt zurückgeblieben, denn nur schwache Anfänge dieser Kunst finden sich in Amerika: der Gebrauch des Lama in Südamerika und etwa der Gebrauch von Truthähnen in Mittelamerika. Die Benutzung von Vieh zu Ackerbauzwecken war ganz unbekannt, und der Wagen als Transportmittel war nicht erfunden. So waren die Völker der alten Welt vielleicht schon etwas weiter in materieller Beziehung fortgeschritten, doch unterliegt es kaum einem Zweifel, daß der allgemeine Kulturzustand in den alten Kulturländern Asiens und Amerikas etwa auf gleicher Stufe stand. Diese Leistungen der amerikanischen Rasse sind ihr unabhängig von den Fortschritten in der alten Welt gelungen. Lehrreich sind auch die Andeutungen des Vorhandenseins einer Frühkultur bei den Negern des westlichen Sudans. Ihre Erzeugnisse sind uns zuerst durch die kunstvollen Bronzegüsse von Benin bekannt geworden, deren technische und künstlerische Vollkommenheit, deren lebensvolle Wiedergabe des menschlichen Antlitzes gleich bemerkenswert sind. Jetzt beweisen die interessanten Funde, die wir Leo F r o b e n i u s verdanken, mit Sicherheit, daß diese Erzeugnisse einer alten, breit begründeten Kultur zuzuschreiben sind, deren politische Lebensäußerungen uns schon aus den älteren Berichten über die Sudanstaaten bekannt waren. Obwohl es sich hier wohl nicht um eine

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Entwicklung handelt, die ganz außerhalb des Kulturkreises des Mittelmeeres steht, so beweisen ihre Erzeugnisse doch eine hohe schöpferische Kraft des alten Sudannegers. Wenn wir nun die annähernde Gleichwertigkeit der meisten dieser Kulturen anerkennen, so können wir eine Verschiedenheit nur in ihrem zeitlichen Auftreten finden. Die Kulturen der alten Welt erreichen einen gewissen Höhestand etwa drei- oder viertausend Jahre vor den amerikanischen Kulturen. Obwohl dieser Unterschied in der Entwicklungsgeschwindigkeit oft stark betont wird, kann ich darin keinen zwingenden Beweis für verschiedenwertige Rassenanlage erkennen; vielmehr scheinen die Gesetze, welche zufällige Ereignisse beherrschen, eine vollkommen ausreichende Erklärung zu bieten. Wenn zwei Körper mit durchschnittlich gleicher, aber variabler Geschwindigkeit dieselbe Strecke zurücklegen, wird ihre Stellung in einem bestimmten Zeitpunkte um so größere zufällige Unterschiede aufweisen, je länger die Strecke, die sie schon durchlaufen haben. Dieses wird um so mehr der Fall sein, wenn eine Geschwindigkeitszunahme stattfindet, die von der bereits zurückgelegten Strecke abhängt. Nach dem Gesetze, das zufällige Ereignisse beherrscht, würde im ersteren Falle stets ein Stellungsunterschied gleich wahr« scheinlich sein, dessen Größe proportional der Quadratwurzel aus der zurückgelegten Strecke ist. Würde also eine Reihe von isolierten Völkern sich so entwickeln, daß nach einem Jahrhundert der durchschnittliche Unterschied in ihrer Entwicklung zehn Jahre betrüge, so würde man nach 10000 Jahren einen hundertmal so großen durchschnittlichen Unterschied, also 1000 Jahre, erwarten dürfen. Im zweiten Falle, welcher, wie wir später sehen werden, bei der Kulturentwicklung zutrifft, nimmt das Maß der zu erwartenden Unterschiede noch bedeutend rascher zu. Der Fall ist analog dem, der sich bei der Entwicklung des Individuums beobachten läßt: zwei ein paar Monate alte Kinder sind in ihrer physiologischen und geistigen Entwicklung einander sehr ähnlich; zwei gleichaltrige junge

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Männer sind viel ungleicher; und von zwei gleich alten älteren Menschen mag der eine in der Vollkraft seiner Jahre stehen, während der andere schon dem Altersrückgange erliegt, — Erscheinungen, die sich restlos aus der zufälligen Entwicklungsbeschleunigung oder -Verzögerung erklären, die das Leben mit sich bringt, die aber nicht auf erblicher Anlage zu beruhen brauchen. Wendet man diese Betrachtungen auf die Geschichte der Menschheit an, so darf man sagen, daß ein Unterschied von ein paar tausend Jahren für den Eintritt in einen aus eigener Volkskraft gewonnenen höheren Kulturzustand belanglos ist, wenn man diesen Zeitraum an dem Alter des Menschengeschlechtes mißt. Die Entwicklungsdauer der heutigen Menschenrassen läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, aber die Zeit, die verflossen ist, seit der Mensch als ein werkzeuggebrauchendes Wesen zuerst auftrat, ist sicher sehr lang und muß mit geologischen Zeiträumen gemessen werden. P e n c k s Untersuchungen über die Vergletscherung der Alpen während der Eiszeit haben ihn zu dem Schlüsse geführt, daß das Alter des Menschengeschlechtes in Europa mehr als 100000 Jahre sein muß, und daß die hochentwickelte Kultur der MadeleineZeit mindestens 20000 Jahre zurückliegt. Wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß die der Madeleine-Zeit entsprechende Entwicklungsstufe überall zur gleichen Zeit erreicht ist; vielmehr müssen wir als Anfangspunkt unserer Betrachtung den ältesten Zeitpunkt annehmen, von dem menschliche Spuren bekannt sind. Von diesem Gesichtspunkte aus ist es vollständig gleichgültig, ob eine Menschenrasse einen gewissen Standpunkt nach 100000 Jahren erreicht, den eine andere unabhängig nach 105000 Jahren erreicht hat. Als Beweis für die größere oder geringere Begabung der Rassen ist diese Tatsache ganz belanglos, weil sie sich genügend aus den zufälligen Ereignissen erklärt, die das Volk im Laufe seiner Geschichte erlebt h a t . Sie ist kein zwingender Grund, höhere Fähigkeiten bei dem rascher entwickelten Volke anzunehmen ( W a i t z ) . Eine solche langsamere Entwicklung würde nur dann beweiskräftig sein, wenn man zeigen könnte, daß sie in

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vielen Fällen, unabhängig voneinander, immer wieder bei derselben Rasse vorkäme, während etwa die raschere Entwicklung in vielen voneinander unabhängigen Fällen charakteristisch für eine andere Rasse wäre. Man mag nun vielleicht geneigt sein, diese Betrachtungsweise für die Anfänge der Kultur gelten zu lassen, und dennoch in den Leistungen des Hellenentums sowie in der wissenschaftlichen Entwicklung der Neuzeit etwas ganz anderes sehen, das nur aus der ungleich höheren Begabung der Schaffenden zu erklären ist. Diese Ansicht ist aus der geschichtlichen Erfahrung nicht zu widerlegen, da wir es nur mit einer einmaligen Erscheinung zu tun haben. Ob diese sich bei anderen Rassen hätte wiederholen können, wenn sie lange genug von Europäern isoliert geblieben wären, ist eine Frage, die nie zu beantworten sein wird, da eben diese Bedingung sich nicht eingestellt hat. Wir werden diese Frage jedoch im weiteren Verlaufe unserer Untersuchungen im Auge behalten müssen. Wohl aber lehrt die Geschichte, daß alle Völker des europäischen Kulturkreises fähig sind, die Arbeit unserer modernen Kultur aufzunehmen und weiterzuführen. Nicht weniger ist dieses der Fall bei den Völkern des ost- und südasiatischen Kulturkreises; ja, man muß ernsthaft in Frage ziehen, ob die Schöpfungen des f ü r unsere Geschichte so viel wichtigeren Hellenentums, sachlich betrachtet, den Leistungen jener überhaupt überlegen war. Die Perioden kraftvoller Tätigkeit und leitender Kulturstellung, welche die Nationen Europas der Reihe nach innegehabt haben, lehren, wie sehr Leistungen von der Gunst oder Ungunst der Verhältnisse, wie wenig sie von Unterschieden in der erblichen Fähigkeit im Kreise der europäischen Völkerfamilie abhängen, — man müßte denn annehmen, daß die erblichen Anlagen starken Schwankungen unterworfen sind. Sollten wir dieser Anschauung, die besonders von Anhängern der Selektionstheorie vertreten wird, beipflichten, so müßten wir doch, um der Geschichte gerecht zu werden, gleichartige latente Anlagen annehmen, die bei günstigen Bedingungen immer wieder zum Durchbruch kommen.

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Beachten wir das vorher über die Zufälligkeit in der zeitlichen Entwicklung der K u l t u r Gesagte, so werden wir in Bezug auf die zuletzt b e r ü h r t e Frage zu dem Schlüsse kommen, d a ß es gar keinen Sinn hat, aus dem zeitlichen Nacheinander, in dem die Völker Europas die intensive K u l t u r a r b e i t aufgenommen haben, einen Schluß auf ihre Fähigkeiten zu machen, vor allem aber, wie so o f t getan wird, aus ihrem heutigen Verhalten auf ihre späteren Leistungen schließen zu wollen. Wenn heute die willige U n t e r o r d n u n g u n t e r das Gesetz, die Volksbildung, der industrielle Fortschritt, die wissenschaftliche oder technische P r o d u k t i v i t ä t in einem Lande nicht mit unseren Verhältnissen übereinstimmen, sind wir nur zu bereit, dem betreffenden Volke die Fähigkeit abzusprechen, sich eine anders geartete Z u k u n f t zu s c h a f f e n , besonders wenn es auf einen früheren Hochstand der K u l t u r zurückblicken kann. Ich glaube, die letzten sieben J a h r h u n d e r t e deutscher Geschichte lehren deutlich das Irrige dieser Auffassung, die f ü r den e r n s t h a f t Denkenden k a u m einer Widerlegung bedarf. Kehren wir zu der Frage zurück, inwieweit K u l t u r leistungen die Fähigkeiten einer Rasse zu bestimmen erlauben! Zunächst müssen wir bedenken, d a ß gegenwärtig so ziemlich alle Völker der weißen Rasse mehr oder weniger lebhaft an der modernen Kulturentwicklung teilnehmen, während bei keiner der übrigen Rassen die Zivilisation, die ein oder das andere Volk erreicht h a t , die ganze Rasse durchdringt. Dieses bedeutet natürlich nicht, d a ß alle Völker der weißen Rasse die Keime der modernen Zivilisation mit gleicher Schnelligkeit ins Leben zu rufen befähigt w a r e n ; denn wir haben keinen Beweis d a f ü r , d a ß die v e r w a n d t e n S t ä m m e , die sich alle u n t e r dem Einflüsse einer von wenigen Völkern geschaffenen K u l t u r entwickelten, nicht ohne diese Hilfe eine viel längere Zeit gebraucht haben würden, u m die Stellung zu erreichen, die sie j e t z t inne haben. Man könnte aber wohl hierin eine starke A n p a s s u n g s k r a f t erblicken, die sich nicht in gleicher Weise bei anderen Rassen findet. Wir müssen daher zu verstehen suchen, wie es k a m ,

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d a ß die Völker und S t ä m m e des alten E u r o p a sich so leicht die ihnen d a r g e b o t e n e K u l t u r a n e i g n e t e n , w ä h r e n d wir g e g e n w ä r t i g n u r den v e r d e r b l i c h e n E i n f l u ß d e r Zivilis a t i o n auf k u l t u r a r m e Völker g e w a h r e n , die v o r ihrem Hauche zusammenschmelzen und verkommen, s t a t t durch sie zu h ö h e r e n S t u f e n erhoben zu w e r d e n . Vielleicht d ü r f t e dieses ein Beweis f ü r die höhere B e a n l a g u n g d e r E u r o p ä e r sein. Allein ich glaube, die Ursachen dieser E r s c h e i n u n g ber u h e n nicht notwendigerweise auf der h ö h e r e n B e g a b u n g d e r e u r o p ä i s c h e n u n d asiatischen Rassen. Z u n ä c h s t ist zu b e d e n k e n , d a ß die N a t u r v ö l k e r E u r o p a s u n d Asiens im T y p u s d e n zivilisierten Völkern des A l t e r t u m s gleich oder ähnlich w a r e n . D a h e r fiel eine d e r H a u p t s c h w i e r i g k e i t e n f o r t , die d e m F o r t s c h r i t t e a n d e r e r Rassen h e u t z u t a g e entg e g e n s t e h e n : die A u s n a h m e s t e l l u n g , die d a s I n d i v i d u u m e i n n i m m t , das seinen S t a m m verlassen h a t , u n d nach voller A u f n a h m e der Zivilisation gesellschaftliche Gleichb e r e c h t i g u n g m i t den E u r o p ä e r n nicht g e n i e ß t . Aus diesem G r u n d e k o n n t e n in alten Zeiten Kolonien d u r c h Z u z u g der eingeborenen B e v ö l k e r u n g w a c h s e n , was h e u t z u t a g e nicht vorkommt. Ferner w a r e n Verheerungen d u r c h E p i d e m i e n und a n d e r e eingeschleppte K r a n k h e i t e n , die g e g e n w ä r t i g eine u n v e r m e i d l i c h e Begleiterscheinung d e r B e r ü h r u n g zwischen E u r o p ä e r n u n d k u l t u r a r m e n Völkern b i l d e n , n i c h t so f u r c h t b a r wie h e u t e , d a die zivilisierten Völker u n d die p r i m i t i v e r e n S t ä m m e in s t e t e r N a c h b a r s c h a f t w o h n t e n u n d nie so v o l l s t ä n d i g g e t r e n n t w a r e n , wie E u r o p ä e r und Indianer, Polynesier u n d A u s t r a l i e r , so d a ß sie i m m e r m e h r o d e r weniger den gleichen K r a n k h e i t s e r r e g e r n ausgesetzt w a r e n . D a s E i n d r i n g e n d e r E u r o p ä e r in die N e u e W e l t u n d die Inselwelt des Stillen Ozeans d a gegen b r a c h t e neue K r a n k h e i t e n in diese Gebiete. Die Verw ü s t u n g v o n Menschenleben d u r c h E p i d e m i e n , die der E n t d e c k u n g folgten, sind so wohl b e k a n n t , d a ß wir v o n einer B e s c h r e i b u n g absehen d ü r f e n . Überall, wo eine s t a r k e B e v ö l k e r u n g s a b n a h m e in einem d ü n n b e v ö l k e r t e n Gebiete s t a t t f i n d e t , g e h t die materielle K u l t u r sowohl wie die

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Gesellschaftsordnung rasch zugrunde. Ein Beispiel für diesen zerstörenden Einfluß bietet die geistige Depression vieler Indianerstämme, die durch das Verschwinden ihrer alten Nahrungsquelle, des Wildes, gezwungen sind, sich einer neuen Lebensweise anzubequemen, und die gleichzeitig ganze Familiengruppen, welche priesterliche oder politische Pflichten erfüllen, aussterben sehen, ein Umstand, der die alten Ideen von Grund aus erschüttert und eine Stimmung hoffnungsloser Ergebung in das Geschick erzeugt. Außerdem müssen wir bedenken, daß der Gegensatz zwischen unserer modernen Zivilisation und der Kultur der Kulturarmen in ökonomischer Beziehung viel größer ist, als der zwischen der Kultur der Alten und der rückständigeren Stämme, mit denen sie in Berührung kamen. Besonders wichtig in dieser Beziehung ist die hohe Entwicklung unserer Herstellungsmethoden von Gebrauchsgegenständen, welche die Industrien der Kulturarmen durch die billigen und massenhaft vom Europäer eingeführten Waren erdrückt. Ein Wettbewerb der primitiven Industrie mit modernem Maschinenbetrieb ist unmöglich, während in alten Zeiten die Handarbeit der Kulturarmen sehr wohl mit der Handarbeit der zivilisierten Völker in Wettbewerb treten konnte. Wenn ein Tag leichter Arbeit genügt, von dem weißen Händler ausgezeichnete Werkzeuge und gute Kleidungsstoffe zu bekommen, während die Herstellung der entsprechenden alten Werkzeuge oder Materialien, die zudem noch weniger brauchbar sind, wochenlange Arbeit erfordern würde, ist es nur zu erwarten, daß die langsame, mühevolle Herstellung einheimischer Produkte bald aufgegeben wird. Zudem werden in einigen Gebieten, z. B. in Nordamerika und in einigen Teilen Sibiriens, sowie in Australien, die eingeborenen Stämme durch die Überzahl der Einwanderer erdrückt, die sie so rasch aus ihrer Heimat verdrängen und sie so vollständig der Bewegungsfreiheit in ihrem alten Gebiet berauben, daß gar keine Zeit f ü r eine allmähliche Assimilation bleibt. In älteren Zeiten dürfte es nicht oft solche Erscheinungen gegeben haben, in denen ein Volk von Ein-

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Die Bewertung der Menschenrassen.

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Wanderern durch seine Zahl die Eingeborenen erdrückte. Beispielsweise ergeben die Schätzungen der Volksdichte Deutschlands, Frankreichs und Italiens zur Zeit der römischen Kolonisation f ü r Deutschland eine ungefähre Bevölk e r u n g von 250, f ü r Frankreich von 450, f ü r Italien von 1500 Einwohnern auf die Q u a d r a t m e i l e ; Schätzungen, die natürlich nur Anspruch darauf machen können, die Verhältnisse ganz im allgemeinen zu schildern ( H o o p s ) . Die Wichtigkeit der Bevölkerungsdichtigkeit bei der Beurteilung dieser Erscheinungen ergibt sich auch sofort bei der B e t r a c h t u n g der Rassenassimilation großer, dichtbesiedelter Gebiete der Neuzeit. So haben die Rassen Mexikos und der südamerikanischen Hochländer — der dicht besiedelten Gebiete Asiens nicht zu gedenken — erfolgreich die Ber ü h r u n g mit den Weißen ü b e r s t a n d e n , während in allen d ü n n bevölkerten Gebieten Amerikas die eingeborene Rasse dem Untergange verfallen ist. W i r schließen aus all diesem, d a ß im alten E u r o p a die Bedingungen f ü r eine erfolgreiche Anpassung der kulturarmen Völker ungleich günstiger waren, als in den Ländern, wo sie heutzutage mit zivilisierten Völkern in Berührung treten. Wir brauchen d a r u m nicht anzunehmen, d a ß die alten Europäer begabter waren als die Ramsen, die erst neuerdings mit der Zivilisation in Berührung kamen ( G e r land, Ratzel). In dieser Beziehung ist auch die gesamte Kolonisationsgeschichte lehrreich. Wir haben schon die altrömische Kolonisation erwähnt, der in kleinerem Maßstabe die deutsche Kolonisation des slavischen Ostens an die Seite gestellt werden darf. Auffallend ist im Vergleiche zu diesen großartigen Erscheinungen das völlige Versagen europäischer Assimilation in fremdrassigen Gebieten, zumal wenn wir es mit den Erfolgen mohammedanischer, besonders arabischer Assimilation vergleichen, wie wir sie in Afrika und Südasien beobachten können. Besonders interessant ist die mittelalterliche Durchdringung der s u d a n e sischen Staaten durch mohammedanische Elemente. Allerdings waren die Neger dieser Gebiete selbst hoch entwickelt. Ihre K u l t u r wurde aber offenbar später stark durch die

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mohammedanischen, hamitischen Völker gefördert, die zwischen der zweiten H ä l f t e des achten und dem elften J a h r h u n d e r t in den Sudan eindrangen und den Islam verbreiteten. Die Eroberer suchten sich Frauen u n t e r den Eingeborenen, und die mehr oder weniger s t a r k gemischten Völker, von denen einige fast reine Sudanneger sind, haben eine ungewöhnlich hohe K u l t u r s t u f e erreicht. Die Geschichte Bornus, mit der B a r t h und N a c h t i g a l uns zuerst b e k a n n t gemacht haben, ist vielleicht eines der besten Beispiele dieser Entwicklung, die sich in gleichem Typus über fast ganz Nordafrika verfolgen läßt. W a r u m k o n n t e n n u n die Mohammedaner diese S t ä m m e so s t a r k beeinflussen und sie nahezu auf dieselbe Kulturstufe erheben, die sie selbst inne h a t t e n , während die Bemühungen der Weißen, den Neger in Afrika zu höheren Zielen zu f ü h r e n , n u r in höchst beschränktem Maße erfolgreich gewesen s i n d ? Allerdings scheint es, als ob die Mohammedaner W e s t a f r i k a zu einer günstigeren Periode erreichten, als eine lebhafte K u l t u r b e w e g u n g u n t e r den Negern herrschte, die im Sudan eine hohe Entwicklung von Industrie und K u n s t und eine Tendenz zu großzügiger Staatenbildung erzeugte, eine Bewegung, die in den Kunstwerken Benini und des Yorubalandes ihren höchsten Ausdruck findet. Doch war diese Bewegung zur Zeit der A n k u n f t der Portugiesen keineswegs erstorben, wie die Darstellungen von Europäern auf den kunstvollen Bronzen von Benin beweist. Allein es will mir scheinen, als ob die Art und Weise der Beeinflussung seitens der Moh a m m e d a n e r weit tiefer greife. W ä h r e n d sie die Afrikaner ebenso, wie die Alten die S t ä m m e Nordeuropas beeinf l u ß t e n , entsenden die Weißen nur ihre Industrieerzeugnisse und einige wenige Vertreter ihrer Rasse. Eine wirkliche Verschmelzung zwischen gebildeten Weißen und Negern h a t in Afrika eigentlich nie s t a t t g e f u n d e n . Die Verschmelzung zwischen Negern und Mohammedanern wird besonders durch die Vielweiberei begünstigt, da die Eroberer sich mit Frauen des Landes verheirateten und ihre Kinder als Mitglieder ihrer eigenen Familie aufzogen. Die Ausbreitung der chinesischen Zivilisation in Ost-

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Die Bewertung der Menschenrassen.

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asien läßt sich wohl mit der allmählichen Ausdehnung der mittelländischen K u l t u r über E u r o p a vergleichen. Kolonisation und Verschmelzung mit verwandten Völkern, in einigen Fällen Ausrottung rebellischer U n t e r t a n e n mit darauffolgender Kolonisation haben zu großer Gleichheit der Kulturform in einem ungeheuren Gebiete g e f ü h r t . Endlich wollen wir noch die niedere Stellung der Neger in den Vereinigten Staaten besprechen, die so oft als Beweis d a f ü r angeführt wird, d a ß der Schwarze sich keine höhere Zivilisation aneignen kann. Obwohl der Neger dort in engster Berührung mit der modernen K u l t u r lebt, dürfen wir nicht vergessen, d a ß das Gefühl der Minderwertigkeit der Negerrasse noch ebenso mächtig ist wie f r ü h e r u n d ein fast unüberwindbares Hindernis gegen den Fortschritt und die Entwicklung bildet, t r o t z d e m d a ß Schulen und Universitäten ihm vielfach offen stehen. Man k ö n n t e sich eher darüber wundern, wieviel in den kurzen J a h r z e h n t e n seit der Aufhebung der Sklaverei im K a m p f e mit großen Schwierigkeiten geleistet ist. Es ist schwer zu sagen, was aus dem Neger werden würde, w e n n er mit dem Weißen auf gleichem Fuße s t ä n d e . Statistische Untersuchungen über die Gelegenheit zum Broterwerb f ü r den Neger in den Vereinigten Staaten beweisen schlagend die Ungunst der Verhältnisse, u n t e r denen er in wirtschaftlichen W e t t bewerb mit den Weißen t r i t t , selbst jetzt, wo die Gleichheit vor dem Gesetze in den N o r d s t a a t e n d u r c h g e f ü h r t ist ( M a r y O v i n g t o n ) . Die Unklarheit des ganzen Denkens, auf dem unsere Rassenvorurteile begründet sind, t r i t t nirgends so deutlich zutage, wie bei der Beurteilung des Negers. In Amerika besonders, wo Weiße und Schwarze in so enger B e r ü h r u n g leben, greift m a n als unwiderleglichsten Beweis schließlich immer auf den Rasseninstinkt zurück, der sich als eine Rassenabneigung oder ein Rassenwiderwille äußern soll. Wie wenig es sich hierbei u m ein physiologisches P h ä n o m e n handelt, beweist die Existenz einer nach Millionen zählenden Mulattenbevölkerung, wie auch die Beschränkung des scharfen Gegensatzes auf Völker, die auf germanischer gesellschaftlicher Grundlage erwachsen. Der Romane ist in

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seiner Beziehung zum Neger viel lässiger. Sicher hat dieses Gefühl nichts mit dem Wert, der Lebenskraft und geistigen Anlage der Negerrasse zu t u n , sondern ist ein gefühlsmäßiger Ausdruck von gesellschaftlichen Verhältnissen, der eben deshalb instinktiv genannt wird. In seinen physischen Quellen ist das Gefühl offenbar dasselbe wie der instinktive Widerstand gegen Kastenmischung in Indien und wie das alte Widerstreben gegen das Konnubium von Patriziern und Plebejern, Adeligen und Bürgerlichen, Christen und Juden, verstärkt durch das Bewußtsein der nie zu verwischenden Ungleichheit in der äußeren Erscheinung, welche ihren Gefühlswert zum Teil aus der verschiedenen Wertschätzung der Rassen schöpft. Ob und inwiefern die Körpermerkmale des Negers die einer niederen Rasse sind, werden wir später untersuchen. Offenbar spielt die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Annahme gar keine Rolle in dem Verhalten der Völker. Sie wird herangezogen, um das Verhalten zu rechtfertigen, aber das Verhalten gründet sich nicht auf sie. In Wirklichkeit liegt in der Kultur des afrikanischen Negers nichts, das die landläufigen Eindrücke rechtfertigt. Ich glaube, man darf im großen und ganzen den Neger an die Spitze der kulturarmen Völker stellen. Ich habe schon von einigen Errungenschaften afrikanischer Kultur gesprochen. Für irgend jemand, der afrikanische Kultur nicht kennt, muß ein Gang durch ein völkerkundliches Museum eine Offenbarung sein. Er sieht da, daß der afrikanische Schmied, Korbmacher, Töpfer, Weber, Holzschnitzer Arbeiten hervorbringt, die künstlerischen Wert haben, die sorgfältig ausgeführt und Beweise einer liebevollen Vertiefung in die Arbeit sind. Ebenso lehrreich sind die Berichte über die Verhältnisse in Afrika. Da hören wir über gewerbsfleißige Dörfer, Handel und Märkte; über Rechtsprechung und geregelte Verwaltung. Das Vorkommen von Männern ungewöhnlicher Geisteskraft wird durch die Geschichte der großen afrikanischen Staatswesen erwiesen, nicht nur im mohammedanischen Norden, sondern auch in Süd- und Zentralafrika. Ich erinnere nur an die Kämpfe der Engländer mit den Zulus und an die Ge-

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schichte der Staatengebilde im südlichen Kongogebiete. D a ß hier bei den allgemeinen Erscheinungen der Kultura r m u t ein rasches Schwanken des Kulturzustandes herrscht, daß, wo heute blühende S t a a t e n bestehen, morgen der Krieg eine Einöde geschaffen h a t und ein allgemeiner industrieller Rückgang in die Erscheinung t r i t t , darf uns nicht in unserem Urteil stören, da es sich nur um die Beantwortung der Frage handelt, was die Rasse u n t e r günstigen Verhältnissen leisten kann. Aus unseren Überlegungen schließen wir, d a ß mehrere Rassen Zivilisationen entwickelt h a t t e n , die den Urformen ähnlich waren, aus denen die europäische K u l t u r entsprossen ist. Eine Reihe günstiger Umstände machte die rasche Verbreitung der F r ü h k u l t u r über Europa und Teile von Asien möglich. D a r u n t e r waren gleiche äußere Erscheinung, nahes Zusammenliegen der Wohngebiete und geringe Unterschiede der Produktionsmethoden die wichtigsten. Als s p ä t e r die zivilisierten Völker sich über die anderen Kontinente verbreiteten, waren die Völker, mit denen sie in Berührung kamen, ungleich ungünstiger gestellt. Großer Unterschied im Rassentypus, die frühere Isolierung, die verheerende Epidemien in den neuentdeckten Gebieten mit sich brachte, und der Fortschritt der Industrien machte die Ausgleichung der Unterschiede höchst schwierig. Die rasche Verbreitung der E u r o p ä e r über die ganze Welt zers t ö r t e alle die verheißungsvollen Anfänge, die hier und da im Entstehen waren. So geschah es, d a ß außer den Ostasiaten kein einziges Volk eine unabhängige K u l t u r entwickeln konnte. Die Eingriffe der Europäer schnitten die Weiterentwicklung der jungen Keime ab, ohne d a ß dieses Ereignis irgendwie von der Begabung der betroffenen Völker bestimmt gewesen wäre. Andererseits haben wir gesehen, d a ß kein großes Gewicht auf die frühere Entwicklung der K u l t u r in der alten Welt gelegt werden darf, da sie sich genügend als ein Ergebnis zufälliger Ursachen erklärt. Kurz zusammengefaßt: gesechichtliche Ereignisse sind ungleich wichtiger f ü r die Rassenentwicklung gewesen als Begabung, und es folgt daraus, d a ß die Leistungen der Rassen nicht als Maßstab ihrer erblichen Begabung b e n u t z t werden dürfen. B o a s , Kultur und Rasse.

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II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen. Nachdem wir so einen vorurteilsloseren Gesichtspunkt gewonnen haben, wollen wir unser Augenmerk genauer auf die Körpermerkmale der Menschenrassen, so weit sie für unsere Fragestellung von Wichtigkeit sind, lenken. Natürlich dürfen wir uns hierbei nicht auf gelegentliche und nichtssagende Bemerkungen von Reisenden stützen, die sich über die ungeheure Größe des Verdauungsapparates, die mangelhafte Entwicklung der Gliedermuskulatur oder die allgemeine Affenähnlichkeit ergehen, ohne irgendwelche greifbare Belege ihrer Behauptungen zu bringen, sondern wir dürfen nur ernsthafte Studien über die Körpermerkmale der Menschenrassen benutzen.

II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen. Ehe wir den Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen besprechen können, ist es unumgänglich, die Stellung des Individuums in der Rasse und die Verhältnisse der Rassentypen zueinander schärfer ins Auge zu fassen, da Unklarheit über diese Beziehungen immer zu Mißverständnissen und irrtümlichen Schlüssen führt. Wir haben bislang die Ausdrücke Rasse und Typus ohne weiteres gebraucht, als ob jede Rasse und jeder Typus eine fest bestimmte Form darstellte. Dieses ist nun durchaus nicht der Fall. Wenn wir alle in einem lokalen Typus vertretenen Individuen miteinander vergleichen, sehen wir sofort, daß sie durchaus nicht gleichartig sind, sondern beträchtliche Verschiedenheiten aufweisen. Wenn wir an einen Schweden und an einen Neger denken, so stehen uns zwei ganz verschiedene Formen vor Augen: der Schwede groß, blond und mit ein wenig welligem Haar, blauäugig, von heller Hautfarbe, mit feinem Gesicht und schmaler Nase; der Neger mittelgroß, mit schwarzem, krausem Haar,

II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen. Nachdem wir so einen vorurteilsloseren Gesichtspunkt gewonnen haben, wollen wir unser Augenmerk genauer auf die Körpermerkmale der Menschenrassen, so weit sie für unsere Fragestellung von Wichtigkeit sind, lenken. Natürlich dürfen wir uns hierbei nicht auf gelegentliche und nichtssagende Bemerkungen von Reisenden stützen, die sich über die ungeheure Größe des Verdauungsapparates, die mangelhafte Entwicklung der Gliedermuskulatur oder die allgemeine Affenähnlichkeit ergehen, ohne irgendwelche greifbare Belege ihrer Behauptungen zu bringen, sondern wir dürfen nur ernsthafte Studien über die Körpermerkmale der Menschenrassen benutzen.

II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen. Ehe wir den Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen besprechen können, ist es unumgänglich, die Stellung des Individuums in der Rasse und die Verhältnisse der Rassentypen zueinander schärfer ins Auge zu fassen, da Unklarheit über diese Beziehungen immer zu Mißverständnissen und irrtümlichen Schlüssen führt. Wir haben bislang die Ausdrücke Rasse und Typus ohne weiteres gebraucht, als ob jede Rasse und jeder Typus eine fest bestimmte Form darstellte. Dieses ist nun durchaus nicht der Fall. Wenn wir alle in einem lokalen Typus vertretenen Individuen miteinander vergleichen, sehen wir sofort, daß sie durchaus nicht gleichartig sind, sondern beträchtliche Verschiedenheiten aufweisen. Wenn wir an einen Schweden und an einen Neger denken, so stehen uns zwei ganz verschiedene Formen vor Augen: der Schwede groß, blond und mit ein wenig welligem Haar, blauäugig, von heller Hautfarbe, mit feinem Gesicht und schmaler Nase; der Neger mittelgroß, mit schwarzem, krausem Haar,

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Einfluß der Erblichkeit auf den T y p u s des Menschen.

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dunklen Augen, dunkler Haut, mit hervortretenden Mundteilen und breiter, flacher Nase. Diese Bilder sind aber nur Abstraktionen aus der Erscheinung der Vielzahl der Individuen, die jeden Typus zusammensetzen. Vergleichen wir die Schweden untereinander, oder die Neger untereinander, so ergibt sich sofort, d a ß jedes Individuum Eigentümlichkeiten hat, die von den anderen nicht geteilt werden. Es gibt große und kleine Schweden; ihr H a a r ist hell oder dunkel, schlicht oder gewellt, ihre H a u t f a r b e heller oder dunkler, ihr Gesicht fein oder grob geschnitten. Und ebenso bei den Negern. Die Dunkelheit der Hautfarbe, das Vorstehen der Mundteile, die Flachheit der Nase — alle zeigen starke Variabilität. Nun h a t die E r f a h r u n g gezeigt, d a ß in fast allen solchen Fällen eine gewisse Form, oder eine gewisse Kombination von Formen, am häufigsten vork o m m t , und daß Abweichungen von dieser Form je größer d e s t o seltener sind. In diesem Sinne k ö n n t e man die häuf i g s t e Form die N o r m nennen. So findet sich bei den Schweden vorherrschend Haar von einem gewissen Grade v o n Blondheit. Viel blonderes Haar, sowie viel dunkleres H a a r ist seltener, und um so seltener, je stärker der Unterschied der betreffenden H a a r f a r b e von dem Normalblond ist. Die Eigentümlichkeit der T y p e n , verschiedenartige F o r m e n zu umfassen, nennen wir Variabilität. Der Grad d e r Variabilität ist bei verschiedenen Gruppen verschieden. M i t u n t e r sind die Individuen einer Gruppe ungemein gleichförmig, — d a n n ist das Vorkommen starker Abweichungen von der Norm sehr selten; in anderen Fällen ist die Verschiedenartigkeit der Individuen, die den Typus zusammensetzen, sehr groß, — dann mag die Norm selten und die s t a r k von der Norm abweichende Werte mögen häufig sein. Da ein T y p u s um so variabler ist, je häufiger von der Norm abweichende Einzelformen vorkommen, kann der mittlere Betrag der Unterschiede zwischen den Einzelformen und der Norm als ein Maß der Variabilität gebraucht werden. 1 1 Eine eingehendere Besprechung der Meßbarkeit der Variabilität ist im Anhang gegeben.



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il. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

Es ist notwendig hier mit größerer Schärfe den Unterschied zwischen einem konstanten W e r t und einem Typus, der verschiedenartige Formen umschließt, ins Auge zu fassen. Es ist sofort einzusehen, d a ß die beiden Sätze: ein Kubikzentimeter Wasser (d. h. reines Wasser von größter Dichtigkeit, und an einem bestimmten Orte) wiegt ein G r a m m ; u n d : die Schotten sind 175 cm groß, nicht gleichartig sind. Wasser ist eben hier mit voller Schärfe definiert. Dehnte ich den Satz auf Wasser irgendwelcher T e m p e r a t u r und mit irgenwelchen Beimengungen aus, so würden beide Sätze ihrer Form nach übereinstimmen. Ich glaube, dieses beweist, d a ß der wesentliche Unterschied der beiden Fälle in der Vollständigkeit der Definition von dem, was Wasser ist, gegenüber der unvollkommenen Definition von dem, was ein Schotte ist (oder auch von dem, was unreines Wasser ist), b e s t e h t ; d a ß d a h e r die K o n s t a n t e das Maß eines vollständig definierten Objekts ist, der T y p u s oder auch die Variable, das Maß einer Klasse. Man sieht hieraus auch sofort, daß, je unvollkommener die Definition um so größer auch die zu erwartende Variabilität ist. Nur wenn wir alle Ursachen kennten und beherrschten, welche die Körperform eines Lebewesens bestimmen, könnte diese eine K o n s t a n t e sein. Die Variabilität im T y p u s ist daher an sich kein biologisches Problem, sondern nur ein Ausdruck davon, d a ß die Körperformen der eine Klasse zusammensetzenden Individuen vielen u n b e k a n n t e n Einflüssen unterliegen. Dieser Gesichtspunkt ist f ü r die ganze anthropologische Auffassung von allergrößter Wichtigkeit, weil er beweist, d a ß jeder einzelne Angehörige einer Klasse oder eines Typus als w e s e n t l i c h e Merkmale die K l a s s e n merkmale hat, die aber durch u n b e k a n n t e Ursachen modifiziert sind. Deshalb haben wir nie das Recht, gleichmaßige Individuen, die verschiedenen Typenreihen angehören, einander gleichzusetzen. Ein Beispiel aus der anorganischen Welt wird dieses klar machen. W e n n man eine Flüssigkeitsserie hat, die als 80prozentiger unreiner Alkohol, eine andere, die als 85prozentiger unreiner Alkohol klassifiziert ist, und die Verunreinigungen aus irgendeinem Grunde der

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Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

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c h e m i s c h e n A n a l y s e , also e i n e r v o l l e n E r f o r s c h u n g d e r U r s a c h e n , nicht zugänglich sind, so h a t m a n nicht das R e c h t , ein M u s t e r d e r e r s t e r e n Serie e i n e m M u s t e r d e r z w e i t e n S e r i e g l e i c h z u s e t z e n , w e n n sie z u f ä l l i g in i r g e n d e i n e r Bez i e h u n g gleiche E i g e n s c h a f t e n a u f w e i s e n s o l l t e n . J a , m a n k a n n noch weiter gehen. Sollte W a s s e r u n t e r den Veru n r e i n i g u n g e n eine R o l l e s p i e l e n , so d a ß e t w a ein M u s t e r d e r e r s t e n u n d eines d e r z w e i t e n Serie, e t w a b e i d e 82 P r o z e n t A l k o h o l e n t h i e l t e n , so w ä r e n sie d o c h n i c h t o h n e weiteres gleichzusetzen, d a die A r t e n der anderweitigen V e r u n r e i n i g u n g e n d e r b e i d e n S e r i e n g a n z v e r s c h i e d e n sein können. E s ist leicht zu b e w e i s e n , d a ß d i e s e s n i c h t m ü ß i g e D i a l e k t i k i s t , s o n d e r n d a ß w i r k l i c h e U n t e r s c h i e d e in s o l c h e n F ä l l e n d i e Regel, n i c h t d i e A u s n a h m e s i n d . S u c h e n w i r z. B . a u s e i n e r B e v ö l k e r u n g , d i e v o r w i e g e n d h e l l b l o n d ist, E l t e r n p a a r e v o n b r a u n e r H a a r f a r b e aus, s o w e r d e n i h r e K i n d e r i m m e r im D u r c h s c h n i t t b l o n d e r s e i n als d i e E l t e r n . W ä h l e n wir aber E l t e r n p a a r e von genau derselben Haarf a r b e aus einer vorwiegend d u n k e l h a a r i g e n Bevölkerung a u s , so w e r d e n i h r e K i n d e r i m m e r im D u r c h s c h n i t t d u n k l e r s e i n als d i e E l t e r n . 1 Die Wichtigkeit dieser B e t r a c h t u n g b e r u h t darin, d a ß m a n i m m e r l e i c h t g e n e i g t ist, v o n b e s t i m m t e n G e s i c h t s p u n k t e n a u s gleich s c h e i n e n d e T y p e n z w e i e r S e r i e n o h n e w e i t e r e s zu i d e n t i f i z i e r e n u n d zu b e h a n d e l n , als o b sie s e l b s t u n a b h ä n g i g e T y p e n seien. Dieser Fehler wird auch h e u t e n o c h o f t v o n b e s o n n e n e n F o r s c h e r n g e m a c h t ; u n d so redet m a n oft von Eigenschaften „der Blonden", „der

1 Die folgenden Werte mögen eine derartige Erscheinung zahlenmäßig ausdrücken. Wählt man Familien aus, in denen Vater und Mutter einen Längenbreitenindex des Kopfes vom Werte 80 haben, und ist der Durchschnittswert des Längenbreitenindex des Kopfes für das Volk, dem sie angehören, 84, dann werden die Kinder einen durchschnittlichen Längenbreitenindex von etwa 82,4 haben. Sollte andererseits der Durchschnittswert für das Volk etwa 76 betragen, so würde bei Kindern der Väter und Mütter, die beide den Längenbreitenindex 80 haben, der entsprechende Wert etwa 77,6 sein.

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II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

K u r z k ö p f e " , „ d e r Schmalgesichter", ganz ohne Rücksicht darauf, d a ß sie sich immer nur als Glieder einer Serie finden und ihr Vergleich ohne Bezug auf die Serie, der sie angehören, gar keinen Sinn g i b t ; und je verschiedener die Serien sind, um so ausgesprochener wird dieses der Fall sein. Andererseits wird man wohl zugeben dürfen, daß, wenn zwei Typen einander recht nahe stehen, d a n n auch die Ähnlichkeiten der Individuen, die in beiden Serien gleiche Maßwerte haben, beträchtlich sein werden. Auf dieser A n n a h m e b e r u h t nun ein zweiter Gesichtspunkt, der bei der Rassenvergleichung von Bedeutung ist. Es ist schon im vorhergehenden a n g e d e u t e t , d a ß die Verteilung der Maße bei verschiedenen Völkertypen gewöhnlich derart ist, d a ß die gleichen Maße in den verglichenen Serien vorkommen. So mag ein Volk im Durchschnitt kleiner sein als ein anderes. D a r u m werden aber doch dieselben K ö r p e r m a ß e in beiden vorkommen, nur werden die kleinen Maße bei ihnen häufiger, die großen seltener sein, und außerdem mögen die allerkleinsten Maße nur ihnen, die allergrößten nur dem größeren Volke angehören. Es wird also ein starkes Übergreifen der Zahlenwerte beider Serien s t a t t f i n d e n . Vergleicht man andererseits etwa Haarfarben eines dunkelhaarigen und eines blonden Typus, etwa der Norditaliener und Schweden, so wird das Übergreifen viel geringer sein, weil es die sehr vielfach vorkommenden dunklen Farben der Italiener in Schweden k a u m gibt. Noch deutlicher würde eine solche Verschiedenheit sich bei einem Vergleiche der H a u t f a r b e n der Neger und der Nordeuropäer zeigen, bei denen es gar kein Übergreifen gibt. Es ist nun wohl klar, d a ß wir die Verschiedenheit zweier Typen nicht nur nach dem Unterschiede zwischen den häufigsten oder Durchschnittswerten bemessen, sondern d a ß sie auch um so verschiedener erscheinen müssen, je weniger die Serien übergreifen. So erscheint uns natürlich ein Garderegiment der Körpergröße nach deutlich verschieden von einem Füsilierbataillon der Linie, weil in beiden die Verschiedenartigkeit der Körpergröße durch Auswahl beschränkt ist, bei der Garde durch Auswahl der

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E i n f l u ß der Erblichkeit auf d e n T y p u s des M e n s c h e n .

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Großen, bei den Füsilieren durch Auswahl der Kleinen. Stellen wir aber zwei natürliche Bevölkerungsgruppen nebeneinander, in denen Große und Kleine vorkommen, u n d die ebensoviel im Durchschnitt variieren, so erhalten wir nicht einen so klaren Ausdruck der Verschiedenheit, u n d diese erscheint daher weniger bedeutungsvoll. Es läßt sich nun zeigen, daß, je s p ä t e r im Leben sich ein Individualmerkmal entwickelt, desto stärker das Übergreifen der Serien ist. Nach dem Vorhergehenden dürfen wir d a h e r auch sagen, d a ß die entsprechenden Typenunterschiede um so weniger bedeutungsvoll, die Individualunterschiede dagegen um so wichtiger sind. Spezifische Rassenunterschiede, d. h. Unterschiede, bei denen die Individualabweichungen in jedem Typus so klein bleiben, d a ß die Serien nicht übergreifen, sind fast alle schon in sehr frühen Lebensstadien voll entwickelt. Man darf wohl sagen, daß, je schärfer die T r e n n u n g zweier Typen, um so f r ü h e r auch die Verschiedenheit sich herausbildet. So ist die wesentliche Rassenzugehörigkeit eines europäischen, eines indianischen und eines Negerkindes schon sehr f r ü h und u n v e r k e n n b a r ausgesprochen. Vor dieser Entwicklung liegt eine Periode, in der zunächst die Typenverschiedenheit wohl in der Anlage vorhanden, aber noch nicht so spezifisch ausgedrückt ist; d a n n aber durch Differenzierung vers t ä r k t wird. Es ist also dieses eine Lebensperiode, in der die Typendifferenzierung die Individualdifferenzierung überwiegt. Die Typendifferenzierung dauert bis zum vollendeten W a c h s t u m und setzt sich sogar in gewissem Sinne durch das ganze Leben fort. Daher k o m m t es, d a ß die besonderen Volkscharaktere am deutlichsten bei Männern ausgesprochen erscheinen, da bei ihnen das W a c h s t u m am intensivsten ist und am längsten d a u e r t . In sehr f r ü h e m Lebensalter setzt aber auch eine Individualdifferenzierung ein, die ebenfalls das ganze Leben hindurch andauert. Es will nun scheinen, d a ß nach der Geburt die individuelle die erblich b e s t i m m t e Rassendifferenzierung s t a r k überwiegt, so d a ß bei allen den Merkmalen, die zur Zeit der Geburt oder vielleicht kurz nachher nicht scharf spezifisch unterschieden sind, es auch nie zu einer vollkommenen

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Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

Scheidung k o m m t , vielmehr das Übergreifen der Serien beständig z u n i m m t . Ausgeschlossen hiervon sind einige sekundäre Geschlechtsmerkmale, die sich zur Zeit der Geschlechtsreife entwickeln und nur dem einen oder dem anderen Geschlecht angehören. Es ist zu bemerken, d a ß all dieses nur von natürlich gegebenen Gruppen gilt; denn es ist wohl denkbar, d a ß durch geeignete Auswahl, oder, wo dieses möglich ist, durch künstliche Veränderung der Lebensbedingungen und durch Zuchtwahl individuelle Eigenschaften in Typeneigenschaften verwandelt werden können, indem man nämlich Gruppen von bestimmt gearteten Individuen züchtet. Dieses h a t z. B. J o h a n n s e n in seinen Experimenten mit selbstbef r u c h t e t e n Bohnen ausgeführt, die spezifisch verschiedene „reine Linien" ergeben, d a durch seine Auswahl und die Inzucht die individuellen Merkmale einer kleinen, aus der stark variablen Gruppe herausgegriffenen Anzahl gleichartiger Individuen zu einer Gruppeneigenschaft erhoben wurden. Es scheint nicht überflüssig, diese Behauptungen durch bestimmte Angaben zu erhärten. Zunächst möchte ich nachweisen, d a ß die Entwicklungsstufen, auf denen Individuen in einem b e s t i m m t e n Alter stehen, um so stärker variieren, je älter die Individuen sind, so d a ß sich hieraus eine mit dem Alter stetig wachsende Verschiedenartigkeit gleichaltriger Individuen f ü r solche Merkmale ergibt, die im Laufe des Lebens nicht k o n s t a n t bleiben. 1 Wenn beispielsweise der durch den Durchbruch der ersten Milchzähne gekennzeichnete Zustand in seinem E i n t r i t t um wenige Wochen, der durch den Durchbruch der Weisheitszähne b e s t i m m t e dagegen um etwa zwei J a h r e variiert, so b e d e u t e t dies, d a ß im letzteren Alter die gleichaltrigen Individuen s t ä r k e r voneinander abweichen, als im ersteren. Es läßt sich n u n durch die Untersuchung des E i n t r i t t s verschiedenartiger 1 Hier ist von solchen Wachstumserscheinungen abzusehen, die rasch an Geschwindigkeit abnehmen. Bei diesen kann während der Periode der Verlangsamung des Wachstums die Verschiedenartigkeit der Serie geringer werden.

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E i n f l u ß der Erblichkeit auf d e n T y p u s d e s M e n s c h e n .

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physiologischer Erscheinungen zeigen, d a ß der Grad der Verschiedenartigkeit von der Geburt an sehr rasch zunimmt. Zur Zeit der Geburt b e m i ß t sich die Variabilität der Zeit des E i n t r i t t s bestimmter Entwicklungsstufen nach Tagen, im Alter von zwanzig J a h r e n beträgt sie — 2 Jahre, und ist im Alter von 45 J a h r e n auf etwa 4 oder 5 J a h r e gewachsen. N u n h a t die so zunehmende Verschiedenartigkeit der Entwicklungsstufen nur eine Bedeutung f ü r Lebenserscheinungen, die sich ihnen gemäß stetig ändern. Dieses t r i f f t besonders bei physiologischen und psychologischen Vorgängen zu, die fast alle s t a r k vom Alter beeinflußt werden. Zirkulation, Ernährung, Nerven- und Muskeltätigkeit hängen so s t a r k vom Alter ab, d a ß m a n bei ihnen allen mit zunehmenden J a h r e n eine v e r s t ä r k t e individuelle Verschiedenartigkeit erwarten muß. Ihre Individualunterschiede nehmen d a h e r mit der Zeit zu. Andererseits haben wir keine Beobachtungen zu verzeichnen, die beweisen, d a ß auf höheren Altersstufen, besonders nach der Geschlechtsreife, Typendifferenzen sich noch irgendwie in dem Grade verstärken, wie dies bei Individualdifferenzen der Fall ist. Sollte sich dieses bei weiterer Forschung bestätigen, so würde sich ergeben, d a ß bei physiologischen und psychologischen Erscheinungen die Verschiedenartigkeit der T y p e n n o r m e n im Vergleich zu der Größe der Individualdifferenzen mit dem Alter abn i m m t . Ist daher die Typendifferenz schon in der J u g e n d klein, so wird das gegenseitige Übergreifen der Serien, das wir vorher erläutert haben, mit dem Alter immer größer werden. Die ganze Erscheinung der zunehmenden Verschiedenartigkeit der Entwicklungsstufe im Verlaufe des Lebens ist natürlich belanglos f ü r Merkmale, die sich vom Ende der Wachstumsperiode bis ins Greisenalter nicht wesentlich ändern. Die meisten anatomischen Merkmale gehören in diese Klasse. Aber ganz abgesehen von diesem Gesichtsp u n k t e könnten sich ja trotz der Z u n a h m e der Verschiedenartigkeit der Entwicklungsstufen Rassenunterschiede verstärken, wenn die Wachstums-, bezüglich Rückgangsperiode

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II.

Einfluß der Erblichkeit auf den T y p u s des Menschen.

in verschiedenen Rassen ganz anders geartete Eigenheiten h ä t t e n . D a ß diese vorkommen, ist oft b e h a u p t e t aber nie bewiesen worden. Besonders ist die Ansicht ausgesprochen worden, d a ß die Dauer der Wachstumsperiode bei verschiedenen Rassen typisch verschieden sei. In einem solchen Falle wäre Z u n a h m e der Differenzierung im Laufe des Lebens möglich, falls nicht die Verkürzung der Wachstumsperiode mit einer Beschleunigung der Wachstumsgeschwindigkeit v e r k n ü p f t sein sollte, wie das bei den verschiedenen Gesellschaftsschichten derselben Rasse wohl vork o m m t . Bislang ist indessen nur der Beweis erbracht, d a ß wohl nicht die W a c h s t u m s r a t e n bei allen Rassen ganz gleich sind, aber nicht, d a ß sie wesentlich voneinander abweichen. So wissen wir ziemlich sicher, d a ß der Halbblutindianer etwas anders wächst als der Vollblutindianer, die Unterschiede sind aber nicht derart, d a ß sie eine endgültige größere Rassenverschiedenheit hervorbringen. Wir wissen leider noch allzuwenig über das verschiedenartige W a c h s t u m der Menschenrassen u n d können deshalb unsere Frage nicht mit voller Sicherheit beantworten. Alle b e k a n n t gewordenen Untersuchungsserien weisen aber darauf hin, d a ß vom f ü n f t e n J a h r e an bei rasch weiterwachsenden Merkmalen das Maß der individuellen Unterschiede bedeutend rascher zunimmt als der kleine noch zu erwartende Zuwachs der Typenunterschiede. Wir dürfen daher wohl die bis jetzt bekannten T a t s a c h e n dahin zusammenfassen, d a ß wohl durchweg f ü r Organe, f ü r die sich kurz nach der Geburt noch keine scharf ausgesprochenen Rassenmerkmale herausgebildet haben, diese auch nicht m e h r zum Durchbruch kommen, d a ß vielmehr die allgemeine Tendenz die sein wird, ein stärkeres Übereinandergreifen der Typen bei den raschen und lang a n d a u e r n d e n Veränderungen ausgesetzten Formen und K ö r p e r f u n k t i o n e n herauszubilden. Die schärfere Fassung des Typenbegriffs, die wir zu geben versucht haben, setzt uns n u n in den Stand, der Untersuchung der Verschiedenartigkeit menschlicher Körperformen näher zu treten. Wir müssen hierbei scharf zwischen zwei Problemen

II.

E i n f l u ß der Erblichkeit auf den T y p u s d e s M e n s c h e n .

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unterscheiden, die allzuoft bei vergleichenden Untersuchungen über die Eigenschaften, besonders aber die geistigen Eigenschaften von zivilisierten und kulturarmen Völkern verquickt werden. Das eine bezieht sich auf Unterschiede zwischen Rassen; das andere auf Unterschiede zwischen Gesellschaftsgruppen, die der gleichen Rasse angehören. Die Ausdrücke „zivilisiert" und „ k u l t u r a r m " , „ p r i m i t i v " oder „ N a t u r v o l k " enthalten nichts, das auf Rasse Bezug hat, und es ist wohl denkbar, d a ß es zivilisierte Gruppen gibt, die verschiedenen Rassen angehören, wie etwa Chinesen und Europäer, und daß es zivilisierte und k u l t u r a r m e Völker gibt, die der gleichen Rasse angehören, wie etwa die Yukagieren in Sibirien und die Chinesen, oder wie die gebildeten Neger der Vereinigten S t a a t e n und die S t ä m m e der afrikanischen Küste. Die beiden Probleme, von denen sich das eine auf die Verschiedenheit der Menschenrassen, das andere auf die Verschiedenheiten zwischen den Gesellschaftsgruppen derselben Rasse bezieht, sind natürlich grundverschieden und verlangen ganz gesonderte Betrachtung. Das erstere ist ein Problem der Erblichkeit, das zweite des Umweltseinflusses. Wir wollen zunächst das Problem der Erblichkeit besprechen, denn, selbst wenn man die größtmögliche W i r k u n g des Umweltseinflusses zugibt, ist doch nicht an der Tatsache zu rütteln, d a ß alle H a u p t m e r k m a l e des Menschen zu allererst auf erblicher Anlage beruhen. Die Nachkommen von Negern sind und bleiben Neger, die von Weißen Weiße. Wir dürfen sogar viel weiter gehen und sagen, d a ß alle h a u p t sächlichen Einzelzüge eines jeden Typus sich bei seinen Nachkommen wieder vorfinden müssen, d a ß sie aber durch Einflüsse der Umwelt modifiziert in die Erscheinung treten können. Es ist mir wahrscheinlich, d a ß der Umweltseinfluß sich so äußert, daß, wenn eine Rasse in neuer Umgebung ihren Charakter ändert, sie doch bei der Rückkehr in die alten Verhältnisse auch wieder wesentlich die alte Form annehmen würde. Diese Ansicht ist nicht durch anthropologisches Material zu erhärten, scheint aber plausibel, da sie analog dem Verhalten von Pflanzen und Tieren ist. Es ist natürlich höchst wichtig, diesem Problem an der Hand von anthropolo-

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II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

gischem Untersuchungsmaterial nahezutreten. Dieses ist bislang nicht geschehen. Um n u n ein klareres Bild des Rassenproblems zu erhalten, müssen wir zunächst einige allgemeinere Fragen über Erblichkeit kurz beleuchten. Von modernen Anthropologen werden zwei Theorien betreffs der Art der Vererbung elterlicher Merkmale vertreten. F r a n c i s G a l t o n und seine Anhänger glauben, d a ß die Körperform eines jeden Individuums von dem Rassentypus der Eltern abhängt, d a ß sie indessen durch die Tendenz beeinflußt wird auf die F o r m zurückzuschlagen, die gerade in der Mitte zwischen der individuellen Form des Vaters und der Mutter steht. Ist z. B. der Vater eines Individuums ungewöhnlich groß, die M u t t e r wenig größer als der f ü r die Rasse charakteristische Mittelwert, so wird angenommen, d a ß die Kinder im Mittel eine Körpergröße besitzen w ü r d e n , die dem typischen Mittelwerte f ü r die Rasse näher liegt, als die exzessiven W e r t e der E l t e r n , d a ß die Abweichung der Körpergröße der Kinder vom Mittel aber nur von dem Werte, der genau zwischen den Maßen beider Eltern liegt, abhängig sein würde. Diese Ansicht ist aber k a u m h a l t b a r gegenüber den zahllosen an Pflanzen und Tieren gemachten Beobachtungn, die zeigen, d a ß bei der Mischung von Varietäten gewisse Nachkommenreihen dem väterlichen, andere dem mütterlichen T y p u s folgen, allerdings nicht in der Weise, d a ß ein Individuum alle väterlichen oder mütterlichen Merkmale aufweist, sondern so, d a ß diese ein buntes Gemisch bilden, welches n u r in wenigen Beziehungen beschränkt zu sein braucht. B e k a n n t lich g r ü n d e t sich diese Anschauung auf eine Reihe von Beo b a c h t u n g e n , die von G r e g o r M e n d e l gemacht sind, und man n e n n t diese Aufspaltung der Merkmale deshalb M e n d e l s c h e Vererbung. Ihre allgemein durchgehende Eigentümlichkeit ist das Aufspalten der elterlichen Merkmale in ganz b e s t i m m t e n zahlenmäßigen Verhältnissen, nämlich so, daß bei den Nachkommen von zwei Typen, die rein und generationsweise weitergezüchtet werden, so d a ß die P a a r e immer nach gleichen Merkmalen ausgesucht werden, in jeder Generation verschiedene Typen mit b e s t i m m t e r Häufigkeit

II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

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a u f t r e t e n . Ein einfacher Fall ist etwa der, d a ß bei der Hybridisierung zweier Pflanzen die erste gemischte Generation einen Mischtypus darstellt; die folgende, nur aus der ersten gemischten Generation gezogene Serie in drei T y p e n auseinanderfällt, von denen der erste und zweite je einem E l t e r n t y p u s gleicht und je ein Viertel aller Individuen u m f a ß t , während der dritte, welcher die übrige H ä l f t e ausmacht, wieder der ersten gemischten Generation gleicht. Zieht m a n nun das erste oder zweite Viertel dieser Generation rein weiter, so bleibt der T y p u s der Nachkommen k o n s t a n t . Die Mischform erscheint nie wieder. Zieht m a n den Rest weiter, so spaltet er sich wieder in denselben Zahlenverhältnissen. Es k o m m t auch häufig vor, daß der eine E l t e r n t y p u s der ganzen Mischform seinen Typus aufprägt. In einem dem vorigen analogen Falle würde d a n n die ganze erste gemischte Generation dem einen Elternt y p u s gleich sein, den man deshalb den d o m i n a n t e n T y p u s n e n n t ; das erste Viertel der nächsten Generation würde dem zweiten Elterntypus gleichen, die übrigen drei Viertel aber dem ersten Elterntypus. Wie gesagt, das Gemeinsame all dieser Erscheinungen liegt in der B e s t i m m t h e i t der zahlenmäßigen Häufigkeit verschiedener Typen, nicht in den absoluten Zahlenwerten selbst, die bei verschiedenen Tieren und Pflanzen, und bei verschiedenen Merkmalen sehr verschiedenartig sind ( B a u r , P l a t e ) . Hiernach d ü r f t e man also annehmen, d a ß auch beim Menschen der Nachkomme zweier verschiedener Typen in bezug auf jedes Einzelmerkmal wohl ein gemischter T y p u s sein k a n n , daß aber seine Nachkommen, falls kein neuer Einschlag s t a t t f i n d e t , zum Teil gemischte T y p e n sein, zum Teil aber auch auf den einen oder anderen Elterntypus in Bezug auf einzelne Merkmale zurückschlagen werden. Ich glaube der erste, der das Aufspalten alter Rassenmischungen beim Menschen zu unserer Kenntnis gebracht hat, war F e l i x v o n L u s c h a n , der nachwies, d a ß im südlichen Kleinasien die Kopfform bei einer gesellschaftlich einheitlichen Bevölkerung sehr s t a r k schwankt, und d a ß sich deutlich Individuen, die der armenoiden Bevölkerung

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II.

Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

des inneren Kleinasiens, mit ausgesprochen kurzem, hohen Kopfe gleichen, von anderen unterscheiden lassen, die dem lang- und niedrigköpfigen syrischen K ü s t e n t y p u s angehören. Zwischen diesen beiden T y p e n liegende Formen kommen dagegen selten vor. Es handelt sich hier demnach um eine alte, j a h r t a u s e n d e l a n g fortgesetzte Mischung, bei der die Ahnentypen immer wieder zum Durchbruch k o m m e n . Ganz ähnliche Verhältnisse haben sich in Italien nachweisen lassen, wo im Norden eine s t a r k kurzköpfige, im Süden eine langköpfige Bevölkerung wohnt. Im mittleren Italien sind beide T y p e n infolge von J a h r t a u s e n d e anhaltenden Völkerwanderungen s t a r k gemischt. Hier zeigen nun die Norditaliener und Süditaliener viel größere Einheitlichkeit des Typus, als die aus beiden gemischten Mittelitaliener, und die starke Verschiedenartigkeit in Bezug auf den Kopfindex, die sich hier findet, ist wohl nur als Rückschlag auf die beiden K o m p o n e n t e n der lang fortgesetzten Mischung zu verstehen. Ähnliche Beobachtungen konnte ich bei amerikanischen Mestizen, d. h. Kindern indianischer Mütter und weißer Väter machen. Das meiste mir zur Verfügung stehende Material waren Mischlinge späterer Generationen. Der auffälligste Maßunterschied zwischen der amerikanischen und europäischen Rasse findet sich in der Gesichtsbreite. Eine ziemlich lange Serie von Gesichtsbreiten von Mestizen zeigt nun deutlich, d a ß diese sich nicht um den Mittelwert zwischen den Maßen beider Rassen bewegen, sondern d a ß die Kinder sich entschieden entweder dem Typus der Weißen oder dem der Indianer nähern. Mit anderen Worten die typische Erscheinung M e n d e l s c h e r Bastarde, bei denen in späteren Abkömmlingen gemischter Generation Reincharaktere gefunden werden, ergab sich hier in Gestalt einer entschiedenen Neigung zum Rückschlag auf reinere, den elterlichen Formen nahe verwandte Formen, und selteneres Vorkommen der zwischenliegenden Werte. Die Beobachtungen scheinen auch a n z u d e u t e n , d a ß die erste Bastardgeneration sich nicht m e r k b a r von den späteren Generationen unterscheidet und die Neigung zu Rückschlägen allen Generationen eigen ist. Die Verteilungsform

II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

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der Maße läßt sich aber wohl k a u m restlos als ein vollständiger Rückschlag auf die Elternrassen erklären. Es darf hier noch erwähnt werden, d a ß nicht alle Körpermerkmale der Halbblutindianer die gleiche Tendenz haben, d a ß z. B. die Körpergröße der gemischten Rasse die beider Elternrassen ü b e r t r i f f t . Ähnliche Verhältnisse h a t E u g e n F i s c h e r bei den Mischlingen, die von H o t t e n t o t t e n und Buren a b s t a m m e n , gefunden. Hier zeigt die H a a r f o r m ganz deutlich die Tendenz, vorwiegend auf die elterlichen Formen zurückzuschlagen. Die Mischlinge haben vorwiegend entweder krauses oder schlichtes Haar. Mittelformen scheinen seltener zu sein. Auch andere Eigenschaften fallen vielleicht auseinander, obwohl dieses nicht so deutlich zutage tritt, wie man vielleicht erwarten d ü r f t e . Die Körpergröße verhält sich ähnlich wie die der indianischen Mestizen. Sie übertrifft die beider E l t e r n t y p e n . Es gibt noch mancherlei Einzelbeobachtungen, die angeblich nachweisen sollen, d a ß die M e n d e l s c h e n Gesetze auch beim Menschen gültig sind; doch scheinen mir die Beobachtungen nicht überzeugend und reichen nicht hin, um die Vorgänge der Erblichkeit aufzuklären. Sie zeigen aber doch mit Sicherheit, d a ß oft eine Aufspaltung der Mischtypen, ein wechselnder Rückschlag auf die Elternformen s t a t t f i n d e t . Es ist nun außerordentlich wichtig zu wissen, ob dieses Aufspalten nur bei Rassenmischung v o r k o m m t , oder ob es sich auch bei Familien, die dem g l e i c h e n T y p u s angehören, nachweisen läßt. Ich bin in der Lage gewesen, diese Frage bei den in New York lebenden osteuropäischen J u d e n zu untersuchen. Eine einfache Überlegung zeigt, daß, falls die Körperform der Kinder n u r von dem Mittelwerte der entsprechenden Formen der Eltern b e s t i m m t wird, d a n n die Kinder einer Familie denselben Ähnlichkeitsgrad untereinander haben müssen, wie groß auch der Unterschied zwischen den Körperformen der Eltern sein m a g ; denn wenn sie nur auf die Mittelform zwischen den Eltern zurückschlagen, so ist es einerlei, ob die Mutter ein sehr kleines und der Vater ein sehr großes Maß aufweist, oder

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II. E i n f l u ß der Erblichkeit auf den T y p u s des Menschen.

ob beide Eltern den Mittelwert des Maßes besitzen. In beiden Fällen würde der Mittelwert f ü r die Elternpaare der gleiche sein und ihr Einfluß auf die Kinder sollte d a h e r auch in beiden Fällen derselbe sein. W e n n andererseits Rückschläge auf die Elternformen s t a t t f i n d e n sollten, m ü ß t e dieser Einfluß ganz anders sein. In Familien, in denen beide Eltern Maße nahe dem Mittelwerte aufweisen, sollten die Maße der Kinder auch um den Mittelwert schwanken. W e n n aber die M u t t e r ein ungewöhnlich kleines, der Vater ein ungewöhnlich großes Maß h a t , m ü ß t e n einige Kinder der Mutter, andere dem Vater ähneln, und deshalb m ü ß t e man in den Familien um so größere Unähnlichkeit der Geschwister erwarten, je verschiedener die T y p e n der Eltern sind. Die Zusammenstellung von Material, das bei mehreren tausend Familien gesammelt ist, zeigt nun deutlich, d a ß die Verschiedenartigkeit der Kinder von Eltern, die beide der gleichen Rasse und dem gleichen lokalen T y p u s angehören, u m so größer ist, je größer der Maßunterschied zwischen beiden Eltern ist, so d a ß wir eine entschiedene Neigung zu Rückschlägen auf die Elternformen annehmen dürfen. Einen Beweis der Dominanz f ü r irgendeinen T y p u s gibt es aber nicht. Diese Beobachtungen entsprechen ganz den laufenden Vorstellungen über Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern. Die Beziehungen zwischen den leiblichen und geistigen Eigenschaften von Eltern u n d Kindern lassen sich auch in einer anderen Form zum Ausdruck bringen. Welche Form nämlich auch die Erblichkeit haben m a g , ob sie sich in Rückschlägen, Dominanz oder Zwischenformen äußert, immer wird das R e s u l t a t sich als eine durchschnittliche Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern ausdrücken lassen. Sind viele Kinder den Eltern gleich, oder sind die Unterschiede zwischen Eltern und allen Kindern gering, so wird sich immer ein hoher Grad von Ähnlichkeit ergeben. Es ist hier notwendig, auf den relativen W e r t des Begriffes „Ähnlichkeit" a u f m e r k s a m zu machen, der in gewissem Sinne der Relativität des Begriffes „ T y p e n u n t e r schied" analog ist. Diesen haben wir auf S. 18ff. besprochen.

I I . Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

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Diese R e l a t i v i t ä t ist leicht e i n z u s e h e n . H a b e n wir eine B e v ö l k e r u n g , die n u r aus S c h w e d e n b e s t e h t , so sind die U n t e r s c h i e d e zwischen E l t e r n u n d K i n d e r n augenfällig. H a b e n wir eine B e v ö l k e r u n g , die z u r H ä l f t e a u s reinen N e g e r n , z u r H ä l f t e a u s reinen S c h w e d e n b e s t e h t , so ist die Ä h n l i c h k e i t zwischen s c h w e d i s c h e n K i n d e r n u n d ihren E l t e r n g r o ß . W a s hier in einem e x t r e m e n Falle vorliegt, k o m m t a b e r überall v o r : die F a m i l i e n ä h n l i c h k e i t ist u m so a u f f a l l e n d e r , je g r ö ß e r die V e r s c h i e d e n a r t i g k e i t der F a m i l i e n , die ein Volk z u s a m m e n s e t z e n . Man s i e h t j a leicht, d a ß , w e n n wir n u r eine einzige F a m i l i e in B e t r a c h t ziehen, es a u c h keine F a m i l i e n ä h n l i c h k e i t m e h r gibt, sond e r n n u r individuelle U n t e r s c h i e d e . E s folgt h i e r a u s , d a ß sich a u c h keine z a h l e n m ä ß i g e A n g a b e ü b e r die Ähnlichk e i t v o n E l t e r n u n d K i n d e r n m a c h e n l ä ß t , o h n e die Vers c h i e d e n a r t i g k e i t d e r B e v ö l k e r u n g in B e t r a c h t zu ziehen. Diese z a h l e n m ä ß i g e B e s t i m m u n g l ä ß t sich e t w a auf f o l g e n d e Weise m a c h e n . W ä h l t m a n eine A n z a h l v o n M ü t t e r n a u s , die alle u m d e n gleichen B e t r a g v o n d e m M i t t e l w e r t e , d e r f ü r die g e s a m t e B e v ö l k e r u n g c h a r a k t e r i stisch ist, a b w e i c h e n , so k a n n m a n d a n n den M i t t e l w e r t i h r e r K i n d e r b e s t i m m e n u n d b e r e c h n e n , wieweit dieser v o n d e m Mittelwerte der gesamten Bevölkerung abweicht. J e n ä h e r die W e r t e f ü r M ü t t e r u n d K i n d e r z u s a m m e n f a l l e n , u m so g r ö ß e r wird die Ä h n l i c h k e i t s e i n ; j e w e i t e r sie v o n e i n a n d e r a b s t e h e n , u m so g r ö ß e r w i r d die U n ä h n l i c h k e i t sein. Ihr gegenseitiges V e r h ä l t n i s wird d a h e r ein M a ß d e r Ä h n l i c h k e i t sein. In d e m Beispiele d e r g e m i s c h t e n Negeru n d S c h w e d e n b e v ö l k e r u n g w e r d e n n a t ü r l i c h die V a r i a t i o n e n d e r F a r b e f ü r j e d e d e r beiden G r u p p e n r e l a t i v s e h r klein sein, u n d m a n k ö n n t e o h n e weiteres sagen, die K i n d e r aller S c h w a r z e n sind s c h w a r z , die K i n d e r aller W e i ß e n weiß, so d a ß die Ä h n l i c h k e i t , d u r c h d a s V e r h ä l t n i s zwischen d e m M a ß e d e r E l t e r n und d e m m i t t l e r e n M a ß e i h r e r K i n d e r ausg e d r ü c k t , gleich eins sein w ü r d e . B e t r a c h t e t m a n a n d e r e r seits eine rein s c h w e d i s c h e B e v ö l k e r u n g , so ergeben sich kleine D i f f e r e n z e n im T e i n t , die sich als eine viel kleinere Ä h n lichkeit zwischen E l t e r n u n d K i n d e r n a u s d r ü c k e n m ü s s e n . In biologischem Sinne k ö n n e n wir d a h e r n i c h t v o n einer Boas,

Kultur u n d Rasse.

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II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

Ähnlichkeit sprechen, die nicht zugleich ein Maß der Heterogeneität der Bevölkerung ist. J e inniger alle Elemente durch Inzucht vermischt sind, um so reiner wird die biologische Ähnlichkeit zum Ausdruck kommen. J e stärker die Heterogeneität, die unvollkommene Ausgleichung der Volkselemente durch selektive P a a r u n g oder durch anders hervorgebrachte Differenzierung, u m so größer wird die scheinbare Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern sein. Es ist vielleicht nicht überflüssig, diese Verhältnisse noch von anderer Seite zu beleuchten. So weit erbliche Einflüsse in Betracht kommen, ist natürlich jedes Individ u u m in seiner Körperform von allen seinen Ahnen bes t i m m t . Abweichungen können nur durch Umweltseinflüsse u n d andere ähnlich wirkende Ursachen zustande kommen. Dieses bedeutet nicht, d a ß jedes Individuum dieselbe Form haben muß, sondern d a ß die allgemeine Verteilung der Formen f e s t b e s t i m m t ist. H ä t t e n wir nur intermediäre Erblichkeit, so m ü ß t e n alle Individuen einer Serie bei panmiktischer P a a r u n g die gleiche Form haben, da eben jedes Individuum das Mittel aus allen Elternpaaren darstellen würde, die natürlich um so mehr gleich sein würden, je länger die Mischung f o r t d a u e r t . Bei irgendeiner Form M e n d e l s c h e r Erblichkeit dagegen hat jede Generation Variabilität wegen der verschiedenartigen Rückschläge. Für e i n e Ahnenserie muß aber der Mittelwert f ü r jede Generation derselbe bleiben, da bei panmiktischer Mischung auch die Arten der Mischungen dieselben bleiben. Am einfachsten liegt dieser Fall bei fortgesetzter Selbstbefruchtung. W a s auch das Gesetz der Erblichkeit sein mag, es k a n n sich in diesem Falle kein Einfluß der Gesamtbevölkerung auf die Abkömmlinge mehr geltend machen, sondern alles spielt sich im R a h m e n dieser einen Linie ab. Dasselbe ist aber auch bei einer festen Ahnenlinie der Fall. Bekanntlich hat J o h a n n s e n diese Erscheinungen experimentell entdeckt und sogar gezeigt, d a ß z. B. bei selbstbefruchteten Bohnen die Abweichungen der Individuen von dem Mittel der Linie gar keinen hereditären W e r t haben. Es ist aber im Auge zu behalten, d a ß diese Erscheinung bei jeder Art von Erblichkeit eintreten muß und nur ein Ausdruck

II.

E i n f l u ß der E r b l i c h k e i t auf den T y p u s des M e n s c h e n .

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der Gleichartigkeit der A b s t a m m u n g der Familiengruppen ist, d a ß daher die isolierte Linie etwas ganz willkürliches ist, und nur ein ausgewählter Fall der unendlich vielen Erblichkeitslinien darstellt, die in der ganzen Serie vorkommen. Es sind demnach bei der Beurteilung der Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern zwei Fragen zu unterscheiden: die Homogeneität der Serie und die Abhängigkeit der Maße der Kinder von denen der Eltern in einer aus dieser Gesamtserie herausgegriffenen Gruppe gleicher Abstammung. Bestimmt man nun den Grad der Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern, so ergeben sich nicht überall die gleichen Werte. Englische Forscher haben in einer Anzahl von Fällen Werte f ü r die Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern erhalten, die etwa 0,46 betragen; d. h. also: wenn z. B. alle die Väter oder Mütter zusammengestellt werden, die ein um 5 Einheiten höheres Maß aufweisen als das Mittel der Bevölkerung, so werden ihre Kinder ein Mittelmaß haben, das 0,46 x 5 = 2,3 Einheiten über dem Mittel der Gesamtbevölkerung liegt. Für osteuropäische J u d e n habe ich f ü r die Kopfmaße einen Ähnlichkeitskoeffizienten von 0,36 erhalten; f ü r E u g e n F i s c h e r s südafrikanische Bas:arde, Mischlinge von H o t t e n t o t t e n und Europäern, ist der Betrag sogar nur 0,26. Wie diese Beträge sich f ü r die Ähnlichkeit zwischen Individuen und ihren Großeltern gestalten mögen, ist empirisch nicht b e k a n n t . Theoretisch läßt sich dagegen der Wahrscheinlichkeitsbeweis d a f ü r erbringen, d a ß die Ähnlichkeit zwischen Vater oder Mutter und Kindern bei einer g a n ; gleichartigen Bevölkerung ohne Ahnenverlust etwa 0,3 Deträgt, und in jeder weiter zurückliegenden Generation f ü r jeden Ahnen f ü r sich allein betrachtet 0,6, geteilt durch die Zahl der Vorfahren der betreffenden Generation, ausmacht. Ist also der W e r t höher als 0,3 f ü r die Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern, so kann man wohl ohne weiteres Heterogeneität annehmen. Das Maß der Heterogeneität bestimmt sich nun aus der Geschwisterähnlichkeit, mit anderen Worten aus der V a r a b i l i t ä t der Individuen ganz gleicher Ahnenreihen. So habt ich f ü r die Bevölkerung von Worcester (Massachusetts) 3*

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II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

einen mittleren W e r t der Heterogeneität der Ahnenlinien von 0,7 mal die Variabilität der Einzelindividuen gefunden. Für osteuropäische J u d e n ist die Heterogeneität kleiner. Sie beträgt etwa 0,6 mal die Variabilität der Einzelindividuen. Für E u g e n F i s c h e r s Bastarde ergibt sich, allerdings bei einer kleinen Zahl von Beobachtungen, vollständige Homogeneität der hybriden Bevölkerung, die gut mit der ausgesprochenen Inzucht übereinstimmt. Für die Homogeneität der Bevölkerung ist nun die Art der Mischung von größter Wichtigkeit. In einer großen und dichten Bevölkerung, die so unstet in ihren Wohnsitzen ist, wie die modernen Europäer und Amerikaner, n i m m t die Ahnenzahl jedes einzelnen Individuums sehr rasch zu. J e d e r h a t zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern, und die theoretische Zahl der Ahnen in der zwanzigsten Generation ist mehr als eine Million, genau 1048576. Zwanzig Generationen würden, gemäß den heutigen Verhältnissen, etwa eine Spanne von siebenhundert J a h r e n darstellen, gemäß früheren Verhältnissen als Minimum vierh u n d e r t J a h r e . Diese Zahlen beziehen sich auf die Generationsreihe erstgeborener Männer. Für erstgeborene Frauen würden sie sich auf etwa f ü n f h u n d e r t , bezüglich dreihundertundfünfzig J a h r e verkürzen. Zieht man aber die Generationsdauer von später geborenen Männern und Frauen mit in Betracht, so d ü r f t e sich f ü r zwanzig Generationen etwa eine Zeitspanne von acht- bis n e u n h u n d e r t J a h r e n ergeben; f ü r Naturvölker vielleicht nicht viel weniger, da ja in früherer Zeit der Unterschied in der Geschwindigkeit der Generationsfolge bei Naturvölkern und Europäern nicht groß war. Es erhellt nun sofort, d a ß die wahre Ahnenzahl eines Individuums unserer Zeit unmöglich so groß gewesen sein kann, wie die Theorie ergibt. Der Grund hierfür ist einleuchtend. Infolge von Heiraten von Mitgliedern der gleichen Familien erscheinen dieselben Ahnen mehrere Male in den verschiedenen väterlichen und mütterlichen Linien, und deshalb ist die Ahnenreihe eines jeden Individuums durch viel kompliziertere Zahlenreihen ausgedrückt als die arithmetische Rechnung ergibt. Die Berechnung der Ahnenreihe des deutschen Kaisers zum Beispiel

II.

Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

i s t l e h r r e i c h . N a c h 0 . L o r e n z ist d i e Z a h l s e i n e r i n d e n l e t z t e n zwölf G e n e r a t i o n e n w i e f o l g t : Generation I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII

Theoretische Zahl 2 4 8 16 32 64 128 256 512 1024 2048 4096

E i n e Serie v o n gende Mittelwerte: Generation

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Ahnen

Wirkliche 2 4 8 14 24 44 74 1161 1771 2561 3421 5331

vierzig k ö n i g l i c h e n

Häusern

gibt

fol-

Mittlere Ahnenzahl

I

2,00

II III IV V VI

4,00 7,75 13,88 23,70 40,53

V e r g l e i c h e n w i r n u n diese V e r h ä l t n i s s e in d e n d i c h t bevölkerten Teilen des modernen E u r o p a und A m e r i k a mit ihrer beweglichen Bevölkerung und die entsprechenden E r s c h e i n u n g e n bei N a t u r v ö l k e r n , s o s i e h t m a n s o g l e i c h , d a ß in d e n k l e i n e n , p r i m i t i v e n G e m e i n w e s e n d i e G e s a m t z a h l d e r A h n e n n o c h s e h r viel k l e i n e r sein m u ß als in m o d e r n e n V e r h ä l t n i s s e n . E i n g a n z c h a r a k t e r i s t i s c h e s Beispiel h i e r f ü r b i e t e n d i e S m i t h - S u n d - E s k i m o s in N o r d g r ö n l a n d . N a c h a l l e m , w a s w i r ü b e r die L e b e n s b e d i n g u n g e n d e r E s 1 Diese Generationen sind unvollständig bekannt. Die angegebenen Zahlen stellen Maximalwerte dar, die man erhalten würde, wenn bei den unbekannten Linien kein Ahnenverlust stattfände.

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II- Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

kimos wissen, ist es höchst unwahrscheinlich, d a ß der S t a m m je mehr als ein p a a r h u n d e r t Individuen s t a r k war. Viel eher d ü r f t e m a n annehmen, d a ß ursprünglich nur wenige Familien in ihrem gegenwärtigen Jagdgebiete angesiedelt waren, und d a ß von ihnen fast die ganze heutige Generation a b s t a m m t . Das Völkchen ist sehr lange von allen Beziehungen zur Außenwelt abgeschnitten gewesen und abgesehen von der Zuwanderung weniger neuer Individuen aus anderen S t ä m m e n vollständig isoliert geblieben. Natürlich k a n n u n t e r diesen Umständen die Ahnenreihe auch nicht a n n ä h e r n d die Millionen Menschen enthalten, die die arithmetische Berechnung verlangt, sondern alle Individuen müssen dieselben fernen Ahnen h a b e n ; und wenden wir die vorher besprochenen Zahlenangaben an, so ergibt sich, d a ß in einem derartigen Gemeinwesen, das nicht mehr als etwa zweihundert Mitglieder zählt, die Ahnen jedes Individuums in der achten zurückliegenden Generation dieselben gewesen sein müssen, d a die Berechnung f ü r diese Generation schon 256 Individuen erfordert, — mehr als der S t a m m zu irgendeiner Zeit besessen h a t . Daher ist das Vorkommen irgendwelcher Individuen, die nicht viele nahe und entfernte Ahnen gemein haben, unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich. Ich habe den Ahnenverlust wenigstens f ü r einen kleinen S t a m m zu bestimmen versucht, nämlich f ü r d a s von H o t t e n t o t t e n und Buren a b s t a m m e n d e Bastardvolk in Südafrika, f ü r das E u g e n F i s c h e r genealogische Tafeln gesammelt h a t . Für einige Familien ergeben sich d o r t folgende Zahlen: ueneraiion

1 II III IV V VI

Mittlere Ahnenzahl verschiedener Familien Familie 2 Familie 3 FamiIie i

2 4 8 14,1 20,1 32,0

2

2

4 8 14,3 19,7 —

4 8 16 32

Dieses sind Verhältnisse, die den in europäischen Fürstenhäusern gefundenen Zahlenverhältnissen recht ä h n lich sind.

II.

E i n f l u ß der E r b l i c h k e i t auf d e n T y p u s des M e n s c h e n .

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Bei so großem Ahnenverlust m u ß aber die Variabilität der ganzen Serie um ihren typischen Mittelwert relativ klein sein, weil alle Stainmesglieder eine gewisse Familienähnlichkeit besitzen müssen, und ihre Gleichartigkeit wird natürlich um so größer sein, je gleichförmiger die kleine A h n e n g r u p p e gewesen ist. Dieses h a t noch eine andere Eigentümlichkeit der isolierten Gruppe im Gefolge. Da in der Gesamtgruppe dieselben Ahnenformen immer wiederkehren, wird auch der G e s a m t t y p u s der Gruppe im Laufe der Zeit die körperlichen Eigentümlichkeiten der Ahnen wiederspiegeln; und je kleiner die Ahnengruppe ist, um so größer wird daher auch die Wahrscheinlichkeit, d a ß die lokale Gruppe ebenso s t a r k oder fast ebenso stark von dem Volkstypus, von dem die Ahnen abzweigten, abweicht, wie die Individualit ä t der Ahnen von den Mittelwerten des Volkstypus sich e n t f e r n t e . Die Verschiedenartigkeiten, die sich demnach bei isolierten Gruppen entwickeln können, sind fast ebenso groß wie die individuellen Unterschiede in der Urrasse, und diese sind, wie wir bereits gesehen haben, sehr groß. Die Abzweigung einer kleinen langköpfigen Gruppe von einem Volke und ihre andauernde Isolierung kann demnach, auch ohne besondere äußere Einflüsse, zur Bildung eines langköpfigeren U n t e r t y p u s führen. Ich glaube diese Umstände erklären zum großen Teil die Verschiedenheit der lokalen Typen bei Naturvölkern. Sehen wir z. B. in Nordamerika einen sehr ausgesprochenen Lokaltypus an der arktischen Küste, einen wesentlich anderen im Talbecken des Mackenzieflusses, wieder andere in scharf umgrenzten Gebieten der pazifischen Küste, noch andere im Mississippi-Gebiete, in den Wüsten des Südwestens und in den Südoststaaten, — so dürfen wir wohl ihre Entwicklung wesentlich dem Anwachsen kleiner isolierter Gruppen zuschreiben, die, wie wir gesehen haben, notwendigerweise zu starker Differenzierung führen müssen. Diese Ansicht über den Ursprung von Lokaltypen, die wir aus unseren Betrachtungen über Ähnlichkeiten entwickelt haben, s t e h t durchaus im Einklänge mit den Resultaten, die J o h a n n s e n experimentell in seinen Arbeiten

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II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

über die Erblichkeit gewonnen h a t . Wie schon erwähnt, a h m t e er die Bedingungen, die in kleinen Gemeinwesen bestehen, nach und übertrieb sie noch, indem er ganz gleichartige Typen isolierte, die er d a n n durch Selbstbefrucht u n g fortpflanzte. Auf diese Weise zog er Bohnenpflanzen aus Bohnen von gleichem Gewichte und war imstande die Variationsbreite des T y p u s so weit einzuschränken, d a ß eine Bohne von gewissem Gewichte und gewisser Form sich rein, gemäß dem ausgewählten Ahnentypus, entwickelte, ohne zufällige individuelle Abweichungen, die in den einzelnen Generationen auftreten, zu wiederholen. W e n n die Ahnenreihe auf mehrere Individuen z u r ü c k g e h t , wie bei unseren isolierten Stämmen, k a n n die Variationsbreite n a t ü r lich nicht ganz so eingeschränkt sein, wie bei den selbstbefruchteten Pflanzen; die Entwicklung stabiler, abweichender Lokaltypen ist aber ganz analog den Resultaten des J o h a n n s e n s c h e n Experiments. Hier möchte ich auf eine andere noch wenig untersuchte Frage, die aber unsere Aufmerksamkeit verdient, hinweisen. Wir haben gesehen, d a ß in stabilen Gemeinwesen in d ü n n bevölkerten Gebieten die Verwandschaftsbeziehungen zwischen Mitgliedern eines Stammes sehr eng sein müssen, und daß diese Art der Verwandtschaft einen Einfluß auf den Typus und seine Variabilität ausüben m u ß . Im Laufe der Zeit mag es nun geschehen, d a ß zwei Gebiete, deren Bevölkerung sich in solcher Isolierung entwickelt h a t , in Berührung kommen, und d a ß die beiden Bevölkerungen sich mischen. Selbst wenn sie nur wenig in ihrem Typus verschieden sind, m u ß in solchen Fällen eine tiefgreifende Störung der Erblichkeitsbedingungen eintreten, da sich d a n n viele Individuen von ganz verschiedener A b s t a m m u n g mischen. Ich k a n n ein Beispiel dieser Erscheinung geben. Die Süditaliener und Spanier sind in ihrem T y p u s nicht sehr verschieden, sind aber seit J a h r h u n d e r t e n voneinander getrennt. Die kleinen italienischen und spanischen Dorfgemeinden haben ganz den Charakter von Volksgruppen, in denen Inzucht eine lange Zeit hindurch vorgeherrscht h a t . In Argentinien kommen nun diese beiden Typen in Berührung u n d

II.

E i n f l u ß der E r b l i c h k e i t auf d e n T y p u s des M e n s c h e n .

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heiraten oft untereinander. W i r besitzen keine Beobachtungen über den Einfluß dieser Mischung auf den Körperbau, es ist aber beobachtet worden, d a ß die Verteilung männlicher und weiblicher Geburten bei diesen Mischfamilien ganz anders ist, als bei den rein spanischen oder rein italienischen Familien ( P e a r l ) . Es ist auch denkbar, d a ß diese Störung der Inzucht eines der Elemente sein mag, die eine T y p e n ä n d e r u n g bei den Stadtbevölkerungen E u r o p a s im Gegensatze zu der umgebenden Landbevölkerung hervorrufen, und vielleicht k ö n n t e sie auch zu den in Amerika beobachteten T y p e n ä n d e r u n g e n europäischer Einwanderer beitragen; denn obwohl die Beobachtungen in Amerika an reinen Volkstypen gemacht sind, finden sich doch daselbst häufiger Heiraten zwischen Einwanderern aus verschiedenen Dörfern, als bei der seßhaften Bevölkerung Europas vorkommen. Im vorhergehenden haben wir uns ganz auf die Frage der Vererbung körperlicher Eigenschaften beschränkt, weil dort die Ausschaltung der Umweltseinflüsse relativ leicht ist. Bei der Untersuchung der Vererbung geistiger Eigenschaften ist offenbar der ausgleichende Einfluß des nationalen oder häuslichen Milieus ein schwer zu bestimmender F a k t o r . Versuche sind gemacht worden, die Vererbung geistiger Eigenschaften zu bestimmen, und die Resultate stimmen gut mit den Ergebnissen der Erforschung der Vererbung körperlicher Merkmale überein. Alle Beobachtungen beweisen eine starke Variabilität der geistigen Eigenschaften bei den Individuen, die den T y p u s zusammensetzen und lassen uns a n n e h m e n , d a ß diese Variabilität auf erblicher Grundlage b e r u h t , aber durch Umweltseinflüsse s t a r k beeinflußt ist. Nach unseren früheren Ausführungen müssen wir vermuten, d a ß in diesem Falle die Typenunterschiede sehr gering sind, da offenbar die Varianten der verschiedenen Typen weit übereinander übergreifen. Neuere Untersuchungen über einfache geistige Leistungen haben deutlich bewiesen, d a ß die Ähnlichkeiten zwischen Geschwistern in Bezug auf ihre geistigen Leistungen beträchtlich sind. Prüfungen der Leistungen im R e c h n e n , die C o u r t i s

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II. Einfluß der Erblichkeit auf den T y p u s des Menschen.

in den Schulen von Newyork vorgenommen hat, beweisen einen gewissen Grad von Ähnlichkeit im Verhalten von Geschwistern. Ich erwähne auch T h o r n d i k e s Messungen der Körpermerkmale und einiger geistiger Tätigkeiten von Zwillingen, welche f ü r beide eine Ähnlichkeit von 0,78 ergeben (d. h. wenn einer der Zwillinge in Bezug auf ein Merkmal eine Abweichung h a t , die die Maßeinheit beträgt, wird der andere eine Abweichung haben, die 0,78 beträgt). F ü r einzeln geborene Geschwister findet er f ü r die psychologischen Versuche eine Ähnlichkeit von 0,40. Nun ist wohl anzunehmen, d a ß infolge der gleichen Umgebung, besonders der gleichen Schulung, denen Geschwister ausgesetzt sind, diese W e r t e etwas zu groß sind. Doch darf dieser Einfluß nicht zu hoch angesetzt werden, weil der Erfolg der Schulung auch bei größerer Leistungsfähigkeit zunimmt, so d a ß bestehende, erworbene, oder angeborene Verschiedenheiten nicht durch gleiche günstige Einflüsse verkleinert werden, wenigstens nicht, bis das Maximum der Leistungsfähigkeit nahezu erreicht ist. Nehmen wir den von T h o r n d i k e gefundenen Ähnlichkeitswert an, so ergibt sich daraus f ü r die Linien gleicher A b s t a m m u n g eine Variabilität von etwa 0,64 der Variabilität aller Individuen; also recht beträchtliche Verschiedenheiten. Unseren Erfahrungen gemäß zeigen sich ähnliche Verschiedenheiten bei allen Völkern, bei denen beträchtliche Durchdringungen verschiedener T y p e n vorgekommen sind, und bei denen keine übermäßige Inzucht herrscht. Aus diesen Zahlenverhältnissen und den relativ kleinen Normunterschieden der verschiedenen Typen dürfen wir auch auf ein starkes Übergreifen der funktionellen Begabung der einzelnen Abstammungslinien bei verschiedenen Rassen schließen. Auch hier gilt d a n n natürlich alles, was vorher über die Körpermerkmale gesagt ist; besonders auch betreffs der Möglichkeit zur Bildung psychischer Lokaltypen durch Isolation kleiner Gruppen. Wenden wir die Anschauungen, zu denen wir so gelangt sind, auf die modernen Völker a n , u m größere Klarheit betreffs des Einflusses erblicher Faktoren auf das Völkerleben zu gewinnen.

II.

Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

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W e n n wir von europäischen Menschentypen reden, stellen wir sie uns gewöhnlich als relativ reine Rassentypen vor. Es ist leicht zu zeigen, d a ß diese Anschauung nicht h a l t b a r ist. Wir brauchen n u r einen Blick auf eine K a r t e der Verbreitung menschlicher T y p e n in Europa zu werfen, — etwa auf eine K a r t e von Italien oder von Frankreich, u m sofort zu sehen, d a ß lokale Verschiedenheit innerhalb einer Nation die Regel, Gleichartigkeit die Ausnahme bildet. So h a t R i d o l f o Li v i in seinen grundlegenden Untersuchungen über die Anthropologie Italiens gezeigt, d a ß die Typen von Nord- und Süditalien ganz verschieden s i n d : der erstere groß, kurzköpfig, mit einem starken Einschlage blonder, blauäugiger Individuen; der letztere kleiner, langköpfig und sehr s t a r k pigmentiert. Der Übergang zwischen beiden Typen ist im großen und ganzen allmählich, aber isolierte Typen erscheinen dazwischen, inselartig verbreitet. Das Gebiet von Lucca in Toskanien und die Umgebung von Neapel bilden solche Inseln, die entweder als das Überdauern alter Lokaltypen, das Eindringen neuer Typen, oder als durch W i r k u n g von Umweltseinflüssen entstanden aufgefaßt werden können. Ganz ähnliche Verhältnisse entdeckte C o l l i g n o n im südlichen Frankreich, wo in dem Winkel zwischen den Pyrenäen und der Auvergne die verschiedenartigsten Typen nebeneinandersitzen. Geschichtliche Tatsachen stehen ganz im Einklänge mit den Beobachtungen über die Verteilung der Menschentypen in der Gegenwart. In sehr f r ü h e r Zeit finden wir die Halbinsel Italien von äußerst verschiedenartigen Völkern bewohnt, deren sprachliche Zugehörigkeit auch heute noch nicht überall sichergestellt ist. Von den ersten prähistorischen Zeiten an brach eine Volkswoge nach der anderen von Norden k o m m e n d über Italien herein. Schon f r ü h kamen Griechen nach Süditalien, phönizischer Einfluß machte sich s t a r k an der W e s t k ü s t e geltend, und lebhafter Verkehr bestand zwischen Süditalien und Nordafrika. Berbersklaven wurden eingeführt und haben ihre Spuren hinterlassen. Der Sklavenhandel brachte bis in ganz neue Zeit fremdes Blut ins L a n d , und Li v i glaubt sogar, den T y p u s von

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II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

Sklaven, die gegen Ende des Mittelalters aus der Krim eingeführt wurden, in der venezianischen Gegend nachweisen zu können. Im Laufe der J a h r h u n d e r t e haben die Wanderungen keltischer und germanischer Stämme, die Eroberungen der küstenbeherrschenden Normannen, die Ber ü h r u n g mit Afrika, das Eindringen von Slawen, die Einwanderung von Albanesen und Griechen nach dem Falle des byzantinischen Reiches das ihre zum italienischen Völkergemische beigetragen. Die Völkermischungen anderer Teile Europas waren nicht weniger buntscheckig. Die Pyrenäische Halbinsel, jetzt eines der isoliertesten Länder unseres Weltteils, h a t eine unruhige Geschichte hinter sich. Die ältesten Bewohner, von denen wir wissen, waren vermutlich mit den Basken der Pyrenäen verwandt. In der prämykenischen Periode schon machten sich orientalische Einflüsse geltend, und es folgte das Eindringen der Punier, keltische Völkerwogen, römische Kolonisation, germanische Einbrüche u n d die maurische Eroberung, sowie noch später der eigentümliche Ausleseprozeß, der die Vertreibung der Mauren u n d J u d e n begleitete. Auch England war nicht frei von derartigen Schicksalen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß in früher Zeit der Typus, der jetzt noch besonders in Wales und z u m Teil auch in Irland angetroffen wird, einen großen Teil der Insel bewohnte. Später wurde das Land von keltischen, römischen, angelsächsischen, skandinavischen und französischen Einwanderern aufgesucht und zum Teil geradezu überflutet. Die Geschichte der W a n d e r u n g der Goten und Vandalen, der Verheerungszug der Hunnen, die in einem kurzen J a h r h u n d e r t von China bis mitten nach E u r o p a hinein gelangten, sind Beispiele der großen Völkerbewegungen früherer Zeiten, die sicher nicht ohne Blutmischung vonstatten gegangen sind. Langsame Kolonisation h a t gleichfalls große Änderungen in der Blutzusammensetzung sowohl wie in d e n Sprachen und Kulturen der Völker zuwege gebracht. Vielleicht das auffallendste Beispiel hierfür in der neueren euro-

II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

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päischen Geschichte ist die langsame Germanisierung des ostelbischen Gebietes, das nach der Völkerwanderung von slawischen Stämmen besetzt war; oder das Vorrücken der Russen über die östlichen Teile ihres Reiches. Die allmähliche Aufsaugung der Kelten und Basken, die altrömische Kolonisation und später die arabische Eroberung von Nordafrika sind Beispiele ähnlicher Vorgänge. Man darf nicht etwa denken, daß bei diesen frühen Volksmischungen nur Völker von gleichem Typus, obwohl verschieden in Sprache und Kultur, zusammenstießen. Im Gegenteil, die verschiedenen Typen Nordeuropas, Südeuropas, Ost- und Westeuropas wurden zusammengeworfen, die geringfügigeren Einschüsse aus Afrika und Asien nicht zu rechnen. Man könnte hiergegen einwenden, daß die Verbreitung scharf charakterisierter Lokaltypen in Europa für deren Homogeneität spricht. Beispielsweise könnte man dieses für den nordwesteuropäischen Typus, den Mittelmeertypus, den Alpentypus behaupten. Hiergegen spricht zu allererst, daß wir historische Belege für die Mischung besitzen, ferner auch, daß, wie wir vorher gezeigt haben, die Heterogeneität der Stammlinien in jedem Einzelgebiete groß ist, und daß das Vorwiegen der einen oder anderen Form in der Mischung die beobachteten lokalen Verhältnisse zur Genüge erklärt. Die moderne Auswanderung aus Europa hat neuerdings zu ausgedehnten Mischungen in überseeischen Ländern geführt, die auch eine kurze Erwähnung verdienen, und wir wollen uns den Vorgang an dem Beispiele Nordamerikas klar machen. Die Anfänge der amerikanischen Einwanderung waren einfach. Als die britischen Auswanderer zuerst sich an der atlantischen Küste Amerikas festsetzten, fanden sie den Kontinent von Indianern besiedelt. Die Urbevölkerung war dünn gesät und verschwand ziemlich rasch bei dem Eindringen der Europäer. Die Besiedelung des Hudsontals durch die Holländer, Quebecs durch die Franzosen, Pennsylvaniens durch Deutsche gehören zu den hervorstechenden Zügen der früheren Geschichte der europäischen Nieder-

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II.

Einfluß der Erblichkeit auf den T y p u s des Menschen.

lassung. Im Gebiete der heutigen Vereinigten Staaten sind die Spanier, die den Südwesten innehielten, und die Franzosen im Gebiete des Mississippi und der kanadischen Seen besonders zu n e n n e n ; doch waren sie, wie alle anderen, im Vergleiche zu den Einwanderern britischer Nationalität wenig zahlreich. Neuerdings h a t nun die Auswanderung sich über alle Teile Europas und Westasiens ausgedehnt und auch Nordafrika in Mitleidenschaft gezogen. Bis zum letzten Viertel des neunzehnten J a h r h u n d e r t s kamen f a s t alle Einwanderer der Vereinigten Staaten aus Nordwesteuropa: aus Großbritannien, Skandinavien, Deutschland, der Schweiz, Holland, Belgien und auch aus Frankreich. Später aber t r a t ein s t a r k e r Umschwung ein. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands n a h m die deutsche Auswanderung ab, während gleichzeitig Italiener, die slawischen Völker Österreich-Ungarns, R u ß l a n d s und der Balkanhalbinsel, U n g a r n , R u m ä n e n , Griechen und osteuropäische J u d e n in Massen ihre Heimat verließen, u m überseeische Länder, besonders Nordamerika, aufzusuchen. Die jährlich in Amerika a n k o m m e n d e n Auswanderer zählen nach Hunderttausenden. Unsere früheren Bemerkungen über die Geschichte der Völkermischungen in Europa machen es wahrscheinlich, d a ß dieses moderne, in Amerika beobachtete P h ä n o m e n nicht so allein steht, wie man vielleicht glauben könnte, da wir ja eine ähnliche Durchdringung der verschiedenartigsten Elemente auch in Europa beobachten konnten. Man darf k a u m sagen, wie oft geschieht, d a ß sich in Nordamerika eine aus europäischen Elementen gebildete Bastardnation ohne Gleichen entwickele. Die alten u n d neuen Mischungsprozesse sind allerdings darin verschieden, d a ß die ersteren sich im großen und ganzen zu einer Zeit vollzogen, als die Bevölkerung ziemlich d ü n n war. Sicher w a r die Zahl der Individuen, die bei der Bildung der Menschentypen von Großbritannien beteiligt waren, sehr viel geringer als die Millionen, welche zusammenströmen, u m eine neue Nation in Amerika zu bilden. Offenbar m u ß nun auch die Verschmelzung in

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Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

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Gemeinwesen die Millionen zählen, und in einer modernen Demokratie anders verlaufen, als in den alten Staatsformen, und in Ländern, deren Einwohnerzahl nach Zehntausenden zu zählen war. Abgesehen von der trennenden W i r k u n g von Gesellschaftsklassen, die in f r ü h e r e n Zeiten die Mischung wohl noch mehr aufhielten als jetzt, sollte man annehmen, d a ß u n t e r modernen Verhältnissen eine größere Beharrlichkeit der einzelnen Bestandteile vorkommen könnte, da ihre große Individuenzahl lokale Absonderung begünstigt, obwohl andererseits die moderne Beweglichkeit der Bevölkerung und der ausgleichende Einfluß der staatlich geordneten Erziehung die rasche Auflösung der Einzelelemente begünstigt. W o keine lokale oder gesellschaftliche Absonderung s t a t t f i n d e t , ist der Vorgang der Verschmelzung bei einer gegenseitigen Durchdringung von Völkern sehr rasch. Reine Nachkommen der einzelnen Elemente nehmen von einer Generation zur nächsten schnell a b , und schon in der vierten Generation wird die Blutmischung fast homogen sein. Man darf daher wohl sagen, daß die Völkermischung, die durch die Auswanderung nach Amerika daselbst ents t e h t , sich nicht wesentlich von den alteuropäischen Völkermischungen unterscheidet, sowohl was die zusammenströmenden Typen betrifft, wie auch in bezug auf die Geschwindigkeit der Mischung. Der einzige Unterschied b e r u h t in der Größe der Menschenmassen, die an dem Prozeß beteiligt sind. Es bleibt nun noch eine Erscheinung zu besprechen, die auch durch die modernen Völkerverschiebungen besondere Wichtigkeit gewonnen h a t , und deren Bedeutung, wie mit Sicherheit zu erwarten steht, immer größer werden wird. Wir haben nämlich bislang unsere B e t r a c h t u n g wesentlich auf die Mischung europäischer, nahe verwandter Typen beschränkt. Die Negersklaverei und die Besiedelung Amerikas haben aber auch Mischtypen zwischen Negern und Weißen und zwischen Indianern und Weißen hervorgebracht, die nach Millionen zählen, und es folgt nicht u n m i t t e l b a r aus dem vorher Gesagten, d a ß alle

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II. Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

Schlüsse, die sich auf die europäische Typenmischung beziehen, auch auf diese Art von Rassenmischungen anwendbar sind. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, d a ß im Laufe der Zeiten sich dieselben Verhältnisse aus der Auswanderung der Ostasiaten und wohl auch der Malaien entwickeln werden. Bis jetzt geht dieser Mischungsprozeß in zwei typisch verschiedenen Weisen vor sich. In romanischen Ländern entwickelt sich eine beiderseitige Rassendurchdringung. So ist in den Teilen des romanischen Amerika, in denen eine dichte, altangesessene Indianerbevölkerung lebt, k a u m ein Unterschied mehr in der Häufigkeit der Heiraten zwischen weißen Männern und indianischen Frauen und umgekehrt von weißen Frauen und indianischen Männern nachzuweisen. In dem germanischen Amerika dagegen gehören Mischungen des zweiten Typus zu den größten Seltenheiten, und man darf wohl sagen, d a ß fast durchweg der Mann, der mehr weißes Blut hat, sich mit der Frau, die weniger weißes Blut hat, vereint. Da nun die Vermehrung der Völker von den Frauen, nicht von den Männern a b h ä n g t , so ergibt sich hieraus eine immer weitere Durchdringung der farbigen Rassen mit weißem Blute, ohne d a ß zunächst der umgekehrte Prozeß sich geltend macht. Erst wenn alle Kenntnis der fremdrassigen A b s t a m m u n g verloren ist, vereinen sich auch die Männer von sehr wenig fremdrassigem Blute mit weißen Frauen. Dieses ist z. B. der Fall bei späten Nachkommen nordamerikanischer Indianer, die ganz u n t e r den Weißen aufgegangen sind. Wo also in solchem Falle kein Nachschub von reinem fremdrassigen Blute s t a t t f i n d e t und die Fruchtbarkeit der Bastarde genügend groß ist, m u ß sich im Laufe der Zeit eine immer z u n e h m e n d e Durchdringung der farbigen Rasse durch die weiße Rasse herausbilden, nicht umgekehrt. Im ersteren Falle dagegen erleidet die weiße Rasse ebenfalls eine Umwandlung. Das Ergebnis der beiden Prozesse wird daher verschieden sein. Bei der einseitigen Mischung wird in den Mischformen schließlich die weiße Rasse überwiegen, bei der beiderseitigen Mischung werden beide annähernd gleichmäßig überdauern. So weit wir bis jetzt absehen können, gelten die glei-

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Einfluß der Erblichkeit auf den Typus des Menschen.

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c h e n E r b l i c h k e i t s g e s e t z e bei d e r Mischung s t a r k verschied e n e r R a s s e n , wie bei der Mischung verschiedenartiger T y p e n , die der gleichen R a s s e a n g e h ö r e n . Die Beispiele der H o t t e n t o t t e n - B a s t a r d e und a m e r i k a n i s c h e n Mestizen, die v o r h e r a n g e f ü h r t wurden, beweisen dieses. W i r finden teils ein A u f s p a l t e n der E i n z e l m e r k m a l e , teils vielleicht a u c h die Bildung v o n M i s c h f o r m e n . B e s o n d e r s wichtig f ü r die B e u r t e i l u n g der E n t w i c k l u n g d e r g e m i s c h t e n R a s s e n ist die F r a g e nach der F r u c h t b a r k e i t der B a s t a r d e . Bislang h a b e n wir keine sichere A n d e u t u n g einer V e r m i n d e rung d e r F r u c h t b a r k e i t , bei d e n indianischen Mestizen ist s o g a r sicher d a s Gegenteil der Fall, — e n t w e d e r aus p h y siologischen oder aus sozialen G r ü n d e n . Ich h a b e s c h o n 1 8 9 5 d a r a u f hingewiesen, und die gleichen R e s u l t a t e w u r d e n d u r c h R o l a n d B . D i x o n in der Volkszählung v o n 1 9 1 0 aus viel u m f a s s e n d e r e m M a t e r i a l e a b g e l e i t e t . So f a n d er v o n allen v e r h e i r a t e t e n F r a u e n im A l t e r von ¡ 5 bis 4 4 J a h r e n u n t e r 1 0 3 7 9 Indianerinnen 1 0 , 7 P r o z e n t kinderlos, d a g e g e n u n t e r 1 0 7 5 2 Mestizinnen nur 6 , 7 P r o z e n t kinderlos. Die Durchschnittszahl der K i n d e r von Frauen im Alter v o n 1 5 — 4 4 J a h r e n , die m e h r als zehn J a h r e v e r h e i r a t e t w a r e n , e r g a b für rein indianische E h e n 4 , 5 , für Mischehen 5,1 K i n d e r . Allerdings liegt hier eine U n s i c h e r h e i t wegen der U n b e s t i m m t h e i t der A l t e r s v e r t e i l u n g vor, doch d ü r f t e diese k a u m d a s E n d r e s u l t a t beeinflussen. A u c h die Z a h l der überlebenden K i n d e r ist günstiger bei Mischehen als bei rein indianischen E h e n . Bei den l e t z t e r e n ü b e r l e b t e n 6 9 , 7 P r o z e n t , bei den ersteren 7 9 P r o z e n t aller K i n d e r , wo allerdings wieder die A l t e r s v e r h ä l t n i s s e n i c h t g e n a u e r b e k a n n t sind. All dieses s p r i c h t nicht z u g u n s t e n der A n n a h m e einer A b n a h m e der V i t a l i t ä t bei B a s t a r d e n . W e n n diese d o c h i m m e r wieder b e h a u p t e t wird, und ferner noch g e s a g t wird, d a ß die B a s t a r d e alle üblen körperlichen und geistigen E i g e n s c h a f t e n der E l t e r n r a s s e n erben, so m u ß m a n d e m entgegen halten, daß es wirklich brauchbare Unters u c h u n g e n , welche die e r w ä h n t e A n s c h a u u n g u n t e r s t ü t z e n , n i c h t gibt, und d a ß aus den B e o b a c h t u n g e n an M u l a t t e n und Mestizen, die in ungünstiger sozialer Stellung leben, B o a s , Kultur und Rasse.

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50

HI.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

gültige Schlüsse über erbliche Anlage nicht zu ziehen sind. Hier liegt noch ein wichtiges, unbebautes Untersuchungsfeld vor uns.

III. Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen. Wir wollen nun unser Augenmerk auf die Umweltseinflüsse lenken, besonders auf die Unterschiede zwischen kulturarmen Völkern und Kulturvölkern, insofern sie derselben Rasse angehören. Bei Europäern kann dieser Unterschied nicht mehr beobachtet werden, da es im engeren Sinne keine kulturarmen Völker europäischer Rasse mehr gibt. Trotzdem lassen sich gewisse Analogien finden. Einige der Bauernvölker in den entlegenen Bergländern des südöstlichen Europa führen ein Leben, das nicht so sehr von dem der sogenannten Naturvölker verschieden ist; denn die Lebensweise der ackerbautreibenden Indianer Nordamerikas zur Zeit der ersten Entdeckung, oder die vieler ackerbautreibender Negerstämme ist, soweit Ernährung und Beschäftigung in Betracht kommen, nicht wesentlich anders geartet. Wir dürfen auch einige der europäischen Fischervölker wohl mit den Fischervölkern Amerikas und Asiens vergleichen. Unmittelbarere Vergleiche können aber in Ostasien gezogen werden, wo sich die zivilisierten Chinesen den primitiveren Amurvölkern, die Nordjapaner den Ainus, die zivilisierten Javaner den Bergstämmen Sumatras und der Philippinen gegenüberstellen lassen. Ähnliches ist bei der Negerrasse durchführbar, denn wir können hier die kleine Gruppe hochgebildeter Neger in Amerika mit den afrikanischen Stämmen vergleichen; und bei der amerikanischen Rasse, da wir den gebildeten Indianer, besonders im romanischen Amerika, den Stämmen der Prärien und Urwälder gegenüberstellen können.

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HI.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

gültige Schlüsse über erbliche Anlage nicht zu ziehen sind. Hier liegt noch ein wichtiges, unbebautes Untersuchungsfeld vor uns.

III. Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen. Wir wollen nun unser Augenmerk auf die Umweltseinflüsse lenken, besonders auf die Unterschiede zwischen kulturarmen Völkern und Kulturvölkern, insofern sie derselben Rasse angehören. Bei Europäern kann dieser Unterschied nicht mehr beobachtet werden, da es im engeren Sinne keine kulturarmen Völker europäischer Rasse mehr gibt. Trotzdem lassen sich gewisse Analogien finden. Einige der Bauernvölker in den entlegenen Bergländern des südöstlichen Europa führen ein Leben, das nicht so sehr von dem der sogenannten Naturvölker verschieden ist; denn die Lebensweise der ackerbautreibenden Indianer Nordamerikas zur Zeit der ersten Entdeckung, oder die vieler ackerbautreibender Negerstämme ist, soweit Ernährung und Beschäftigung in Betracht kommen, nicht wesentlich anders geartet. Wir dürfen auch einige der europäischen Fischervölker wohl mit den Fischervölkern Amerikas und Asiens vergleichen. Unmittelbarere Vergleiche können aber in Ostasien gezogen werden, wo sich die zivilisierten Chinesen den primitiveren Amurvölkern, die Nordjapaner den Ainus, die zivilisierten Javaner den Bergstämmen Sumatras und der Philippinen gegenüberstellen lassen. Ähnliches ist bei der Negerrasse durchführbar, denn wir können hier die kleine Gruppe hochgebildeter Neger in Amerika mit den afrikanischen Stämmen vergleichen; und bei der amerikanischen Rasse, da wir den gebildeten Indianer, besonders im romanischen Amerika, den Stämmen der Prärien und Urwälder gegenüberstellen können.

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Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

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Offenbar vergleichen wir in all diesen Fällen Gruppen von gleicher A b s t a m m u n g , die u n t e r verschieden gearteten gesellschaftlichen, ökonomischen oder anderen Umweltseinflüssen leben. Sollten sich also hier Unterschiede nachweisen lassen, so müssten diese auf mittelbaren oder unmittelbaren Umweltseinflüssen beruhen. So gelangen wir zu der grundlegenden Frage, inwieweit menschliche Typen stabil, inwieweit sie unter Umweltseinflüssen veränderlich sind. Es ist k a u m möglich, die Untersuchung dieser Frage auf Grund von Vergleichen von k u l t u r a r m e n Völkern und K u l t u r v ö l k e r n gleicher Rasse aufzunehmen, teils weil das nötige Material nie gesammelt, teils weil die gleichartige A b s t a m m u n g des zur Untersuchung gelangenden Menschenmaterials nie überzeugend nachzuweisen ist. Es ist aber klar, d a ß jede Untersuchung über die Körperform von Menschenmassen, die in verschiedenartiger Umgebung leben und gleicher A b s t a m m u n g sind, zur Aufklärung der hier gestellten Frage beitragen m u ß . Wir wollen an dieser Stelle nicht auf die Frage der allmählichen phylogenetischen Weiterentwicklung der anatomischen Form des Menschen eingehen, welche zu seiner zunehmenden Differenzierung vom Tiere, wie auch zur zunehmenden Differenzierung der isolierten Rassen f ü h r t . Diese Frage soll später vom Gesichtspunkte des Fortschrittes in der erblichen Beanlagung besprochen werden (Kapitel V). Hier handelt es sich wesentlich d a r u m , ob die jetzt lebenden Menschentypen unter wechselnden Umweltseinflüssen stabil sind, nicht u m die Richtung der vorkommenden Änderungen. Bei anthropologischen Forschungen begegnen wir im allgemeinen der Neigung, die j e t z t lebenden Menschenrassen und ihre Haupteigentümlichkeiten als seit der neolithischen Zeit beständig anzusehen. K o l l m a n n , der ausgesprochenste Vertreter dieser Theorie, behauptet, d a ß die ältesten, in den neolithischen K u l t u r s t ä t t e n Europas enthaltenen Menschenreste ganz denselben Typen angehören, die noch unverändert die Bestandteile der modernen Kulturvölker bilden, und er h a t den Versuch gemacht, alle in neolithischer Zeit vorkommenden Varietäten mit modernen T y p e n zu identifizieren. 4»

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III.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

Ferner haben Untersuchungen über die Verbreitung der Kopfform und anderer anthropometrischer Merkmale erwiesen, d a ß gleichartige Formen in ausgedehnten Gebieten und durch lange Zeiträume v o r k o m m e n . Die nächstliegende Folgerung aus dieser Erscheinung ist, daß Erblichkeit die anthropometrischen Verhältnisse bestimmt, und d a ß diese daher stabil sind ( D e n i k e r ) . Nur e i n e Ausnahme von dieser Regel wird a n e r k a n n t . Anthropometrische Merkmale, die beträchtliche Änderungen während der Wachstumsperiode erleiden, ändern sich je nach mehr oder weniger günstigen äußeren Verhältnissen. Die von G o u l d und B a x t e r während der nordamerikanischen Rebellion geleiteten Untersuchungen haben gezeigt, d a ß die in Amerika geborenen Angehörigen europäischer Nationen größer sind, als die in Europa geborenen; und man h a t daraus geschlossen, d a ß die Besserung der Ernährung, oder vielleicht noch mehr die allgemeine Besserung gesundheitlicher und ökonomischer Verhältnisse die Körpergröße eines Volkes erhöht. Diese Folgerungen werden durch B o w d i t c h s Messungen von Schulkindern in Boston und durch P e c k h a m s anthropometrische Arbeiten über die Schulkinder von Milwaukee bestätigt. In all diesen Serien ist die mittlere Körpergröße der in Amerika geborenen Angehörigen einer Nationalität größer, als die entsprechende Größe bei in Europa geborenen, in der Kindheit sowohl wie bei Erwachsenen. Entsprechende Änderungen der Körpergröße sind neuerdings auch in E u r o p a beobachtet worden. So h a t A m m o n einen merkbaren Zuwachs der Körpergröße nachgewiesen, der in Baden während der letzten dreißig J a h r e vor sich gegangen ist; und gleichartige Beobachtungen sind in D ä n e m a r k von M a c k e p r a n g und W e s t e r g a a r d , in Holland von B o l k gemacht worden. In Dänemark z. B. ist die mittlere Körpergröße von 165,4 cm in den J a h r e n 1852—56 auf 169,1 cm in den J a h r e n 1904—05 angewachsen. Anderweitige Beobachtungen beweisen die Richtigkeit dieser Untersuchungen. So h a t B o w d i t c h gefunden, d a ß in jeder Volksgruppe die Körpergröße bei den Arbeitern am kleinsten ist; Handwerker sind etwas größer, K a u f l e u t e noch größer, und die höchsten Körper-

III.

E i n f l u ß der U m w e l t auf d e n T y p u s des M e n s c h e n .

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großen werden bei Mitgliedern der gelehrten Berufsklassen gefunden. Es ist ferner bewiesen, d a ß eine bes t i m m t e Beziehung zwischen der Körpergröße in wohlh a b e n d e n und armen Stadtvierteln besteht ( R i p l e y ) . Indessen sind diese Änderungen der Körpergröße nie als Typenänderungen angesprochen worden, da sie sich leicht d u r c h Ausmerzung schädlicher Einflüsse erklären lassen u n d wesentlich darauf begründet sind, d a ß eine größere Anzahl von Individuen sich gesundheitlich normal entwickelt. Die Ergebnisse der Beobachtungen über die Körpergröße werden durch die Resultate anthropometrischer Untersuchungen bei verschiedenen Berufsklassen bestätigt. Die bestbewiesene, weil auf großen Beobachtungsreihen begründete Tatsache ist der Unterschied in den Körperm a ß e n von Soldaten und Matrosen, die während des amerikanischen Bürgerkrieges gemessen wurden. Es ergab sich, d a ß das Verhältnis der Beinlänge zur Körperlänge bei weißen Matrosen und bei Negern das gleiche war, während der S t a m m des Körpers der Matrosen im Verhältnis kürzer war. Die Arme von Soldaten und Matrosen im Verhältnis zum Körper waren dagegen gleichlang. Erwähnenswert sind auch die in amerikanischen Turnanstalten gewonnenen Beobachtungsergebnisse, welche zeigen, d a ß Maße, die wesentlich von der Muskelentwicklung abhängen, sich bei regelmäßiger Übung sehr rasch ändern. Es ist wohl anzunehmen, d a ß Verschiedenheiten im Gebrauch der Muskeln während der Wachstumsperiode, besonders wenn sie sich im späteren Leben fortsetzen, zu Verschiedenheiten im Körperbau führen müssen, die sich wenigstens so lange erhalten, wie die funktionellen Ursachen dauern, und die in manchen Fällen permanent werden mögen. Eine B e t r a c h t u n g der Wachstumsbedingungen zeigt, wie sich derartige Verschiedenheiten der Körperform entwickeln müssen. W e n n wir auch die Entwicklung vor der Geburt aus dem Spiele lassen, so zeigt sich doch, d a ß zur Zeit der Geburt einige Körperteile so weit entwickelt sind, d a ß sie schon beinahe ihre volle Größe erreicht haben, während andere noch sehr unentwickelt sind. Der Schädel

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III. Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

z. B. ist zur Zeit der Geburt groß. Er wächst noch eine Zeitlang mit beträchtlicher Geschwindigkeit, erreicht aber bald fast seine volle Größe und wächst von dann an sehr langsam. Die Gliedmaßen andererseits wachsen lange J a h r e hindurch sehr rasch. Bei anderen Organen setzen raschere Entwicklungsstadien erst spät ein. Daher müssen Bedingungen, die eine Entwicklungsverzögerung oder -beschleunigung verursachen, in verschiedenen Wachstumsperioden auch ganz verschiedene Resultate haben. Wenn der Kopf schon fast ausgewachsen ist, kann verzögertes Wachstum der Gliedmaßen ihre endliche Größe noch stark beeinflussen. Das Gesicht wächst länger mit beträchtlicher Geschwindigkeit als der Schädel und kann daher auch länger beeinflußt werden. Kurz und gut, der Umweltseinfluß wird um so ausgesprochener sein, je weniger entwickelt das ihm ausgesetzte Organ ist. Angaben über die ungleichen Wachstumsgeschwindigkeiten des Körpers verdanken wir W e i ß e n b e r g . Wir werden auf den Einfluß dieser Erscheinungen auf den Volkstypus noch später zurückkommen. Der Einfluß der Wachstumsverzögerung, so weit er bis jetzt untersucht ist, scheint dauernd zu sein, d. h. eine Verzögerung in der Körperentwicklung kann nicht durch späteres langandauerndes Wachstum eingeholt werden. Wenn infolge ungünstiger Umstände ein Kind eine Reihe von Jahren hindurch langsam wächst, steht zu erwarten, daß seine Wachstumsperiode länger sein wird, als die normaler Kinder; der Gesamtbetrag seines Wachstums wird aber immer unter der Norm bleiben ( B o a s und W i s s l e r ) . Andererseits werden Kinder, die in ihrer frühen Entwicklung voraneilen, auch früh vollständig erwachsen sein. Trotzdem wird der Gesamtbetrag ihres kurzdauernden Wachstums über der Norm liegen. Es folgt aus diesen Beobachtungen über den Einfluß der Verzögerung und Beschleunigung des Wachstums, sowie aus den Verschiedenheiten der Wachstumsperioden verschiedener Körperteile, daß nicht nur die absolute Körpergröße, sondern auch die Körperproportionen von derartigen Bedingungen beeinflußt werden müssen.

III.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

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Die Gesamtergebnisse der Untersuchungen über das W a c h s t u m beweisen also die Wichtigkeit der Entwicklungsgeschwindigkeit f ü r die Bestimmung der Körpergröße und -proportionen des Erwachsenen. Frühe Kränklichkeit, schlechte Ernährung, Mangel an frischer L u f t und an geeigneter Bewegung verursachen Wachstumsverzögerungen, welche bewirken, d a ß d a s wachsende Kind in jedem Lebensalter physiologisch nicht so weit entwickelt ist wie a a s gesunde, wohlgenährte Kind, das in freier L u f t aufwächst und das rechte Maß von Bewegung und körperlicher Übung h a t . Störungen der normalen Entwicklungsgeschwindigkeit beeinflussen auch die spätere Entwicklung in der Weise, d a ß das E n d r e s u l t a t um so günstiger ist, je geringer die Verzögerungen sind, — vorausgesetzt, d a ß Z u n a h m e der absoluten Größe als günstiges Moment aufgefaßt werden darf. Der Entwicklung einiger einfacher, näher untersuchter geistiger Tätigkeiten nach zu urteilen scheint es, d a ß sich hier die gleichen Erscheinungen wiederholen, die wir soeben bei dem Körperwachstum besprochen haben ( M e u m a n n ) . Die hier besprochenen Beobachtungen sind von grundlegender Bedeutung f ü r die richtige Würdigung der o f t besprochenen Erscheinung rassenhafter, frühzeitiger Vollendung des W a c h s t u m s . Wir haben gesehen, d a ß u n t e r Angehörigen einer Rasse lange W a c h s t u m s d a u e r mit ungünstiger Entwicklung verbunden ist, während eine kürzere Wachstumsperiode größere Körperdimensionen und vermutlich auch bessere geistige Entwicklung ergibt. Hierbei sind natürlich Fälle von pathologischem vorzeitigen Aufhören des W a c h s t u m s und von pathologischem exzessiven W a c h s t u m ausgeschlossen, — d. h. Zwergenwuchs oder Mikrocephalie ebensowohl wie hypertrophisches Wachst u m von Körperteilen oder Organen. Es folgt hieraus, d a ß bei der W e r t u n g der physiologischen Bedeutung f r ü h zeitigen Wachstumsabschlusses bei verschiedenen Rassen die bloße Tatsache, d a ß v i e l l e i c h t bei einer Rasse das W a c h s t u m eher abschließt als bei einer anderen, ohne Untersuchungen über Wachstumsgeschwindigkeit belanglos sind.

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HI.

Einfluß der U m w e l t auf den Typus des Menschen.

Es bleibt nun noch eine offene Frage, ob es Änderungen bei menschlichen Typen gibt, die nicht auf der Beschleunigung oder Verzögerung des W a c h s t u m s beruhen. R i e g e r h a t versucht, die verschiedenen Kopfformen aus physiologischen und mechanischen Bedingungen zu erklären, und E n g e l betont den Einfluß des Muskeldrucks auf die K o p f f o r m . W a l c h e r will die Kopfbildung wesentlich auf den Einfluß der Lage des Kindes in der Wiege erklären. E r glaubt, d a ß die Rückenlage runde Köpfe, die Seitenlage lange Köpfe hervorbringt. Die Unterschiede in der K o p f f o r m , die sich in großen Gebieten Europas findet, in denen die Kinder gleichartig behandelt werden, weisen indessen auf das Ungenügende dieser E r k l ä r u n g hin, obwohl der Einfluß der Lage in einzelnen, exzessiven Fällen nicht geleugnet werden soll. Wir h a b e n indessen Beobachtungen, die aufs unbes t r e i t b a r s t e einen Unterschied zwischen den Typen der städtischen und ländlichen Bevölkerung beweisen. Angaben über diesen Gegenstand sind zuerst von A m m o n gemacht worden, der nachgewiesen h a t , d a ß die städtische Bevölkerung Badens in bezug auf Kopfform, Körpergröße und Pigmentierung von der ländlichen Bevölkerung abweicht. E r n i m m t an, d a ß es sich hier u m eine wahre T y p e n ä n d e r u n g handelt, die indessen nicht auf dem unm i t t e l b a r e n Einflüsse der Umwelt auf das Individuum, sondern auf der Ausmerzung gewisser Typen in den Städten b e r u h t ; mit anderen W o r t e n , die ein Resultat der n a t ü r lichen Auslese ist. Seine Beobachtungen stimmen mit den von Li v i in italienischen S t ä d t e n gemachten überein, in welchen sich auch ein deutlicher Unterschied zwischen den städtischen T y p e n und denen des umliegenden flachen Landes f i n d e t . Li v i gibt eine andere E r k l ä r u n g dieser Erscheinung, die zum Teil wenigstens den Unterschied zwischen S t a d t und Landbevölkerung erklärt, ohne die A n n a h m e stärkerer Wirkung der natürlichen Auslese in Anspruch zu nehmen, eine Annahme, die eine unwahrscheinlich s t a r k e Beziehung zwischen Sterblichkeit und F r u c h t b a r k e i t einerseits, und Merkmalen wie Kopfform und Pigmentation andererseits

III.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

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zur Bedingung h a t . Die T y p e n ä n d e r u n g in S t ä d t e n , soweit sie bis jetzt b e k a n n t ist, h a t nämlich immer die Eigentümlichkeit, d a ß die S t a d t b e v ö l k e r u n g dem Durchschnittstypus des größeren Landesteils, in dem die S t a d t gelegen ist, ähnlicher ist, als die Bevölkerung ihrer unmittelbaren Umgebung. W e n n der lokale ländliche T y p u s s t a r k kurzköpfig ist, der allgemeinere T y p u s des größeren Gebietes, aus dem die S t a d t bevölkerung gezogen ist, aber langköpfiger ist, so ist auch die S t a d t b e v ö l k e r u n g langköpfiger als das u n m i t t e l b a r benachb a r t e Land, und umgekehrt. Die genauere Untersuchung der Stadtbewohner läßt aber diese Erklärung nicht als ausreichend erscheinen. Ist nämlich der Zuzug aus der Ferne die Ursache der F o r m ä n d e r u n g des Typus, so m ü ß t e n die S t a d t b e w o h n e r in sich bedeutend heterogener sein als die Landbewohner. Dieses ist aber durchaus nicht der Fall, vielmehr ist der Unterschied von S t a d t und Land in dieser Beziehung nur sehr gering. Besonders beweist das Beispiel von Rom, daß, wenn m a n a n n i m m t , d a ß alle Zugewanderten die Formen ihrer H e i m a t w a h r t e n , eine Verteilung von Formen sich ergeben würde, die den beobachteten Verhältnissen durchaus nicht entspricht. Außer A m m o n s und L i v i s eben besprochenen Angaben über die Körpermerkmale der S t ä d t e r und der Landbevölkerung, u n d nicht ganz überzeugenden Beobacht u n g e n über den Einfluß der Höhenlage eines Landes auf seine Bewohner, die eine E r k l ä r u n g durch A n n a h m e verschiedenartiger A b s t a m m u n g zulassen, h a b e n wir n u r wenige sichere Daten, die sich auf wahre T y p e n ä n d e r u n g e n beziehen. In Arbeiten über die Verbreitung menschlicher T y p e n in E u r o p a sind örtlich a u f t r e t e n d e Eigentümlichkeiten, — wie etwa die schon erwähnten scharf b e s t i m m t e n lokalen Formen im mittleren Frankreich, in Teilen Toscanas, in der Provinz Zeeland in Holland und im südwestlichen Norwegen —• bald als Überbleibsel alter Rassentypen, bald als durch natürliche Auslese bedingt, bald als durch die Einwirkung der Umwelt bestimmt, erklärt worden, je nachdem der Forscher durch eine dieser Ursachen oder durch eine passende Kombination derselben die schwierigen Probleme am bequemsten zu lösen vermochte ( R i p l e y ) .

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HI.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

Es ist wohl unnötig, darauf hinzuweisen, d a ß die willkürliche Anwendung unbewiesener, wenn auch möglicher Theorien uns nicht Material liefern kann, welches die Wirksamkeit der Umwelt oder der natürlichen Auslese b e w e i s t Die Wirkung der Auslese kann nur durch eine genaue Untersuchung der überlebenden Angehörigen eines Typus im Vergleiche mit den Gestorbenen, oder durch die Untersuchung von Übersiedlungen, die von Auswahlerscheinungen begleitet sind, b e s t i m m t werden. Das Studium des Einflusses der Umwelt erfordert den unmittelbaren Vergleich von Eltern, die in einem Milieu leben, mit ihren eigenen Kindern, die in neue Verhältnisse versetzt sind. Ich kenne k a u m ein Beispiel, das den Einfluß der n a t ü r lichen Auslese einwandfrei beweist. Es will mir scheinen, d a ß der Begriff der natürlichen Auslese nicht auf Fälle ausgedehnt werden sollte, in denen zwei verschiedene geschlossene Typen in Konflikt kommen, von denen der eine unterliegt, wie das etwa bei dem Aussterben der N a t u r völker der Fall ist. Denn es handelt sich nicht d a r u m , welche Klasse infolge günstiger U m s t ä n d e überdauert, sondern d a r u m , ob die natürliche Auslese innerhalb einer geschlossenen Gruppe merkbare Verschiebungen durch Begünstigung bestimmter Formen hervorbringt. Die Gelegenheit zur Betätigung der Auslese ist ja offenbar immer gegeben: die verschiedenartigen Todesursachen und die verschiedenartige Fruchtbarkeit in einer unausgeglichenen Bevölkerung m u ß immer zur Änderung der Häufigkeitsverteilung von Typen f ü h r e n . Der Beweis f ü r die Wirksamkeit der natürlichen Auslese m u ß daher auf der Feststellung einer Heterogeneität der Bevölkerungsschichten beruhen, die in erblichen Merkmalen begründet ist. Wenn die Heterogeneität n u r durch die Lebensweise der verschiedenen Schichten physiologisch bedingt ist und keine erblichen Elemente e n t h ä l t , so k a n n es k a u m zu nennenswerten Verschiebungen infolge der Auswahl kommen. Mir scheint, d a ß dieser Gesichtspunkt gewöhnlich nicht scharf genug im Auge behalten wird, und deshalb viele der angegebenen D a t e n keine beweisende K r a f t haben ( S c h a l l m a y e r ) . Es ist z. B. wahrscheinlich, d a ß bei den Verbrecher-

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E i n f l u ß der U m w e l t auf d e n T y p u s d e s M e n s c h e n .

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kolonien früherer Zeiten und bei der Besiedlung des amerikanischen Westens durch die kräftigsten Angehörigen der Oststaaten, sowie bei dem entsprechenden Verluste an kräftigen Bestandteilen, welche die Bevölkerung in einigen Teilen Neuenglands erlitten h a t , Ausleseerscheinungen sich geltend gemacht haben, doch haben wir keine Beobachtungen, die den Einfluß dieser Auslese, die sicher s t a t t g e f u n d e n h a t , mit den betreffenden menschlichen Typen in Beziehung setzen. Es fragt sich eben, inwieweit die Auslese erbliche Eigentümlichkeiten betroffen h a t . Durch die ganze moderne rassenbiologische oder eugenische Bewegung ist ja die Frage der Förderung günstiger Fortpflanzungsbedingungen f ü r die körperlich und geistig Gesunden und die Ausmerzung der Minderwertigen scharf in den Vordergrund geschoben worden, ohne d a ß m a n sagen könnte, d a ß die U m w a n d l u n g der Typen durch Auslese in genügender Weise erforscht ist. Daß gewisse pathologische Erscheinungen beim Menschen die F r u c h t b a r k e i t herabsetzen und die W i d e r s t a n d s k r a f t der Nachkommen schädigen, ist wohl nicht zu bezweifeln. Anders liegt aber die Frage, inwiefern der eine oder der andere normale Typus sich als mehr oder weniger widerstandsfähig erweist und daher numerisch in den Vordergrund t r i t t oder zurückgedrängt wird, sodaß hierdurch dem gesamten Volkstypus eine neue Physiognomie a u f g e d r ü c k t wird. Von A m n i o n s Behauptung, d a ß in der S t a d t eine solche Auslese vor sich gehe, haben wir schon gesprochen. Doch ist A m m o n uns den Beweis schuldig geblieben, d a ß Auslese die Ursache des beobachteten Vorganges ist. Vergleiche zwischen der normalen u n d der Hospitalbevölkerung Londons, die S h r u b s a l l vorgenommen h a t , sprechen ebenfalls zugunsten der Annahme, d a ß eine gewisse Beziehung zwischen Erkrankungswahrscheinlichkeit und physischem Typus besteht, obwohl die Gleichartigkeit der Quellen, aus denen sich die normale Bevölkerung und die Hospitalbevölkerung in einer W e l t s t a d t wie London rekrutiert, bezweifelt werden darf. Die von M a c d o n a l d in Glasgow angestellten Untersuchungen zeigen ebenfalls eine Beziehung zwischen Pigmentierung und E r k r a n k u n g s w a h r -

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Hl-

Einfluß der U m w e l t auf den Typus des Menschen.

scheinlichkeit, während S a u n d e r s bei Untersuchungen in Birmingham nichts derartiges nachweisen konnte. Er macht m i t Recht darauf a u f m e r k s a m , daß die Bevölkerung von Birmingham homogen ist, während in Glasgow ein starkes Z u s a m m e n s t r ö m e n f r e m d e r Elemente s t a t t g e f u n d e n h a t , woraus er auf verschiedene Empfänglichkeit der Elemente schließt. Vielleicht darf man noch hinzufügen, daß auch ihre ökonomische Stellung vermutlich verschieden ist und d a s ihre zu dem verschiedenen Verhalten beiträgt. Vielfach b e h a u p t e t wird eine unmittelbare Beziehung zwischen der Pigmentierung und Empfänglichkeit f ü r Malaria, u n d v o n L u s c h a n n i m m t eine Ausmerzung des blonden kurdischen Elementes in den fieberreichen Gebieten Kleinasiens aus dieser Ursache an. Daß es Auswahlerscheinungen in bezug auf verschiedene Typen gibt, ist wahrscheinlich. Sie müssen überall a u f t r e t e n , wo ein Z u s a m m e n h a n g zwischen gesellschaftlicher Stellung und T y p u s vorhanden ist, wie das besonders in Ländern mit starker Einwanderung aus verschiedenartigen Gebieten v o r k o m m t . So nehmen die in England einwandernden Irländer eine andere Stellung ein als die alteingesessenen Landbesitzer; der westfälische Grubenarbeiter gehört einer anderen Bevölkerungsschicht an, als der westfälische Bauer, und insofern beide der Abstamm u n g nach sich unterscheiden, macht sich die soziale Auslese auch rassenhaft geltend. Inwieweit das aber auch bei alteingesessener Bevölkerung geschieht, bei der sich nicht, wie in Indien, k a s t e n h a f t e Absonderung oder auch nur Neigung dazu findet, ist bislang nicht mit Sicherheit ermittelt. Ebensowenig gibt es sichere Tatsachen darüber, ob bei einer Verschiebung der sozialen Lage oder bei Auswanderung in ein neues Klima die Verhältnisse sich so ändern, d a ß gewisse im Volkstypus vorkommende Formen relativ zahlreich werden, andere zurückgehen oder verschwinden. Eine Schwierigkeit bei der Beurteilung der dauernden Wirkung der Auslese b e r u h t auch darin, d a ß man nicht weiß, inwiefern manche bei der sozialen Auslese in Bet r a c h t kommenden Körpereigenschaften auf Umweltseinflüssen beruhen und inwieweit sie ererbt und vererbbar

III.

E i n f l u ß der U m w e l t auf d e n T y p u s des M e n s c h e n .

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sind. So besteht sicher ein Unterschied der Körpergröße bei verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, bei Kindern von Eltern verschiedenen Alters, und j e nach der Größe der Familien, und alle diese G r u p p e n unterliegen unmittelbaren Ausleseerscheinungen, da die Sterblichkeit und F r u c h t barkeit aller dieser Klassen ungleich ist. Wir haben aber bereits gesehen, d a ß die Körpergröße s t a r k e n äußeren Einflüssen unterworfen ist, so d a ß es höchst zweifelhaft ist, ob ein merkbares erbliches Element sich hier geltend m a c h t . W i r werden noch genauer sehen, d a ß f ü r andere Körpereigenschaften ähnliche Betrachtungen zu machen sind. Die letzte Bemerkung f ü h r t uns u n m i t t e l b a r zu der Frage, ob es wesentlichere T y p e n ä n d e r u n g e n gibt, die nicht auf Auslese, sondern auf u n m i t t e l b a r e Umweltseinwirkung zurückzuführen sind. Ich h a b e Gelegenheit gehabt, diese Frage eingehender an E u r o p ä e r n zu untersuchen, die sich in New York niedergelassen und f o r t g e p f l a n z t haben ( B o a s ) . Da der Gegenstand f ü r uns besondere Wichtigkeit besitzt, will ich etwas näher darauf eingehen. Vier Volksgruppen sind in New Y o r k zur U n t e r s u c h u n g gelangt: Süditaliener, die dem Mittelmeertypus angehören und durch geringe Körpergröße, länglichen Kopf, dunkle H a u t - und Haarfarbe gekennzeichnet s i n d ; Mitteleuropäer, die mittlere Größe, kurzen Kopf und hellere Farbe besitzen; Nordwesteuropäer, Menschen hohen Wuchses, langköpfig, mit heller H a u t und blondem H a a r ; und endlich osteuropäische J u d e n , die in mancher Hinsicht den Mitteleuropäern ähneln. Körpergröße, Gewicht, K o p f m a ß e und H a a r f a r b e dieser Gruppen wurden u n t e r s u c h t . U n t e r diesen Maßen stehen nur Körpergröße und Gewicht in engem Z u s a m m e n hange mit der Wachstumsgeschwindigkeit, während die K o p f m a ß e nur wenig von dieser beeinflußt werden und die Haarfarbe von ganz gesonderten U m s t ä n d e n abhängig zu sein scheint. H a a r f a r b e und K o p f f o r m gehören d a h e r nicht zu den vorher besprochenen Maßen, die in ihren bei E r wachsenen erreichten W e r t e n von den physiologischen, während des W a c h s t u m s herrschenden Bedingungen abhängen. Sie scheinen hauptsächlich durch Erblichkeit bes t i m m t zu sein.

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HI.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

Diese Untersuchungen haben nun gezeigt, daß die in Amerika geborenen Nachkommen dieser Menschentypen von ihren Eltern der Form nach verschieden sind. Die Unterschiede zeigen sich schon in früher Jugend, insofern als in Amerika geborene Kinder von in Europa geborenen Kindern gleicher Abstammung und gleichen Alters verschieden sind, und die Unterschiede bleiben das ganze Leben hindurch bestehen. Jeder europäische Typus ändert sich dabei auf besondere Weise. Der Kopf des in Amerika geborenen Sizilianers ist etwas gerundeter als der des daheim geborenen, und zwar liegt dieses an einem geringen Längenverlust und einer Breitenzunahme. Das Gesicht wird etwas schmaler, Körpergröße und Gewicht nehmen ein wenig ab. Der Kopf der in Amerika geborenen Mitteleuropäer zeigt eine Längen- und Breitenabnahme: doch überwiegt die letztere, so daß der Kopf ein wenig länglicher wird. Das Gesicht nimmt bedeutend an Breite ab, Körpergröße und Gewicht nehmen zu. Die Änderungen bei den in Amerika geborenen Nachkommen des nordwesteuropäischen Typus sind gering, nur nehmen Körpergröße und Gewicht zu. In Amerika geborene Juden endlich haben längere, schmalere Köpfe als die in Europa geborenen; der Kopf ist daher beträchtlich länglicher geformt. Das Gesicht ist schmaler, Körpergröße und Gewicht sind größer. In keinem dieser Typen zeigt sich eine nennenswerte Änderung der Haarfarbe. Zu einem klaren Verständnis der diesen Änderungen zugrunde liegenden Ursachen muß man wissen, wie lange vor der Geburt des Kindes die Eltern in Amerika ansässig gewesen sein müssen, ehe sich ein Einfluß auf die Körperform geltend macht. Diese Frage ist bislang nur f ü r den Längen-Breitenindex, der sich während der Wachstumsperiode nur ganz unwesentlich ändert, ausgeführt worden. Bei den Juden besonders zeigt sich dann, daß der Kopfindex der in Europa Geborenen immer fast der gleiche ist, einerlei wie alt das Individuum zur Zeit seiner Einwanderung war. Dieses steht natürlich zu erwarten, wenn die Einwanderer ganz oder fast erwachsen sind. Es ist aber merkwürdig, daß auch Kinder, die im Alter von einem oder

III. Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

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wenigen Jahren in Amerika anlangen, den für in Europa Geborene charakteristischen Kopfindex bewahren. Vergleicht man nun diesen Index mit dem in Amerika geborener Individuen, so findet sich, daß selbst bei solchen, die ganz kurze Zeit nach Ankunft ihrer Eltern in Amerika geboren sind, der Kopfindex sinkt. Bei europäischen Juden beträgt er etwa 83, bei amerikanischen Juden, die kurz nach Ankunft der Eltern in Amerika geboren sind, 82, und fällt für deren Kinder, d. h. bei Enkeln der Einwanderer, auf 79. Mit anderen Worten, der Einfluß der amerikanischen Umwelt macht sich sofort fühlbar und wächst langsam mit Zunahme des Zeitraumes, der zwischen der Einwanderung der Eltern und der Geburt des Kindes liegt. Bei den Süditalienern liegen die Verhältnisse ähnlich wie bei den Juden. Der Längenbreitenindex des Kopfes der in Europa Geborenen bleibt derselbe, ob nun der Einwanderer im Kindesalter oder als Erwachsener nach Amerika kam. Individuen, die ganz kurze Zeit nach der Ankunft ihrer Eltern in Amerika geboren sind, zeigen schon eine Zunahme des Kopfindex. Für die Böhmen hat sich ferner nachweisen lassen, daß die schon erwähnte Abnahme der Gesichtsbreite nicht nur bei den in Amerika Geborenen in die Erscheinung tritt, sondern sich auch noch bei Kindern zeigt, die im Alter von weniger als zehn Jahren nach Amerika kamen. Ich habe an anderer Stelle die möglichen Fehlerquellen, die hier in Betracht kommen, eingehend gewürdigt und glaube bewiesen zu haben, daß, was auch die Ursache der Änderungen sein mag, sie nicht aus Fehlerquellen zu erklären sind, sondern wirklich vorkommen. Es fragt sich aber, ob diese Änderungen individuell sind oder das Ergebnis natürlicher Auslese bei der Gesamtgruppe zum Ausdruck bringen. Für die Auffassung der Typenänderung ist diese Frage grundlegend, da nur in ersterem Falle eine Plastizität des Individuums zugegeben werden kann, während im zweiten Falle das Individuum seine erblich bestimmten und seine erworbenen Eigenschaften wahren könnte, und durch Änderungen in der

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UI.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

F r u c h t b a r k e i t u n d S t e r b l i c h k e i t v e r s c h i e d e n e r T y p e n allein V e r s c h i e b u n g e n e i n t r e t e n k ö n n t e n . A u c h in d i e s e m Falle k a n n d i e E i n w i r k u n g der n a t ü r l i c h e n A u s l e s e auf die beobachtete Typenänderung weder bewiesen noch beweisk r ä f t i g b e s t r i t t e n w e r d e n , o b w o h l mir, auf Grund der Beo b a c h t u n g e n über d a s W a c h s t u m des K ö r p e r s u n d s e i n e r Organe, die V e r n a c h l ä s s i g u n g rein p h y s i o l o g i s c h e r Ä n d e r u n g e n als g a n z u n z u l ä s s i g s c h e i n t . Im g r o ß e n u n d g a n z e n , d ü n k t m i c h , m ü ß t e die W e c h s e l b e z i e h u n g z w i s c h e n S t e r b l i c h k e i t oder F r u c h t b a r k e i t , oder b e i d e n und d e m L ä n g e n b r e i t e n i n d e x des K o p f e s , der Gesichtsbreite usw. erst erwiesen werden. A n u n d f ü r s i c h s c h e i n e n engere B e z i e h u n g e n dieser A r t h ö c h s t u n w a h r s c h e i n l i c h und k ö n n e n nicht auf Grund i r g e n d w e l c h e r b e k a n n t e r B e o b a c h t u n g e n a n g e n o m m e n w e r d e n , s o n d e r n sind nur eine b e q u e m e A n w e n d u n g der als richtig g e s e t z t e n S e l e k t i o n s t h e o r i e . Sobald m a n die Frage mehr im e i n z e l n e n b e t r a c h t e t , zeigt sich die U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t des g a n z e n V o r g a n g e s . N i m m t m a n an, d a ß die V e r s c h i e b u n g der W e r t e bei d e n in A m e r i k a g e b o r e n e n Kindern jüdischer Auswanderer auf einer Z u n a h m e der F r u c h t b a r k e i t für gewisse W e r t e , Z u n a h m e der S t e r b l i c h k e i t f ü r andere W e r t e beruhe, — eine A n n a h m e , w e l c h e die geringste E i n w i r k u n g der A u s w a h l b e d i n g t , s o ergeben sich f o l g e n d e V e r t e i l u n g e n u n d B e t r ä g e der s e l e k t i v e n W i r k u n g für d e n K o p f i n d e x : Kopfindex 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83

Häufigkeit bei Nachkommen von Einwand.

Einwanderern 1 3 6 11 22 36 59 80 101 117 128

1 2 6 16 34 64 101 135 157 154 130

Einwirkung der Auslese 0 -0,33 0 4-0,45 - r 0,55

-f+ + + + +

0,78 0,71 0,69 0,56 0,32 0,02

III.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

Kopfindex

84 85 86 87 88 89 90 91 92

Häufigkeit bei Nachkommen von Einwand.

Einwanderern

117 101 80 59 36 22 11 6 3

65

Einwirkung der Auslese

93 56 30 14 5 1 1

-0,21 -0,45 -0,62 -0,76 -0,86 -0,95 -0,91 - 1,00 - 1,00

— —

W i r müßten also annehmen, daß Individuen mit dem Kopfindex 7 9 um etwa 0,7 ihrer Zahl vermehrt würden; daß dagegen von solchen mit dem Kopfindex von 86 etwa drei Viertel absterben würden. Dieses ist offenbar widersinnig. Ich gebe gern zu, daß Auslese ein klein wenig zu den Änderungen beitragen mag; aber selbst hierüber kann man nicht Gewißheit erlangen, bis die nötigen Beobachtungen gesammelt sind. Vorläufig neige ich aber der Anschauung zu, daß der plötzliche Wechsel nach der Einwanderung, sowie das Fehlen von Änderungen bei Erwachsenen, die doch auch von Änderungen in der Sterblichkeit betroffen werden, eine so starke und komplizierte Wechselwirkung zwischen Körperform und Sterblichkeit beziehentlich Fruchtbarkeit voraussetzt, daß diese Annahme unwahrscheinlich wird. Man kann andererseits durch einige Überlegungen wahrscheinlich machen, daß die Umwelt die Körperformen beeinflusst, ohne notwendigerweise erbliche Änderungen hervorzurufen. Am klarsten liegt dies bei Körpermerkmalen, die stark vom Wachstum abhängen. Wenn bei diesen eine bestimmte erbliche Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern vorliegt, so muß im Laufe des Wachstums die Ähnlichkeit abnehmen, wenn nicht alle Familienmitglieder von gleichen Einflüssen betroffen werden. Dies ist wohl der Fall, wo die soziale Stellung der Familie das Endresultat des Wachstums beeinBoas,

Kultur und Rasse.

5

66

III. Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

flußt. Wenn diese Annahme richtig ist, müßte sich bei einer homogenen Bevölkerung ein viel niedrigerer Grad der Ähnlichkeit für solche Merkmale, die spät zur vollen Entwicklung gelangen, einstellen, als bei anderen, die früh fertig ausgebildet sind. Ein solches Verhältnis hat sich bei den osteuropäischen Juden herausgestellt. Wir dürfen also wohl aus allen diesen Beobachtungen schließen, daß die körperliche Form des Individuums durch die Umweltseinflüsse, denen es ausgesetzt ist, verändert wird. Was nun auch die Ursache dieser Änderungen sein mag, jedenfalls müssen wir als bewiesen annehmen, daß menschliche Typen plastisch sind. Dann müssen wir auch annehmen, daß der menschliche Geist große Plastizität besitzt. Wir haben gesehen, daß Körperformen, die zur Zeit der Geburt fast ihre volle Größe erreicht haben, in neuer Umgebung sich verändern können, ohne daß die erbliche Organisation des Körpers sich zu ändern brauchte. Wir haben ferner gesehen, daß andere Merkmale, die sich während der ganzen Wachstumsperiode ändern, sich auch bei Individuen ändern, die als Kinder in neue Umgebung kommen. Hieraus darf man schließen, daß die geistigen Eigenschaften, die doch eng mit der Körperentwicklung verbunden sind und deren Entwicklung noch andauert, lange nachdem der Körper seine Reife erreicht hat, noch stärker von Umweltseinflüssen abhängen. Allerdings ist dieses nur ein Analogieschluß; da wir aber die Änderungen der Körperform durch Beobachtungen erwiesen haben, fällt die Beweislast denen zu, die trotz dieser Beweglichkeit der Körperform absolute Stabilität anderer Körperformen und -Verrichtungen behaupten. Die früheren Betrachtungen über das Zunehmen der individuellen Abweichungen bei langandauerndem Wachstum zwingen uns geradezu zu der hier vertretenen Ansicht. Noch eine Frage muß hier besprochen werden, nämlich die, ob die gleichen Umweltseinflüsse eine Angleichung verschiedener Menschentypen bedingen. Das einzige zuverlässige Material über diese Frage bieten uns wieder die italienischen Stadtbevölkerungen und die amerikanischen Einwanderer. Wir haben bereits gesehen, daß die Stadt-

III.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

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bevölkerung Italiens gleichförmiger in bezug auf die Kopfform ist, als ihrem gemischten Ursprung nach erwartet werden sollte. Es ließe sich hieraus also wohl in bezug auf das betrachtete Merkmal eine Annäherung verschiedener Typen folgern. Doch dürfen wir diese Beobachtung nicht schlechtweg verallgemeinern. Ebensowenig darf man, trotz der beobachteten Änderungen, ohne weiteres sagen, daß die verschiedenen europäischen Völkertypen in Amerika sich zu einem einheitlichen Typus unter neuen Umweltseinflüssen entwickeln. Dafür sind die Beobachtungen nicht breit genug angelegt. Wir dürfen weder annehmen, daß die Einwirkungen in allen Teilen Amerikas die gleichen sind, wie die in New York beobachteten, vielmehr mögen Änderungen in verschiedenen Richtungen in verschiedenen Landesteilen stattfinden; noch dürfen wir schließen, daß die Veränderungen sehr weit fortschreiten werden. Obwohl die langköpfigen Sizilianer in New York kurzköpfiger, die rundköpfigen Juden und Böhmen langköpfiger werden, kann man nicht beweisen, daß alle die Tendenz haben, sich einer und derselben Grundform zu nähern. Wir wissen ja weder wohin diese Änderungen schließlich führen, noch was für anderweitige Verschiedenheiten sich entwickeln mögen. Mir scheint eine solche Angleichung nicht wahrscheinlich, da der Beweis für die Plastizität des Typus durchaus nicht ausschließt, daß dieselbe an bestimmte Grenzen gebunden ist. Die Weiterentwicklung der britischen Typen in Amerika, der Holländer in Südafrika und Ostindien, der Spanier und Portugiesen in Südamerika, der Neger in Amerika und der Malayen in Madagaskar sprechen zugunsten einer eng begrenzten Plastizität. Jedenfalls sollten wir uns daher vorläufig mit der vorsichtigen Annahme einer solchen bescheiden, wenigstens bis etwa einmal eine unerwartet große Plastizität nachgewiesen wird. Die Wichtigkeit einer weiteren Untersuchung dieser Frage soll hier besonders betont werden. Um die Bedeutsamkeit von Änderungen in der Körperform des Menschen richtig zu verstehen, müssen wir die Formen des modernen Menschen noch von einem anderen Gesichtspunkte aus beleuchten. 5*

68

III.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

Schon vor vielen Jahren sprach F r i t s c h in seinen Studien über die Anthropologie von Südafrika die Beobachtung aus, daß einer der auffallenden Unterschiede in den Körperformen der Buschmänner und Hottentotten im Vergleiche mit denen der Europäer darin besteht, daß die Knochen der ersteren schlank und kräftig gebaut sind, während das Skelett der Europäer schwerer ist und der Knochen eine offene Struktur hat. Er wies auf ähnliche Unterschiede zwischen dem Skelett der wilden Tiere und der Haustiere hin und gelangte zu dem Schlüsse, daß die Buschmänner in ihrer körperlichen Erscheinung wilden Tieren gleichen, während der Körperbau des Europäers dem Bau der Haustiere entspricht. Dieser Gesichtspunkt — nämlich, daß der Kulturmensch in seinem Körperbau als ein Haustier, der kulturarme, besser vielleicht der primitive Mensch, als ein wildes Tier betrachtet werden muß — scheint mir außerordentlich wichtig; und eine Untersuchung der modernen Lebensverhältnisse zeigt, daß selbst bei den sogenannten kulturarmen oder Naturvölkern die anatomischen Veränderungen, welche die Domestikation begleiten, fast überall eingesetzt haben müssen. Man muß nun drei Arten von Veränderungen unterscheiden. Einerseits erleidet der Körperbau beträchtliche Umänderungen, die auf veränderter Ernährung und Lebensweise beruhen. Sodann hat die künstliche Zuchtwahl und endlich die Kreuzung verschiedener Rassen jede das ihre zur Bildung der Haustierrassen beigetragen. Einige der Umänderungen der erstgenannten Art beruhen auf regelmäßiger, reichlicher Ernährung; andere auf einem Nahrungswechsel, insofern als Haustiere mit anderen Nahrungsmitteln gefüttert werden, als den wilden Tieren der gleichen Gattung zugänglich sind. Noch andere sind der andersgearteten Lebensweise zuzuschreiben, die eine neue Benutzungsweise des Nerven- und Muskelsystems bedingt. Diese Umänderungen sind verschieden bei fleischfressenden und pflanzenfressenden Tieren. Der Hund und die Katze z. B. werden als Haustiere ziemlich regelmäßig gefüttert, und ihre Nahrung ist sehr verschieden von der

III.

