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German Pages 161 Year 2012
Kultur und Gedächtnis
PERSPEKTIVEN DEUTSCH-JÜDISCHER GESCHICHTE herausgegeben von Rainer Liedtke und Stefanie Schüler-Springorum im Auftrag der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts in der Bundesrepublik Deutschland
Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte vermittelt in sieben Bänden einen umfassenden, thematisch organisierten Überblick über die historische Erfahrung der Juden im deutschen Sprachraum vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Jeder der chronologisch aufgebauten Teilbände ist in sich abgeschlossen und befasst sich mit einem grundlegenden Aspekt der deutsch-jüdischen Geschichte, die immer als integraler Bestandteil der allgemeinen Geschichte betrachtet wird. Die Reihe richtet sich an ein breites, historisch interessiertes Lesepublikum, reflektiert den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung, setzt jedoch keine Spezialkenntnisse zur jüdischen Geschichte voraus. Initiiert und gefördert wurde das von den Herausgebern und Autorinnen und Autoren in enger Kooperation entwickelte Gesamtprojekt von der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts.
Klaus Hödl
Kultur und Gedächtnis
Ferdinand Schöningh
Der Autor: Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München ISBN 978-3-506-77399-9
Inhalt Einleitung
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Jüdisch-nichtjüdische Kontaktzonen um die Wende zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Die jüdische Aufklärung (Haskalah) . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Die Wissenschaft des Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Juden in der Kultur des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . Juden in der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Suche nach einer jüdisch-nationalen Kunst . . . . . . . . Literarische Selbstvergewisserungen. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Juden im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Juden in der Populärkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Die jiddische Bühne und das Jargontheater . . . . . . . . . . . 91 Juden und das moderne Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Die Filmindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Die Überbrückung der Kluft zwischen Ost- und Westjuden . . Die jüdische Sozialwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Historiographie und jüdische Studien nach 1945
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Jüdische Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . 127 Die Jahre der Weimarer Republik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Jüdische Kultur im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . 133 Juden in Deutschland nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist jüdische Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jüdische Museen im Nachkriegsdeutschland. . . . . . . . . . Jüdische Schriftsteller/-innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Einleitung Lange Zeit, teilweise bis ins ausgehende 20. Jahrhundert, war in der nichtjüdischen und auch jüdischen Bevölkerung die Meinung vorherrschend, dass Juden1 kaum namhafte Maler, Bildhauer oder Architekten hervorgebracht hätten. Diese Ansicht vertraten selbst Gelehrte und (Kunst-)Historiker. Juden galten als ein »Volk des Buches«, und nach Heinrich Heine (1796–1856) bestand deren Beitrag zur allgemeinen Kultur in der Literatur, zumal in der Verbreitung der Bibel. Auch von einer speziell jüdischen Kunst könne bestenfalls auf religiösem Gebiet, bei der Herstellung von Zeremonialgegenständen, gesprochen werden. Selbst die Jewish Encyclopaedia aus dem Jahre 1902 zweifelt an der Existenz einer eigenständigen jüdischen Kunst. Der Grund für das vermeintliche Unvermögen der Juden, künstlerisch tätig zu sein, wurde einerseits in ihrer religiös-kulturellen Tradition gesehen, d. h. im biblischen Verbot, sich ein Abbild von Gott anzufertigen, das die visuellen Fähigkeiten zugunsten des Gehörsinns verkümmern habe lassen. Und andererseits wurde es rassisch zu erklären versucht. Zwar stimmt es, dass es bis zum späten 19. Jahrhundert kaum jüdische Künstler gab, die allgemeine Berühmtheit erlangten. Im Gegensatz dazu genoss eine Reihe jüdischer Musiker und Komponisten in der breiten Bevölkerung große Bekanntheit und auch Verehrung. Und dass im jüdischen Alltagsleben künstlerische Berufsambitionen häufig wenig Förderung genossen, wenn nicht gar unterdrückt wurden, ist durch eine Vielzahl von Memoiren ebenfalls belegt. Der jiddische Schriftsteller Isaac Bashevis Singer weiß beispielsweise zu berichten, dass es ihm als Kind untersagt war, einen Menschen zu zeichnen oder zu malen, weil dies gegen das zweite Gebot verstoße. 1
Bis auf wenige Ausnahmen wird im vorliegenden Text ausschließlich das generische Maskulinum verwendet. Das heißt, dass Frauen bei Begriffen mit einem männlichen grammatikalischen Geschlecht, wie beispielsweise Jude, impliziert sind.
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Dennoch hat es immer schon jüdische Künstler gegeben. Selbst wenn sie in der allgemeinen Gesellschaft kaum bekannt waren und ihre Tätigkeit auch innerhalb der jüdischen Bevölkerung nicht immer auf Zustimmung stieß, kann von keiner umfassenden Feindseligkeit gegen künstlerisches Schaffen unter den Juden gesprochen werden. Wie viele andere Vorurteile wurzelte auch die Vorstellung, Juden könnten in der Malerei oder plastischen Kunst mit keinen überzeugenden Leistungen aufwarten, in bestimmten historischen Voraussetzungen. Bis zur frühen Neuzeit herrschte lediglich die Überzeugung vor, dass Juden kein Bildnis von Gott für den Gebrauch in der Synagoge anfertigen dürften. Andere künstlerische Tätigkeiten galten als von dieser Bestimmung ausgenommen. Die Auffassung eines allgemeinen Bilderverbotes bei den Juden begann sich merkwürdigerweise just zu jenem Zeitpunkt durchzusetzen, als vermehrt Artefakte geschaffen wurden, die als Zeugnis gegen das Vorurteil der jüdischen Bildfeindlichkeit hätten dienen können. Dazu gehören beispielsweise Porträts bedeutender religiöser Autoritäten, die die Bindung einzelner Juden zu ihnen stärken sollten. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel stellt ein Bildnis von Jonathan Eybeschütz (1690–1764), Rabbiner von Altona, dar, das teilweise sogar als Talismann fungierte und zu einem Personenkult um ihn beitrug. Andere Zeugnisse jüdischer Kunst bilden beeindruckend ornamentierte Heiratsverträge (Ketubot). Teilweise finden sich darin abgewandelte christliche Motive, die auf eine enge Verflechtung jüdischer und nichtjüdischer künstlerischer Symbolik hinweisen. Es ist jedenfalls nicht möglich zu behaupten, dass es eine Bildfeindlichkeit unter den Juden gegeben habe, allen anderslautenden Auffassungen zum Trotz. Es sollte allerdings bis zum 19. Jahrhundert dauern, dass einzelne jüdische Künstler auch gesamtgesellschaftliche Anerkennung fanden. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war der Ausbau der Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden, wodurch Erstere mit zeitgenössischen Kunststilen vertraut wurden, sie mitprägten und die Aufmerksamkeit vieler Nichtjuden auf sich zo-
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gen. Einer der ersten jüdischen Künstler in Deutschland, der von Nichtjuden geschätzt wurde, war der im hessischen Hanau geborene Maler Daniel Moritz Oppenheim (1800–1882). Unter seinem reichhaltigen Oeuvre befindet sich ein Bild aus dem Jahre 1864, das Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) im Hause von Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) zeigt (siehe Abb.): Der Komponist spielt dem berühmten Literaten auf dem Klavier vor. Dabei sieht Mendelssohn Bartholdy Goethe bewundernd an und scheint um dessen Anerkennung zu ringen, während ihm der Poet den Rücken zukehrt und nachdenklich in die Ferne blickt. Oppenheim hält in seinem Bild eine Begegnung von Mendelssohn Bartholdy und dem Dichterfürsten fest, die tatsächlich stattgefunden hat. Der Musiker, der damals als größeres Genie als Mozart galt und im Alter von vierzehn Jahren bereits mehr als einhundert Kompositionen vorweisen konnte, wurde zu Beginn der 1820er Jahre von Karl Zelter, seinem Lehrer in Musiktheorie, nach Weimar geführt. Sein Besuch bei Goethe konnte damals als Beleg dafür ausgelegt werden, dass Juden von den berühmtesten Repräsentanten der deutschen Kultur empfangen und damit als Ihresgleichen bestätigt wurden. Oppenheims vier Jahrzehnte später geschaffene bildliche Komposition legt allerdings eine andere Deutung nahe. Die unterschiedlichen Körperhaltungen der Beiden weisen auf Spannungen hin, auf eine Kluft zwischen Goethe als Vertreter der deutschen Kultur und Mendelssohn Bartholdy als jüdischem Künstler. Dass Oppenheims Auslegung der jüdischen und nichtjüdischen Beziehungen nicht gänzlich aus der Luft gegriffen war, lässt sich im konkreten Fall aus einem Brief von Zelter an Goethe ableiten, in dem er seinen Schüler als einen Musiker beschreibt, der zwar jüdischer Herkunft, selbst aber kein Jude sei; es komme nämlich sehr selten vor, dass Juden namhafte Kulturschaffende würden. Zelter drückt damit ein Unbehagen über Juden als Musiker und Künstler aus, das im 19. Jahrhundert weit verbreitet war und in Bezug auf Mendelssohn Bartholdy exemplarisch von Richard Wagner vorgetragen wurde. Mögen die Zeitgenossen Felix Mendelssohn Bartholdy reserviert begegnet und ihm gegenüber ambivalent eingestellt gewesen
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Abb. 1: Daniel Moritz Oppenheim: Felix Mendelssohn Bartholdy spielt vor Goethe, 1864.