Einfluß der U m w e l t auf den Typus des Menschen.

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wilder Hunde und Katzen. Bei Völkern, die fast nur von Fleisch leben, erhalten Hunde meist gekochtes Fleisch oder vielmehr die Abfälle der gekochten menschlichen Nahrung; während bei Völkern, die wesentlich von Pflanzenkost leben, Hunde oft mit Brei und anderer Pflanzenkost genährt werden. Ebenso leben unsere Katzen keineswegs hauptsächlich von Fleischkost. Dazu kommt, daß die körperlichen Anstrengungen, die Raubtiere machen müssen, um ihre Nahrung zu gewinnen, unvergleichlich größer sind, als die gezähmter Raubtiere. Offenbar können diese Ursachen nicht ohne Einfluß auf das Muskel- und Nervensystem bleiben. Die Lebensgewohnheiten von Pflanzenfressern, die auf Weiden leben, ändern sich nicht so stark, denn das Grasen des Rindviehs, der Pferde, Schafe und Ziegen ist ungefähr das gleiche wie das Grasen wilder Tiere derselben Gattungen, nur daß die Wiesennahrung reichlicher ist, als die natürliche Nahrung der Steppentiere. Dagegen sind die raschen Bewegungsarten, welche die Herde zum Schutze gegen Raubzeug bedurfte, nicht mehr nötig und bei fortschreitender Kultur wegen der Kleinheit des Weidegebietes nicht einmal möglich. Andererseits bedingt Stallfütterung bei pflanzenfressenden Tieren eine so künstliche Lebensweise, daß eine bedeutende Einwirkung auf den Körperbau wahrscheinlich wird. Unter den beobachteten Merkmalen der Domestikation ist nun besonders die Zunahme der Verschiedenheiten innerhalb der Spezies zu bemerken. Es entwickeln sich starke Verschiedenheiten der Haut- und Haarfärbung, Änderungen in der Haarform, wie das Auftreten lockiger und welliger Formen, Verkürzung des Gesichts und andere Änderungen in den Größenverhältnissen der Körperteile; endlich große Schwankungen der Körpergröße. Umänderungen, die auf Domestikation beruhen, können schon an den ältesten bekannten Haustierrassen beobachtet werden und finden sich beispielsweise in den neolithischen Niederlassungen Europas, in denen europäische Tiere als Haustiere vorkommen ( K e l l e r ) . Ebenso treten sie bei den Hunden der verschiedenen Kontinente auf,

70

III. Einfluß der U m w e l t auf den Typus des Menschen.

denn alle unterscheiden sich ganz wesentlich von den wilden Arten, von denen sie abstammen. Sogar der Eskimohund, der von dem polaren Wolfe abstammt, mit dem er sich auch noch kreuzt, unterscheidet sich im Körperbau von dem wilden Wolfe ( B e c k m a n n ) . Abweichungen von der wilden Form sind sogar bei relativ spät gezähmten Tieren, wie bei dem Renntier der Tschuktschen zu beobachten, das sich deutlich von dem wilden Renntiere von Nordostsibirien unterscheidet ( B o g o r a s ) . Nach unserer Kenntnis der Tierzucht bei den Eskimos und Tschuktschen zu urteilen, ist es sehr unwahrscheinlich, daß hier irgendwelche nennenswerte künstliche Auslese stattgefunden und die Rassenbildung beeinflußt hat. Die Gleichartigkeit der gezüchteten Rasse ist in beiden Fällen noch recht groß, obwohl der Typus merklich von dem der wilden Ahnen abweicht. Eine stärkere Differenzierung der gezüchteten Formen scheint sich erst zu entwickeln, wenn bestimmte Rassenlinien ausgelesen und mehr oder weniger absichtlich isoliert werden. Die Gelegenheit f ü r derartige Isolation hat sich um so häufiger ergeben, je älter die Domestikation der Art ist. Daher ist die Anzahl der Rassen bei den Tieren am größten, deren Domestikation in die frühesten Zeiten fällt und welche die weiteste Verbreitung als Haustiere haben. Die Rassen von Haustieren sind ferner durch absichtliche oder unabsichtliche Kreuzung verschiedener Arten vermehrt worden, ein Vorgang, aus dem viele neue Formen hervorgegangen sind, deren Abstammung heute schwer zu entwirren ist. Von den drei Ursachen, welche die Entwicklung von Rassen bei Haustieren fördern: veränderter Ernährung und Lebensweise, künstlicher Auslese und Rassenkreuzung, sind nun die erste und dritte für die Rassenbildung beim Menschen besonders bedeutsam. Fast überall sind die Lebensverhältnisse des Menschen, so weit die Ernährungsweise in Betracht k o m m t , von denen der wilden Tier« grundverschieden, und Beobachtungen über die Lebensweise prähistorischer Völker beweisen, daß dieselben Ver-

III.

Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

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hältnisse schon sehr lange bestehen. Es ist wohl sicher, daß überall, wo Ackerbau oder Viehzucht getrieben wird, die Ernährung des Menschen regelmäßiger geworden ist, als die wilder Tiere; und in all diesen Fällen bedarf der Mensch zum Nahrungserwerb ganz spezialisierter Bewegungsarten seiner Muskeln. Als Beispiel dieser Art der Lebensführung können wir die Neger von Zentralafrika anführen, deren Gärten von Frauen bearbeitet werden, während die Männer einer Anzahl von anderen handwerklichen Verrichtungen obliegen. Hier findet sich auch nicht mehr die Art der Verteidigung, die für wilde Tiere charakteristisch ist, denn im Kampfe kommt es nicht sowohl auf körperliche Kraft und Behendigkeit an, als vielmehr auf List und Brauchbarkeit der Schutz- und Trutzwaffen. Ganz ähnliche Verhältnisse herrschen bei den ackerbautreibenden Indianern des Mississippitales und der südamerikanischen Waldgebiete. Ais Beispiel eines viehzuchttreibenden Volkes, bei dem die Ernährung ziemlich regelmäßig ist, können wir die sibirischen Renntierzüchter oder die afrikanischen Rindviehzüchter erwähnen. Gewiß gibt es unter all diesen Stämmen periodische Hungersnöte, die durch Mißraten der Ernte oder durch Viehseuchen verursacht werden; aber unter normalen Verhältnissen ist der Vorrat an Nahrungsmitteln ausreichend und die Ernährung regelmäßig. Bei Fischervölkern liegen die Verhältnisse nicht wesentlich anders, da sich bei ihnen überall Methoden zur längeren Aufbewahrung von Lebensmitteln entwickelt haben und der Überfluß, der sich zur Zeit der Fischzüge findet, für das übrige J a h r aufgespeichert und so eine regelmäßige Ernährung gesichert wird. Hier erfordert auch die Technik des Fischfangs ganz besondere Arten von Bewegungen, die mit den für die einfache Verfolgung des Wildes nötigen wenig gemein haben. Fast die einzigen Völker, bei denen der Einfluß der Kultur auf die Ernährungsweise relativ geringfügig ist, sind die reinen Jägervölker, wie etwa die Buschmänner in Südafrika, die Eskimo im arktischen Amerika und die Weddah in Ceylon, die ihren Unterhalt durch die täglich

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'II. Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

sich wiederholende Jagd oder durch Sammeln von Pflanzen und kleinen wirbellosen Tieren, die sich weit zerstreut über ein großes Gebiet finden, gewinnen. Selbst bei diesen ist die Lebensweise der Frau stärker modifiziert, als die des Mannes. Im Zusammenhang hiermit steht auch die charakteristische Auswahl von Nahrungsmitteln bei verschiedenen Völkern, wie die ausschließliche Fleischkost, die sich am ausgesprochensten bei den Eskimos findet, und die ausschließliche Pflanzenkost, die z. B. in Südasien vorherrscht. Vermutlich hat diese auch einen Einfluß auf die Körperformen der verschiedenen Völker. Die zweite Ursache, vielleicht die wichtigste bei der Entwicklung neuer Rassen bei Haustieren, die künstliche Auslese, ist vermutlich nie von besonderer Wichtigkeit für die Rassenbildung beim Menschen gewesen. Wir kennen kein einziges Beispiel davon, daß Heiraten zwischen Individuen verschiedener Körperform, aber gleicher Abstammung verboten wären. Wenn es irgendeine Art Auslese in primitiven Gesellschaftsformen gegeben hat, scheint dieselbe wohl eher auf einer Begünstigung von Paarungen ähnlicher Individuen begründet gewesen zu sein; oder sie bestand in der eigentümlichen, komplizierten Auslese, die durch Heiratsgebote und -verböte bedingt ist, und die oft Heiraten zwischen bestimmten Verwandtschaftsgraden und zwischen Angehörigen verschiedener Generationen verhinderte, dagegen Heiraten zwischen anderen Verwandtschaftsgraden begünstigte oder sogar erzwang. So bedingt eine häufige Form der Heiratsbeschränkung, daß die Kinder eines Bruders immer die Kinder seiner Schwester heiraten, während die Kinder zweier Brüder oder zweier Schwestern nie einander heiraten dürfen. Ähnliche Beschränkungen sind sehr häufig, und können vielleicht als eine gewisse Art von Auslese gewirkt haben, doch ist es nicht wahrscheinlich, daß sie einen beträchtlichen Einfluß auf die Körperform gehabt haben ( P e a r s o n ) . In einigen Fällen h a t die Gesellschaftsordnung die Erhaltung von Unterschieden zwischen verschiedenen Bevölkefungsklassen zur mittelbaren Folge, oder sie verzögert wenig-

III. Einfluß der Umwelt auf den Typus des Menschen.

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stens den Ausgleich zwischen ihnen. Dieses ist immer der Fall, wenn die Sitte endogamische Heiraten innerhalb der einzelnen Bevölkerungsgruppen vorschreibt und diese Gruppen verschiedener Abstammung sind. In Bengalen, beispielsweise, haben die niederen Kasten den eigentümlichen südindischen Typus, während die höchsten Kasten den Stammestypus von Nordwestindien bewahren ( R i s l e y und G a i t ) . Die vielen dazwischenliegenden Kasten beweisen aber, daß die Sitte der Endogamie, selbst wo sie so schroff befolgt wird wie in Indien, nur unvollständig Rassenmischung zu verhindern vermag. Es läßt sich kaum entscheiden, ob in extremen Fällen die Endogamie in kleinen Familiengruppen, wie im alten Ägypten, zur Entwicklung gut bestimmter Typen geführt hat. Sicher sind aber alle solche Typen im Laufe der Zeit in der Gesamtbevölkerung wieder verschwunden. Der dritte Faktor in der Domestikation endlich die Kreuzung, ist ohne Zweifel von allergrößter Wichtigkeit für die Rassenentwicklung gewesen. Kreuzungen zwischen verschiedenen Typen sind so auffallend häufig in der geschichtlichen Entwicklung aller Völker und so auffallend selten bei den meisten wilden Tieren, daß hier die Analogie zwischen Menschen und Haustieren sofort ins Auge springt. In der Natur sind hybride Formen zwischen verschiedenen Tierarten selten, während Haustiere beständig untereinander und mit wilden Tieren gekreuzt sind. Kreuzungen zwischen den verschiedenartigsten Menschenrassen sind auch sehr häufig. Ich erwähne hier die Mischungen von Hamiten der Sahara und den Negern des Sudan ( N a c h t i g a l ) , die in Malakka so häufigen Kreuzungen von Negritos und Malaien ( M a r t i n ) , die auch von wesentlichem Einfluß auf die Typenverteilung im malaiischen Archipel gewesen sind, die auf den Fidji-Inseln beobachteten Mischungen, die der Aino und Japaner im nördlichen Japan, der Europäer und Mongolen im östlichen Europa, und die Kreuzung der Europäer mit anderen Rassen, die sich seit der modernen Kolonisation der ganzen Welt entwickelt hat. Dieser Gesichtspunkt — die Betrachtung des Men-

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

sehen als Haustier — ist auch von großer Wichtigkeit für das Verständnis seiner geistigen Eigenschaften. Das Betragen primitiver Haustiere, wie etwa das des Eskimohundes oder des Tschuktschenrenntieres, ist ganz verschieden von dem Betragen wilder Tiere. Man darf vielleicht ganz allgemein sagen, daß das geistige Leben der Haustiere lebhafter ist, als das wilder Tiere, und daß die Vielseitigkeit ihres Geisteslebens bei zunehmender Zähmung zunimmt. Es kommt allerdings vor, daß die Intelligenz bei Haustieren mangelhafter ist, als bei der entsprechenden Wildart, wie etwa bei den Schafen, doch ist das Umgekehrte entschieden häufiger. Zusammenfassend können wir sagen, daß die Umwelt einen mächtigen Einfluß auf die Formen und physiologischen Funktionen des Körpers ausübt, und daß man daher Unterschiede im Typus und dem Verhalten bei Naturvölkern und Kulturvölkern der gleichen Rasse erwarten darf. Ferner ist es wahrscheinlich, daß eine der gewichtigsten Ursachen solcher Veränderungen in der fortschreitenden Domestikation des Menschen, einer Begleiterscheinung der fortschreitenden Kultur, zu suchen ist.

IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen und Beanlagung. Auf Grundlage der Untersuchungen über Erblichkeit und Umweltseinflüsse können wir uns nun der Frage nach den Beziehungen zwischen Körperform und Beanlagung zuwenden. Diese Betrachtungen fußen auf der Tatsache, daß höhere Tiere auch höhere geistige Begabung haben. Es fragt sich, ob beim Menschen ähnliche Unterschiede zu beobachten sind. Ganz kurz nur wollen wir auf die wesentlichen, geistigen Unterschiede zwischen Tier und Mensch hinweisen.

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

sehen als Haustier — ist auch von großer Wichtigkeit für das Verständnis seiner geistigen Eigenschaften. Das Betragen primitiver Haustiere, wie etwa das des Eskimohundes oder des Tschuktschenrenntieres, ist ganz verschieden von dem Betragen wilder Tiere. Man darf vielleicht ganz allgemein sagen, daß das geistige Leben der Haustiere lebhafter ist, als das wilder Tiere, und daß die Vielseitigkeit ihres Geisteslebens bei zunehmender Zähmung zunimmt. Es kommt allerdings vor, daß die Intelligenz bei Haustieren mangelhafter ist, als bei der entsprechenden Wildart, wie etwa bei den Schafen, doch ist das Umgekehrte entschieden häufiger. Zusammenfassend können wir sagen, daß die Umwelt einen mächtigen Einfluß auf die Formen und physiologischen Funktionen des Körpers ausübt, und daß man daher Unterschiede im Typus und dem Verhalten bei Naturvölkern und Kulturvölkern der gleichen Rasse erwarten darf. Ferner ist es wahrscheinlich, daß eine der gewichtigsten Ursachen solcher Veränderungen in der fortschreitenden Domestikation des Menschen, einer Begleiterscheinung der fortschreitenden Kultur, zu suchen ist.

IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen und Beanlagung. Auf Grundlage der Untersuchungen über Erblichkeit und Umweltseinflüsse können wir uns nun der Frage nach den Beziehungen zwischen Körperform und Beanlagung zuwenden. Diese Betrachtungen fußen auf der Tatsache, daß höhere Tiere auch höhere geistige Begabung haben. Es fragt sich, ob beim Menschen ähnliche Unterschiede zu beobachten sind. Ganz kurz nur wollen wir auf die wesentlichen, geistigen Unterschiede zwischen Tier und Mensch hinweisen.

IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

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Die beiden äußeren Merkmale, in denen der Mensch sich vom Tier unterscheidet, sind der Besitz einer organisierten, artikulierten Sprache und der Gebrauch von Werkzeugen. Beide Merkmale sind der ganzen Menschheit gemein. Kein Volksstamm ist je entdeckt worden, der nicht eine wohlgegliederte Sprache besäße; keiner, der nicht den Gebrauch von Werkzeugen zum Schneiden, Brechen und Bohren, den Gebrauch des Feuers und der Schutz- und Trutzwaffen kennte. Obwohl auch Tiere sich durch Laute über gewisse Sinnesausdrücke oder Gefühle verständigen können, und obwohl sogar niedere Tiere, wie Insekten, imstande sind gemeinsame Arbeit vieler Individuen ins Werk zu setzen, kennen wir doch kein Beispiel einer wahren Tiersprache, aus der bestimmte Klassifikationsprinzipien abstrahiert werden könnten. Der Gebrauch von zweckdienlichen Gegenständen fehlt auch in der Tierwelt nicht vollständig; die höheren Affen mögen gelegentlich Baumäste und Steine zur Verteidigung benutzen. Aber die absichtliche Herstellung von Werkzeugen findet sich bei keinem Tiere. Nur beim Wohnungsbau lassen sich Andeutungen komplizierter Benutzung von Gegenständen finden. Die Art der Benutzung ist aber bei jeder Tierart ganz stabil — wie wir sagen, instinktiv —, und ihr fehlt ganz die persönliche Freiheit, die den Grundcharakter menschlicher Erfindungen ausmacht. Der Ursprung der instinktiven Tätigkeiten, die bei Tieren zur Ausführung verwickelter mechanischer Arbeiten führen, ist noch ein ungelöstes Rätsel, doch ist das Verhältnis, in dem das einzelne Tier zum Gebrauche dieser Hilfsmittel steht, offenbar grundverschieden von dem freien Gebrauche, den der Mensch von seinen Erfindungen macht. Ein anderes Hauptmerkmal der geistigen Vorgänge beim Menschen ist das vernunftgemäße Denken, das breite Gebiete seines Geisteslebens beherrscht. Während das Tier ebensogut wie der Mensch zweckmäßige Handlungen ausführen kann, die auf der Erinnerung an frühere Erfahrungen, welche zur Erreichung des gleichen Zweckes gef ü h r t haben, beruhen, läßt sich nicht beweisen, daß die Ideen, die aus solchen Handlungen abstrahiert werden können, je einem Tiere ins Bewußtsein treten. Alle Men-

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

sehenrassen dagegen, von den primitivsten Menschen der Jetztzeit an, haben die Fähigkeit, solche Ideen zu bilden und klar zu erkennen. Es fragt sich nun, ob mit der verschiedenartigen Körperform des Menschen, sei sie nun durch Erblichkeit oder Umweltseinflüs^p bedingt, auch verschiedenartige geistige Begabung verknüpft ist. Ehe wir auf diese Frage eingehen, möchte ich auf einen Fehler aufmerksam machen, der sich immer wieder in derartige Untersuchungen einschleicht. Die selbstbewußte Schätzung unserer Leistungen bringt es mit sich, daß wir an den Vergleich zwischen den Körperrnerkmalen der weißen Rasse und anderen Rassen immer mit dem unausgesprochenen, aber trotzdem merklichen Gefühle herantreten, daß die Eigentümlichkeiten der weißen Rasse Kennzeichen einer höheren Entwicklungsstufe sein müssen und im Zusammenhange mit höherer geistiger Begabung stehen. Wir haben schon in unseren einleitenden Bemerkungen erkannt, daß dieser Standpunkt unhaltbar ist, falls er nicht durch unmittelbare anatomische oder physiologische Gründe gerechtfertigt werden kann. Ich will diesen logischen Irrtum durch ein Beispiel erläutern. R. B. B e a n hat in einer vor wenigen Jahren veröffentlichten sorgfältigen Arbeit gewisse Unterschiede zwischen den Gehirnen von Negern und Weißen aus Baltimore nachgewiesen, Unterschiede, die sich sowohl in der gesamten Hirngestalt, wie in der Form der einzelnen Teile nachweisen lassen, und die wesentlich in der verschiedenen Form und Größe der Stirn- und Hinterhauptlappen, und in der Größe des Corpus callosum bestehen. Seine Schlußfolgerung ist, daß die geringere Größe der Stirnlappen und des Corpus callosum Merkmale der niederen geistigen Entwicklung der Neger sind, eine Folgerung, die treffend von F r a n k l i n P . M a l ! widerlegt ist. Hier, wo wir unser Augenmerk nur auf den logischen Fehlschluß zu richten haben, genügt es darauf hinzuweisen, daß die beobachteten Unterschiede wesentlich auf der Langköpfigkeit der Neger beruhen, und daß daher ähnliche Unterschiede sicher bei

IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

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lang- und kurzköpfigen Individuen derselben Rasse zu finden sein werden, — wie etwa bei einem Vergleich zwischen langköpfigen Nordfranzosen und kurzköpfigen Bewohnern Mittelfrankreichs. In dem letzteren Falle aber würde der Schluß auf größere oder geringere Begabung des einen oder anderen Typus von besonnenen Forschern sicherlich nicht gemacht werden, und niemand würde den Unrerschied so bewerten, wie B e a n es ohne weiteres bei Negern und Weißen tut. Es unterliegt natürlich keinem Zweifel, daß die Mem schenrassen große Unterschiede im Körperbau aufweisen. Hautfarbe, Haarform, Gestalt der Nase und Lippen unterscheiden den Afrikaner scharf vom Europäer. Die Frage, um deren Entscheidung es sich handelt, betrifft den Zusammenhang dieser Merkmale mit der geistigen Begabung. Man kann zwei Gesichtspunkte bei der Behandlung dieses Problems im Auge behalten. Einerseits fragt es sich, ob eine Rasse, bei der Merkmale gefunden werden, die in irgendeiner Weise als tierähnlich gedeutet werden müssen, auch in anderen Beziehungen einem niederen Typus angehört. Andererseits können wir unsere Aufmerksamkeit wesentlich der Entwicklung des zentralen Nervensystems zuwenden und untersuchen, ob sich in dieser Beziehung wichtige Rassenunterschiede finden. Es wird also zu untersuchen sein, ob die Menschenrassen überhaupt höhere und niedere Körpermerkmale aufweisen, und dann, ob diese mit höherer geistiger Beanlagung verbunden sind. Grundlegend für diesen ersten Gesichtspunkt ist die gesamte phylogenetische Betrachtungsweise der Biologie. Auch abgesehen von den hin- und herschwankenden Einflüssen der Umwelt, können wir nicht von einer permanenten Stabilität irgendwelcher Körperform reden. Die gesamten, modernen Anschauungen über die Entwicklung von Varietäten und Spezies beruhen auf der Annahme von Veränderungen, entweder durch Anhäufung kleiner Variationen, oder durch das plötzliche Auftreten neuer Formen. Die von der Norm abweichenden Bildungen, die im menschlichen Körper vorkommen, entsprechen ganz dieser

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerktnalen u. Beanlagung.

Anschauung, und ich will hier einige Sätze aus W i e d e r s h e i m s vortrefflicher Arbeit „über den Bau des Menschen als Zeugnis für seine Vergangenheit" anführen, welche dieses klar zum Ausdruck bringen. Er sagt: „Der Körper des Menschen unterlag im Laufe seiner Stammesgeschichte einer Reihe von Veränderungen, welche zum Teil auch in seinen Ontogenese zum Ausdruck kommen. Ja, alles weist darauf hin, daß dieselben auch heute noch fortdauern, daß also der Mensch der Zukunft ein anderer sein wird, als der jetzige." Die besten Beispiele solcher Änderungen finden sich bei Organen, die im Rückgange begriffen sind. So kann man beobachten, daß beim modernen Menschen die kleine Zehe oft nur zwei Glieder h a t , eine Erscheinung, die vielleicht auf mangelnden Gebrauch zurückzuführen ist. Dieser Zustand ist sowohl bei barfußgehenden Völkern, wie bei beschuhten beobachtet worden, so daß man ihn nicht auf künstliche Verbildung zurückführen darf. Die Zähne zeigen gleichfalls allgemeine Rückbildungserscheinungen, besonders in der verschiedenen Größenentwicklung der Backenzähne und der oberen, äußeren Schneidezähne. Der dritte Backenzahn — der Weisheitszahn — kommt oft gar nicht zum Durchbruch und ist bei den meisten Rassen im Vergleich zu den vorderen Backenzähnen klein. Retention oder mangelhafte Entwicklung der oberen äußeren Schneidezähne ist gleichfalls häufig. Ähnliche Rückbildungen lassen sich am unteren Ende des Brustkorbes beobachten, wo die Entwicklung des Brustbeins wie der Rippen starke Variationen aufweist. Diese Abweichungen sind bedeutsam, insofern sie als Neubildungen aufgefaßt werden können, die heutzutage bei verschiedenen Rassen mit verschiedener Häufigkeit auftreten. Sollten diese Neubildungen an Häufigkeit zunehmen und schließlich normal werden, so würden sie eine Änderung in der stabilen Körperform bilden und müßten dann als neue Rassenformen aufgefaßt werden. Ein Beweis dafür, daß diese Formen wirklich an Häufigkeit zunehmen, ist nie erbracht worden, und nur auf Grund dieses Beweises könnte die theoretische Deutung als endgültig festgestellt

IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

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betrachtet werden. Die Wahrscheinlichkeit spricht aber für die Richtigkeit der Annahme, die durch das Vorkommen rudimentärer, funktionsloser Organe, und durch das zeitweilige Erscheinen niederer Merkmale während der ontogenetischen Entwicklung gestützt wird. Es ist nachgewiesen, daß einige dieser Rückbildungen — wie die Retention der äußeren Schneidezähne — erblich sind und daher von einer Generation zur anderen fortgepflanzt werden. Dieses erklärt bis zu einem gewissen Grade die Beobachtung, daß manche Abweichungen bei kulturarmen Völkern häufiger sind, als bei Kulturvölkern. Bei ersteren sind die gesellschaftlichen Einheiten nicht zahlreich und sie haben wenig Verkehr mit fremden Stämmen. Wenn daher in einer solchen Gruppe eine der Ahnenfamilien zu einer Abweichung neigte, so muß sie sich dort besonders häufig festgesetzt haben. Einen derartigen Fali bietet vermutlich das häufige Vorkommen überzähliger Wirbel bei den Indianern der VancouverInsel, und wohl auch das häufige Vorkommen des mittleren Gaumenwulstes bei den Lappen. Ich wage nicht sicher zu entscheiden, ob die Häufigkeit des Inka-Knochens, der Abtrennung des oberen Teiles der Hinterhauptschuppe durch eine Quernaht, die besonders häufig in Peru und bei den Pueblo-Indianern von New-Mexiko und Arizona vorkommt, ebenso zu erklären ist. Es ist daher wohl möglich, daß die größere Häufigkeit solcher Abweichungen bei gewissen Menschengruppen keineswegs ein Ausdruck ihrer höheren oder niederen Entwicklung ist, sondern nur das Vorhandenein von Mitgliedern gewisser, durch diese Merkmale ausgezeichneter Familien kennzeichnet. In solchen Fällen haben wir es nicht mit spontanen Neubildungen zu t u n , sondern mit erblicher Übertragung älterer Eigenschaften. Mit anderen Worten, wenn wir die Schlußfolgerung annehmen sollen, daß größere Häufigkeit von Neubildungen bei einem Menschentypus eine Fortentwicklung der Spezies oder Varietät bedeutet, so müssen wir uns zuerst überzeugen, daß eine solche Neubildung spontan in irgendeinem Individuum auftreten kann und nicht durch erbliche Familienanlage bedingt

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

ist. Sonst müßte noch nachgewiesen werden, daß in größeren Verbänden Familien, die derartige Eigentümlichkeiten haben, größere Wahrscheinlichkeit hatten sich fortzupflanzen und an Zahl rascher zunehmen, als andere. Jedenfalls beweist aber das Vorkommen dieser Abweichungen, daß die Körperform von Menschengruppen nicht absolut stabil sein kann, da ja jede Verschiedenheit in der Häufigkeit der abweichenden Bildung auch als eine Veränderung des Typus der Gruppe aufgefaßt werden muß. Es ist natürlich eine offene Frage, wieviel Zeit dafür erforderlich sein mag, Neubildungen, wie die hier besprochenen, zur Norm zu gestalten. Außer diesen fortschreitenden Neubildungen gibt es auch andere Formen, die nicht bei allen Individuen vorkommen, und die als Reste alter Formen aufgefaßt werden können, jedenfalls diesen ähneln. Eine solche Bildung ist eine Eigentümlichkeit in der Form des Schläfenbeines, das beim Menschen gewöhnlich vom Stirnbein durch das Keilbein und Scheitelbein getrennt ist. Man hat beobachtet, daß manchmal das Schläfenbein sich weiter vordrängt und mit dem Stirnbein in Berührung kommt. Dieses ist die gewöhnliche Bildungsform beim Affen. Es hat sich herausgestellt, daß diese Form bei allen Rassen, aber mit verschiedener Häufigkeit, vorkommt. Die eigentümliche Form des Schienbeins, die Platyknemie (seitliche Flachheit) genannt wird, findet sich bei den Skeletten der ältesten Rassen Europas, aber auch beim modernen. Menschen. Andere Merkmale, die uns an niedere Formen erinnern, sind gewisse Eigentümlichkeiten an den Gelenkflächen des Oberschenkelknochens und des Schienbeins, die mit dem aufrechten Gange des Menschen in Beziehung gesetzt werden können und sich bei verschiedenen Rassen finden; der schon erwähnte „Inka-Knochen", d . h . die Trennung der Hinterhauptschuppe von der Basis des Hinterhauptbeins, eine Bildung, die bei allen Rassen vorkommt, aber besonders häufig bei mehreren amerikanischen Stämmen zu sein scheint; die Kleinheit der Nasenbeine und ihr Verwachsen mit dem Oberkiefer; die sogenannten Pränasalgruben, die an analoge Formen beim

IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

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Affen erinnern, und gewisse Abweichungen im Verlaufe der Arterien und der Anordnung und Entwicklung der Muskeln. Alle diese variablen Merkmale finden sich wohl überall, ihre Häufigkeit bei verschiedenen Rassen ist aber ungleich. Vom S t a n d p u n k t der Entwicklungslehre k a n n man solche Abweichungen als menschliche Merkmale bezeichnen, die sich im großen und ganzen durchgesetzt haben, aber noch nicht ganz stabil geworden sind. W e n n eine solche Deutung zulässig ist, so darf man diejenigen Rassen als hochstehend bezeichnen, bei denen die charakteristischen menschlichen Merkmale am stabilsten sind. Man kann die Menschenrassen auch verschiedenen Merkmalen nach so anordnen, daß die eine weiter von den homologen Erscheinungen beim Tiere entfernt ist als die andere. Bei all diesen Versuchen ist die Lücke zwischen Mensch und Tier breit, und die Verschiedenheiten zwischen den Menschenrassen sind im Vergleich dazu gering. Es zeigt sich z. B., daß das Gesicht bei der Negerrasse im Vergleich zum Schädel größer ist, als bei den Amerikanern, deren relative Gesichtsgröße wieder größer ist, als die der Europäer. Die untere Gesichtshälfte des Negers ist groß, der Zahnbogen liegt weit vorgeschoben und erhält so eine Form, die etwas an affenartige Formen erinnert. Diese Eigentümlichkeiten sind sehr weit verbreitete Merkmale der afrikanischen Rasse und sie kennzeichnen einen Typus, der dem Tiere etwas näher s t e h t als der T y p u s des Europäers. Das gleiche kann man von der breiten, niederen Nase der Neger und mancher Mongolen sagen. Trotzdem ist der Abstand der Gesichtsform und der Nasenform der Neger von tierischen Formen viel, viel größer, als ihr Abstand von der Form der Europäer. Wenn m a n den Theorien K l a a t s c h s , S t r a t z s und S c h o e t e n s a c k s folgt, welche die Australier f ü r den ältesten und am wenigsten spezialisierten Menschentypus halten, d ü r f t e man auch andere Merkmale erwähnen, wie die Schlankheit der Wirbel, die geringe K r ü m m u n g der Wirbelsäule, auf die C u n n i n g h a i n schon a u f m e r k s a m gemacht h a t , und die F u ß f o r m , welche an die Bedürfnisse eines B o a s , Kultui unJ Rasse.

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kletternden Wesens, das sich von Ast zu Ast bewegt, erinnert. Um nun diese Erscheinungen richtig zu deuten, müssen wir stets im Auge behalten, daß die sogenannten „höheren R a s s e n " keineswegs in bezug auf alle ihre Körpermerkmale an der Spitze der Reihe stehen und vom Tiere am stärksten verschieden sind. Die Europäer und Mongolen haben die größten Gehirne; die Europäer haben kleine Gesichter und hohe, schmale Nasen, — Züge, in denen sie sich von den vermutlichen Ahnen des Menschengeschlechts mehr unterscheiden als andere Rassen. Andererseits haben die Europäer andere, niedere Merkmale mit den Australiern gemein; denn beide haben am meisten u n t e r allen Rassen die Körperhaarentwicklung des A h n e n t y p u s beibehalten. Die typische Entwicklung der menschlichen Lippen findet sich am ausgesprochensten beim Neger, dessen Körperproportionen, was die Länge der Gliedmaßen anbetrifft, auch stärker von den höheren Affen abweichen, als dies bei den Europäern der Fall ist. Drücken wir diese Beobachtungen modernen biologischen Anschauungen gemäß a u s , so m u ß m a n sagen, daß die spezifisch-menschlichen Charakterzüge bei verschiedenen Rassen mit ungleicher Stärke auftreten, und daß die Entwicklungsrichtung nicht bei allen Rassen dieselbe ist. Nun fragt es sich, was diese Rassenunterschiede in bezug auf die geistige Begabung beweisen. Wir wollen f ü r den Augenblick Verschiedenheiten in der Größe und dem feineren Bau des Zentralnervensystems beiseite lassen und unser Augenmerk auf die Bedeutung anderer Merkmale f ü r die Beurteilung der geistigen Begabung lenken. Die allgemeine Analogie zwischen der geistigen Entwicklung von Tieren und Menschen bestimmt uns, niedere Geistescharaktere mit Tierähnlichkeit zu assoziieren. Im naiven Sprachgebrauch des täglichen Lebens sind tierische Züge und Bestialität oder Brutalität eng verbunden. Wir müssen hier aber zwischen den eben besprochenen anatomischen Merkmalen und der Muskelentwicklung des Gesichtes, des Körpers und der Gliedmaßen, soweit sie durch gewohn-

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heitsmäßige Bewegungen bestimmt sind, unterscheiden. Eine Hand, die nicht an Arbeit gewohnt ist, welche feine Bewegungen erfordert, weil sie von komplizierten, psychologischen Vorgängen begleitet ist, wird der feinen Modellierung, des Resultates der unabhängigen Entwicklung eines jeden Muskels entbehren. Ein Gesicht, das nie den Innervationen gehorcht, die Begleiterscheinungen ernsten Denkens und feinen Fühlens sind, wird keine starke, durchgeistigte Individualität entwickeln. Ein Nacken, der immer schwere Lasten trägt und nicht auf die vielartigen Stellungen eines beweglichen und mannigfach gebrauchten Körpers eingestellt ist, muß schwer und plump erscheinen. Solche physiognomischen Unterschiede dürfen uns nicht irreführen. Doch selbst, wenn wir von all diesem absehen, sind wir geneigt, aus einer fliehenden Stirne, einem massiven Untergesicht, großen, vorstehenden Zähnen und wohl selbst aus ungewöhnlicher Länge der Arme, oder ungewöhnlichen Graden der Behaarung auf die geistigen Eigentümlichkeiten des Menschen zu schließen. Von wissenschaftlichem Gesichtspunkte erscheinen solche Schlüsse höchst fragwürdig. Wir besitzen allerdings nicht viele Untersuchungen über diese Zusammenhänge, aber bis jetzt haben sie nur negative Resultate gegeben. Das beweist, wie mir scheint, besonders der von K a r l P e a r s o n gemachte Versuch, die Beziehung zwischen der Größe und Form des Kopfes und der Intelligenz festzustellen. Seine Schlußfolgerungen sind so wichtig, daß ich sie hier wiederholen will: „Ich glaube", sagt er, „die Beweislast dafür, daß andere Messungen und feinere psychologische Beobachtungen bestimmtere Resultate ergeben würden, fällt nun den Forschern zu, die aus apriorischen Gründen eine solche Beziehung für wahrscheinlich halten. Mich persönlich hat das Resultat meiner Untersuchung überzeugt, daß die Beziehungen zwischen der äußeren Erscheinung und dem geistigen Charakter des Menschen sehr unbedeutend sind." Alle bis jetzt gemachten Beobachtungen zwingen uns anzunehmen, daß die Merkmale des Knochen-, Muskel-, Eingeweide- und Zirkula6*

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tionssystems so gut wie gar keine Beziehung zu der geistigen Beanlagung des Individuums haben ( M a n o u v r i e r ) . Diese Schlüsse, welche sich aus Untersuchungen an verschiedenen Individuen derselben Rasse ergeben haben, k a n n man freilich nicht ohne weiteres auf Rassentypen übertragen, da es denkbar und sogar wahrscheinlich ist, d a ß die morphologischen Rassenverschiedenheiten und die Individualverschiedenheiten, die in einer Rasse vorkommen, nicht den gleichen Gesetzen folgen. Immerhin aber m a c h t das vollständige Fehlen der oben besprochenen Beziehungen es unwahrscheinlich, d a ß sie eine bedeutende Rolle bei Rassenunterschieden spielen sollten. Wenden wir uns nun der wichtigen Frage zu, welche Beziehung zwischen Gehirngröße und Beanlagung besteht, eine Frage, die eine ganz unmittelbare Bedeutung f ü r unser Problem h a t . Unterschiede in der Gehirngröße bei verschiedenen Rassen gibt es. Es läßt sich nun zunächst verm u t e n , d a ß mit der Größe des Hirns auch die Begabung des Menschen f ü r geistige Arbeit z u n i m m t . Wir wollen hier die b e k a n n t e n Tatsachen kurz zusammenstellen. Die Größe des zentralen Nervensystems kann auf zwei Weisen bestimmt werden, — entweder durch Gehirnwägungen oder durch Bestimmungen des R a u m i n h a l t e s der Schädelhöhle. Die erstere Methode gibt die genauesten Resultate. N a t u r g e m ä ß sind viel mehr Gehirne von Weißen gewogen worden, als von Menschen anderer Rassen. Es gibt indessen genügendes Material, um es außer jedem Zweifel zu stellen, d a ß das Gehirngewicht der Weißen größer ist, als das der meisten anderen Menschentypen, besonders aber als das der Neger. Das Gehirngewicht des weißen, erwachsenen Mannes beträgt im Durchschnitt etwa 1360 G r a m m . Untersuchungen über den R a u m i n h a l t der Schädelhöhle s t i m m e n ganz mit den so gewonnenen Zahlen überein. Nach T o p i n a r d ist der R a u m i n h a l t von Männerschädeln aus der neolithischen Periode Europas im Durchschnitt 1560 ccm (44 Schädel); der moderner Europäer ebensogroß (347 Schädel); der von mongoloiden Individuen 1510 ccm (68 Schädel); von afrikanischen Negern 1405 ccm (83 Schädel); von Negern des Stillen Ozeans 1460 ccm

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(46 Schädel). Die Mittelwerte zeigen also einen Unterschied zugunsten der weißen Rasse. Bedeutet aber nun dieses größere Hirn des Weißen eine höhere B e g a b u n g ? Das ist zunächst nicht unwahrscheinlich, und es lassen sich Beobachtungen a n f ü h r e n , die f ü r diese Anschauung sprechen. Die wichtigste daru n t e r ist die Tatsache, d a ß höhere Tierformen im Verhältnis zu ihrer Körpergröße große Gehirne haben, sowie der bedeutende Unterschied zwischen der Gehirngröße des Menschen und der gleich großer Tiere. Es gibt allerdings eine Reihe von Ausnahmen. So finden wir bei kleinen Vögeln relativ sehr große Gehirne, ohne d a ß d a m i t ungewöhnlich große Intelligenz verbunden wäre. Solche Ausn a h m e n stören aber das allgemeine Bild nicht, das in den verschiedenen Tierformen eine Z u n a h m e der Intelligenz bei zunehmender Hirngröße beweist. Ferner sprechen hierfür die Resultate der Beobachtungen M a n o u v r i e r s , der den R a u m i n h a l t der Schädelhöhle von 35 hervorragenden Männern gemessen h a t . Er fand als Mittelwert 1665 ccm, während 110 Durchschnittsmenschen ihm einen Mittelwert von nur 1560 ccm ergaben. Andererseits erhielt er aus seinen Beobachtungen f ü r den R a u m i n h a l t der Schädelhöhle von 45 Mördern 1580ccm, einen Wert, der nicht auf einen wesentlichen Unterschied vom allgemeinen Mittel schließen läßt. Ein ähnliches Resultat hat sich aus den Wägungen der Gehirne hervorragender Männer ergeben, die im Mittel u m etwa 93 G r a m m das Gewicht von 1357 G r a m m , welches den Durchschnittswert f ü r die allgemeine Bevölkerung darstellt, überschreiten. Ferner kann man zugunsten der Theorie über den Z u s a m m e n h a n g zwischen großen Gehirnen und höherer Beanlagung G a l t o n s Beo b a c h t u n g anführen, der bewiesen h a t , d a ß die Köpfe g u t e r S t u d e n t e n an englischen Universitäten größer sind als die der Durchschnittsstudenten. Trotz alledem darf m a n diese Gründe nicht allzuhoch bewerten. So sind durchaus nicht alle Gehirne hervorragender Männer groß. Im Gegenteil, es fanden sich einige ungewöhnlich kleine Gehirne in der ganzen Beobachtungsreihe. Ferner müssen wir bedenken, d a ß die meisten Ge-

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

hirngewichte, die beobachtet sind, an Material gemessen sind, das seinen W e g zur Anatomie findet, d. h. an Individuen, die in wenig günstigen Verhältnissen gelebt haben und deshalb wegen mangelhafter E r n ä h r u n g und anderer ungünstiger U m s t ä n d e körperlich nicht so gut entwickelt sind wie die wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen. Da n u n unter diesen U m s t ä n d e n die mittlere Größe und das mittlere Gewicht des ganzen Körpers kleiner als der Durchschnitt ist, m u ß auch das Gehirn im Gewichte sinken. Dies entspricht der allgemeinen Tatsache, daß bei verschiedenen sozialen Gruppen desselben Menschentypus, die infolge von physiologischen Einflüssen der Umgebung sich s t ä r k e r oder schwächer entwickeln, alle Körperteile fast gleichmäßig durch diese Einwirkung betroffen werden. Es ist daher durchaus nicht sicher, d a ß d a s größere Gehirngewicht hervorragender Männer u n m i t t e l b a r von ihrer größeren Beanlagung bedingt ist. Aus diesen Verhältnissen wird sich a u f h die von F e r r a i r a in Portugal und von M a t i e g k a in Böhmen beobachtete größere Gehirngröße der Gebildeten im Vergleich zu Arbeitern erklären. Wir müssen aber noch andere Bedenken äußern. So scheint mir der Unterschied zwischen dem Gehirngewicht von Männern und Frauen zu Zweifeln an der unmittelbaren Beziehung zwischen Hirngröße und Begabung Anlaß zu geben. Absolut sowohl wie im Verhältnis zur Körpergröße ist das Hirngewicht der Frauen ein wenig kleiner als das der Männer, und dieser Unterschied m a c h t sich schon in der Kindheit geltend. W e n n n u n auch die Geistesrichtung der Frauen verschieden ist von der der Männer, so liegt doch kein Grund vor, dem einen Geschlecht eine höhere, dem anderen eine niedere Begabung zuzuschreiben. Wir finden also Gehirngewichte von verschiedener absoluter und relativer Größe, die durchweg gleichgroße Begabung begleiten. Natürlich m u ß man hier den grundlegenden Geschlechtsunterschied im Auge behalten, der andere wichtige physiologische Unterschiede mit sich bringt u n d daher die unmittelbare Übertragung der Beobachtungen auf das Verhältnis gleichgeschlechtlicher Individuen verschiedener Rassen unzulässig m a c h t . Doch erkennen wir daraus, d a ß bei ungleicher anatomischer und

IV. Beziehungen zwischen Körperinerkmalen u. Beanlagung.

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p h y s i o l o g i s c h e r K ö r p e r o r g a n i s a t i o n ungleiche G e h i r n g r ö ß e n g l e i c h w e r t i g e G e i s t e s f u n k t i o n e n begleiten k ö n n e n . T r o t z all dieser B e d e n k e n bleiben die Z u n a h m e d e r Geh i r n g r ö ß e bei h ö h e r e n T i e r e n u n d die m a n g e l n d e G e h i r n e n t w i c k l u n g bei M i k r o c c p h a l e n zu R e c h t b e s t e h e n , u n d diese T a t s a c h e n m a c h e n eine A b h ä n g i g k e i t d e r B e g a b u n g v o n d e r G e h i r n g r ö ß e w a h r s c h e i n l i c h , w e n n a u c h die Bez i e h u n g zwischen b e i d e n n i c h t so eng ist, wie o f t angen o m m e n wird. Die U r s a c h e f ü r d e n Mangel solch enger B e z i e h u n g e n liegt n i c h t f e r n . Die F u n k t i o n e n des G e h i r n s h ä n g e n v o n d e n N e r v e n z e l l e n u n d F a s e r n ab, die d u r c h a u s n i c h t d i e g r ö ß t e Masse des G e h i r n s a u s m a c h e n . Ein Gehirn mit vielen Zellen u n d k o m p l i z i e r t e n V e r b i n d u n g s l i n i e n mag w e n i g e r B i n d e g e w e b e e n t h a l t e n , als ein a n d e r e s m i t einf a c h e r e r S t r u k t u r des N e r v e n s y s t e m s . Mit a n d e r e n W o r t e n , w e n n es eine enge B e z i e h u n g zwischen G e h i r n f o r i n u n d B e g a b u n g g i b t , m u ß dieselbe in d e m f e i n e r e n B a u des Zent r a l n e r v e n s y s t e m s g e s u c h t w e r d e n , n i c h t in seiner G r ö ß e . E s g i b t n a t ü r l i c h eine B e z i e h u n g zwischen d e r G e h i r n g r ü ß e u n d d e r Z a h l d e r Zellen u n d F a s e r n , a b e r die B e z i e h u n g ist s e h r locker. T r o t z v i e l f a c h e r V e r s u c h e , U n t e r s c h i e d e im f e i n e r e n B a u des G e h i r n s v e r s c h i e d e n e r R a s s e n zu f i n d e n , die u n m i t t e l b a r m i t p s y c h o l o g i s c h e n U n t e r s c h i e d e n in V e r b i n d u n g g e b r a c h t w e r d e n k ö n n e n , sind bis j e t z t keine ü b e r z e u g e n d e n Beweise f ü r ihr V o r h a n d e n s e i n e r b r a c h t w o r d e n . D e r S t a n d u n s e r e s g e g e n w ä r t i g e n W i s s e n s ist v o r k u r z e r Zeit v o n F r a n k l i n P . M a l l , auf dessen A r b e i t ich mich schon bezogen h a b e , g u t c h a r a k t e r i s i e r t w o r d e n . Er behauptet, d a ß wegen d e r g r o ß e n U n t e r s c h i e d e zwischen gleichrassigen I n d i v i d u e n R a s s e n u n t e r s c h i e d e s e h r s c h w e r zu erweisen sind, u n d d a ß bis j e t z t n o c h keine g e f u n d e n sind, die einer e r n s t h a f t e n K r i t i k S t a n d h a l t e n . E s m a c h t sich hier e b e n w i e d e r die T a t s a c h e g e l t e n d , d a ß die i n d i v i d u e l l e n Vers c h i e d e n h e i t e n des G e h i r n b a u e s u n d d e r G e h i r n g r ö ß e in j e d e r einzelnen R a s s e so g r o ß sind, d a ß die r a s s e n h a f t e n U n t e r s c h i e d e im Vergleich zu ihnen klein u n d u n b e d e u t e n d erscheinen.

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

Es mag hier noch mit einigen W o r t e n der v e r m u t lichen kulturellen Bedeutung der geringeren durchschnittlichen Gehirngröße des Negers gedacht werden. Bei dem losen Zusammenhange zwischen Gehirngröße und Begabung darf man es f ü r möglich halten, daß bei den Negern nicht ganz so viele hochbegabte Individuen vorkommen, wie bei Weißen und Mongolen, so d a ß in dieser Beziehung die Rasse ein weniger ungünstiger gestellt sein würde als andere. Man m u ß hierbei natürlich nicht vergessen, d a ß bei großen Menschenmengen auch die starken Abweichungen häufiger v o r k o m m e n , und d a ß deshalb auch bei den Negern ungewöhnlich begabte, so wie ungewöhnlich u n b e g a b t e Individuen auftreten werden. Wir müssen die weitere Bet r a c h t u n g dieser wichtigen Frage auf später verschieben ( K a p . 6). Ist es so also nicht möglich, u n m i t t e l b a r aus den physiologischen Beziehungen zwischen K ö r p e r f o r m und Hirnf u n k t i o n einen Schluß auf die Begabung der Rassen zu machen, so f r a g t es sich, ob die Beobachtung des geistigen Verhaltens der Rassen bessere Resultate verspricht. Es ist doch wohl d e n k b a r , d a ß die psychologischen Eigenschaften uns ein unmittelbares Urteil über die Rassenbegabung gestatten. Das mißliche dieser Methode liegt darin, d a ß die Kultursteigerung selbst einen starken Einfluß auf die Geistesäußerungen des Menschen h a t , so d a ß es außerordentlich schwierig ist, zu bestimmen, inwiefern das Verh a l t e n des Menschen von seiner Begabung, inwiefern es von der K u l t u r abhängig ist. Viele Versuche sind gemacht worden, um auf diese Weise die geistigen Merkmale der Völker zu erschließen. U n t e r den Forschern, die in ihnen wesentlich den Ausdruck der Rassenbegabung zu erkennen glauben, nenne ich K l e m m , C a r u s , d e G o b i n e a u , und N o t t und G l i d d o n . K l e m m ^ u n d W u t t k e , der ihm folgt, bezeichnen die Kulturvölker als^Völker der aktiven Rasse, alle anderen als passiven Rassen angehörig. Sie nehmen an, d a ß die Elemente 1 * und Anfänge höherer K u l t u r u n t e r k u l t u r a r m e n Völkern, sei es n u n in Amerika oder auf den Inseln des Stillen Ozeans, einer Berührung mit den Schöpfungen der

IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

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aktiven Rassen e n t s t a m m e n . C a r u s teilt die Menschheit in Tages-, Nacht-, und Dämmerungsvölker. D e G o b i n e a u n e n n t die gelbe Rasse das männliche, die schwarze das weibliche Element, und erkennt allein der weißen Rasse edelste Begabung zu. N o t t und G l i d d o n behaupten, d a ß die niederen Rassen nur tierische Instinkte haben, während sie annehmen zu dürfen glauben, d a ß die weiße Rasse einen höheren Instinkt besitzt, der ihre Entwicklung h e r v o r r u f t und deren Richtung bestimmt. Der Glauben an die höhere erbliche Beanlagung der weißen Rasse hat neues Leben aus dem modernen Glauben an die „ H e r r e n m e n s c h e n " und ihre Vorrechte gesogen, eine Anschauung, die wohl ihren k ü h n s t e n Ausdruck in den Werken N i e t z s c h e s gefunden h a t . Diese Versuche, rassenhafte Unterschiede zu bestimmen, sind aber nicht ohne weiteres annehmbar, da ihnen andere Versuche gegenüberstehen, ähnliche Unterschiede festzulegen, die das Rassenhafte ganz beiseite lassen und nur den allgemeinen Kulturzustand des Volkes ins Auge fassen. Ich nenne hier S p e n c e r und T y l o r , und u n t e r den älteren Forschern T h e o d o r W a i t z . T y l o r und S p e n c e r , welche eine geistvolle Analyse des Geisteslebens der kulturarmen Völker geben, sehen ausdrücklich von allen Beziehungen zu bestimmten Rassen ab und behandeln ihr Material als Daten f ü r die K e n n t nis der Entwicklung des menschlichen Geistes auf den niedersten K u l t u r s t u f e n und als gültig f ü r alle Rassen. Besonders bei S p e n c e r tritt dieser Gesichtspunkt klar hervor. Ähnliches gilt von den Anschauungen F r i e d r i c h S c h u l t z e s und L e v i - B r u h l s . Verschieden von diesen, obwohl auch auf dem K u l t u r zustande, nicht der Rassenzugehörigkeit f u ß e n d , ist der Gesichtspunkt, den W a i t z in seiner großen Anthropologie der Naturvölker entwickelt. Er s a g t : „ W i r b e h a u p t e n im Gegensatze zu der gewöhnlichen Ansicht, nach welcher die Bildungsstufe eines Volkes oder eines Individuums vorzugsweise oder ausschließlich das P r o d u k t seiner geistigen Fähigkeiten ist, d a ß wenigstens ebensosehr umgekehrt seine jedesmaligen Fähigkeiten, die nichts weiter bezeichnen

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

als die Art und Größe der jedesmal in der nächsten Zuk u n f t von ihm ausführbaren Leistungen, von der Bildungss t u f e und den Kulturfortschritten abhängen, die von ihm wirklich schon erreicht sind. Die Fähigkeiten eines Volkes ä n d e r n sich nicht bloß im Laufe, sondern auch wesentlich n a c h Maßgabe seiner Geschichte." Der Gegensatz dieser beiden S t a n d p u n k t e f ü h r t uns die Schwierigkeit unseres Problems vor Augen. Offenbar herrscht in bezug auf die Psychologie der kulturarmen Völker eine noch größere Verwirrung als in den Fragen der Anatomie. Man weiß weder, was die unterscheidenden Merkmale ihres Geisteslebens sind, noch ob es sich um rassenhafte oder auf Umweltseinflüssen beruhende Erscheinungen handelt. Das Beweismaterial, d a s die verschiedenen Forscher benutzen, besteht teils aus Geisteseigenschaften von Völkern verschiedener Rassen, bei denen von der K u l t u r s t u f e abgesehen und alles anscheinend Charakteristische als rassenhaft gedeutet ist; teils aus Beobachtungen, bei denen von dem Rassenhaften ganz abgesehen ist, und alle S t ä m m e und Völker gleicher K u l t u r s t u f e als wesentlich gleich angesehen werden. Es handelt sich demnach nicht um zwei einander ausschließende Anschauungen, sondern um die beiden zusammenwirkenden Ursachen, Erblichkeit und Umweltseinfluß, die, wenn möglich, get r e n n t werden sollten. Hieraus sieht man a u c h , d a ß ohne eingehendere Untersuchung dieser Frage die eindeutige Erklärung der Unterschiede als rassenhaft unzulässig ist, d a ß es ohne solche Vorsichtsmaßregel nicht möglich ist zu sagen, ob Geisteseigenschaften auf Vererbung beruhen oder ob sie v o m K u l t u r z u s t a n d e bedingt sind. In der T a t zeigt auch die Geschichte der Wissenschaft, d a ß viele der Versuche, Rassencharaktere festzulegen, sich unter dem Drucke s t a r k e r Gefühle entwickelt haben, durch humanitäres Mitleid mit zurückgebliebenen Rassen, durch den Wunsch, die Sklaverei zu rechtfertigen, oder durch das brennende Verlangen, dem geistig Bedeutendsten die größtmögliche Freiheit zu sichern. Nicht minder gilt natürlich das Verlangen nach vorsichtiger Abwägung der Verhältnisse f ü r

IV. Beziehungen zwischen Körpernierkmalen ti. Beanlagung.

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den Forscher, der die Rassenzugehörigkeit vernachlässigt, ein Vorgehen, das nur zu rechtfertigen ist, wenn die Gleichheit der Geisteseigenschaften aller ¡Rassen bewiesen werden kann. Wir erkennen so, d a ß der Einfluß beider Elemente auf das Geistesleben der Völker untersucht werden muß. Es ist wohl möglich, d a ß die erbliche geistige Anlage verschiedener Völker verschieden ist, und daß daher die Art der geistigen Betätigung auch verschieden ausfallen muß. Aber es ist auch möglich, d a ß die erbliche Geistesanlage überall ungefähr gleich ist, d a ß aber die Verschiedenartigkeit der geistigen Betätigung aus der individuellen Erf a h r u n g entspringt und daher ganz von deren Inhalte abhängt. Es bedarf keines weiteren Beweises, d a ß die menschliche Geistestätigkeit auf beiden Elementen b e r u h t . Die Geistesanlage darf m a n vielleicht definieren als die Gesamtheit der Gesetze, welche Denken, Fühlen und Willensakte, ohne Betracht auf den besonderen Inhalt geistiger Tätigkeit, bestimmen. Solchen Gesetzen unterworfen ist die W a h r n e h m u n g von Unterschieden zwischen Sinneseindrücken, die Art und Weise der Assoziation von neuen Sinneseindrücken mit älteren; die Auslösung von Bewegungen und Gefühlen durch Reize. Diese Gesetze bestimmen gewisse Gebiete der Geistestätigkeit, und wir erkennen in ihnen erbliche Merkmale. Andererseits ist es aber auch leicht nachzuweisen, d a ß der Einfluß der individuellen Lebenserfahrung groß ist. Die H a u p t m a s s e der E r f a h r u n g des Menschen wird von oft wiederholten Eindrücken gewonnen. Nun ist es eines der Grundgesetze der Psychologie, d a ß die Wiederholung geistiger Vorgänge die Leichtigkeit der A u s f ü h r u n g vergrößert und zugleich den Bewußtseinsgrad, der zu ihrer A u s f ü h r u n g nötig ist, verringert. Dieses Gesetz liegt den bekannten Erscheinungen, die wir unter dem Ausdruck Gewöhnung und Gewohnheiten zusammenfassen, zugrunde. W e n n eine Sinneswahrnehmung sich häufig mit einer anderen f r ü h e r gemachten Sinneswahrnehmung assoziiert, wird die eine gewohnheitsmäßig die andere begleiten. W e n n

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

ein gewisser Reiz häufig eine bestimmte Handlung auslöst, so wird er gewohnheitsmäßig immer wieder die gleiche Handlung auslösen. W e n n ein Reiz oft dieselben Gefühle in Bewegung gesetzt hat, wird er sie auch immer wieder hervorrufen. Solche Verbindungen gehören nun offenbar zu den Umweltseinflüssen. In der T a t zeigt n u n die Beobachtung des Verhaltens von Menschen verschiedener Rasse, die auf gleicher Kulturstufe stehen, so wenige Unterschiede, d a ß aus ihnen gar kein Schluß auf die Geistesanlage zu ziehen ist. Wir werden uns mit diesen Tatsachen später, beim Vergleich der K u l t u r a r m e n und Zivilisierten, ausführlich zu beschäftigen haben, so d a ß hier ein bloßer Hinweis auf die Erscheinung genügen mag. Um größere Klarheit betreffs der Frage zu gewinnen, inwieweit die K ö r p e r f o r m die Geistesanlage bestimmt, dürfen wir auf unsere früheren Ausführungen über die individuellen Unterschiede zurückgreifen. Da in der Kindheit die Geistestätigkeit nur schwach ausgebildet ist und eine lange Entwicklung d u r c h m a c h t , sind große individuelle Unterschiede u n t e r den Mitgliedern jeder Rasse zu erwarten. Andererseits beweisen alle E r f a h r u n g e n über die Entwicklung der Kinder eine große Gleichartigkeit der Rassen. Diese Gleichartigkeit ist besonders bei Kindern der weißen und der Negerrasse in amerikanischen Schulen beobachtet worden ( M a c D o n a l d ) . Nach unseren früheren B e t r a c h t u n g e n ergibt sich hieraus mit großer Wahrscheinlichkeit, d a ß die Rassenunterschiede im Vergleich zu den Individualunterschieden immer klein bleiben. Es ist nicht überflüssig, d a r a n zu erinnern, d a ß die Größe der Individualunterschiede auf der Verstärkung der ererbten Unterschiede durch Umweltseinflüsse ¡beruht, die während der Entwicklung wirksam sind. Nun ist keineswegs a n z u n e h m e n , d a ß die kleinen Unterschiede zwischen den Rassen im Vergleich zu dem breiten Spielraum der individuellen Differenzen ganz zu vernachlässigen sind, oder] d a ß sie von den letzteren vollständig verdeckt werden. Trotz aller Gleichartigkeit der Äußerung der Geistesanlagen mag es eben doch Richtungs-

IV. B e z i e h u n g e n zwischen K ö r p e r m e r k m a l e n u. B e a n l a g u n g .

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unterschiede geben, die wegen der Schwierigkeit der Beo b a c h t u n g bislang u n a u f f i n d b a r gewesen sind. Es ist gewiß nicht wahrscheinlich, d a ß die Geistestätigkeit von Rassen, die sich anatomisch s t a r k unterscheiden, und deren physiologische Funktionen gewisse Unterschiede aufweisen, ganz die gleiche sein sollte. Die Charakterunterschiede bei verschiedenen Rassen der Haustiere macht es eher wahrscheinlich, d a ß Unterschiede in der Geistesrichtung bestehen. Verschiedenheiten im anatomischen Bau müssen von Unterschieden in den physiologischen und psychologischen F u n k t i o n e n begleitet sein, und da wir wissen, d a ß es bedeutende Unterschiede im Körperbau gibt, sollten wir auch Unterschiede in der Richtung der Beanlagung erwarten. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, daß die Korrelationen zwischen anatomischer Form und geistiger F u n k t i o n nicht enge sind, und d a ß bei jeder Rasse dem Mehr der Begabung in einer R i c h t u n g ein Weniger in anderer R i c h t u n g gegenüberstehen mag, daß, wenn wir auch eine gewisse Verschiedenheit im Komplex der geistigen Tätigkeiten erwarten dürfen, diese doch nicht einen niedrigeren oder höheren Gesamtwert auszudrücken braucht. Wir haben schon f r ü h e r gesehen, d a ß ein solches Mehr selbst in Fällen einer Rasse mit größerem Gehirne nur bedingt zuzusprechen ist. Unsere Anschauung m u ß also die sein, d a ß die individuellen Unterschiede in den Rassen einen breiten Spielr a u m einnehmen, d a ß viele Individuen verschiedener Rassen sich in ihren Anlagen gleichen werden, während eine statistische Zusammenstellung aller in einer Rasse vorkommenden geistigen Eigenschaften eine charakteristische Verteilungsart aufweisen wird. Wie ferner anatomische Merkmale in gewissen Familien und daher auch in Volkss t ä m m e n erblich sind, so gibt es auch geistige Merkmale, die b e s t i m m t e Linien kennzeichnen und vielleicht in ganzen S t ä m m e n zur Herrschaft gelangen können. Vorläufig t a p p e n wir in bezug auf das Vorhandensein erblicher Anlagen noch ganz im Dunkeln. G a l t o n s und P e a r s o n s Versuche, die Bedingungen der Erblichkeit geistiger Anlagen festzustellen, zeigen die großen Schwierigkeiten, die bei der Beantwortung dieser Fragen zu über-

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IV. Beziehungen zwischen Körpermerkmalen u. Beanlagung.

winden sind, weisen aber gleichzeitig die Möglichkeit nach, d u r c h vorsichtige Analyse den Einfluß der Erblichkeit auf geistige Eigenschaften zu bestimmen. Andere Versuche, einen Boden f ü r die sicherere Beurteilung der erblichen Geisteseigenschaften der Rassen zu gewinnen, sind durch die experimentelle Untersuchung europäischer Kinder in bezug auf einfache geistige Tätigkeiten und physiologische Vorgänge g e m a c h t . Durch die Arbeiten der wissenschaftlichen Expedition der Universität Cambridge nach der Torresstraße ( R i v e r s ) , ist die erste systematische P r ü f u n g einfacher psychologischer Vorgänge bei k u l t u r a r m e n Völkern vorgenommen w o r d e n ; ihr folgten die umfangreichen Untersuchungen, die Dr. W o o d w o r t h an den auf der Weltausstellung von St. Louis ausgestellten S t ä m m e n ausgeführt h a t ; und die Studien Dr. T h u r n w a l d s ü b e r die S t ä m m e von Neu-Guinea. Bislang sind die Res u l t a t e dieser Beobachtungen der Feststellung bedeutender Rassenunterschiede bei einfachen psychischen Vorgängen wenig günstig. Überblickt m a n all diese Angaben und Überlegungen, so zeigt sich, d a ß trotz aller Mühen bislang b r a u c h b a r e Rassenunterschiede nicht entdeckt sind. W i r dürfen d a r a u s schließen, daß, wenn diese schon bei verschiedenen Rassen n u r gering sind, sie beim Vergleich nahe v e r w a n d t e r Völker, wie der Nationen Europas, sicher ganz zu vernachlässigen sind. Im Zusammenhange hiermit ist noch die Frage zu erörtern, ob äußere Einwirkungen einen durch den Körper vermittelten Einfluß auf die Geistesbeschaffenheit der Völker ausüben. Als Beispiel einer solchen U n t e r s u c h u n g möchte ich die vorsichtige und gründliche Analyse des Seelenlebens der J a p a n e r a n f ü h r e n , die wir A. W e r n i c h v e r d a n k e n . E r glaubte beweisen zu können, d a ß manche ihrer Eigenschaften auf der mangelhaften Entwicklung ihres Muskel- und Verdauungssystems beruhen, die ihrerseits wieder durch ungenügende E r n ä h r u n g verursacht sind. Andere physiologische Merkmale, die den Geist des J a paners beeinflussen, hält er f ü r erblich. Aber wie hinfällig haben sich alle diese Schlüsse angesichts der K r a f t und

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Ausdauer erwiesen, die die Japaner in ihrer ganzen modernen Entwicklung und in ihrem Kampfe gegen Rußland zur Schau gestellt haben! Wirkungen mangelhafter Ernährung, die viele Generationen beeinflußt hat, glaubte V i r c h o w auch bei den Lappen und Buschmännern zu erkennen. Doch wird man nach dem eben angeführten Beispiel zögern, eine entschiedene Meinung zu äußern. Es bleibt nun noch eine Frage betreffs der Vererbung von Geistesanlagen zu besprechen, nämlich die, ob die erblichen menschlichen Anlagen unter dem Einflüsse der fortdauernden Kultur gesteigert sind; und besonders auch, ob die Anlagen der Kulturarmen unter dem Einflüsse der Kultur sich steigern werden. Auch hier müssen wir den anatomischen und den psychologischen Teil dieser Frage unterscheiden. Ich habe schon ausgeführt, daß Zivilisation analog der Züchtung Körperveränderungen hervorruft. Vermutlich sind Änderungen der geistigen Anlagen Begleiterscheinungen dieser Vorgänge. Die bekannt gewordenen anatomischen Veränderungen gehören aber alle dieser einen Gruppe an. Fortschreitende Änderung im Körperbau des Menschen, besonders auch Fortschritte im Gehirnbau unter dem Einflüsse der Zivilisation lassen sich nicht nachweisen. Die Schwierigkeit, einen wirklichen Fortschritt in den Geistesanlagen zu beweisen, ist noch größer. Es will mir scheinen, als ob der Einfluß der Hochkultur auf die Entwicklung der menschlichen Geistesbegabung stark überschätzt würde. Die psychischen Veränderungen, die eine unmittelbare Folge der Domestikation sind, mögen ja sehr groß sein. Sie sind als Umweltseinflüsse aufzufassen. Es ist aber nicht zu beweisen, daß eine fortschreitende Entwicklung, die erblich übertragen wird, statthat. Die Generationszahl, die diesen Einflüssen ausgesetzt war, ist doch gar zu gering. Für große Teile Europas dürfen wir kaum mehr als vierzig oder fünfzig Generationen annehmen; und sogar diese Zahl ist vermutlich viel zu hoch, da doch im Mittelalter und bis in die Neuzeit die Hauptmassen des Volkes auf einer sehr niederen Kulturstufe gelebt haben.

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Dazu k o m m t noch, d a ß die Tendenz der Vermehrung des Menschengeschlechts darauf hinzielt, die höchst gebildeten Familien auszumerzen, während andere, die weniger intensiven Kultureinflüssen ausgesetzt waren, ihre Stelle einnehmen. Deshalb ist es viel wahrscheinlicher, d a ß die Fortschritte auf den Ergebnissen der Erziehung beruhen, nicht auf Erblichkeit. Um die Vererbung erworbener höherer Geistesanlagen als ein Ergebnis der Zivilisation zu erweisen, werden oft Beispiele des Rückfalls von Angehörigen kulturarmer Rassen, die in E u r o p a sorgfältig erzogen sind, ang e f ü h r t . Solche Rückfälle werden d a n n als Beweis d a f ü r gedeutet, d a ß das Kind einer niederen Rasse sich nicht an unsere fortgeschrittene Zivilisation anpassen kann, selbst wenn ihm die besten Gelegenheiten geboten werden. Gewiß sind eine ganze Anzahl solcher Fälle b e k a n n t geworden. Ich erinnere an D a r w i n s Feuerländer, der ein paar J a h r e lang in England lebte und d a n n in seine Heimat zurückkehrte, wo er in die Lebensweise seiner S t a m m e s genossen z u r ü c k s a n k ; und an das westaustralische Mädchen, das einen Weißen geheiratet hatte, plötzlich aber ihren Mann erschlug und in die Wildnis floh, um mit ihren Stammesgenossen zu leben. Die Ereignisse sind wohl richtig, aber kein einziges ist mit genügenden Einzelheiten beschrieben. Die gesellschaftlichen und seelischen Lebensbedingungen solcher Individuen sind nie auch n u r mit annähernder Genauigkeit untersucht worden. Sollte nicht bei den meisten von ihnen, trotz der besseren Erziehung, ihre gesellschaftliche Stellung immer eine isolierte gewesen sein, während Verwandtschaftsbeziehungen immer ein einendes Band mit ihren Stammesgenossen aufrecht erhielten? Die M a c h t , mit der die Gesells c h a f t uns an sich bindet u n d uns gewisse Grenzen nicht überschreiten läßt, kann bei ihnen nicht mit voller K r a f t wirksam gewesen sein. Auf der anderen Seite d ü r f t e der Erfolg mancher gebildeter Neger in Amerika ebenso großes Gewicht in Anspruch n e h m e n , wie die wenigen Fälle, in denen ein Rückfall beobachtet ist, und die mit so viel Eifer und Sorgfalt gesammelt sind. Ich glaube

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m a n k a n n ihnen die zahlreichen Fälle des Abfalls Weißer von unserer modernen Zivilisation zur Seite stellen; von Männern, die ihre H e i m a t freiwillig verlassen, mit kulturarmen S t ä m m e n leben und fast immer in halbe Barbarei zurückfallen; oder von Mitgliedern hochgebildeter Familien, die schrankenlose Freiheit den Fesseln gesellschaftlicher Konvention vorziehen, in die Wildnis fliehen und ein Leben führen, das dem der K u l t u r a r m e n wohl kaum überlegen ist. W e n n es sich um das Verhalten von Angehörigen fremder Rassen handelt, die in E u r o p a erzogen sind, sollten wir auch der Möglichkeit gedenken, daß die Art zu denken, zu fühlen und zu handeln, die in allerfrühester Kindheit erworben ist und von der keine bewußte Erinnerung h a f t e t , einen Einfluß auf das spätere Leben behält. Wenn S i g i s m u n d F r e u d mit der A n n a h m e Recht hat, daß diese vergessenen Dinge eine lebendige K r a f t f ü r das ganze Leben bilden — um so m ä c h t i g e r , je vollständiger sie vergessen sind —, so dürfen wir schließen, d a ß viele der kleinen Charakterzüge des Menschen, die wir gewöhnlich f ü r ererbt halten, durch den Einfluß der Eltern und Verwandten erworben sind, unter denen das Kind seine ersten Lebensjahre zugebracht h a t . All unsere Beobachtungen über die Macht der Gewohnheit und den starken Widerstand gegen Änderungen von Gewohnheiten sprechen f ü r eine derartige Anschauung. Ehe wir den ganzen Gegenstand verlassen, soll hier betont werden, d a ß wir gemäß den modernen Anschauungen über die Entwicklung biologischer und psychologischer Erscheinungen notgedrungen annehmen müssen, d a ß beide sich aus früheren, einfacheren Zuständen entwickelt haben, und d a ß es sicher einmal Menschengruppen gegeben haben muß, deren geistige Anlagen nur schwach entwickelt waren. Es ist aber als erwiesen zu betrachten, d a ß die Geistesanlagen der jetzt lebenden Menschenrassen, so primitiv ihre Angehörigen im Vergleich zu uns auch sein mögen, bereits hoch entwickelt sind. Die Ergebnisse unserer Untersuchung der Beziehungen zwischen Körperform und Begabung sind nach all dem B o a s , Kultur u n d Rasse.

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vorhergehenden wesentlich negativ. Wir konnten weder Beweise dafür finden, daß phylogenetisch niedere Körpermerkmale eine Beziehung zu niederen geistigen Anlagen haben, noch irgendwelche wichtige Korrelationen zwischen den individuell verschiedenen Körperformen in jeder einzelnen Rasse und der Beanlagung des Individuums feststellen. Die ethnologische Beobachtung gab uns auch keine zuverlässigen Daten an die Hand. Das Wesentliche in den Geistesanlagen der verschiedenen Rassen scheint im Vergleiche zu der Größe der individuellen Unterschiede recht gleichartig. Obwohl wir Richtungsunterschiede in der Begabung als möglich annehmen dürfen, sind sie doch nicht mit Sicherheit festzustellen. So viel darf man aber mit Gewißheit sagen, daß die mittlere Begabung der weißen Rasse in gleichem Maße unter den Angehörigen fremder Rassen vorkommt, und daß keinerlei Grund vorliegt anzunehmen, daß die Volksmassen anderer Rassen nicht die gleiche Kulturstufe wie die europäischen Völker erreichen könnten.

V. Sprache, Rasse und Kultur. Ich habe schon gesagt, daß die Untersuchung von Stämmen verschiedener Rasse, aber gleicher Kulturstufe, keinerlei Aufschlüsse über Verschiedenheiten der Geistesanlagen der Rassen gibt. Es wäre nun noch denkbar, daß sich bei komplizierteren Vorgängen doch erhebliche Unterschiede herausstellen würden. Namentlich könnte man versuchen, aus dem Charakter der Kulturleistungen selbst auf die Art der Begabung Rückschlüsse zu machen. Daß wir hier nicht einfach Leistung und Anlage gleichsetzen dürfen, haben wir bereits gesehen. Es würde sich hier nur um die Möglichkeit des Nachweises handeln, daß die unabhängig geschaffenen Geistesprodukte der Völker je nach ihrer Rassenzugehörigkeit verschiedenartig und verschiedenwertig sind.

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vorhergehenden wesentlich negativ. Wir konnten weder Beweise dafür finden, daß phylogenetisch niedere Körpermerkmale eine Beziehung zu niederen geistigen Anlagen haben, noch irgendwelche wichtige Korrelationen zwischen den individuell verschiedenen Körperformen in jeder einzelnen Rasse und der Beanlagung des Individuums feststellen. Die ethnologische Beobachtung gab uns auch keine zuverlässigen Daten an die Hand. Das Wesentliche in den Geistesanlagen der verschiedenen Rassen scheint im Vergleiche zu der Größe der individuellen Unterschiede recht gleichartig. Obwohl wir Richtungsunterschiede in der Begabung als möglich annehmen dürfen, sind sie doch nicht mit Sicherheit festzustellen. So viel darf man aber mit Gewißheit sagen, daß die mittlere Begabung der weißen Rasse in gleichem Maße unter den Angehörigen fremder Rassen vorkommt, und daß keinerlei Grund vorliegt anzunehmen, daß die Volksmassen anderer Rassen nicht die gleiche Kulturstufe wie die europäischen Völker erreichen könnten.

V. Sprache, Rasse und Kultur. Ich habe schon gesagt, daß die Untersuchung von Stämmen verschiedener Rasse, aber gleicher Kulturstufe, keinerlei Aufschlüsse über Verschiedenheiten der Geistesanlagen der Rassen gibt. Es wäre nun noch denkbar, daß sich bei komplizierteren Vorgängen doch erhebliche Unterschiede herausstellen würden. Namentlich könnte man versuchen, aus dem Charakter der Kulturleistungen selbst auf die Art der Begabung Rückschlüsse zu machen. Daß wir hier nicht einfach Leistung und Anlage gleichsetzen dürfen, haben wir bereits gesehen. Es würde sich hier nur um die Möglichkeit des Nachweises handeln, daß die unabhängig geschaffenen Geistesprodukte der Völker je nach ihrer Rassenzugehörigkeit verschiedenartig und verschiedenwertig sind.

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Wir wenden uns daher dieser Frage zu und wollen besonders untersuchen, ob es einen festen Z u s a m m e n h a n g zwischen Rasse, Sprache und K u l t u r gibt. Häufig wird die A n n a h m e gemacht, d a ß die Sprache als eindeutiger Ausdruck der Geistestätigkeit einer Rasse aufzufassen ist; ja, wir finden sogar Völker so gruppiert, als ob sprachliche Verwandtschaft und Rassenverwandtschaft gleichbedeutend und vertauschbare Ausdrücke wären. Die „teutonische", „angelsächsische", „slawische" Rasse spielen noch immer ihre Rolle, nicht nur in der politischen Tagesliteratur, sondern auch in wissenschaftlichen W e r k e n ; und in dem Streit über die Heimat der Arier wird noch immer die Frage nach dem Ursprünge der blonden, nordwesteuropäischen Menschenart ohne weiteres mit der anderen zusammengeworfen, wo und von wem die arische Muttersprache gesprochen wurde. Trotz des Widerspruchs vieler Forscher ist diese Anschauung noch weit verbreitet. W ä r e es möglich zu beweisen, d a ß jede Sprache oder wenigstens jeder Sprachtypus e i n e r , und nur e i n e r Menschenrasse angehörte, und d a ß andererseits jede Menschenrasse n u r e i n e n oder doch nur wenige ähnliche Sprachtypen besitzt, sowie d a ß diese Sprachtypen verschiedenen Entwicklungsrichtungen angehören oder verschiedene Denktypen zum Ausdruck bringen, so würden wir imstande sein, das innerste Geisteswesen jeder Menschenrasse in der Form zu erkennen, in der es sich in der Sprache wiederspiegelt. K ö n n t e n wir außerdem noch beweisen, d a ß jede Menschenrasse K u l t u r t y p e n geschaffen hat, die anderen fremd sind, so würden unsere Schlußfolgerungen bedeutend an Überzeugungskraft gewinnen. W i r gelangen so zur Betrachtung der grundlegenden Frage, ob menschlicher Typus, Sprache und K u l t u r so innig verbunden sind, d a ß sie in s t e t e m Z u s a m m e n h a n g in derselben Menschenrasse vorkommen und in anderen Rassen im gleichen Zusammenhange nicht vorkommen. W e n n ein solcher Zusammenhang regelmäßig bestände, m ü ß t e n offenbar die Klassifikationen der Menschenrassen von allen drei Gesichtspunkten aus zu dem gleichen Resultate f ü h r e n ; mit anderen W o r t e n : jeder der drei Gesichtspunkte 7*

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könnte f ü r sich oder im Vereine mit den anderen b e n u t z t werden, um die Beziehungen zwischen den Menschenrassen zu untersuchen, und alle Methoden müßten die gleichen Beziehungen erweisen. Klassifikationsversuche, die biologische T y p e n , Sprache und Kulturerscheinungen berücksichtigen, sind o f t gemacht worden: manche Forscher stützen sich auf anatomische Beobachtungen im Zusammenhange mit geographischen Betrachtungen, andere auf Verbindungen von körperlichen und kulturellen Merkmalen, welche als charakteristisch f ü r bestimmte Menschheitsgruppen gehalten werden; noch andere auf die Verwandtschaftsbeziehungen von Sprachen und auf körperliche Merkmale. Diese Versuche haben zu wesentlich verschiedenen Schlußfolgerungen geführt ( T o p i n a r d ) . Blumenbach, einer der ersten Forscher, der eine Gruppierung der Menschenrassen v e r s u c h t e , unterschied fünf R a s s e n : die kaukasische, mongolische, äthiopische, amerikanische und malayische. Diese Gruppierung beruht offenbar ebensosehr auf geographischen wie auf anatomischen Prinzipien, denn die scharfe Scheidung einiger dieser Gruppen läßt sich bei einer durchaus anatomischen Behandlung nicht aufrecht erhalten. C u v i e r gruppiert die Menschenrassen in drei Gruppen, die weiße, gelbe und schwarze. Obwohl seine Klassifizierung offenbar auf anatomischen Prinzipien b e r u h t , erkennen wir doch in der Stellung, welche er der weißen Rasse gibt, während er andere stark abweichende Varietäten vernachlässigt, den Einfluß des Interesses an der kulturellen Wichtigkeit der Weißen, das noch durch ihre weite Verbreit u n g und Individuenzahl verstärkt ist. H u x l e y hebt den morphologischen Gesichtspunkt noch schärfer hervor. E r f a ß t einen Teil von B l u m e n b a c h s mongolischer und amerikanischer Rasse zusammen, stellt einen Teil der südasiaiischen Völker zu den Australiern und teilt die Europäer ihrer Farbe nach in eine helle und eine dunkle Gruppe. Offenbar hat auch ihn die große Zahl der Europäer bestimmt, in dieser Rasse den Unterabteilungen größeren klassifikatorischen Wert beizulegen. Es wäre leicht, in anderen Rassen Unterabteilungen von gleichem morphologischen W e r t zu machen. Der kulturelle Gesichtspunkt ist leitend in den Klassi-

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f i k a t i o n e n v o n K l e m m u n d G o b i n e a u , die auf den Kulturleistungen der verschiedenen anatomischen Typen b e r u h e n (siehe S. 89). D e r k o n s e q u e n t e s t e V e r s u c h , die M e n s c h e n r a s s e n n a c h einer V e r b i n d u n g v o n m o r p h o l o g i s c h e n u n d s p r a c h l i c h e n Ges i c h t s p u n k t e n zu klassifizieren, ist v o n F r i e d r i c h M ü l l e r g e m a c h t w o r d e n , d e r die H a a r f o r m als G r u n d l a g e f ü r die H a u p t k l a s s e n b e n u t z t , w ä h r e n d er alle feineren U n t e r a b t e i lungen n a c h s p r a c h i i c h e r V e r w a n d t s c h a f t b e s t i m m t . W e n n m a n v e r s u c h t , all die v e r s c h i e d e n e n v o r g e s c h l a genen K l a s s i f i k a t i o n e n z u s a m m e n z u f a s s e n , ergibt sich ein Z u s t a n d heilloser V e r w i r r u n g u n d u n ü b e r w i n d l i c h e r W i d e r s p r ü c h e , so d a ß wir zu d e r Ü b e r z e u g u n g g e d r ä n g t w e r d e n , daß vermutlich morphologischer Typus, Sprache und Kultur gar nicht unlösbar miteinander verbunden sind. U m hierü b e r K l a r h e i t zu g e w i n n e n , m ü s s e n wir d e r E n t w i c k l u n g dieser E r s c h e i n u n g e n bei m o d e r n e n V ö l k e r n n a c h s p ü r e n . In u n s e r e r Zeit lassen sich viele Fälle b e o b a c h t e n , in d e n e n sich ein v o l l s t ä n d i g e r W e c h s e l v o n S p r a c h e u n d K u l t u r o h n e e n t s p r e c h e n d e T y p e n ä n d e r u n g vollzieht. Ein Beispiel solchen Wechsels sind die a m e r i k a n i s c h e n Neger, die d e r A b s t a m m u n g n a c h wesentlich A f r i k a n e r geblieben, in S p r a c h e u n d K u l t u r a b e r E u r o p ä e r g e w o r d e n s i n d . Allerdings f i n d e n sich bei i h n e n einige wenige Ü b e r bleibsel a f r i k a n i s c h e r S i t t e n u n d B r ä u c h e , doch ist ihre K u l t u r d e r H a u p t s a c h e n a c h dieselbe wie die d e r u n g e b i l d e t e n W e i ß e n , u n t e r d e n e n sie l e b e n , u n d ihre S p r a c h e ist im G r u n d e g l e i c h a r t i g m i t d e r i h r e r w e i ß e n N a c h b a r n , •— englisch, f r a n z ö s i s c h , s p a n i s c h o d e r p o r t u giesisch, je n a c h d e r h e r r s c h e n d e n L a n d e s s p r a c h e , o b w o h l sich s t e t s lautliche u n d g r a m m a t i s c h e S o n d e r h e i t e n f i n d e n . Man k ö n n t e hiergegen e i n w e n d e n , d a ß die Ü b e r f ü h r u n g d e r a f r i k a n i s c h e n R a s s e n a c h A m e r i k a k ü n s t l i c h ist, u n d d a ß in f r ü h e r e r Zeit d e r a r t i g a u s g e d e h n t e W a n d e r u n g e n o d e r Ü b e r f ü h r u n g e n n i c h t s t a t t g e f u n d e n h a b e n . Die Ges c h i c h t e des m i t t e l a l t e r l i c h e n E u r o p a s zeigt indessen, dal; v i e l f a c h a n a l o g e Fälle v o r g e k o m m e n sind, d a ß o f t S p r a c h e u n d S i t t e sich g e ä n d e r t h a b e n , o h n e v o n e n t s p r e c h e n d e n W a n d l u n g e n d e r K ö r p e r f o r m begleitet zu sein.

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Neuere Untersuchungen über die Menschentypen Europas zeigen deutlich, d a ß die geographische Verteilung der verschiedenen Formen lange Zeiten hindurch die gleiche geblieben ist. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, darf man sagen, d a ß m a n einen nordwesteuropäischen, einen mitteleuropäischen und einen südeuropäischen T y p u s erkennen k a n n ( R i p l e y ) . Der mitteleuropäische T y p u s findet sich in ziemlich gleichförmiger Verbreitung in dem großen Gebiete der Bergländer Frankreichs, der Schweiz, Österreichs und weiter nach Südosten, ohne jede Rücksicht auf die Sprache, die in den verschiedenen Gebieten gesprochen wird, und ohne Rücksicht auf die Verbreitung verschiedener nationaler Kulturen. Der mitteleuropäische Franzose, Deutsche, Italiener und Slawe haben einen so gleichartigen Typus, d a ß wir trotz der Verschiedenartigkeit der Sprachen mit Sicherheit nahe B l u t s v e r w a n d t s c h a f t annehmen d ü r f e n . Angleichungen derselben Art finden wir auch bei Rassen, die tiefgehendere morphologische Unterschiede aufweisen, und bei denen trotz sprachlicher Gleichheit die Unterschiede im T y p u s fortbestehen. Als ein Beispiel erw ä h n e ich die W e d d a h in Ceylon, ein Volk, das einen kleinwüchsigen australoiden Typus besitzt, sprachlich aber von den Singhalesen assimiliert ist, die einem gänzlich verschiedenen T y p u s angehören. Trotzdem die W e d d a h ein J ä g e r v o l k sind, haben sie mit der Sprache viele Sitten und Bräuche von den Singhalesen ü b e r n o m m e n ( S a r a s i n , Seiigman). Andere Beispiele sind die negroiden Aeta von Luzon, die eine malayische Sprache sprechen, die J a p a n e r der nördlichen Inseln, die unzweifelhaft teilweise von Aino-Voreltern a b s t a m m e n ( B ä l z ) , und die J u k a g i r e n in Sibirien, welche sprachlich und kulturell von den ben a c h b a r t e n Tungusen assimiliert sind, aber sehr wenig f r e m d e s Blut aufgenommen haben. Etwas anders liegen die Verhältnisse bei den J u d e n , die gleichfalls meist linguistisch von den Völkern, u n t e r denen sie leben, assimiliert sind, aber dennoch ihre hereditären, morphologischen Merkmale bewahrt haben, obwohl die starken lokalen Differenzen zwischen den jüdischen Typen verschiedener L ä n d e r an der Rassenreinheit Zweifel

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a u f k o m m e n lassen ( F i s h b e r g ) . Immerhin ist auch in diesem Falle die Beimischung fremden Blutes während der Periode der sprachlichen Assimilation gering. Endlich möchte ich als Beweis der Permanenz lokaler T y p e n trotz der Verwischung sprachlicher und kultureller Unterschiede auf die verschiedenen Gebiete Europas hinweisen, in denen ein morphologischer T y p u s scharf von den T y p e n der Nachbargebiete abgesetzt ist, ohne d a ß sich entsprechende scharfe Kultur- oder Sprachgrenzen nachweisen ließen. Solche Gebiete haben wir schon f r ü h e r beschrieben (S. 43). In diesen Fällen sind wir ganz außers t a n d e , die isolierten Körperformen mit irgendeiner alten Sprache oder K u l t u r beweiskräftig in Beziehung zu setzen. Es ist also sicher, daß in vielen Fällen ein Volk ohne beträchtliche Änderung seines morphologischen Typus durch Mischung seine Sprache und K u l t u r ändern kann. Ebenso k a n n man aber zeigen, d a ß ein Volk seine Sprache beibehalten kann, obwohl wesentliche Änderungen des morphologischen Typus sowie der K u l t u r vor sich gehen. Als ein derartiges Beispiel dürfen wir die Magyaren erwähnen, welche ihre alte Sprache beibehalten haben, obwohl sie in ihren Wohnsitzen an der Donau sich s t a r k mit den Nachbarvölkern gemischt haben und ihnen ganz assimiliert sind. Die eigentümliche Verschiedenartigkeit der französischen und spanischen Basken weist gleichfalls darauf hin, d a ß t r o t z der einheitlichen Sprache die beiden Volksteile auf verschiedene Abstammungslinien zurückgeführt werden müssen, so d a ß bei einer der beiden Gruppen gleichfalls entweder eine Änderung des Typus u n t e r Beibehaltung der Sprache, oder eine Änderung der Sprache bei Beibehalt u n g des T y p u s s t a t t g e f u n d e n haben m u ß . Ein klareres Beispiel dieses Vorganges bieten die A t h a basken, eine der großen Sprachfamilien Amerikas. Das g r ö ß t e zusammenhängende Areal, in dem diese Sprachen gesprochen werden, liegt im Westen der H u d s o n b a i , und erstreckt sich über die Flußgebiete des Mackenzie und Y u k o n . Andere Dialekte werden von kleineren S t ä m m e n in Britisch-Kolumbien, Washington, Oregon und Kalifornien gesprochen, und eine dritte große Gruppe dieser

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Dialekte findet sich in Arizona und New Mexico ( H o d g e ) . Die sprachliche V e r w a n d t s c h a f t zwischen all diesen Gruppen ist recht eng, viel enger als beispielsweise die Verwandts c h a f t der indogermanischen Sprachen untereinander, und wir müssen annehmen, d a ß alle Dialekte sich aus einer Muttersprache entwickelt haben, die einstmals in einem zusammenhängenden Gebiete gesprochen wurde. Gegenwärtig sind die morphologischen Typen der Völker, welche diese Dialekte sprechen, ganz verschieden. Die Bewohner des Mackenziegebietes sind verschieden von den kalifornischen A t h a b a s k e n , und von beiden unterscheiden sich die S t ä m m e von New Mexico. Im Norden finden wir einen ziemlich hellfarbigen, breitgesichtigen T y p u s ; in Kalifornien dunklere Farben und feinere Gesichter; in New Mexico und Arizona noch dunklere Farben, größere S t a t u r und Gesichter, die denen anderer südwestlicher Wüstenbewohner ähneln. Die K u l t u r f o r m e n in diesen Gebieten sind gleichfalls verschieden: die K u l t u r der arktischen A t h a b a s k e n , außer in den Randgebieten, wo sie von N a c h b a r s t ä m m e n stark beeinflußt ist, erinnert in ihrer Einfachheit an die der nordwestlichen P l a t e a u s t ä m m e ; in Kalifornien ähnelt die K u l t u r der athabaskischen S t ä m m e der anderer Kalifornier, und auch in New Mexico und Arizona lassen sich bei ihnen die K u l t u r f o r m e n der benachbarten Völker d e u t lich erkennen ( G o d d a r d ) . Die wahrscheinlichste Erklärung dieser Verhältnisse wird durch die A n n a h m e geboten, d a ß Volksstämme, die athabaskische Sprachen redeten, Wanderzüge duch d a s ganze von ihnen jetzt besetzte Gebiet und die zwischenliegenden Landstriche u n t e r n a h m e n , sich mit den älteren Einwohnern mischten und so ihre Körperform veränderten, gleichzeitig aber ihre Sprache beibehielten. Ohne genauere historische Nachweise läßt sich dieser Vorgang allerdings nicht im einzelnen verfolgen. Die beiden hier besprochenen Erscheinungen — Erhaltung des morphologischen T y p u s bei Änderung der Sprache, und E r h a l t u n g der Sprache bei Änderung der Körperform —, anscheinend einander schroff gegenübers t e h e n d , sind t r o t z d e m eng verbunden und kommen o f t gleichzeitig und nebeneinander vor. Als ein derartiges Bei-

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spiel k ö n n e n wir die V e r b r e i t u n g d e r A r a b e r in N o r d a f r i k a a n f ü h r e n . Im g r o ß e n u n d g a n z e n h a b e n die A r a b e r ihre S p r a c h e b e i b e h a l t e n ; gleichzeitig sind a b e r H e i r a t e n zwischen A r a b e r n u n d E i n g e b o r e n e n h ä u f i g , so d a ß die N a c h k o m m e n d e r A r a b e r o f t ihre S p r a c h e b e i b e h a l t e n h a b e n , a b e r sich stark dem nordafrikanischen Lokaltypus nähern. Andererseits h a b e n die E i n g e b o r e n e n o f t i h r e S p r a c h e a u f g e g e b e n , o h n e sich s t a r k m i t A r a b e r n zu m i s c h e n u n d h a b e n d a h e r i h r e n T y p u s b e h a l t e n . W e n n ein d e r a r t i g e r W e c h s e l d u r c h M i s c h u n g v o r sich g e h t , m ü s s e n i m m e r beide Ä n d e r u n g s arten nebeneinander vorkommen. Diese w e r d e n wir als Ä n d e r u n g e n des R a s s e n t y p u s o d e r als S p r a c h ä n d e r u n g e n b e z e i c h n e n , je n a c h d e m u n s e r e A u f m e r k s a m k e i t sich auf d a s eine o d e r d a s a n d e r e Volk w e n d e t , o d e r a u c h je n a c h d e m d e r eine o d e r d e r a n d e r e W e c h s e l a u f f a l l e n d e r ist. Fälle v o l l s t ä n d i g e r s p r a c h l i c h e r A s s i m i l a t i o n o h n e irgendwelche M i s c h u n g zwischen den e i n a n d e r b e e i n f l u s s e n d e n Völkern s c h e i n e n s e h r selten zu sein. Vielleicht k o m m e n sie g a r nicht vor. Fälle, in d e n e n die K u l t u r eines Volkes f u n d a m e n t a l e m W e c h s e l u n t e r w o r f e n ist, o h n e d a ß die S p r a c h e u n d d e r m o r p h o l o g i s c h e T y p u s sich ä n d e r n , sind s e h r h ä u f i g . In d e r T a t ist die g a n z e E n t w i c k l u n g E u r o p a s , v o n vorges c h i c h t l i c h e r Zeit an, n u r v o n d i e s e m G e s i c h t s p u n k t a u s zu v e r s t e h e n , u n d d e r V o r g a n g s c h e i n t ü b e r a l l sich s e h r leicht zu vollziehen, weil k u l t u r e l l e A n g l e i c h u n g d u r c h N a c h a h m u n g v o r sich g e h t u n d n i c h t des innigen K o n t a k t e s b e d a r f , d e r f ü r s p r a c h l i c h e A n g l e i c h u n g n ö t i g ist, noch weniger d e r R a s s e n m i s c h u n g , welche T y p e n ä n d e r u n g bed i n g t . Beweise f ü r die a l l m ä h l i c h e V e r b r e i t u n g v o n K u l t u r e l e m e n t e n k ö n n e n überall g e f u n d e n w e r d e n , wo ein K u l t u r gebiet mehrere Sprachfamilien u m f a ß t . In N o r d a m e r i k a b i e t e t d a s K ü s t e n l a n d v o n K a l i f o r n i e n o d e r d a s v o n Britisch K o l u m b i e n ein g u t e s Beispiel, d e n n hier f i n d e n sich viele S p r a c h f a m i l i e n auf e n g e m R ä u m e , eine gewisse D i f f e r e n zierung der morphologischen Typen und trotzdem große G l e i c h f ö r m i g k e i t d e r K u l t u r f o r m e n in j e d e m d e r b e i d e n Gebiete ( K r o e b e r , B o a s ) . Ein a n d e r e s Beispiel f i n d e t sich im K ü s t e n g e b i e t e v o n N e u - G u i n e a , wo t r o t z aller

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lokalen Eigentümlichkeiten ein recht gleichförmiger Kulturt y p u s obwaltet, der sich über das ganze vielsprachige Gebiet erstreckt. Unter fortgeschrittneren Völkern dürfen wir das ganze Völkergewirr erwähnen, das unter den Einfluß der chinesischen K u l t u r gekommen ist. Diese Betrachtungen zeigen daher, d a ß wenigstens in unserer Zeit morphologischer Typus, Sprache und K u l t u r eines Volkes nicht notwendiger Weise die gleichen Schicksale h a b e n ; d a ß ein Volk seinen T y p u s und seine Sprache bewahren und doch seine K u l t u r ändern k a n n ; d a ß es seinen Rassentypus erhalten und seine Sprache aufgeben k a n n ; oder d a ß es seine Sprache beibehalten und Rassent y p u s und K u l t u r ändern kann. Es folgt daraus, d a ß die Versuche, die Menschheit nach der gegenwärtigen Verteilung von T y p e n , Sprachen und Kulturen zu klassifizieren zu widersprechenden Resultaten f ü h r e n , und d a ß die Resultate je nach dem eingenommenen S t a n d p u n k t e verschieden ausfallen müssen. Eine Klassifikation, die auf Rassentypen begründet ist, m u ß mit größerer oder geringerer Klarheit die B l u t s v e r w a n d t s c h a f t der Völker darstellen, und diese fällt nicht notwendig mit Sprache und K u l t u r v e r w a n d t s c h a f t e n zusammen. Ebenso brauchen sprachliche und kulturelle Gruppierungen nicht mit den Resultaten der biologischen Klassifikation übereinzustimmen. W e n n dieses wahr ist, gibt es ein „arisches P r o b l e m " in dem vorher angegebenen Sinne nicht, weil das Problem ein sprachliches ist u n d sich n u r auf die i n d o - e u r o päischen Sprachen bezieht. Die A n n a h m e , d a ß ein bestimmtes Volk, dessen Glieder alle b l u t v e r w a n d t waren, im ganzen Verlaufe der Weltgeschichte Träger dieser Sprache gewesen ist, und d a ß dieses Volk immer einen b e s t i m m t e n K u l t u r t y p u s besessen h a t , ist ganz willkürlich und s t e h t nicht im Einklänge mit den Beobachtungen über die verschiedenartigen Schicksale von Typus, Sprache und K u l t u r . Trotz alledem m u ß zugestanden werden, d a ß die bisherige Betrachtungsweise unser Problem nicht löst, denn obwohl wir beweisen können, d a ß gegenwärtig und in der jüngeren Vergangenheit Sprachen und K u l t u r e n übertragen sind und neue Volkstypen sich durch Mischung entwickelt

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haben, berührt dieses die Ursprungsfrage nicht. Theoretische Betrachtungen über die Entwicklung der Menschheit f ü h r e n uns notgedrungen zu der A n n a h m e , d a ß es eine Periode gegeben haben muß, in der die einzelnen geographischen Gruppen schärfer isoliert waren, als heutzutage der Fall ist. Besonders ist die Ausbildung lokaler morphologischer Typen nur bei ausreichender Isolierung zu verstehen (siehe S. 39). Deshalb müssen auch Sprache und Kultur, die sich bei e i n e m Menschentypus entwickelt haben, schärfer von denen getrennt gewesen sein, die sich bei anderen Menschentypen entwickelten. Ein solcher Zustand ist allerdings nie beobachtet worden, doch zwingt uns die beobachtete Entwicklung der Rassen f a s t zu der Annahme, d a ß in sehr frühen Zeiten in der Geschichte der Menschheit diese Bedingungen erfüllt waren. D a n n m ü ß t e n wir die Frage stellen, ob eine dieser alten, isolierten Gruppen notwendigerweise e i n e n und n u r e i n e n Typus, e i n e Sprache und e i n e K u l t u r hatte, oder ob in diesen Gruppen schon Verschiedenartigkeiten in bezug auf eine oder die andere dieser Erscheinungen vorkamen. Die historische Entwicklung der Menschheit würde uns einfach und klar erscheinen, wenn wir annehmen d ü r f t e n , d a ß in den frühesten örtlichen Gruppen die drei Erscheinungen eng verbunden gewesen wären. Dieses ist aber nicht zu erweisen. Im Gegenteil, der Vergleich zwischen der gegenwärtigen Verbreitung der Sprachen, so weit sich ihr genetischer Z u s a m m e n h a n g nachweisen l ä ß t , und der Verbreitung morphologischer Typen m a c h t es wahrscheinlich, d a ß selbst in sehr frühen Zeiten die biologischen Gruppen größer waren als die sprachlichen G r u p p e n , die wir jetzt als Sprachfamilien bezeichnen, und vermutlich auch größer als kulturelle Gruppen. Ich glaube, m a n darf den Satz aussprechen, d a ß überall in der Welt die biologischen Gruppen, abgesehen von örtlichen Varietäten, bedeutend umfassender sind als die sprachlichen. Mit anderen W o r t e n : Menschengruppen, die in ihrer Körpererscheinung einander so ähnlich sind, d a ß sie als Vertreter derselben Rasse angesehen werden müssen, umfassen eine größere Zahl von Individuen, als diejenigen,

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welche Sprachen reden, die wir als genetisch v e r w a n d t erkennen können. Derartige Beispiele können aus vielen Gebieten erbracht werden. Die europäische Rasse, w e n n wir u n t e r diesem Ausdrucke ganz allgemein die Individuen verstehen, die ohne Bedenken als „ W e i ß e " aufgefaßt werden, u m f a ß t Völker, die indoeuropäische, baskische und uralaltaische Sprachen reden. Die westafrikanischen Neger gehören einem bestimmten Negertypus an, sprechen aber sehr verschiedene Sprachen; die Nordsibirier h a b e n alle einen ähnlichen Typus, sprechen aber verschiedene S p r a c h e n ; und in Amerika wiederholen sich ähnliche Verhältnisse in Kalifornien und in Mexico. So weit unsere historischen Kenntnisse reichen, d e u t e n sie nicht darauf hin, d a ß in f r ü h e r e n Zeiten die Zahl der unterscheidbaren Sprachfamilien kleiner war als heute. Im Gegenteil sehen wir, d a ß die Anzahl der untergegangenen Sprachen beträchtlich ist, und d a ß vermutlich viele Sprachfamilien ausgestorben sind. Andererseits scheint es nicht, d a ß vor der Neuzeit und den ausgedehnten W a n d e r u n g e n der Europäer viele Menschentypen ausgestorben sind. Wir können daher nicht annehmen, d a ß in f r ü h e r e n Zeiten eine genauere Übereinstimmung zwischen der Anzahl der morphologischen Typen und der Sprachfamilien geherrscht h a t . So gelangen wir zu der Schlußfolgerung, d a ß in f r ü h e r Zeit jeder Menschentypus in einer Anzahl von Gruppen existiert h a t , von denen jede ihre eigene Sprache und K u l t u r entwickelt h a t t e . Hier möchte ich bemerken, d a ß von diesem Gesichtsp u n k t e aus die große Sprachverschiedenheit, die in m a n c h e n abgeschlossenen Gebirgsgegenden beobachtet worden ist, nicht als ein Resultat des langsamen Zurückdrängens von Volksstämmen in unzugängliche Gebiete aufgefaßt werden sollte, sondern vielmehr einen älteren, jetzt aber verschwundenen Zustand darstellt, in dem alle Kontinente von kleinen Völkergruppen bewohnt w u r d e n , die alle verschiedene Sprachen redeten. Die gegenwärtigen Verhältnisse würden sich d a n n durch das allmähliche Aussterben vieler der alten Sprachfamilien und ihr Aufgehen in anderen erklären lassen. In diesem Sinne w ü r d e Amerika, wo keine Sprachfamilie

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solches Übergewicht erlangt h a t wie das Indoeuropäische, Hamitische, Bantu, Türkische und Chinesische, einen älteren Zustand bewahrt haben, als die K o n t i n e n t e der Alten Welt. Jedenfalls ist es also unwahrscheinlich, d a ß ursprünglich eine enge Beziehung zwischen Typus, Sprache und K u l t u r bestand, und besonders, d a ß jeder Menschentypus n u r e i n e Sprache und e i n e K u l t u r entwickelt haben sollte. Die Annahme, daß Typus, Sprache und K u l t u r ursprünglich zusammengehören, würde die weitere A n n a h m e nötig machen, d a ß alle drei sich ungefähr gleichzeitig entwickelten, und d a ß ihre Entwicklung längere Zeit gleichen Schritt hielt. Dieses ist aber sehr unwahrscheinlich. Hauptrassen des Menschengeschlechts, wie etwa Mongolen und Neger, müssen sich lange vor der Bildung unserer Sprachfamilien entwickelt haben. Ich glaube sogar annehmen zu dürfen, d a ß die wichtigeren Unterabteilungen der Hauptrassen vor der Bildung der Sprachgruppen, die wir jetzt als verw a n d t erkennen können, s t a t t g e f u n d e n h a t . Gewiß aber war die morphologische und sprachliche Differenzierung in jener f r ü h e n Zeit durch dieselben Gesetze bestimmt, die jetzt noch wirksam sind, und alle Forschungen weisen darauf hin, d a ß große Änderungen sich in der Sprache viel rascher entwickeln können, als im K ö r p e r b a u . In dieser Beobachtung liegt der H a u p t g r u n d f ü r die Theorie einer unabhängigen Entwicklung von morphologischen Typen und Sprachfamilien. 1 Wenn schon die Sprache sich als unabhängig von dem Typus erweist, so muß dieses noch viel mehr der Fall bei 1 Diese Bemerkung soll nicht bedeuten, daß primitive Sprachen in stetem Flusse sind. Wir haben viele Beweise dafür, daß Sprachen Jahrhunderte hindurch stabil sind. So ist das heutige Mexikanische in seiner Phonetik und Grammatik mit dem Mexikanischen des 16. Jahrhunderts fast identisch; das Eskimoische scheint sich in den letzten 400 Jahren kaum geändert zu haben. Wenn aber aus irgendwelchen äußeren oder inneren Ursachen Änderungen eintreten, ändert sich mitunter die ganze Sprache dem Inhalt sowie der Form nach. Die Bildung des Englischen und Neupersischen sind bekannte Beispiele. Die Dialektbildung vieler primitiver Sprachen zeigt, daß ähnliche Erscheinungen bei ihnen eingetreten sind.

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der K u l t u r sein. Mit anderen Worten, wenn ein gewisser Menschentypus über ein weites Gebiet w a n d e r t e zu einer Zeit, als seine Sprache noch nicht die Form angenommen h a t t e , die wir in unseren Sprachfamilien erkennen können, u n d ehe seine K u l t u r eine F o r m a n n a h m , die noch erkennbare Spuren bei seinen modernen N a c h k o m m e n hinterlassen h a t , ist es unmöglich eine Beziehung zwischen T y p u s , Sprache und K u l t u r zu entdecken, selbst wenn es je eine solche gegeben h ä t t e . Es ist aber sehr wahrscheinlich, d a ß eine derartige Beziehung nie v o r h a n d e n war. Es ist sehr wohl möglich, d a ß ein gewisser Menschent y p u s sich über ein größeres Gebiet ausbreitete, als die Sprache sich in einem sehr weit zurückliegendem Zustande befand, und d a ß die Sprachen, welche sich bei seinen verschiedenen Ortsgruppen entwickelten, so verschieden geworden sind, d a ß wir ihre V e r w a n d t s c h a f t , oder vielmehr gemeinsame A b s t a m m u n g nicht m e h r erweisen können. Ebenso mögen neue K u l t u r r i c h t u n g e n eingeschlagen sein, die von dem alten T y p u s ganz u n a b h ä n g i g sind oder doch so s t a r k abweichen, d a ß genetische Beziehungen, wenn sie auch v o r h a n d e n gewesen sein sollten, nicht mehr nachzuweisen sind. Nehmen wir n u n diese Schlußfolgerungen als erwiesen an und vermeiden wir die hypothetische A n n a h m e einer engen Beziehung zwischen ursprünglichem morphologischen Typus, ursprünglicher Sprache und K u l t u r , so erkennen wir, d a ß jeder Versuch, die Menschheit nach Prinzipien zu klassifizieren, der mehr als einen dieser Gesichtspunkte berücksichtigt, zu Widersprüchen f ü h r e n m u ß . Ich darf noch h i n z u f ü g e n , d a ß der u n b e s t i m m t e Ausdruck „ K u l t u r " , wie ich ihn hier gebraucht habe, keine Einheit darstellt, die historisch durchaus die gleichen Schicksale g e h a b t h ä t t e . Dieselben Betrachtungen, die wir vorher in bezug auf die Sprache angestellt haben, lassen sich auf die verschiedensten K u l t u r ä u ß e r u n g e n anwenden. So haben wir keinen Grund anzunehmen, d a ß technische Erfindungen sich auf die gleiche Weise wie Gesellschaftsordnung oder Religion entwickeln oder mit ihnen irgendwie in engerem unlösbaren Z u s a m m e n h a n g stehen. Als Beispiele

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dieser Art dürfen wir Fälle a n f ü h r e n , in denen bei gleicher materieller K u l t u r wesentliche Unterschiede in den Anschauungen und Institutionen herrschen, wie beispielsweise bei den Küsten-Tschuktschen u n d Eskimos, bei den verschiedenen Gruppen der Prärie-Indianer oder auch bei den verschiedenen Zweigen der B a n t u . Am klarsten t r i t t dieser mangelnde Z u s a m m e n h a n g hervor, wenn m a n versucht, gewisse Kulturerscheinungen kartographisch festzulegen, wie z. B. A n k e r m a n n f ü r Afrika versucht h a t . Trotz einzelner Z u s a m m e n h ä n g e t r i t t d a n n immer deutlich die Verschiedenartigkeit der Verbreitung hervor. Ein spezifisches Beispiel dieser Art ist die Verbreitung der Töpferei in Amerika, welche an das geographische Gebiet des mittleren Amerika gebunden ist und nur im äußersten Nordwesten — nordwestlich einer von Kalifornien nach der Hudsonbai gezogenen Linie — nicht v o r k o m m t und im äußersten Süden Südamerikas zu fehlen scheint. Die Grenzlinie bindet sich weder an Sprachen, noch Typen, noch an andere Kulturerscheinungen: Gesellschaftsordnung, religiöse Ideen, Kunststil usw. sind keineswegs auf die gleichen Gebiete beschränkt. Wir dürfen sogar sagen, d a ß nicht einmal die Sprache als ein einheitliches Ganzes behandelt werden darf, und d a ß ihr lautlicher, grammatikalischer u n d lexikographischer Charakter keine unlösbare Einheit bilden, d a ß vielmehr eine Reihe verschiedener Sprachen durch Angleichung einen ähnlichen Charakter a n n e h m e n kann, und d a ß in genetischer Beziehung ihr phonetischer Charakter u n d W o r t b e s t a n d nicht fest mit ihrem grammatischen Bau zusammenhängen. W e n d e t man diese Betrachtungsweise speziell auf die arische Frage an, so m u ß m a n sagen, d a ß die Sprache sich nicht notwendigerweise bei einem der Volkstypen entwickelt h a t , die jetzt Träger dieser Sprachen s i n d ; d a ß keines dieser Völker als reiner und unvermischter Abkömmling eines Urvolkes das die arische Sprache redete, nachzuweisen ist; und daß, wenn eines von ihnen doch ein verhältnismäßig reiner Sproß des Urstammes sein sollte, d a n n doch anzunehmen ist, d a ß sich bei ihm andere Sprachen außer der arischen entwickelten.

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Die Lockerheit des Zusammenhanges zwischen Rasse, Sprache und Kultur, die wir nachgewiesen haben, macht es wenig wahrscheinlich, daß je irgendwelche durchgreifende Rassenunterschiede auf Grund von Kulturleistungen zu entdecken sind. Immerhin aber darf man noch fragen, ob die unabhängigen Kulturschöpfungen der Rassen in eine aufsteigende Reihe zu bringen sind, so daß die eine Rasse nur niedere Werte hervorgebracht hat, während anderen größere Schöpfungen gelungen sind. Ließe sich eine bestimmte entwicklungsgeschichtliche Ordnung der Kulturformen herstellen und ließe sich ferner beweisen, daß frühere Formen in unabhängiger Entwicklung sich immer wieder bei bestimmten Rassen finden, während spätere Formen anderen Rassen angehören, so ließe sich ja hieraus ein Schluß auf die Rassenbegabung ziehen. Nun lehrt aber schon eine flüchtige Beobachtung, daß bei den meisten Rassen die verschiedensten Kulturformen vorkommen. In Amerika können wir dem hochentwickelten Mexikaner und Peruaner die Feuerländer und die Stämme des kanadischen Nordens gegenüberstellen. In Asien finden wir nebeneinander Chinesen und Jukagiren, Javaner und Igoroten; in Afrika den hochentwickelten Neger des alten Sudan und die Jägerstämme des Urwaldes. Nur im australischen Gebiete will es nicht gelingen höher entwickelte Kulturformen zu finden, und unsere moderne Zivilisation findet als unabhängiges Produkt nichts ähnliches bei anderen Menschenrassen. Für die mittleren Kulturstufen ist keine rassenhafte Verteilung zu erkennen. Die Schwierigkeiten, welche die Rückständigkeit gewisser Gruppen einem richtigen Verständnisse bietet, sind schon früher berührt worden (S. 90). Besonders soll hier nochmals hervorgehoben werden, daß wir nie mit Sicherheit wissen, welche geistigen Merkmale der Kulturarmen ihre niedere Kultur verursacht haben; und welche durch die niedere Kultur bedingt sind, ob mithin irgendwelche ihrer geistigen Eigenschaften rassenhaft bestimmt sind, oder ob sie bei höherer Kulturentwicklung verschwinden würden. Material für eine objektive Behandlung dieser Frage ist schwer zu beschaffen, weil heutzutage keine großen Gruppen fremd-

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rassiger, k u l t u r a r m e r Völker in Verhältnisse gelangen, in denen sie wirklich dem E u r o p ä e r gleichstehen und sich derselben Entwicklungsinöglichkeiten erfreuen, die uns zur Verfügung stehen. Die K l u f t gegenüber unserer Gesellschaft bleibt immer offen, besonders wo sie mit Nordeuropäern zusammenleben, und sie ist um so klaffender, je größer der Unterschied in der äußeren Rassenerscheinung ist. Schon aus diesem Grunde darf man nicht dieselbe Art der Geistesentwicklung bei beiden erwarten. Die Betrachtungen, die uns im Anfange unserer Untersuchungen zu dem Schlüsse f ü h r t e n , d a ß die kulturarmen Völker der Neuzeit keine Gelegenheit bekommen ihre Anlagen zu entwickeln, verhindert u n s , ein sicheres Urteil über ihre rassenhaft ererbten Fähigkeiten zu bilden. Zur B e a n t w o r t u n g all dieser Fragen bedürfen wir einer klareren Einsicht in den Begriff der Kulturentwicklung, und wir wollen uns jetzt diesem Problem zuwenden.

VI. Der Charakter der Kulturarmen. Beim Eindringen in die sozial bedingten Merkmale der menschlichen Seele begegnen wir einer eigentümlichen Schwierigkeit, die sowohl der unbefangenen Untersuchung wie der erfolgreichen Darstellung der Ergebnisse im Wege steht. All unser Denken bewegt sich nämlich in den Formen der gesellschaftlichen Umwelt, in der wir selbst leben. Die geistigen Tätigkeiten des Menschen aber spielen sich in unendlich verschiedenen Formen ab. Um diese n u n klar zu erkennen, m u ß der Forscher sich vollständig aller der Anschauungen und der fast unkontrollierbaren gefühlsmäßigen Auffassungen entäußern, in denen er doch lebt und webt. E r m u ß sein Denken und Fühlen auf die Denk- und Fühlart des Volkes, das er untersucht, einstellen. J e vollständiger er sich von den Vorurteilen und gefühlsmäßigen ReakB o a s , Kultur und Rasse.

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rassiger, k u l t u r a r m e r Völker in Verhältnisse gelangen, in denen sie wirklich dem E u r o p ä e r gleichstehen und sich derselben Entwicklungsinöglichkeiten erfreuen, die uns zur Verfügung stehen. Die K l u f t gegenüber unserer Gesellschaft bleibt immer offen, besonders wo sie mit Nordeuropäern zusammenleben, und sie ist um so klaffender, je größer der Unterschied in der äußeren Rassenerscheinung ist. Schon aus diesem Grunde darf man nicht dieselbe Art der Geistesentwicklung bei beiden erwarten. Die Betrachtungen, die uns im Anfange unserer Untersuchungen zu dem Schlüsse f ü h r t e n , d a ß die kulturarmen Völker der Neuzeit keine Gelegenheit bekommen ihre Anlagen zu entwickeln, verhindert u n s , ein sicheres Urteil über ihre rassenhaft ererbten Fähigkeiten zu bilden. Zur B e a n t w o r t u n g all dieser Fragen bedürfen wir einer klareren Einsicht in den Begriff der Kulturentwicklung, und wir wollen uns jetzt diesem Problem zuwenden.

VI. Der Charakter der Kulturarmen. Beim Eindringen in die sozial bedingten Merkmale der menschlichen Seele begegnen wir einer eigentümlichen Schwierigkeit, die sowohl der unbefangenen Untersuchung wie der erfolgreichen Darstellung der Ergebnisse im Wege steht. All unser Denken bewegt sich nämlich in den Formen der gesellschaftlichen Umwelt, in der wir selbst leben. Die geistigen Tätigkeiten des Menschen aber spielen sich in unendlich verschiedenen Formen ab. Um diese n u n klar zu erkennen, m u ß der Forscher sich vollständig aller der Anschauungen und der fast unkontrollierbaren gefühlsmäßigen Auffassungen entäußern, in denen er doch lebt und webt. E r m u ß sein Denken und Fühlen auf die Denk- und Fühlart des Volkes, das er untersucht, einstellen. J e vollständiger er sich von den Vorurteilen und gefühlsmäßigen ReakB o a s , Kultur und Rasse.

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tionen, die in unserer K u l t u r begründet sind, befreit, um so sicherer k a n n er das Denken, Fühlen und Wollen des fremden Volkes deuten. E r m u ß Denkrichtungen verfolgen, die seinem Geist ungewohnt sind. E r m u ß sich in neue Gefühlsäußerungen versetzen und verstehen, wie u n t e r f r e m d e n Verhältnissen Gedanken und Gefühle Handlungen auslösen. Die Grundlage f ü r ein richtiges Verständnis k a n n n u r aus einer Vertiefung in die Gebräuche und Anschauungen der Völker und in d a s Verhalten des Einzelnen, wie es sich den Ansprüchen des täglichen Lebens und der Augenblicke gesteigerter Lebensintensität gegenüber gestaltet, verstanden werden. Es k ö n n t e den Anschein haben, als ob das Denken« Fühlen und Wollen des Kulturmenschen im Vergleiche zu dem des K u l t u r a r m e n bewiese, d a ß der menschliche Geist bei verschiedenen Menschengruppen ganz verschieden reagiert, wenn er denselben äußeren Verhältnissen ausgesetzt ist. Das Fehlen logischer Schlußfolgerungen, und genügender Kontrolle des Willens sind scheinbar zwei der hervorstechendsten Geisteseigentümlichkeiten der Kulturarmen. Bei der Bildung von Überzeugungen n i m m t blinder Glaube die Stelle logischen Beweises ein. Der Gefühlswert der Gedanken ist groß, und daher führen sie leicht zu Willenshandlungen. Der Wille selbst erscheint unausgeglichen, denn neben der Neigung, starken Gefühlen ohne weiteres Folge zu leisten, findet sich auch trotziger Widerstand bei kleinlichen Gelegenheiten. Unglücklicherweise sind die Beschreibungen der seelischen Zustände k u l t u r a r m e r Völker, so wie sie von den meisten Beobachtern gegeben werden, so oberflächlich, d a ß sie nicht f ü r eine psychologische Analyse gebraucht werden können. N u r wenige Reisende verstehen die Sprachen der von ihnen besuchten Völker; und wie kann man über einen ganzen S t a m m aburteilen, wenn man nur auf Angaben von Dolmetschern und zusammenhanglose Beobachtung von Handlungen, deren Beweggründe nicht deutlich zutage treten, angewiesen i s t ? Selbst wenn der Besucher die Sprache eines Volkes k e n n t , lauscht er zumeist mit wenig Verständnis den Erzählungen und Unterhaltungen

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der Eingeborenen. Der Missionar hat gewöhnlich seine feste, vorgefaßte Meinung gegen die religiösen Anschauungen und Gebräuche des Landes, und der Händler ist gleichgültig gegen Ideen und fremdartige Kunst. Beobachter, die e r n s t h a f t versuchen in die innerste Volksseele einzudringen, wie C a l l a w a y , G r e y , P e c h u e l - L o e s c h e , sind n u r allzu d ü n n gesäet. Daher beruhen die meisten Untersuchungen über das Seelenleben der Naturvölker auf den Angaben flüchtiger und oberflächlicher Zeugen. Kritik ist deshalb hier besonders am Platze. Lenken wir unser Augenmerk auf die Geisteseigenschaften, die kulturarmen Völkern gemein zu sein scheinen und untersuchen wir zunächst, ob es ü b e r h a u p t Geisteseigenschaften gibt, welche die kulturarmen Völker von zivilisierten unterscheiden. Es handelt sich, wie schon vorher a n g e d e u t e t , um die Geisteseigenschaften selbst, die d a s Denken, Fühlen und Wollen charakterisieren, um die Gesetze, die es bestimmen, nicht etwa bloß um die besonderen Formen, in denen sie zum Ausdruck kommen. Sollte es sich nun hierbei zeigen, d a ß die K u l t u r a r m e n ohne jeden Bezug auf ihre Rassenzugehörigkeit gemeinsame Merkmale gegenüber den Kulturvölkern haben, so müssen wir schließen, d a ß diese Eigenschaften von der K u l t u r a r m u t , nicht von der Rasse bestimmt sind. Sollte sich gar beweisen lassen, d a ß die Gesetze des Geisteslebens der K u l t u r a r m e n mit denen der Kulturvölker starke Übereinstimmungen aufweisen, so würden wir noch weiter folgern müssen, d a ß hier allgemein menschliche Erscheinungen vorliegen. Ich glaube nun es läßt sich zeigen, d a ß die Eigenheiten des geistigen Wesens der K u l t u r a r m e n s t a r k überschätzt sind, und d a ß die geistigen Eigenschaften der Menschheit sich bei allen Völkern viel gleichmäßiger verteilt finden, als man gewöhnlich a n n i m m t . Ich will versuchen, dieses an den Erscheinungen des Willenslebens, der Aufmerksamkeit und der Originalität des Denkens der kulturarmen Völker zu erläutern. Wenden wir uns zunächst der Frage z u , inwieweit die kulturarmen Impulse durch ihre Willenskraft hemmen 8«

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(Spencer, Schultze). Viele Reisende haben dazu beigetragen, den Eindruck zu verbreiten, d a ß die Kulturarmen aller Rassen nicht im Stande sind, ihre Gefühle im Zaume zu halten, d a ß sie leichter augenblicklichen Impulsen nachgeben als wir, die gleiche Beobachtung, die o f t u n t e r unsren eignen ungebildeten Volksklassen gemacht worden ist. Es will mir scheinen, als ob diese Ans c h a u u n g sich wesentlich darauf gründet, d a ß wir unsere Aufmerksamkeit nur auf Gelegenheiten richten, bei denen w i r Zügelung der Gefühle gemäß unseren gesellschaftlichen Formen erwarten, andere aber, bei denen die K u l t u r a r m e n sie verlangen, vernachlässigen. Die meisten Beweise f ü r diese oft b e h a u p t e t e Eigentümlichkeit gründen sich auf die anscheinende Unstetigkeit der Handlungen und Wankelmütigkeit der K u l t u r armen, und auf ihre von scheinbaren Kleinigkeiten erweckte Leidenschaftlichkeit. Nun wägen wir aber jene Eigenschaften der Naturvölker gewöhnlich an der Wichtigkeit, die w i r Handlungen und Zielen beimessen und beurteilen die Anlässe zu Leidenschaftsausbrüchen nach der Bedeutung, die w i r ihnen beilegen. Ein Beispiel wird dies erläutern. Ein Reisender wünscht so rasch wie möglich ein bestimmtes Ziel zu erreichen und stellt zu diesem Zweck Leute an, die zu einer bestimmten Zeit aufbrechen sollen. Ihm ist jeder Augenblick kostbar. W a s ist aber der W e r t der Zeit f ü r die K u l t u r a r m e n , die nicht den Zwang f ü h l e n , eine bestimmte A r b e i t , die f ü r sie keinen besonderen Zweck h a t , zu einer bestimmten Zeit zu vollenden? Die einzig zulässige Art und Weise die Unbeständigkeit der K u l t u r a r m e n und der Zivilisierten zu vergleichen, ist durch eine Gegenüberstellung ihres Betragens bei Angelegenheiten, die beiden gleich wichtig sind. Allgemeiner g e s a g t , wenn wir die Fähigkeit der K u l t u r a r m e n , ihre Willensimpulse zu zügeln, richtig würdigen wollen, müssen wir nicht gleiche, sondern dem Werte nach entsprechende Anlässe in Betracht ziehen. W e n n beispielsweise unsre gesellschaftlichen Formen den Ausdruck der Gefühle persönlichen Unbehagens und persönlicher Sorge verbietet,

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d ü r f e n wir nicht vergessen, d a ß in fremden Kulturformen vielleicht ähnliche Forderungen an den einzelnen nicht gestellt werden. Wir müssen vielmehr untersuchen, ob es nicht andere Gelegenheiten gibt, bei denen ähnliche Selbstbeherrschung von den K u l t u r a r m e n gefordert wird. Fälle dieser Art sind etwa die vielen Formen der T a b u , d. h. des Verbotes, gewisse Nahrungsmittel zu gebrauchen oder gewisse Arbeiten zu verrichten, deren Befolgung mitunter große Selbstbeherrschung verlangt. W e n n ein Eskimostamm fast am Verhungern ist und strenge, religiöse Vorschriften verbieten, die Seehunde, die sich auf d e m Eise s o n n e n , zu j a g e n , so erfordert die Befolgung der Sitte eine erstaunliche Selbstverleugnung und Beherrschung der stärksten Triebe. Andere derartige Beispiele sind die Ausdauer der K u l t u r a r m e n bei der Herstellung ihrer Geräte, W a f f e n und K u n s t a r b e i t e n ; ihr williges Hinnehmen von E n t b e h r u n g e n und Münsaien, die zur Erreichung ihrer selbstgesteckten Ziele erforderlich sind, — wie die Bereitwilligkeit, mit der der indianische Jüngling die schweren Fasten in der Einöde auf sich nimmt, um sich f ü r die Erscheinung des Schutzgeistes vorzubereiten; oder auch der o f t beschriebene Stoizismus, mit dem indianische Kriegsgefangene die Folterqualen, denen sie unterworfen werden, ertragen. Es wird auch b e h a u p t e t , der Mangel an Selbstbeherrschung bei den K u l t u r a r m e n äußere sich darin, d a ß sie gewohnheitsmäßig leicht bei dem geringsten Anlaß in heftige Leidenschaft ausbrechen. Mir scheint, d a ß auch hier der vermeintliche Unterschied verschwindet, wenn wir die Formen der Gesellschaft in Betracht ziehen, u n t e r denen K u l t u r a r m e und Kulturvölker leben. Die Leidenschaften, die bei Kulturvölkern oft durch politischen oder religiösen Fanatismus entfesselt werden, sowie die edlen Leidenschaften, die aus der modernen Opferwilligkeit f ü r die Armen und Unterdrückten hervorgehen, müssen den K u l t u r a r m e n ebenso unverständlich bleiben, wie uns die Anlässe ihrer Leidenschaftlichkeit, denn die Fragen, derentwillen wir in leidenschaftliche Aufregung geraten, sind f ü r sie gänzlich ohne Interesse. Ander-

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Der Charakter der Kulturarmen.

seits läßt sich auch nachweisen, d a ß die heftigsten Triebe in bestimmter Weise durch die gesellschaftliche Form, sowie durch Sitte und Recht im Z a u m gehalten werden. Beweis hierfür sind die zahllosen Beschränkungen, die dem geschlechtlichen Verkehr auferlegt sind. Die Verschiedenheit in der Leidenschaftlichkeit der Völker, läßt sich sehr wohl aus der Verschiedenheit der Motive erklären, die zu Ausbrüchen f ü h r e n . Kurz und gut, Beharrlichkeit und Selbstbeherrschung werden von dem K u l t u r a r m e n sowohl verlangt, wie von dem Kulturträger, aber bei verschiedenen Gelegenheiten. W e n n beide nicht so häufig verlangt werden, liegt die Ursache d a f ü r nicht in der ererbten Unfähigkeit sie auszuüben, sondern in dem Zustande der k u l t u r a r m e n Gesellschaft, die ihre Ausübung nicht überhäufig v e r l a n g t . S p e n c e r erwähnt als einen besonderen Fall des Mangels an Selbstbeherrschung die sprichwörtliche Sorglosigkeit der K u l t u r a r m e n . Ich glaube es würde richtiger sein, s t a t t von Sorglosigkeit von einem unverwüstlichen Optimismus zu reden. Das zugrundeliegende Gefühl bei allen Handlungen ist: „ W a r u m sollte ich nicht morgen so erfolgreich sein, wie h e u t e ? " Es will mir scheinen, d a ß dieses Gefühl nicht weniger s t a r k in unserer K u l t u r zur Geltung k o m m t , ja, Grundlage und Bedingung gedeihlicher Entwicklung ist. Ohne den Glauben an die Stabilität herrschender Verhältnisse könnte es keinen geschäftlichen Unternehmungsgeist geben. W a r u m zögern Arme und auch Bessergestellte, die von ihrer H ä n d e oder ihres Geistes Arbeit leben, nicht Familien zu gründen, ohne sie gegen Mißgeschick sicherstellen zu k ö n n e n ? Wir dürfen nicht vergessen, daß Hungersnot bei den K u l t u r a r m e n ein Ausnahmszustand ist, wie Finanzkrisen bei den K u l t u r v ö l k e r n ; und d a ß f ü r regelmäßig wiederkehrenden Nahrungsmangel immer geeignete Vorkehrungen getroffen werden. Unsere Gesellschaftsordnung ist, soweit der Erwerb des notdürftigsten Lebensunterhaltes in B e t r a c h t k o m m t , stabiler, so d a ß ausnahmsweise Notlagen ganzer Volksgruppen nicht so o f t vorkommen. Aber niemand wird behaupten wollen, d a ß die große Masse der Individuen bei Kulturvölkern immer darauf eingerichtet w ä r e , Notlagen zu begegnen. Wir

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Der Charakter der Kulturarmen.

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dürfen hier einen verschiedenen Grad der Sorglosigkeit anerkennen, der auf den verschiedenartigen Lebensbedingungen beruht, aber ein spezifischer Unterschied zwischen Kulturarmen und Kulturvölkern ist nicht zu erweisen. Verwandt mit dem Mangel an Selbstbeherrschung ist ein anderer Charakterzug, der oft den K u l t u r a r m e n aller Rassen zugeschrieben wird, — die Unfähigkeit die Aufmerksamkeit zu konzentrieren, sobald kompliziertere geistige Arbeiten verlangt werden. Ein Beispiel wird den Irrtum klar machen, der dieser weit vertretenen Ansicht zugrunde liegt. S p r o a t sagt bei seiner Beschreibung der Indianer der Westküste der Vancouverinsel: „ D e r Gebildete erhält den Eindruck, als ob der Geist des Eingeborenen in Schlaf versunken sei.. . . W e n n seine Aufmerksamkeit geweckt ist, zeigt er oft große Schnelligkeit im Arbeiten und Geist beim Argumentieren. Eine kurze Unterredung ermüdet ihn aber, besonders wenn ihm Fragen gestellt werden, deren Beantwortung angespanntes Denken oder genaue Erinnerung verlangen. Dann scheint der Geist des Wilden einfach aus Schwäche ins Schwanken zu geraten." Spencer, der die Stelle a n f ü h r t , f ü g t andere hinzu, die diesen Gesichtspunkt bestätigen sollen. Ich kenne die von S p r o a t erwähnten S t ä m m e aus eigener Anschauung. Die von dem Besucher gestellten Fragen scheinen dem Indianer natürlich höchst unwichtig, und es ist nicht zu verwundern, d a ß er bald einer Unterhaltung müde wird, in der er nichts findet, das ihn interessiert, und die zudem noch in f r e m d e r Sprache oder mit Hilfe eines Dolmetschers geführt wird. In Wirklichkeit kann das Interesse dieser Menschen leicht aufs Höchste gespannt werden, und o f t genug bin ich es gewesen, der zuerst ermüdete. Auch die H a n d h a b u n g ihres ungemein komplizierten Handelsoder Tauschsystems beweist alles andere eher als S t u m p f heit in Dingen, welche die Menschen nahe angehen. Ohne mnemonische Hülfsmittel planen sie die systematische Verteilung, oder vielmehr das Verleihen ihres Besitzes so, d a ß ihr eigener Wohlstand und ihre gesellschaftliche Stellung möglichst gewinnt. Diese Pläne erheischen große Umsicht und beständige Aufmerksamkeit.

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VI. Der Charakter der Kulturarmen.

Endlich will ich auf einen Zug im Geistesleben der K u l t u r a r m e n aller Rassen hinweisen, der oft als die Ursache angesehen wird, wegen derer gewisse Rassen keine höheren Kulturstufen erreichen können. Ich meine das oft b e h a u p t e t e Fehlen aller Originalität. Es wird behauptet, d a ß die Beharrlichkeit des Geisteslebens der K u l t u r a r m e n so s t a r k ist, d a ß das Individuum nie von den überlieferten Bräuchen und Anschauungen abweicht ( S p e n c e r ) . Obwohl etwas W a h r e s in dieser B e h a u p t u n g liegt, insofern als Bräuche bei K u l t u r a r m e n größere verbindliche K r a f t haben, als bei den am weitesten fortgeschrittenen K u l t u r völkern, darf man doch nicht behaupten, d a ß Originalität im Leben der kulturarmen Völker keine Rolle spielt. Ich erinnere, um dieses zu erhärten, an das häufige Auftreten von Propheten bei neubekehrten und bei heidnischen Stämm e n . Bei letzteren hört man oft von neuen Dogmen, die von solchen Propheten entwickelt und eingeführt sind. Diese lassen sich allerdings fast immer auf fremde Anregungen z u r ü c k f ü h r e n , sind aber doch von den Trägern gemäß ihrer Individualität ausgestaltet und den herrschenden Ideen a n g e p a ß t . Es ist wohl b e k a n n t , d a ß Anschauungen, mythologische Ideen und Erzählungen beständig wandern und dabei tiefgehende Veränderungen erleiden ( E h r e n r e i c h , B o a s ) . Die Veränderungen sind gewiß oft durch das unabhängige Denken einzelner Individuen zu Wege gebracht, ein Vorgang, der besonders an der zunehmenden Komp l e x i t ä t esoterischer Lehren, die einer kleinen Priestergruppe a n v e r t r a u t sind, verfolgt werden kann. Eines der schönsten Beispiele solcher origineller und unabhängiger Denkweise bietet die Geschichte des sogenannten Geistertanzes in Nordamerika ( M o o n e y ) . Die Lehren der Propheten, die diese Zeremonien verbreiteten, waren neu, obwohl sie auf den alten Ideen der Indianerstämme und den von Mission a r e n verbreiteten christlichen Lehren beruhten. Ähnliches geschieht gegenwärtig bei der Verbreitung des Peyotekultes, einer Reihe von Zeremonien, bei denen die berauschende W i r k u n g einer K a k t u s a r t , des Peyote, eine wichtige Rolle spielt, die aber sonst auf einer eigentümlichen Mischung christlicher und indianischer Ideen beruhen ( R a d i n ) . Die

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Der C h a r a k t e r der

Kulturarmen.

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Anschauungen über das Leben nach dem Tode sind bei einem S t a m m e der Vancouverinsel auf ähnliche Weise vollständig v e r ä n d e r t worden, indem nämlich in Folge einer vermeintlichen Offenbarung der Glaube an eine Rückkehr der Toten als K i n d e r ihrer Verwandten entstanden ist. Ähnliches gilt von den Künstlern der K u l t u r a r m e n . Allerdings erhebt sich keiner u n t e r ihnen zur vollen Freiheit. E r bleibt unter der Herrschaft des Kunststiles, in dessen Banne er aufgewachsen ist. Hier aber beweist er seine S c h a f f e n s k r a f t . Die stilgerechten Kunstwerke aller Zonen zeigen dies zur Genüge: die schönen Gewebe der Malaien, die N i e u w e n h u i s veröffentlicht hat, die afrikanischen Kunstwerke, die T o r d a y und F r o b e n i u s uns kennen lehren, die Gußwerke und Schnitzereien aus Benin, die schönen Holzarbeiten der Neuseeländer, die Malereien und Stickereien der S t ä m m e vom Amur, die Schnitzereien der Alaska-Indianer, die Töpferei der Brasilianer: alle beweisen die Freiheit des Künstlers im Bereiche seines Kunststils, denn nirgends findet sich bei Meisterwerken eine sklavische N a c h a h m u n g überlieferter Muster, sondern immer freiestes Schalten mit den gegebenen Kunstmitteln. Ganz ähnliches gilt in Dichtkunst und Musik, die nicht, wie so oft v e r m u t e t wird, durchweg aus langsamen Modifikationen alter Themen erwachsen und deshalb als P r o d u k t e der „Volksseele" anzusehen sind, sondern vielfach die spontanen Leistungen von Dichtern sind. Wo auch immer Gesänge sorgfältig gesammelt sind, finden sich viele, deren Autor bei dem Volke wohl b e k a n n t ist. Es darf uns nicht wundernehmen, d a ß auch hier rhythmische Form und Melodieführung der herrschenden K u n s t r i c h t u n g folgt; in ihr schaltet aber das Individuum frei. Es will mir scheinen, d a ß die geistige Arbeit von Individuen, die auf diese Weise die Anschauungen ihres S t a m m e s entwickeln, ganz analog der des modernen philosophischen oder religiösen Denkers ist. Die Geschichte der Philosophie und Kunst zeigt, wie sogar das größte Genie von d e m Zeitgeiste beeinflußt wird. R u d o l f L e h m a n n h a t dieses klar ausgesprochen, wenn er s a g t : „ E i n e Philosophie wird, ähnlich wie jede andere literarische

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Der Charakter der Kulturarmen.

Schöpfung, in ihrer Eigenart zunächst durch die Persönlichkeit ihres Schöpfers b e s t i m m t : jede wahre Philosophie ist erlebt, so gut wie jede wahre Dichtung. Sie wird zweitens die allgemeinen Züge ihres Zeitalters tragen u n d je gehaltvoller sie ist, desto voller und kräftiger werden die Strömungen, welche das geistige Leben der Zeitgenossen bewegen, in ihr pulsieren. Sie wird drittens durch den besonderen Gang des philosophischen Denkens b e s t i m m t : sie t r i t t in diesen Gang hinein, sie setzt ihn vorwärts oder zur Seite biegend f o r t , zuweilen f ü h r t sie ihn nach der entgegengesetzten Richtung z u r ü c k ; sie wird eben hierdurch ein Glied der Reihe, welche die Geschichte der Philosophie bildet, und sie wird in jedem Falle, sei es positiv sei es gegensätzlich durch den bisherigen Lauf der Geschichte b e s t i m m t . " Ist dieses schon bei den Großen aller Zeiten der Fall, w a r u m sollen wir uns denn w u n d e r n , wenn die Denker und Künstler der K u l t u r a r m e n s t a r k u n t e r dem Banne der Anschauungen ihrer Zeit stehen. Unabsichtliche und absichtliche N a c h a h m u n g sind Faktoren, die die K u l t u r m e n s c h h e i t nicht weniger beeinflussen, als die Kult u r a r m e n . Dieses h a t T a r d e auf das treffendste bewiesen, der zeigt, d a ß auf allen K u l t u r s t u f e n der Mensch nicht n u r nützliche Handlungen n a c h a h m t u n d solche, f ü r die eine logische Begründung gegeben werden k a n n , sondern auch andere, f ü r deren E i n f ü h r u n g und E r h a l t u n g keinerlei logische Gründe aufzufinden sind. In Wirklichkeit handelt es sich hier wohl u m zwei Eindrücke, aus welchen der falsche Eindruck entspringt. Die Individuen u n t e r den K u l t u r a r m e n scheinen untereinander gleichartig und die Kulturen selbst stabil im Vergleich zu unserer rasch hinströmenden Zivilisation. Zum Teil b e r u h t diese Gleichartigkeit auf der Notwendigkeit, die alle Individuen in gleiche Tätigkeitsbahnen zwingt. Hierüber werden wir später noch ausführlicher zu reden haben. Sobald aber der Zwang zu gleichartiger Beschäftigung a u f h ö r t , endet auch die Gleichartigkeit. Sie ist somit nichts als eine soziale Erscheinung. In Wirklichkeit ist es auch leicht zu beobachten, d a ß die Individualität nicht

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Der Charakter der K u l t u r a r m e n .

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minder bei den allereinfachsten Völkern ausgebildet ist, als bei uns. Sobald man durch die Decke der gesellschaftlichen F o r m , die überall die Individualität verbirgt, hindurchdringt, zeigt sich überall eine gleichartige Variabilität in den Geistes- und Charakteranlagen der Individuen. Ein jeder, der lange genug mit K u l t u r a r m e n verkehrt h a t und willig ist, auf ihr Denken und Fühlen einzugehen, m a c h t diese Beobachtung. Da gibt es intelligente und d u m m e , energische und charakterschwache, phlegmatische und leichtlebige, mutige und feige — gerade wie bei uns. In der T a t ist dieses ja auch gemäß der biologischen Grundlage der Geistesanlagen zu erwarten, da sie zu den sich langsam und lange entwickelnden Merkmalen gehören, welche immer die s t ä r k s t e individuelle Variabilität besitzen. Größere Einförmigkeit ist demnach n u r in den Fällen zu erwarten, in denen durch starke Inzucht eine allgemeine Herabsetzung der Variabilität s t a t t f i n d e t . Die Stabilität der K u l t u r rückständiger Völker ist allerdings größer als die der ganz modernen Zivilisation, die planmäßig auf die Weiterentwicklung der meisten Kulturgüter bedacht ist. Doch brauchen wir uns nur dem zäh an der Sitte festhaltenden B a u e r n t u m e zuzuwenden, um ganz analoge Verhältnisse zu finden. Das B a u e r n t u m scheint u n s auch stabil, und dennoch, welcher Fluß in den Sitten und Anschauungen im Laufe der J a h r h u n d e r t e ! Die altväterlichen Trachten, die gesellschaftlichen Sitten sind wohl altväterlich, aber nicht im wahren Sinne alt. So liegen auch die Verhältnisse bei den K u l t u r a r m e n . Wir werden noch später sehen, wieviel fremdes Lehngut in jeder K u l t u r , auch der der einfachsten S t ä m m e steckt, ein sicherer Beweis dafür, d a ß auch hier alles im Entstehen u n d Vergehen ist, d a ß schaffende Kräfte, Menschenwerk, von außen und von innen h e r a u s , an den Kulturen beständig modeln und schaffen. Ich glaube, unsere bisherigen Betrachtungen beweisen, d a ß die Unterschiede zwischen Kulturvölkern und kulturarmen Völkern in vielen Beziehungen mehr scheinbare als wirkliche s i n d ; d a ß die auf der eigentümlichen Entwicklung des Gesellschaftszustandes beruhenden Handlungen

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VII.

Die allgemeine Gleichartigkeit der

Kulturmerkmale.

leicht den Eindruck h e r v o r r u f e n , als ob die geistigen Eigenschaften der Völker verschieden seien, während der wahre Unterschied eben in dem Gesellschaftszustande begründet ist.

VII. Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmale. Wir haben gesehen, d a ß die Gesetze des Denkens, Fühlens und Wollens des Menschen sich überall als wesentlich gleichartig erweisen. Nun läßt sich aber ferner zeigen, d a ß die Kulturelemente bei allen kulturarmen Völkern, ganz gleich welcher Rasse sie angehören, auffallende Ähnlichkeiten aufweisen. Diese sind so b e d e u t s a m , d a ß B a s t i a n unter ihrem Eindrucke von der erschreckenden Gleichförmigkeit der Elementargedanken bei allen Völkern der Erde sprechen konnte. Ähnliche Betrachtungen haben zu dem Schlüsse g e f ü h r t , d a ß die Zahl der vorhandenen G r u n d t y p e n der Gesellschaftsordnung, der Gesetze, Erfindungen, sowie der metaphysischen Anschauungen n u r gering ist, und d a ß diese T y p e n sich immer wiederholen. Aus diesem Grunde vergleicht B a s t i a n ohne Zögern die Weltanschauung der Philosophen mit der k u l t u r a r m e r Völker. Aber mehr noch! Verwickelte und anscheinend ganz sinnlose Ideen, sowie merkwürdige, komplizierte Gebräuche kommen zugleich bei ganz verstreuten, einzelnen S t ä m m e n verschiedener Rassen vor, deren Wohngebiete weit g e t r e n n t liegen. W e n n man die Kulturerscheinungen eines bes t i m m t e n S t a m m e s analysiert, k a n n m a n immer ähnliche, oder gar anscheinend gleiche Eirizelzüge bei vielen ganz entlegenen Völkern wiederfinden. Beispiele solcher Analogien sind in Hülle und Fülle gesammelt worden und bilden die Grundlagen der Untersuchungen, auf welchen B a s t i a n , Andree, Post, Westermarck, Tylor, Spencer, Frazer und viele andere die moderne wissenschaftliche Ethnologie aufzubauen versucht haben. Aus diesem Grunde d ü r f t e n

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VII.

Die allgemeine Gleichartigkeit der

Kulturmerkmale.

leicht den Eindruck h e r v o r r u f e n , als ob die geistigen Eigenschaften der Völker verschieden seien, während der wahre Unterschied eben in dem Gesellschaftszustande begründet ist.

VII. Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmale. Wir haben gesehen, d a ß die Gesetze des Denkens, Fühlens und Wollens des Menschen sich überall als wesentlich gleichartig erweisen. Nun läßt sich aber ferner zeigen, d a ß die Kulturelemente bei allen kulturarmen Völkern, ganz gleich welcher Rasse sie angehören, auffallende Ähnlichkeiten aufweisen. Diese sind so b e d e u t s a m , d a ß B a s t i a n unter ihrem Eindrucke von der erschreckenden Gleichförmigkeit der Elementargedanken bei allen Völkern der Erde sprechen konnte. Ähnliche Betrachtungen haben zu dem Schlüsse g e f ü h r t , d a ß die Zahl der vorhandenen G r u n d t y p e n der Gesellschaftsordnung, der Gesetze, Erfindungen, sowie der metaphysischen Anschauungen n u r gering ist, und d a ß diese T y p e n sich immer wiederholen. Aus diesem Grunde vergleicht B a s t i a n ohne Zögern die Weltanschauung der Philosophen mit der k u l t u r a r m e r Völker. Aber mehr noch! Verwickelte und anscheinend ganz sinnlose Ideen, sowie merkwürdige, komplizierte Gebräuche kommen zugleich bei ganz verstreuten, einzelnen S t ä m m e n verschiedener Rassen vor, deren Wohngebiete weit g e t r e n n t liegen. W e n n man die Kulturerscheinungen eines bes t i m m t e n S t a m m e s analysiert, k a n n m a n immer ähnliche, oder gar anscheinend gleiche Eirizelzüge bei vielen ganz entlegenen Völkern wiederfinden. Beispiele solcher Analogien sind in Hülle und Fülle gesammelt worden und bilden die Grundlagen der Untersuchungen, auf welchen B a s t i a n , Andree, Post, Westermarck, Tylor, Spencer, Frazer und viele andere die moderne wissenschaftliche Ethnologie aufzubauen versucht haben. Aus diesem Grunde d ü r f t e n

VII. Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmale.

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wir hier d a v o n absehen, die Tatsache eingehend zu erl ä u t e r n und wenige Beweise mögen genügen, um die Erscheinung schärfer zu beschreiben. Von allgemeineren, f a s t universellen, Ideen erwähne ich den Glauben an ein Seelenland, das Heim der Dahingeschiedenen, das im Westen gelegen ist und das m a n nach Überschreiten eines gefährlichen Flusses erreicht, — ein Glaube, der uns allen aus der griechischen Mythologie v e r t r a u t ist, der aber auch bei den Polynesiern und amerikanischen Indianern weit verbreitet ist. Ein anderes ähnliches Beispiel bietet der Glaube an eine Vielheit der Welten, — eine oder mehrere über uns ausgespannt, andere u n t e r uns, die mittlere der Wohnort der Menschheit; die oberen oder unteren die Gefilde der Seligen, die entgegengesetzten die M a r t e r s t ä t t e der duldenden Seelen, — ein Gedanke, der uns durch den Glauben an Himmel und Hölle ganz v e r t r a u t ist, der aber auch in voller E n t wicklung in Indien, Sibirien und Amerika v o r k o m m t . Ein anderes Beispiel ist der Glaube an die Fähigkeit des Menschen, Schutzgeister zu erwerben. Andere Gebiete des Geisteslebens bieten nicht weniger einleuchtende Beispiele: die universelle Kenntnis der Kunst, Feuer durch Reibung zu erzeugen, die Kenntnis der Zubereitung von Nahrungsmitteln durch Kochen, Bekanntschaft mit d e m Bohrer belegen d a s Vorkommen gewisser Erfindungen bei allen Gliedern der Menschheit. Noch andere Belege derartiger allgemein verbreiteter Erscheinungen lassen sich aus dem Gebiete der Sprache erbringen. Besonders sind gewisse Grundprinzipien des grammatischen Baus bei allen oder fast allen Sprachen verbreitet. Hierher gehört der Gebrauch verschiedener Formen, um die drei Personen des Fürworts auszudrücken, — den Sprecher, den Angeredeten, u n d den Besprochenen, — sowie die Unterscheidung von Einheit u n d Mehrheit. Ich will auch einige wenige Beispiele f ü r d a s Vorkommen merkwürdiger Analogien in weit getrennten, isolierten Bezirken a n f ü h r e n . Hierher gehört die Voraussage zukünftiger Ereignisse aus den Brüchen in verbrannten Knochen ( A n d r e e ) , das Auftreten der Phaetonsage in Griechenland und Nordwestamerika ( B o a s ) , das Blutlassen an Tieren

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Die atigemeine Gleichartigkeit der

Kulturmerkmale.

u n t e r Anwendung kleiner Bogen und Pfeile ( H e g e r ) , die Entwicklung der Astrologie in der alten und neuen Welt, die Ähnlichkeit von Korbflechtereien in F o r m u n d Muster in Afrika und Amerika ( D i x o n ) , die E r f i n d u n g des Blasrohrs in Amerika und dem malaiischen Gebiete. Diese Beispiele erläutern das Vorkommen ähnlicher Ideen bei allen Völkern ohne jede Beziehung auf ihre Rassenzugehörigkeit. Die gleichartigen Erscheinungen bei verschiedenen Völkern treten nun, wie schon angedeutet, in drei verschiedenen Formen a u f : sie erscheinen isoliert an den verschiedensten Stellen der Erdoberfläche, sie sind Gemeingut aller Völker, oder sie gehören großen Teilen der Erdoberfläche gemeinsam an. Die Ursachen des Vorkommens gleicher Erscheinungen brauchen nicht überall dieselben zu sein. Besonders ist es wahrscheinlich, d a ß die verschiedenen Verbreitungsformen auch auf verschiedene Weise zustande kommen. Wir wollen uns nun den verschiedenen Versuchen zuwenden, die gemacht sind, u m die Gleichartigkeit menschlicher Kulturformen oder doch ihrer Elemente zu erklären. Einige Forscher, wie R a t z e l und seine Nachfolger, und in früherer Zeit K a r l R i t t e r und G u y o t , haben besonders den Einfluß der Landesnatur auf das Volksleben betont und in ihren Arbeiten besondere Aufmerksamkeit ethnischen Ähnlichkeiten zugewandt, die bei Gleichartigkeit der Bodenform, des Klimas, der F a u n a und Flora auftreten. Andere glauben, d a ß viele Sitten und Bräuche, Erfindungen und Anschauungen, die eine weitere zusammenhängende Verbreitung haben, sowie andere, die isoliert hier und da vorkommen, uraltes Erbgut sind, übermittelt seit der Zeit, als die Menschheit noch auf einen kleinen Teil der Erdoberfläche beschränkt war. Noch andere haben den Versuch g e m a c h t , die am allgemeinsten gültigen Formen ähnlicher Erscheinungen des Volkolebens zu analysieren. B a s t i a n , wohl der H a u p t vertreter dieser Richtung, h a t diese allgemeingültigen Formen Elementargedanken genannt und versucht zu be-

VII.

Die a l l g e m e i n e

Gleichartigkeit

der K u l t u r m e r k m a l e .