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sein, so konnten sie kaum leugnen, dass er ein wichtiger Mitgestalter deutscher (Hoch-)Kultur war. Im März 1829 wurde unter seiner Leitung Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion aufgeführt, zu deren Premiere der preußische König, Mitglieder des Adels, Intellektuelle wie Alexander von Humboldt, Friedrich Schleiermacher, Heinrich Heine und andere Personen von Rang und Namen kamen. Das Konzert hatte durchschlagenden Erfolg, wodurch Bach neue Bekanntheit erlangte sowie dessen Musik zu einem festen Bestandteil der deutschen Nationalkultur wurde. Mendelssohn Bartholdy, ein als Kind getaufter Jude, hatte damit wesentlichen Anteil an der Restauration eines wichtigen Werkes aus der deutsch-christlichen Musiktradition. So wie Oppenheim die Leistungen des jungen Mendelssohn Bartholdy auf die Leinwand bannte, so wurde auch dessen Erfolg bei der Aufführung der Matthäus-Passion künstlerisch gewürdigt. Bekannt ist in diesem Zusammenhang vor allem ein um 1930 entstandenes Werk des russisch-jüdischen Malers Leonid Pasternak. Darin stellt er Mendelssohn Bartholdy als den Wiederentdecker von Bach dar. Er mag mit dieser Bezeichnung die Leistung des Komponisten etwas übertrieben haben; aber die Grundaussage des Gemäldes, dass ein Enkel von Moses Mendelssohn (1729– 1786) eine zentrale Rolle in der Entwicklung der deutschen Musiktradition einnimmt, ist richtig. Was ist jüdische Kunst? Diese kleine Episode zeigt das kulturelle Miteinander von Juden und Nichtjuden. Sie macht es oftmals unmöglich, die jüdischen und nichtjüdischen Anteile bei der Gestaltung deutscher Kultur zu bestimmen. Worin lagen sie beispielsweise bei der Darbietung der Matthäuspassion? Noch schwieriger wird die Festlegung des Jüdischen und Nichtjüdischen, wenn gefragt wird, ob Mendelssohn Bartholdy als jüdischer Künstler bezeichnet werden könne? Er war einer der größten deutschen Komponisten im 19. Jahrhundert und hat die Musikgeschichte in den deutschen Ländern und über deren
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Grenzen hinaus in starkem Maße mitgeprägt. Die Matthäuspassion galt bis 1829 als nicht aufführbar, und ohne ihn hätte es wohl noch eine Zeitlang gedauert, bis sie vortragsreif geworden wäre. Aber hat er als Jude an der Aufführung mitgewirkt? Um die Frage zuzuspitzen: Mendelssohn Bartholdy war seit Johann Sebastian Bach der wichtigste deutsche Komponist protestantischer Sakralmusik. Hatte er diese Funktion als Jude inne? Fragen, ob Artefakte einen Bezug zu einem jüdischen Thema aufweisen und/oder von jüdischen Künstlern hervorgebracht werden müssen, um als jüdische Kulturleistungen zu gelten, oder ob konvertierte Juden und Jüdinnen weiterhin als (ihrer Herkunft nach) jüdische Kulturschaffende bezeichnet werden können, sind bei einer Beschäftigung mit Juden in der deutschen Kultur nicht zu umgehen. Dazu kommt, dass das Judesein häufig eine Fremdbestimmung darstellt, die mit dem Bewusstsein und der Selbstdefinition der (getauften) Personen nicht übereinstimmt. So blieb auch Felix Mendelssohn Bartholdy, der nicht nur von seinem Vater konvertiert wurde, sondern auch in einem Milieu aufwuchs, das durch enge Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden charakterisiert war, für einen Großteil seiner Umwelt Jude. Im vorliegenden Text bildet die Zuschreibung des Judeseins kein relevantes Kriterium zur Beantwortung der Frage, wann von jüdischer Kunst gesprochen werden könne. Als jüdischer Künstler gilt im Folgenden eine Person, die – egal ob konvertiert oder nicht – in ihren Werken eine jüdische Identität zum Ausdruck bringt. Ein jüdisches Kunstwerk wiederum muss einen Bezug zu einem jüdischen Thema aufweisen. Damit ist zugegebenermaßen eine sehr weite Definition des Jüdischen in der Kunst gegeben, die vielleicht nicht immer taugt, Kulturleistungen angemessen zu bestimmen. Nach dieser Umschreibung kann nämlich auch ein Gemälde des (nichtjüdischen) afro-amerikanischen Künstlers Henry Ossawa Tanner (1859–1937), das Juden an der Klagemauer in Jerusalem darstellt, als jüdische Kunst bezeichnet werden, oder der Kaftanjude des (nichtjüdischen) rumänischen Malers Nicolae Grigorescu (1838–1907). Zudem gab es im 19. Jahrhundert eine Reihe nichtjüdischer polnischer Maler, die sich mit jüdischen
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Themen beschäftigt und in diesem Sinne jüdische Kunst hervorgebracht hat. Trotz ihrer Unschärfe kann die obige Umschreibung von jüdischer Kunst aber helfen, die Komplexität der Frage, was darunter zu verstehen sei, zu reduzieren, ohne die Thematik zu verfremden, und so eine allgemein verständliche Annäherung an das Gebiet jüdischen Kunstschaffens erlauben. Diese Definitionskriterien treffen beide auf Mendelssohn Bartholdy zu. Bei ihm finden sich einerseits Zeugnisse eines jüdischen Bewusstseins, und andererseits ist in Teilen seines künstlerischen Schaffens, exemplarisch in seiner Aufführung von Johann Sebastian Bachs Paulus, ein Bezug zum Judentum nachweisbar. Aus einem ähnlichen Grund ist auch die Charakterisierung von Heinrich Heine, der ebenfalls konvertierte, als jüdischer Kulturschaffender vertretbar. Das trifft allerdings nicht auf die zwei Kinder aus der Ehe von Simon Veit und Brendel Mendelssohn, der Tochter des berühmten deutsch-jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, zu. Beide Söhne gingen nach Italien und wurden Maler, die sich der Schule der Nazarener anschlossen. Sie arbeiteten somit in einer christlich-katholischen Maltradition. Bis auf ihre jüdische Herkunft, von der sie sich mit ihrer Konversion bewusst distanzierten, findet sich bei ihnen kein Bezug zum Judentum. Sie brachten keine Werke mit jüdischen Motiven hervor. Zwar hielt sich Daniel Moritz Oppenheim, der eingangs erwähnte Maler des Bildes von Goethe und Felix Mendelssohn Bartholdy, ebenfalls eine Zeitlang unter den Nazarenern auf und wurde von ihnen beeinflusst. Anders als die Gebrüder Veit ließ sich Oppenheim aber nicht taufen und beschäftigte sich eingehend mit jüdischen Themen. Er hatte zwar reichhaltige und intensive Kontakte mit Nichtjuden, aber sie entfremdeten ihn nicht von seiner jüdischen Umwelt, sondern unterstützten ihn lediglich bei seiner Arbeit, waren vielleicht sogar eine wesentliche Voraussetzung für seine außerordentlichen Leistungen. Oppenheim gilt jedenfalls als jüdischer Maler. Bisweilen ist die Unterteilung in jüdische und nichtjüdische Künstler wenig zielführend und verzerrt sogar die Ergebnisse einer Studie über Juden in der deutschen Kultur. Identitäten sind
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nämlich nichts Festgeschriebenes und Starres, sondern stellen veränderbare Positionierungen dar, die vielfältige Bewusstseinsinhalte zulassen. Demnach haben Menschen mehrfache Identitäten, die eine Kategorisierung in Juden und Nichtjuden oftmals verunmöglichen. Das zeigt sich vor allem bei Mendelssohn Bartholdy, der sowohl Protestant war als auch jüdisches Bewusstsein erkennen ließ. Die beiden Identitäten schlossen sich bei ihm nicht aus, sondern konstituierten einander. Gleichzeitig versuchte er, Judentum und Protestantismus zu transzendieren und mit seiner protestantischen Sakralmusik eine universelle Utopie zu konstruieren. Vor diesem Hintergrund mag sich die Frage, ob Mendelssohn Bartholdy ein jüdischer oder nichtjüdischer Künstler war, vielleicht sogar erübrigen. Zugegebenermaßen taucht der Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Kategorisierung von jüdisch und nichtjüdisch oft nur nach wissenschaftlicher Analyse auf und fehlte Zeitgenossen weitgehend. Das erweist sich beispielhaft an der Person von Jacob Beer, der später als Giacomo Meyerbeer (1791–1864) Bekanntheit erlangen sollte. Ähnlich wie Mendelssohn Bartholdy galt auch er als musikalisches Wunderkind, und seine musikalische Karriere wurde durch seine Eltern mit allen verfügbaren Mitteln gefördert. Dazu gehörten auch die Bemühungen von Amalie Beer nach dem ersten öffentlichen Konzert, das Jacob im Alter von zehn Jahren in Berlin gab, ein gemaltes Porträt ihres Sohnes in der Akademie der Wissenschaften anbringen zu lassen. Ihr Vorgehen wurde jedoch von nicht wenigen Menschen als überheblich und unangemessen ausgelegt. Vor allem der Umstand, dass ein Bild eines Juden aufgehängt wurde, stieß auf Ablehnung. Der Berliner Jurist Karl Wilhelm Grattenauer (1771–1838), der sich durch seine Judenfeindschaft einen fragwürdigen Namen machen sollte, tat sich in seiner Kritik an Amalie Beers Bemühungen besonders hervor und gab mit seinen Polemiken letztlich auch den Ausschlag für die Entfernung des Porträts. Juden, so hatte es den Anschein, blieb die gesellschaftliche Anerkennung, die sie aufgrund ihrer kulturellen Leistungen erwarten konnten, weitgehend versagt, und die Kluft zwischen ihnen und Nichtjuden konnte trotz aller Anstren-
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gungen nie gänzlich überbrückt werden. Diese Einsicht musste für die Familie Beer besonders schmerzhaft gewesen sein, da sie wie kaum andere Juden an der Wende zum 19. Jahrhundert die Gesellschaft von Nichtjuden suchte und unter diesen verkehrte. Sie führte den vielleicht wichtigsten und bekanntesten Salon in Berlin, einen Treffpunkt berühmter zeitgenössischer Künstler, Politiker und gesellschaftlich einflussreicher Männer. Selbst der preußische Ministerpräsident August von Hardenberg pflegte wöchentlich zum Essen zu kommen. Zum Aufbau des Buches Jüdische Kulturschaffende im 19. und 20. Jahrhundert bilden das zentrale Thema der nachfolgenden Ausführungen. Da sich das Verständnis von Kultur nicht auf herausragende künstlerische Leistungen beschränken lässt, sondern das gesamte Lebensumfeld umfasst, wird neben hochkulturellen Aspekten auch alltagsund populärkulturellen Manifestationen und Praktiken das Augenmerk geschenkt. Kulturelle Leistungen sind sowohl Ausdruck wie auch Faktoren sozialer Entwicklungen und historischer Brüche und werden ohne Kenntnis des geschichtlichen Rahmens, in dem sie eingebettet sind, nur unvollständig erfasst. Deswegen fließen historische Prozesse, soweit sie für kulturelle Manifestationen von Belang sind, gleichfalls mit ein. Eine Darstellung von zwei Jahrhunderten auf knapp mehr als 100 Seiten verlangt eine dynamische Perspektive. Es können nur ausgesuchte Aspekte der jüdischen Kulturgeschichte behandelt werden. In den vorliegenden Ausführungen wird der Fokus vor allem auf künstlerische Leistungen sowie kulturelle Praktiken gerichtet, die Veränderungen des Beziehungsgeflechts zwischen Juden und Nichtjuden widerspiegeln oder durch sie hervorgerufen wurden. Die besondere Aufmerksamkeit, die jüdisch-nichtjüdischen Interaktionen geschenkt wird, bedeutet, dass innerjüdische kulturelle Prozesse, vor allem auch Aspekte einer jüdischen Alltags-
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kultur, nicht berücksichtigt werden. Sofern beispielsweise die jüdische Aufklärung erwähnt wird, dann nur in ihren Auswirkungen auf die jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisse. Auch die Ausführungen über jüdische religiöse Riten sind so gehalten, dass sie Veränderungen in den Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden darlegen und veranschaulichen. Die Zunahme von Kontaktzonen und Begegnungsorten zwischen Juden und Nichtjuden im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte unmittelbare Folgen auf das Verständnis von Judentum, auf die Umschreibung, was jüdisch sei, wie Juden sich selbst definieren. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass Nichtjuden an der gesellschaftlichen Bestimmung von Judentum mitwirkten. Das war vor allem nach der Shoah der Fall, als sich Juden eine Zeitlang in gesellschaftliche Nischen zurückzogen, sich weitgehend passiv verhielten und dadurch in weitem Maße Nichtjuden die gesellschaftliche Darstellung und Vermittlung von Judentum überließen. Kultur und Gedächtnis sind zwei große Themenbereiche, die bisweilen in unmittelbarer Abhängigkeit zueinander stehen. Ein Gemälde eines spezifischen historischen Aspektes kann für das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft von prägender Wirkung sein, während Maler wiederum aus dem Fundus des kollektiven Gedächtnisses schöpfen. In diesem Zusammenhang ist eine Verbindung der beiden Begriffe von Kultur und Gedächtnis naheliegend. Auf ein eigenes Gedächtnis-Kapitel wird im vorliegenden Text allerdings verzichtet. Stattdessen wird immer wieder darauf hingewiesen, wie tiefgehende geistige und religiöse Veränderungen im jüdischen Lebenskosmos neue jüdische Gedächtnisperspektiven hervorriefen und beeinflussten. Als beispielhaft kann in diesem Zusammenhang die Entstehung der Wissenschaft des Judentums genannt werden, die eine neue Umschreibung von Judentum vorantrieb und dieses dabei historisierte. Statt einer zyklischen Geschichtsauffassung, die sich an alljährlich wiederkehrenden religiösen Festtagen orientierte, wurde ein lineares Verständnis von Geschichte eingeführt. Damit änderte sich natürlich auch das kollektive Gedächtnis eines Teiles der Juden.