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weisen, d a ß sie unerklärbar sind, weil sie die Grundlage auch unseres Denkens bilden und deshalb axiomatisch sein müssen. Die Psychologen haben versucht, die Ähnlichkeiten durch eine Analyse der geistigen Vorgänge zu erklären, während die Soziologen auf verschiedene Weise die Gesetzmäßigkeiten im Volksleben aufzuklären suchen. Wir wollen nun diese Theorien etwas genauer betrachten. Es ist nicht schwer, den gewichtigen Einfluß der Landesn a t u r auf die Lebensweise der Völker zu verfolgen. Die Verschiedenheit der Wohnungen der Völker verschiedener Gebiete mögen die Art dieses Einflusses erläutern. Das Schneehaus der Eskimos, das Rindenzelt der östlichen Indianer, die Höhlenwohnung der Wüstenindianer sind Beispiele verschiedener Methoden, mit verfügbaren Materialien Schutz gegen die Unbilden der W i t t e r u n g zu suchen. Auch in Einzelheiten von Erfindungen lassen sich Umweltseinflüsse nachweisen; so bei dem zusammengesetzten Bogen der Eskimos, dessen Notwendigkeit auf dem Fehlen langen elastischen Materials f ü r Bogenholz b e r u h t ; sowie bei den Hilfsmitteln, die oft benutzt werden, um die Elastizität des Bogens zu erhöhen, wo kein gutes Material zur Verfügung steht, und die oft auf dem Zusammenfügen von starrem und biegsamem Material, das sich strecken läßt, beruhen. Ebenso dürfen wir den Gebrauch von Fellsäcken und Körben erwähnen, die bei Stämmen ohne feste Ansiedlungen oft als Ersatz f ü r Töpfe dienen müssen. Erwähnenswert ist auch die Abhängigkeit der Lage von Ansiedlungen von der Verteilung der Nahrungsquellen, sowie des Verkehrs von gangbaren Pfaden und der Möglichkeit Wasserwege zu benutzen. Geographische Einflüsse machen sich ebenfalls in den Grenzen der Wohngebiete von S t ä m m e n und Völkern, sowie in der Verteilung und Dichtigkeit der Bevölkerung geltend. Sogar in den verwickelten Erscheinungen des Geisteslebens k a n n man unmittelbare Umweltseinflüsse ausfindig machen, wie in N a t u r m y t h e n , die zur Erklärung vulkanischer Erscheinungen und merkwürdiger Landformen dienen, oder in Sitten und Glauben, die auf die örtlichen Eigentümlichkeiten der Jahreszeiten Bezug haben.

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Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmale.

Es ist aber nicht zu verkennen, daß der geographische Einfluß stets nur eine umgestaltende, nie eine unmittelbar schaffende Wirkung hat. Dieser Einfluß liegt am deutlichsten vor, wo die Landesnatur die Ausgestaltung der Kultur beschränkt. Ein Volk, das isoliert in einer bestimmten Umwelt lebt, ist naturgemäß auf die dort vorhandenen Hilfsquellen beschränkt. Der Eskimo kann sich keine nennenswerte vegetabilische Nahrung verschaffen; der auf Koralleninseln wohnende Polynesier hat keine Steine zur Verfügung, und es fehlen ihm Felle großer Säugetiere; dem Wüstenbewohner stehen im allgemeinen keine fischreichen und fahrbaren Ströme zur Verfügung. Diese selbstverständliche Beschränkung ist oft wichtig genug. Anders aber liegt die Frage, ob die Verhältnisse den Menschen zu neuen Erfindungen zwingen. Wir erwähnten vorher als Beispiel den sehnenbespannten Bogen des Eskimos, der ein Notbehelf ist, wo genügend langes, elastisches Material nicht vorkommt. Wir können uns vielleicht vorstellen, wie bei einem Bogen gebrauchenden Volke der Mangel an geeignetem Material zur Ausnutzung der bekannten Elastizität der Sehnen führen kann; aber es ist nicht einzusehen, wie die Umwelt bei einem Volke, das den Bogen nicht kennt, zur Erfindung des sehnenverstärkten Bogens drängen könnte. Wir können verstehen, wie ein fruchtbares Land den Ackerbauer bei rascher Zunahme der Bevölkerung zur Entwickelung der Ackerbautechnik führen mag, aber nicht, wie es ein Volk, das den Ackerbau nicht kennt, zu Ackerbauern macht. Wie groß auch der Erzreichtum eines Landes sein mag, er schafft nicht die Technik, die zur Benutzung der Erze notwendig ist; wie groß auch der Reichtum eines Landes an zähmbaren Tieren sein mag, er führt nicht zur Entwicklung der Viehzucht, wenn dem Volke der Gebrauch des Haustieres ganz unbekannt ist. Wenn man den geographischen Gesichtspunkt in voller Schärfe aufrecht erhalten will und behauptet, daß die Landesnatur die Kultur eines Volkes vollständig bestimmt, so ist man gezwungen, das Wesen des Menschen als ganz nebensächlich zu erklären, und die Folgerung ist unab-

VII. Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmale.

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weisbar, d a ß immer und überall die gleiche Landesnatur schließlich auch gleichgeartete Völker hervorbringen muß. Wir wissen natürlich nicht, was s c h l i e ß l i c h geschehen mag. F ü r gegenwärtige Verhältnisse ist der Schluß sicher unrichtig. Handgreiflich läßt sich das bei einer Betrachtung der Körperform vor Augen führen. Kein Umweltseinfluß wird körperlich aus einem Neger einen Weißen, aus einem Chinesen einen Australier machen. Soll daher diese Betrachtungsweise ü b e r h a u p t einen Sinn haben, so müssen wir entweder einen hypothetischen undifferenzierten Menschen voraussetzen und uns durch Umweltseinflüsse die jetzigen Formen als die einzig der Landesnatur nach möglichen entwickelt denken, oder annehmen, d a ß trotz aller W a n d e r u n g e n die der Landesnatur gemäßen Typen durch Auslese immer wieder die Oberhand gewinnen. Die gegenwärtige Verteilung der Rassen läßt sich nicht daraus erklären, d a ß sie sich so entwickelt haben, und kann auch nicht erschöpfend aus anderen rein geographischen Verhältnissen abgeleitet werden. Es bedarf ebenso wenig eines ausführlichen Beweises, d a ß die gegenwärtige Verteilung der K u l t u r e n nicht aus der Landesnatur allein zu erklären ist, denn die geographischen Verhältnisse eines Landes haben durchaus nicht immer seine Bewohner zu allen Zeiten in die gleiche Form gezwungen. Wir brauchen dieses nicht einmal an so handgreiflichen Beispielen, wie dem des australischen Weißen und des Eingeborenen, des Kapholländers und des Buschmanns, des europäischen Amerikaners und des Indianers zu erhärten, oder an dem der Völker, die der Reihe nach Europa bewohnt haben und sich aus dem Steinzeitalter zur modernen K u l t u r erhoben haben, da in allen diesen Fällen der geschichtliche Hintergrund mit voller Deutlichkeit zutage liegt. Es mag aber vielleicht nicht überflüssig sein, darauf hinzuweisen, d a ß bei k u l t u r a r m e n Völkern der Einfluß der Landesnatur ebenso wenig zur vollständigen Erklärung der Kulturformen ausreicht. Außer den vorhin aufgezählten Beispielen erwähne ich hier als Beweis die nordischen Tundren- und Küstenbewohner, die Tschuktschen in Ostsibirien, die nicht nur von der Jagd auf Seetiere leben, sondern auch große RenntierB o a s , Kultur und Rasse.

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VII. Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmale.

herden besitzen ( B o g o r a s ) , während die u n t e r ganz entsprechenden klimatischen und geographischen Bedingungen lebenden amerikanischen Eskimos nie gelernt haben, das Renntier zu z ä h m e n ; die herdenbesitzenden H o t t e n t o t t e n Südafrikas und das armselige Jägervolk der Buschmänner, deren frühere Wohnsitze ihnen den Herdenzucht ebensowohl gestattet h ä t t e n , wie die N a t u r der westlicheren Landstriche den H o t t e n t o t t e n ( S c h u l t z e ) ; und auch die kleinen Negerstämme mit ihrer dürftigen Kultur, die als Nachbarn von Malaien in Malakka und auf den Philippinen leben ( M a r t i n , S k e a t und B l a g d e n , R e e d ) . In allen diesen Fällen ist der ursprünglich bestimmende F a k t o r und viel grundlegender als das geographische Element der gegebene Gesellschaftszustand des Volkes, der sich historisch durch Einwirkung der verschiedenartigsten Umstände entwickelt hat, und dem durch die fördernde oder hemmende W i r k u n g der Umwelt sein örtlicher Stempel aufgedrückt wird. Es läßt sich sogar zeigen, d a ß manchmal alte Sitten, die im Einklänge mit der N a t u r eines früher bewohnten Landes gestanden haben, unter neuen Verhältnissen erhalten bleiben können, obwohl sie durchaus nicht im Einklänge mit den Lebensbedingungen in der neuen Heimat stehen. Ein derartiges Beispiel aus unserem eigenen Leben ist unsere Abneigung gegen u n b e k a n n t e Nahrungsmittel neubesiedelter Gebiete; ein anderes das der renntierzüchtenden Tschuktschen, die bei ihrem W a n d e r leben ein höchst kompliziertes, schwerfälliges Zelt umherschleppen, dessen Typus offenbar dem früheren ständigen Hause der Küstenbewohner entspricht, aus denen die herdenbesitzenden Tschuktschen hervorgegangen sind, und das den auffallendsten Gegensatz gegen die Einfachheit und Leichtigkeit des Eskimozeltes bildet ( B o g o r a s ) . Selbst bei den Eskimos, die sich so wunderbar an ihre arktische Heimat angepaßt h a b e n , kann man noch Sitten finden, die eine vollständige Ausnutzung der Hülfsquellen des Landes ausschließt. Hierher gehören die Tabus, die den gleichzeitigen Gebrauch der Land- und der Seetiere erschweren ( B o a s ) . Wir müssen also zugeben, d a ß die Landesnatur einen

VII. Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmale.

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s t a r k e n Einfluß auf die Sitten und Ideen der Völker und mehr noch auf ihr ökonomisches Wohlergehen, auf ihre Verbreitung und Zahl a u s ü b t , d a ß sie aber kein neuschaffendes Element ist und n u r ältere Sitten und Ideen in ihren Formen umgestaltet. Diese selbst beruhen wesentlich auf den schon vorhandenen Kulturformen, die durch historische Vorgänge erklärt werden müssen. Hier pflegen die Geographen, welche die gesamte Kulturentwicklung aus der Einwirkung geographischer Bedingungen erklären wollen, einzuwenden, daß die vorhergenannten historischen Ursachen selbst wieder auf eine f r ü h e r e Einwirkung geographischer Verhältnisse zurückz u f ü h r e n sind, und d a ß durch Fortsetzung dieses Prozesses sich schließlich alles außer den geographischen Ursachen eliminieren läßt. Diese Art der Beweisführung scheint mir unzulässig, da die genauere Erforschung jeder einzelnen Erscheinung zeigt, d a ß der Einfluß der Landesn a t u r wohl eine gewisse Anpassung zwischen Umwelt und Volksleben erzeugt, aber die gefundenen Verhältnisse niemals erschöpfend erklärt. Wir dürfen eben nicht vergessen, d a ß , einen wie großen Einfluß wir auch der L a n d e s n a t u r einräumen mögen, derselbe doch nur so wirks a m werden kann, d a ß er in einer vorhandenen Menschengruppe psychisch wirksam wird; so daß also der Bewußtseinszustand der Individuen, die dem Umwelteinflusse ausgesetzt sind, wenigstens einen ebenso großen Anteil an den Formen des Volkslebens haben müssen, wie die einwirkenden K r ä f t e . Wir kennen aber nicht zwei Völker, deren geistiges Leben gleich ist, und daher müssen die Ergebnisse der Einwirkung der Landesnatur auch immer verschieden sein. Es ist ebenso unmöglich, das geistige Leben eines Volkes aus der N a t u r des von ihm bewohnten Landes allein zu erschließen, wie den Ursprung der L a n d e s n a t u r aus den Umformungen, welche die Menschenhand hervorbringt, zu erklären, etwa aus den Änderungen von Wasserläufen, der Zerstörung von Vegetationsformen und den Veränderungen der Fauna. Mit anderen Worten, wir werden nie den wichtigen Anteil vernachlässigen dürfen, den der geistige Charakter des Menschen an 9*

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VII. Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmale.

der Entwicklung von weitverbreiteten Ideen und Tätigkeiten h a t . Nun berührt alles dieses die B e h a u p t u n g nicht, daß trotz der historischen Elemente die L a n d e s n a t u r in ganz bestimmter Weise auf den Menschen einwirkt, und deshalb das schließliche Resultat doch immer ein vollkommener Ausdruck dieser Wirkung sei. In gewissem Sinne dürfen wir dieser Anschauung unsere Zustimmung nicht versagen. Wir werden später die Vorgänge besprechen, die zu einer gewissen Gleichförmigkeit in der Kulturentwicklung drängen. Diese spielen sich in der Volksheimat ab, und die Lage und Hülfsquellen des Landes lösen offenbar eine Reihe von Vorgängen aus, die aber a n sich rein physiologischer oder psychologischer N a t u r sind. Sofern also unser subjektives Interesse uns dahin drängt, die Landesnatur, welche die Entwicklung ermöglicht, in den Vordergrund zu schieben, können wir den Kulturfortschritt mit seinen geographischen Bedingungen verknüpfen. Die Beziehung kann aber in ihrer w a h r e n Ursächlichkeit n u r e r k a n n t werden, wenn wir die physiologischen und psychologischen K r ä f t e untersuchen, die durch die Landesnatur ausgelöst werden. So k a n n sich der Ackerbau n u r entwickeln, w o der Mensch sich auf bestimmte Weise beständig mit d e m Sammeln vegetabilischer N a h r u n g beschäftigt. An sich liegt hierin kein Zwang f ü r den Übergang vom Sammeln zum Ackerbau, aber die Gelegenheit wird geboten zur spiel- und gewohnheitsmäßigen Beschäftigung mit Pflanzen, die ihrerseits die Keime des Ackerbaus enthalten. F ü r den Ethnologen liegt daher das wahre Problem nicht in der Gelegenheit zur Betätigung einer Tendenz, sondern in den Ursachen, die diese Tendenz entstehen lassen. Offenbar ist es in diesem Sinne eine müßige Frage, ob geographische oder ethnologische Bedingungen die Kulturentwicklung bestimmen, und ihre Beantwortung wird von dem Interesse des Forschers abhängen. Die rein psychologische Fragestellung wird der tatsächlichen Verbreitung der Kulturerscheinungen nicht gerecht werden, und die historische E r k l ä r u n g kann in dem hier angegebenen Sinne der geographischen Gesichtspunkte ebenso

VII.

Die a l l g e m e i n e

Gleichartigkeit

der K u l t u r m e r k m a l e .

133

wenig entratcn, wie die geographische Erklärung die rein historischen Gesichtspunkte vernachlässigen darf. Die zweite Theorie, die zur E r k l ä r u n g der Gleichheit einer Anzahl von Grundideen und wichtigen Erfindungen in allen Weltteilen vorgebracht ist, beruht auf der Annahme, d a ß diese Ideen und Erfindungen uralte Kulturleistungen einer Periode sind, in der die Menschheit noch in ihren Wohnsitzen räumlich beschränkt w a r , so d a ß sie später von den Ursitzen in alle Kontinente verschleppt wurden. Diese Theorie beruht auf dem ganz universellen Vorkommen gewisser Kulturerscheinungen. Sie ist offenbar auch nur auf solche anwendbar, die wirklich überall vork o m m e n ; denn wenn wir einmal damit anfangen, mit dem Verluste einer oder der anderen derartigen Erscheinung im Laufe der geschichtlichen Entwicklung zu rechnen, — obwohl ja ein solcher Verlust an und f ü r sich wohl denkbar ist — würden wir den wildesten Hypothesen Tür und Tor öffnen. Eine Anzahl ethnologischer Beobachtungen spricht entschieden zugunsten dieser Theorie und macht uns geneigt zu glauben, d a ß manche der allerallgemeinsten Kulturerscheinungen bis auf die weit entlegene Urzeit vor der Zerstreuung der Menschenrassen von der Urheimat der Spezies, deren Annahme ja von der Biologie gefordert wird, zurückgehen. Eine der merkwürdigsten dieser Tatsachen ist das Vorkommen des Hundes als Haustier in fast allen Ländern der Welt. Obwohl aller Wahrscheinlichkeit nach die wilden Hundearten der verschiedenen Kontinente beträchtlich zur Bildung der zahmen Rassen beigetragen haben, s t e h t zu vermuten, d a ß das Zusammenleben von Mensch und Hund den allerersten menschlichen Anfängen angehört, einer Zeit, die der Trennung der amerikanischen und nordasiatischen Völker von den Südasiaten vorangeht. Auch die E i n f ü h r u n g des australischen Hundes, des Dingo, läßt sich am leichtesten erklären, wenn wir annehmen, d a ß er den Menschen in jenen entlegenen Weltteil begleitete. Andere sehr einfache Tätigkeiten mögen wohl auf Leistungen der frühesten Ahnen des Menschengeschlechtes zurückgehen. Die K u n s t Feuer zu machen, Bohren, Schnei-

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VII. Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmalc.

den, Sägen, die K u n s t Steine zu bearbeiten, müssen alle einer sehr frühen Zeit angehören und mögen E r b g u t sein, das die Grundlage f ü r die besondere Entwicklung der Einzelkulturen geboten h a t ( W e u l e ) . Sollte die prähistorische •— oder paläontologische — Forschung das Res u l t a t ergeben, d a ß Werkzeuge und andere Beweise menschlicher Tätigkeit in geologischen Perioden gefunden werden, in denen der Mensch weder seine gegenwärtige anatomische F o r m noch seine W e l t v e r b r e i t u n g hatte, so m ü ß t e n wir d a r a u s schließen, d a ß diese der ursprüngliche Kulturbesitz der ganzen Menschheit waren, mit denen ausgerüstet der Mensch seine W a n d e r u n g e n a n t r a t . Hierin liegt die große Bedeutung der eolithischen Funde, die in den letzten J a h r e n so vielfach besprochen sind, und die den A n f a n g des Gebrauchs von Steinwerkzeugen und deren zunächst zufällige, d a n n absichtliche G e s t a l t u n g bis in das Tertiär zurückverlegen würden. Außer den g e n a n n t e n K u l t u r g ü t e r n ist die Sprache eine der ganzen Menschheit gemeinsame Art der Tätigkeitsäußerung, und wird daher ihren Ursprung in den allerfrühesten Zeitperioden h a b e n . Die Tätigkeiten der höheren Affen sprechen f ü r die Annahme, d a ß der Mensch gewisse Kunstfertigkeiten schon vor seinen W a n d e r u n g e n erworben h a t t e . Nestbau und der gelegentliche Gebrauch von Stöcken und Steinen deuten auf den Beginn des zweckmäßigen Gebrauchs von Gegenständen hin. All dieses macht es wahrscheinlich, d a ß gewisse Kulturleistungen bis auf d e n frühesten Ursprung des Menschengeschlechts, oder doch bis auf die Bildung der großen kontinentalen Rassen zurückgehen. Die Vertreter dieser Theorie, wie W e u l e und G r a e b n e r , glauben a u c h , d a ß das sporadische Vorkommen gewisser Erfindungen wie des Bumerangs bei R a s s e n , die als verwandt gelten dürfen, sich dadurch erklären läßt, d a ß die Erfindung vor der Zers t r e u u n g der betreffenden Völker gemacht ist. In vielen Fällen, die sich auf solche Weise erklären lassen, ist es freilich g a n z unmöglich, unwiderlegliche Beweise d a f ü r zu geben, d a ß die Erscheinungen aus einem

VII.

Die a l l g e m e i n e

Gleichartigkeit

der K u l t u r m e r k m a l e .

135

gemeinsamen Ursprung und nicht aus dem spontanen, unabhängigen Auftreten derselben Ideen bei verschiedenen Völkern zu erklären sind. Die Entscheidung dieser Frage k a n n n u r durch die Resultate umfassender archäologischer Untersuchungen über die Vorgeschichte des Menschen und genaue Studien über Tierpsychologie gefällt werden. Die Lösung des Problems gestaltet sich noch schwieriger infolge der starken Übertragungen von Kulturelenienten von einem S t a m m zum anderen, die schon seit den frühesten Zeiten s t a t t g e f u n d e n haben und die eine allmähliche Verbreitung ähnlicher Kulturformen über große Gebiete zuwege bringen; denn sie bleiben nicht bei Nachb a r s t ä m m e n s t e h e n , sondern werden weitergetragen, bis sie schließlich über ganze Erdteile verbreitet sind. Als ein Beispiel der Schnelligkeit der Verbreitung von Kulturerrungenschaften will ich die moderne Geschichte einiger Nutzpflanzen a n f ü h r e n . Der Tabak und die Kasava wurden nach der Entdeckung Amerikas in Afrika eingeführt, und in kurzer Zeit haben sich diese Pflanzen über den ganzen Erdteil verbreitet; sie sind jetzt ein so wesentlicher Bestandteil der afrikanischen Kultur, d a ß niemand aus den Beobachtungen über die Lebensführung der Neger auf die V e r m u t u n g kommen könnte, d a ß sie nicht altafrikanische Pflanzen seien ( H a h n ) . Ebenso finden wir, d a ß die altweltliche Banane sich allmählich fast überall in Südamerika eingebürgert hat ( v o n d e n S t e i n e n ) . Die Geschichte des Maises ist ein Beispiel, an dessen Hand wir die große Geschwindigkeit bestimmen können, mit der ein nützliches Gewächs seine Weltwanderung ausführt. Im J a h r e 1539 findet sich die erste Notiz, dergemäß der Mais in Europa b e k a n n t w a r ; nach L ä u f e r h a t t e er China bereits zwischen 1540 und 1570 erreicht und war dorthin nicht auf dem Seewege, sondern über Tibet gelangt. Es ist leicht zu zeigen, d a ß in alten Zeiten die Verhältnisse ganz ähnlich lagen. V i c t o r H e h n s Untersuchungen sowie die neueren Forschungen über die Nutzpflanzen des prähistorischen Europas beweisen eine allmähliche, stetige Zunahme in der Zahl von Haustieren und Kulturpflanzen durch Z u f ü h r u n g neuer Arten aus Asien. Besonders be-

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VII.

Die allgemeine

Gleichartigkeit

der

Kulturmerkmale.

weist die weite Verbreitung mancher Getreidearten, wie des Weizens und der Gerste, das Vorhandensein uralter Beziehungen zwischen den Völkern ganzer Kontinente. Ein anderes Beispiel ist die allmähliche Verbreitung des Gebrauches des Pferdes, der aus Asien s t a m m t ; sein f r ü h e r Gebrauch als Zugtier und die spätere Entwicklung der R e i t k u n s t ; sowie die Verbreitung des Rindes in Afrika u n d in Europa. Wir werden auf diese Erscheinungen noch zurückkommen. Das Verbreitungsgebiet, das diese Kulturerrungens c h a f t e n in f r ü h e r Zeit erreichten, ist sehr groß. Die meisten w a n d e r t e n westwärts bis zum Atlantischen und ostwärts bis z u m Stillen Ozean. Sie drangen auch in den afrikanischen K o n t i n e n t ein. Der Gebrauch der Milch mag sich auf ähnliche Weise verbreitet haben, denn zur Zeit, als die Völker der Erde uns zuerst b e k a n n t werden, findet er sich bereits in ganz E u r o p a , Afrika und dem ganzen westlichen Asien. Vielleicht der beste Beweis ausgedehnter Übertragung in den verschiedensten Richtungen liefern die Märchen und phantasievollen Erzählungen der Völker. Nichts scheint so leicht zu wandern. Wir kennen verwickelte Erzählungen, die sicher nicht zweimal unabhängig voneinander erfunden sind, und die von den Berbern in Marokko, von Italienern, Russen und Indern erzählt werden, und die auf den T u n d r e n Sibiriens und auf den Prärien Nordamerikas den Hörer ergötzen, so d a ß sie vielleicht n u r in Südafrika, Australien, Polynesien und Südamerika unbek a n n t geblieben sind. Beispiele solcher Übertragungen sind sehr häufig, und wir fangen an zu erkennen, daß sehr f r ü h schon die Beziehungen zwischen den Rassen sich f a s t über alle Kontinente erstreckten. Ein Beispiel solcher weitgewanderter Erzählungen ist die magische Flucht, die Erzählung von den Flüchtlingen, die von einem Ungeheuer verfolgt werden, dem sie d a n n Hindernisse in den W e g werfen. Ein über die Schultern der Flüchtlinge zurückgeworfener Stein wird ein steiler Berg, ein K a m m ein undurchdringliches Dickicht, eine Flasche Haaröl ein tiefer See. Andere Beispiele der Weltverbreitung von E r -

VII.

Die allgemeine

Gleichartigkeit

der K u l t u r m e r k m a l e .

137

Zählungen sind von E l i r e n r e i c h und von mir dargelegt worden. Hieraus folgt, d a ß die K u l t u r eines jeden Stammes, wie arm er auch sein mag, nur d a n n vollständig verständlich wird, wenn wir nicht n u r seine innere Entwicklung, sondern auch seine Beziehungen zu den näheren und ferneren N a c h b a r s t ä m m e n und die von ihnen ausgehenden Einflüsse berücksichtigen. Es gibt anscheinend zwei sehr große Diffusionsgebiete. Unsere kurzen Bemerkungen über die Verbreitung von Kulturpflanzen und Haustieren beweisen das Vorhandensein von Völkerbeziehungen in Europa, Asien und einem großen Teil von Afrika, die sich ohne jede Rücksicht auf Rasse vom Atlantischen Ozean bis zum Pazifischen Ozean erstrecken. Die Verbreitung anderer Kulturerrungenschaften steht im Einklänge mit dieser Schlußfolgerung. Der Gebrauch der Bronze, der vom mittleren Asien ostwärts und westwärts nach China und E u r o p a gewandert zu sein scheint; des Rades; zum Teil auch der Milch; der Feldbau mit dem Pfluge und Haustieren, im Gegensatz zum Gartenb a u : alle haben das gleiche Verbreitungsgebiet ( H a h n ) . Auch in ganz anderen Beziehungen können K u l t u r ä h n lichkeiten in dieser ausgedehnten Landmasse nachgewiesen werden. Der Eid und das Gottesgericht sind in Europa, Afrika und Asien mit Ausnahme von Nordostsibirien überall wohlbekannt, während sie in Amerika fast ganz fehlen (Laasch). Noch andere gemeinsame Eigentümlichkeiten der Kulturen der Alten Welt erscheinen am deutlichsten, wenn wir sie mit entsprechenden Erscheinungen in der Neuen vergleichen. Hierher gehört die Wichtigkeit des streng formellen gerichtlichen Prozesses in der Alten Welt und sein fast vollständiges Fehlen bei den S t ä m m e n von Nord- und S ü d a m e r i k a , die doch in ihrer allgemeinen Kulturentwicklung sich wohl mit dem afrikanischen Neger vergleichen lassen. Die Vorstellung, d a ß Schuld oder Unschuld beweisbar ist und vor A u s f ü h r u n g eines Strafaktes bewiesen werden sollte, scheint den Indianern, mit Ausnahme der höheren Kulturvölker, ganz fremd gewesen zu sein, und die Entscheidung der öffentlichen Mei-

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VII.

Die allgemeine Oleichartigkeit

der Kulturmcrkmale.

n u n g war genügend, um die Ausstoßung oder anderweitige Unschädlichkeitmachung des Verbrechers herbeizuführen. In scharfem Gegensatz hierzu steht die peinliche Sorgfalt, mit der in der alten Welt die Beweisaufnahme durch Augenschein, Zeugenaussagen, Eid und Gottesgericht durchg e f ü h r t wird. Ähnliche Gegensätze kommen auch im Bereiche der mündlichen Überlieferung vor. Ich erwähne die Häufigkeit des Rätsels, des Sprichworts und der moralisierenden Fabel, die so charakteristisch f ü r die alte Welt ist, während sie in Nordostsibirien und Amerika f a s t ganz zu fehlen scheinen. 1 In all diesen Eigentümlichkeiten bilden Europa, ein großer Teil Afrikas, Asien außer dem äußersten Nordosten und die Inselbrücke zwischen Asien und Australien eine Einheit. Auf ganz ähnliche Weise k a n n man gewisse gemeinsame Züge in großen Teilen des amerikanischen Kontinentes nachweisen. Die überzeugendste K r a f t h a t das Vorkommen der Kultivierung des Maises fast überall, wo Ackerbau in Amerika v o r k o m m t . Seine Heimat war in den Gebirgsländern von Mexiko und Zentralamerika, aber in f r ü h e r Zeit verbreitete sich sein Gebrauch über die Kontinentalbrücke nach Südamerika und nordostwärts über die Prärien fast bis zu der Linie, wo die klimatischen Verhältnisse seinen Anbau verhindern. So bildet der Mais die Grundlage des ursprünglichen amerikanischen Ackerbaues f a s t überall, von Argentinien im Süden bis zu den großen Seen des Nordostens. Einen ähnlichen Eindruck erhalten wir von der Verbreitung der Töpferei in Amerika, die über d e n ganzen Erdteil mit Ausschluß der nordwestlichen und südlichen Randgebiete verteilt ist, von den eigentümlichen 1 Neuerdings hat Pater J e t t 6 eine Sammlung von Rätseln v o m Yukon-River veröffentlicht, die ganz eigentümlich aus dem Rahmen amerikanischer Kunstform herausfallen und auch in den benachbarten Teilen Asiens keine Parallelformen zu haben scheinen. Es ist mir nicht wahrscheinlich, daß das Rätsel von Sammlern unter nordamerikanischen S t ä m m e n übersehen sein sollte. Ich selbst habe vergeblich danach an der pazifischen Küste gefahndet.

VII.

Die allgemeine Gleichartigkeit

der K u l t u r m e r k m a l e .

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amerikanischen Kunstformen, die in reicher Fülle im westlichen Südamerika und in Zentralamerika und Mexiko erb l ü h t sind und trotz aller Individualität einzelner Kulturgebietc eine gewisse Familienähnlichkeit aufweisen, die in weit getrennten Gebieten immer wieder zutage t r i t t und manche Forscher verleitet hat, eine unmittelbare Beziehung zwischen so entlegenen Gebieten wie Argentinien und NeuMexiko zu suchen. Sie erscheint auch in der eigentümlichen Neigung zu typischen Zeremonialformen, die sich in weiter Verbreitung finden. Es will scheinen, als haben die Gebiete fortgeschrittener K u l t u r in Mittelamerika und Südamerika eine ähnliche Rolle gespielt, wie Zentralasien in der alten Welt insofern, als sich daselbst viele der charakteristischsten K u l t u r g ü t e r entwickelt und weiter verbreitet haben mögen, noch ehe die späteren Kulturen dieser Gebiete zur vollen Blüte gelangten. W ä h r e n d nun in diesen Betrachtungen der Schwerp u n k t einerseits auf die Beziehungen zwischen Heimat und Volkscharakter, andererseits auf die Nachwirkungen sehr f r ü h e r historischer Zustände gelegt wird, schreiben die Forscher, welche die dritte der vorgenannten Theorien verteidigen, die Kulturähnlichkeit entlegener Gebiete wesentlichen psychischen Ursachen zu. B a s t i a n , einer der H a u p t vertreter dieser Richtung, erkennt ausdrücklich die Wichtigkeit der Landesnatur, insofern sie analoge ethnische Erscheinungen beeinflußt, an, glaubt aber nicht, d a ß sie irgendwelche schaffende K r a f t h a t . Er erschloß aus der Gleichheit der Denkformen weit getrennter Völker das Vorhandensein bestimmter Denkgesetze, die überall und immer das menschliche Denken beherrschen, wie auch die L a n d e s n a t u r , das gesellschaftliche Leben und die geistigen Lebensformen beschaffen sein mögen. Diese Grundformen des Denkens, die sich immer wieder mit eiserner Notwendigkeit entwickeln, n a n n t e er E l e m e n t a r g e d a n k e n . E r behauptet, d a ß es ganz unmöglich ist, die letzten Quellen, aus denen überall verbreitete Erfindungen, Ideen, Sitten und Glauben fließen, zu ergründen. Sie mögen unabhängig entstanden, sie mögen aus der Fremde eingeführt sein, sie können sich aus den verschiedenartigsten

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VII. Die allgemeine Gleichartigkeit der Kulturmerkmale.

Quellen entwickelt haben, — aber immer stellen sie sich ein, weil der Menschengeist so geartet ist, d a ß er sie entweder erfindet oder sie a n n i m m t , wenn sie ihm durch äußeren Anlaß geboten werden. B a s t i a n s Theorie von der P e r m a n e n z dieser Denkformen scheint mir mit D ü t h e y s Äußerungen über die beschränkte Anzahl von Typen der Weltanschauung verwandt zu sein; u n d die Ähnlichkeit der Denkrichtung beider Männer t r i t t auch deutlich in B a s t i a n s Bestreben hervor, durch Beispiele die Analogien zwischen der Denkweise der Philosophen und der k u l t u r a r m e n Völker zu belegen. Von B a s t i a n s Ges i c h t s p u n k t e aus war eine der wichtigsten Erscheinungen die Gleichheit der grundlegenden Denkformen bei allen Rassen und auf allen Kulturstufen, fortgeschrittenen sowohl wie primitiveren. Ich glaube, man darf wohl in seinen Anschauungen eine Tendenz zu einem gewissen Mystizimus erkennen, insofern er die Elementargedanken zu u n a n t a s t b a r e n Wesenheiten erhob. Kein weiteres Denken sollte ihren Ursprung erklären können, weil er sie als Grundlage unseres eigenen Denkens immer wieder zu erkennen glaubte. Bis zu einem gewissen Grade deckt die bestimmte Formulierung eines Elementargedankens die psychologische Ursache seines Vorkommens auf. Die Beobachtung z. B., d a ß das Land der dahingeschiedenen Seelen so o f t im Westen gesucht wird, legt sofort den Schluß nahe, d a ß es dorthin verlegt wird, wo die Gestirne unseren Augen entschwinden. Die bloße Formulierung des Gedankens, d a ß die K u l t u r a r m e n sich die Tiere als mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet vorstellen, weist d a r a u f h i n , d a ß die Ähnlichkeiten zwischen tierischen und menschlichen Handlungen zu einer mangelhaften Differenzierung, u n d somit durch Analogie zu der allgemeinen Anschauung g e f ü h r t haben, d a ß alle Eigenschaften der Tiere menschlichen Eigenschaften gleich seien. In anderen Fällen dagegen sind die Grundlagen der Elementargedanken nicht so klar u n d einf a c h ; wie z. B. bei den überall verbreiteten Heiratsvorschriften, durch welche die Heiraten zwischen bestimmten Familiengruppen oder Individuen verboten oder geboten

VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

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werden und deren Ursprung schon so viele Forscher beschäftigt hat. Die Schwierigkeit dieses Problems wird durch nichts besser bewiesen als durch die große Zahl der verschiedenartigsten H y p o t h e s e n , die erfunden sind, um diese Erscheinung restlos zu erklären. Der Ursprung der Elementargedanken ist indes von psychologischen Gesichtspunkten aus weiter untersucht worden, und der eingehende Versuch W u n d t s , eine Theorie der Völkerpsychologie zu entwickeln, sowie die vielen Untersuchungen der psychologisch vorgehenden Soziologen deuten die Richtung an, in der diese Fragen neuerdings in Angriff g e n o m m e n werden. Um auch diesen Gesichtspunkt an einem Beispiel zu belegen, will ich die allgemeine Bed e u t u n g erwähnen, die u n t e r andren W u n d t der Assoziation bei der Ideenentwicklung k u l t u r a r m e r Völker beilegt, oder die Wichtigkeit der Suggestion und des Hypnotismus bei k u l t u r a r m e n Völkern, die S t o l l betont. Unsere weiteren Ausführungen werden wesentlich diesen Methoden folgen.

VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt. Im vorigen Kapitel haben wir gezeigt, d a ß gleichartige K u l t u r p h ä n o m e n e sich bei allen Menschenrassen finden, zum Teil über weite Gebiete verbreitet und offenbar durch historische Ereignisse über weite Areale verschleppt, zum Teil aber auch wohl unabhängig hier und dort entstanden. Wir sind bislang noch nicht auf die Frage eingegangen, wie solche Elemente sich zu b e s t i m m t e n K u l t u r f o r m e n zusammenschließen. N u n h a t die ethnologische Forschung dargetan, d a ß das gleichzeitige Vorkommen von Ideen, welche verschiedenen Gruppen angehören, bei einem Volke nicht ganz zufällig ist, und daß es gewisse, wenn auch nicht sehr feste Zu-

VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

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werden und deren Ursprung schon so viele Forscher beschäftigt hat. Die Schwierigkeit dieses Problems wird durch nichts besser bewiesen als durch die große Zahl der verschiedenartigsten H y p o t h e s e n , die erfunden sind, um diese Erscheinung restlos zu erklären. Der Ursprung der Elementargedanken ist indes von psychologischen Gesichtspunkten aus weiter untersucht worden, und der eingehende Versuch W u n d t s , eine Theorie der Völkerpsychologie zu entwickeln, sowie die vielen Untersuchungen der psychologisch vorgehenden Soziologen deuten die Richtung an, in der diese Fragen neuerdings in Angriff g e n o m m e n werden. Um auch diesen Gesichtspunkt an einem Beispiel zu belegen, will ich die allgemeine Bed e u t u n g erwähnen, die u n t e r andren W u n d t der Assoziation bei der Ideenentwicklung k u l t u r a r m e r Völker beilegt, oder die Wichtigkeit der Suggestion und des Hypnotismus bei k u l t u r a r m e n Völkern, die S t o l l betont. Unsere weiteren Ausführungen werden wesentlich diesen Methoden folgen.

VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt. Im vorigen Kapitel haben wir gezeigt, d a ß gleichartige K u l t u r p h ä n o m e n e sich bei allen Menschenrassen finden, zum Teil über weite Gebiete verbreitet und offenbar durch historische Ereignisse über weite Areale verschleppt, zum Teil aber auch wohl unabhängig hier und dort entstanden. Wir sind bislang noch nicht auf die Frage eingegangen, wie solche Elemente sich zu b e s t i m m t e n K u l t u r f o r m e n zusammenschließen. N u n h a t die ethnologische Forschung dargetan, d a ß das gleichzeitige Vorkommen von Ideen, welche verschiedenen Gruppen angehören, bei einem Volke nicht ganz zufällig ist, und daß es gewisse, wenn auch nicht sehr feste Zu-

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VIII. Der entwicklungsgeschichtliche

Standpunkt.

s a m m e n h ä n g e zwischen der Entwicklung der Handfertigkeiten, der K u n s t , der Gesellschaftsordnung, der Form des politischen Lebens, d e r religiösen Vorstellungen gibt. Diese Zusammenhänge sind derart, d a ß sich bei Völkern, die einfache Handfertigkeiten haben, G e d a n k e n t y p e n finden, die sich von denen industriell fortgeschrittener Völker unterscheiden. Auch Z u s a m m e n h ä n g e zwischen d e m Volksleben und der L a n d e s n a t u r , die das materielle Wohlergehen des Menschen hindert oder fördert, sind beobachtet worden. Hier t r i t t uns nun die Frage entgegen, was wir u n t e r dem Begriffe K u l t u r s t u f e n , den wir bislang ohne weitere Definition angewandt haben, verstehen sollen. Man k a n n auch das Problem so stellen: inwiefern lassen sich die Kulturformen ohne Rücksicht auf Ort und Zeit ihres Vorkommens in eine Reihe einordnen, die mit frühen K u l t u r t y p e n beginnt und zu späteren f o r t s c h r e i t e t ? Diese Frage ist von vielen Forschern in dem Sinne b e a n t w o r t e t worden, d a ß alle K u l i u r t y p e n als einer einzigen Entwicklungsreihe angehörend angesehen werden; d a ß also die k u l t u r a r m e n Völker unserer Zeit einer älteren Stufe der Kulturentwicklung angehören, und d a ß die fortgeschritteneren Kulturvölker dieselben Stufen in einer früheren Zeit durchlaufen haben. W i r müssen n u n Klarheit darüber zu gewinnen suchen, ob eine solche entwicklungsgeschichtliche Anschauung, die eine einheitliche E n t wicklungsrichtung v e r l a n g t , den Tatsachen entspricht. Die Forschungen T y l o r s und B a c h o f e n s , M o r g a n s und S p e n c e r s haben besonders dazu beigetragen, diese Anschauung zu begründen. Obwohl besonders bei T y l o r die Einheitlichkeit der Entwicklung nicht im Vordergrunde der B e t r a c h t u n g s t e h t , d r ä n g t doch die ganze Richtung auf die entwicklungsgeschichtliche Anschauung hin. Sie ist ein u n m i t t e l b a r e r Ausfluß der Lehren D a r w i n s und seiner Schüler, und die leitenden Gedanken sind n u r als eine A n w e n d u n g der Theorie der biologischen Entwicklung auf d a s Geistesleben der Völker verständlich. Die Auffassung, d a ß die Äußerungen des Völkerlebens eine Reihe darstellen, die von einfachen Anfängen zu dem

VIII.

Der e n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t l i c h e

Standpunkt.

143

verwickelten Typus der modernen Zivilisation fortschreitet, ist f ü r diesen ganzen Zweig der Ethnologie grundlegend gewesen. Die Gründe, welche für die Richtigkeit der Annahme a n g e f ü h r t werden, d a ß die K u l t u r überall eine ähnliche oder gar gleiche Entwicklung g e h a b t h a t , und d a ß wir bei k u l t u r a r m e n S t ä m m e n noch die Stufen beobachten können, welche unsere eigene Zivilisation dereinst durchlaufen h a t , beruhen ganz wesentlich auf der Deutung, die vermeintlichen oder wirklichen Ähnlichkeiten von Kulturerscheinungen bei verschiedenen Rassen und Völkern gegeben wird, d a n n aber auch auf dem bei uns selbst beobachteten Vorkommen eigentümlicher Bräuche, die nur als Überbleibsel alter Sitten zu verstehen sind; von Sitten, die in früherer Zeit eine tiefere Bedeutung h a t t e n , und die bei kulturarmen Völkern noch in voller Blüte stehen. Um die Bedeutung der entwicklungsgeschichtlichen Theorie der menschlichen K u l t u r klar zu machen, müssen wir wenigstens einige Seiten des allgemeinen Problems ins Auge fassen. Die Gesellschaftsordnung k u l t u r a r m e r S t ä m m e weist in vielen Teilen der Welt ähnliche Züge auf. S t a t t die Familienzugehörigkeit auf unsere Weise zu bestimmen, b e t r a c h t e n viele S t ä m m e das Kind als der Familie der Mutter zugehörig und rechnen Verwandtschaft n u r in ihrer Linie, so d a ß Schwesterkinder oder Kinder von Schwestertöchtern, u n d sogar von Töchtern von Schwestertöchtern, f ü r ganz n a h v e r w a n d t gelten, während Bruderkinder, u n d Vettern, von denen das eine das Kind eines Mannes, das andere d a s seiner Schwester ist, gar nicht als v e r w a n d t gelten. Andere S t ä m m e haben eine scharf ausgesprochene Familiengliederung in väterlicher Linie, d. h. die Kinder gehören ausschließlich der väterlichen Familie a n ; während wieder andere dieselben Grundsätze wie wir befolgen, nämlich V e r w a n d t s c h a f t in beiden Richtungen rechnen. In naher Beziehung zu diesen Sitten steht die Wahl des W o h n o r t s des jung verheirateten Paares, das manchmal bei der v ä t e r lichen, m a n c h m a l bei der mütterlichen Gruppe wohnen bleibt. W e n n das P a a r sich bei der Gesellschaftsgruppe

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VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

niederläßt, zu der die Frau gehört, so ist oft beobachtet worden, d a ß bis zur Geburt des ersten Kindes der Mann wie ein Fremdling behandelt wird. Gerade diese Erscheinungen sind zum Gegenstand eingehender Untersuchungen g e m a c h t worden, und es h a t sich hieraus ergeben, d a ß die Bestimmung der Familienzugehörigkeit und die Wahl des Wohnortes eng zusammenhängen. Das Resultat dieser Unters u c h u n g e n , die wir T y l o r v e r d a n k e n , ist, d a ß überall Zugehörigkeit zur mütterlichen Familie die ältere Gesellschaftsform gewesen sein muß, aus der sich erst später die väterliche Familienzugehörigkeit entwickelt h a t . Ferner h a t man aus derartigen Erscheinungen und der Verwandtschaftsterminologie in vielen Sprachen geschlossen, d a ß im Anfang keine deutliche Familienorganisation existierte, d a ß später die mütterliche Familienfolge sich entwickelte, der d a n n die Zugehörigkeit zur väterlichen Gruppe folgte, bis schließlich sich unsere Methode, wirkliche Blutsv e r w a n d t s c h a f t nach beiden Richtungen hin zu rechnen, n a t u r g e m ä ß entwickelte. Ähnliche Resultate wurden aus der Verbreitung von Erfindungen gezogen. Ich habe schon öfters erwähnt, d a ß Affen zuweilen Steine zur Verteidigung benutzen, und d a ß in gewissem Sinne die künstlichen Schutzstätten und Nester der Tiere die Anfänge von Erfindungen andeuten. In diesem Sinne darf man den allerersten Ursprung von Werkzeugen bei den Tieren suchen. Beim ersten Erscheinen des Menschen auf der Erdoberfläche finden wir n u r ganz einfache Steinwerkzeuge im Gebrauch, die zunächst vielleicht nur durch Zufall zweckmäßig ges t a l t e t waren, später aber durch absichtliches Absprengen von Splittern in geeignete Form gebracht wurden. Im weiteren Verlaufe der Zeit n i m m t der Formenreichtum der Werkzeuge allmählich zu. Da viele derselben wohl aus vergänglichem Material hergestellt waren, kann m a n natürlich nicht mit Bestimmtheit entscheiden, ob n u n wirklich in diesen ganz frühen Zeiten die Werkzeuge aus nichts anderem als den erhaltenen Steinformen b e s t a n d e n ; immerhin aber darf man annehmen, d a ß es n u r wenige Arten von Werkzeugen gab und d a ß alle recht einfach

VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

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gewesen sein müssen. Von jener Zeit an h a t sich die Zahl u n d der F o r m e n r e i c h t u m der E r f i n d u n g e n b e s t ä n d i g verm e h r t . Der Gebrauch des Feuers entwickelte sich in neuen R i c h t u n g e n , und die Zahl der Werkzeuge, die z u m Schneiden, Schlagen, K r a t z e n und D u r c h b o h r e n dienen, n a h m nicht n u r zu, sondern ihre Gebrauchsweise w u r d e auch f ü r verschiedene Industrien spezialisiert u n d mechanisch vervollk o m m n e t . Auf diese Weise f ü h r t die E n t w i c k l u n g der Erf i n d u n g e n uns zu d e m m o d e r n e n M a s c h i n e n b a u . Die Erf i n d u n g s g a b e u n g e z ä h l t e r Individuen aller Rassen h a t zu d e r hohen industriellen E n t w i c k l u n g g e f ü h r t , deren wir u n s heute erfreuen. Im großen u n d ganzen darf m a n sagen, d a ß einmal g e m a c h t e E r f i n d u n g e n zähe festgehalten w u r d e n , u n d d a ß durch den stetigen Z u w a c h s an neuen E n t d e c k u n g e n die Hülfsmittel der Menschheit sich b e s t ä n d i g v e r m e h r t und erweitert haben. Ein ausgezeichnetes Beispiel f ü r die allgemeine E n t wicklungstheorie in ihrer A n w e n d u n g auf die Zivilisation bietet die Theorie der E n t w i c k l u n g des A c k e r b a u e s u n d d e r Tierzucht, wie sie von O t i s T . M a s o n u n d W . J . M c G e e , u n d teilweise auch von E d u a r d H a h n geschildert wird. In den U r a n f ä n g e n der Gesellschaft b e w o h n t e n Mensch, Pflanzen und Tiere g e m e i n s a m ein b e s t i m m t e s enges H a b i t a t , u n d u n t e r diesen Bedingungen w u r d e n m a n c h e P f l a n z e n so im W a c h s t u m begünstigt, d a ß sie andere A r t e n u n d Gattungen u n t e r d r ü c k t e n , u n d gewisse Tiere w u r d e n in der N ä h e des menschlichen Lagers g e d u l d e t , w ä h r e n d andere weichen m u ß t e n . D u r c h diesen Z u s t a n d gegenseitiger Duld u n g und der Interessengemeinschaft, wenn m a n diesen Ausdruck gebrauchen darf, e n t s t a n d eine engere V e r b i n d u n g zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen, aus der schließlich die Anfänge des A c k e r b a u s u n d der Tierzucht hervorgingen. Untersuchungen ü b e r die E n t w i c k l u n g der Z i e r k u n s t h a b e n zu ähnlichen Ergebnissen g e f ü h r t . Schon a m E n d e der Eiszeit w a r e n die künstlerischen Anlagen des Menschen hoch entwickelt. Aus jener Zeit s t a m m e n die Malereien, mit denen die Höhlen Frankreichs und Spaniens ges c h m ü c k t sind, u n d in denen die Tierwelt des alten E u r o p a s B o a s , Kultur und Rasse.

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VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

uns in treuen Umrissen entgegentritt. Von dieser entlegenen Zeit an h a t der Mensch immer und überall sich an bildnerischer Darstellung in F a r b e n , Zeichnung, Gravierung und Rundschnitzerei versucht. Nun finden sich bei vielen Völkern Zierformen, die sich leicht mit bildnerischen Darstellungen der Lebewelt in Beziehung setzen lassen, die aber ihre Naturwahrheit eingebüßt haben und mehr oder weniger s t a r k durch Stilisierung verändert sind, und diese Beobachtung h a t dazu geführt, die geometrischen Elemente der Zierkunst als das Endergebnis einer E n t wicklungsreihe aufzufassen, die mit der naturwahren Darstellung anhebt und unter dem Einfluß ästhetischer und anderer Ursachen durch allmähliche Vereinfachung und Umgestaltung ihre Endform erreicht. Die Inselwelt des Stillen Ozeans, Neu-Guinea, Südamerika, Zentralamerika, das prähistorische Europa sind als Beispiele dieser Entwicklungsrichtung herangezogen worden (siehe M a r c h , H a d d o n , v o n d e n S t e i n e n , H o l m e s ) , die daher als eine der Grundrichtungen in der Entwicklung der Zierkunst aufgefaßt ist und zu der Anschauung geführt hat, daß i h r Anfang in naturwahrer Darstellung zu suchen ist, un d durch Symbolik und Stilisierung zu rein ästhetisch wirkenden Formen geführt hat. Noch ein anderes derartiges Beispiel hat uns die Weltanschauung der Kulturarmen geliefert. Man stellt sich v o r , d a ß der Mensch schon in früher Zeit über die Naturerscheinungen nachzudenken begann. Dabei bewegte sich seine Gedankenwelt ganz seiner Erfahrung gemäß in einer Form, in der die Umwelt als menschenähnlich in ihrem Denken, Fühlen, Wollen und Handeln aufgefaßt wurde. So entstand die erste primitive Weltsanchauung, in der Steine, Berge, die himmlischen Gestirne als belebte, menschenähnliche Wesen aufgefaßt wurden, als Wesen, deren Handlungen von freiem Willen bestimmt sind, und die bereit sind, dem Menschen zu helfen oder ihn mit Gefahren zu bedrohen. Die Beobachtung der Lebenstätigkeiten des Menschen f ü h r t e zu der Vorstellung einer vom Körper unabhängigen Seele; und mit wachsendem Wissen erweiterten sich diese einfachen Anschauungen zu philo-

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sophischem Denken und f ü h r t e n zur Entwicklung der Religion und der Wissenschaft. Die Gleichartigkeit all dieser Erscheinungen in weit voneinander getrennten Ländern ist nicht nur als Beweis für die Gleichartigkeit des Geisteslebens aller Menschenrassen, sondern auch als Beleg f ü r die Theorie einer einheitlichen Entwicklungsrichtung der Zivilisation b e n u t z t worden. Auf diese Weise h a t man ein großartiges System aufgebaut, in d e m unsere Zivilisation als das notwendige Resultat der Arbeit aller Rassen erscheint, als das Ergebnis einer Entwicklung, die von den einfachsten Anfängen durch die Stufen der Barbarei zu unserer modernen Zivilisation g e f ü h r t h a t . Nicht alle Rassen und Völker haben diesen Weg gleich schnell zurückgelegt; denn manche sind weit zurückgeblieben, während andere v o r a n g e s t ü r m t sind und den ersten Platz in der allgemeinen Vorwärtsbewegung innehaben. Wir müssen uns klar machen, was eigentlich diese Theorie der einheitlichen Entwicklung der menschlichen K u l t u r bedeutet. Offenbar dies, d a ß die verschiedenen Zweige der Menschheit in sehr f r ü h e r Zeit alle von demselben Zustand der K u l t u r a r m u t oder des Kulturmangels ausgegangen sind; d a ß sie in Folge der gleichartigen Geisteseigenschaften der gesamten Menschheit und der d a r a u s folgenden gleichartigen Reaktion auf äußere und innere Reize sich überall annähernd in der gleichen Richt u n g entwickelt h a b e n , indem sie überall ähnliche Erfindungen m a c h t e n und ähnliche Ideen und Gebräuche zeitigten. Die Theorie setzt auch eine b e s t i m m t e Beziehung zwischen der industriellen und der sozialen Entwicklung voraus, und es m u ß sich nach ihr eine bestimmte Reihenfolge in den Erfindungen sowohl wie in den Formen der Gesellschaftsordnung und des gesamten Vorstellungslebens ergeben. Da uns keine historischen Angaben f ü r die f r ü h e s t e Entwicklung der Menschheit zu Gebote stehen, gibt es n u r drei Quellen, aus denen ein Beweis f ü r die Theorie erbracht werden kann, — die Frühgeschichte der zivilisierten Völker, Überbleibsel alter Sitten im modernen Leben und prähistorische Forschung. Die letztgenannte Methode 10*

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VI Ii. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

bietet den alleinigen Zugang zu unserem Problem, wenn es sich um die Entwicklung geschichtsloser Völker handelt. Obwohl es nun unzweifelhaft richtig ist, daß sich Analogien zwischen der Lebensform heutiger kulturarmer Völker und der in der Dämmerung der historischen Zeit lebenden Ahnen der Kulturvölker finden lassen, und daß diese Analogien durch das Überleben alter Sitten bestätigt werden, so sprechen doch die Ergebnisse prähistorischer und ethnologischer Forschung nicht zugunsten der ganz verallgemeinerten Theorie. Wenn diese irgendeine tiefere Bedeutung haben soll, so müßte sich eben nachweisen lassen, daß überall die Erfindungen einander wenigstens annähernd in gleicher Ordnung gefolgt wären, und daß sich nirgends große Lücken finden. Was wir nun bis jetzt über diese Dinge wissen, spricht keineswegs zugunsten einer solchen Anschauung. Wir wollen uns diese Frage an dem Beispiele des Ackerbaues und der Tierzucht näher vor Augen führen. Wir haben schon von den neueren Theorien gesprochen (S. 145), in denen ausgeführt wird, daß diese Kulturfortschritte sich aus dem Zusammenleben von Pflanzen, Tieren und Menschen schrittweise entwickelt haben. Die Beobachtungen zeigen nun, daß bei kulturarmen Völkern die Beschäftigung mit der Pflanzenwelt wesentlich der Frau zufällt, während nur der Mann in nahe Berührung mit der Tierwelt kommt. Bei der einfachsten Lebensführung der Menschheit, die uns bekannt ist, wird die Nahrung von beiden Geschlechtern beschafft. Die Frauen sammeln Pflanzennahrung und Tiere, die nicht frei beweglich sind, wie Muscheln und andere Weichtiere und wohl auch Raupen und Würmer. Dieses dürfte damit zusammenhängen, daß die Sorge für die jungen Kinder ihnen die leichte Beweglichkeit raubte. Die Männer dagegen „sammeln" die leichtbewegliche Nahrung, die flüchtigen Landtiere, Vögel, und Wassertiere, mit anderen Worten, sie jagen und fischen. Der Versuch, das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Pflanzen- und Tierwelt systematisch darzustellen, führt naturgemäß zu einer Anordnung, nach welcher zunächst diejenigen Völker hervortreten, bei denen die reine Sammel-

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Wirtschaft herrscht. S o d a n n lassen sich a n d e r e anreihen, bei denen in technischer B e z i e h u n g oder d u r c h die E n t w i c k l u n g von E i g e n t u m s r e c h t e n die Beziehung zu d e r P f l a n z e n w e l t , vor allem zu den auf einer b e s t i m m t e n Stelle w a c h s e n d e n P f l a n z e n i m m e r inniger w i r d . D a s Verhältnis b l e i b t aber z u n ä c h s t i m m e r auf die F r a u und die P f l a n z e b e s c h r ä n k t . So gelangen wir, o h n e irgendwelche schwer v e r s t ä n d l i c h e u n d schwer a u s f ü l l b a r e Lücke zu f i n d e n , zu d e n einfacheren A c k e r b a u f o r m e n . Die psychologische W a h r s c h e i n l i c h k e i t d a f ü r , d a ß diese k ü n s t l i c h e A n o r d n u n g d e r E r s c h e i n u n g e n einen chronologischen W e r t h a t , b e r u h t einerseits auf der V e r s t ä n d l i c h k e i t der technischen E n t wicklung, v o r allem a b e r auch d a r a u f , d a ß wir hier m i t einer kontinuierlich von derselben Gesellschaftsklasse, n ä m lich d e n F r a u e n , g e f ü h r t e n B e s c h ä f t i g u n g zu t u n h a b e n , die a u s diesem G r u n d e die E n t s t e h u n g einer sich s t u f e n weise a u f b a u e n d e n Reihe v e r s t ä n d l i c h erscheinen l ä ß t . F e r n e r läßt sich die chronologische D e u t u n g darauf s t ü t z e n , d a ß die einfachen F o r m e n wohl allein v o r k o m m e n , die Anf ä n g e d e s A c k e r b a u e s dagegen i m m e r noch d u r c h reichliche S a m m e l t ä t i g k e i t e r g ä n z t w e r d e n , nie a b e r A c k e r b a u allein v o r k o m m t . Der W e r t dieses Verhältnisses wird sogleich bei d e m Vergleich zwischen A c k e r b a u u n d V i e h z u c h t d e u t licher werden. W i e die Beziehungen des Menschen zur P f l a n z e n w e l t z u n ä c h s t v o n der F r a u g e t r a g e n w e r d e n , so ist der M a n n d e r T r ä g e r d e r Beziehungen z u r Tierwelt. In diesem Falle l ä ß t sich d e r Ü b e r g a n g v o n der J a g d z u r V i e h z u c h t n i c h t so lückenlos an der H a n d v o n m o d e r n e m B e o b a c h t u n g s m a t e r i a l nachweisen. Doch ist es a u c h hier wenigstens wahrscheinlich, d a ß die Z ä h m u n g unserer H a u s t i e r e , die j a a u ß e r d e m H u n d e wohl alle H e r d e n t i e r e sind, sich z u m g r o ß e n Teile a u s der Beziehung zwischen d e m Menschen u n d d e n W i l d h e r d e n e n t w i c k e l t e . Sobald d e r J ä g e r lange Zeit derselben W i l d h e r d e folgte u n d ihre V e r s p r e n g u n g d u r c h F e r n h a l t e n von R a u b z e u g v e r h i n d e r t e , e n t w i c k e l t e n sich Verhältnisse, wie wir sie etwa h e u t e noch bei d e n K o r j a k e n u n d T s c h u k t s c h e n Sibiriens b e o b a c h t e n k ö n n e n . J e d e n f a l l s l e h r t die B e o b a c h t u n g , d a ß auch hier die Be-

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VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

schäftigung mit den Tieren immerfort Angelegenheit des Mannes gewesen ist, so d a ß sich wieder die psychologische Wahrscheinlichkeit einer Weiterentwicklung ergibt. Beide Entwicklungsreihen können auch in beschränktem Maße durch prähistorische Forschungen bestätigt werden. W e n n nämlich unsere Anschauung richtig ist, so müssen sich zunächst die Gebrauchspflanzen an die Wildpflanzen anschließen und durch allmähliche Differenzierung zu K u l t u r p f l a n z e n werden. N a t u r g e m ä ß sind wir hierbei vorläufig wesentlich auf europäisches Material angewiesen, das zum Teil, was einheimische Pflanzen angeht, diese Reihenfolge aufweist, wie es ja eigentlich auch selbstverständlich ist. Bei den Tieren m ü ß t e n wir der Theorie nach in f r ü h e r Zeit eine beständige Kreuzung zwischen Haustieren und wilden Tieren erwarten, welche j a f ü r die früheuropäischen Haustiere sehr wahrscheinlich gemacht ist und bei den Hunden der Eskimos, sowie bei den halbzahmen Renntieren Ostsibiriens noch immer beobachtet werden kann. Mit diesen Schlüssen werden wir nun zu der f ü r die Theorie grundlegenden Frage g e f ü h r t : welches ist das chronologische Verhältnis zwischen Ackerbau und V i e h z u c h t ? Versucht man der Frage vom psychologischen Gesichtsp u n k t e aus n a h e z u t r e t e n , so ergibt sich sofort die Schwierigkeit, d a ß wir hier nicht mehr mit e i n e r fortdauernden Beschäftigungsreihe zu t u n haben, sondern mit den Beschäftigungen zweier ganz getrennter Gruppen der Bevölkerung, und d a ß die zur Z ä h m u n g der Tiere dienenden Handlungen sich durchaus nicht n a t u r g e m ä ß aus den zur Züchtung von Pflanzen dienenden entwickeln lassen. Es fehlt also d a s geistige Band, das jede einzelne Richtung als eine verständliche Einheit erscheinen ließe. Es fehlt sowohl deshalb, weil die Personen, als auch weil die Beschäftigungen verschieden sind. Psychologisch läßt sich deshalb eine zeitliche Ordnung z u n ä c h s t nicht wahrscheinlich machen. Sollte es eine solche feste Zeitfolge trotzdem gegeben haben, so m ü ß t e n wir annehmen, daß, — wenn etwa Viehzucht durchweg das spätere ist — sie sich wohl mit d e m Ackerbau zusammenfinden, d a ß ferner Ackerbau allein

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v o r k o m m e n kann, aber Viehzucht allein niemals, da ja der Ackerbau ihr vorangegangen sein soll. Nun ließe sich ja wohl, u m die Theorie zu stützen, sagen, d a ß die Spuren vorher existierenden Ackerbaus verloren gegangen seien, doch fehlt es hierfür ganz an Beweisen. Ferner könnte m a n etwa sagen, d a ß , wo Ackerbau klimatisch unmöglich ist, er auch fehlen m u ß und Viehzucht sich u n m i t t e l b a r entwickeln kann, doch ist dieses schon ein bedenklicher Schritt, da er das behauptete Gesetz durchbricht. Wir d ü r f t e n d a n n nur sagen, d a ß unter normalen Verhältnissen die Z ä h m u n g der Tiere mehr Zeit erfordert h a t , als die Entwicklung des Ackerbaues, eine Behauptung, welche die ganzen Grundlagen der A n n a h m e einer gleichmäßigen E n t wicklung der K u l t u r ins W a n k e n bringt. Ich glaube, dieses Beispiel macht die H a u p t b e d e n k e n klar, welche gegen die allgemeine Entwicklungstheorie geltend zu machen sind. Die Schritte müssen psychologisch zusammenhängen, sie müssen kontinuierlich sein sowohl in bezug auf die Art der geistigen und körperlichen Tätigkeit, als in der handelnden Persönlichkeit oder gesellschaftlichen Gruppe, und sollten, wenn möglich, durch prähistorische Forschung belegt werden. Eine feste Beziehung unzusammenhängender oder nur lose zusammenhängender Erscheinungen ist um so unwahrscheinlicher, je verschiedenartiger die Tätigkeiten und die in Frage kommenden Volksgruppen sind. In allen solchen Fällen können Schlüsse nur aus anderen Quellen gezogen werden. Wir h a b e n oben schon angedeutet, wie dieses geschehen kann. Unangreifbar würden nur sichere Angaben der Prähistorie sein. Außerdem kommen noch wesentlich die Verhältnisse bei den modernen Kulturarmen in Betracht. Läßt es sich da zeigen, d a ß gewisse Industrien nu in Verbindung mit anderen einfachen Werktätigkeiten vorkommen und die letzteren öfters allein, die ersteren nie allein erscheinen, so darf m a n wohl schließen, daß die einfache Industrie durchweg die ältere ist. Ergeben sich solche Verhältnisse nicht mit absoluter Regelmäßigkeit, aber doch noch häufig, so darf m a n immerhin noch von erkennbaren Richtungen der Entwicklung sprechen.

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Eine zweite Hilfsquelle d ü r f t e in der geographischen Verbreitung der Erscheinungen zu suchen sein, denn bei kontinuierlicher Verbreitung wird man diejenige Industrie f ü r die älteste halten, die sich über die ausgedehntesten Erdräume findet. Betrachten wir nun die allgemeine Frage von diesen methodischen Gesichtspunkten aus, so t r i t t uns zunächst ein entschiedener Mangel an Übereinstimmung entgegen. Schon in bezug auf Ackerbau und Viehzucht ist dieses der Fall. Die Ostsibirier kennen Viehzucht, selbst s ü d w ä r t s bis nach Sachalin u n d dem Amur, aber keinen Ackerbau. Die H o t t e n t o t t e n haben Vieh, aber keine Gärten. Dagegen findet sich in ganz Amerika Ackerbau von den niedrigsten bis zu hohen technischen Entwicklungsstufen, aber nur in ganz wenigen Gebieten geringe Ansätze zur Viehzucht, — immer mit Ausschluß des eigenartigen Gebrauchs des Hundes verstanden. Besonders in A n b e t r a c h t der f ü r den Ackerbau ungünstigen Verhältnisse der Gegenden der alten Welt, in denen ausschließlich Viehzucht v o r k o m m t , k a n n man vielleicht sagen, d a ß im großen und ganzen die Viehzucht sich langsamer entwickelt h a t als der Ackerbau, ohne d a ß dieses eine im einzelnen auf jedes Volk anwendbare Reihenfolge der Entwicklung b e d e u t e t . J e verschiedenartiger nun die einzelnen Erscheinungen sind, desto m a n g e l h a f t e r ist auch ihre Korrelation, so d a ß schließlich, t r o t z der Tendenz zu historischen Entwicklungstypen im einzelnen, sich kein harmonisches Bild der K u l t u r t n t w i c k l u n g , d a s f ü r alle Völker der Erde gültig i s t , ergeben k a n n ( T h o m a s ) . Beispielsweise finden wir ausgedehnte Gebiete, bewohnt von Völkern, deren K ü n s t e hochentwickelt sind, die aber nie die Töpferei, einen der wichtigsten Schritte in d e m Fortschritte der Kultur, besessen haben. Es gibt keine Töpferei im südlichsten Afrika, in Australien, im nordöstlichen Sibirien u n d N o r d w e s t a m e r i k a 1 sowie im äußersten 1 In einigen Plätzen dieses Gebietes, namentlich am Ochotskischen Meere und an den Küsten Alaskas findet sich Töpferei, vielleicht auf Grund später lokaler Einführung der Kunst.

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Süden Südamerikas. Es zeigt sich hieraus und aus dem vorher Gesagten (S. 137), d a ß die Töpferei in der alten Welt etwa dasselbe Gebiet deckt, wie die dort besprochenen Kulturzüge, während in Amerika ihr Mittelpunkt in dem Gebiete fortgeschrittener K u l t u r in der Mitte des Erdteils liegt. So k o m m t es, d a ß die hochentwickelten S t ä m m e von Nordwestamerika keine Töpferei besitzen. Ihr Vorkommen scheint überall mehr auf der geographischen Lage zu anderen Kulturgebieten zu beruhen, als auf allgemeinen kulturgeschichtlichen Ursachen. Dasselbe läßt sich über den Gebrauch der Metalle sagen. Die Erfindung der Metallarbeit, die einen so wichtigen Schritt vorwärts in der K u l t u r E u r o p a s bedeutet, ist in anderen Weltteilen nicht mit analogen Entwicklungsstufen verbunden. W ä h r e n d in E u r o p a schon Viehzucht und Ackerbau bekannt, und das Rad erfunden war, w u ß t e man in Amerika zur Zeit der Erfindung der Metalltechnik noch nichts von der Hilfe, die Tier und Rad dem Ackerbau leisten können. Dieser Beobachtung entsprechendes kann m a n auch in bezug auf die Entwicklung des Ackerbaues und der Tierzucht aussagen. Völker, die man im großen und ganzen auf gleiche K u l t u r s t u f e n stellen muß, können zum Teil Ackerbauer sein, andere können die K u n s t der Tierzucht besitzen, während noch andere von den Gaben des Meeres oder den natürlichen pflanzlichen Erzeugnissen ihrer H e i m a t leben. Ähnliche Einwürfe lassen sich auch gegen die unbedingte A n n a h m e der vorher dargelegten Theorie über die Entwicklung der Familie machen. W e n n es wirklich eine einheitlich fortschreitende K u l t u r gibt, so m ü ß t e n sich auch die frühesten Formen der Familie mit den einfachsten Formen menschlicher K u l t u r verbunden zeigen. Dieses ist aber nicht der Fall; vielmehr ergibt der Vergleich ein recht regelloses Durcheinander. Manche sehr einfache S t ä m m e , wie die Eskimos oder die Indianer der nordwestlichen Hochländer Nordamerikas rechnen die Familienzugehörigkeit nach väterlicher und mütterlicher Seite; andere hochentwickelte S t ä m m e erkennen n u r die mütterliche Verwandt-

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s c h a f t an, w ä h r e n d noch andere, z. T. industriell weniger entwickelte, v ä t e r l i c h e Familienfolge h a b e n ( S w a n t o n ) . So zeigt sich auch hier ein Mangel a n K o o r d i n a t i o n u n d ein W i d e r s p r u c h in der E n t w i c k l u n g s r i c h t u n g j e nach d e m in d e n V o r d e r g r u n d geschobenen G e s i c h t s p u n k t . E s ist auch wohl wahrscheinlich zu m a c h e n , d a ß eine einheitliche Quelle f ü r ethnische E r s c h e i n u n g e n g a r nicht i m m e r v o r h a n d e n sein m u ß . Ich m ö c h t e dieses a n d e r H a n d einer H y p o t h e s e ü b e r die E n t w i c k l u n g der Gesellschaftsformen ausführen. W i r f i n d e n wohl überall den Begriff der B l u t s c h a n d e , der aber auf r e c h t v e r s c h i e d e n e G r u p p e n v o n B l u t s v e r w a n d t e n a u s g e d e h n t wird. M a n n e n n t die Sitte, der g e m ä ß H e i r a t e n i n n e r h a l b einer b e s t i m m t e n G r u p p e v e r b o t e n sind, E x o g a m i e . N u n f i n d e t sich außerordentlich h ä u f i g die A n s c h a u u n g , d a ß jede e x o g a m e G r u p p e eines S t a m m e s gleichzeitig in n a h e r u n d b e s t i m m t g e a r t e t e r Beziehung zu einer T i e r a r t oder zu einer a n d e r e n Klasse v o n G e g e n s t ä n d e n s t e h t , eine G e s e l l s c h a f t s f o r m , die m a n in engerem Sinne als T o t e m i s m u s bezeichnet. Sehr o f t f i n d e t sich a b e r a u c h die e x o g a m e G r u p p e o h n e irgendwelche t o t e m i s t i s c h e E r s c h e i n u n g e n . Gewöhnlich wird n u n d e r Versuch g e m a c h t , den T o t e m i s m u s als eine sehr f r ü h e E n t w i c k l u n g s s t u f e d a r z u s t e l l e n , und erst a u s ihm die s p ä t e r e n G e s e l l s c h a f t s f o r m e n abzuleiten. N u n ist die Idee der B l u t s c h a n d e so allgemein v e r b r e i t e t , d a ß sie e n t w e d e r d e r U r m e n s c h h e i t a n g e h ö r t oder sich überall a u ß e r o r d e n t lich f r ü h e n t w i c k e l t h a b e n m u ß . Gibt es a b e r eine solche abgeschlossene e x o g a m e G r u p p e , so ist eine E n t w i c k l u n g nach zwei R i c h t u n g e n hin d e n k b a r . E n t w e d e r die Idee b e h e r r s c h t weiter die ganze G r u p p e , auch w e n n sie sich a n Zahl v e r m e h r t , oder sie wird auf engere V e r b ä n d e eingeschränkt. I n d e m nämlich die Mitglieder der exogamen G r u p p e m i t a n d e r e n G r u p p e n in B e r ü h r u n g k o m m e n , m u ß sich n o t w e n d i g e r w e i s e d e r Begriff d e r M i t g l i e d s c h a f t im Gegensatze zu d e n A u ß e n s t e h e n d e n e n t w i c k e l n . Nun m u ß d e r Begriff sich a b e r z u n ä c h s t in der S p r a c h e spiegeln. Gibt es keinen A u s d r u c k , d e r die in e x o g a m e r Beziehung s t e h e n d e n I n d i v i d u e n z u s a m m e n h ä l t , so k a n n sich auch die G r u p p e n i c h t h a l t e n , sobald ihre g e m e i n s a m e Ab-

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s t a m m u n g vergessen oder ihre sozialen Bande gelockert sind, und, falls die Exogamie auf der Idee der Blutsv e r w a n d t s c h a f t beruht, kann sie nur in der kleinen, in engster Verwandtschaft verbundenen Gruppe fortdauern. Gibt es aber eine Bezeichnung f ü r die in exogamer Beziehung stehenden Individuen, so k a n n die Gruppe sich in ihrer ganzen Ausdehnung erhalten. Diese begriffliche Zusammenfassung kann sich in zwei Formen vollziehen: es kann Verwandtschaftsbeziehungen geben, die alle Mitglieder der exogamen Gruppe den Außenstehenden gegenüberstellen, wie etwa „Geschwister" einerseits, „ V e t t e r n " andererseits; oder es kann eine eigene Absonderung f ü r die ganze exog a m e Gruppe geben. Sei diese nun lokal oder durch ein Abzeichen oder durch ein gemeinsames Ritual ausgedrückt, sie wird sich immer in einer Namensbezeichnung kristallisieren. Auf den ersten Blick könnte es vielleicht scheinen, als ob die Verwandtschaftsbezeichnungen auch nicht die Gruppe als Einheit erhalten k ö n n t e n , da doch die Verw a n d t s c h a f t e n im Laufe weniger Generationen vergessen sein m ü ß t e n . Dieses ist aber bei den relativ kleinen Gemeinwesen der K u l t u r a r m e n durchaus nicht der Fall, da die Verwandtschaftsbezeichnungen, welche die Mitglieder der exogamen Gruppe von den Außenstehenden absondern, wie eine K e t t e den ganzen S t a m m durchsetzen und die gegenseitige Stellung der blutsverwandten Gruppen ohne weiteres definieren. So ergeben sich drei wahrscheinliche Entwicklungslinien, von denen nur die zweite zum Totemismus f ü h r t . All dieses beweist, daß, sobald wir die Leistungen verschiedener Völker eingehender vergleichen, sich große Ungleichheiten ergeben und die gleichartige Entwicklung, welche die Theorie verlangt, nicht zu erweisen ist. Deshalb ist es durchaus nicht als sicher anzunehmen, d a ß jedes Volk, d a s sich auf hoher K u l t u r s t u f e befindet, alle E n t wicklungsformen durchgemacht haben m u ß , die sich aus einer Zusammenstellung der K u l t u r f o r m e n der ganzen Welt ergeben. Gewisse allgemeine Merkmale der technischen und indu-

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VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

striellen Entwicklung lassen sich dennoch feststellen; aber diese beziehen sich nicht auf die Einzelerfindungen selbst, sondern auf das geistige Verhalten des Volkes bei der durch die neuen Erfindungen geschaffenen ökonomischen Lage; auf die allgemeine Tendenz, immer neues zu dem schon v o r h a n d e n e n Wissen und Können hinzuzufügen, u n d auf eine fortschreitende Verfeinerung der Arbeitsmethoden und Arbeitsergebnisse, ausgenommen in Perioden t e m p o r ä r e n R ü c k s c h r i t t s , die überall vorkommen d ü r f t e n . Wir werden diese Seite unseres Problems später noch eingehender zu beleuchten versuchen. Ein vielleicht noch schwerwiegenderer Einwand gegen die Allgemeingültigkeit der Theorie einer einheitlichen Kulturentwicklung der Menschheit gründet sich auf eine ganz andere Beobachtung. Die Theorie b e r u h t auf der Voraussetzung einer wirklichen Gleichartigkeit der gleichgesetzten Kulturerscheinungen, und diese schließt die A n n a h m e in sich, daß die gleichartigen Erscheinungen auch aus denselben Quellen entsprungen sein müssen, d. h . , d a ß alle derselben Entwicklungsrichtung angehören und die bestehenden Abweichungen alle als u n b e d e u t e n d e Variationen der typischen und allgemeingültigen Entwicklung a u f g e f a ß t werden d ü r f e n . Mit anderen W o r t e n , die logische Grundlage der Theorie ist die A n n a h m e , d a ß gleiche Erscheinungen im Völkerleben sich stets auf gleichem Wege entwickeln. So b e r u h t die Schlußfolgerung betreffs der Entwicklungsfolge der mütterlichen und väterlichen Familienordnung, von der wir f r ü h e r gesprochen haben (S. 143), auf der Hypothese, d a ß , weil in einigen Fällen väterliche Familienzugehörigkeit sich aus mütterlicher Familienzugehörigkeit entwickelt h a t , n u n auch in allen Fällen Familien der ersten Art aus solchen der zweiten Art hervorgegangen s i n d ; d a ß also nie die ersteren primär entstehen können. Lassen wir die A n n a h m e fallen, d a ß die gleichen Erscheinungen sich immer auf dieselbe Weise entwickelt h a b e n , so könnten wir gerade so g u t schließen, d a ß allerdings manchmal väterliche Familienzugehörigkeit sich aus der mütterlichen entwickelt h a t , d a ß sie sich aber auch auf andere Weise entwickeln k a n n .

VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

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Ebenso h a t man geschlossen, d a ß , weil manche Vorstellungen über d a s zukünftige Leben sich aus der D e u t u n g von T r ä u m e n und Halluzinationen entwickelt haben, n u n auch alle derartigen Ideen den gleichen Ursprung g e h a b t haben. Dieses würde aber n u r richtig sein, wenn man zeigen könnte, d a ß keine anderen Ursachen diese Ideen hervorrufen könnten. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei dem oft behaupt e t e n Ursprünge der Töpferei aus der Korbflechterei. Der Hauptbeweis dieses Satzes b e r u h t auf dem f ü r Arizona erb r a c h t e n Beweise einer großen Ähnlichkeit und Zusammengehörigkeit von Korb- und Topfformen und Verzierung. Hieraus wurde zunächst der obengenannte Schluß gezogen u n d d a n n u n t e r Zuhilfenahme weniger Einzelerscheinungen auf alle Korbflechterei und Töpferei verallgemeinert. Offenb a r aber wird auch hier der Beweis zu liefern sein, d a ß Töpferei auf keine andere Weise entstehen k a n n . In Wirklichkeit läßt sich an der Hand einer ganzen Reihe von Beispielen zeigen, d a ß an verschiedenen Ausgangspunkten ansetzende Entwicklungsreihen zu den gleichen Resultaten f ü h r e n können. Ich habe schon das Beispiel primitiver Zierkunst a n g e f ü h r t und auf die Theorie hingewiesen, welche a n n i m m t , d a ß geometrische Formen sich aus Nachbildungen von N a t u r f o r m e n entwickeln, und d a ß diese Entwicklung durch Symbolisierung und Stilisierung zu rein ästhetisch wirkenden Formen f ü h r t (S. 146). Bei solcher Vereinfachung und u n t e r der Herrschaft eines bestimmten Kunststils können verschiedenartige N a t u r formen leicht zu den gleichen Zierformen f ü h r e n , so d a ß in diesem Sinne ihr Ursprung in verschiedenen Quellen zu suchen wäre. Ein Beispiel hierfür, bei A n n a h m e dieser Entwicklungsrichtung, geben etwa die gleichschenkligen Dreiecke mit horizontaler Grundlinie, von der eine Reihe kurzer senkrechter Linien in gleichen E n t f e r n u n g e n absteigen, die eine so große Rolle in der K u n s t der nordamerikanischen Indianer spielen ( K r o e b e r , B o a s ) . Ihrer Bedeutung nach stellen sie einmal Zelte mit Pflöcken, die das Zelttuch am Boden festhalten, d a n n Berge mit an ihrem Fuße entspringenden Quellen, Regenwolken mit

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VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

herabbrausenden Regenströmen, die Bärentatze mit ihren langen Klauen und anderes mehr dar, lauter Vorstellungen, aus denen sich leicht die geometrische Form durch Vereinfachung in bestimmter stilistischer Richtung ableiten läßt. Aber weit wichtiger ist ein anderer Umstand. Solange die Idee herrscht, daß ein Ornament nicht nur ästhetisch wirken, sondern auch etwas bedeuten soll, ist ein beständiger psychologischer Antrieb gegeben, der einerseits wohl dazu führen mag, beabsichtigte Darstellung von Naturformen in einen gewissen Kunststil zu zwängen, und sie geometrischen Formen anzunähern, andererseits aber auch den Künstler immer wieder veranlaßt, die Bedeutsamkeit seiner Ornamente durch angemessene Mittel deutlich zur Anschauung zu bringen. Einen hübschen derartigen Fall konnte ich in Britisch Kolumbien beobachten, wo ich eine Frau im Besitze eines mit an der Spitze zusammenhängenden Rauten geschmückten Beutels fand, der schon bestickt von einem fremden Stamm erhandelt war. Der neuen Besitzerin gefiel es, die bunten Rauten als Teiche oder Seen zu betrachten, und um die Illusion zu erhöhen, fügte sie durch ein paar Stickstiche Wasservögel hinzu, die den Teichen zuflogen. Auch in anderen Fällen läßt sich zeigen, daß die feste durch die Überlieferung gegebene Form von Gebrauchsgegenständen die Phantasie des Künstlers veranlaßt hat, Teile oder das ganze als Naturformen aufzufassen und demgemäß auszugestalten. Ich selbst habe solche Vorgänge bei den Nadelbüchsen der alaskischen Eskimos nachweisen können, die kleine, stereotype Knöpfchen und breite Flügel in der buntesten Art zu Tierköpfen umgeformt haben, die dann weiter umgestaltet auf die Gesamtdarstellung einwirkten. Verfolgen wir die Tendenz zu stilisierender Vereinfachung bis in ihre letzten Konsequenzen, so ergeben sich geometrische Formen, denen ihr Ursprung nicht mehr anzusehen ist. Solche Formen nun entwickeln sich auch aus der Neigung des Künstlers oder Handwerkers, mit seiner Technik zu spielen, wie der Virtuose auf seinem Instrument spielt. Der geschickte Korbflechter macht gern, um seine Kunst zu zeigen, Handbewegungen, die schwierige rhyth-

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mische Bewegungen erfordern, u n d diese führen sofort zu einer A n o r d n u n g des Geflechtes, d a s bereits die einfachen geometrischen Motive enthält, die sich aus der Stilisierung von N a t u r f o r m e n ergeben mögen. Es ist keineswegs nötig, einen einheitlichen Ursprung der geometrischen Motive der Zierkunst anzunehmen. Dieselben Formen mögen einmal a m A n f a n g und ein andermal a m Ende einer Entwicklungsreihe stehen. Wir müssen in Wirklichkeit immer ein Vorhandensein beider Richtungen v e r m u t e n . Nicht weniger charakteristisch f ü r die hier besprochene Erscheinung ist der verschiedenartige Gebrauch von Masken, die bei den Völkern der Welt weit verbreitet sind. Der Ursprung der Masken ist keineswegs in allen Fällen klar, doch kann man sehr wohl eine Anzahl typischer Fälle unterscheiden. Sie dienen dazu, Geister über Identität des Trägers zu täuschen und ihn so gegen Verfolgung zu s c h ü t z e n ; sie können selbst Geister vorstellen, die der Träger personifiziert, und ihn so in den Stand setzen, gefährliche Wesen von seinen Genossen fern zu halten. Noch andere dienen d e m Zwecke, die E r i n n e r u n g an Verstorbene wach zu halten, die der Träger darstellt, oder sie werden bei pantomimischen Darstellungen mythologischer Ereignisse gebraucht ( A n d r e e ) . Obwohl wir n u n durchaus nicht anzunehmen brauchen, d a ß diese Erklärungen der wirklichen historischen Entwicklung der Masken entsprechen, d e u t e t ihre Verschiedenartigkeit doch an, d a ß ein einheitlicher Ursprung aller Masken höchst unwahrscheinlich ist. Ich will endlich noch als Beispiel eine eigentümliche Form der Stammgliederung a n f ü h r e n . Die Mitglieder k u l t u r armer S t ä m m e sind oft auf eine Anzahl von Unterabteilungen verteilt. Es ist kaum zu bezweifeln, d a ß diese Gesellschaftsform vielfach auf unabhängige Weise e n t s t a n d e n ist. Der Schluß, d a ß die geistigen Eigentümlichkeiten des Menschen die Bildung derartiger Gesellschaftsformen begünstigen, ist berechtigt. Es folgt aber nicht daraus, d a ß diese Form sich immer auf gleiche Weise entwickelt h a t . W a s h i n g t o n M a t t h e w s h a t nachgewiesen, d a ß die Gruppen sich bei den N a v a h o - I n d i a n e r n aus einem Zusammenschließen unabhängiger Elemente entwickelt haben.

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K a p i t ä n B o u r k e h a t gezeigt, d a ß ähnliche Ereignisse zur E n t s t e h u n g der Gruppen bei den Apachen g e f ü h r t haben, und Dr. F e w k e s ist in bezug auf die P u e b l o s t ä m m e zu ganz entsprechenden Resultaten gelangt. Andererseits wissen wir auch, d a ß solche Gruppen sich durch Teilung entwickeln. Dieses ist beispielsweise von S w a n t o n und von mir bei den Indianern der nordpazifischen K ü s t e beobachtet worden. Noch andere Unterabteilungen der S t ä m m e haben unzweifelhaft einen ganz anderen Ursprung g e h a b t ; z. B. die so häufige Teilung in zwei exogame H ä l f t e n , die auf ganz anderen Prinzipien b e r u h t und sich vielleicht m a n c h m a l aus der Vermeidung von Verwandtenheiraten bei sehr kleinen, aber an Zahl zunehmenden S t ä m m e n verstehen läßt. So haben auch hier ganz verschiedene Ursachen zu Erscheinungen g e f ü h r t , die anscheinend gleich oder doch recht ähnlich sind. Die Hauptschwierigkeit bei diesen Untersuchungen liegt darin, d a ß häufig die Erscheinungen, die wir behandeln, nicht vergleichbar sind. Hierfür gibt es zwei Gründe. Einmal erweisen sich bei schärferer Analyse scheinbar gleiche Erscheinungen als ungleichwertig, d a n n aber kehrt auch die Neigung immer wieder, ähnliche Formen ihrer äußeren Übereinstimmung gemäß gleichzusetzen und ihre inneren Unähnlichkeiten ganz zu übersehen. Besonders die letztere Erscheinung ist von durchschlagender Bedeutung, weil auf ihr der H a u p t i r r t u m der entwicklungsgeschichtlichen Beweisführung beruht. Es handelt sich hier o f t um psychologisch falsche Gleichsetzungen, die ihren Grund n u r in unseren Klassifikationsprinzipien haben. Wir haben eben in diesem Falle unser Augenmerk hauptsächlich auf augenfällige Ähnlichkeiten gerichtet und die Verschiedenheit vernachlässigt. Sobald wir dieser größere A u f m e r k s a m keit widmen, zeigt es sich, d a ß die o f t b e h a u p t e t e Gleichheit der Erscheinungen des Volkslebens wohl v o r h a n d e n ist, wenn wir sie nach b e s t i m m t e n von außen hineingetragenen Kategorien anordnen, d a ß sie aber deshalb auch nur aus einseitigen Ähnlichkeiten bestehen, die m e h r scheinbar als wirklich sind. Die unerwartete Ähnlichkeit im Wesen weit voneinander wohnender Völker h a t uns

VIII. Der entwicklungsgeschichtliche S t a n d p u n k t .

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so g e f a n g e n g e n o m m e n , d a ß wir die U n t e r s c h i e d e u n t e r s c h ä t z t h a b e n . Ein Vergleich m i t d e r p h y s i s c h e n A n t h r o pologie ist lehrreich. W i r v e r f o l g e n d o r t g e n a u die e n t gegengesetzte Methode. D a die Ä h n l i c h k e i t d e r H a u p t f o r m e n des m e n s c h l i c h e n K ö r p e r s auf der H a n d liegt, so b e s c h ä f t i g e n wir u n s in d i e s e m Falle m i t d e n feinen u n d f e i n s t e n V e r s c h i e d e n h e i t e n im K ö r p e r b a u . D e r unseren G l e i c h s e t z u n g e n z u g r u n d e liegende F e h l e r l ä ß t sich b e s o n d e r s g u t bei gewissen e t h i s c h e n F r a g e n erl ä u t e r n . Eine allgemeine U n t e r s u c h u n g d e r Moral d e r Völker zeigt, d a ß bei s t e i g e n d e r K u l t u r ein a l l m ä h l i c h e r W a n d e l in d e r W e r t s c h ä t z u n g vieler H a n d l u n g e n v o r sich g e h t . Bei k u l t u r a r m e n V ö l k e r n h a t d a s M e n s c h e n l e b e n n u r ger i n g e n W e r t und f ä l l t bei d e r g e r i n g s t e n Gelegenheit d e r Leidenschaft, dem vermeintlichen Rechte oder der Pflicht z u m O p f e r . Die G e s e l l s c h a f t s g r u p p e , u n t e r d e r a l t r u i s t i s c h e P r i n z i p i e n als b i n d e n d e r a c h t e t w e r d e n , ist s e h r klein a n U m f a n g , u n d a u ß e r h a l b dieser G r u p p e sind g e w i n n b r i n g e n d e Handlungen irgendwelcher Art nicht nur gestattet, sondern gelten s o g a r als löblich, w e n n sie a u c h gegen die innerhalb der Gesellschaftsgruppe gültigen Prinzipien verstoßen. Von diesen V e r h ä l t n i s s e n a u s g e h e n d f i n d e n wir eine immer steigende Bewertung des menschlichen Lebens und eine s t ä n d i g e E r w e i t e r u n g d e r G r u p p e , i n n e r h a l b d e r e n a l t r u i s t i s c h e V e r p f l i c h t u n g e n gelten. Die h e u t i g e n i n t e r n a t i o n a l e n B e z i e h u n g e n beweisen, d a ß diese E n t w i c k l u n g n o c h n i c h t ihren A b s c h l u ß g e f u n d e n h a t . Von diesem G e s i c h t s p u n k t e a u s d ü r f t e es s c h e i n e n , als o b z. B. die E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e d e r B e u r t e i l u n g des M o r d e s v o n p s y c h o l o g i s c h e m W e r t e sein m ü ß t e u n d zu w i c h t i g e n R e s u l t a t e n in b e z u g auf d e n U r s p r u n g u n d die F o r t entwicklung ethischer Begriffe führen könnte. Ich g l a u b e a b e r , d a ß hier g a n z o f f e n b a r einer d e r Fälle vorliegt, in d e m v o n v ö l k e r p s y c h o l o g i s c h e m G e s i c h t s p u n k t e a u s die zu v e r g l e i c h e n d e n E r s c h e i n u n g e n g a r k e i n e n e i n h e i t l i c h e n Begriff b i l d e n ; d a ß v i e l m e h r die E i n h e i t n u r in d e m g a n z ä u ß e r l i c h aus u n s e r e n j u r i s t i s c h e n Begriffen h i n e i n g e t r a g e n e n Begriffe des M o r d e s b e r u h e n . S o w e i t d e r Mord als H a n d l u n g in B e t r a c h t k o m m t , darf er o f f e n b a r n u r als eine T a t a n B o a s , Kultur und Rasse.

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VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

gesehen werden, bei der infolge verschiedenartigster Veranlassungen die normale Schonung des menschlichen Lebens s t ä r k e r e n Motiven weicht. Unter einheitlichem Gesichtsp u n k t e läßt sich der Mord nur insofern auffassen, als er ohne Rücksicht auf das Motiv ein Verhalten der Gesells c h a f t auslöst, das f ü r verschiedene K u l t u r f o r m e n charakteristisch ist, und in den Folgen des Mordes, seien diese n u n Rache, Wehrgeld oder Strafe zum Ausdruck k o m m t . Die Verschiedenartigkeit des Mordes als H a n d l u n g wird nun sofort klar, wenn wir uns seine vielfältigen Motive vergegenwärtigen. Der Mensch, der seinen Feind aus Rache f ü r erfahrene Unbilden erschlägt; der Jüngling, der seinen V a t e r t ö t e t , ehe er der Altersschwäche erliegt, u m ihm so ein glückliches, kraftvolles Leben im Jenseits zu sichern; und der Vater, der sein Kind dem Wohle seines Volkes opfert, werden von so verschiedenartigen Beweggründen geleitet, d a ß von ethischem Gesichtspunkte aus ihre Handlungen ganz unvergleichbar sind. Viel eher k ö n n t e man Vergleiche ziehen zwischen dem Mord eines Feindes und der Zerstörung seines Eigentums, falls in beiden Fällen Rache der Beweggrund ist; oder zwischen dem Opfer eines Kindes im Interesse des S t a m m e s und irgend einer anderen Handlung, die starken altruistischen Motiven e n t f l i e ß t ; und zwischen dem Mord des Vaters, der ihm ein glückliches Leben im Jenseits verschaffen soll, und anderen selbstverleugnenden H a n d l u n g e n der kindlichen Liebe ( W e s t e r marck, Hobhouse). Auf ähnliche Weise läßt es sich zeigen, d a ß die Idee des Fortlebens der Seele im Jenseits, die doch überall sich mit psychologischer Notwendigkeit entwickelt h a t , keinen einheitlichen Begriff bildet. Manche S t ä m m e glauben, d a ß die Seele in der Gestalt weiterlebt, die der Mensch zur Zeit seines Todes h a t t e , ohne die Möglichkeit je eine andere Form a n z u n e h m e n ; andere huldigen der Anschauung d a ß die Seelen der T o t e n als Kinder in ihrer eigenen Familie wiedergeboren w e r d e n ; noch andere glauben, d a ß die Seele des Menschen durch die Körper von Tieren w a n d e r t oder d a ß die Schatten die Tätigkeiten fortsetzen, mit denen die Menschen sich auf Erden beschäftigt haben, und darauf

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warten, in ferner Z u k u n f t auf unsere Welt zurück zu gelangen. Die bei der Bildung dieser Vorstellungen tätigen V e r n u n f t - und Gefühlselemente sind außerordentlich ungleichartig, und es ist leicht einzusehen, d a ß die verschiedenen Formen des Glaubens an ein Jenseits durch untereinander unvergleichbare psychologische Vorgänge hervorgerufen sein müssen. W e n n ich hier über diese Frage eine hypothetische Ansicht äußern darf, so könnte ich mir etwa vorstellen, d a ß in dem einen Falle die Ähnlichkeit zwischen Kindern und ihren verstorbenen Vorfahren, in einem anderen die Erinnerung an den Toten, wie er zuletzt den Hinterbliebenen b e k a n n t war, in wieder einem anderen die Sehnsucht der Eltern nach dem verlorenen Liebling, und wieder die Furcht vor dem Tode, zur Bildung und Vorstellungen über das Leben im Jenseits g e f ü h r t haben mag. Die Einheit liegt hier also wieder nicht in den seelischen Vorgängen selbst, sondern in der Zusammenfassung vieler verschiedenartiger Vorgänge u n t e r einem Begriff, dessen Inhalt sich mit ihrem Wesen nicht deckt. Derselbe Gesichtspunkt läßt sich an dem Beispiel des Totemismus belegen, der uns bereits in anderer Richtung zur E r l ä u t e r u n g unseres Problems gedient h a t . Der Totemismus ist eine Gesellschaftsform, in der b e s t i m m t e Unterabteilungen eines Volkes oder Stammes sich dadurch von anderen unterscheiden, d a ß sie in Beziehung zu bes t i m m t e n Klassen und Gegenständen, am häufigsten wohl zu b e s t i m m t e n Tierarten gesetzt werden. Formell sind diese Beziehungen f ü r alle Unterabteilungen des Volkes gleich, inhaltlich verschieden. Bei Besprechungen totemistischer Erscheinungen müssen alle Formen, die unter die eben gegebenen Definitionen fallen, berücksichtigt werden, und finden sich auch in allen eingehenden Schriften über den Totemismus behandelt. Daher bilden die Erscheinungsformen des Totemismus keine psychologische Einheit. W a s sie zu einer solchen macht, sind Sitten, Vorrechte und Ideen, die auf eine gesellschaftliche Gruppe in dem staatlichen Verbände beschränkt sind, und eine einheitliche Fragestellung k a n n daher n u r darauf gerichtet sein, zu erklären, wie ein solches Auseinandergehen von Teilen 11*

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VIII. Der entwicklungsgeschichtliche

Standpunkt.

einer gesellschaftlichen Einheit zu verstehen ist. Die besonderen, auf Gesellschaftsgruppen beschränkten Erscheinungen können dabei psychologisch ganz verschiedenen Gebieten angehören. Dieses ist bei dem Totemismus, wie wir ihn hier definiert haben, in ganz auffallendem Maße der Fall. Die Gesellschaftsgruppe hält sich manchmal f ü r Nachkommen einer Tierart, deren Schutz ihren Mitgliedern zuteil wird; in anderen Fällen mag ein Tier oder ein anderes W e s e n , selbst ein lebloser G e g e n s t a n d , einem Ahnen der Gruppe erschienen sein, ihm seinen Schutz zugesagt haben, und die F r e u n d s c h a f t mit dem Beschützer wurde d a n n auf die N a c h k o m m e n v e r e r b t . In wieder anderen Fällen k a n n die Unterabteilung des Stammes es in ihrer Macht haben, durch magische Mittel mit Leichtigkeit eine b e s t i m m t e T i e r a r t zu erlegen, oder die Zahl einer b e s t i m m t e n Art von J a g d t i e r e n zu vermehren. Sodann wieder kann d a s Wesentliche der totemischen Erscheinung darauf beruhen, d a ß gewisse Tiere bei der Namengebung und den künstlerischen Darstellungen oder d e m Körperschmucke eines Teiles des S t a m m e s ausschließlich im Gebrauche sind, oder d a ß gewisse Handlungen und der Gebrauch bestimmter Tiere den Angehörigen eines „ T o t e m s " verboten sind. Man sieht, d a ß die Erscheinungen, die so unter dem Namen des T o t e m i s m u s z u s a m m e n g e f a ß t werden, ihre Einheit nur der Definition v e r d a n k e n , d a ß aber die psychologischen Quellen, die in den einzelnen Erscheinungsformen zum Ausdruck kommen, ganz verschiedenartig sind, und d a ß d a h e r auch keine, alle diese Formen deckende Entwicklungsrichtung und keine alle umfassende psychologischen Gesetze a u f f i n d b a r sind. Diese wenigen Beispiele mögen genügen, u m nachzuweisen, d a ß der Begriff der Einheitlichkeit eines ethnischen Problems nicht in einer aus der äußeren Erscheinungsform abgeleiteten Definition g e f u n d e n werden k a n n , sondern d a ß der prinzipielle Vergleichspunkt in der Gleichartigkeit der zu betrachtenden geistigen Vorgänge liegt. J e einfacher aber die verglichenen Erscheinungen sind, und einen je größeren R a u m sie im Volksleben einnehmen, desto seltener werden sie natürliche Einheiten darstellen, vielmehr meistens

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aus verschiedenartigen Vorgängen zusammengesetzt sein, die nach äußeren Ähnlichkeiten geordnet, als einheitliche Gruppen erscheinen. Diese Betrachtungen könnten vielleicht den Eindruck hervorrufen, als ob ich eine wirkliche Konvergenz ethnischer Erscheinungen ganz leugnen wollte. Dieses ist jedoch durchaus nicht der Fall. Wirkliche Konvergenzen finden sich zunächst im Geistesleben eines jeden Volkes, dessen Denken und Fühlen immer in ganz b e s t i m m t e n Bahnen dahinfließt. Wir werden die Wichtigkeit dieser Bahnen noch eingehender würdigen. Hier ist f ü r uns nur die Bemerkung wichtig, d a ß eine Sitte irgendwelchen historischen Ursprungs durch die schematische Tätigkeit des Volksgeistes anderen analogen Sitten angeglichen wird. Werden also T a b u s auf b e s t i m m t e religiöse Vorstellungen zurückgeführt, so haben auch alle Verbote die Tendenz, die gleiche Form anzunehmen, gleichgültig welchen Quellen sie entsprungen sein mögen. Die ausgleichende K r a f t dieses Schematismus im Denken und Fühlen ist so groß, d a ß hier wirkliche Angleichungen s t a t t f i n d e n . Schematische Denkformen aber, die einen wichtigen Bestandteil der K u l t u r ausmachen, verbreiten sich oft über ausgedehnte Gebiete. Wir brauchen nicht notwendigerweise anzunehmen, d a ß sie in getrennten Gebieten unabhängig entstehen. Für unseren augenblicklichen Zweck ist es genügend zu wissen, d a ß sie o f t weite Verbreitung erlangen und somit ihren ausgleichenden Einfluß über die verschiedenartigsten Kulturelemente ausüben müssen. Es ergibt sich so ein außerordentlich schwer wiegender Einwand gegen die Annahme einer einzigen, allgemeinen Richtung der Kulturentwicklung bei allen Menschenrassen. Einerseits sehen wir, d a ß die scheinbare Gleichheit der bei verschiedenen Völkern beobachteten Erscheinungen nur der Ausdruck davon ist, d a ß verschiedene Erscheinungen nach äußeren Merkmalen klassifikatorisch zusammengestellt sind, ohne d a ß dieses eine innere genetische Zusammengehörigkeit in sich zu schließen b r a u c h t ; andererseits h a t sich gezeigt, d a ß eine wirkliche Ähnlichkeit sich sekundär herausbilden kann, obwohl der Entwicklungsgang ungleich ge-

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V I I I . Der entwicklungsgeschichtliche

Standpunkt.

wesen sein mag. Um daher Formähnlichkeiten richtig zu deuten, müssen wir nicht die Erscheinungen, sondern ihre Entwicklungsgeschichte vergleichen; und nur wenn diese in den Einzelgebieten gleich ist, dürfen wir auch die Erscheinungen einander gleichsetzen. Von diesem Gesichtspunkt aus gewinnen die Vorgänge des Wanderns und der Aufnahme von Kulturgütern eine erhöhte Bedeutung (s. S. 135). Noch auf andere Weise macht sich die Neigung geltend, die auf bestimmten Prinzipien begründete Klassifikation der Kulturerscheinungen ohne genügende Berechtigung historisch zu deuten. Man kann naturgemäß die Kulturphänomene ihrer Ähnlichkeit nach in bestimmten Reihen ordnen, und immer das einfache und leicht verständliche an den Anfang, das komplizierte und schwer verständliche ans Ende setzen. Deutet man diese Anordnung als eine chronologische Reihe, so ergibt sich sofort eine Entwicklung die von einfachen Kulturformen zu komplizierten f ü h r t . Diese Umdeutung einer logischen Reihe in eine chronologische ist aber nicht ohne weiteres zu rechtfertigen. Es läßt sich nämlich zeigen, daß die Kultur keineswegs immer vom Einfachen zum Verwickelten fortschreitet, sondern daß zwei Richtungen sich vielfach durchkreuzen, die eine vom Verwickelten zum Einfachen, die andere vom Einfachen zum Verwickelten führend. Es ist handgreiflich, daß die Geschichte der industriellen Entwicklung fast durchweg zunehmende Verwickelung aufweist. Andererseits bewegen sich Tätigkeiten, die nicht auf Vernunfthandlungen beruhen, durchaus nicht in den gleichen Bahnen. Dieses läßt sich vielleicht am besten am Beispiel der Sprache klar machen, die in so vielen Beziehungen eines der wichtigsten Hilfsmittel zur Erforschung der menschlichen Geschichte ist. Im großen und ganzen sind die Sprachen kulturarmer Völker von verwickeltem Bau. Feine Bedeutungsunterschiede werden durch grammatische Formen ausgedrückt, und die grammatischen Kategorien des Lateinischen und noch mehr die der modernen europäischen Sprachen, erscheinen plump im Vergleich zu dem Reichtum und der Feinheit psychologischer und logischer Formen,

VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

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die in den Sprachen der k u l t u r a r m e n Völker unterschieden werden, die wir aber ganz vernachlässigen. Im allgemeinen scheinen sich diese Feinheiten im Laufe der Entwicklung der Sprache zu verlieren. Man darf also sagen, d a ß in der Sprache vielfach die verwickelte Form den f r ü h e r e n Zus t a n d darstellt, die einfache d a s Endresultat der Entwicklung, obwohl eine Bewegung in umgekehrter Richtung durchaus nicht ausgeschlossen ist. Ähnliches läßt sich in bezug auf die K u n s t der K u l t u r a r m e n nachweisen. In der Musik sowohl, wie bei der Zierk u n s t finden wir verwickelte rhythmische S t r u k t u r , der die moderne Volkskunst nichts zur Seite zu stellen h a t . In der Musik besonders ist diese Kompliziertheit so groß, d a ß ihre N a c h a h m u n g die K u n s t eines vollendeten Virtuosen verlangt ( S t u m p f ) . Wir können auch auf die frühere Darstellung der Theorie der Entwicklung der Zierkunst hinweisen, die eine ähnliche Gedankenreihe voraussetzt (S. 145 Anm.). In keinem dieser Fälle ist auch nur der Versuch gem a c h t zu beweisen, d a ß das Einfachere älter ist als d a s Verwickelte. Nahe v e r w a n d t ist die A n n a h m e , d a ß eine rein logische Reihe von Schlußfolgerungen, bei denen die nächste i m m e r auf der vorhergehenden b e r u h t , und die im einzelnen durch Ideen oder Gebräuche k u l t u r a r m e r Völker belegt werden k ö n n e n , als eine chronologische Entwickelungsreihe gedeutet werden dürfe, ohne d a ß es nötig wäre, den Beweis d a f ü r zu erbringen. Hieraus ergibt sich die Theorie der Entwicklung religiöser Anschauungen, wie wir sie vorher kurz geschildert haben (S. 146), und die der Entwicklung mythologischer Ideen. In Wirklichkeit d ü r f t e auch hier die Geschichte ganz andere Bahnen eingeschlagen haben. Vor allem ist leicht einzusehen, d a ß die W o r t e , welche die Seele, die übernatürlichen K r ä f t e , die Sünde bezeichnen, längst existierten, ehe der klare Begriff, der ihnen auf f r ü h e n K u l t u r s t u f e n entsprach, dem Volke z u m Bewußtsein k a m . Man darf vielleicht vergleichsweise unser eigenes Verhalten unklaren Begriffen gegenüber, die wir sprachlich ausdrücken, heranziehen. Worte wie „ L e b e n " ,

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VIII. Der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt.

„ K r a f t " oder selbst „ K u n s t " oder „ R e l i g i o n " haben nur f ü r die Wenigsten u n t e r uns einen klaren Inhalt, obwohl die Vielheit der E r f a h r u n g e n , die u n t e r jedem dieser Begriffe subsumiert werden, wohl b e k a n n t ist. Die Definition des W o r t e s gibt uns aber keinen Aufschluß über seine historische E n t s t e h u n g . Sie zeigt nur ein psychologisches Verhalten a n , d a ß eben eine b e s t i m m t e Gruppe von Erfahrungen u n t e r e i n e m Ausdruck als eine Einheit zusammenfaßt. Daher ist auch aus dem gleichzeitigen Vorkommen der W o r t e und ihrer durch retrospektives Denken klar gewordener Bedeutung kein Beweis f ü r die Reihenfolge ihrer E n t s t e h u n g zu ziehen. W e n n man so einmal e r k a n n t h a t , d a ß weder Einfachheit noch Präzedenz in einem Gedankengange immer der Beweis eines hohen Alters ist, so sieht man ein, d a ß auch von diesem Gesichtspunkte aus die Theorie einer gleichförmigen Kulturentwicklung auf einem logischen Irrtume beruht, denn die Auffassung der nach ihrer größeren oder geringeren Einfachheit oder logischen Folge geordneten Serie darf nicht ohne weiteres als eine historische Reihenfolge gedeutet werden. So sind wir zu dem Schlüsse gelangt, d a ß die A n n a h m e einer gleichartigen Entwicklung der K u l t u r bei allen Rassen und bei allen Stammesgruppen nur in sehr b e s c h r ä n k t e m Maße Gültigkeit beanspruchen darf. Die Annahme, d a ß die gleichen Formen sich im Laufe der Geschichte im gegebenen Augenblicke bei jeder Gesellschaftseinheit u n a b hängig von den anderen einstellen, kann k a u m a u f r e c h t erhalten werden. Die Frage von der wir ausgegangen, ob nämlich die verschiedenen Völker sich so entwickelt haben, daß f ü r alle ein gemeingültiges Schema der Kulturentwicklung besteht, m u ß also verneint werden.

I X . D a s G e i s t e s l e b e n der K u l t u r a r m e n u. der K u l t u r f o r t s c h r i t t .

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IX. Das Geistesleben der Kulturarmen und der Kulturfortschritt. Obwohl wir den Gedanken, d a ß überall eine ganz gleichartige Kulturentwicklung zu suchen sei, ablehnen, ist doch nicht zu verkennen, d a ß eine Gleichordnung aller K u l t u r formen widersinnig sein würde, d a ß wir vielmehr klar und deutlich den Begriff des K u l t u r f o r t s c h r i t t e s in uns tragen. Wir müssen uns daher auch d a r ü b e r klar werden, woran wir den K u l t u r f o r t s c h r i t t erkennen, und nach welchen Merkmalen wir den K u l t u r r e i c h t u m oder die K u l t u r a r m u t bes t i m m e n . Hieraus ergibt sich die weitere Frage, wie sich das Geistesleben der Völker auf verschiedenen K u l t u r s t u f e n gestaltet. Es könnte scheinen, als ob die beiden Ausdrücke K u l t u r a r m u t und K u l t u r r e i c h t u m allein schon unsere erste Frage beantworteten. K u l t u r a r m u t besteht eben darin, d a ß die Errungenschaften mit verhältnismäßig wenigen W o r t e n zu kennzeichnen sind, d a ß die Erfindungen, das gesellschaftliche Leben, das intellektuelle und das Gefühlsleben alle armselig sind. Die Antwort wäre also leicht genug, wenn eine enge Beziehung zwischen all diesen Erscheinungen des Völkerlebens bestände. Hier machen sich aber sofort Schwierigkeiten geltend. Es gibt Völker, wie z. B. die Australier, deren materielles Leben arm genug ist, die aber eine höchst verwickelte Gesellschaftsordnung h a b e n . Sodann gibt es andere, die nach künstlerischer und technischer Seite recht viel leisten, sonst aber keine besondere Entwicklung aufweisen, wie etwa manche kalifornische Indianer. Ferner aber stört uns auch bei Anwendung dieses Maßes die Verschiedenartigkeit großer Volksmassen, die bei der Kulturentwicklung eintritt. So ist noch heute bei uns der Unterschied zwischen der armen Landbevölkerung und mehr noch der neue Unterschied zwischen dem Proletariat und den K u l t u r t r ä g e r n im engeren Sinne ungeheuer groß. Größere K u l t u r a r m u t als in manchen Schichten unserer Bevölkerung gibt es nirgends. Nur sind diese Volks-

170 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt.

schichten keine unabhängigen Einheiten, wie die kultura r m e n S t ä m m e , denn sie gebrauchen die von ihnen nicht geschaffenen Kulturwerte des Gesamtvolkes. Dieser scheinbare Gegensatz zwischen der Selbständigkeit k u l t u r a r m e r S t ä m m e und der Unselbständigkeit von Volksschichten stellt aber n u r die Extreme einer Entwicklung dar, die sich öfters findet. Unsere Besprechung der allmählichen Verbreitung von Kulturerrungenschaften hat uns schon gezeigt, daß kein Volk nur auf seinen eigenen Füßen s t e h t , sondern d a ß es Empfindungen und Ideen von seinem Nachb a r n a u f n i m m t und weiter verarbeitet. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Leistungen der Nachbarvölker nicht verarbeitet werden, sondern n u r als fertige P r o d u k t e Aufn a h m e finden, so d a ß sich eine ökonomische oder wohl auch eine geistige Unselbständigkeit des Stammes entwickelt. Beispiele dieser Abhängigkeit sind besonders in Indien zu finden. So müssen wir das Jägervolk der W e d d a h in Ceylon gewiß als einen S t a m m ¡auffassen; und doch beruhen die Beschäftigungen dieses Stammes d a r a u f , d a ß sie eiserne W a f f e n von ihren geschickteren Nachbarn beziehen können, und doch ist ihre Sprache und vieles in ihrer Religion erborgtes Gut. Noch klarer ist die ökonomische Abhängigkeit der Todas, eines Hirtenstammes, der sich n u r der Pflege der Herden widmet und so gut wie alles andere, das in seinem Leben wichtig ist, von dem Nachb a r n beziehen m u ß . In anderer Weise findet sich diese Abhängigkeit, wenigstens zeitweise, in kriegerischen R a u b s t a a t e n , welche die Herrschaft über andere Stämme an sich reißen, wie es wohl in Afrika geschieht, in schwächerem Maße aber überall, wo es ausgedehnten Austausch von Landesprodukten gibt. So zeigt es sich, daß der Gegensatz zwischen der Selbständigkeit des Stammes und der Unselbständigkeit der Volksschichten nicht ohne Zwischenglieder ist. Bei einer Bestimmung der Merkmale der K u l t u r a r m u t sind hiernach drei Fragen zu b e a n t w o r t e n ; die erste: wie ä u ß e r t sich die K u l t u r a r m u t in den einzelnen Betätigungsgebieten des Geistes? die zweite: wie stehen die Anzeichen der K u l t u r a r m u t in den verschiedenen Geistesgebieten

IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. 171 u n t e r e i n a n d e r in Z u s a m m e n h a n g ? die d r i t t e : k a n n d a s ganze Volk seinem K u l t u r r e i c h t u m n a c h als eine E i n h e i t aufgefaßt werden? Am einfachsten liegt wohl d e r Fall bei den Erzeugnissen der materiellen K u l t u r , d a hier jede neue technische E r f i n d u n g einen Z u w a c h s zu f r ü h e r e m Besitze, also g r ö ß e r e n R e i c h t u m b e d e u t e t . Die Fälle sind j a selten, in d e n e n eine neue, v o m Volke selbst t ä t i g a u f g e n o m m e n e E r f i n d u n g eine alte wertvolle T e c h n i k t ö t e t , wie e t w a die Metalltechnik die S t e i n t e c h n i k g e t ö t e t h a t ; u n d diese d ü r f t e n wohl immer auf den E r s a t z v o n e t w a s U n v o l l k o m m e n e m d u r c h ein Vollkommeneres b e r u h e n . So w ü r d e es hier n i c h t schwer sein, die Menschheit nach g r ö ß e r e m o d e r geringerem Reicht u m a n z u o r d n e n , w e n n die E r f i n d u n g e n gleichmäßig verteilt w ä r e n . D a sich a b e r große U n r e g e l m ä ß i g k e i t e n f i n d e n , so bietet schon dieses Gebiet Schwierigkeiten. Sollen wir ein Volk, das H e r d e n zieht, h ö h e r stellen, als ein anderes, d a s Anfänge des A c k e r b a u s b e s i t z t ? Sollen wir die a r m e n Völker des Ochotskischen Meeres h ö h e r stellen, als die künstlerischen N o r d w e s t a m e r i k a n e r , n u r weil sie die Töpferei kennen, die jenen u n b e k a n n t i s t ? Sollen wir einen d e r ä r m e r e n N e g e r s t ä m m e , d e r die S c h m i e d e k u n s t v e r s t e h t , über die A l t m e x i k a n e r stellen, die n i c h t s v o n dieser K u n s t w u ß t e n ? Eine solche s t a r r e , absolute W e r t u n g w i d e r s p r i c h t unserem Gefühle wie u n s e r e m Urteil. W i r h a b e n s c h o n gesehen, d a ß sie keine Zeitfolge d a r s t e l l t , u n d sie e n t spricht auch n i c h t den Prinzipien, n a c h denen wir K u l t u r e n bewerten. O f f e n b a r spielen d a n i c h t die E r f i n d u n g e n als solche die höchste Rolle, s o n d e r n wir b e w e r t e n eine K u l t u r u m so höher, je geringer der K r a f t a u f w a n d ist mit d e m der Mensch seine leiblichen B e d ü r f n i s s e befriedigt, u n d je g r ö ß e r die technischen Leistungen, die n i c h t der Befriedigung d e r u n umgänglichen leiblichen B e d ü r f n i s s e d i e n e n . Die t e c h n i s c h e Seite der K u l t u r d e r m o d e r n e n östlichen Eskimos, t r o t z ihrer u n v e r k e n n b a r e n technischen Geschicklichkeit u n d i h r e r merkwürdigen E r f i n d u n g s g a b e , b e w e r t e n wir n i c h t h o c h , weil der größte Teil d e r Energie des Volkes zur B e f r i e d i g u n g der d r i n g e n d s t e n B e d ü r f n i s s e des täglichen Lebens a u f -

172 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt.

g e w a n d t wird, und die spielende Technik nur einen ganz geringen R a u m einnimmt. Aus diesem Grunde ist der Technik der Eskimos eine gewisse Einseitigkeit eigen. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den B u s c h m ä n n e r n , W e d d a h s und Australiern. Ein wenig höher zu bewerten scheint mir die technische K u l t u r der Kalifornier, die relativ weniger Energie zur E r w e r b u n g des Unterhalts bedürfen, aber ihre spielende Technik nur in sehr einseitiger Richtung entwickelt haben. J e vielseitiger die spielende Technik wird, welche die Annehmlichkeiten des Lebens s c h a f f t , um so höher bewerten wir die K u l t u r . Wo Spinnerei, Korbflechterei, Weberei, Schnitzerei, kunstreiche Steinarbeit, Architektur, Töpferei, Metallarbeit einsetzen, da k a n n kein Zweifel d a r ü b e r sein, d a ß sich bedeutender technischer K u l t u r r e i c h t u m entwickelt h a t , und je größer die Verschiedenartigkeit der Technik, u m so reicher erscheint uns die K u l t u r . Dabei scheint es nicht von grundlegender Bedeutung, worauf der Lebensunterhalt des Volkes sich g r ü n d e t . Nun aber gibt die N a t u r allein nur selten die Freiheit, die spielende Technik zu entwickeln; d e n n sie ist nicht verschwenderisch mit ihren Gaben. Keine Vervollkommnung der Technik setzt den J ä g e r in den Stand, leicht den Lebensu n t e r h a l t f ü r sich und die seinen zu gewinnen; und wo infolge der Unbilden des Klimas und der Seltenheit oder Unzugänglichkeit des Wildes seine ganze, ungeteilte Aufmerksamkeit der N o t d u r f t des Lebens zugewendet werden m u ß , da gibt es auch nur technische K u l t u r a r m u t . Nur wo N a h r u n g reichlich und leicht zu erwerben ist, gibt es technischen K u l t u r r e i c h t u m . Die Pflanzenwelt bietet solchen Reichtum stellenweise in den Tropen, die Tierwelt dort, wo das Meer gewaltige Fischmengen beherbergt. In solchen Fällen k a n n die K u n s t , Nahrungsmittel aufzuspeichern, dem Menschen Freiheit f ü r die spielende Technik schaffen. Sonst gibt es Fülle der N a h r u n g nur, wo der Mensch künstlich seine Nahrungsquellen v e r m e h r t , durch Viehzucht oder durch Ackerbau, u n d darin liegt der Grund f ü r die Verbindung zwischen diesen K ü n s t e n und dem allgemeinen Kulturfortschritt. Noch ein anderes Moment tritt hinzu. Wir dürfen wohl

IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. 173 a n n e h m e n , d a ß die wichtigsten f r ü h e r e n Fortschritte des Menschen nicht auf bewußtem, planmäßigen Denken und Handeln beruhen, sondern d a ß sich die Tätigkeiten allmählich bereicherten und d a n n die Neuerungen als Erfindungen ins Bewußtsein t r a t e n . Es ist aber d a r u m nicht weniger wahr, daß diese Arbeit von Individuen geleistet wurde, und d a ß Neuerwerbungen d a h e r um so wahrscheinlicher wurden und sich um so rascher einstellten, je mehr Hierin liegt Menschen sich an der Tätigkeit beteiligten. eine H a u p t u r s a c h e der beschleunigten Kulturentwicklung bei großen, gemeinsam arbeitenden Volksmassen. N u n ist die Volksvermehrung bei Jägervölkern infolge der Kargheit der N a t u r immer eng begrenzt. Nur wo großer Nahrungsreichtum herrscht, k a n n die Vermehrung bes t i m m t e , eng gezogene Schranken überschreiten. Der Fischf a n g k a n n an einigen Orten in b e s t i m m t e m Maße diese Bedingungen erfüllen, die Viehzucht k a n n die Hilfsquellen vermehren, aber eine große, zusammenhängende und zusammenarbeitende Bevölkerung wird nur durch den Ackerbau ermöglicht. D a r u m ist der Ackerbau die Grundlage des höheren technischen Kulturfortschrittes. W e n n wir diese Gesichtspunkte als maßgebend f ü r die technische Seite des Kulturfortschrittes annehmen, so ergeben sich sofort zwei weitere Folgerungen. Offenbar liegen nämlich bei der rein intellektuellen Arbeit eines Volkes die Verhältnisse ganz ähnlich. Sie k a n n erst da einsetzen, wo das Volk sich über die dringenden Bedürfnisse des täglichen Lebens erheben k a n n ; und auch hier werden wir den K u l t u r r e i c h t u m um so höher anschlagen, je ausgiebiger das Volk die Möglichkeit zu intellektueller Betätigung gewinnt und je intensiver es sie a u s n u t z t . Die intellektuelle Tätigkeit äußert sich wohl schon zum Teil in der T e c h n i k , mehr aber noch in dem retrospektiven gedanklichen S p i e l mit der inneren und äußeren Lebenserfahrung. Nun können wir auch in dieser Beziehung ein objektives Maß des intellektuellen Kulturreichtums feststellen, denn wir erkennen, d a ß die fortschreitende geistige Verarbeitung des Erfahrungsschatzes gemäß logischer Denkformen einen beständigen Zuwachs an Wissen bedeutet. Auch hier muß der Fort-

174 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt.

s c h r i t t u m so rascher sein, je mehr Individuen sich intensiv an der intellektuellen Arbeit beteiligen können. Besonders wichtig ist es, zu beherzigen, d a ß die intellektuelle Arbeit notgedrungen zu einer fortschreitenden Ausmerzung von I r r t ü m e r n f ü h r t , und d a ß jede neue A n n ä h e r u n g an die W a h r h e i t eine Bereicherung des Kulturbesitzes ist, so d a ß das Wissen als Maß des intellektuellen K u l t u r r e i c h t u m s erscheint. Ein zweites Element der K u l t u r h ä n g t von der E n t wicklung der s p i e l e n d e n T e c h n i k ab. Wir haben schon f r ü h e r gesehen, welche Wichtigkeit diese f ü r die K u n s t entwicklung h a t , d a ß , wo sie fehlt, es auch keine K u n s t gibt. Wir dürfen d a r a u s schließen, d a ß dieselben Bedingungen, die den technischen K u l t u r r e i c h t u m fördern, f ü r die künstlerische Betätigung von B e d e u t u n g sein müssen, und d a ß mit der Vielseitigkeit der Technik die Mannigfaltigkeit der K u n s t wachsen wird. Ehe wir andere Gebiete der geistigen Tätigkeit in unsere U n t e r s u c h u n g hineinziehen, dürfen wir demnach zusammenfassend sagen, d a ß in der Technik, dem intellektuellen Leben und der Zierkunst ganz b e s t i m m t e objektive Grundlagen f ü r eine Beurteilung von Kulturwerten vorliegen, und d a ß offenbar der Fortschritt in diesen drei Richtungen in recht engen Wechselbeziehungen steht, d a alle von ähnlichen Momenten abhängen. Hier wollen wir zunächst auch noch die oben aufgeworfene Frage berühren, inwieweit der Kulturbesitz eines Volkes allen Volkskreisen angehört. Es ist eine Eigentümlichkeit der K u l t u r a r m u t , die aufs engste mit dem Vorhergesagten z u s a m m e n h ä n g t , d a ß , so lange die tägliche N a h r u n g den Inhalt des täglichen Tuns, Denkens und Fühlens a u s m a c h t und eine Differenzierung im Nahrungserwerb sich noch nicht entwickelt h a t , eine Gleichartigkeit der Lebensgewohnheiten herrschen m u ß , die u m so größer sein wird, je einseitiger der Nahrungserwerb ist. Die Eskimos müssen J a h r aus J a h r ein im W i n t e r Seetiere, im Sommer Landtiere jagen, und daher sind die Gedanken a l l e r Individuen notgedrungen auf dieselbe Beschäftigung gerichtet. Nicht als ob solche

I X . Das Geistesleben der K u l t u r a r m e n u. der K u l t u r f o r t s c h r i t t .

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absolute Gleichheit von der L a n d e s n a t u r erzwungen wäre, d e n n selbst bei einfachen Verhältnissen ist eine Arbeitsteilung denkbar. So haben die Tschuktschen, die in gleichen klimatischen Verhältnissen leben wie die Eskimos, eine recht scharfe Scheidung von Renntierzucht treibenden Gruppen und Seetiere jagenden G r u p p e n , die in gewisser ökonomischer Abhängigkeit voneinander stehen, entwickelt; und so verfolgt wohl bei manchen Jägervölkern der eine mit Vorliebe eine Tierart, der andere eine andere. Die Lebensweise ist aber der Bildung scharf individualisierter Gruppen nicht günstig. Nur e i n e Scheidung entwickelt sich auch hier wohl überall: der M a n n ist J ä g e r und Fischer, die Frau sammelt Pflanzenkost u n d leicht erreichbare Tiere, erledigt die Hausarbeit und t r ä g t Sorge f ü r die jungen Kinder. In diesen beiden Richtungen spielt sich aber wesentlich das ganze Leben ab, so lange zu spielender technischer Betätigung keine Zeit da ist. Setzt diese aber einmal ein, so entwickelt sich auch rasch eine Differenzierung der Tätigkeit nach Anlage und Neigung. D a n n h a b e n wir Schnitzer, K o r b m a c h e r , Weber und Töpfer, die vielleicht nicht ausschließlich sich diesen K ü n s t e n w i d m e n , aber doch mehr oder weniger b e s t i m m t zu einer oder der anderen Tätigkeit hinneigen. Dann haben wir auch Denker und Dichter, denn geistiges Spiel ü b t auch schon f r ü h seine Anziehung aus; ja wahrscheinlich schon eher als die spielende Technik, denn wenn die J a g d und die häusliche Beschäftigung auch keine Zeit zu dieser läßt, so d ü r f t e doch dem wartenden und w a n d e r n d e n Jäger, oder der sammelnden H a u s m u t t e r Gelegenheit und Muße zum Spiele der P h a n t a s i e und zum grübelnden Denken gegeben sein. Wie außerordentlich wichtig f ü r die Kulturentwicklung es ist, wenn ein Teil des Volkes seine spielende Technik einseitig vervollkommnet, kann man so recht an der Verteilung der schöpferischen Begabung beim K u n s t handwerk sehen. Wo die höchste Kunstfertigkeit vom Manne in einer Technik, der nur er obliegt, erreicht wird, da ist er auch der schöpferische Künstler. So ist die Malerei und Schnitzerei an der Nordwestküste Amerikas eine Männer-

176 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. k u n s t ; und so ist die schöne Töpferei der Puebloindianer und die Korbflechterei der Kalifornier eine F r a u e n k u n s t . Die Technik beherrscht das Kunstleben so sehr, d a ß an der N o r d w e s t k ü s t e die Frau phantasielos und kraftlos erscheint, d e n n sie kann beim Weben u n d Sticken nur dem Manne nachahmen. Aber ebenso erscheint der Mann in Kalifornien und bei den Puebloindianern a r m an künstlerischer Begabung in Vergleich zu den vom Weibe geschaffenen W u n d e r w e r k e n , denn er h a t keinerlei besonders vollendete Technik entwickelt. Wo aber beide, Mann u n d Frau jede eine Technik zu besonderer Vollendung erheben, da k a n n sich eine Verschiedenheit des Kunststils ergeben, wie wir etwa bei den Tlingit in Alaska finden, bei denen k u n s t reiche Korbflechterei mit ausgesprochenem, geradlinig geometrischen Kunststil von den Frauen betrieben wird, während die Männerkunst sich in eigentümlich stilisierten rundlinigen Tierfiguren ergeht. Wir wollen uns hier d a m i t begnügen, auf die fortschreitende Differenzierung der Tätigkeiten a u f m e r k s a m gemacht zu haben, die n a t u r g e m ä ß eine Bereicherung des materiellen und intellektuellen K u l t u r besitzes b e d e u t e t . Sie k a n n andrerseits freilich auch eine solche Einseitigkeit der Beschäftigung b e s t i m m t e r Volksschichten mit sich bringen, d a ß , allein b e t r a c h t e t , die einzelnen Volksschichten ärmer an K u l t u r g u t s i n d , als die Ges a m t m a s s e eines Volkes, das weniger s t a r k differenzierte Tätigkeiten entwickelt h a t . Besonders t r i t t dieses in den Fällen ein, wo ganze Bevölkerungsschichten im Laufe der ökonomischen Entwicklung wieder in die Stellung g e d r ä n g t werden, d a ß ihre ganze Energie f ü r ihres Lebens N o t d u r f t verlangt wird, wie das in unserer modernen Zivilisation der Fall ist. W e n n auch u n t e r solchen Fällen die geistige Prod u k t i v i t ä t des ganzen Gemeinwesens hoch stehen mag, so wird doch f ü r die psychologische Bewertung, die sich mit der Geistestätigkeit des Volkes in allen seinen Teilen beschäftigt, die K u l t u r a r m u t breiter Volksschichten schwer ins Gewicht fallen. H a t t e n wir hier mit Kulturerscheinungen zu t u n , bei denen sich ein Mehr oder Weniger f a s t von selbst ergibt,

I X . D a s Geistesleben der K u l t u r a r m e n u. der K u l t u r f o r t s c h r i t t .

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so gibt es andere, bei denen die Frage nach dem, was K u l t u r a r m u t ist, sich nicht so leicht beantworten läßt. Ich deutete schon an, d a ß das bloße Wissen den intellektuellen K u l t u r r e i c h t u m nicht ausmacht, sondern, d a ß noch mehr die Art der Koordinierung des Wissens unser Urteil bestimmt. Die intellektuelle Koordinierung der Erfahrung, die ethischen Begriffe, die künstlerische Form, das religiöse Empfinden sind aber Dinge von so subjektivem Charakter, d a ß von einem inhaltlichen Zuwachs an K u l t u r g u t in diesen Richtungen nicht so schlechthin geredet werden kann. Daher müssen wir hier zunächst die Formen des Denkens und Fühlens bei Völkern verschiedener K u l t u r t y p e n näher ins Auge fassen. J e weiter wir hierbei in der Geschichte der Entwicklung der Ideen zurückgehen können, um so klarer wird unser Verständnis der Vorgänge werden, die der K u l t u r f o r t s c h r i t t mit sich bringt. Es ist wichtig, d a ß wir uns darüber klar sind, bis in welche Zeiten wir ein Geistesleben des Menschen, das dem unseren gleicht, zurückverlegen dürfen. Hierf ü r gibt es nur zwei Anhaltspunkte, die uns brauchbares Material geben: die Prähistorie und die Sprache. In Ägypten und Westasien können wir hochentwickelte K u l t u r f o r m e n 7000 J a h r e zurück verfolgen. Die prähistorischen Funde lehren aber, daß in jenen Gebieten eine lange Entwicklungsperiode der K u l t u r vorangegangen sein m u ß . Dieses wird durch Funde aus anderen Teilen der Welt bestätigt. Nicht n u r deutet das hohe Alter des Ackerbaues in Europa d a s Vorhandensein von Verhältnissen a n , die denen moderner k u l t u r a r m e r Völker, und durchaus nicht der am niedrigsten stehenden, ähnelten, sondern noch viel weiter zurück müssen wir, am Ende der Eiszeit, in der Madeleine-Kultur, mit ihrer hochentwickelten Industrie und reichen K u n s t e n t f a l tung, Verhältnisse erkennen, die jenen v e r w a n d t sind. Wir werden daher nicht fehlgehen, wenn wir annehmen, d a ß vor 15000—20000 J a h r e n die allgemeinen Geistesanlagen und Geistestätigkeiten des Menschen nicht anders waren als heute. Auch die Vielseitigkeit der Sprachform und die Langsamkeit ihrer Entwicklung zwingt uns zu schließen, daß die Geistestätigkeiten des Menschen, die B o a s , Kultur und Rasse.

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178 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. in der Sprache zum Ausdruck k o m m e n , ein hohes Alter h a b e n müssen. Wegen der Beharrlichkeit der Grundformen der Sprache, f ü h r t sie uns weit in die Urgeschichte des menschlichen Denkens zurück. Es ist aus diesen Gründen vorteilhaft, hier eine kurze Schilderung einiger grundlegender Merkmale der menschlichen Sprache zu geben. In jeder gesprochenen Sprache läßt sich analytisch eine bestimmte und beträchtliche Anzahl von Lauten erkennen, durch deren verschiedenartige Gruppierung der sprachliche Ausdruck zustande k o m m t . Eine beschränkte Anzahl fest b e s t i m m t e r Laute und L a u t g r u p p e n ist f ü r rasches Sprechen unumgänglich nötig. Wäre in irgendeiner Sprache die Zahl der Artikulationsbewegungen, welche die L a u t e bestimmen, unendlich groß, so würde sich vermutlich im Individuum nie die Genauigkeit der Bewegungen herausbilden, welche f ü r die rasche Lautbildung nötig und die ein Kennzeichen aller Sprachen ist. Geschwindigkeit und Genauigkeit der Aussprache, die f ü r eine genaue Gehörsw a h r n e h m u n g und D e u t u n g Bedingung sind, würden d a n n schwierig, vielleicht unmöglich werden. Andererseits bringt eine Beschränkung der Anzahl der Laute, d . h. der Artikulationsbewegungen es mit sich, daß die Bewegungen, die f ü r den Einzellaut wie f ü r Lautgruppen erforderlich s i n d , sich automatisch vollziehen; d a ß die Assoziation zwischen dem gehörten Laut und den lautbildenden Muskelbewegungen sowohl in bezug auf den hervorgebrachten L a u t , als auch in bezug auf die Deutung des gehörten Lautes, sehr fest wird. Es scheint daher, d a ß eine bes c h r ä n k t e Zahl von Lauten f ü r rasches Sprechen und f ü r die Verständigung notwendig ist. 1 1 Die oft ausgesprochene Ansicht, daß mangelnde Schärfe der Lautbildung ein Merkmal niederer Sprachen sei, ist darauf begründet, daß gewisse Laute in den Sprachen der Naturvölker von Europäern manchmal mit e i n e m , manchmal anderen der uns bekannten Laute identifiziert werden. Diese Laute sind Wechsellaute genannt worden ( B r i n t o n ) . Das genauere Studium der Lautlehre hat aber endgültig erwiesen, daß solche Laute genau so stabil sind, wie die Laute europäischer Sprachen. So haben die experimentellen Studien von G o d d a r d nach-

IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. 179 Die Grundlage aller artikulierten Sprache besteht nun darin, daß feste Lautgruppen dazu dienen, b e s t i m m t e Ideen auszudrücken, daß also jede Lautgruppe eine bestimmte B e d e u t u n g hat, und die Sprachen unterscheiden sich nicht nur in bezug auf ihren Lautbestand und die Prinzipien der Lautgruppierung, sondern auch in der Gruppierung v o n Ideen, die durch b e s t i m m t e Lautgruppen ausgedrückt werden. Die Gesamtzahl allermöglichen Lautverbindungen ist so g u t wie unbegrenzt, aber nur eine beschränkte Anzahl wird dazu benutzt Ideen auszudrücken. Hieraus folgt, d a ß die Gesamtzahl der Ideen, die durch b e s t i m m t e Lautgruppen ausgedrückt werden, gleichfalls beschränkt ist. Wir wollen diese Lautgruppen W o r t s t ä m m e nennen. D a die Gesamtsumme der Erfahrungen, die in der Sprache zum Ausdruck kommen, unendlich verschiedenartig ist, und alle durch eine beschränkte Zahl von W o r t s t ä m m e n ausgedrückt werden m ü s s e n , so m u ß offenbar eine umfassende Klassifikation aller Erfahrungen der Sprache zugrunde liegen. Dieses steht mit einer grundlegenden Eigentümlichkeit gewiesen, daß in kalifornischen Sprachen jeder Laut immer durch wesentlich dieselben Bewegungen der Artikulationsorgane hervorgebracht wird, obwohl für das weniger geübte Ohr die Identifikation nicht sicher sein mag. Ähnlich sind die Resultate der in H a m b u r g gemachten Studien über Negersprachen. Oft entspricht aber die Artikulation des Lautes nicht der unserer bekannten Laute, sondern steht zwischen zweien oder mehreren derselben. Beispielsweise klingt fUr uns ein m, das mit sehr schwachem Lippenschluß und langsam sich schließender Nase gesprochen wird, teils nach m , teils nach b und dem englischen w hin; und je nach den kleinen von der Stellung des Lautes bedingten Schwankungen glaubt man manchmal den einen, manchmal den anderen Laut zu hören, ohne daß in Wirklichkeit die Schwankungsbreite größer ist, als die unseres m. In anderen Fällen liegt die Unbestimmtheit des Lautes an uns ungewohnten Kombinationen der Artikulationsbewegungen oder Stellungen. So neigt der Gehörseindruck eines mit offener Nase gesprochenen I stark nach n hin. Derartige Fälle sind sehr häufig, aber sie dürfen nicht als Beweis f ü r einen Mangel an Schärfe der Lautbildung benutzt werden, da sie auf einer ganz anderen Erscheinung, nämlich fehlerhafter Assoziation durch das ungeübte Ohr, beruhen. 12*

180 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. des menschlichen Geistes im Einklang. In unserer täglichen E r f a h r u n g gibt es keine identischen Sinneswahrnehmungen oder Gefühle. Sie sind verschieden je nach ihrer Intensität oder Qualität. Trotzdem werden sie im sprachlichen Ausdrucke nach ihrer Ähnlichkeit zu größeren oder kleineren Gruppen z u s a m m e n g e f a ß t , deren Abgrenzung sich nach den verschiedenartigsten Prinzipien vollzieht. Trotz aller Verschiedenheiten gestaltet sich unsere E r f a h r u n g so, d a ß gewisse gemeinsame Elemente mit besonderer S t ä r k e g e f ü h l t werden, und demnach die E r f a h r u n g e n als v e r w a n d t oder, falls eine genügende Anzahl von Merkmalen ihnen gemein ist, sogar als identisch bezeichnet werden. Die beschränkte Zahl von Lautgruppen, welche zur Wiedergabe verschiedener Ideen gebraucht wird, ist daher ein Ausdruck der psychologischen Tatsache, d a ß viele einzelne und verschiedenartige Erfahrungen uns als Repräsentanten derselben K a t e gorie erscheinen. In gewissem Sinne läßt sich diese Eigentümlichkeit des Denkens und der Sprache mit der Beschränkung der Gesamtzahl der Artikulationsbewegungen vergleichen, die durch Auswahl einer begrenzten Anzahl von gewohnheitsmäßigen Bewegungen hervorgebracht wird. Wenn alle Begriffe und alle ihre Varianten sprachlich durch ganz verschiedenartige, nicht mit einander verwandte Lautgruppen oder W o r t s t ä m m e ausgedrückt würden, entstünde eine Sprache, in der die Beziehungen zwischen nahe v e r w a n d t e n Ideen nicht durch eine entsprechende Ähnlichkeit der Lautsymbole angedeutet würden, und in der eine ungeheuer große Zahl von S t ä m m e n zum Gedankenausdruck erforderlich wäre. In solchem Falle würde die Assoziation zwischen einer Idee und dem sie ausdrückenden W o r t s t a m m e nicht fest genug werden, um irgend wann ohne Nachdenken automatisch v e r f ü g b a r zu sein. Ebenso wie der automatisch schnelle Gebrauch der Artikulation die Bewegungen auf relativ wenige Artikulationen und Artikulationsgruppen beschränkt und unzählige andere, die an sich möglich w a r e n , ausgemerzt h a t , so hat der ständige Gebrauch die unendliche Menge der Ideen durch Klassifikation auf eine geringere Zahl reduziert, die nun automatisch gebraucht werden können.

IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt.

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Das Verhalten der K u l t u r a r m e n zeigt aufs deutlichste, d a ß solche sprachlichen Klassifikationen nie ins Bewußtsein treten, daß ihr Ursprung d a h e r auf keine Weise aus verstandesgemäßer Überlegung, sondern aus gänzlich unbewußten Quellen entspringt. Sie müssen aus einer bestimmten Anordnung der Sinneswahrnehmungen und der Begriffe entstehen, die in keiner Weise willkürlich ist, und in jedem Einzelfalle von anderen psychologischen Bedingungen bestimmt wird. Nun brauchen nicht alle derartigen Klassifikationen zum sprachlichen Ausdruck zu kommen. Es ist vielmehr eine viel allgemeinere Eigentümlichkeit des Geisteslebens, daß alle Einzelerfahrungen ihrer Ähnlichkeit nach in Gruppen geordnet erscheinen, daß es aber wenig gemeinsames in den Gesichtspunkten gibt, nach denen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit bes t i m m t werden. Es ist daher f ü r das Verständnis der Denkprozesse wichtig zu untersuchen, nach welchen Kategorien auf verschiedenen K u l t u r s t u f e n die Erscheinungen zusammengefaßt werden. Unterschiede dieser Art sind schon leicht im Gebiete einfacher Sinneswahrnehmungen zu entdecken. So hat sich ergeben, d a ß die Völker Farben ihrer Ähnlichkeit nach ganz verschieden gruppieren, ohne d a ß diese Verschiedenheit irgendwo auf Unterschieden der Wahrnehmungsempfindlichkeit b e r u h t . Was wir grün und blau nennen, wird oft u n t e r einem Ausdruck vereinigt, wie etwa „gallenfarbig", oder gelb und grün fallen in den Begriff „ J u n g e B l ä t t e r - F a r b e " zusammen. Im Verlaufe der Zeit haben wir allmählich durch neue F a r b e n n a m e n Schattierungen u n t e r schieden, die früher, wie auch heute noch zum Teil im gewöhnlichen Sprachgebrauche zusammengeworfen werden. Die Wichtigkeit der Tatsache, daß diese F a r b e n n a m e n im Sprechen und Denken den Sinneseindruck verschiedener Gruppen von Farben hervorrufen, ist nicht hoch genug anzuschlagen. Bei anderen Sinnen ist die Verschiedenartigkeit der Gruppierung nicht so leicht zum Ausdruck zu bringen, weil die Begriffe selbst verschwommener sind als beim Gesichtssinn; doch brauche ich nur an W o r t e wie „ s ü ß " und „ b i t t e r " zu erinnern, um uns die Verschiedenartigkeit

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der Begriffe vor Augen zu f ü h r e n . Für den einen umschließt d a s W o r t „ s ü ß " den Geschmack ranzigen Öls, f ü r den anderen n u r den starker Zuckerlösungen; der eine n e n n t „ b i t t e r " , was dem anderen angenehmer Wohlgeschmack ist. Hier also ist sowohl die begriffliche wie die gefühlsmäßige Gruppierung gleichartiger Sinnesreize ganz verschieden. Ein anderes Beispiel, das die Verschiedenartigkeit der Klassifikationen klar vor Augen f ü h r t , bieten die Verwandtschaftssysteme. Hier liegt eine solche Fülle verschiedenartigster Auffassungen vor, daß es k a u m möglich ist, den begrifflichen Inhalt einer Verwandtschaftsbezeichnung aus einem System in ein anderes zu übersetzen. So wird bisweilen e i n e Bezeichnung f ü r die Mutter und alle ihre Schwestern geb r a u c h t , oder gar f ü r die Mutter und alle ihre weitläufig verw a n d t e n Kusinen, so weit sie in weiblicher Linie der gleichen Ahnin e n t s t a m m e n ; so kann unser Begriff „ B r u d e r " in einem anderen Systeme durch zwei verschiedene f ü r ältere und jüngere Brüder ersetzt werden; oder „ V e t t e r " n u r die Bezeichnung sein, welche die Söhne eines Mannes auf die Söhne seiner Schwester anwenden. Auch hier ist es wohl klar, d a ß die Gruppierungen nicht absichtlich gebildet sein können, sondern entweder u n b e w u ß t durch die Sitte hervorgerufen sind, oder auch ihrerseits geholfen haben, die sozialen Beziehungen zwischen den Familiengliedern zu bestimmen, und d a ß ihre Bedeutung, wenn ü b e r h a u p t , so doch erst nachträglich ins Bewußtsein t r i t t . Ähnliche Beispiele können aus anderen Gebieten des Sprachschatzes beigebracht werden. So bezeichnen wir „ W a s s e r " je nach der Form, in der es a u f t r i t t , durch ganz verschiedene Ausdrücke. Eine ausgedehnte, stillstehende Wassermasse nennen wir „ S e e " , laufendes Wasser, je nach der Q u a n t i t ä t , „ S t r o m " , „ F l u ß " oder „ B a c h " ; wieder andere N a m e n bezeichnen Wasser als „ R e g e n " , „ T a u " , „ W e l l e " oder „ S c h a u m " . Es ist sehr wohl denkbar, d a ß all diese Begriffe, die auf Deutsch durch von einander unabhängige W o r t e bezeichnet w e r d e n , in einer anderen Sprache als Ableitungen von demselben W o r t s t a m m erscheinen könnten. Ein Beispiel derartiger Verschiedenheiten der Klassifikationsprinzipien geben die Eskimowörter, die

IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. 183 „ S c h n e e " bezeichnen. Ein W o r t b e d e u t e t „liegenden Schnee", ein ganz anderes „fallenden Schnee", ein drittes „Schneet r e i b e n " , ein viertes „ S c h n e e b a n k " . In derselben Sprache wird der Begriff „ S e e h u n d " durch viele verschiedene W o r t e ausgedrückt. Außer der allgemeinen Bezeichnung und den Speziesnamen gibt es Worte, die den „sich sonnenden Seeh u n d " , „den Seehund auf einer Eisscholle" bezeichnen, so noch viele Ausdrücke, die den Seehund je nach Alter und Geschlecht bezeichnen und unseren entsprechenden Ausd r ü c k e n f ü r Rindvieh und Pferd je nach Alter und Geschlecht entsprechen. Als ein Beispiel, d a ß Ideen, die wir durch verschiedene W o r t e bezeichnen, in fremden Sprachen unter e i n e n Begriff gebracht werden, wähle ich einige Verben des Dakota, d a s von den Indianern am oberen Mississippi gesprochen wird. Die Ausdrücke „mit Füßen t r e t e n " , „ z u s a m m e n b i n d e n " , „ b e i ß e n " , „ n a h e sein", „ z e r s t a m p f e n " werden alle von einem gemeinsamen S t a m m e „ g r e i f e n " abgeleitet, der sie zu einer G r u p p e vereint, während wir ganz verschiedenartige S t ä m m e f ü r diese Begriffe benutzen. Es ist wohl klar, d a ß die Auswahl der Ideen, die durch einfache W o r t e bezeichnet werden, von den Interessen eines Volkes a b h ä n g t ; und d a ß ein P h ä n o m e n , das in seinen verschiedenen Phasen f ü r das Leben des Volkes große und verschiedenartige Wichtigkeit h a t , auch verschiedene N a m e n f ü r jede dieser Phasen erhält, während in anderen Fällen ein allgemeiner Ausdruck genügen wird. W a s wir hier an dem Beispiele von konkreten Begriffen und von einigen Tätigkeitsworten erläutert haben, läßt sich auch auf andere Weise aus Beobachtungen belegen, die loser m i t sprachlichen Erscheinungen zusammenhängen. So finden wir m a n c h m a l Begriffe, die wir als Eigenschaften bezeichnen, als unabhängige Wesenheiten aufgefaßt. Der b e s t b e k a n n t e derartige Fall ist der des Begriffes „ K r a n k h e i t " . W ä h r e n d wir die K r a n k h e i t als einen Zustand des Organismus b e t r a c h t e n , wurde sie f r ü h e r als ein Gegenstand, der in den Körper eindringt und wieder e n t f e r n t werden k a n n , a u f g e f a ß t . Dieses wird durch die vielen Fälle belegt, in denen Krankheiten durch Saugen oder andere Manipulationen aus

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dem Körper entfernt werden; durch den G l a u b e n , daß man eine K r a n k h e i t , — nicht etwa einen Krankheitserreger, — in den menschlichen Körper hineinwerfen, oder auch in einen Baum einsperren und so ihre Wiederkehr v e r h ü t e n kann. Andere Eigenschaften werden ebenso behandelt. E r s c h ö p f u n g , Hunger und ähnliche körperliche Z u s t ä n d e werden manchmal als D i n g e aufgefaßt, die den Körper beeinflussen. Sogar das Leben selbst mag sich in der Form eines körperhaften Dinges darstellen, das sich vom Körper trennen k a n n ; die L e u c h t k r a f t der Sonne als ein E t w a s , das die Sonne selbst anziehen und ablegen k a n n . O f t spiegeln sich auch diese Auffassungen in der Form des sprachlichen Ausdrucks. Natürlich würde hier die sprachliche Form allein nicht einen streng bindenden Beweis f ü r die herrschende Auffassung geben, denn auch wir können sagen, d a ß der Mensch Hunger hat, d a ß eine K r a n k h e i t im Körper sitzt, d a ß Zorn uns ü b e r m a n n t , und d a ß das Leben den K ö r p e r verläßt. W e n n aber bei uns auch all dieses nichts als eine Ausdrucksform ist, so wissen wir doch, d a ß diese sprachliche Auffassung bei den K u l t u r a r m e n lebendig ist und sich auf die verschiedenste Weise im Glauben und Handeln a u s d r ü c k t . Eine eigenartige Klassifikation der Sinneseindrücke d ü r f t e auch der a n t h r o p o m o r p h e n Auffassung der N a t u r bei den k u l t u r a r m e n Völkern zugrunde liegen. Es s t e h t zu vermuten, d a ß die Analogie zwischen der Bewegungsfähigkeit des Menschen und der Tiere, sowie mancher lebloser Gegenstände dazu g e f ü h r t hat, diese Gruppen u n t e r derselben Kategorie zusammenzufassen, was zur notwendigen Folge h a t , daß der gesamten sich bewegenden Welt menschliche Motive untergeschoben werden. In ihrem Ursprünge d ü r f t e n die auf dieser Anschauung beruhenden religiösen Ideen ebensowenig auf intellektuelle Vorgänge zurückgehen, wie die sprachlichen Kategorien. W ä h r e n d aber der Gebrauch der Sprache so automatisch ist, d a ß sich vor der E n t s t e h u n g der Sprachwissenschaft nie eine Gelegenheit ergibt, bei der die grundlegenden Ideen ins Bewußtsein treten, geschieht dies im Bereich der Religion sehr h ä u f i g ; und der äußere Eindruck auf uns ist deshalb ein anderer.

I X . D a s Geistesleben der K u l t u r a r m e n u. der K u l t u r f o r t s c h r i t t .