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Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen deutsche Juden. Verständlicherweise ragt dabei Berlin gegenüber anderen Städten heraus. Da eine Begrenzung des Fokus auf den Raum des späteren Deutschen Reiches oder der Weimarer Republik einer nationalistischen Perspektive geschuldet ist, die historische Zusammenhänge und Kontexte verzerrt, werden immer wieder auch Bezüge zu anderen jüdischen Gemeinden, vor allem zu Wien, hergestellt.
Jüdisch-nichtjüdische Kontaktzonen um die Wende zum 19. Jahrhundert Bis ins späte 18. Jahrhundert waren die Lebensläufe des überwiegenden Teiles der Juden weitgehend vorgezeichnet. Wie andere Gruppen hatten auch Juden einen festen Platz im gesellschaftlichen Gefüge. Ihr Alltag wurde von ihrer Religion bestimmt, und selbst die Rechtsprechung wurde innerhalb der jüdischen Gemeinde vollzogen. Zu Begegnungen mit Nichtjuden kam es vorwiegend auf geschäftlichem Gebiet. Neben diesen allgemeinen Tendenzen gab es aber auch gegenläufige Entwicklungen, die in den Jahrzehnten vor der Emanzipation das jüdische Gemeinschaftsgefüge erschütterten und die Vorstellung einer statischen Lebenswelt fragwürdig erscheinen lassen. Dazu gehörten beispielsweise messianische Bewegungen, das Aufkommen des Chassidismus, einer strengreligiösen Bewegung mit bisweilen mystischen Ausformungen, oder die MusarLiteratur (jüdische Moralliteratur des Mittelalters und der Neuzeit). Zudem hatte es immer schon einzelne Juden gegeben, die nicht nur Geschäftskontakte, sondern vielgestaltige Beziehungen zu Nichtjuden pflegten. In diesem Sinne ist die Vorstellung eines jüdischen Kollektivs, das weitestgehend abgeschirmt von Nichtjuden existierte, sicher nicht richtig, sondern muss differenzierter gesehen werden. Allgemein wurden die Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden im 17. und 18. Jahrhundert häufiger, was durch die zeitgenössische Kunst reflektiert wurde. Als illustratives Beispiel mag ein Bild der ersten Berliner Synagoge in der Heidereutergasse dienen, das 1720, sechs Jahre nach ihrer Eröffnung im Beisein von Königin Sophie Dorothea und anderer nichtjüdischer Würdenträger, angefertigt wurde. Es zeigt das Innere des Neubaus, der mit Juden gefüllt ist. Am unteren Rand der Darstellung sind einige Nichtjuden zu sehen. Deren Anwesenheit im jüdischen Gotteshaus, so ist daraus zu schließen, war somit nicht auf die Einweihungsfeier be-
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schränkt, sondern Nichtjuden besuchten es, wahrscheinlich von der eindrucksvollen Architektur oder durch ihre Neugierde am jüdischen Gottesdienst angelockt, auch in den darauffolgenden Jahren. Im Zuge dessen wandelte sich die Synagoge zumindest tendenziell von einer privaten zu einer öffentlichen Sphäre und stellte eine Kontaktzone zwischen Juden und Nichtjuden dar. Es gibt eine Reihe weiterer bildlicher Darstellungen, die eine Zunahme des jüdisch-nichtjüdischen Miteinanders belegen. Ein bemerkenswerter Kupferstich findet sich in einem um die Mitte des 18. Jahrhunderts publizierten Buch eines protestantischen Priesters über jüdische Gebräuche in Deutschland. Am Eingang des Gotteshauses lädt ein Jude eine als nichtjüdisch gekennzeichnete Person durch eine Gestik ins Innere der Synagoge ein. Auch dieses Artefakt indiziert eine Tendenz, wonach sich das jüdische Gotteshaus zu dieser Zeit vermehrt Nichtjuden öffnete. Zumindest ein Teil der Juden wollte seine ihm zugeschriebene Fremdheit ablegen, indem er die nichtjüdische Gesellschaft an seinen religiösen Praktiken beobachtend teilhaben ließ. Das Moment des jüdisch-nichtjüdischen Miteinanders kommt in einem anderen Kupferstich aus dem frühen 18. Jahrhundert, der eine jüdische Hochzeit auf einem öffentlichen Platz zeigt, ebenfalls zum Ausdruck (siehe Abbild). Nichtjuden werden dabei als indifferente und unbeteiligte Personen abgebildet, als Menschen, die sich an den Gebräuchen der Juden nicht stoßen und vielleicht wegen einer Vertrautheit mit ihnen auch kein merkbares Interesse an ihnen an den Tag legen. Juden und Nichtjuden, so scheint es, lebten neben- und miteinander, ohne dass es dabei zu offenen Feindseligkeiten gekommen wäre. Im Gegensatz zu den Synagogenszenen öffnen im Hochzeitsbild Juden nicht ihren privaten Bereich der nichtjüdischen Gesellschaft, sondern okkupieren öffentlichen Raum für private Zwecke. Juden erscheinen dadurch nicht mehr als von der Öffentlichkeit ausgeschlossen und in eine uneinsehbare Sphäre gedrängt, sondern sie gestalten aktiv das Treiben auf öffentlichen Plätzen mit und prägen die Alltagskultur der Gesellschaft. Und das alles geschieht ohne augenscheinliche Missbilligung durch Nichtjuden.
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Abb. 2: Jüdische Hochzeit im Fürther Schulhof, 1705.
Aus diesen bildlichen Darstellungen lässt sich folgern, dass es unter den Juden eine Bereitschaft gab, die nichtjüdische Umwelt mit den eigenen religiösen Praktiken vertraut zu machen. Juden waren kein exklusiv lebendes Kollektiv, sondern schienen vielfältige Kontakte zu Nichtjuden zu haben. Dieser Umstand wird auch in Werken nichtjüdischer Künstler festgehalten, beispielsweise vom venezianischen Maler Bernardo Bellotto (1720–1780). In einem Bild aus dem Jahre 1777 stellt er zwei traditionell gekleidete Juden auf Warschaus Miodowastraße, dem Prachtboulevard der Stadt, dar. An ihnen fahren stattliche Kutschen vorüber. Juden erscheinen als fester Bestandteil des städtischen Lebens, als integraler Part des sozialen Geschehens. Schon vor der jüdischen Aufklärung (Haskalah) und Emanzipation gab es somit neben den Handelskontakten Momente und Stätten der Begegnung, die zu einem verstärkten jüdisch-nichtjüdischen Miteinander führten. Sie sollten mit der Haskalah wesentlich zunehmen. Besonders deutlich kamen sie in den jüdischen Salons und den Neuerungen des jüdischen Schulsystems (siehe unten) zum Ausdruck.
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Die jüdische Aufklärung (Haskalah) Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert waren Juden in den deutschen Territorien mit zwei großen Bewegungen konfrontiert. Obwohl sie ganz wesentlich durch zeitgenössische Entwicklungen beeinflusst waren, stellten sie doch auch eigenständige Strömungen dar, die konkrete jüdische Ziele verfolgten und dabei das traditionelle Judentum und sein Verhältnis zur christlichen Umwelt nachhaltig modifizierten. Die erste Bewegung, die jüdische Aufklärung, öffnete (religiöses) Judentum säkularem Wissen. In deren Folge traten in späteren Jahrzehnten jüdische Intellektuelle für innerjüdische Reformen, aber auch für die rechtliche Emanzipation ein. Die zweite, die Wissenschaft des Judentums, die im frühen 19. Jahrhundert in Erscheinung trat, stellte Alternativen zu einer religiösen Umschreibung von Judentum vor. Sie fand sie vor allem in der Geschichte. Beide Bewegungen schufen Grundlagen, die die Lebensweise des überwiegenden Teiles der Juden veränderten, zu neuen kulturellen Betätigungsfeldern und Ausdrucksformen sowie neuen Erzählungen im kollektiven Gedächtnis führten. Die Haskalah begann in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und erreichte ihren Höhepunkt in den 1770er und 1780er Jahren. Zu ihren aktiven Repräsentanten, die in Wort und Schrift das Gedankengut der Aufklärung verbreiteten, zählte lediglich eine kleine, dafür aber einflussreiche Gruppe von kaum mehr als 200 Männern, die aus dem traditionellen jüdischen Milieu ausbrach und sich für zeitgenössische säkulare Entwicklungen interessierte. Die Aufklärer, die sog. Maskilim, wollten die religiöse jüdische Welt, in der sie sozialisiert worden waren, der nichtjüdischen Umgebung öffnen und dadurch modernisieren. In Verfolgung ihrer Ziele stießen sie auf heftige Gegenwehr der Rabbiner, die in den Ambitionen der jüdischen Aufklärer den Bestand des Judentums gefährdet sahen. Die Reaktion der religiösen Autoritäten zeigte sich in literarischer Form, anfangs aber vor allem auch in Akten der Exkommunikation und sozialen Ächtung der Vertreter der Haskalah, in hetzerischen Predigten, bisweilen auch dem Ver-
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brennen ihrer Bücher und der Schaffung eines Klimas, das die Maskilim um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten ließ. Die Schärfe des Konfliktes lässt leicht übersehen, dass sich kaum ein Maskil von der jüdischen Religion und Kultur lossagen oder andere von diesem Schritt überzeugen wollte. Vielmehr beabsichtigten die Aufklärer, Judentum zu reformieren und die einzelnen Juden mit allgemeinen Entwicklungen vertraut und damit gesamtgesellschaftlich »nützlich« zu machen. Sie glaubten, damit ein Hindernis für die rechtliche Benachteiligung der Juden beseitigen zu können. Und auch die religiösen Autoritäten lehnten nicht in ihrer Gesamtheit die moderne Wissenschaft ab. Jacob Emden aus Altona (1697–1776) war beispielsweise ein Rabbiner, der sich für neueste wissenschaftliche Entwicklungen interessierte, ohne dadurch seine Strenggläubigkeit ablegen zu wollen. Zugegebenermaßen litt er an diesem Zustand und konnte für sich den Zwiespalt zwischen religiösem Studium und säkularem Wissenserwerb nie wirklich lösen. Der eigentliche Grund für die Auseinandersetzungen zwischen den Rabbinern und den jüdischen Aufklärern lag demnach weniger in gänzlich unvereinbaren Positionen, in der Entscheidung für oder gegen das Judentum, sondern in der durchaus richtigen Einsicht der religiösen Elite, dass die Forderungen der Maskilim ihre Position in den Gemeinden untergruben. Die Neugestaltung der jüdischen Gesellschaft würde die Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden durchlässiger machen und in der Folge die Rolle der Religion, und damit die rabbinische Machtfülle, begrenzen. Therapeuten der Gesellschaft Ein erster Schritt der Maskilim, der auf eine Begrenzung des Einflusses religiöser Autoritäten hinauslief, war die Veröffentlichung ihrer Schriften ohne eine rabbinische Bestätigung, die sie der Tradition entsprechend hätten einholen müssen. Damit machten sie deutlich, dass es für sie Bereiche gab, die außerhalb der rabbinischen Zuständigkeit lagen. Und diese Sphären wollten sie nicht nur bewahren, sondern auch ausdehnen. Vieles, was
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ihnen unvernünftig erschien, einen Anklang von Irrationalität hatte und sich einer logischen Erklärung entzog, war ihnen verdächtig und wollten sie ändern. Und dabei machten sie auch vor religiösen Vorschriften nicht Halt. Einige Maskilim sahen im Rabbiner, der Juden den Zugang zu weltlichem Wissen erschwerte oder gar versperrte, den Hauptgrund für deren gesellschaftliche Diskriminierung und soziale Benachteiligung. Diese Ansicht wurde aber nicht von allen jüdischen und nicht einmal nichtjüdischen Aufklärern geteilt. Sie pflegten stattdessen die Ursache für die angebliche kulturelle Rückständigkeit und den sozialen Pariahstatus der Juden in deren politischen Behandlung zu sehen. Ein namhafter Vertreter dieser Meinung war der (nichtjüdische) preußische Beamte Christian Wilhelm Dohm (1751–1820). Andere Aspekte, die die Maskilim mit Nachdruck hinterfragten und zu ändern versuchten, betrafen Teile des traditionellen Alltagslebens. Dazu gehörte der Einfluss des Aberglaubens, der auf medizinischem Gebiet eine große Rolle spielte. Die jüdischen Aufklärer und ihre Anhänger, unter denen sich viele Ärzte befanden, traten für eine wissenschaftliche Medizin ein, die Krankheiten aus einer nachvollziehbaren Ursache erklärte und eine kausale Beziehung zwischen pathogener Umwelt und körperlichen Leiden hervorhob. Sie wandten sich gegen verbreitete Vorstellungen, die Krankheiten, wie beispielsweise die Ringelflechte, die unter polnischen Juden weit verbreitet gewesen sein soll, auf Dämonen und Hexerei zurückführten. Mit der Forderung nach einer besseren Alltagshygiene oder einer sorgsamen Ernährung betonten sie vor allem präventive Gesundheitsmaßnahmen. Ein früher und sehr einflussreicher jüdischer Arzt war Elcan Isaac Wolf. Er war auch in Mannheim tätig und gab 1777 eine Schrift über die Krankheiten der Juden heraus. Darin weist er sie an, in ihren Behausungen auf mehr Sauberkeit zu achten, sich beim Essen in Mäßigung zu üben und sich mehr zu bewegen. Besorgt äußert sich Wolf auch über ihre »außerordentliche Empfindlichkeit des Nervensystems«, einen Zustand, der Juden bis
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weit in das 20. Jahrhundert zugeschrieben wurde. Im Weiteren fordert er sie auf, ihre Kinder Musik, Malerei und andere Künste lernen zu lassen, wofür sie entsprechende Fähigkeiten besäßen. Wolf widerspricht damit explizit der weit verbreiteten Annahme einer fehlenden Kunstsinnigkeit bei den Juden. Gleichzeitig versteht er die jüdische Lebensgestaltung als einen Bereich, für den Ärzte verantwortlich seien. So wie andere Vertreter der Aufklärung tritt Wolf für nichts weniger als eine neue Alltagskultur ein, die nicht mehr allein religiösen Vorstellungen untergeordnet oder durch abergläubische Furcht bestimmt sein sollte. Stattdessen sollten die einzelnen Juden wissenschaftliche Erkenntnisse für ihre Daseinsgestaltung beherzigen. Mit ihrer Kritik an Teilen der gewohnten Existenzweise wollten die Maskilim religiöse Autoritäten als Wegweiser für das alltägliche Leben ablösen und selbst deren Position einnehmen. Sie fühlten sich dabei als Therapeuten der jüdischen Gesellschaft, die vermeintlich krankheitsfördernde Auswirkungen der traditionellen Lebensführung aufzeigen und korrigieren. Dazu gehörten auch die Praktiken der Eheschließung. Einerseits stießen sich die Aufklärer an den arrangierten Ehen, die Gefühle der Partner in der Regel unberücksichtigt ließen, und andererseits am frühen Heiratsalter von elf, zwölf oder dreizehn Jahren. Gemäß der Meinung vieler Maskilim waren Juden bei einer Eheschließung häufig zu jung und litten in der Folge an sexuellen Funktionsstörungen. Da das geringe Heiratsalter ein fester Bestandteil der traditionellen Alltagskultur war, deren Gestaltung Rabbiner weithin mitbestimmten, konnten Änderungen zumeist nur gegen sie herbeigeführt werden. Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass nicht alle religiösen Autoritäten den Gesellschaftsentwürfen der jüdischen Aufklärer verständnislos gegenüberstanden und sie bekämpften. Das zeigt sich exemplarisch am bereits genannten Rabbiner Jacob Emden, der sich in seinem Kampf gegen die sog. Kinderehe die medizinischen Argumente zu eigen machte. Die große gesellschaftliche Bedeutung, die Mediziner in der nichtjüdischen Umwelt wie auch im jüdischen Milieu erlangten,
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ist vor dem Hintergrund neuer ökonomischer Grundsätze verständlich. Danach bilden die Bewohner eines Landes Produktivkräfte, deren Wohlbefinden in direktem Zusammenhang mit dem Reichtum einer Gesellschaft steht. Gewohnheiten und Lebensformen, die die Gesundheit schädigen, die Menschen somit als Arbeitskräfte ausfallen lassen und in der Folge den Wohlstand eines Landes herabsetzen, sollen eingeschränkt oder abgeschafft werden. Die Landesfürsten mussten demnach aus wirtschaftlichen Überlegungen an einer gesunden Bevölkerung interessiert sein. Sie übertrugen Ärzten die gesellschaftspolitisch wichtige Aufgabe, für deren Wohlergehen zu sorgen und dafür abträgliche Lebenspraktiken zu unterbinden. Die Kritik an religiösen Ritualen Jüdische religiöse Praktiken, vor allem die Einhaltung religiöser Vorschriften und der Vollzug religiöser Rituale, wurden von den allermeisten Nichtjuden als ein Hindernis für eine Emanzipation der Juden gesehen. Sie glaubten, dass damit eine Differenz zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung erhalten bleibe und ein gedeihliches Zusammenleben zwischen ihnen verhindert werde. In diesem Zusammenhang wurde gewöhnlich darauf hingewiesen, dass die jüdischen Speisegesetze es Juden verunmöglichten, im Hause eines Nichtjuden zu essen, oder dass die Beschneidung der (männlichen) Juden ihre Distinktion in den Körper einschreibe. Selbst ihnen wohlwollend gegenüberstehende Aufklärer, wie beispielsweise Ch. W. Dohm, sahen in einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Existenz der Juden und der Beibehaltung ihrer religiösen Zeremonien einen Widerspruch. Dieser lässt sich nach Dohm aber dadurch lösen, dass Juden ihre religiösen Praktiken aufgäben, wenn sie als vollständige Bürger anerkannt sind. Einige Maskilim meinten wiederum, dass es zuerst einer Abschaffung der religiösen Rituale bedürfe, um die jüdische Emanzipation zu realisieren. Sie vertraten damit aber eine Minderheitenmeinung unter den Juden.