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Wir müssen hier noch einmal auf die Tatsache zurückgreifen, daß Klassifikationen sich in allen Sprachen finden m ü s s e n , und d a ß die unbegrenzte Zahl der Erfahrungen d u r c h eine beschränkte Anzahl von W o r t s t ä m m e n ausged r ü c k t werden. Dieses bringt es mit sich, d a ß die besondere Form der Einzelerfahrung, wenn sie ü b e r h a u p t zum Ausdruck kommen soll, auf W o r t s t ä m m e zurückgeführt und d u r c h Kombination oder Modifikation derselben ausgedrückt werden muß. Daher muß jede Sprache formale Elemente e n t h a l t e n , welche dazu d i e n e n , die Art und Weise anzugeben, in der W o r t s t ä m m e zu einander in Beziehung treten oder in der ihre Bedeutung durch Modifikationen geändert wird. Wenn man jede Idee durch einen einzigen S t a m m ausdrücken könnte, wären formlose Sprachen möglich. Da aber Begriffe immer in einer beschränkten Anzahl von Begriffsgruppen z u s a m m e n g e f a ß t werden, ist der Ausdruck der Beziehungen zwischen den Gruppen ein wichtiger Teil der Sprache; und er wird um so mannigfaltiger sein, je kleiner die Zahl der W o r t s t ä m m e ist, die einfache Ideen ausdrücken. In Sprachen, die ein sehr großes, festes Vokabular besitzen, kann die Zahl der formalen Elemente sehr klein werden. Sie können übrigens auch dazu dienen, die breiteren Kategorien, denen Begriffe zugezählt werden, zum Ausdruck zu bringen. Ich will auf einige solcher formalen Elemente hinweisen, die uns aus europäischen Sprachen nicht geläufig sind. Bekanntlich klassifizieren die meisten indogermanischen Sprachen Gegenstände nach dem Geschlecht und dehnen den Geschlechtsbegriff auch auf leblose Gegens t ä n d e aus. Außerdem besteht noch eine g r a m m a t i s c h nicht a u s g e d r ü c k t e , aber nichtsdestoweniger deutliche Klassifikation der Gegenstände ihrer F o r m nach, die sich besonders im Gebrauche der Verben a u s d r ü c k t die Existenz bezeichnen. So „ s t e h e n " Häuser, „ l ä u f t " das Wasser, „ l i e g t " ein Ort, „ s i t z t " ein Insekt. In vielen Sprachen ist diese Klassifikation von Gegenständen ihrer Form nach als lang, flach, rund, aufrecht, sich bewegend, das g r a m m a t i sche Grundprinzip, nach dem Objekte aufgefaßt w e r d e n ; oder die Klassen können lebend und leblos, oder m ä n n -

186 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. lieh und nicht-männlich, oder zum S t a m m gehörig oder nicht zum S t a m m gehörig unterscheiden. Sie können auch ganz fehlen. Vielleicht noch auffallender ist die Verschiedenartigkeit der Klassifikationsprinzipien beim Verbum. Viele S p r a c h e n , wie auch die unsere, bezeichnen allgemeine Bewegungsklassen und bestimmen die Richtung der Bewegung durch spezielle mehr oder weniger formale Elem e n t e : wie auf, ab, aus, ein usw. In anderen Sprachen fehlt diese Möglichkeit ganz, und die Begriffe „ H i n e i n g e h e n " , „ H i n a u s g e h e n " müssen durch ganz verschiedene W o r t e ausgedrückt werden. Dagegen findet sich o f t die Idee des zu einer Handlung gebrauchten Hilfsmittels durch mehr oder weniger formale Elemente ausgedrückt. Treten, schlagen, beißen, schneiden, stechen sind d a n n als e i n e H a n d l u n g aufgefaßt, die dadurch variiert wird, d a ß sie mit den Füßen, H ä n d e n , Zähnen, einem scharfen oder spitzen Gegenstande ausgeführt wird. So k a n n auch das Ziel, oder die in der L u f t , im Wasser, auf der Erde, oder die geradlinig, zickzacklinig oder kreisförmig ausgeführte Bewegung durch Formelemente ausgedrückt w e r d e n ; oder die in unseren K o n j u n k t i o n e n enthaltenen Denkformen können zu einer großen Vielheit der Modalformen f ü h r e n . Man wird sofort einsehen, d a ß diese Eigentümlichkeiten des Sprechens auch den W o r t s c h a t z beeinflussen müssen, und d a ß es keine Äquivalenz von W o r t s t ä m m e n in verschieden g e b a u t e n Sprachen gibt. Die uralten Klassifikationen und Formen haben sich in den Sprachen der Gegenwart erhalten und üben unzweifelhaft einen Einfluß auf das menschliche Denken a u s . W i r müssen daher auch auf diesen Z u s a m m e n h a n g eingehen und zu verstehen suchen, ob die Sprachen den Forts c h r i t t zu klaren Denkformen verhindern können. Es wird b e h a u p t e t , d a ß die Genauigkeit und K l a r h e i t des Denkens zum großen Teil durch die Sprache b e s t i m m t werde. Man s a g t , die Leichtigkeit, in einer modernen europäischen Sprache allgemeine Abstraktionen durch ein W o r t auszudrücken, und die Möglichkeit, Verallgemeinerungen in einem einfachen Satze auszusprechen, seien die

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Grundbedingungen f ü r die Klarheit unserer Begriffe, für die logische Schärfe unseres Denkens und f ü r die Genauigk e i t , mit der Nebensächliches von Wesentlichem getrennt wird. Scheinbar spricht vieles f ü r eine solche Anschauung. W e n n man etwa eine europäische Sprache mit einer oder der anderen Indianersprache vergleicht, die recht konkret in ihrer Ausdrucksform ist, ergibt sich ein auffallender Unterschied. W ä h r e n d wir sagen „ D a s Auge ist das Gesichtsorgan", k a n n der Indianer vielleicht nicht den allgemeinen Ausdruck „ A u g e " bilden, sondern m u ß mit Bes t i m m t h e i t sagen, ob das Auge eines Menschen oder eines Tieres gemeint ist, oder auch auf welches Auge er sich b e z i e h t , so d a ß die Ortsbeziehung im demonstrativen Sinne f ü r ihn unumgänglich nötig erscheint: mithin m u ß er etwa sagen „dieses Menschenauge hier". Ebensowenig k a n n er vielleicht den allgemeinen Begriff „ O r g a n " durch ein W o r t a u s d r ü c k e n , sondern m u ß den spezifischeren Ausdruck „Mittel zum S e h e n " g e b r a u c h e n , so d a ß der ganze Satz folgende Form a n n i m m t : „ E i n e s unbestimmten Menschen Auge ist sein Mittel zum Sehen". In dieser spezifischen Ausdrucksform ist aber trotzdem die allgemeinere Aussage deutlich enthalten. Es ist sehr fraglich, inwieweit die Ausbildung solcher spezifischer grammatischen F o r m e n , deren Anwendung idiomatisch nötig i s t , als ein Hindernis f ü r die Bildung allgemeiner Gedanken aufgefaßt werden darf. Es ist viel wahrscheinlicher, d a ß die A r m u t an diesen Formen darauf b e r u h t , d a ß sie im Leben der N a t u r v ö l k e r nicht nötig sind. Bei ihren Lebensverhältnissen d ü r f t e n Unterhaltungen über a b s t r a k t e Begriffe k a u m vorkommen. Die Interessen sind auf die Beschäftigungen und Ereignisse des äußeren und inneren täglichen Lebens gerichtet; und wenn philosophische Probleme b e r ü h r t werden, erscheinen sie entweder in bezug auf b e s t i m m t e Individuen oder in der mehr oder weniger a n t h r o p o m o r p h e n Gestalt religiöser Ideen. U n t e r h a l t u n g e n über Eigenschaften ohne Bezug auf den Gegenstand, dem sie angehören, oder über Tätigkeiten oder Zustände ohne Bezug auf ein bestimmtes Subjekt, kommen wohl k a u m vor. Der Indianer z. B. spricht nicht von „ G ü t e " , wohl

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aber von der Güte einer Person. Er redet nicht von ,,Glückseligkeit", wohl aber von der Glückseligkeit des Menschen. Er bezieht sich nicht auf die Fähigkeit zu sehen, ohne das Individuum zu bezeichnen, das diese Tätigkeit besitzt. Aus diesem Grunde findet man in Sprachen, die den Besitz durch lautliche Elemente ausdrücken, die dem S u b s t a n t i v u m angefügt werden, a b s t r a k t e Ausdrücke immer mit besitzanzeigenden Fürworten verbunden. Es ist aber leicht d e n k b a r , d a ß ein philosophisch gebildeter Indianer die zugrunde liegenden N o m i n a l s t ä m m e von den Possessivelementen loslösen und so a b s t r a k t e Formen bilden würde, die genau denen der modernen europäischen Sprachen entsprechen würden. Ich habe diesen Versuch mit einer der Sprachen der Vancouver-Insel, dem Kwakiutl, gemacht, einer Sprache, in der kein a b s t r a k t e r Ausdruck ohne ein Possessivpronomen gebraucht wird. Nach einiger Zeit f a n d ich es nicht schwer, die a b s t r a k t e Idee bei dem Indianer zu entwickeln, der schließlich zugab, d a ß das W o r t ohne Possessivpronomen einen verständlichen Sinn h a t , obwohl es idiomatisch nie benutzt wird. Auf diese Weise konnte ich W o r t e wie „Mitleid" und „ L i e b e " isolieren, die gewöhnlich nur in Possessivformen, wie „mein Mitleid mit Dir", oder „seine Liebe f ü r i h n " , vorkommen. Die Richtigkeit dieser Anschauung läßt sich auch in Sprachen nachweisen, in denen die Possessivpronomina als selbständige W ö r t e r vorkommen, wie z. B. bei den Sprachen der Siouxs t ä m m e . In allen solchen Fällen sind rein a b s t r a k t e Subs t a n t i v e häufig. Es läßt sich auch zeigen, d a ß andere grammatische Elemente, die einen W o r t s t a m m genau bestimmen, und die so charakteristisch f ü r viele amerikanische Sprachen sind, ausgelassen werden können, wenn aus irgend einem Grunde eine verallgemeinerte W o r t f o r m verlangt wird. Im K w a k i u t l wird das W o r t „ s i t z e n " fast immer mit einem untrennbaren Suffix ausgedrückt, das den Platz b e s t i m m t , wo m a n sitzt, wie „auf dem Boden", „auf einem runden Gegenstande", „ a m U f e r " usw. Soll aber der Begriff des Sitzens b e s t i m m t werden ohne Bezug auf irgend eine Örtlichkeit, so k a n n man ein W o r t bilden, das etwa bedeutet „sich in Sitzstel-

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lung b e f i n d e n " . In diesem Falle gibt es also Mittel, den allgemeinen Ausdruck zu bilden, aber die Gelegenheit f ü r seine A n w e n d u n g bietet sich selten, vielleicht nie. Ich glaube, diese Beobachtungen über einige amerikanische Sprachen ließen sich überall wiederholen. Daß allgemeine Ausdrucksformen nicht gebraucht werden, beweist nicht, d a ß das Volk nicht imstande ist, sie zu bilden; es beweist nur, d a ß der K u l t u r z u s t a n d so beschaffen ist, d a ß sie nicht nötig sind. Die S t r u k t u r der Sprache ist so beschaffen, d a ß sie entstehen, sobald der Mensch ihrer bedarf. In unseren europäischen Sprachen fehlt es nicht an entsprechenden Beispielen. W ä h r e n d viele amerikanische Sprachen Schwierigkeiten haben, ihr P r ä d i k a t von örtlicher B e s t i m m t h e i t zu befreien, leiden wir an der Schwierigkeit, zeitliche Bestimmungen zu überwinden. Vom g r a m m a t i schen S t a n d p u n k t e aus ist ein P r ä d i k a t im Deutschen ohne Zeitbestimmung unmöglich, und nur dadurch, d a ß wir dem Präsens eine erweiterte Bedeutung beilegen, lassen wir es Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t umschließen, d. h. eine f ü r alle Zeit gültige Aussage bilden. Nur in diesem Sinne ist der Satz „die Fliege ist ein Insekt" allgemein gültig. Der grammatischen Form nach würden wir das Recht haben zu sagen, d a ß das Deutsche keine zeitlose grammatische Form h a t und daher nicht verallgemeinern kann. Wie bei uns die Zeit, können anderswo Ort, Besitz usw. je nach Bedarf verallgemeinert werden. Der hier entwickelte Gesichtspunkt wird ferner durch die Formen der Zahlsysteme primitiver Sprachen bestätigt. Es ist b e k a n n t , d a ß es Sprachen gibt, in denen es nur Zahlenausdrücke f ü r eins und zwei, oder f ü r eins, zwei und drei gibt. Man h a t hieraus schließen wollen, d a ß die Menschen, welche diese Sprachen sprechen, die höheren Zahlen entsprechenden Begriffe nicht bilden können. Ich glaube, dies ist nicht richtig. S t ä m m e wie die südamerikanischen Indianer, bei denen diese unentwickelten Zahlsysteme gefunden werden, oder wie die Eskimo, deren altes Zahlsystem n u r bis Zehn reicht, brauchen wahrscheinlich keine hohen Zahlausdrücke, weil sie nicht viel zählen. K o m m e n solche Völker in Berührung mit der Zivilisation und bekommen sie Wert-

190 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. messer, die durch Zahlen ausgedrückt werden müssen, so nehmen sie mit Leichtigkeit höhere Zahlen aus fremden Sprachen an und entwickeln ein vollständigeres Zahlensystem. Das soll natürlich nicht heißen, d a ß jedes einzelne Individuum, das in seinem Leben keine höheren Zahlen gebraucht h a t , n u n sofort ein höheres Zahlensystem benutzen würde; der S t a m m , als Ganzes betracht e t , scheint aber immer imstande zu sein, sich der Notwendigkeit des Zählens anzupassen. Man m u ß hierbei bedenken, d a ß das Zählen nicht nötig wird, bis Gegens t ä n d e in so allgemeiner Form betrachtet werden, d a ß ihre Individualität ganz vernachlässigt wird. Deshalb k o m m t es vor, d a ß der Besitzer einer Herde von Haustieren jedes einzelne bei N a m e n und dem Aussehen nach kennt, ohne je d a r a n zu denken, sie zu zählen. Mitglieder eines Kriegszuges mögen einander kennen und alle Teilnehmer n a m e n t lich aufzählen können, ohne d a r a n zu denken, sie zu zählen. Kurz und gut, es ist nicht zu beweisen, daß die Abwesenheit von Zahlausdrücken es verhindert, d a ß die Begriffe höherer Zahlgruppen gebildet werden, wenn das tägliche Leben sie erforderlich m a c h t . Um uns ein richtiges Urteil darüber zu bilden, inwieweit die Sprache die Denkentwicklung beherrscht, sollten wir uns d a n n erinnern, d a ß die modernen Sprachen s t a r k durch das a b s t r a k t e Denken von Gelehrten beeinflußt sind. Ausdrücke wie „ E x i s t e n z " , „ I d e a l " , „ R e a l i t ä t " , die jetzt im allgemeinen Gebrauch sind, sind ursprünglich künstlich gebildet, um das Resultat a b s t r a k t e n Denkens auszudrücken. Sie entsprechen daher den vorher erwähnten künstlichen, nicht idiomatischen Ausdrücken, die in Sprachen von Naturvölkern gebildet werden können. Wir d ü r f e n daher wohl schließen, d a ß die Form der Sprache die Bildung allgemeiner Begriffe nicht wesentlich hindert, und d a ß vermutlich die Sprache allein die Denktätigkeit eines Volkes nicht einschränken k a n n , wenn sein allgemeiner K u l t u r z u s t a n d einen Fortschritt im klaren Denken erfordert; d a ß vielmehr in solchem Falle die Sprache eher von der K u l t u r umgemodelt werden würde. Deshalb ist es mir nicht wahrscheinlich, d a ß es eine direkte

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Beziehung zwischen Sprache und K u l t u r gibt, außer insofern, als die Sprache von der K u l t u r beeinflußt wird, nicht aber insofern, als die K u l t u r durch den grammatischen Bau der Sprache bestimmt wird. Ist nun die Grundlage allen Denkens das Bewußtwerden der Kategorien, in welchen unsere E r f a h r u n g aufgenommen wird, so besteht ein Hauptunterschied zwischen dem Geistesleben des K u l t u r a r m e n und der Kulturvölker darin, d a ß es uns gelungen ist, durch v e r n u n f t g e m ä ß e s Denken aus plumpen, unwillkürlich entstandenen Klassifikationen bessere Systeme unseres gesamten Wissens zu entwickeln, einen Schritt, den die K u l t u r a r m e n nicht gemacht haben. Der erste Eindruck, den m a n aus der B e k a n n t s c h a f t mit dem Denken der K u l t u r a r m e n gewinnt, ist d e r , d a ß ihre Sinneswahrnehmung hochentwickelt, ihre logische D e u t u n g der W a h r n e h m u n g e n aber höchst mangelhaft ist. Es läßt sich nun zeigen, d a ß die Ursache hierfür keineswegs in der Geistesart der K u l t u r a r m e n beruht, sondern vielmehr eine Folge der eigentümlichen überlieferten Ideen ist, durch deren Vermittelung ein jeder neuer Sinneseindruck gedeutet wird; mit anderen Worten, daß die überlieferten Ideen, mit denen sich eine neue Erf a h r u n g assoziiert, auch die Form der Schlußfolgerung bestimmen. Auch in unserer eigenen Gesellschaft werden eine Menge Beobachtungen und Gedanken dem Kinde überliefert. Viele dieser Gedanken sind das Ergebnis sorgfältiger Beobachtung und scharfen Denkens unserer eigenen Generation und unserer A h n e n ; dem einzelnen werden sie aber nicht viel anders als Volksüberlieferung übermittelt. Das Kind assoziiert seine eigenen Beobachtungen mit der ganzen Masse dieser Oberlieferung und deutet sie dadurch. Es ist also ein Irrtum zu glauben, d a ß der von jedem einzelnen von uns vollzogene Denkprozeß eine vollständige logische Gedankenfolge darstellt. Eine neue Beobachtung assoziiert sich mit schon b e k a n n t e n Tatsachen, deren Deutung durch Überlieferung als b e k a n n t angenommen wird, und wir begnügen uns f ü r gewöhnlich mit ihrer R ü c k f ü h r u n g auf ältere bek a n n t e Tatsachen. W e n n z. B. der Durchschnittsmensch

192 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. sieht, d a ß eine vorher u n b e k a n n t e chemische Verbindung explodiert, so begnügt er sich d a m i t zu denken, d a ß manche chemischen Verbindungen bei geeigneten Bedingungen explodieren, d a ß daher die neue Substanz dieselbe Eigenschaft h a t . Im ganzen würde er k a u m den Gedankengang weiter f o r t f ü h r e n und wirklich versuchen, die Ursachen der Explosion zu verstehen. So m u ß auch heute in der Anschauung des Laien jede u n b e k a n n t e Seuche von u n b e k a n n t e n Kleinorganismen hervorgerufen sein, wie sie f r ü h e r von Miasmen erzeugt sein m u ß t e ; so m u ß alles Seiende in das Schema der Entwicklungstheorie hineingepaßt werden. Der Unterschied in der Denkweise der K u l t u r a r m e n und der hoch Zivilisierten scheint nun ganz wesentlich in der Art der überlieferten Ideen zu beruhen, mit denen neue W a h r n e h m u n g e n sich assoziieren. Die Unterweisungen, die das Kind der K u l t u r a r m e n erhält, gründen sich nicht auf jahrhundertelange Forschung, sondern auf die rohe E r f a h r u n g von Generationen. Wenn d a h e r der K u l t u r a r m e eine neue E r f a h r u n g m a c h t , so f ü h r t der Prozeß der Assoziation, den wir bei uns beobachten können, zu einer Verschmelzung mit ganz anders gearteten Ideen und daher auch zu einer ganz anders gearteten Erklärung. Eine plötzliche Explosion wird sich in seinen Gedanken vielleicht mit mythischen Vorstellungen über den Ursprung der Welt verschmelzen u n d daher von Furcht vor dem Übernatürlichen begleitet sein. Die u n b e k a n n t e Seuche wird vielleicht alte Ideen von Heimsuchungen von unsichtbaren Geistern ans Tageslicht f ö r d e r n ; und alles Seiende m u ß durch U m g e s t a l t u n g während der mythischen Vorzeit oder durch Schöpfung ins Leben getreten sein. Erkennen wir einmal, d a ß weder bei K u l t u r v ö l k e r n noch bei K u l t u r a r m e n der Durchschnittsmensch den Versuch der kausalen E r k l ä r u n g von Erscheinungen bis zu E n d e f ü h r t , sondern nur so weit, bis er sich mit anderen schon b e k a n n t e n E r f a h r u n g e n verschmilzt, so sehen wir auch ein, d a ß das Resultat ganz von den Eigentümlichkeiten der Überlieferung a b h ä n g t . Hierin liegt die große Bedeutsamkeit der Volksüberlieferung f ü r die Bestimmung der Form der Volksvorstellungen. Hierin liegt auch die grundlegende

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B e d e u t u n g herrschender religiöser und philosophischer Ans c h a u u n g auf die Volksmassen, und der Einfluß herrschender wissenschaftlicher Theorien auf den Charakter wissenschaftlicher Arbeit. Es würde vergebliches Mühen sein, wenn wir versuchten, die E n t w i c k l u n g moderner Wissenschaft zu verstehen ohne ein Verständnis f ü r die E n t w i c k l u n g moderner Philosophie; wenn wir die Geschichte mittelalterlicher Wissenschaft erfassen wollten ohne Einblick in die mittelalterliche Theologie; und ebenso würden wir vergeblich versuchen die Weltanschauung der K u l t u r a r m e n zu begreifen ohne eine K e n n t nis ihrer mythologischen Vorstellungen. In diesem Sinne sind Mythologie, Theologie und Philosophie verschiedene Namen f ü r die Einflüsse, welche dem menschlichen Denken über die Ursachen der Erscheinungen R i c h t u n g geben und so den Charakter seiner Versuche, die Naturerscheinungen zu erklären, bestimmen. Der K u l t u r a r m e , dem gelehrt wird die Gestirne als belebt anzusehen, der in jedem Tier ein übermächtiges Wesen e r k e n n t , f ü r den Berge, B ä u m e , und Steine mit Lebenskraft begabt sind, wird auf Erklärungen der N a t u r kommen, die d u r c h a u s verschieden von den uns gewohnten sind, da wir unsere Schlüsse doch auf gewissen physikalischen Grundanschauungen a u f b a u e n . Sollten wir einmal gezwungen werden, diese fallen zu lassen und neue G r u n d a n s c h a u u n g e n an ihre Stelle zu setzen, so würde auch unsere gesamte N a t u r a n s c h a u u n g ein anderes Gesicht annehmen. Bei wissenschaftlichen Untersuchungen sollten wir uns immer d a r ü b e r klar sein, d a ß stets eine Anzahl von Hypothesen und Theorien in unsere Betrachtungsweise eingehen, und d a ß wir f a s t nie bei der Analyse eines gegebenen Problems auch n u r den Versuch machen, die Gedankenreihe bis zu Ende zu denken. T ä t e n wir dieses, so wäre j a auch aller extensive Fortschritt des Wissens so gut wie ausgeschlossen, da eine jede Naturerscheinung unendlich viel Zeit zur Durcharbeitung erfordern würde. Wir sind aber zu sehr geneigt, die allgemeinen und f ü r die meisten rein traditionellen Grundlagen zu vergessen, die unserem Denken zugrunde liegen, und die R e s u l t a t e unseres Denkens f ü r absolute B o a s , Kultur und Rasse.

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194 IX. Das Geistesleben der Kulturarmen u. der Kulturfortschritt. W a h r h e i t auszugeben. Hierin begehen wir denselben Fehler, den die weniger hoch Zivilisierten so wie die K u l t u r a r m e n i m m e r begehen und begangen haben. Sie sind in ihrem Denken leichter zufriedengestellt als wir; aber sie nehmen doch auch nur das überlieferte Wissen als w a h r an u n d geben d a n n die durch Schlüsse d a r a u s erhaltenen R e s u l t a t e f ü r absolute W a h r h e i t e n aus. Es liegt auf der H a n d , d a ß je weniger überlieferte Elemente in unseren Gedankengang eintreten, und je deutlicher wir uns den hypothetischen Charakter vieler Grundgedanken klar machen, desto logischer unsere Schlußfolgerungen sein werden. Bei fortschreitender K u l t u r entwickelt sich eine ausgesprochene Tendenz dahin überlieferte Elemente auszumerzen, und einen klaren Einblick in die hypothetischen Grundlagen unseres Denkens zu gewinnen. Es ist daher nicht zu verwundern, d a ß mit fortschreitender K u l t u r das Denken immer logischer wird, nicht weil die Individuen logischer denken, sondern weil das überlieferte Material im Laufe von Generationen durch das Denken vieler allmählich von Irrtümern befreit wird. Bei den K u l t u r a r m e n wird das überlieferte Wissen n u r von sehr wenigen Individuen angezweifelt und g e p r ü f t , mit fortschreitender Zivilisation aber vergrößert sich, wie wir schon gesehen haben, die Zahl der Denker, durch deren Einfluß das überlieferte Material umgestaltet und schließlich gel ä u t e r t wird. Die Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Volksgruppen mögen diesen Vorgang erläutern. Sie beweisen gleichzeitig die Langsamkeit mit welcher er sich vollzieht. Es gibt k u l t u r a r m e Horden, bei denen jeder nicht s t a m m e s angehörige Fremde als Feind gilt, der unschädlich g e m a c h t , wenn möglich getötet werden m u ß . Diese Anschauung gründet sich auf die Idee der gesellschaftlichen Absonderung der Horde von ihrer Umwelt, der sie als etwas Verschiedenes gegenübersteht, und aus d e m Streben aller Mitglieder der Horde, sich gegen die feindliche Außenwelt zu schirmen. J e d e r Mensch, der nicht ein Mitglied der Horde ist, wird daher als ein Mitglied der Außenwelt, als ein spezifisch verschiedenes Wesen a u f g e f a ß t und dementsprechend behandelt. Von dieser Auffassung ausgehend läßt sich bei

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fortschreitender K u l t u r die allgemeine Erweiterung des Gemeinschaftsbewußtseins verfolgen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Horde entwickelt sich zum Gef ü h l der Einheit des Stammes, zur E r k e n n t n i s der Gleichartigkeit der Bewohner eines größeren Gebietes und endlich zum Nationalitätsbewußtsein. Dieses scheint die Grenze zu bilden, bis zu der wir in der E n t w i c k l u n g des Begriffes menschlicher Zusammengehörigkeit gelangt sind. Analysiert m a n das Nationalitätsbewußtsein, das in unserer Zeit so m ä c h t i g geworden ist und das allmählich die Interessengemeinschaft kleiner Landschaften ü b e r w u c h e r t h a t , so erk e n n t man leicht, daß seine Grundlage gewisse wirkliche oder angenommene spezifische Eigentümlichkeiten der Nation sind, der wir angehören, und denen die höchsten W e r t e zugeschrieben werden, — im Körperbau, in der Sprache, den Sitten und Überlieferungen, sowie der Glaube, daß alle äußeren Einflüsse, die diese Eigenheiten bedrohen können, feindlich sind und b e k ä m p f t werden müssen; nicht n u r um dem berechtigten Wunsche nach E r h a l t u n g der eigenen Art genug zu t u n , sondern auch um ihr Geltungsbereich auszudehnen. Das Nationalitätsgefühl, wie wir es hier ausgedrückt haben, und d a s Zusammengehörigkeitsgefühl der Horde sind von gleicher A r t , nur durch die allmähliche Erweiterung der Idee der Gemeinschaft und durch Milderung der Sitten in ihren Äußerungen v e r ä n d e r t ; aber der ethische Gesichtsp u n k t , der es gegenwärtig als recht erscheinen läßt, d a s Wohlergehen einer Nation auf Kosten der Menschheit zu fördern, und die Neigung, die Eigenart unseres Volkes als absolut höher — nicht als uns lieber — anzuschlagen, als die aller anderen Völker, ist dem Gefühle gleichzusetzen, das den K u l t u r a r m e n v e r a n l a ß t , in jedem Fremden einen Feind zu sehen und nicht zu ruhen, bis er aus dem Wege geschafft ist. Es ist j a einigermaßen schwierig f ü r uns zu erkennen, d a ß der W e r t , den wir unserer Zivilisation beilegen, nur darin begründet ist, d a ß wir selbst in dieser Zivilsation leben, und d a ß sie unsere Handlungen von der Wiege an beherrscht h a t . Es ist aber gewiß denkbar, d a ß es andere gleichwertige K u l t u r e n gibt, die vielleicht andere Überlieferungsformen und ein anderes Verhältnis von gefühls13«

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X. Die gefühlsmäßigen Assoziationen bei den Kulturarmen.

und verstandesmäßigen Elemente voraussetzen, aber d a r u m an W e r t der unseren nicht n a c h s t e h e n ; freilich wird es uns schwer, diesen W e r t zu würdigen, da die Grundelemente uns f r e m d a n m u t e n . So gibt uns die ethnologische Bet r a c h t u n g eine allgemeinere Grundlage f ü r die Bewertung menschlicher Tätigkeiten, und d a m i t eine größere Willigkeit, die Verdienste fremder K u l t u r f o r m e n anzuerkennen, als heutzutage im allgemeinen beliebt ist.

X. Die gefühlsmäßigen Assoziationen bei den Kulturarmen. N a c h d e m wir gesehen haben, daß eine große Anzahl überlieferungsmäßiger Grundbestandteile in der Denkweise des K u l t u r a r m e n sowohl wie des Kulturmenschen enthalten sind, sind wir besser vorbereitet, gewisse Einzelzüge im Denken beider zu verstehen. Ein Merkmal im Geistesleben der K u l t u r a r m e n , das f r ü h die A u f m e r k s a m k e i t von Forschern auf sich gezogen h a t , ist das Vorkommen enger Assoziationen zwischen Tätigkeiten, die uns als nicht zusammengehörig erscheinen. Religion und Wissenschaft, Mode und Moral, Musik, Tanz u n d Dichtkunst finden sich dort in unlösbarer Verschlingung. Wir können diese allgemeine Beobachtung auch so ausd r ü c k e n : die K u l t u r a r m e n haben bei jeder H a n d l u n g nicht nur ihren u n m i t t e l b a r e n Zweck im Auge, ein jeder ihrer Gedanken h a t nicht nur eine Beziehung auf seine unmittelbare Veranlassung und sein nächstes Ziel, sondern er verbindet sich leicht mit anderen Gedankenreihen, meist solchen religiöser oder doch symbolischer N a t u r . So k o m m t es, d a ß sie gewissen Ideen und Handlungen eine größere B e d e u t u n g beilegen, als sie uns zu verdienen scheinen. Jedes Tabu ist ein Beispiel solcher Assoziationen anscheinend unbedeutender Handlungen mit Ideen, die so heilig gehalten werden, daß eine Abweichung von der gewohnten S i t t e das Gefühl des s t ä r k s t e n Abscheus h e r v o r r u f t . Die Auffassung vom

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X. Die gefühlsmäßigen Assoziationen bei den Kulturarmen.

und verstandesmäßigen Elemente voraussetzen, aber d a r u m an W e r t der unseren nicht n a c h s t e h e n ; freilich wird es uns schwer, diesen W e r t zu würdigen, da die Grundelemente uns f r e m d a n m u t e n . So gibt uns die ethnologische Bet r a c h t u n g eine allgemeinere Grundlage f ü r die Bewertung menschlicher Tätigkeiten, und d a m i t eine größere Willigkeit, die Verdienste fremder K u l t u r f o r m e n anzuerkennen, als heutzutage im allgemeinen beliebt ist.

X. Die gefühlsmäßigen Assoziationen bei den Kulturarmen. N a c h d e m wir gesehen haben, daß eine große Anzahl überlieferungsmäßiger Grundbestandteile in der Denkweise des K u l t u r a r m e n sowohl wie des Kulturmenschen enthalten sind, sind wir besser vorbereitet, gewisse Einzelzüge im Denken beider zu verstehen. Ein Merkmal im Geistesleben der K u l t u r a r m e n , das f r ü h die A u f m e r k s a m k e i t von Forschern auf sich gezogen h a t , ist das Vorkommen enger Assoziationen zwischen Tätigkeiten, die uns als nicht zusammengehörig erscheinen. Religion und Wissenschaft, Mode und Moral, Musik, Tanz u n d Dichtkunst finden sich dort in unlösbarer Verschlingung. Wir können diese allgemeine Beobachtung auch so ausd r ü c k e n : die K u l t u r a r m e n haben bei jeder H a n d l u n g nicht nur ihren u n m i t t e l b a r e n Zweck im Auge, ein jeder ihrer Gedanken h a t nicht nur eine Beziehung auf seine unmittelbare Veranlassung und sein nächstes Ziel, sondern er verbindet sich leicht mit anderen Gedankenreihen, meist solchen religiöser oder doch symbolischer N a t u r . So k o m m t es, d a ß sie gewissen Ideen und Handlungen eine größere B e d e u t u n g beilegen, als sie uns zu verdienen scheinen. Jedes Tabu ist ein Beispiel solcher Assoziationen anscheinend unbedeutender Handlungen mit Ideen, die so heilig gehalten werden, daß eine Abweichung von der gewohnten S i t t e das Gefühl des s t ä r k s t e n Abscheus h e r v o r r u f t . Die Auffassung vom

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S c h m u c k als schützendem A m u l e t t , von der Zierkunst als Symbol, vom Tanz als Ausdruck religiösen Gefühls, erläutert denselben Vorgang einer eigenartigen Vermengung von Ideen, die im großen und ganzen dem Wesen unseres Denkens f r e m d geworden sind. W i r wollen zunächst untersuchen, ob alle Spuren ähnlicher Denkformen aus unserer Zivilisation verschwunden sind. In unserem heutigen Leben, das die vollste Anwend u n g der D e n k k r a f t und Z u r ü c k d r ä n g u n g des Gefühls verlangt, haben wir uns zu einer kalten, n ü c h t e r n e n Betracht u n g unserer Handlungen und Beweggründe erzogen. Wir brauchen indessen nicht weit zu gehen, um Gemüter zu finden, die anderen Lebensanschauungen huldigen. W e n n der Mann, der mitten im Drange des hastigen, lärmenden Lebens wirkt und s c h a f f t , auch nicht über rationelle Beweggründe und Ziele hinaussieht, so treiben doch andere in ruhigerem Fahrwasser und sehen in demselben Getriebe das Abbild einer Welt der Ideale, die sie sich in ihrem Innern a u f g e b a u t haben. Dem Künstler erscheint die Welt als ein Symbol der Schönheit, die seine Seele erfüllt; dem hingebenden religiösen Gemüte als ein Symbol der transzendentalen W a h r h e i t , in der er lebt. Instrumentale Musik, die der eine rein als formenschön e m p f i n d e t , löst in der Seele eines anderen bestimmte Vorstellungen aus, deren Empfindungsgehalt ihm mit den musikalischen Themen und ihrer Verarbeitung v e r k n ü p f t erscheint. In der T a t liegt die Verschiedenheit der Art, wie der einzelne sich äußeren Reizen gegenüber verhält, und die Mannigfaltigkeit der Assoziationen, die von dergleichen Sinneseindrücken bei verschiedenen Individuen ausgelöst werden, so offenkundig da, daß sie k a u m einer eingehenden Besprechung bedarf. F ü r den Zweck unserer Untersuchung ist n u n besonders die Beobachtung wichtig, d a ß wir alle, die wir u n t e r den gleichen Gesellschaftsformen leben, uns gewissen Eindrücken gegenüber in ganz gleicher Weise verhalten, ohne aber ims t a n d e zu sein, den Grund f ü r unser Verhalten anzugeben. Ein Beispiel hierfür bieten Verstöße gegen den gesellschaftlichen guten Ton. Ein Betragen, das nicht mit den ge-

198 X. Die gefühlsmäßigen Assoziationen bei den Kulturarmen. wohnten Sitten übereinstimmt u n d s t a r k von ihnen abweicht, r u f t gewöhnlich u n a n g e n e h m e E m p f i n d u n g e n herv o r ; und es bedarf einer ziemlich starken inneren Anstrengung, uns klar zu machen, d a ß ein Betragen, das gegen die Sitte v e r s t ö ß t , nicht auch unsittlich ist. Menschen, die nicht an entschlossenes und streng folgerichtiges Denken gewöhnt s i n d , verwechseln beständig Verstöße gegen gewohnheitsmäßiges Handeln mit solchen gegen die Moral. Die W o r t e Sitte und Sittlichkeit drücken ja auch die nahe V e r w a n d t s c h a f t der Begriffe aus. Bei gewissen Seiten unseres Verhaltens ist die Verwandtschaft zwischen der überlieferten S i t t e und der Sittlichkeit so eng, d a ß es sogar f ü r einen klaren Denker schwer ist, sich von dem Gefühle der Zusammengehörigkeit zu befreien. Dieses ist z. B. der Fall bei Handlungen, die gegen die Schamhaftigkeit verstoßen. Selbst eine ganz oberflächliche Kenntnis der Geschichte der T r a c h t beweist, d a ß was zu einer Zeit als züchtig gilt, zu anderen Zeiten f ü r schamlos gehalten wird. Die Sitte, Körperteile zu bedecken, hat überall und immer das Gefühl hervorgerufen, d a ß die Bloßstellung dieser Teile schamlos sei. Dieses Gefühl f ü r das Schickliche ist so unberechenbar, daß eine T r a c h t , die bei einer Gelegenheit passend ist, zu anderen Zeiten herausfordernd unschicklich w i r k t ; wie z. B. ein tiefgeschnittenes Gesellschaftskleid oder ein Badeanzug, in einem Straßenbahnwagen zur Geschäftszeit. Welche Art der Bloßstellung als unziemlich gilt, h ä n g t nur von der Mode ab. Es ist mithin klar, d a ß die T r a c h t nicht von der Schamhaftigkeit b e s t i m m t wird, vielmehr ist die Geschichte der T r a c h t von vielen verschiedenartigen Ursachen beeinflußt. Trotzdem nun ist die T r a c h t auf ganz typische Weise mit dem Gefühle der Schamhaftigkeit assoziiert, so d a ß eine ungewohnte Bloßstellung immer sofort die unangenehmen Gefühle, die mit einer Verletzung des Anstands verbunden sind, auslöst. All dieses h a t nichts mit b e w u ß t e m Nachdenken darüber, was anständig und was u n a n s t ä n d i g ist, zu tun, sondern das Gefühl wird ganz u n m i t t e l b a r durch den Gegensatz gegen das Übliche geweckt. J e d e r f ü h l t instinktiv, daß es, selbst in einer von der unseren verschiedenen Gesellschafts-

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form, der Überwindung s t a r k e r W i d e r s t ä n d e bedürfen würde, u m ein Verhalten anzunehmen, d a ß wir f ü r schamlos h a l t e n ; u n d es m u ß heftige u n a n g e n e h m e Gefühle hervorrufen, wenn wir uns plötzlich in eine Gesellschaft versetzt denken, deren Anstandsgefühle ganz verschieden von den unseren sind. Hierher gehört auch das bei uns übliche, als anständig geltende Verschweigen aller das Geschlechtsleben betreffenden Dinge. Es ist lehrreich zu sehen, welcher Anstrengungen es bedarf, einer verständigen A u f k l ä r u n g über geschlechtliche Hygiene auch nur Gehör zu verschaffen, obwohl doch die Verhältnisse so liegen, d a ß eine Kenntnis der Krankheitsgefahren und ihres Einflusses auf die N a c h k o m m e n s c h a f t ein vernunftgemäßes Erfordernis ist. Es gibt wohl keine wichtige Lebensfrage, in bezug auf welche die Eltern nicht bem ü h t wären, ihre Kinder wohlunterrichtet ins Leben hinauszusenden, während in den geschlechtlichen Fragen Schweigen die Regel ist oder doch eine freie, natürliche Ausspräche und Behandlung in unseren Gesellschaftsformen k a u m erreichbar erscheint. Die Entwicklung dieses Gefühls in seiner vollen Stärke ist nicht auf die europäische Zivilisation beschränkt, sondern auch in China vorhanden, und seine Keime d ü r f t e n auch in sehr einfachen Kulturen zu beobachten sein. Aber die Scheu d a v o r , e r n s t h a f t von geschlechtlichen Dingen zu reden, ist weder allgemein menschlich, noch b e r u h t sie auf einem unmittelbaren Instinkte. Als Beispiel möge an die väterliche E r m a h n u n g des mexikanischen Jünglings, die S a h a g u n m i t t e i l t , erinnert sein, sowie an die Freiheit der Erzählung, die sich bei einfacheren Völkern trotz größter vorgeschriebener Sittenreinheit findet, und die etwa durch die Sagen nordwestamerikanischer Indianer belegt wird; oder auch an die Beschränkung freier Äeußerung über geschlechtliche Gegenstände zwischen bestimmten V e r w a n d t e n , während u n t e r anderen Personen keine solche Z u r ü c k h a l t u n g herrscht. Die Kleidung liefert noch andere Beispiele, die unser Verhalten gegenüber dem, was als schicklich gilt, erläutern insofern, als u n m o d e r n e Kleidung nicht das Gefühl der Unanständigkeit, wohl a b e r das der Lächerlichkeit auslöst. Das verbreitete Bild, das den K o n t r a s t der Krinoline u n d des

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heutigen engen Frauenrocks mit dem Motto: „Wie lächerlich sehen Sie aus, meine Liebe!" darstellt, bringt dieses mit voller Klarheit zur Anschauung. Andere Eigenheiten in der Kleidung oder der Art sie zu tragen, lösen andere Widerstandsgefühle aus. So wird es als Zeichen von Mangel an gesellschaftlicher Bildung empfunden, wenn ein Mann seinen Hut schief vorn über ins Gesicht schiebt und etwa dabei eine Zigarre schief nach oben gerichtet im Munde hält; oder wenn er den Hut im Zimmer aufbehält, und ein ganz bestimmtes Gefühl der Feindseligkeit macht sich sofort gegen den, der das tut, geltend. Trägt er gar einen Hut in einer feierlichen Versammlung, in der Kirche oder bei einem Begräbnis, so erscheint dieses Gefühl noch verstärkt durch die größeren Gefühlswerte, welche die feierliche Handlung enthält. Noch anders wirken ungewohnte Kleidungsformen, die gegen die Mode verstoßen, ohne sich an eine andere Mode anzulehnen, und die unserem Schönheitssinne widerstreben, — wie häßlich auch die herrschende Mode sein mag. Die Willkürlichkeit der Deutung gewohnheitsmäßiger Handlungen läßt sich an unseren Tischsitten erläutern. Es ist leicht einzusehen, das dieselben nur auf der Überlieferung beruhen und ihr Ursprung nicht rationell erklärt werden kann. Mit den Lippen zu schmatzen gilt uns als eine Schlechte Manier, die Ekel hervorruft. Unter den Indianern dagegen gehört das Schmatzen zum guten Ton, weil es ausdrückt, daß dem Gast das Essen schmeckt, während ein Gast, der nicht schmatzt, mit dem ihm vorgesetzten Mahle unzufrieden erscheint und einen Verstoß gegen die Höflichkeit begeht. Die Art zu essen hat aber an sich natürlich nichts mit ihrer Deutung und den ausgelösten Gefühlen gemein. Es ist für den Indianer ebenso schwer wie f ü r uns, andere Sitten anzunehmen, die den gewohnheitsgemäßen zuwiderlaufen, und die Schwierigkeit liegt nicht nur in der Ungewohntheit neuer Bewegungsarten, sondern auch darin, daß starke Gefühlswiderstände zu überwinden sind. Diese erheben sich auch, wenn wir andere unseren Sitten zuwider handeln sehen. Wenn wir mit Leuten essen, die fremdartige Tischmanieren haben, so fühlen wir ein Un-

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behagen, das sich bis zu Ekel und Übelkeit steigern kann. Auch in diesem Falle sind wir geneigt, Erklärungen f ü r unser Verhalten zu geben, die vermutlich nur retrospektive Versuche sind und nichts mit der w a h r e n E n t s t e h u n g der S i t t e zu t u n haben. So sagen wir, d a ß m a n nicht mit dem Messer ißt, weil man sich in den Mund schneiden könnte, aber es ist doch wohl sehr zweifelhaft, ob dieser Gedanke irgend etwas mit der Sitte zu t u n h a t . Jedenfalls k ö n n t e m a n ebenso gut sagen, d a ß die scharfen Stahlgabeln, die f r ü h e r im allgemeinen Gebrauch waren, den Mund ebensoleicht verletzen wie die Messerschneide. Die Neigung, Erklärungen f ü r unsere Beharrlichkeit, die sich in dem Widerstande gegen ungewohnte H a n d l u n g e n ä u ß e r t , zu geben, ist f ü r das Problem, das wir untersuchen, von größter Wichtigkeit. Sie ä u ß e r t sich nicht nur bei Gewohnheiten, wie den bisher besprochenen, sondern k a n n auch bei andern, wichtigeren Handlungen beobachtet werden. Zur Erläuterung diene das T a b u , das von der Sitte geheiligte Verbot, gewisse Handlungen zu verrichten oder gewisse Gegenstände zu gebrauchen. Obwohl wir eigentlich keine bestimmten Tabus haben, — abgesehen von wenigen dem kirchlichen Leben angehörigen, — k ö n n t e es dem außerhalb unserer Kultur stehenden leicht scheinen, daß unsere Sitte, uns des Gebrauchs gewisser Tiere als N a h r u n g s m i t t e l zu enthalten, von diesem Gesichtspunkte aus aufzufassen ist. Wenn etwa jemand, der gewohnt ist H u n d e zu essen, uns früge, w a r u m wir keine H u n d e essen, k ö n n t e n wir n u r sagen, d a ß es nicht Sitte ist; und er d ü r f t e b e h a u p t e n , d a ß Hunde bei uns in demselben Sinne t a b u i e r t sind, wie manche anderen Tiere oder Dinge bei k u l t u r a r m e n Völkern. Sollten wir gedrängt werden, eine Ursache f ü r unsere Sitte anzugeben, so w ü r d e n wir vielleicht sagen, d a ß wir H u n d e nicht essen, weil sie schmutzig sind, oder d a ß es nicht unserem Fühlen entspricht, Tiere zu essen, mit denen wir auf so freundschaftlichem F u ß e leben wie mit H u n d e n oder auch mit Pferden. W e n n es sich u m andere T i e r a r t e n , wie etwa Insekten oder deren Larven h a n d e l t , würde n a t u r g e m ä ß der Ekel allein als hinreichender Grund angegeben werden. D a n n wieder erscheint Menschenfresserei uns so

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abscheulich, d a ß wir uns schwer überzeugen können, d a ß sie in dieselbe Klasse von T a b u f o r m e n , wie die obengenannten, g e h ö r t ; da der Grundbegriff der Heiligkeit des menschlichen Lebens und die Tatsache, d a ß die meisten Tiere nicht ihresgleichen fressen, die Menschenfresserei als eine der scheußlichsten Verirrungen der menschlichen N a t u r zu kennzeichnen scheint. Bei diesen drei Typen von Widerwillen ist wohl der Ekel d a s erste Gefühl, das bei dem Gedanken an ein Durchbrechen der Sitte zu unserem Bewußtsein k o m m t . Wir erklären die E n t s t e h u n g des Ekels auf verschiedene Weise, je nach der Art der Ideen, die mit dem Gegenstande der Sitte verbunden sind, und die durch die Verletzung der Sitte mit besonderer S t ä r k e uns ins Bewußtsein k o m m t . Im ersten jener drei Fälle e r h a l t e n wir den Eindruck, d a ß die persönliche Beziehung zu den Tieren der wahre gefühlsmäßige Grund f ü r ihren Nichtgebrauch zu Nahrungszwecken ist, obwohl wir bei eingehenderer P r ü f u n g vielleicht auch die Gewohnheiten der Tiere als Ursache f ü r unseren Widerwillen auffassen könnten. Im zweiten Fall begnügen wir uns ohne weiteres mit dem Gef ü h l e des Ekels; im d r i t t e n würde die Unsittlichkeit der Menschenfresserei als alleiniger genügender Grund gelten. Andere Beispiele retrospektiver E r k l ä r u n g bieten die zahlreichen Sitten, die zu einer Zeit eine religiöse oder halbreligiöse B e d e u t u n g angenommen h a t t e n , und die nun auf G r u n d von mehr oder weniger sicheren Nützlichkeitstheorien fortgesetzt und erklärt werden. Hierher gehört die große G r u p p e von Gebräuchen, die sich auf blutschänderische E h e n beziehen. Es ist b e k a n n t , d a ß bei den Völkern der E r d e die Verwandtschaftsgrade, u n t e r denen Ehen verboten sind u n d als Blutschande gelten, s t a r k variieren; bei den einen u m f a ß t sie eine große, nicht durch nachweisbare B l u t s v e r w a n d t s c h a f t zusammenhängende Unterabteilung des S t a m m e s ; bei anderen Vettern u n d Kusinen, deren E l t e r n Geschwister gleichen Geschlechts sind, während solche, deren Eltern Geschwister entgegengesetzten Geschlechts sind, nicht darin eingeschlossen s i n d ; oder sie ist die Gruppe der wirklichen nächsten B l u t s v e r w a n d t e n . Der Umfang der G r u p p e n h a t sich also o f f e n b a r o f t und s t a r k verändert, doch der Abscheu gegen derartige E h e n bleibt gleichmäßig s t a r k .

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S t a t t religiöser Vorschriften gibt m a n aber jetzt zur Beg r ü n d u n g Nützlichkeitsprinzipien an, indem man a n n i m m t , d a ß bei Ehen zwischen n a h e n V e r w a n d t e n die N a c h k o m m e n s c h a f t Degenerationserscheinungen zeigt. — Ebenso wurden f r ü h e r Menschen, die von widerwärtigen K r a n k h e i t e n heimgesucht waren, gemieden, weil m a n glaubte, d a ß G o t t sie g e s t r a f t habe, während j e t z t dieselbe Isolierung aus F u r c h t vor Ansteckung fortgesetzt wird. — Das allmähliche Verschwinden von Flüchen im Englischen in der Sprache der Gebildeten wurde zunächst d u r c h ein religiöses Verhalten b e s t i m m t und wurde schließlich nur eine Sache des guten Tons. Um ein ganz anders geartetes Beispiel dieser Erscheinungen zu finden, brauchen wir uns n u r in eine noch nicht lange vergangene Zeit zu versetzen, in der ein Abweichen von den herrschenden religiösen Anschauungen noch als ein Verbrechen galt und d e m g e m ä ß b e h a n d e l t wurde. Die Unduldsamkeit der Konfessionen und die energische Verfolgung der Ketzerei kann man nur verstehen, wenn m a n das Verhalten der Menschen nicht vom v e r n u n f t m ä ß i g e n S t a n d p u n k t e aus ansieht, sondern die Heftigkeit der Gefühle in Betracht zieht, die eine Abweichung von der gewohnten Denkweise hervorrief, weil diese eben gegen die von Kindheit an zur N a t u r gewordenen Prinzipien des Denkens und Fühlens verstießen. Es handelte sich gar nicht u m die logische Richtigkeit oder Unrichtigkeit neuer Ideen, sondern u m die Gefühlserregung, die u n m i t t e l b a r durch den Widerspruch gegen gewohnheitsmäßige D e n k f o r m e n ausgelöst wurde u n d alle weiteren d a m i t v e r k n ü p f t e n Denkprozesse beherrschte. Die verstandesmäßige Verurteilung der Ketzerei war gewöhnlich nur eine Rechtfertigung der gefühlsmäßig eingenommenen Stellung. In allen diesen Fällen s t ü t z t sich die verstandesmäßige Erklärung des Widerstandes gegen eine Änderung des Verhaltens auf die Ideengruppe, die in u n m i t t e l b a r e r Beziehung zu den ausgelösten Gefühlen stehen. W o es sich u m die T r a c h t handelt, werden Gründe d a f ü r a n g e f ü h r t , w a r u m die eine schicklich, die andere unschicklich ist; handelt es sich um den Glauben, so wird ein Grund d a f ü r gesucht, w a r u m

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der Unglauben ein Verbrechen ist; und ebenso v e r h ä l t es sich in allen anderen Fällen. Die genauere Untersuchung der geistigen Vorgänge beweist aber aufs deutlichste, daß diese verstandesmäßigen Gründe nur dazu dienen, uns psychologisch unser Unbehagen zu erklären; d a ß jedoch unser Widerstand gegen das Ungewohnte nicht durch zielbewußtes Denken bestimmt w i r d , sondern zu allermeist durch die gefühlsmäßige W i r k u n g des neuen Gedankens, der eine Dissonanz mit dem Gewohnheitsmäßigen schafft, die nur kräftige N a t u r e n überwinden. In allen diesen Fällen gehorcht der Mensch der Sitte so oft und so regelmäßig, d a ß die gewohnheitsmäßige Handlung ganz automatisch wird. Daher ist auch der Gefühlswert dieser H a n d l u n g e n meist sehr gering. J e automatischer, je weniger b e w u ß t aber eine H a n d l u n g ist, um so schwerer ist es, eine ihr widersprechende H a n d lung auszuführen, u m so größere Willenskraft ist f ü r deren D u r c h f ü h r u n g nötig, und um so unbequemer oder unangenehmer wird die u n g e w o h n t e H a n d l u n g sein. Man k a n n auch beobachten, d a ß die A u s f ü h r u n g einer ungewohnten Handlung durch eine andere Person sofort die A u f m e r k samkeit s t a r k auf sich lenkt und in vielen Fällen unangenehme Gefühle h e r v o r r u f t . Auf diese Weise werden bei Gelegenheit eines Bruches mit dem Gewohnten all die Ideengruppen, mit denen dasselbe assoziiert ist, ins Bewußtsein gerufen. Eine Schüssel voll Hundefleisch, die uns vorgesetzt wird, würde uns die engen Beziehungen zwischen Mensch und H u n d zum Bewußtsein bringen; ein Menschenfresserfest würde all die gesellschaftlichen Grundsätze, die uns zur zweiten N a t u r geworden sind, wachrufen. J e automatischer eine Reihe von Handlungen oder gewisse Denkformen sind, ein um so größerer, bewußter Energieaufwand ist nötig, um mit der alten Handlungs- u n d Denkweise zu brechen, und u m so größer die Überraschung u n d o f t auch das Unbehagen, das durch die Neuerung hervorgerufen wird. Der Widerstand gegen sie ist eine Reflexhandlung, die von Gefühlen begleitet ist, die nicht auf b e w u ß t e m Nachdenken beruhen. Sobald wir uns nun dieser gefühlsmäßigen Reaktion b e w u ß t werden, suchen wir sie durch verstandesmäßiges Denken

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zu verstehen. Die E r k l ä r u n g m u ß sich d a n n notgedrungen auf die Ideen stützen, welche beim Bruche mit dem alten Brauche ins Bewußtsein t r e t e n ; mit anderen Worten, unsere rationalistische Erklärung m u ß von dem Charakter der mit dem Vorgange assoziierten Ideen abhängen. Nicht minder heftig t r i t t diese gefühlsmäßige Reaktion ein, wenn es sich um Anschauungen handelt, die den herrschenden Ideen zuwiderlaufen, und die um so heftiger befehdet werden, je mehr das Befehdete mit unserem ganzen Wesen verwachsen ist, in je früherer J u g e n d es ein Teil unseres Denkens geworden ist. Diesem W i d e r s t a n d wird auch hier die rationalistische E r k l ä r u n g gegeben, die assoziativ am engsten mit den betreffenden Ideen v e r b u n d e n ist. Bei religiösen Fragen wird bei uns deshalb auch oft das ethische Argument herangezogen. Es ist d a h e r von großer Wichtigkeit zu wissen, woher die mit derartigen Handlungen assoziierten Ideen s t a m m e n , besonders auch, ob wir annehmen dürfen, daß diese Assoziationen in verschiedenen Perioden Änderungen unterliegen. Es ist nicht ganz leicht, Beispiele f ü r solchen Assoziationswechsel in unserer K u l t u r zu geben, weil im großen und ganzen die rationalistischen Tendenzen unserer Zeit viele derartige Assoziationen zerstört h a b e n , selbst wo der Gefühlston f o r t b e s t e h t ; so d a ß bei uns der Wechsel eher ein Verschwinden als ein Wechsel der Assoziationen ist. Aber das Gesagte genügt, um zu beweisen, d a ß die aus unserem modernen Fühlen abgeleiteten Erklärungen einer Gewohnheit nur selten mit denen ü b e r e i n s t i m m e n , die zu der Zeit als die Gewohnheit sich bildete, herrschend waren, und d a ß sie psychologische, nicht historische Erklärungen sind. W i r können uns nun den analogen Erscheinungen im Leben der k u l t u r a r m e n Völker zuwenden. Hier ist das Widerstreben gegen alles, was gegen die Sitte verstößt, noch bedeutend größer als in unserer K u l t u r . W e n n es nicht Sitte ist, mit dem Kopfe dem Feuer zugewendet zu schlafen, so wird ein Zuwiderhandeln g e f ü r c h t e t und ängstlich vermieden. W e n n Glieder der gleichen Unterabteilung eines Stammes nicht unter einander heiraten, so wird sich auch eine schauervolle Furcht und ein unüberwindlicher Widerwille gegen

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derartige Ehen ä u ß e r n . Es ist wohl nicht nötig, Beispiele zu häufen, denn es ist ja w o h l b e k a n n t , d a ß je k u l t u r ä r m e r ein Volk ist, desto strenger es durch Sitten, die das tägliche Leben regeln, gebunden ist. W i r dürfen n u n wohl unsere eigene E r f a h r u n g auf die K u l t u r a r m e n übertragen und schließen, d a ß wie bei uns, so auch bei ihnen, der Widers t a n d gegen ein Überschreiten der Sitte durchaus auf einem gefühlsmäßigen E i n d r u c k , nicht auf b e w u ß t e m Denken ber u h t . Dieses schließt natürlich nicht die Möglichkeit aus, d a ß die erste Einzelhandlung, die sich zur Sitte entwickelt, b e w u ß t vollzogen w u r d e ; es ist aber wahrscheinlich, d a ß viele Sitten nicht als absichtliche H a n d l u n g ins Leben treten. Sie müssen sich analog den Kategorien, die in dem Sprachb a u zum Ausdruck k o m m e n , entwickelt haben, ein Vorgang, der, wie wir schon gesehen haben, dem Volke, das die Sprache gebraucht, nie zum Bewußtsein gekommen sein kann. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung der australischen gesellschaftlichen Systeme. Nach C u n o w ist das Prinzip der Systeme in seiner einfachsten F o r m folgendes. Die S t ä m m e teilen sich in vier exogame G r u p p e n . Der Sitte nach m u ß ein Mitglied der ersten Gruppe eines der zweiten, ein Mitglied der d r i t t e n Gruppe eines der vierten heiraten. Die Kinder des ersten Paares gehören dann, je n a c h d e m ob die M u t t e r der ersten oder zweiten Gruppe angehört, der d r i t t e n oder vierten an. Die Kinder des zweiten Paares gehören ebenso, je nachdem ob die Mutter der dritten oder vierten G r u p p e angehört, der ersten oder zweiten an. N i m m t m a n n u n an, d a ß die erste, dritte, f ü n f t e Generation, d. h. alle ungeraden Generationen einen gemeinsamen N a m e n , und alle geraden Generationen einen anderen Namen haben, und d a ß die Sitte heischt, d a ß nur Mitglieder derselben Generation untereinander heiraten, so entwickelt sich, beim Vorhandensein zweier exogamer Abteilungen, die den ganzen S t a m m u m f a s s e n , das oben beschriebene System. N e n n t m a n nämlich die beiden exogamen Gruppen A u n d B, die endogamen Generationen 1 und 2, so ergibt sich folgendes: Der Mann AI heiratet die F r a u B1 und ihre Kinder sind B2 »T »» ,, ,, ,, AI ,, ,, ,, ,, A2

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Der M a n n A2 h e i r a t e t die Frau B2 und ihre Kinder sind B1 ,, >j B2 ,, ,, ,, A2 ,, ,, ,, ,, AI N i m m t man hier z. B. an, d a ß ursprünglich jede Generation allein lebt, so waren aus diesem Grund Ehen zwischen verschiedenen Generationen unmöglich, da nur heiratsfähige Individuen derselben Generation in Berührung kamen. S p ä t e r , als die folgenden Generationen nicht so s t a r k im Alter differierten und d a m i t ihre Isolierung aufhörte, mag die Sitte schon so gefestigt gewesen sein, d a ß sie bei den v e r ä n d e r t e n Bedingungen nicht wieder verschwand. In einer Anzahl von Fällen ist es wenigstens denkbar, d a ß die älteren Sitten eines Volkes in neuer Umgebung sich in T a b u s entwickeln. Ich halte es z. B. f ü r wohl möglich, d a ß d a s eskimoische T a b u , durch das der Gebrauch von R e n n t i e r und Seehund am gleichen Tage verboten ist, auf d a s wechselnde Leben des Volkes im Binnenlande und an der K ü s t e zurückgeht. W e n n die Eskimos im Binnenlande jagen, haben sie keine Seehunde und leben von Renntieren und anderen Landtieren. J a g e n sie auf dem Meer, so haben sie keine Renntiere und leben nur von Seetieren. Der von ihrer Lebensweise bedingte U m s t a n d , d a ß in einer Jahreszeit n u r Landtiere, in einer anderen n u r Seetiere zur Verfügung stehen, k a n n leicht zu einem Widerstande gegen einen Wechsel in dieser Lebensweise g e f ü h r t haben, so d a ß daraus, d a ß lange Zeiten hindurch die beiden Tierarten nicht zu gleicher Zeit gebraucht werden k o n n t e n , sich das Gesetz entwickelte, d a ß sie nicht zusammen gebraucht werden durften. Ebenso mag das Fischtabu einiger S t ä m m e Arizonas und Neu Mexikos, wohl darauf zurückgehen, d a ß die S t ä m m e lange Zeit in Gebieten lebten, in denen es keine Fische gab, und d a ß daraus, d a ß sie keine Fische gebrauchen k o n n t e n , sich die Idee entwickelte, daß sie keine Fische gebrauchen d u r f t e n . Diese hypothetischen Fälle beweisen, d a ß der u n b e w u ß t e Ursprung von Gebräuchen wohl d e n k b a r , wenngleich natürlich nicht notwendig ist. Es scheint indessen ebenfalls sicher, daß, wenn bewußtes Denken zur Bildung einer Sitte g e f ü h r t hat, die Ursachen ihrer Bildung rasch vergessen werden, so d a ß wir später einen u n m i t t e l b a r e n gefühlsmäßigen Widerstand gegen ein Zuwiderhandeln finden.

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Andere H a n d l u n g e n , die als schicklich oder unschicklich gelten, werden nur durch die Macht der Gewohnheit stetig ausgeführt oder vermieden; und keine Gründe f ü r die herrschende Auffassung werden angegeben, obwohl die W i d e r s t ä n d e gegen das Unschickliche sehr stark sein mögen. So gilt es bei den Indianern von Vancouver Island als unpassend f ü r ein junges, adliges Mädchen ihren Mund weit a u f z u m a c h e n u n d rasch zu essen, und ein anderes Verhalten würde so sehr als eine Unschicklichkeit empfunden werden, d a ß es die gesellschaftliche Stellung des Mädchens beträchtlich schädigen würde. Ähnliche Gefühle werden bei den S t a n desgenossen ausgelöst, wenn bei uns ein Mitglied des Adels u n t e r seinem Range heiratet. Bei anderen, geringfügigeren Anlässen bringt das Überschreiten der Grenze des Schicklichen nur den E i n d r u c k des Lächerlichen hervor. All diese Fälle aber gehören vom psychologischen Gesichtspunkte in die Klasse rein gefühlsmäßiger Reaktionen gegen einen Bruch mit den gewohnten, automatischen Handlungen. N u n k ö n n t e es vielleicht scheinen, als ob bei kulturarmen Völkern sich k a u m Gelegenheiten bieten würden, bei denen die starken gefühlsmäßigen Widerstände gegen Verletzung der Sitte ins Bewußtsein kommen k ö n n t e n , da eben die Sitte jeden einzelnen aufs strengste bindet. Es findet sich aber im Volksleben eine Erscheinung, die dazu beiträgt, das zähe Festhalten an den Lebensgewohnheiten immer wieder ins Bewußtsein zu rufen, nämlich die J u g e n d erziehung. Das Kind n i m m t einen großen Teil des gewohnheitsmäßigen Betragens seiner Stammesgenossen durch unbewußte N a c h a h m u n g an. O f t aber wird es auch anders h a n deln, als die Sitte erheischt, und d a n n von den älteren Stammesgenossen zurückgewiesen werden. Ein jeder, der mit dem Leben der K u l t u r a r m e n wirklich durch Beobachtung v e r t r a u t ist, weiß, d a ß die Kinder immer wieder e r m a h n t werden, dem Beispiele der Erwachsenen zu folgen, und jede sorgfältig angelegte S a m m l u n g von Überlieferungen enthält viele Stellen, in denen erzählt wird, daß Eltern ihre Kinder ermahnen und sie dazu anhalten, die Stammessitten zu beobachten. J e größer der Gefühlswert einer Sitte ist, um so stärker wird auch der Wunsch sein, sie den Kindern

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einzuprägen. Auf diese Weise ergibt sich häufig Gelegenheit, den gefühlsmäßigen Widerwillen gegen Verstöße wider die Sitte ins Bewußtsein zu bringen. Es will mir scheinen, d a ß diese Verhältnisse einen sehr starken Einfluß auf die Bildung von Vorstellungen gehabt haben müssen, die mit den Sitten in Beziehung stehen; denn sobald ein Verstoß gegen die Sitte v o r k o m m t , werden notwendiger Weise die Menschen entweder infolge von Kinderfragen oder durch ihren eigenen Denktrieb veranlaßt, sich vor die Tatsache gestellt finden, d a ß es gewisse mächtige Ideen gibt, die gar nicht zu begründen sind, die aber eben da sind. Der W u n s c h , die eigenen Gefühle und Handlungen zu motivieren und die N a t u r zu verstehen, ist aber auch bei den K u l t u r a r m e n s t a r k entwickelt, und daher ist es nicht zu verwundern, d a ß auf allen uns b e k a n n t e n K u l t u r s t u f e n der Mensch über die Motive seiner Handlungen nachgedacht h a t . Wir haben n u n gesehen, d a ß viele dieser Handlungen nicht bewußten Motiven entsprungen sind, und deshalb wird der Mensch notgedrungen zur Suche n a c h l bestimmenden Motiven g e f ü h r t . Aus diesem Grunde werden überall, auf allen K u l t u r s t u f e n , gewohnheitsmäßige Handlungen zum Gegenstande sekundärer Erklärungen, die gar nichts mit ihrem tatsächlichen Ursprung zu t u n h a b e n , sondern zumeist psychologische Schlüsse aus der Lebenserfahrung des Volkes sind. Das Vorkommen solcher sekundärer, nachträglicher Deutungen gewohnheitsmäßiger Handlungen ist eine der allerwichtigsten ethnologischen Erscheinungen, und ist, wie wir gesehen haben, bei uns selbst nicht weniger häufig, als bei den K u l t u r a r m e n . Es ist ja eine b e k a n n t e Beobacht u n g , d a ß wir zuerst wünschen und handeln, d a n n erst unsere Wünsche und Handlungen rechtfertigen. W e n n wir zu einer b e s t i m m t e n politischen Partei gehören, sind wir k a u m immer durch die klare Überzeugung geleitet, d a ß die Prinzipien derselben die einzig richtigen sind, vielmehr kommen wir zu diesem Schluß, weil wir gewohnt sind, sie als die im Recht befindliche Partei anzusehen; d a n n erst rechtfertigen wir unseren S t a n d p u n k t , indem wir u n s selber beweisen, d a ß ihre Prinzipien die richtigen sind. Ohne ein solches Vorgehen wäre die Stabilität politischer B o a s , Kultur und Rasse.

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Parteien einerseits, ihre geographische und gesellschaftliche Verteilung anderseits gar nicht zu verstehen. Daß bewußten Interessenkonflikten keine grundlegende Bedeutung zukommt, zeigt die parallele Erscheinung im kirchlichen Leben; denn auch die gesellschaftliche und geographische Verteilung von Konfessionen würde ohne das Vorhandensein analoger Denkprozesse ganz unverständlich sein. Nicht minder wird diese Anschauung durch die Einzelfälle belegt, in denen ein Individuum sich von der in seinem Kreise herrschenden Meinung loslöst, ein Vorgang, der typischer Weise zu den heftigsten Seelenkämpfen führt und die gefühlsmäßige, nicht rationale Grundlage der herrschenden Anschauungen in das klarste Licht stellt. Eine freimütige Untersuchung unserer eigenen Seelenzustände muß uns überzeugen, daß in bei weitem den meisten Fällen der Durchschnittsmensch im täglichen Leben zunächst nicht vernunftgemäß handelt, sondern daß er erst handelt und dann nachträglich seine Handlung gemäß den herrschenden Anschauungen erklärt und rechtfertigt. Das Hauptresultat unserer Untersuchung bildet also der Schluß, daß der Ursprung der Gebräuche der Kulturarmen nicht in rationalen Vorgängen gesucht werden darf. Die meisten Forscher, die versucht haben, Geschichte von Sitten und Tabus zu erklären, sind der Meinung, daß sie Resultate des Nachdenkens über das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur seien; der Kulturarme nämlich sehe die Welt von übernatürlichen Mächten erfüllt, die ihm beim geringsten Anlaß Schaden zufügten, und der Versuch, die Feindschaft dieser Mächte abzuwehren, bestimme die unzähligen abergläubischen Lebensvorschriften. Die Grundanschauung ist mithin, daß die Gewohnheiten und Anschauungen der Kulturarmen auf bewußtem Denken beruhten. Allerdings würde diese Erklärungsweise auch ihre Geltung behalten, wenn wir dieselben Vorgänge als unbewußt, aber ausschließlich aus der Sinneserfahrung entstanden auffaßten. Allein selbst wenn wir sie so auffassen wollten, ließen wir doch offenbar den wichtigen Einfluß des Gefühlslebens ganz außer Betracht. Auch bedürfen diese Anschauungen einer Ergänzung, da, wie wir gesehen haben, die

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Sitten oft ohne irgend welches bewußte oder unbewußte Denken entstanden sind, und erst ins Bewußtsein t r a t e n , wenn sich diese Bedingungen änderten. Es ist ja unzweifelhaft, daß manche Sitten mehr oder weniger bewußtem Denken entstammen, aber es ist gerade so sicher, d a ß andere ganz ohne Willen und Wissen der Völker e n t s t a n d e n sind; und unsere Theorien müssen beide Entstehungsweisen in Betracht ziehen. Wir haben bislang den Ursprung und die Erklärungsweise von Sitten betrachtet, bei denen ein Verstoß gegen das Herkommen ihren Gefühlswert zum Bewußtsein bringt und einen starken Widerstand auslöst; und bei denen die Überlegung über die Ursachen dieses Verhaltens zur sekundären Konstruktion von Gründen f ü h r t , die als treibende K r ä f t e angenommen werden. Wir haben bei den K u l t u r völkern beobachtet, d a ß die ausgelösten Gefühle mit bes t i m m t e n Begriffen assoziiert sind, und d a ß diese daher die Quelle abgeben, aus der das Material f ü r die Erklärungen geschöpft wird. Bei den K u l t u r a r m e n überwiegt in allen diesen Fällen die Assoziation mit der allgemeinen W e l t a n s c h a u u n g und der Religion; das heißt, fast alle Ursprungserklärungen von Sitten werden bei ihnen aus religiösen und mythologischen Quellen e n t n o m m e n . Die religiöse F ä r b u n g t r i t t allerdings nicht überall gleich ausgesprochen hervor. Sie äußert sich oft n u r in einer mehr oder weniger unklaren Symbolik oder bleibt auch wohl auf die u n b e s t i m m t e F u r c h t vor unheilvollen Folgen reduziert. Außer den bislang besprochenen Formen finden wir n u n aber im Leben der K u l t u r a r m e n noch einen ganz anderen T y p u s von Assoziationen verschiedenartiger Geistestätigk e i t e n , die sich nicht so leicht verstehen lassen. Einige Erscheinungen, die auf diesen T y p u s zurückgehen, kommen auch noch in unserer K u l t u r vor. So sind in unserer Seele düstere F a r b e n und deprimierte Gefühle eng v e r b u n d e n , obwohl diese Verbindung keineswegs f ü r die ganze Menschheit gültig ist. Lärm in einem Trauerhause gilt uns als u n p a s s e n d , obwohl bei K u l t u r a r m e n das Klagelied der natürliche Ausdruck der Trauer ist. Die Zierkunst s t e h t im Dienste der Schönheit, aber Zierformen wie das Kreuz 14»

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oder die Flagge können wegen ihrer Bedeutung nicht frei als ästhetische Motive v e r w a n d t werden. Im großen und ganzen freilich sind bei modernen K u l t u r völkern solche Assoziationen zwischen psychologisch anscheinend ganz getrennten Vorstellungsgruppen nicht häufig. D a ß sie jedoch einst in größerer Zahl bestanden haben, geht sowohl aus historischen Quellen wie aus Überbleibseln hervor, bei denen die alten Ideen zugrunde gegangen sind, obwohl die äußere Form der H a n d l u n g noch fortlebt. Im Leben der K u l t u r a r m e n sind sie leichter aufzufinden, da sie dort in großem U m f a n g v o r k o m m e n . Wir wollen zunächst von Fällen ausgehen, die modernen Vorkommnissen ähneln und uns d a h e r leicht verständlich sind. Das R i t u a l d ü r f t e das Gebiet sein, in dem derartige Verbindungen im allerweitesten Umfange vorkommen. Als Begleiterscheinungen wichtiger Handlungen finden wir zahlreiche feste, immer wieder a n g e w a n d t e Riten, die an sich mit der H a n d l u n g selbst in g a r keiner Beziehung zu stehen b r a u c h e n , sondern formale Anwendungen bestimmter Gebräuche auf beliebige Lebenslagen sind. Dabei k o m m t f ü r unsere Frage nicht in B e t r a c h t , ob etwa f r ü h e r einmal eine innigere Verbindung b e s t a n d e n h a t , die im Laufe der Zeit vergessen ist (geht doch der Ursprung mancher in unserer Zeit erhaltenen R i t u a l f o r m e n vielleicht bis auf prähistorische Zeiten zurück). Bei u n s ist nun der Gebrauch des Rituals beträchtlich eingeschränkt, aber bei k u l t u r a r m e n Völkern beherrscht er das ganze Leben. Keine einzige wichtige H a n d l u n g wird von ihnen vollzogen, die nicht von mehr oder weniger umständlichen R i t e n begleitet ist. Wir wissen n u n , d a ß bei den Ritualen unaufhörlich die vorhin besprochene Tendenz mitwirkt, sekundäre Erklärungen zu erfinden. Deshalb sind auch, wie oft nachzuweisen ist, d i e Riten selber älter und stabiler als ihre Erklärungen, u n d derselbe Ritus symbolisiert bei verschiedenen Völkern u n d in verschiedenen Zeitperioden verschiedene Ideen. So k o m m t es, d a ß sie ihre Deuter zu den wunderlichsten Assoziationen mit den Handlungen, die sie begleiten, veranlassen. W ä h r e n d dieses Verhältnis im Prinzip klar liegt, l ä ß t es sich nur schwer in den einzelnen Erscheinungen d e s

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religiösen Ritus verfolgen. Deutlicher t r i t t es in anderen Fällen zutage, und von diesen aus öffnet sich ein Weg zum Verständnisse mancher der am schwersten erklärlichen Erscheinungen des Völkerlebens. Im modernen Kulturleben ist die B e t r a c h t u n g der Himmelserscheinungen immer mit der Frage assoziiert, wie sie auf Grund des Kausalitätsprinzips ausreichend erklärt werden können. Bei den k u l t u r a r m e n Völkern f ü h r t die Bet r a c h t u n g derselben Erscheinungen zu typischen Assoziationen, die von den unseren ganz verschieden sind, die aber mit großer Regelmäßigkeit bei den Volksstämmen aller Erdteile a u f t r e t e n . Unter diesen n i m m t den allerersten Platz die Verbindung zwischen Himmelserscheinungen und Ereignissen des menschlichen Lebens ein, auf welcher die N a t u r m y t h e n b e r u h e n . Mir erscheint als der Grundzug aller N a t u r m y t h e n die Assoziation der Beobachtung von Naturvorgängen mit einer Erzählung, deren Inhalt aus dem Leben der menschlichen Gesellschaft gegriffen ist. Die Erzählung k ö n n t e sich ebensowohl unter Menschen abspielen, aber ihre Assoziation mit den Gestirnen, dem Gewitter, dem Wind oder Regen m a c h t sie f ü r uns zu einer N a t u r m y t h e . Ein Hauptunterschied zwischen Märchen und N a t u r m y t h e n b e r u h t eben in der wesentlichen Beziehung des Mythos auf N a t u r p h ä n o m e n e . Diese Assoziation entwickelt sich nicht mehr n a t u r g e m ä ß u n t e r modernen Verhältnissen. W e n n sie sich bei uns noch hin und wieder findet, b e r u h t sie auf der Erinnerung an die alte Überlieferung. U n t e r den kulturarmen Völkern dagegen k o m m t sie regelmäßig vor. Ein anderes Beispiel der hier besprochenen Assoziationstypen bietet die primitive Zierkunst. Bei uns ist der einzig wesentliche Zweck der Zierkunst die Verschönerung der Gebrauchsgegenstände. Allerdings läßt sich nun eine gewisse Beziehung zwischen dem Gebrauchszwecke eines Gegenstandes und seiner Verzierung 3nicht a b l e h n e n , insofern wenigstens als der Gefühlswert des O r n a m e n t e s nicht mit den vom Gebrauche geweckten Gefühlswerten im Widerspruch stehen darf. Abgesehen hiervon aber werden der W e r t und die Auswahl des Ornamentes nicht von inhaltlichen, sondern von rein ästhetischen, formalen

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Gesichtspunkten aus b e s t i m m t . Diese Verhältnisse liegen n u n bei k u l t u r a r m e n Völkern ganz anders. Reiches Material über die Zierkunst der K u l t u r a r m e n aller Erdteile liegt j e t z t vor und beweist, d a ß außerordentlich häufig das dekorative Muster eine mehr oder weniger deutlich ausgesprochene symbolische B e d e u t u n g h a t . Es gibt nur wenige Fälle, in denen k u l t u r a r m e S t ä m m e nicht irgendeine Erklärung der von ihnen b e n u t z t e n Muster geben können. Manchmal ist die symbolische Beziehung n u r s c h w a c h , gewöhnlich aber ist sie s t a r k entwickelt. Wie man bei jedem Volke einen b e s t i m m t e n K u n s t stil erkennen k a n n , so h a t auch die Symbolik oder die assoziative V e r k n ü p f u n g der Muster mit Gegenständen ihren eigenen Stil, der f ü r die Kunstentwicklung bei dem Einzelstamme nicht ohne Bedeutung ist. Bei den S i o u x - I n d i a n e r n ist wohl die hohe Bewertung kriegerischer Tüchtigkeit u n d die Sitte, kriegerische T a t e n zur E r h ö h u n g des eigenen Ansehens vor versammeltem S t a m m e prahlerisch in W o r t und H a n d l u n g v o r z u t r a g e n , die Veranlassung dazu gewesen, d a ß die Männer die auf ihrer Kleidung angebrachten Ziermuster als Symbole ihrer eigenen Kriegstaten gedeutet h a b e n , während die Frauen in den formgleichen Elementen ihres Kleidungsschmuckes ganz andere Ideen verkörpert sehen ( W i s s l e r ) . In diesem Falle wenigstens ist es nicht schwer, der Denkweise zu folgen, die zu einer Assoziation zwischen der Zierform und der Darstellung von Kriegstaten f ü h r t , obwohl der Schritt für uns offenbar eine viel b e w u ß t e r e Arbeit erfordert als f ü r den Indianer; denn die weite Verbreitung der Symbolik der Zierkunst beweist ja, d a ß die Verbindung sich automatisch, ohne Vorhandensein willkürlicher D e u t u n g vollzieht. So will es fast scheinen, d a ß es bei vielen K u l t u r a r m e n eine Zierkunst um ihrer selbst willen k a u m gibt. In unserer modernen K u n s t bieten Symbole, wie d a s Kreuz, die Flagge oder die Abzeichen geheimer Gesellschaften und ähnliches wohl die einzigen Analoga, die aber im Vergleich zu der weit verbreiteten Symbolik der K u l t u r a r m e n k a u m eine Rolle spielen. Wir h a b e n hier also bei den K u l t u r a r m e n einen Assoziationstypus, der von dem unseren grundver-

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schieden ist. Dort ist das ästhetische Motiv typisch mit dem symbolischen v e r k n ü p f t , während es bei uns entweder ganz unabhängig davon erscheint oder mit gewissen dem Gebrauche des verzierten Gegenstandes entspringenden Ideen v e r k n ü p f t ist. Gegen die hier vertretene Anschauung ließe sich geltend m a c h e n , d a ß d a s , was wir Assoziationen genannt haben, in Wirklichkeit Überbleibsel alter Einheiten sind; d a ß also die N a t u r m y t h e in ihrem Ursprung tatsächlich eine Erzählung, die an Naturerscheinungen a n k n ü p f t e , w a r ; und d a ß die Zierkunst ursprünglich b e s t i m m t e Ideen zum Ausd r u c k brachte. Die Phantasie des K u l t u r a r m e n also h ä t t e so o f t die Naturerscheinungen u n m i t t e l b a r in der Form menschlicher Schicksale und menschlicher Handlungen aufgefaßt, und er h ä t t e so regelmäßig in seiner Zierkunst bes t i m m t e Ideen zum Ausdruck g e b r a c h t , d a ß diese Auffassungen alle anderen beherrschten und der späteren E n t wicklung ihren Stempel a u f d r ü c k t e n . Da wir nun, unseren ganzen früheren Betrachtungen g e m ä ß , eine Gleichartigkeit im Geistesleben aller K u l t u r a r m e n voraussetzen, so m ü ß t e n auch diese Richtungen sich j e t z t noch nachweisen lassen. In Wirklichkeit liegen aber die Verhältnisse anders, und eine ursprüngliche Einheit der Auffassung, die der mythischen Erzählung oder der Symbolik der Zierkunst zug r u n d e läge, läßt sich nicht auffinden. Das ergibt sich aus dem Mangel einer jeden festeren Verbindung zwischen dem Inhalt der Erzählung und der Naturerscheinung, die er zur Darstellung bringt, und ebenso aus den besonderen F o r m e n der Zierkunst im Verhältnis zu den Ideen, die sie darstellen, und es wird besonders deutlich in all den Fällen, wo ein ornamentaler Stil oder ein Mythus von einem Volke zum anderen wandert. Der allgemein symbolische Char a k t e r der Zierkunst steht nicht im Widerspruch mit der Möglichkeit, d a ß die Muster und der besondere Stil, der sich in ihrer technischen A u s f ü h r u n g und in der Komposition k u n d g i b t , von f r e m d e n Völkern entlehnt sind. Dieses ist etwa bei den Indianern der Prärien Nordamerikas der Fall, die alle Hauptbestandteile ihrer K u n s t von ihren südwest-

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liehen Nachbarn entlehnt haben. Sie haben aber nicht ihre Art der symbolischen Auffassung mit übernommen, sondern ihre eigene Auffassung hineingelegt. Ein Beispiel bildet das gleichschenklige Dreieck, von dessen horizontaler Basis aus eine Anzahl kurzer Linien senkrecht absteigen. Im regenarmen Südwesten wird dieses O r n a m e n t auf die Regenwolke gedeutet, aus der f r u c h t b r i n g e n d e r Regen niedert r ä u f e l t ; bei den wandernden P r ä r i e s t ä m m e n auf das Zelt mit seinen Zeltpflöcken; bei anderen auf einen B e r g , an dessen Fuße Quellen entspringen. Im fernen Nordwesten soll dieselbe Form die T a t z e und Klauen des Bären darstellen. Auch aus anderen Gebieten sind ähnliche Beispiele zu erbringen, wie die U m d e u t u n g der Spiralmuster Sibiriens in Vogelformen, die am A m u r herrschend ist ( L a u f e r ) und ihre Auffassung als Pferdehufe bei den J a k u t e n , wie J o c h e l s o n sie beschrieben h a t . Hierher darf m a n auch die Entwicklung des gravierten Y-förmigen Ornaments der Eskimo rechnen, das nach Verbreiterung der Basis und der Arme in den Schwanz eines Walfisches gedeutet, jedoch nach Zufügung kleiner Kreise an den Spitzen der aufstrebenden Arme als Blume a u f g e f a ß t wird. Ich denke mir die D e u t u n g entliehener Muster als Ergebnis eines geistigen Vorgangs, der begann, als die Muster ansprachen und deshalb n a c h g e a h m t wurden. Gemäß der herrschenden Gedankenrichtung wurde eine Bedeutung der Muster erwartet und deshalb auch im Einklänge mit den Denkformen des S t a m m e s gefunden. So viel s t e h t fest, d a ß in solchen Fällen die Muster älter sind als ihre jetzige Erklärung. Diese Betrachtungen lassen sich mit f a s t noch größerer Sicherheit auf die M y t h o l o g i e der K u l t u r a r m e n anwenden. Dieselben Erzählungen finden sich über außerordentlich große Gebiete verbreitet, aber ihre jeweiligen örtlichen mythologischen Formen sind grundverschieden. Eine und dieselbe Geschichte erklärt einmal die Merkmale eines Tieres, gesellschaftliche Sitten, eigentümliche Landesformen oder gar den Ursprung von Himmelskörpern und Sternbildern. T. T. W a t e r m a n h a t solche Fälle zusammengestellt. Ich erwähne aus seiner Arbeit die Geschichte von der Frau, die einen Hund zum Mann n a h m , und ihren Kindern,

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die in Amerika weit verbreitet ist. Bei den Eskimos erklärt diese Geschichte den Ursprung der E u r o p ä e r ; an der Südkilste von Alaska den Ursprung der Milchstraße, des Regenbogens und des Gewitters, auf der Vancouver-Insel die E n t stehung gewisser Riffe und bei einem anderen S t a m m e die Abs t a m m u n g des Volkes. Im Innern von Britisch-Kolumbien wird aus der Geschichte ein Tabu e r k l ä r t ; weiter im Norden der Ursprung des Orion und auch die Merkmale verschiedener Tiere; bei den Schwarzfüßen der U r s p r u n g des sogenannten H u n d e b u n d e s ; und bei den Arapahos, w a r u m der H u n d ein Freund des Menschen ist. Beispiele dieser Art sind in großer Menge zu finden. Deshalb hege ich nicht den geringsten Zweifel daran, d a ß diese Geschichten selber älter sind als ihre mythologische D e u t u n g . Das charakteristische Merkmal der N a t u r m y t h e ist zunächst, d a ß die Geschichte sich mit Versuchen v e r b u n d e n h a t , Naturerscheinungen zu erklären, wovon wir eben gesprochen h a b e n ; d a n n aber d a r i n , d a ß , als die Denker u n t e r den K u l t u r a r m e n sich des Welträtsels bewußt w u r d e n , sie das ganze Feld ihres Wissens durchs u c h t e n , bis sie etwas f a n d e n , d a ß auf ihr Problem anw e n d b a r war und eine befriedigende E r k l ä r u n g bot. Hierbei m u ß natürlich die mythische Vorstellung, d. h. die Auffassung der eindrucksvollsten N a t u r p h ä n o m e n e als belebter, menschenartiger Wesen je nach ihrer besonderen F o r m einen wesentlichen Einfluß auf die A r t der Assoziation bewirkt h a b e n . W ä h r e n d also die allgemeine Begriffsbildung, die Assoziationstypen und der W i d e r s t a n d gegen Änderungen im Verhalten automatisch sind, müssen viele der sekundären Erklärungen, wie sie die Symbolik in der K u n s t und der Mythus bieten, auf b e w u ß t e m Denken beruhen. In unserem modernen Leben b e r u h e n die Grundlagen der Gesellschaftsordnung, der Gruppierung der Familien in kleineren gesellschaftlichen Einheiten wesentlich auf Blutsverwandtschaft. Abgesehen davon, d a ß die Kirche sich mit G e b u r t , Heirat und Tod b e f a ß t , gibt es keine Beziehung zwischen der Abgrenzung und den T ä t i g k e i t e n des Familienverbandes und der Religion. Dieses Verhält-

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nis ist bei den K u l t u r a r m e n ganz anders, wo wir oft die Ideen und Sitten, welche Gesellschaft u n d Religion betreffen, in unauflöslicher Verbindung finden. Wie in der Zierkunst die F o r m sich mit wesensfremden Ideen verbindet, so verbindet sich der Begriff der gesellschaftlichen Unterabteilung des S t a m m e s mit verschiedenen anderen Begriffen, die ihm an sich ganz fremd zu sein scheinen, mit Begriffsgruppen, welche Erscheinungsformen der äußeren Welt umfassen, besonders aber mit dem Begriffe der Tierspezies. Dieses scheint mir der Grundzug des weit verbreiteten Totemismus zu sein. Ich h a b e diesen Grundzug schon beschrieben: er b e r u h t auf der Idee, d a ß eine besondere Beziehung zwischen einer Art von Dingen, gewöhnlich Tieren, und einer einzelnen gesellschaftlichen Gruppe besteht, eine Beziehung, die zwar f ü r keine andere solche Gruppe gültig ist, die aber bei ihnen durch andere, der Form nach gleiche, dem Inhalte nach verschiedene Beziehungen ersetzt wird. Sehr häufig ist die gesellschaftliche Gruppe, die totemistische Beziehungen h a t , eine G r u p p e von wirklichen oder vermeintlichen Blutsverwandten, und d a m i t t r e t e n Fragen der Berechtigung von Heiraten u n t e r den Mitgliedern der Gruppe in den Vordergrund der Betrachtung. Ferner finden wir in vielen Fällen die Beziehungen zwischen der Gesellschaftsgruppe und der ihr zugeordneten Klasse von Dingen besonders von der religiösen Seite erfaßt, so d a ß jeder der Gruppen Beziehungen zu bestimmten Teilen der übersinnlichen W e l t , besondere K r ä f t e und der Schutz besonderer Mächte zugeschrieben wird. Bei dieser Art den T o t e m i s m u s anzusehen, wird nun die Beziehung der Gesells c h a f t s g r u p p e zu den übernatürlichen Mächten verständlich. D a ß solche Gefühle d u r c h a u s nicht unwahrscheinlich oder selten sind, ergibt sich sofort aus der psychologischen Analyse der Anschauungen des hohen Adels oder des auf die Spitze getriebenen Nationalgefühls. Es ist wohl nicht schwer zu verstehen, d a ß die unmäßige enthusiastische Selbstbewunderung eines Gemeinwesens zu einer mächtigen Leidenschaft auswachsen k a n n , die bei Mangel einer rational begründeten W e l t a n s c h a u u n g die Mitglieder des Gemeinwesens in u n mittelbare und ausschließliche Beziehung zu den weltbeherrschenden Mächten setzt.