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Über die angebliche Notwendigkeit, die religiösen Praktiken neu zu begründen, herrschte unter den jüdischen Aufklärern aber weitgehend Konsens. Er setzte sich vor allem im Gefolge ärztlicher Vermutungen durch, dass die Befolgung bestimmter Rituale gesundheitsgefährdend sei. Die Maskilim wollten diese Vorstellung nicht unwidersprochen lassen. Sie hätte auf längere Sicht nämlich ein Verbot der jüdischen religiösen Praxis zur Folge gehabt. Deswegen schrieben sie der Ausführung religiöser Zeremonien eine krankheitspräventive Wirkung zu. Neben ihre religiöse Deutung trat somit auch eine medizinische Interpretation, und für manche Juden ersetzte das neue, wissenschaftliche Verständnis religiöser Praktiken deren traditionelle Auslegung. Die medizinische Deutung religiöser Rituale war auch gegen die Rabbiner gerichtet. Sie sollte deren Bedeutung und Einfluss unter den Juden reduzieren und die Öffnung des Judentums für neue, säkulare Herausforderungen erleichtern. Gleichzeitig wurde damit ein neues Narrativ im kollektiven Gedächtnis konstituiert. Nach dieser Erzählung war ein Teil der jüdischen Vorschriften unter dem Aspekt ihrer gesundheitlichen Auswirkungen begründet worden. Diese Sichtweise hat sich bis in die Gegenwart erhalten und zeigt sich heutzutage beispielsweise in der verbreiteten Auffassung, dass koscheres Essen gesünder sei als konventionelle Kost. Die Tendenz zur Verwissenschaftlichung jüdischer religiöser Praktiken brachte jedenfalls ein neues Verständnis von Judentum hervor, mit dem sich ein stetig wachsender Teil der Juden identifizieren konnte. Er erlangte dadurch ein neues, ›modernes‹ jüdisches Bewusstsein, das auf Werthaltungen beruhte, die gesamtgesellschaftlich akzeptabel waren. Angesichts einer zunehmenden Ausweitung gesellschaftlicher Sphären, in denen Juden mit Nichtjuden interagierten, erleichterte dieser Umstand deren Miteinander. Zwei exemplarische jüdisch-nichtjüdische Kontaktzonen stellten das neue Schulwesen und die Salons dar. Sie waren sowohl für die intellektuelle wie für die Alltagskultur von großer Bedeutung und zeigen jüdisch-nichtjüdische Verflechtungen als auch die Grenzen solcher Begegnungen auf.
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Das neue Ausbildungswesen Die größten Hoffnungen, ihre gesellschaftlichen Ziele zu erreichen, sahen die Maskilim in einer Neugestaltung des jüdischen Ausbildungswesens. Es sollte Kindern Kenntnisse vermitteln, mit denen sie an wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen außerhalb der jüdischen religiösen Sphäre teilhaben und für die Gesamtgesellschaft nützlich sein könnten. In der traditionellen jüdischen Elementarschule, dem sog. Cheder, wurden weder didaktische oder pädagogische Leitlinien verfolgt, noch wurde nichtreligiöses Wissen vermittelt. Die weiterführenden Religionsschulen, sogenannte Jeshiwot, bereiteten die Jungen auf ein lebenslanges Studium religiöser Schriften vor, das im voremanzipatorischen Judentum als Berufsideal galt. Die neuen Anstalten berücksichtigten demgegenüber moderne pädagogische Konzepte, wie sie von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) oder Johann Bernhard Basedow (1724–1790) vorgestellt wurden, und boten neben religiösen Fächern vor allem auch säkulare Gegenstände an. Dass die Reform des traditionellen Ausbildungswesens nicht unbedingt harmonisch vor sich ging, darf nicht verwundern. Immerhin wurde mit den neuen Schulen die Saat für einen Gesellschaftsentwurf gelegt, der die Machtfülle der Rabbiner stark beschränkte. Deswegen wehrten sie sich gegen die modernen Unterrichtsstätten bisweilen sehr heftig. Die Auseinandersetzungen über die Frage, was jüdische Kinder gelehrt werden solle, lässt sich beispielhaft an Naphtali Herz Wesselys Divrei shalom ve’emet (Worte des Friedens und der Wahrheit, 1782) darstellen, wofür er exkommuniziert und mit dem Bann belegt wurde. Im Text, der ein Pamphlet von nicht mehr als acht Seiten war, fordert Wessely (1705–1790), dass Fremdsprachen, Naturwissenschaft, Geschichte und Geographie für den Unterricht jüdischer Schüler unverzichtbar sein müssten. Damit spricht er sich mit Nachdruck für eine Säkularisierung jüdischer Erziehung, Kultur und Werte aus. Das Ziel der Ausbildung ist für ihn nicht mehr der rabbinische Gelehrte (talmid chakham), sondern der Jude, der sich in der allgemeinen Gesellschaft zurechtfindet und sich mit seinen Kennt-
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nissen gegenüber zeitgenössischen Herausforderungen behaupten kann. Diese Vision war zu ihrer Zeit in einer Weise radikal, dass Wesselys Schrift in Vilna von strengreligiösen Juden verbrannt wurde, nachdem sie zuerst an einer Eisenkette im Hof der lokalen Synagoge aufgehängt worden war. Trotz der Angriffe der rabbinischen Autoritäten auf Wessely ließen sich die Maskilim von ihrem Bestreben, das jüdische Schulwesen neu zu gestalten, nicht abhalten. Die Gründung der ersten modernen Schule (Hinuch ne’arim) erfolgte 1778 in Berlin, d. h. sogar einige Jahre vor der Publikation von Wesselys Streitschrift. Da sie für mittellose Kinder eingerichtet wurde, war sie auch unter dem Namen Freischule bekannt. Als Unterrichtsfächer galten u. a. Deutsch, Französisch, Hebräisch, Rechnen und Buchhaltung. Mit dem breiten Lehrangebot sollten die Voraussetzungen für eine Erwerbsarbeit vermittelt werden. Von besonderer Bedeutung war, dass von Anfang an sowohl jüdische als auch nichtjüdische Lehrer den Unterricht gestalteten. Nichtjüdische Kinder wurden ab 1806 aufgenommen. Bisweilen stellten sie bis zu zwei Drittel der Schülerzahl. Als Motiv für die Ausweitung des Schülerzugangs galt die Stärkung der gemeinsamen Grundlagen zwischen Juden und Nichtjuden. Damit machten die Verantwortlichen der Schule deutlich, dass sie Juden als Angehörige der Gesamtgesellschaft verstanden, an deren Gestaltung sie beteiligt seien, und nicht lediglich als sich Anpassende. Die Ausbildung vor allem für den Kaufmannsberuf schien in diesen jüdischen Anstalten besser als in anderen Schulen zu sein, sodass sich viele nichtjüdische Eltern mit Nachdruck bemühten, ihre Kinder in den jüdischen Einrichtungen unterzubringen. Für die Kinder wohlhabender Juden gab es ebenfalls Kontakte zu Nichtjuden. Sie besuchten entweder jüdische Privatschulen, die auch christlichen Kindern offen standen, oder hatten Privatlehrer, die Nichtjuden sein konnten. Ein bekanntes Beispiel eines nichtjüdischen Lehrers in einem jüdischen Haushalt war Karl August Varnhagen, der spätere Ehemann von Rahel Levin, einer Tochter des Berliner Bankiers Markus Levin. Er unterrichtete die Kinder der Familie von Philippine Cohen, einer Bekannten der
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Familie Mendelssohn. Der Vater von Philippine, die als Pessel Bernhard geboren wurde, hatte Moses Mendelssohn (1729–1786) einst als Buchhalter angestellt. Eine Alternative zu den Frei- und Privatschulen stellten öffentliche Schulen dar, in die in Berlin im Jahre 1812 bereits zwei Drittel aller jüdischen Knaben gingen. Die Berliner Freischule diente als Vorbild für weitere moderne jüdische Ausbildungsinstitutionen, die in den Folgejahren in Breslau (1791), Dessau (1799), dem Geburtsort von Moses Mendelssohn, und anderen deutschen Städten eingerichtet wurden. Zusammen mit den Privatschulen, die sich ebenfalls an den neuen pädagogischen Konzepten orientierten, leitete der neue Schultypus wichtige Veränderungen in der jüdischen Lebenswelt und damit Kultur ein. Er stellte ein Ausbildungsmodell dar, dem sich trotz anfänglich strikter Ablehnung im Laufe der Zeit auch die jüdische Orthodoxie nicht verschließen konnte. Das moderne Schulwesen hatte somit auf das gesamte Judentum prägende Auswirkungen und änderte dessen Blickrichtung auf die eigene religiöse Tradition und den nichtjüdischen Gesellschaftsteil. Kulturelle Auswirkungen der Reformschule Mit den neuen Schulen wurden wichtige Kontaktzonen zwischen Juden und Nichtjuden geschaffen. Christliche und jüdische Jungen verbrachten die Schuljahre miteinander und lernten über einen längeren Zeitraum einander kennen, und die Eltern nichtjüdischer Schüler, die die jüdischen Schulen bewusst gegenüber christlichen oder öffentlichen Anstalten bevorzugten, bewerteten Judentum oder zumindest einige seiner Aspekte positiv. Jüdische Knaben wurden in den Freischulen häufig mit einer neuen Begriffs- und Vorstellungswelt vertraut, die im traditionellen jüdischen Alltag bisweilen nur in stark abgewandelter Form vorhanden war. Dazu gehörte beispielsweise die Ehre, an die zur Verhaltensregelung appelliert wurde, nachdem körperliche Züchtigung, ein Charakteristikum des Chederunterrichts, abgeschafft worden war. Ehre ist ein Attribut, das man sich erarbeiten muss und das einem durch bestimmte Leistungen zuerkannt wird. Man
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erhält sie nicht aufgrund religiöser oder kultureller Zugehörigkeit, sondern muss sich um ihren Erhalt bemühen. Mit der Betonung des Ehrbegriffs wollten die Schulverantwortlichen individuelle Verantwortung jenseits religiöser Schranken fördern. Jüdische wie auch nichtjüdische Schüler konnten auf der Basis eines gemeinsamen Regelsystems, das sie zu befolgen hatten und gemäß dessen Kriterien sie sich auszeichnen sollten, Ehre erlangen. Im neuen Schultypus lag auch ein Keim für die Wissenschaft des Judentums, die neben der Haskalah die zweite große Strömung zur Modernisierung des Judentums bildete. Zwei ihrer bedeutendsten Repräsentanten, Leopold Zunz und Isaac Markus Jost (1793–1860), besuchten beispielsweise die Samsonsche Freischule in Wolfenbüttel. Dort wurden sie einerseits im Talmud unterrichtet, gleichzeitig aber auch mit den Grundlagen der allgemeinen europäischen Kultur vertraut. Für Zunz tat sich dadurch besonders deutlich der Unterschied zwischen einem jüdisch-traditionellen und einem reformierten jüdischen Schulalltag auf: Aufgewachsen in Armut in einem jüdischen Waisenhaus war es ihm vor dem Unterricht in der Freischule verboten gewesen, Deutsch zu lesen. Seine geistige Ausbildung hatte sich auf die Vermittlung des Talmud beschränkt. In der Samsonschen Freischule wurde für die beiden Schüler die Grundlage für ihr späteres Wirken gelegt, das Judentum und nichtjüdische Kultur weitestgehend annähern wollte, ohne Ersteres aufzugeben. Das neue Ausbildungswesen förderte zudem die religiöse Reform. Im Zuge der Neugestaltung des Religionsunterrichtes wurden manchmal deutschsprachige Gebete und Predigten eingeführt und auch religiöse Lieder auf Deutsch gesungen. Das Orgelspiel, einer der Hauptbestandteile der religiösen Reform, gab es erstmals an der Jacobson-Schule in Seesen. Als die dortige Synagoge 1810, neun Jahre nach der Gründung der Ausbildungsanstalt, mit einer Orgelausstattung eingeweiht wurde, waren christliche Würdenträger, der Bürgermeister und Beamte zugegen. Der Vorgang zeigt, dass im frühen 19. Jahrhundert gegenseitiger Respekt von Juden und Nichtjuden und die Zuversicht auf ein enges Miteinander bisweilen stark ausgeprägt waren. In Ham-
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burg wurde die Freischule mit dem erklärten Ziel eingerichtet, die religiöse Reform voranzutreiben, und aus ihr ging im Jahr 1818 der Hamburger Tempel hervor, der die orthodoxe Judenschaft nachhaltig irritieren sollte. An diesen ausgesuchten Beispielen wird deutlich, dass die Bestrebungen der Maskilim, Judentum zu modernisieren, in der ureigensten Machtsphäre der Rabbiner, dem religiösen Bereich, fruchteten. Und nicht zuletzt wurde durch die Reformschulen die Sprachkompetenz vor allem in Deutsch gefördert, die eine wesentliche Voraussetzung für den Ausbau und die Aufrechterhaltung der Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden bildete. Mit der Kenntnis der deutschen Sprache öffnete sich Juden eine neue kulturelle Welt, und sie erhielten Zugang zu einer reichhaltigen Literatur. Diese Entwicklung erleichterte die Abkehr von der religiös geprägten jüdischen Sphäre, in der die Lektüre profaner Schriften nicht geduldet wurde. Gleichzeitig wurde auch der Individualismus gestärkt. Deutschsprachige Literatur musste häufig allein und im Geheimen rezipiert werden. Das solitäre Lesen im Verborgenen stellte eine Alternative zum gemeinsamen Lernen im Beit Hamidrash dar. Die Stärkung des Individualismus war ein zentrales Merkmal der jüdischen wie auch nichtjüdischen Aufklärung. Die Auswirkungen waren auf die jüdische Gemeinschaft wahrscheinlich weitreichender als auf die nichtjüdische Gesellschaft. Zumindest aus dem Fehlen der Autobiographie, die als literarische Gattung im Judentum bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert unbekannt war, lässt sich schließen, dass Selbstreflexion und Subjektivität im jüdischen Lebenskosmos einen geringeren Stellenwert als in der nichtjüdischen Umwelt besaßen. Es gab unter den Juden zwar immer wieder lebensgeschichtliche Hinweise und Anmerkungen, aber als eigenes Genre vermochte sich die Autobiographie lange Zeit nicht durchzusetzen. Die erste Lebensgeschichte stammt von Solomon Maimon (1751–1800), einem jüdischen Universalgelehrten aus dem Großfürstentum Litauen. Geboren als Shlomo ben Josua, nahm er aus Reverenz für Moses Maimonides den Namen Maimon an. Bereits im Alter von elf Jahren erlangte er als ›Talmudwunderknabe‹ große Bekanntheit. Bald darauf
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brachte er sich selbstständig die deutsche Sprache bei, was ihm die Lektüre einer umfangreichen säkularen Literatur ermöglichte. Getrieben von einem enormen Wissensdurst zog er als junger Mann gegen Westen und machte sich in Deutschland einen Namen als Aufklärungsphilosoph. Ihm gelang eine Verbindung zwischen der Philosophie des Mittelalters mit jener der Gegenwart. Sein Hauptwerk war ein Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Letzterer zeigte sich von dem Werk stark beeindruckt. Acht Jahre vor seinem Tod im Jahre 1800 veröffentlichte Maimon in Berlin schließlich auch seine Autobiographie. Die Rezeption deutschsprachiger Texte machte mit neuen Lebensentwürfen vertraut, für die es im traditionellen jüdischen Milieu keinen Platz gab. Dazu gehörte die bereits angeschnittene Liebesheirat. Im jüdischen Alltag wurden, wie bereits erwähnt, Eheschließungen vermittelt, und auf die Wünsche des Bräutigams oder der Braut wurde wenig Rücksicht genommen. Im frühen 19. Jahrhundert verweigerte sich aber eine zunehmende Zahl junger Juden und Jüdinnen arrangierten Eheschließungen und wollte amouröse Gefühle nicht länger unterdrücken müssen. Diese ›modernen‹ Juden, die immer noch eine kleine Minderheit in der Judenschaft ausmachten, ließen sich nicht zuletzt durch literarisch vermittelte Beispiele zu ihrer traditionsdevianten Haltung inspirieren, beispielsweise durch Goethes Die Leiden des jungen Werther. Der wohl wichtigste jüdische Aufklärer und weithin geachtete Philosoph Moses Mendelssohn verstieß schon recht früh gegen den traditionellen Verhaltenskanon in Eheangelegenheiten, indem er seiner zukünftigen Frau Briefe schrieb, die nicht in der dafür vorgesehenen Form abgefasst waren und Gefühle artikulierten. Das hinderte ihn aber nicht, dass er Goethes ›Werther‹ erbost aus dem Fenster warf, als er das Buch bei einer Schülerin von ihm entdeckte. Sie hatte es von ihrem (nichtjüdischen) Freund als Geschenk erhalten. Dass dann eine von Mendelssohns Töchtern ihr Liebesglück ausleben wollte und dafür auch eine Scheidung in Kauf nahm, zeigt, wie schnell sich Lebensauffassungen wandeln konnten und wie wenig Einfluss religiöses Judentum auf einzelne Personen bisweilen hatte.
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Die skizzierten Folgen des neuen Schultypus machten ihn zu mehr als einer alternativen Einrichtung zum traditionellen Ausbildungssystem. Er bildete die Grundlage für eine Umgestaltung des jüdischen Alltagslebens wie auch der -kultur und intensivierte die Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden. Zur gleichen Zeit, als die Freischulen eingerichtet wurden und vor allem für mittellose Juden ein Tor zum Verlassen der traditionellen jüdischen Lebenswelt aufstießen, schufen zumeist sehr reiche Juden andere Formen von Begegnungsorten mit Nichtjuden. Dabei handelte es sich um die sog. Salons. Während die Freischulen von jüdischen Aufklärern organisiert wurden, die Judentum zwar umgestalten, aber nicht ablegen wollten, stellten die Salons häufig Stätten dar, die bei nicht wenigen Juden und Jüdinnen, die dort verkehrten, die Konversion förderten. Und während die Freischulen die Grundlagen für innerjüdische Reformen schufen und somit die alltagskulturellen Praktiken der Juden veränderten, waren die Salons Milieus, die oftmals die Grundlage für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Hochkultur bildeten. Jüdische Salons Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, nahmen die Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stark zu. Zuvor waren es größtenteils einzelne Hofjuden, die vielgestaltige Kontakte zu Nichtjuden hatten. Sie standen in einem besonderen Naheverhältnis zu einem Landesfürsten, dessen Vermögen sie verwalteten. Hofjuden genossen dadurch besondere Privilegien und gelangten zu großem Reichtum. Sie bildeten in gewissem Sinne die Vorläufer jener Juden, die im 18. und 19. Jahrhundert mit ihren Banken und später auch industriellen Unternehmungen zu Wohlstand gelangten. Diese gehörten zur ökonomischen Elite der einzelnen Staaten, in denen sie lebten, und unterstützten mit ihren finanziellen Mitteln häufig die Maskilim. Aber anders als die Aufklärer waren sie oftmals nur wenig an der jüdischen Religion oder am Judentum als Gemeinschaft interessiert. Sie öffneten sich bisweilen
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vorbehaltlos der nichtjüdischen Welt und setzten zum Zwecke ihrer gesellschaftlichen Integration auch die Konversion ein. Viele Ziele, für die die Maskilim eintraten, hatte die jüdische ökonomische Elite bereits realisiert. Ihre Vertreter genossen Privatunterricht oftmals unter Anleitung bekannter nichtjüdischer Gelehrter, sie waren vielsprachig, belesen und mit der zeitgenössischen Hochkultur vertraut. Vor allem waren sie am Ausbau der Kontakte zu Nichtjuden interessiert. Mit Hilfe ihres Reichtums institutionalisierten sie Begegnungsorte in ihren Häusern, die Salons. Zu den Gästen zählten renommierte Künstler und Intellektuelle sowie gesellschaftlich und politisch einflussreiche Personen, die musikalisch oder literarisch unterhalten wurden und kommunikativen Austausch über neueste wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen pflegten. Unter den Geladenen befanden sich sowohl Juden wie auch Nichtjuden. Salons stellten somit Treffpunkte dar, wo Religionszugehörigkeit keine Rolle spielen sollte. In den Salons setzte sich der Trend zur Öffnung der jüdischen Privatsphäre für die Öffentlichkeit, wie er sich an den Synagogen bereits gezeigt hatte, fort. Auch wenn nicht jeder Nichtjude Eingang fand, so war die Salongesellschaft doch breiteren Gesellschaftskreisen bekannt. Einer der ersten und wichtigsten Einrichtungen war der sog. Doppelsalon der Familie Herz in Berlin. Während Henriette Herz und ihre Gäste in einem Teil des Hauses über neueste Literatur sprachen, gab Marcus Herz in einem anderen Zimmer Vorlesungen über Entwicklungen in den Naturwissenschaften. Wichtig war auch der Salon von Rahel Levin, wo viele Intellektuelle der damaligen Zeit verkehrten. Zwar gab es auch Nichtjüdinnen als Gastgeberinnen, aber zumindest bis zum frühen 19. Jahrhundert war die Salonkultur eindeutig von Jüdinnen dominiert. Das heißt nicht, dass sie jüdische Einrichtungen waren. Sie waren moderne Institutionen, die Geselligkeit und intellektuellen Austausch jenseits gesellschaftlicher und religiöser Schranken ermöglichten. Ähnlich der Berliner Freischule, über die 1784 ein preußischer Minister meinte, dass deren etwaige Schließung einen öffentlichen Verlust darstellte, prägte der Salon die gesamtgesellschaftliche Kultur und wurde auch au-