X. Die gefühlsmäßigen Assoziationen bei den Kulturarmen.

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Vom psychologischen Gesichtspunkte dürfen wir daher den Totemismus mit den wohlbekannten Gruppenbildungen vergleichen, wenn bestimmte Klassen Vorrechte von Gottes Gnaden beanspruchen oder die zerstreuten Nachkommen einer Nation sich der besonderen O b h u t ihres Gottes rühmen oder endlich ein Ortsheiliger die Ortsangehörigen u n t e r seinem besonderen Schutze hält. Trotz dieser psychologischen Analogien ist es f ü r uns außerordentlich schwer, die Beziehungen, die bei den K u l t u r a r m e n vorkommen, in ihrem ganzen Formenreichtum zu verstehen, da der genannte Assoziationstypus in unserer K u l t u r f o r m zum größten Teil schon verschwunden ist. Wie solche Verbindungen neu entstehen können, lehrt die moderne Programmusik, die in ihrem Wesen der formalen Musik des achtzehnten J a h r h u n d e r t s scharf entgegengesetzt ist. Die letztere war Musik der Formenschönheit. Sie bestand nur der Musik wilien. in der ersteren assoziiert sich das Musikalische mit Elementen aus anderen Erfahrungsgebieten, die ihm selbst ganz fremd sind. Ich glaube, diese Betrachtungen beweisen, d a ß die Sonderung all dieser Erscheinungen nicht durch die Zersetzung ursprünglicher Einheiten entstanden ist, d a ß vielmehr die verschiedenartigen Ideen- und Tätigkeitsgruppen ihre gesonderte Existenz hatten, aber immer wieder in Verbindung t r a t e n , so d a ß die Assoziationen ihrem I n h a l t nach außerordentlich wechselnd, in ihren typischen F o r m e n außerordentlich k o n s t a n t waren. Wie n u n aber auch die Verbindungen ursprünglich ents t a n d e n sein mögen, es kann keinem Zweifel unterliegen, d a ß sie vorhanden sind, und d a ß sie, wie die vorher besprochenen gefühlsmäßigen Assoziationen, leicht ins Bewußtsein t r e t e n ; d a ß d a n n das rationalistische Denken, das ganz der Daten f ü r eine historische Erklärung ermangelt, die herrschenden Bräuche gemäß der herrschenden Gedankenrichtung deutet und bei einem Wechsel der herrschenden Gedankenricht u n g entsprechend umdeutet, d a ß also immer wieder eine psychologische Erklärung an Stelle einer geschichtlichen u n t e r geschoben wird. Wir müssen uns daher bemühen, die Sitten und Bräuche der Völker durch objektive Vergleichung zu

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X. Die gefühlsmäßigen Assoziationen bei den Kulturarmen.

erforschen, d a alle j e t z t beobachteten Erklärungen und Assoziationen vermutlich nicht ursprünglich, sondern sekundär sind. Es ist vielleicht voreilig, jetzt schon den Ursprung dieser Assoziationstypen aufdecken zu wollen; aber wir d ü r f e n immerhin doch auf einige der allgemeinsten Erscheinungen hinweisen, die in dieser Beziehung die K u l t u r der K u l t u r a r m e n von der der Kulturvölker unterscheiden. Von unserem Gesichtspunkte aus ist die große Anzahl von Assoziationen zwischen ganz verschiedenartigen Begriffsg r u p p e n eines der auffallendsten Merkmale der K u l t u r der K u l t u r a r m e n . Hierher gehören die Verbindungen von N a t u r erscheinungen mit dem individuellen Gefühlsleben, von gesellschaftlicher Gruppierung mit religiösen Ideen, von Zierk u n s t mit Symbolik. Mit der A n n ä h e r u n g an unsere Zivilisation haben solche Verbindungen die Neigung zu verschwinden, obwohl eine eindringende Analyse unseres eigenen Lebens die Spuren des Fortbestehens mancher von ihnen erweist und feststellt, d a ß jede automatische H a n d l u n g die Tendenz h a t , ihre eigenen Assoziationen je nach den Verbindungen, in denen sie gewöhnlich erscheint, zu bilden. Eine der wesentlichen Änderungen, die s t a t t gefunden haben, läßt sich dahin fassen, d a ß bei den K u l t u r armen die Eindrücke der Außenwelt sich sämtlich mit den subjektiven Gefühlen v e r b i n d e n , die sie h e r v o r r u f e n , die aber selbst wieder zum größten Teil von der Gesellschaftsf o r m , in der der Einzelne lebt, bestimmt sind. Allmählich erkennt der Mensch, daß diese Verbindungen nicht so regelmäßig sind wie andere, die f ü r die ganze Menschheit, f ü r alle Gesellschaftsformen gültig sind. So setzt die allmähliche Ausmerzung der subjektiven Assoziationen ein, die ihren Gipfel in der wissenschaftlichen Methode unserer Zeit erreicht. Man k a n n dieses auch so a u s d r ü c k e n , w i r verbinden u n m i t t e l b a r mit einem anderen einen Eindruck vermittels l o g i s c h e r Beziehungen, der K u l t u r a r m e jedoch vermittels g e f ü h l s m ä ß i g e r . W e n n dieses richtig i s t , so sind offenbar die Assoziationen der K u l t u r a r m e n n u r von unserem Gesichtswinkel aus gesehen heterogen, d a wir eben kein Verständnis mehr

X. Die gefühlsmäßigen Assoziationen bei den Kulturarmen.

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f ü r die wirksamen Zwischenglieder haben. Für den Kulturarmen kann nur seine eigene D e n k a r t v e r n u n f t g e m ä ß sein. Die unsere m u ß ihm zusammenhanglos erscheinen, da f ü r ihn die Zwischenglieder zwischen den Begriffen, die nach Verlust der gefühlsmäßigen Assoziationen a u f t r e t e n und sich mit der Erweiterung der Kenntnisse einstellen, noch nicht da sind, so daß er nicht die Möglichkeit hat, unserem Denken zu folgen. Aus diesen Eigentümlichkeiten der Assoziation erklärt sich auch die Beharrlichkeit der K u l t u r der Kulturarmen und die leichte Beweglichkeit und Veränderlichkeit vieler Merkmale der Hochkultur. Ich habe zu beweisen gesucht, d a ß der Widerstand gegen Wechsel wesentlich auf gefühlsmäßige Ursachen zurückgeht, und d a ß bei Kulturarmen gefühlsmäßige Assoziationen den vorherrschenden T y p u s bilden; daher der Widerstand gegen Neuerungen. In unserer Zivilisation andererseits werden vieie Handlungen nur als Mittel zu rationalen Zwecken ausgeführt. Sie wurzeln nicht so tief im Geistesleben, d a ß sie gefühlsmäßige Verbindungen schaffen: daher unsere Bereitwilligkeit Neuerungen anzunehmen. Es ist aber leicht zu sehen, d a ß wir nicht ohne starken gefühlsmäßigen Widerstand irgendwelche grundlegende Form des Denkens und Handelns, wie solche, die auf den Eindrücken der frühesten Kindheit beruhen und all unserem Handeln zugrunde liegen, ändern können. Dieses beweist das Verhalten der Kulturvölker religiösen, politischen und künstlerischen Fragen gegenüber und zeigt sich sogar bei der Entwicklung der grundlegenden Begriffe der Wissenschaft. Bei kulturarmen Völkern kann der Durchschnittsmensch die gefühlsmäßigen Widerstände nicht durch seine Verstandestätigkeit überwinden, und es bedarf daher der Zerstörung aller herrschenden gefühlsmäßigen Assoziationen durch stärkere Kräfte, um eine Änderung hervorzubringen. Dieses kann nur durch Ereignisse zuwege gebracht werden, die das Volk bis in seine Tiefen erregen, oder durch ökonomische und politische Veränderungen, gegen die aller Widers t a n d fruchtlos ist. Bei den Kulturvölkern dagegen finden wir eine stete

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X. Die gefühlsmäßigen Assoziationen bei den Kulturarmen.

Bereitwilligkeit die Tätigkeiten zu ändern, die keine Gefühlswerte h a b e n ; nicht n u r Tätigkeiten, die ausschließlich praktischen Zwecken dienen, sondern auch andere, wenn sie keine starken gefühlsmäßigen Assoziationen mehr haben und der Mode unterliegen. T r o t z d e m gibt es auch solche, die mit großer Zähigkeit festgehalten werden, und die sich allem v e r n u n f t g e m ä ß e n Denken gegenüber erhalten, weil eben ihre K r a f t aus gefühlsmäßigen Quellen fließt. Die Geschichte der Wissenschaften bietet uns zahllose Beispiele, welche die W i d e r s t a n d s k r a f t alter Ideen beweisen, selbst nachdem der Zuwachs an Kenntnissen den Grund untergraben h a t , in dem sie wurzeln. Sie unterliegen erst, wenn neue Generationen erwachsen sind, denen das Alte nicht mehr wert und teuer ist. Außerdem gibt es noch Tausende von Tätigkeiten und Gedanken, die den Hintergrund unseres täglichen Lebens bilden, und die uns ganz u n b e w u ß t bleiben, bis wir mit f r e m d e n Gewohnheiten in Berührung kommen, oder bis wir verhindert sind, unserer Art und Weise gemäß zu handeln. Von vielen u n t e r ihnen können wir auf keine Weise behaupten, d a ß sie v e r n u n f t g e m ä ß e r sind als andersgeartete Gewohnheiten, und dennoch halten wir zäh an ihnen fest. Es will mir scheinen, d a ß diese bei uns k a u m weniger zahlreich sind als bei den K u l t u r a r m e n , weil sie eben die ganze Reihe von festen Gewohnheiten bilden, die die gewohnte, tägliche Lebensführung bestimmen, und die weniger durch Erziehung als durch unbewußte N a c h a h m u n g erworben sind. W ä h r e n d m a n also bei l o g i s c h e n Prozessen mit wachsender K u l t u r eine zunehmende Neigung findet, überlieferte Elemente auszumerzen, k a n n m a n keine so entschiedene Abn a h m e des Einflusses der Überlieferung bei d e n Formen unseres Denkens und unserer Tätigkeiten finden, die vom Gefühle beherrscht werden, und die bei uns k a u m weniger von der unrationalen Sitte beherrscht werden, als bei den K u l t u r armen. Wir haben gesehen, w a r u m dieses der Fall sein m u ß . Die geistigen Vorgänge, aus denen sich Urteile entwickeln, enthalten ganz wesentlich Assoziationen mit früheren Urteilen. Der Assoziationsvorgang ist der gleiche bei kulturarmen und

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fortgeschrittenen Völkern, und der Unterschied beruht wesentlich auf der Inhaltsänderung des überlieferten Materials, mit dem unsere neuen Wahrnehmungen verschmelzen. Bei den Denk- und Tätigkeitsformen liegen die Dinge etwas anders. Die Überlieferung spricht sich in der Form einer von jedem Individuum ausgeführten Handlung aus. Je häufiger diese Form beobachtet wird, um so mehr setzt sie sich fest, und um so geringer wird ihr bewußter Inhalt, so daß schließlich gewohnheitsmäßige, immer wiederkehrende Handlungen ganz unbewußt derselben Form folgen. Mit der Abnahme des Bewußtseinsinhalts vergrößert sich aber der Gefühlswert d e r Handlung, die dem Gewohnheitsmäßigen widerspricht, oder auch nur des Unterlassens der gewohnheitsmäßigen Handlung. Große Willenskraft ist nötig, im Denken und Handeln eine Form beiseite zu legen, die sich zu einer Gewohnheit entwickelt hat, und als Begleiterscheinungen treten starke Unlustgefühle auf. So scheint ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Kultur in der Ausmerzung von sozial bestimmten Assoziationen zwischen Sinneseindrücken und Tätigkeiten zu bestehen, an deren Stelle dann allmählich intellektuell bestimmte Assoziationen treten. Dieser Vorgang wird von einer Abnahme an Beharrlichkeit der Sitten und Denkformen begleitet; sie erstreckt sich allerdings nicht bis auf Gebiete gewohnheitsmäßiger, unbewußt bleibender Tätigkeiten und macht sich nur langsam auf dem Gebiete der Denkweise geltend, welche die Grundformen alles durch Erziehung übermittelten Wissens bestimmt.

XI. Zusammenfassung. Ich will nun noch einmal kurz den Gedankengang unserer Untersuchung zusammenfassen. Einleitend haben wir versucht zu verstehen, was uns dazu führt anzunehmen, daß es hochbegabte und minderwertige Rassen gibt, und es ergab sich als Grundlage dieser Auffassung die Voraussetzung, daß höhere Leistungen notwendiger-

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fortgeschrittenen Völkern, und der Unterschied beruht wesentlich auf der Inhaltsänderung des überlieferten Materials, mit dem unsere neuen Wahrnehmungen verschmelzen. Bei den Denk- und Tätigkeitsformen liegen die Dinge etwas anders. Die Überlieferung spricht sich in der Form einer von jedem Individuum ausgeführten Handlung aus. Je häufiger diese Form beobachtet wird, um so mehr setzt sie sich fest, und um so geringer wird ihr bewußter Inhalt, so daß schließlich gewohnheitsmäßige, immer wiederkehrende Handlungen ganz unbewußt derselben Form folgen. Mit der Abnahme des Bewußtseinsinhalts vergrößert sich aber der Gefühlswert d e r Handlung, die dem Gewohnheitsmäßigen widerspricht, oder auch nur des Unterlassens der gewohnheitsmäßigen Handlung. Große Willenskraft ist nötig, im Denken und Handeln eine Form beiseite zu legen, die sich zu einer Gewohnheit entwickelt hat, und als Begleiterscheinungen treten starke Unlustgefühle auf. So scheint ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Kultur in der Ausmerzung von sozial bestimmten Assoziationen zwischen Sinneseindrücken und Tätigkeiten zu bestehen, an deren Stelle dann allmählich intellektuell bestimmte Assoziationen treten. Dieser Vorgang wird von einer Abnahme an Beharrlichkeit der Sitten und Denkformen begleitet; sie erstreckt sich allerdings nicht bis auf Gebiete gewohnheitsmäßiger, unbewußt bleibender Tätigkeiten und macht sich nur langsam auf dem Gebiete der Denkweise geltend, welche die Grundformen alles durch Erziehung übermittelten Wissens bestimmt.

XI. Zusammenfassung. Ich will nun noch einmal kurz den Gedankengang unserer Untersuchung zusammenfassen. Einleitend haben wir versucht zu verstehen, was uns dazu führt anzunehmen, daß es hochbegabte und minderwertige Rassen gibt, und es ergab sich als Grundlage dieser Auffassung die Voraussetzung, daß höhere Leistungen notwendiger-

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XI. Zusammenfassung.

weise ein Ergebnis höherer Begabung sind, und d a ß deshalb auch die Körpermerkmale der Rassen, die unserem Urteile nach die größten Leistungen aufzuweisen haben, die Merkmale geistiger Überlegenheit sind. Diese Voraussetzungen hielten einer kritischen Untersuchung nicht S t a n d . So viele andere Ursachen beeinflussen den Fortschritt in der K u l t u r , wirken h e m m e n d oder beschleunigend, und P a r allelerscheinungen kommen bei so vielen Menschenrassen vor, d a ß wir erbliche Geistesmerkmale, besonders aber geistige Vorzüge einzelner Rassen höchstens als ein unterstützendes Element der Kulturentwicklung, sicher nicht als ihre bestimmende Ursache ansehen konnten. Wir w a n d t e n uns d a n n zu einer B e t r a c h t u n g der erblichen Einflüsse auf die Menschentypen und versuchten zunächst uns ein klares Bild von der Breite der individuellen Verschiedenheiten im Vergleich zu den Rassenverschiedenheiten zu machen. Hier fanden wir, d a ß besonders bei p h y siologischen u n d psychologischen Merkmalen die individuellen Unterschiede viel bedeutsamer als die Rassenunterschiede sind. Die individuellen Unterschiede in einer Menschengruppe werden d a d u r c h erhalten, d a ß jedes Individuum in seinen von der Erblichkeit bestimmten Einzelmerkmalen auf den Individualtypus von Vater oder Mutter oder entfernterer Ahnen zurückschlägt, so d a ß eines seiner Merkmale einem A h n e n , ein anderes einem anderen angehört. Die Bestimmtheit der erblichen Formen durch die Ahnenreihe erklärt auch z u m Teil die Entwicklung lokaler T y p e n , in denen die Individualeigenschaften weniger Ahnen zu G r u p p e n t y p e n geworden sind. Ferner erkannten wir die Wichtigkeit des Durchbrechens alter, durch Inzucht gefestigter Linien in Fällen, in denen lange getrennte Zweige derselben Rasse sich miteinander mischen. Den Schluß, d a ß ähnliche Verhältnisse im Geistesleben obwalten, k o n n t e n wir nur durch Analogie belegen. Wir w a n d t e n uns d a n n der Frage zu, inwiefern die gegenwärtigen Menschenrassen als stabil angesehen werden dürfen, und inwieweit die Individualentwicklung von der Umwelt beeinflußt wird. Solche Einflüsse ließen sich un-

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Zusammenfassung.

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mittelbar überall da beweisen, wo die Wachstumsgeschwindigkeit, die von äußeren Einflüssen bedingt wird, die endgültige Körperform beeinflußt. Hierbei erkannten wir besonders, daß ein früher Abschluß der Wachstumsperiode nicht notgedrungen eine ungünstige Entwicklung bedeutet, da o f t eine rasche, kurze Entwicklung einem günstigen Einfluß entspricht. Ferner sehen wir, daß menschliche T y p e n sich durch natürliche Auslese ändern können, und d a ß die Umwelt auch einen unmittelbaren Einfluß auf die Körperform a u s ü b t , was durch die Typenänderung beim Übergang vom Landleben zum Stadtleben, sowie durch die Formveränderungen europäischer Menschentypen bei der Auswanderung nach Amerika bewiesen wurde. Nichts aber bewies, d a ß diese Formveränderungen bes t i m m t e Grenzen überschreiten, Grenzen, die allerdings nicht zu eng gezogen werden dürfen. Besondere Aufmerksamkeit w a n d t e n wir auch den Körperformen zu, die den Menschen als eine domestizierte Spezies kennzeichnen, und die, aus Eigentümlichkeiten der E r n ä h r u n g und Lebensweise hervorgehend, die Rassenkreuzung erleichtern. Die geistigen Eigenschaften erscheinen auch durch diesen Vorgang stark beeinflußt. Aus der Diskussion der Entwicklungsbedingungen der Körpermerkmale ergab sich n a t u r g e m ä ß die Frage nach ihrem Z u s a m m e n h a n g mit der geistigen Begabung. Von phylogenetischem Gesichtspunkte aus m u ß man eine E n t wicklung der Körper- und Geistesmerkmale annehmen. Diese m a c h t sich auch heute bei individuellen Merkmalen geltend, die teils die spätere Entwicklung des menschlichen Körpers kennzeichnen, teils auf ältere Stadien zurückweisen. Solche finden sich bei Individuen aller Rassen. Gleichzeitig aber k a n n man bei den Menschenrassen auch eine stärkere oder geringere Differenzierung vom Tiere erkennen. Der Unterschied zwischen Mensch und Tier ist immer groß im Vergleich zu den Unterschieden zwischen den Menschenrassen, und der Grad der Differenzierung ist in manchen P u n k t e n bei der einen Rasse am stärksten, in anderen bei einer anderen. Eine Beziehung zwischen irgendwelchen derartigen Erscheinungen und der B o a s , Kultur und Rasse.

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Geistesanlage ist nicht nachzuweisen. Ebensowenig ergab die Untersuchung der rassenhaften Eigenschaften des Gehirns Rassenunterschiede, die im Vergleich zu den Individualunterschieden ins Gewicht fallen. Auch die unmittelbare psychologische Beobachtung der Rassen ergab keine Andeutungen brauchbarer Rassenunterschiede. Da die biologische Untersuchung uns keinen Anhalt bot, zwischen organisch begabten und unbegabten Rassen zu unterscheiden, wandten wir uns der allgemeinen Frage zu, ob feste Beziehungen zwischen Rasse, Sprache und Kultur bestehen; denn auch aus einer solchen Zusammengehörigkeit könnten Rückschlüsse auf die geistigen Fähigkeiten der Völker gemacht werden. Ein durchgängiger Mangel an festen Beziehungen trat auch hier zutage, und es ergab sich eine Verteilung, die zu dem Schlüsse führt, daß die Menschentypen älter sind als die Sprachfamilien unserer Zeit, und daß jeder Menschentypus mehr als e i n e Sprache entwickelt hat. Weder für Sprachen noch für mittlere Kulturstufen ließ sich irgendeine rassenmäßige Verteilung feststellen. Da mithin die erblichen Rasseneinflüsse relativ belanglos erschienen, wandten wir uns den sozial bedingten Merkmalen des seelischen Lebens zu, um aus ihnen die Eigentümlichkeiten der Kulturarmut und der Zivilisation zu entwickeln. Eine Analyse der Willenstätigkeit, der Aufmerksamkeit und der originellen Schöpfungskraft zeigte keine wesentlichen Unterschiede zwischen Kulturarmen und Zivilisierten. Allgemein menschliche Ähnlichkeiten beschränken sich aber nicht auf diese allgemeinen Charakterzüge, sondern finden sich sogar in den einzelnen Kulturäußerungen. Sie sind zum Teil der gleichartigen Wirkung der Erdräume auf ihre Bewohner, der umgestaltenden Kraft der geographischen Umgebung zuzuschreiben. Anderes ist wohl uraltes Erbgut, das der Mensch aus früher Kulturgemeinschaft in seine neue Heimat verschleppt hat. Noch andere Kulturmerkmale mögen neuerdings von Volk zu Volk gewandert sein. Einiges ist aber gewiß der Gleichartigkeit des menschlichen Denkens zuzuschreiben. Diese oft gleichartigen Kulturelemente treten nun in

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Zusammenfassung.

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b e s t i m m t e n Verbindungen als K u l t u r f o r m e n a u f , und wir m u ß t e n die Anschauung u n t e r s u c h e n , ob diese Kulturformen eine einzige stetig fortschreitende Entwicklungsreihe darstellen. Obwohl es n u n K u l t u r f o r t s c h r i t t e in verschiedenen Richtungen unzweifelhaft g i b t , so besteht doch kein Z u s a m m e n h a n g zwischen i h n e n , und es gibt daher keine eindeutig b e s t i m m t e Reihenfolge der Entwicklung. Aus gleichen Anfängen gehen oft ganz verschiedenartige Kulturreihen hervor; anderseits aber fließen auch ganz verschiedenartige Ursprünge in ähnliche Formen zusammen. O f t auch ist die Gleichheit der K u l t u r f o r m e n nur eine scheinbare, und die Verschiedenheit t r i t t bei sorgfältiger Analyse deutlich hervor. Endlich m u ß t e n wir noch die Konstruktionsversuche ablehnen, in denen eine vom Einfachen bis zum Verwickelten fortschreitende Reihe oder eine Folge von logischen Schlüssen ohne weiteres als eine chronologische Entwicklungsreihe angesehen wird. Der Kulturfortschritt an sich freilich bleibt wie gesagt eine unleugbare E r f a h r u n g s t a t s a c h e und muß als solche auch begrifflich zu erfassen sein. Wir versuchten zu diesem Zweck uns seine verschiedenen Seiten vor Augen zu führen. Besonders wichtig erschien uns die Befreiung des Individ u u m s von dem Zwange des täglichen Nahrungserwerbes. Denn hierdurch gelangt der Mensch zur spielenden Betätigung seiner K r ä f t e auf den Gebieten der Technik, des Denkens u n d der Phantasie. Aus dieser aber geht die intellektuelle, industrielle und künstlerische Entwicklung hervor, deren fortschrittlicher Charakter ohne weiteres einleuchtet. Andere Bedingungen sind es, die den Kulturfortschritt auf anderen Gebieten bewirken. Wir versuchten uns hier besonders die Anordnung des Bewußtseinsinhalts klarzumachen, der gewisser Klassifikationen bedarf. An der Hand der Sprachen wurde uns die Verschiedenartigkeit solcher Gruppierungen und ihr u n b e w u ß t e r und ungewollter Ursprung klar. Wir s a h e n , wie die Sprachen dem fortschreitenden Erkenntnisbedürfnis sich anpassen. Die Klassifikationen, die vor dem bewußten Denken entstanden sind, werden aber n a t u r g e m ä ß das überlieferte Material, aus 15*

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XII.

Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben.

dem sich richtigere Erkenntnis entwickelt. So ist einer der Vorgänge des Kulturfortschritts die Verarbeitung der überlieferten Kategorien wie des gesamten Inhalts der Erkenntnistradition. Die geläuterte Tradition wirkt aber nicht minder kräftig weiter als die überlieferten falschen Ideen der Kulturarmen. Von besonderer Wichtigkeit für das Verständnis des Kulturfortschrittes wurde uns dann eine Betrachtung der Denkformen, welche Gefühlswerte repräsentieren. Wir verfolgten die gefühlsmäßigen Assoziationen gewohnheitsmäßiger Handlungen und die Tendenz, rationale Erklärungen für dieselben aufzusuchen. Wir fanden, daß diese Erscheinungen bei den Kulturarmen ungemein häufig sind, und beobachteten, d a ß außerordentlich verschiedenartige Ideengruppen und Tätigkeitsarten auf solche Weise in Verbindung treten und sich in eigentümlichen Begriffen und Sitten äußern. Andere charakteristische Assoziationen beruhen, nicht auf gefühlsmäßigen Assoziationen, werden aber wie diese nachträglich rationalistisch Erklärungen annehmen. Beim Fortschritt von der Kulturarmut zur Zivilisation verringert sich die Anzahl gefühlsmäßiger Assoziationen, und infolge der allmählichen, logischen Denkarbeit, der Überlieferung und Ausmerzung irrtümlicher Beobachtungen und Deutungen verbessert sich das Material, das für die gewohnheitsmäßige geistige Arbeit benutzt wird. Damit vollzieht sich, ohne wesentliche Veränderung des Denkprozesses selber, ein Fortschritt gegenüber den Kulturarmen.

XII. Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben. Unsere wissenschaftliche Betrachtung des Rassen- und Kulturproblems ging von der innigen Berührung der Rassen und Völker in modernster Zeit aus. So wollen wir zum Schluß, zu dieser Frage zurückkehrend, die praktischen Konsequenzen aus unseren Überlegungen zu ziehen versuchen.

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Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben.

dem sich richtigere Erkenntnis entwickelt. So ist einer der Vorgänge des Kulturfortschritts die Verarbeitung der überlieferten Kategorien wie des gesamten Inhalts der Erkenntnistradition. Die geläuterte Tradition wirkt aber nicht minder kräftig weiter als die überlieferten falschen Ideen der Kulturarmen. Von besonderer Wichtigkeit für das Verständnis des Kulturfortschrittes wurde uns dann eine Betrachtung der Denkformen, welche Gefühlswerte repräsentieren. Wir verfolgten die gefühlsmäßigen Assoziationen gewohnheitsmäßiger Handlungen und die Tendenz, rationale Erklärungen für dieselben aufzusuchen. Wir fanden, daß diese Erscheinungen bei den Kulturarmen ungemein häufig sind, und beobachteten, d a ß außerordentlich verschiedenartige Ideengruppen und Tätigkeitsarten auf solche Weise in Verbindung treten und sich in eigentümlichen Begriffen und Sitten äußern. Andere charakteristische Assoziationen beruhen, nicht auf gefühlsmäßigen Assoziationen, werden aber wie diese nachträglich rationalistisch Erklärungen annehmen. Beim Fortschritt von der Kulturarmut zur Zivilisation verringert sich die Anzahl gefühlsmäßiger Assoziationen, und infolge der allmählichen, logischen Denkarbeit, der Überlieferung und Ausmerzung irrtümlicher Beobachtungen und Deutungen verbessert sich das Material, das für die gewohnheitsmäßige geistige Arbeit benutzt wird. Damit vollzieht sich, ohne wesentliche Veränderung des Denkprozesses selber, ein Fortschritt gegenüber den Kulturarmen.

XII. Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben. Unsere wissenschaftliche Betrachtung des Rassen- und Kulturproblems ging von der innigen Berührung der Rassen und Völker in modernster Zeit aus. So wollen wir zum Schluß, zu dieser Frage zurückkehrend, die praktischen Konsequenzen aus unseren Überlegungen zu ziehen versuchen.

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Das R a s s e n p r o b l e m im sozial-politischen Leben.

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Zunächst die Frage der Rassenreinheit! Für Europa, wo f a s t überall große, geschlossene Völkerkomplexe nebeneinander sitzen, ist die Frage n a c h dem Einflüsse der gegenseitigen Durchdringung nicht von grundlegender Wichtigkeit, obwohl sie bisweilen eine nicht unwesentliche Rolle spielt, wie bei dem Eindringen der Polen in Westfalen, bei den schwierigen Verhältnissen, die durch die E r s t a r r u n g der allmählichen Germanisierung des Ostens entstanden sind, oder bei der Stellungnahme gegen die J u d e n als Mitglieder der Nation. Viel wichtiger ist die Frage der Durchdringung der Nationalitäten in überseeischen Ländern, besonders in Nordamerika und dem südlichen Südamerika, in Australien und Südafrika. In all diesen Ländern haben sich Probleme entwickelt, die zeitweise die heftigsten Leidenschaften entfesseln. In Europa macht sich die Frage nach der erblichen Beanlagung der Menschentypen wesentlich in der Stellungn a h m e der Nationen zueinander und in der Bewertung ihrer Kulturleistungen geltend. Da wir nicht einmal in der Lage gewesen sind, bei den Hauptrassen organische Unterschiede in der Begabung festzustellen, die im Vergleich zu den großen individuellen Unterschieden irgendwelche Bedeutung in Anspruch nehmen k ö n n e n ; da wir ferner gesehen haben, d a ß die angeblichen spezifischen Unterschiede zwischen Völkern verschiedener K u l t u r s t u f e n auf gleichartige, geistige Eigenschaften zurückg e f ü h r t werden müssen: so dürfen wir ohne weiteres ein Eingehen auf angeblich erbliche geistige Eigenschaften der verschiedenen Zweige der weißen Rasse als u n f r u c h t b a r ablehnen. Unendlich viel ist ja über die erblichen Geistesanlagen des Deutschen, Italieners, Franzosen, Irländers, J u d e n und Zigeuners gesagt und geschrieben worden; aber es scheint mir nicht, d a ß je auch nur der leiseste erfolgreiche Versuch gemacht ist, neben den geschichtlichen und gesellschaftlichen Ursachen, die den Charakter eines Volkes bestimmen, noch andere festzustellen; und ich halte es a u c h f ü r ausgeschlossen, d a ß dieses je geschehen kann, und d a ß sich ü b e r h a u p t erbliche Unterschiede zwischen den genannten

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XII. Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben.

T y p e n finden lassen, die im Vergleich zu den individuellen Unterschieden in Betracht k o m m e n könnten. Eine unbefangene Umschau zeigt vielmehr, d a ß der G l a u b e an erbliche Rasseneigenschaften und die eifersüchtige Sorge für Reinheit der Rasse auf der A n n a h m e von Verhältnissen b e r u h t , die es ü b e r h a u p t nicht gibt. In E u r o p a ist seit langer Zeit k a u m irgendwo eine reine Rasse v o r h a n d e n gewesen, und es h a t sich nirgendswo herausgestellt, d a ß and a u e r n d e Mischung an sich zu einer Schädigung g e f ü h r t h a t . Man könnte genau so gut b e h a u p t e n und mit ebenso guten G r ü n d e n beweisen, d a ß die Völker, die keine Störungen in ihrer Blutmischung von außen her erlitten haben, des Anreizes zum Fortschritt e n t b e h r t haben und d e s h a l b einer allmählichen Erschlaffung verfallen sind. Die Geschichte Spaniens oder, außerhalb Europas, die Geschichte der abgelegeneren Gebirgstäler der atlantischen S t a a t e n Nordamerikas könnten als schlagende Beispiele a n g e f ü h r t werden. N u n läßt sich j a die Frage nach der tatsächlichen Wirk u n g der Völkermischung durch eine allgemeine historische B e t r a c h t u n g nur wahrscheinlich machen. Die Vertreter des Glaubens, — denn weiter ist es nichts, — d a ß die Langköpfe durch Eindringen niedriger stehender Kurzköpfe in ihrem geistigen und körperlichen W e r t e herabsinken, werden sich nie d a m i t zufrieden geben, d a ß wir ihnen die Unwahrscheinlichkeit und Unbeweisbarkeit ihrer B e h a u p t u n g e n zeigen, d a doch die gegenteilige Ansicht von der Belanglosigkeit der K o p f f o r m ebenso wenig streng beweisbar ist. Der wirkliche Verlauf der J a h r t a u s e n d e dauernden Mischungen in E u r o p a wird u n s nie genauer b e k a n n t werden. Wir wissen nichts ü b e r die relative Zahl der gemischten Linien im Vergleiche zu den reinen Linien; nichts über die weiteren Geschicke der gemischten Familien im Vergleich zu denen reiner Abs t a m m u n g . Offenbar m u ß die ganze Frage n a c h biologischstatistischen Methoden an genau kontrollierbarem Material gelöst werden, mit anderen Worten, die B e a n t w o r t u n g aller solcher Fragen erheischt eine extensive und intensive anthropologische Familienstatistik. Immerhin d e u t e t nichts in den historisch bekannten Erscheinungen darauf h i n , d a ß E r h a l t u n g der Rassenreinheit eine hohe Kulturstellung

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D a s R a s s e n p r o b l e m im s o z i a l - p o l i t i s c h e n Leben.

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sichert. Sonst m ü ß t e man diese in jeder kleinen, abgeschlossenen Dorfschaft erwarten. Wenn also nach den gesamten in diesem Buche enthaltenen Betrachtungen die geringfügigen körperlichen Unterschiede zwischen europäischen Typen f ü r ihre Geistesanlagen belanglos erscheinen, wenn sich keinerlei Grund d a f ü r auffinden läßt, weshalb die Langköpfe Europas den Kurzköpfen ihrer erblichen Anlage nach überlegen sein sollten, so wird diese Sachlage noch durch die alte Durchdringung der Typen v e r s t ä r k t , und wir können einen auf gemeinsamer reiner A b s t a m m u n g gegründeten Nationalitätenstolz nicht anerkennen. W a s die Nationalität ausmacht, ist offenbar nicht die Blutsgemeinschaft innerhalb der europäischen Rasse, sondern die Gefühlsgemeinschaft, die aus den Gewohnheiten des täglichen Lebens, aus den Formen des Denkens und Fühlens eine objektive Einheit schafft, in der der Einzelne sich zwanglos ausleben kann. Für diese ist die Gemeinsamkeit der Sprache ein schwerwiegendes Moment, das uns viele Gefühlsgegensätze übersehen läßt. Wohl durch dieses Gefühl, d a ß nur bei Gemeinsamkeit der Sprache ein jeder seine Tätigkeit frei entfalten k a n n , gelangen wir zur Identifizierung der Nation und der Sprachgemeinschaft. Dazu k o m m t noch die historische Assoziation mit dem Staatsgedanken, der die Individuengruppe sich dem Fremden gegenüber als Einheit fühlen läßt. Es ist aber nicht zu verk e n n e n , d a ß der Nationalität keine o b j e k t i v e Einheit entspricht, d a ß sie weder durch ein einzelnes Individuum, noch durch eine Volksklasse repräsentiert w i r d , d a ß der Begriff vielmehr aus den herrschenden Formen des Denkens und Fühlens abstrahiert ist. Ein starker Gefühlston ist ihm eigen und wird, wie gesagt, noch durch die Staatsidee verstärkt. So ergibt sich als die tatsächliche Grundlage des modernen Nationalitätsideals die einheitliche s t a a t liche Entwicklung des gleichsprachigen Volkes. Nur auf dieser Grundlage und aus ihrer Einwirkung auf das Gefühlsleben k a n n sich der Begriff der Interessengemeinschaft gegenüber andern Nationen entwickeln. Das diese Entwicklung begleitende Gefühl der rassen-

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XII. Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben.

h a f t e n Überlegenheit der eigenen Nation ist psychologisch zu verstehen, aber nicht wissenschaftlich zu begründen, — vielmehr müssen wir die Versuche solcher Begründung als einen Ausdruck der vorher ausführlich beschriebenen Tendenz b e t r a c h t e n , gefühlsmäßig gewonnene Anschauungen verstandesmäßig zu rechtfertigen und zu erklären. Nur auf diese Weise sind die Versuche zur Identifikation von Rasse u n d Nation zu begreifen. Wie hoch wir n u n auch den Gefühlswert des nationalen Wesens anschlagen mögen, so können wir uns doch, wenn dieser Deutungsversuch richtig ist, nicht der Überzeugung verschließen, d a ß die Nationalitätsidee, die aus Gefühlswerten erwächst, d a s Schicksal aller anderen gleichartigen Ideen teilen und u n t e r der v e r n u n f t m ä ß i g e n Analyse starke Änderungen erleiden wird. Bei der beständig zunehmenden rationellen Ausgestaltung der Lebensgewohnheiten, Denkweisen und Staatseinrichtungen, mildern sich die schroffen Gegensätze zwischen den Lebensformen der Nationen, und d a m i t vermindert sich die Intensität des Gefühles der nationalen Zusammengehörigkeit, das ja das Gegenstück zu dem Gefühle der nationalen Verschiedenartigkeit ist. Nicht d a ß sich der Gefühlswert der eigenen Lebensformen vermindern würde, oder d a ß eine vollständige, auf rationaler Grundlage beruhende Ausgleichung zu erwarten w ä r e ! Wir haben ja gesehen, d a ß die Formen als solche ein großes Beharrungsvermögen besitzen, u n d , selbst wenn ein Wechsel eintritt, die neue Form ein gleich starkes Beharrungsvermögen entwickelt. In diesem Sinne wird wohl immer lokale Individualität gewahrt bleiben t r o t z der stets fortschreitenden Ausgleichung der rational zu beeinflussenden Seiten der Lebensführung. Wohl aber dürfen wir d a her der Zeit entgegensehen, wo d a s Nationalitätsgefühl die vollkommene Ausbildung der gefühlsmäßigen Eigenart des Volkes als das eigentliche, ja einzige Feld seiner Betätigung anerkennen wird. Die rasche Vergrößerung der Interessensphären, die vielen wissenschaftlichen, industriellen, Handels- und Arbeitervereinigungen, welche j e t z t schon die Schranken der Nationen durchbrechen, beweisen, d a ß der Nationalismus, soweit er rationale Fragen von gefühls-

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Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben.

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mäßigem S t a n d p u n k t e zu behandeln bestrebt ist, dem Zwange der Verhältnisse nicht Widerstand zu leisten vermag. So verständlich dieses Streben auch von gefühlsmäßigem S t a n d p u n k t e aus sein m a g : d a s gefühlsmäßige Irrationale wird dem Zweckmäßigen, rational Durchdachten zum Opfer fallen, und neue, auf Grund der veränderten Verhältnisse erwachsene Gefühlswerte werden die Stelle der alten einnehmen. Hieraus ergiebt sich nun auch, was als das Erstrebenswerte erscheinen m u ß : klare E r k e n n t n i s der Übergriffe des Nationalitätsgefühls in Gebiete, die von rein rationellen Gesichtspunkten aus behandelt werden sollten, und Pflege der Eigenart, die sich gefühlsmäßig entwickelt und mit vern u n f t g e m ä ß e m Denken nicht im Widerspruch s t e h t . D a ß hiermit die maßlose Selbstüberhebung der einzelnen Nationen als unhaltbar fallen wird, liegt auf der H a n d . Gegenüber den weltumfassenden ökonomischen und wissenschaftlichen Interessen, die d a s Nationalitätswesen beeinflussen, wird zunächst die theoretische B e t r a c h t u n g wenig ins Gewicht fallen, aber die immer wiederholte P r ü f u n g des Begriffs, der Nachweis seiner rein gefühlsmäßigen Quellen und seiner irrationellen Ausdehnung auf Gebiete, die ihm n a t u r g e m ä ß nicht unterliegen, werden im Laufe der Zeit das Ihre zur Klärung beitragen. Ein eigenes Licht wird auf das ganze Rassen- und Nationalitätenproblem geworfen, wenn wir das Verhalten der europäischen Auswanderer in f r e m d e n Erdteilen in Bet r a c h t ziehen. O f t ist d a r ü b e r geschrieben worden, wie leicht der Deutsche in fremden Nationalitäten aufgeht. Aber was vom Deutschen gilt, ist nicht weniger auf Mitglieder anderer Nationalitäten, die als einzelne in fremdsprachliche Umgebung geworfen werden, a n w e n d b a r . In Amerika l ä ß t sich der Nachkomme von irgendwelchen europäischen Einwanderern in der zweiten Generation, besonders wenn der N a m e anglisiert ist, n u r selten von den älter angesessenen Landeskindern unterscheiden. Bei Auswanderern und ihren Nachkommen schwinden eben die alten Gefühlswerte, die auf nationalen Gewohnheiten b e r u h t e n , mit diesen selbst widerstandslos dahin, weil die Umwelt ihnen keine N a h r u n g

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XII. Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben.

mehr bietet. Wohl haben die Auswanderer ihr Scherflein zur Umgestaltung ihrer gesellschaftlichen Umwelt beiget r a g e n , aber sie selbst haben doch viel mehr fremdartiges aufgenommen. Es würde wohl k a u m j e m a n d in den Sinn kommen, hier von rassenhaften Eigenheiten zu sprechen. Andere Seiten dieser Fragen treten bei den Kolonisationsproblemen auf, und ihre endgültige Lösung ohne Rücksicht auf die Augenblicksinteressen ist von größter Bed e u t u n g f ü r die Geschichte der Menschheit. Wir h a b e n die W a h l . Entweder treibt der E u r o p ä e r die f r e m d e n Rassen durch strengen Arbeitszwang in die Stellung eines gedrückten Proletariats, hält sie in geistiger A r m u t u n d niederer Stellung, ja weiht sie eben hierdurch oft genug dem Untergang, — oder er zieht sie durch sorgfältigste Pflege technischer und geistiger Interessen mit ihrer zunehmenden Differenzierung zu höherer Entwicklung heran. Wo die Behandlung des eingeborenen Elementes n u r von dem Verlangen nach Arbeitskräften f ü r Plantagenbau und Industrie b e s t i m m t wird, gibt es nur ein ungünstiges Resultat. Auf die Frage der Rassenmischung will ich hier nicht eingehen. Obwohl von b i o l o g i s c h e r Seite kein Einwand gegen Rassenmischung zu erheben ist, liegen doch häufig die s o z i a l e n Verhältnisse so, d a ß sie den Mischling in jeder Weise ungünstig stellen und die Entwicklung gesellschaftsschädlicher Eigenschaften in ihm fördern. In solchen Fällen werden die Mischlinge zunächst eine Schädigung sein. Ob nicht andererseits die Milderung der typischen Rassenunterschiede im Laufe der Zeiten trotz dieser Schädigung Vorteile mit sich bringt, wird nicht allgemein zu entscheiden sein. Der Erfolg h ä n g t vielmehr von der Fähigkeit der Kolonisten a b , mit gegebenen Verhältnissen zu rechnen und zu wirtschaften. Für die eingeborene Indianerbevölkerung Amerikas ist sicher d a s einzige Heil in der langsam fortschreitenden Europäisierung zu suchen, die auch f ü r die Gesamtbevölkerung keinerlei Bedenken birgt. Wir dürfen unseren Gegenstand nicht verlassen, ohne mit einem W o r t e der i n n e r e n Entwicklung der Völker zu gedenken. Wir verstehen heute besser als je die Wichtigkeit der

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Das Rassenproblem iin sozial-politischen Leben.

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individuellen erblichen Eigenschaften, und sind vielleicht augenblicklich sogar geneigt, die Rasse der Individualpflege gegenüber zu s t a r k zu betonen. Besonders stehen die europäischen Völker unter dem Eindruck der drohenden Degeneration, der zu dem Versuche g e f ü h r t h a t , eine kräftige Rassenhygiene aufzubauen. Wohl ist es von Wichtigkeit, erbliche pathologische Tendenzen zu bekämpfen und, soweit das möglich ist, auf eine Verbesserung der Rasse hinzuwirken; doch m u ß die Gefahr richtig verstanden werden. Die Statistik zeigt allerdings eine Z u n a h m e der gesellschaftlich Schwachen, die der Gesundheitspflege, der Armenpflege, u n d der Rechtspflege anheimfallen. Gleichzeitig leben wir aber in einer Zeit ungemein rasch zunehmender Differenzierung der Bevölkerung, die eine vergrößerte Gesamtvariabilität h e r v o r r u f t , ohne notwendigerweise mit einem Steigen oder Fallen des Durchschnitts verbunden zu sein. Aus dieser Tendenz würde sich die Z u n a h m e sowohl der Schwachen, wie auch die der ganz Starken ergeben, ohne d a ß eine Verschlechterung des Gesamtzustandes sie begleitet. In vielen Beziehungen d ü r f t e dieses den wahren Verhältnissen entsprechen. Natürlich sind die gesellschaftlich Starken keiner Statistik zugänglich, da sie nicht, wie die Schwachen, individuell der staatlichen Aufsicht anheimfallen. Ihre Gegenwart d r ü c k t sich aber in der größeren Intensität unseres Lebens aus. Dürfen wir daher auch weniger beängstigt der Z u k u n f t entgegensehen, so m u ß doch f ü r Hebung des Gesamtniveaus Sorge getragen werden. Die Beseitigung der Nachkommenschaft der Schwachen ist d a s Allheilmittel der Eugeniker. Aber was hilft dies, so lange unsere industriellen Verhältnisse die ungeheure Masse von geisttötender Arbeit verlangen, die nur die gesellschaftlich Schwachen zu leisten gewillt sind, und die daher nach Ausmerzung einer Gruppe sofort neue Kreise in die gleichen Verhältnisse ziehen? Hier w i r k t nicht die Erblichkeit allein, denn das Proletariat ist ja durch ökonomische Verhältnisse aus einer gesunden Bevölkerung herangezüchtet. Variabel ist der Mensch immer. D a ß d a bei der Ausdehnung des Proletariats und dem niederen Stande des Durchschnitts eine beträchtliche Zahl minder-

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XII. Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben.

wertig ausfallen, nimmt kein Wunder. Und so wird es bleiben, so lange es ein solches Proletariat gibt. Allein wenn wir auch erkannt haben, daß gewisse pathologische Zustände erblich sind, so ist damit doch nicht bewiesen, daß sie sich auch bei geeigneten Verhältnissen spontan entwickeln. Deshalb hat die Rassenhygiene eine Doppelaufgabe. Sie soll nicht nur die unzweifelhaft erblich schwer belasteten an der Fortpflanzung verhindern, — ich glaube dieses ist ihre kleinere Aufgabe, — sie muß vor allem auf Beseitigung der Verhältnisse wirken, welche die massenhafte Zucht der Schwachen begünstigt. Eine schwere Aufgabe, aber eine Aufgabe voller Verheißung auf Erfolg. Die Meinung, daß die Rassenhygiene durch Beschränkung der Berechtigung zur Fortpflanzung gutes wirken kann, ist in bezug auf die erblich Belasteten wohl berechtigt, obwohl hierdurch ja auch eine beträchtliche Anzahl von Gesunden, die gesunde Nachkommen erzeugen können, nicht zur Entwicklung gelangen würde. Es fragt sich eben, ob der Ausfall an Gesunden durch andere Gesunde aus erblich besser gestellten Familien ersetzt werden kann. Sonst wäre es vielleicht für die Gesellschaft vorteilhafter, die Minderwertigen zu dulden, als den Ausfall an Gesunden zu tragen. Wir dürfen eben nicht vergessen, daß die Kulturarbeit von der Anzahl der frei arbeitenden Gesunden abhängt, so daß unser Streben sein muß, ihre Zahl und ihre Freiheit zu vergrößern. Mithin wird es mehr darauf ankommen, die genügende Fortpflanzung der Besten zu erzwingen, als die der Minderwertigen zu beschränken, und wenn es der Rassenhygiene gelingt hier das soziale Gewissen zu wecken, so wird sie Großes erreicht haben. Immerhin unterliegt die Möglichkeit einer Rassenzucht durch geeignete künstliche Auslese den schwersten Bedenken. Theoretisch ist sie ja vorhanden. Praktisch ist sie aber nicht zu erzielen, ohne eine Unterordnung der Persönlichkeit unter die Gesellschaftsinteressen, die unserer ganzen heutigen Anschauungsweise zuwiderläuft. Es kann hier nicht unser Ziel sein, die Durchführbarkeit einer solchen Idee zu diskutieren, wohl aber sollte die Verantwortung betont

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Das Rassenproblem im sozial-politischen Leben.

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werden, welche die Generation auf sich n i m m t , die einen solchen Schritt wagen würde. Wir wissen, was w i r f ü r erstrebenswert halten, und können d a s uns Erstrebenswerte durch Zuchtwahl zu kräftiger E n t f a l t u n g bringen. Durch einen Eingriff in die langsame Entwicklung werden aber die Keime zu möglichen, neuen Formen, die wir nicht kennen, u n t e r b u n d e n , und unsere Ideale werden zu den endgültigen Idealen der Menschheit gemacht. W a s wir auch erstreben mögen, die Entwicklungsmannigfaltigkeit dürfen wir unseren Nachkommen nicht r a u b e n . Wohin der Weg der Menschheit f ü h r e n mag, wer k a n n es voraussagen? Gewiß aber dürfen wir nichts t u n , der E n t wicklung ein Ziel zu setzen, d a s nicht überschritten werden kann.

Anhang. Die Meßbarkeit der Variabilität. Untersuchungen über variable Erscheinungen im Gebiete der Messungen von Pflanzen, Tieren und Menschen, gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Verhältnisse, so-

wie physikalischer Phänomene wie der Meteorologie haben zu der Entdeckung geführt, daß fast immer ein und dasselbe Gesetz annähernd genau die Verteilung der Häufigkeit der Abweichungen beherrscht ( L o c k , B o w l e y , W e s t e r gaard, Yule).

Anhang.

Die Meßbarkeit der Variabilität.

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W i r h a b e n schon darauf a u f m e r k s a m g e m a c h t , d a ß die in einem v a r i a b l e n T y p u s e n t h a l t e n e n F o r m e n so v e r t e i l t sind, d a ß ein gewisser Z a h l e n w e r t h ä u f i g v o r k o m m t , u n d d a ß m i t der Größe des m e ß b a r e n Unterschiedes zwischen einer E i n z e l f o r m und der N o r m ihre H ä u f i g k e i t a b n i m m t . Die A r t dieser H ä u f i g k e i t s v e r t e i l u n g ist auf S. 238 zur D a r stellung g e b r a c h t , wo auf der h o r i z o n t a l e n Linie die Z a h l e n w e r t e der verschiedenen F o r m e n a b g e t r a g e n sind, w ä h r e n d die s e n k r e c h t e n A b s t ä n d e v o n der Horizontalen bis zu d e r K u r v e die H ä u f i g k e i t a u s d r ü c k t , m i t der der b e t r e f f e n d e auf der H o r i z o n t a l e n verzeichnete B e o b a c h t u n g s w e r t g e f u n d e n wird. Die Figur stellt die Verteilung von K ö r p e r g r ö ß e n bei einem T y p u s dar, die z a h l e n m ä ß i g wie folgt verteilt s i n d : Intervall von 1415—1455 m m 1 4 5 5 - •1495 , 1495— -1535 , 1 5 3 5 - -1575 , 1 5 7 5 - -1615 ,

5 Individuen 11 44 135 325

1 6 1 5 - -1655 1 6 5 5 - -1695 1 6 9 5 - -1735 1 7 3 5 - -1775 1775— -1815

, , , , ,

607 882 1000 882 607

1815— -1855 1855— 1895 1 8 9 5 - -1935 1935— -1975 1975— -2015

, , , , ,

325 135 44 11 5

Z u m Zwecke b e q u e m e r e r Darstellung h a b e n wir u n s hier die in j e d e m Intervall e n t h a l t e n e n Individuen auf d e n Mittelwert jedes Intervalles k o n z e n t r i e r t g e d a c h t . Der m i t t lere, h ä u f i g s t e W e r t dieser Serie, den wir die N o r m g e n a n n t h a b e n , 1 liegt in d e m Intervall 1695—1735 m m , oder auf d e m 1 Die gewählten Zahlen stellen nicht eine wirkliche Beobachtungsserie dar, sondern sind nur der Theorie gemäß ausgewählt, um die Verhältnisse, um die es sich handelt, zur Anschauung zu bringen.

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Anhang.

Die Meßbarkeit der Variabilität.

Mittelwert 1715 m m ; der mittlere Wert für die in dem Intervall von 1975—2015 mm liegenden Individuen beträgt etwa 1995 m m ; die Abweichung dieser Gruppe von der Norm ist daher 280 mm. Diese große Abweichung findet sich 5mal in einer 5018 Individuen umfassenden Serie. Der mittlere Wert für die in dem Intervall 1775—1815 mm liegenden Individuen beträgt etwa 1795 m m ; ihre Abweichung von der Norm ist daher 80 mm. Dieser kleinere Wert der Abweichung findet sich 607 mal. Berechnet man aus all diesen Abweichungen die mittlere Abweichung, so findet sich ein Wert von 62,7 mm, der als Maß der Variabilität betrachtet werden kann. Dieses wird besonders deutlich, wenn wir den ersten Typus mit einem zweiten, verschiedenen vergleichen, der in der folgenden Zahlenreihe beschrieben ist. Intervall von „ „ „ „

1425—1455 mm 1455—1485 1485—1515 1515—1545 1545—1575

5 Individuen 11 M 44 11 135 11 325 11

„ „ „ „ „

1575—1605 1605—1635 1635—1665 1665—1695 1695—1725

607 882 1000 882 607

„ „ „ „ „

1725—1755 1755—1785 1785—1815 1815—1845 1845—1875

325 135 44 11 5

11 11 11 1} 11

11 11 11 11 11

Hier ist die Norm 1650 mm, und die, wie vorher bestimmt, mittlere Abweichung 47,0 mm. Wie nach den gewählten Zahlenwerten zu erwarten steht, beträgt die letztere drei Viertel der mittleren Abweichung der ersten Serie. Diese zwei Zahlenpaare geben uns nun ein unmittelbares Bild der Verschiedenartigkeit der beiden Typen. Als Norm dient uns also der Durchschnittswert, als Maß der Verschieden-

Anhang.

Die M e ß b a r k e i t der V a r i a b i l i t ä t .

241

artigkeit der Durchschnittswert aller vorkommenden Abweichungen von der Norm. Es liegt ja nun auf der H a n d , d a ß diese Beschreibung eines T y p u s willkürlich ist; denn ebensogut wie die zwei Durchschnittswerte lassen sich andere willkürliche W e r t e auswählen, welche von der Verteilung der Häufigkeit des Vorkommens der verschiedenen Maße bestimmt werden. So k ö n n t e man den P u n k t bestimmen, an dem das häufigst v o r k o m m e n d e Maß sich findet, oder auch den P u n k t , der die Individuenreihe in zwei gleiche Hälften teilt, von der die eine alle kleinen, die andere alle großen Individuen enthält, und ebenso lassen sich verschiedenartige Ausdrücke f ü r die Variabilität oder Verschiedenartigkeit der in der Serie e n t h a l t e n e n Formen finden. Man k ö n n t e z. B. bestimmen, innerhalb welcher Grenzen die mittlere H ä l f t e aller gemessenen Individuen eingeschlossen ist, d. h. das Viertel abzählen, das alle kleinsten Individuen, und ebenso das Viertel, d a s alle größten Individuen enthält, und bestimmen, bei welchem Maße diese Viertel anfangen. Dann wird der Abstand dieser beiden Maße die mittlere Hälfte der Individuen umfassen. Natürlich gibt uns keine all dieser Methoden die wahre Verteilung der Individuen, welche allein den Typus vollständig bestimmen kann. Die Gründe, die uns veranlassen, die Serie durch ein p a a r Zahlen, welche die Norm und die Variabilität ausdrücken, zu ersetzen, müssen hier kurz dargelegt werden. Der einf a c h s t e Grund ist der, d a ß wir nur selten in der Lage sind, die Eigentümlichkeit der ganzen Serie zu bestimmen. Ein Blick auf die Regelmäßigkeit der oben gegebenen theoretischen Beispiele und die Unregelmäßigkeit einer auf wirklichen Beobachtungen beruhenden Zahlenreihe beweist, d a ß die wahre Verteilung nur b e k a n n t werden kann, wenn uns ungeheuer viele Fälle zu Gebote stehen. D a ß die Unregelmäßigkeit der Verteilung nicht etwa auf wirklichen Verschiedenheiten des Typus beruht, zeigt sich empirisch d a r a u s , d a ß Messungen von verschiedenen derselben Serie e n t n o m m e n e n Individuengruppen nie ganz die gleichen R e s u l t a t e geben, sondern Verschiedenheiten enthalten, die u m so stärker sind, je kleiner die Gruppen sind. Solche B o a s , Kultur und Rasse.

16

242

Anhang.

Die Meßbarkeit der Variabilität.

Verschiedenheiten beruhen auf dem Zufall, und es läßt sich theoretisch bestimmen, wie groß die zu erwartenden Unterschiede sind. So lange wir also auf Serien beschränkt sind, die in der Häufigkeitsverteilung von Individualmaßen stark vom Zufall abhängen, sind wir gar nicht in der Lage, die genauere Verteilung zu erforschen. Dazu kommt noch, daß der Vergleich zweier ungenau bekannter Serien sehr schwierig ist. Jede Serie besteht, wie wir oben gesehen haben, aus einer langen Reihe von Zahlenwerten, aus denen man sich weder unmittelbar noch graphisch ein klares Bild machen kann. Läßt sich dagegen die Serie auf einige wenige Zahlenwerte reduzieren, so ist der Vergleich leichter, und um so leichter, je weniger Zahlen zu vergleichen sind, und je weniger ihre Größe vom Zufall abhängt, dessen Einfluß ja nie ganz beseitigt werden kann. Nun haben die Durchschnittswerte den Vorteil, daß sie weniger als andere Werte vom Zufall abhängen, so daß sie ein bequemes Mittel sind Serien zu vergleichen, wenn auch der Vergleich nie erschöpfend ist. Zu erschöpfender Behandlung bedarf man eben so großer Individuenzahlen, daß sie für die praktische Arbeit nur selten zur Verfügung stehen. Ferner hat die erfahrungsmäßige Untersuchung vieler sehr großer Serien gelehrt, daß sie sich meist mit ziemlich großer Genauigkeit aus dem Durchschnittswerte der Beobachtungen und dem Durchschnittswerte der Abweichungen von der Norm zahlenmäßig nach einer ganz bestimmten Formel berechnen lassen, und man kann daher verallgemeinernd schließen, daß die Häufigkeitsverteilung in der Serie sich meist annähernd aus den beiden genannten Werten so berechnen läßt, daß der Einfluß der zufälligen Abweichungen nur gering ist. Natürlich machen wir hierbei die Annahme, daß die beobachtete Form der Verteilung immer annähernd dieselbe ist. Wir können diese Bemerkungen dahin zusammenfassen, daß wir erkennen, daß jeder Typus eine große Zahl verschiedenartiger Individuen umfaßt, daß die relative Häufigkeit dieser Individuen den Typus ausmacht, und daß daher die Beschreibung des Typus auf der Häufigkeitsverteilung aller in ihm enthaltenen Einzelformen fußen muß. Diese

Anhang.

Die Meßbarkeit der Variabilität.

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Verteilung läßt sich meist nur mit annähernder Genauigkeit angeben, und zwar ist es üblich, sie vermittels zweier W e r t e auszudrücken, die u n t e r gewissen A n n a h m e n eine theoretische B e s t i m m u n g der Häufigkeitsverteilung gestatten. Eine unmittelbare Bestimmung der Häufigkeitsverteilung ist nur möglich, wenn die Serie eine außerordentlich große Individuenzahl u m f a ß t . Wir haben auf S. 238 als Beispiel die theoretisch angen o m m e n e Verteilung von Körpergrößen zweier verschiedener T y p e n angegeben. Ein Blick auf diese Verteilung zeigt n u n , d a ß dieselben Körpergrößen in beiden Serien v o r k o m m e n . Die W e r t e zwischen 1575 m m und 1695 m m erscheinen z. B. in der ersten Serie 1814mal, in der zweiten Serie 3371 mal. Das Verhältnis erscheint ganz deutlich in der Figur, in welcher die Verteilung f ü r beide T y p e n zugleich gezeigt ist. Die Kurve, welche die erste Serie ausdrückt, erscheint niedriger und breiter ausgezogen, weil die gleiche Zahl Fälle, die in der zweiten Serie auf ein Intervall von 3 cm fallen, in der ersten auf ein Intervall von 4 cm fallen. Da n u n die durch senkrechte Linien aus den K u r v e n ausgeschnittenen Flächen die Zahl des Vorkommens andeutet, m u ß natürlich die Kurve, die die erste Serie darstellt, niedriger verlaufen, weil auf das Intervall von 3 cm weniger Fälle kommen. Da beide Kurven sich an dem P u n k t e 1697,4 mm schneiden, sieht man leicht, d a ß in dem vorerwähnten Intervall von 1575 bis 1695 m m die Fläche, welche beiden Kurven gemeinsam ist, die Individuen darstellt, deren Maße beiden Serien gemeinsam sind, den Zahlenwerten nach also 1814 Individuen, während die übrigen diesem Intervall angehörigen 1557 Individuen (nämlich 3371—1814) nur bei dem ersten Typus v o r k o m m e n . Offenbar gehören alle Individuen, die in den beiden K u r v e n gemeinsamen Flächenraum fallen, beiden Typen an. Dieser Flächenraum ist hier schraffiert angegeben worden. Ich habe die Größe dieses Flächenraumes f ü r unser Beispiel berechnet. Bei gleicher Zahl beider Serien würden 62,8 Prozent der Körpergrößen jeder Serie auch der anderen angehören, während 37,2 Prozent jeder Serie in der zweiten Serie nicht vorkommen würde. Hierbei ist, wie gesagt, im 16«

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Anhang.

Die Meßbarkeit der Variabilität.

Auge zu behalten, d a ß Individuen, die gleiche Maße haben, aber verschiedenen Serien angehören, deshalb nicht von biologischem Gesichtspunkt aus identisch sind, d a ß sie aber als um so ähnlicher angenommen werden dürfen, je weniger sich die Serien als Ganze unterscheiden. Denn in diesem Falle müssen wir annehmen, d a ß die Definitionen der beiden Klassen und die u n b e k a n n t e n , die Variation bedingenden Ursachen ebenfalls ähnlich sind. Die Beobachtung lehrt nun, d a ß beim Vergleich von Menschenrassen m i t u n t e r die individuellen Variationen innerhalb des T y p u s im Vergleich zu den Unterschieden der Normen sehr klein sind. Bei zahlenmäßiger Darstellung des Vorkommens aller individueller Variationen in beiden Typen würde dieses sich dadurch ausdrücken, d a ß keines der Maße des einen T y p u s sich beim anderen fände, oder graphisch a u s g e d r ü c k t : man würde finden, d a ß die K u r v e n , die beide Typen zur Darstellung bringen, ganz voneinander getrennt sind. So ist die Farbe des Sudannegers, die Form und Farbe seines Haares, und die Form seiner Lippen und Nase trotz aller individuellen Variation durchweg von den entsprechenden Kennzeichen bei den Schweden verschieden. Hier findet kein Übergreifen der Zahlenwerte und der Merkmale s t a t t . Dieses ist aber verhältnismäßig selten der Fall. In bezug auf viele, wohl die meisten Körpermerkmale ist die individuelle Variation so groß, der Unterschied zwischen den Normen so klein, d a ß weitausgedehntes Übergreifen der Serien Regel wird; und dieses gilt nicht nur von ähnlichen Nachbartypen, sondern auch von Typen, die sowohl den W o h n o r t e n nach, wie auch der Form nach, weit voneinander getrennt sind. Für die richtige Beurteilung von Rassenverschiedenheiten müssen wir uns die Bedeutung des häufigen Vorkommens des Übergreifens stets vor Augen halten. J e näher die Normen zweier Serien aneinander liegen, um so mehr haben wir das Recht, gleichmäßige Individuen beider Serien f ü r annähernd äquivalent zu halten. Bei weit auseinanderliegenden Normen darf diese a n n ä h e r n d e Gleichsetzung nicht ohne weiteres geschehen.

Anhang.

Die Meßbarkeit der Variabilität.

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Ferner ist zu bedenken, d a ß die Verschiedenheit der Normen nach zwei Gesichtspunkten beurteilt werden kann. Einmal können wir den absoluten morphologischen Unterschied bestimmen, wie z. B. den zwischen der Negernase und der Nase der Nordeuropäer; sodann können wir aber auch den Unterschied im Verhältnis zu seiner Variationsbreite bemessen. Es ist nämlich offenbar nicht das Gleiche, wenn wir einen gewissen Normunterschied h a b e n , der in jeder Serie so geringe Abweichungen aufweist, d a ß alle Individualwerte der ersten Serie von allen Individualwerten der zweiten Serie verschieden sind, oder wenn wir den gleichen Normunterschied haben mit so großen Abweichungen, d a ß die Individualabweichungen der beiden Serien s t a r k ineinandergreifen. Im ersten Falle haben wir offenbar zwei ganz verschiedene Klassen oder T y p e n , im zweiten Falle zwei Typen, die möglicherweise Unterglieder einer Klasse sein können, und um so wahrscheinlicher gemeinsame Definitionselemente enthalten, je stärker ihr Übergreifen ist, und in je mehr untersuchten Merkmalen beide Serien einander teilweise decken. In einem solchen Falle werden eben die Normalwerte selbst die gemeinsamen Elemente der beiden Klassen zum Ausdruck bringen, und diese Gemeinsamkeiten kommen den Verschiedenheiten der Klassen gegenüber s t a r k zur Geltung. Es ist natürlich nicht notwendig, d a ß ein solches Übergreifen auf dem Vorhandensein gemeinsamer Elemente in beiden Klassen b e r u h t . Auch dieser Fall läßt sich am besten an dem Verhalten anorganischer Substanzen darlegen: W e n n zwei Flüssigkeiten von verschiedener chemischer Zusammensetzung, aber nahezu dem gleichen spezifischen Gewicht, durch verschiedene Stoffe verunreinigt sind, so können die spezifischen Gewichte beider Klassen so variieren, d a ß die Varianten einander überschneiden. Dennoch sind beide Klassen ganz verschieden. Handelt es sich aber, wie bei Menschenrassen, um homologe Erscheinungen, die gleichartigen Einwirkungen unterliegen, so wird es höchstwahrscheinlich, daß die verschiedenen Klassen gleiche ursächliche Elemente enthalten, d. h. Untergruppen größerer natürlicher Klassen sind. Auf dieser B e t r a c h t u n g b e r u h t es, d a ß bei gleichmäßigen

Literaturnachweise.

246

Individuen zweier Serien diese als um so ähnlicher ihrem Wesen nach angenommen werden dürfen, j e kleiner der Unterschied der Normen im Vergleich zur V a r i a b i l i t ä t der Serien ist. Diese Übereinstimmung darf sich aber n i c h t nur auf e i n Merkmal stützen, sondern m u ß sich entweder bei vielen Merkmalen nachweisen lassen, oder man m u ß auf andere W e i s e zeigen können, d a ß die geprüften Merkmale in beiden Serien gleichwertig sind.

Literaturnachweise. S. S.

6. 8.

S. 13. S. 14.

S. 15. S. 24. S. 28.

S. 29.

L e o F r o b e n i u s , Und Afrika sprach. Berlin 1912—13. A. P e n c k , Das Alter des Menschengeschlechtes (Zeitschrift für Ethnologie, Bd. 40, S. 390ff. ; P e n c k und B r ü c k n e r , Die Alpen im Eiszeitalter. Leipzig. T h . W a i t z , Anthropologie der Naturvölker (2. Auflage). Bd. 1, S. 381. G e o r g G e r l a n d , Das Aussterben der Naturvölker; F. R a t z e l , Anthropogeographie. Bd. 2, S. 330ff. H. B a r t h , Travels and Discoveries in North and Central Africa (2. Auflage. London 1857—1858). Bd. 2, S. 253ff.; Bd. 3, S. 425ff., 528ff.; Bd. 4, S. 406ff„ 579ff. G u s t a v N a c h t i g a l , Sahärä und Sudan. Bd. 2, S. 391ff., 6 9 I f f . ; Bd. 3, S. 270ff., 355ff. Mary W h i t e O v i n g t o n , Half a Man, the Status of the Negro in New York. New York, Longmans, Green & Co., 1911. W. J o h a n n s e n , Elemente der exakten Erblichkeitslehre. J e n a 1909. F r a n c i s G a l t o n , Natural Inheritance. London 1889. K a r l P e a r s o n , Law of Ancestral Heredity (Proceedings of the Royal Society of London, Bd. 62, S.387); Law of Reversion (Ebenda, Bd. 66, S. 142ff.); On a Criterion which may serve to test Various Theories of Inheritance (Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie, Bd. 7, 1904, S. 524ff.). E . B a u r , Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. Berlin 1911. L. P l a t e , Vererbungslehre. Leipzig 1913.

Literaturnachweise.

246

Individuen zweier Serien diese als um so ähnlicher ihrem Wesen nach angenommen werden dürfen, j e kleiner der Unterschied der Normen im Vergleich zur V a r i a b i l i t ä t der Serien ist. Diese Übereinstimmung darf sich aber n i c h t nur auf e i n Merkmal stützen, sondern m u ß sich entweder bei vielen Merkmalen nachweisen lassen, oder man m u ß auf andere W e i s e zeigen können, d a ß die geprüften Merkmale in beiden Serien gleichwertig sind.

Literaturnachweise. S. S.

6. 8.

S. 13. S. 14.

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