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ßerhalb des engen jüdischen Kosmos als wichtige Institution gesehen. Zusammen mit der modernen jüdischen Schule belegt er, dass Juden sich nicht nur an nichtjüdische kulturelle Praktiken anpassten, um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen, sondern dass sie diese mitprägten. Wenn in Bezug auf die Salons von Nachahmung gesprochen werden kann, so wurden sie eher von Nichtjüdinnen kopiert, wie es beispielsweise bei der Einrichtung eines Salons der preußischen Königin Louise der Fall war. Die Salons waren Orte, wo Juden und Nichtjuden sich trafen und austauschten, soziale und amouröse Banden geknüpft und Eheschließungen vorbereitet wurden. Heiraten von (konvertiereten) Juden und Nichtjuden waren in den gehobenen Berliner Kreisen keine Seltenheit mehr, und erotische Beziehungen kamen immer wieder vor. Sie weisen auf verstärkte Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden hin, die sie neben den Salons auch im Theater, in der Oper oder bei Aufenthalten in Ortschaften, die für ihre Bäder berühmt waren, machten. Bekannt ist die mehrere Jahre dauernde Liebesaffaire zwischen Rahel Levin mit dem Nichtjuden Karl von Finckenstein oder die schwärmerische Zuneigung von Dorothea Veit zu Eduard d’Alton, einem österreichischen ›Lebenskünstler‹. Die engen Kontakte von Juden und Nichtjuden in den Salons führten auch zur Einrichtung neuer gesellschaftlicher Sphären, die jenseits der traditionellen Welt lagen und die zeitgenössische Entwicklung reflektierten. Dazu gehörte beispielsweise der Tugendbund, eine romantische Geheimgesellschaft, die 1794 u. a. von Henriette Herz, Dorothea Veit und den Brüdern Humboldt ins Leben gerufen wurde. Der Tugendbund kultivierte vor allem freundschaftliche Liebe und ›seelische Hingabe‹. Dorothea Veit, die Tochter von Moses Mendelssohn, und Henriette Herz, die wie Dorothea konvertierte, waren auch Teil einer Gruppe, die Friedrich Schleiermacher (1768–1834) in seinem Berliner Domizil an einem späten Novembertag im Jahre 1897 überraschte und ihn zu seinem Geburtstag gratulierte. Schleiermacher durchlebte gerade eine Schaffenskrise und wurde von seinen Besuchern ermuntert, seine Reflexionen über Religion in Buchform
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niederzulegen. In den darauffolgenden Monaten unterhielt er sich intensiv mit Henriette Herz über religiöse Fragen und publizierte bald darauf seine Reden über die Religion (1798). Es ist müßig zu spekulieren, ob sein Buch auch ohne die Bekanntschaft mit Henriette Herz veröffentlicht oder wie es ohne die Gespräche mit ihr verfasst worden wäre. Auf jeden Fall förderten Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden die Hervorbringung von Werken, die die deutsche Kultur wesentlich prägten. Die Adressaten von Schleiermachers ›Reden‹, ein für die deutsche Nationalbewegung ausgesprochen wichtiges Werk, waren jene Gegner der Religion, die er unter den Gebildeten in den Salons und zeitgenössischen Diskussionszirkeln vermutete bzw. selbst in den Salons von Henriette Herz, Rahel Levin oder in Dorothea Veits Wohnung kennen gelernt hatte. Seine Schrift war somit ein Angriff auf die intellektuellen Kreise, die wegen ihrer Indifferenz gegenüber dem Religiösen die kulturellen Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden nicht länger beachteten. Trotz seiner Bekanntschaften und Nähe zu Juden und Jüdinnen äußert sich Schleiermacher auch wenig schmeichelhaft über das Judentum, das er zu einer toten Religion erklärt. Gaben seine Reflexionen über die jüdische Religion antisemitischen Ressentiments Auftrieb, so war die von ihm vollzogene Synthese von protestantischen Werten und deutschem Nationalismus von noch größerer und vor allem nachhaltigerer Wirkung auf das jüdisch-nichtjüdische Verhältnis und sollte die gesellschaftliche Akzeptanz von Juden beträchtlich erschweren. Diese Folgen seiner Schrift wurden zum Zeitpunkt ihrer Publikation wahrscheinlich nur von den Wenigsten in ihrer Tragweite erkannt und konnten von zeitgenössischen Juden, die sich mit der sog. deutschen Kultur identifizierten und sich als Deutsche fühlten, kaum vorhergesehen werden. Ähnliches zeigt sich auch an den Vorlesungen von Johann Gottlieb Fichte, die er im frühen 19. Jahrhundert in Berlin unter dem Titel Reden an die deutsche Nation hielt. Unter den Zuhörern saßen u. a. Rahel Levin und ihr Bruder. Rahel war von Fichtes Ausführungen in einer Weise begeistert, dass sie zu einer über-
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zeugten preußischen Nationalistin wurde, obwohl Fichte schon Jahre zuvor gegen die Verleihung der Gleichberichtigung an Juden angeschrieben hatte. Das hinderte ihn auch nicht, sich zusammen mit Schlegel und Schleiermacher als tägliche Kostgänger bei Dorothea Veit in Berlin einzufinden. Die Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden waren unter einem Teil der zeitgenössischen intellektuellen und ökonomischen Elite jedenfalls sehr eng, auch wenn Achtung und Respekt gegenüber Juden häufig nur simuliert waren. Einen gleichwohl wichtigen Impakt auf die deutsche Kultur hatten einige Juden und Jüdinnen auf die deutsche Romantik. Ihr Höhepunkt wird in einer Hinterhauswohnung in Dresden lokalisiert, wo die Gebrüder Schlegel mit ihren Frauen, d. h. im konkreten Fall auch mit Dorothea, nachdem sie sich von Simon Veit scheiden hatte lassen, wohnten. Als eine kulturelle Epoche kann sie aber nicht an einzelnen Personen festgemacht werden. Juden waren auf jeden Fall Teil des sozialen und intellektuellen Umfeldes der Romantiker und waren für die Dynamik des zeitgenössischen kulturellen Lebens mitverantwortlich. Die deutsche Romantik hätte sich ohne Juden wohl anders entwickelt. Die Hep! Hep!-Unruhen und ihre Folgen Sowohl das moderne jüdische Schulsystem wie auch die jüdischen Salons bildeten Kontaktzonen, die im preußischen Emanzipationsgesetz von 1812 einen vorläufigen legistischen Niederschlag fanden. Im Laufe der Befreiungskriege gegen Napoleon und in den darauffolgenden Jahren verloren sie jedoch recht rasch an Bedeutung. 1819 wurde in Preußen verfügt, dass christliche Schüler keine jüdischen Schulen mehr aufsuchen dürften. Und die jüdischen Salons verloren ebenfalls an Einfluss. Sie wurden einerseits durch christliche Salons ersetzt oder durch andere Formen der Begegnung und des intellektuellen Austausches abgelöst, wozu Cafés, Museen und Theater zählten. Gleichzeitig machte sich im Rahmen des erwachenden deutschen Nationalismus eine antijüdische Stimmung breit, die viele frühere Gäste jüdischer Salons mitriss,
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wie beispielsweise die Gebrüder von Arnim. Jüdische Salons wurden zunehmend zu Institutionen, gegenüber denen sich nichtjüdische deutsche Einrichtungen absetzen und profilieren wollten. Dazu gehörte die 1811 gegründete Christlich-Deutsche Tischgesellschaft, die nicht nur engen Patriotismus betonte und dabei Juden als Mitglieder ausschloss, sondern auch als Zurückweisung der weiblich-jüdischen Salonkultur verstanden werden konnte. Zu den Mitgliedern zählten neben Fichte und Schleiermacher, also Männern, die einige Jahre davor in engem Kontakt mit Juden gestanden waren, auch Achim von Arnim, der seine Zeitung Berliner Abendblätter bei Julius Eduard Hitzig, einem Enkel des ob seines Reichtums berühmten Berliner jüdischen Bankiers Daniel Itzig, drucken ließ. Das hielt ihn aber nicht davon ab, sich über den angeblichen Körpergeruch der Juden, deren vermeintlichen Erbkrankheiten und andere körperliche Eigenheiten auszulassen. Solcherart Äußerungen gingen zumeist mit einem Bekenntnis zu einem deutschen Patriotismus einher. Juden, so wurde deutlich, schienen nicht mehr in die deutsche Kultur zu passen, ein Bekenntnis zu ihr wurde mit einem Jüdischsein für unvereinbar gehalten. Diejenigen, die so dachten, befanden sich nicht am Rande der Gesellschaft, sondern waren die ›Dichter und Denker‹ Deutschlands. Selbst Goethe diskreditierte die Befürworter einer Emanzipation der Juden als »Humanitätssalbadern«. Es sollte nicht lange dauern, bis die antijüdischen Ressentiments in Gewalthandlungen mündeten und unter den Juden die Zuversicht auf eine baldige gesellschaftliche Anerkennung weiter dämpften. Im Sommer 1819 begannen in Würzburg Ausschreitungen gegen Juden, die sich bald über viele andere Städte Deutschlands fortsetzten. Karlsruhe, Mannheim, Frankfurt, Köln, Bremen und Hamburg waren nur einige der Orte, wo der Ruf »Hep! Hep! Jude verreck!« ertönte und Angriffe gegen Juden begleitete. Wahrscheinlich von gebildeten Leuten initiiert, von einfachen Menschen aber ausgeführt, mussten Juden wie früher im Mittelalter flüchten. Zwar waren nicht alle Juden von den judenfeindlichen Ausschreitungen und Drohungen gleichermaßen betroffen, und vor allem viele der gesellschaftlich eng mit Nichtjuden vernetzten und
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sich mit der dominanten Kultur identifizierenden Juden nahmen sogar nur sehr wenig Notiz davon. Die jüdische Zeitschrift Sulamith, ein Medium der Aufklärung, das in deutscher Sprache erschien, erwähnte beispielsweise die antijüdischen Ereignisse mit keinem einzigen Wort. Aber für den überwiegenden Teil der Juden erwiesen sie sich doch als eine ernüchternde Erfahrung, vor allem für viele zum Christentum konvertierte Juden, die einst gemeint hatten, mit dem Glaubensübertritt ihre ›Andersheit‹ ablegen zu können. Sie mussten in der Folge ihre Zuversicht gründlich revidieren. Zu diesen Juden zählte Ludwig Börne (1786–1837), der im Frankfurter Ghetto als Juda Löb Baruch geboren wurde und dort auch aufwuchs. Er besuchte in Halle und Berlin jüdische Freischulen und wurde dadurch mit den zeitgenössischen geistigen Strömungen vertraut. Schon bald gehörte er zu den Gästen des Salons von Henriette Herz, was als ein Indikator für seine umfassende Bildung und Offenheit gegenüber Interaktionen mit Nichtjuden gewertet werden kann. Und es dauerte nicht lange, bis er sich taufen ließ, was im Jahr 1813 geschah. Die antijüdischen Ausschreitungen, von denen seine Geburtsstadt heimgesucht wurde, waren für ihn eine große Enttäuschung, die in der Folge auch die Bedeutung seiner Konversion relativierte. Er bezeichnete es nunmehr als Glück, Jude zu sein, weil er dadurch die negativen Eigenschaften der Deutschen nicht annehmen müsse. Börne repräsentierte in diesem Fall jene Juden, bei denen die Hep! Hep!-Unruhen einen Bewusstseinswandel hervorriefen, der sie ihr Judentum neu betrachten ließ. Börne ist auch insofern interessant, weil er, bisweilen zusammen mit Heinrich Heine, einen neuen Typus des engagierten jüdischen Intellektuellen darstellte, der sich für allgemeine politische Ziele und Werte einsetzte. Die bisher erwähnten jüdischen Intellektuellen der Haskalah hatten hauptsächlich jüdische Agenden im Sinn gehabt, sich mit Judentum auseinander gesetzt und versucht, dieses zu ändern. Nunmehr traten vermehrt Juden auf, die sich in einer Art Zwischenraum befanden, der allgemeinen Gesellschaft als vollständig akzeptierte Mitglieder angehören woll-
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ten und dafür sogar die Taufe in Kauf nahmen, aber aufgrund der verbreiteten Abneigung gegen Juden darin doch nicht aufgehen konnten. Von vielen Berufen aufgrund ihres Judeseins, auch trotz Konversion, ausgeschlossen, wandten sie sich einem Berufsfeld zu, in dem sie ihr politisches Engagement mit ihren schriftstellerischen Fähigkeiten vereinen konnten, und das war das Zeitungswesen. Zeitungen übernahmen bisweilen die Funktion der Salons früherer Jahre und dienten Juden und Nichtjuden als Kontaktzonen. Börne selbst gründete die Zeitschrift Die Waage, die als eines der geistig anspruchsvollsten Medien galt. Die Hep! Hep!-Unruhen waren auch die Initialzündung für eine neue Bewegung im Judentum, die jüdisches Geistesleben und das Verständnis von Judentum revolutionieren wollte. Dabei handelte es sich um die Wissenschaft des Judentums, deren Beginn unter dem unmittelbaren Eindruck der Unruhen von 1819 anzusetzen ist. Die Wissenschaft des Judentums Der Antijudaismus flammte vor allem in jenen Gebieten auf, wo Juden während der napoleonischen Besatzung neue Rechte verliehen worden waren. Er machte deutlich, dass viele nichtjüdische Deutsche sich mit dem Gedanken, Juden Gleichberechtigung zu gewähren, nicht anfreunden konnten. Aber nur wenige Juden und Jüdinnen sahen in den Ausschreitungen eine tiefergehende Feindseligkeit gegen Juden als Kollektiv, wie dies in scharfsichtiger Weise Rahel Varnhagen tat. Viele Juden, die sich bisher mit den Forderungen und Erwartungen der Haskalah identifiziert hatten, suchten nunmehr neue Mittel und Wege zur Verwirklichung der jüdischen Emanzipation. Als die vielleicht wichtigste Einrichtung, die zu diesem Zweck ins Leben gerufen wurde, galt die Wissenschaft des Judentums, d. h. ein modernes, kritisches Studium von Judentum. Unter dem Einfluss der antijüdischen Vorkommnisse kamen Anfang November 1819 in Berlin einige zumeist junge Männer
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zusammen, um ein Programm zu entwerfen, mit dem die Gleichberechtigung der Juden gefördert werden könnte. Der Name der Gruppe, der erst knapp zwei Jahre später gefunden wurde, lautete Der Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. Zu seinen Mitgliedern gehörten u. a. Heinrich Heine, Leopold Zunz und Eduard Gans. Die Organisation sollte bloß einige Jahre Bestand haben. In dieser kurzen Zeit gelang es ihr jedoch, ein modernes, vermeintlich säkulares Konzept von Judentum vorzulegen, das erlaubte, dieses nicht mehr nur religiös zu definieren. Das neue Verständnis von Judentum sollte Juden erleichtern, vollständige Akzeptanz von der nichtjüdischen Gesellschaft zu erhalten. Was auf den ersten Blick wie eine Weiterführung des Projektes der Haskalah aussieht, unterschied sich von dieser in einigen wichtigen Belangen. Den Maskilim ging es darum, den Einfluss der jüdischen Strenggläubigkeit zurückzudrängen und Juden den Zugang zu säkularem Wissen zu ebnen, wodurch ›Abnormalitäten‹ der Juden als Kollektiv behoben und deren Gleichberechtigung durchgesetzt werden sollten. Ein Weniger an jüdischer Tradition, so wurde angenommen, fördere deren gesellschaftliche Anerkennung. Demgegenüber suchte die Wissenschaft des Judentums nach einer Alternative zur religiösen Bestimmung von Judentum. Ihre Repräsentanten bemühten sich nicht lediglich, Judentum für zeitgenössische säkulare Strömungen und wissenschaftliche Entwicklungen zu öffnen, sondern es in nichtreligiösen Kategorien neu zu fassen. Zu diesem Zweck griffen sie vor allem auf die Geschichte zurück. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit sollte die Beschäftigung mit religiösen Gesetzen wenn schon nicht ersetzen, so doch deutlich erweitern, und der Historiker wurde dem Rabbiner als geachtete Autorität an die Seite gestellt. Die Einführung einer historischen Perspektive auf das Judentum hatte weitreichende Auswirkungen. Sie relativierte bis zu einem bestimmten Maße die Gültigkeit religiöser Vorschriften und Gesetze. Die Berücksichtigung ihres geschichtlichen Entstehungskontextes erlaubte es, die Angemessenheit ihrer Befolgung in der Gegenwart zu hinterfragen. Herausragende Beispiele für religiöse Riten und Gebote, deren zeitgenössische Relevanz unter
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einem geschichtlichen Gesichtspunkt in Zweifel gezogen wurde, stellten die frühe Beerdigung und der Ritus der Beschneidung dar. Trotz der Unterschiede zwischen der jüdischen Aufklärung und der Wissenschaft des Judentums ist es nicht angebracht, klare Grenzen zwischen ihnen zu ziehen. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass Zunz ein Schüler der Freischule in Wolfenbüttel war und Gans sowie Heine als Gäste in jüdischen Salons verkehrten. Beide Einrichtungen hätte es ohne die (jüdische) Aufklärung wahrscheinlich nicht bzw. nur in stark abgewandelter Form gegeben. Zunz, Heine und Gans, und im Weiteren auch die Wissenschaft, profitierten somit von der Haskalah. Gleichwohl gab es zwischen ihnen und den Maskilim auch Unterschiede. Im Gegensatz zu den Aufklärern waren die Vertreter der Wissenschaft des Judentums zumeist nicht mehr autodidakt, sondern besuchten Universitäten. Dadurch kamen sie verstärkt mit zeitgenössischen intellektuellen Strömungen, so auch mit dem Historismus, in Kontakt und konnten von diesem Wissen Gebrauch machen, um Judentum neu zu bestimmen. Die Aktivitäten der Wissenschaft des Judentums waren nicht nur nach innen, im Sinne einer Neukonzeption von Judentum, gerichtet, sondern auch nach außen, gegen das unter Nichtjuden vorherrschende Verständnis von Judentum. Dazu gehörte vor allem die von protestantischen Altertums- und Bibelwissenschaftlern vorgenommene Umschreibung von Judentum, die eine Reihe antijüdischer Implikationen besaß. Die Kritik daran kommt exemplarisch in dem von Abraham Geiger (1810–1874) publizierten Werk Das Judentum und seine Geschichte (1863) zum Ausdruck. Nach Geiger, und entgegen der vorherrschenden Ansicht bzw. auch dem Narrativ im Neuen Testament, war Jesus ein Pharisäer, der in seinen Äußerungen nicht über die Gedankenwelt seiner Zeit hinausging. Die ersten jüdischen Christen waren die Sadduzäer, die eine pharisäerfeindliche Polemik ventilierten. Die frühen Christen orientierten sich somit nicht an der Lehre Jesu. Die eigentliche Entstehung des Christentums kann mit Paulus angesetzt werden, der den Monotheismus des Judentums mit heidnischen, polytheistischen Anschauungen vermengt hat.
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Wie erwartet werden konnte, reagierten christliche Theologen mit heftigen Angriffen auf Geigers Werk und ihn persönlich. Damit war eine nicht nur von sachlichen Argumenten getragene Kontroverse eröffnet. Aber im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahrhunderten hatten die nichtjüdischen Gelehrten keine Möglichkeit mehr, eine verbindliche Auslegung über die Entstehung des Christentums vorzulegen. Die Forschungen von Geiger wie auch seiner Kollegen im Rahmen der Wissenschaft des Judentums trugen zu Erkenntnissen bei, die nicht einfach ignoriert werden konnten. Stattdessen wurden sie zu Gegenständen eines Disputes, in dessen Rahmen auf die Argumente der jeweiligen Gegenseite eingegangen wurde. Die Arbeiten der Wissenschaft des Judentums trugen damit wesentlich zu einer selbstsicheren, gefestigten Stellung des Judentums bei. Juden wurden in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen als Streitpartner ernst genommen. Judentum konnte nicht mehr allein von christlichen Bibelforschern bestimmt werden. Einige Auswirkungen der Wissenschaft des Judentums Ein zentrales Merkmal der Wissenschaft des Judentums war deren Beschäftigung mit der Vergangenheit des sephardischen Judentums auf der Iberischen Halbinsel. Ähnlich wie die Haskalah, so distanzierten sich auch die meisten Vertreter der Wissenschaft des Judentums vom traditionellen, voremanzipatorischen aschkenasischen Judentum. Für sie gab es im Großen und Ganzen zwei Perioden in der jüdischen Geschichte, denen sie Wertschätzung entgegenbrachten. Die erste war die biblische Zeit, die noch frei war von den angeblichen Engführungen und Verzerrungen von Judentum durch den Talmud. Und die andere Phase war die der islamischen Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel, unter der die sephardischen Juden ihre Hochblüte erlebten. Das weitgehend friktionsfreie Zusammenleben mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und die philosophisch-wissenschaftlichen Leistungen der sephardischen Juden galten den Vertretern der Wissenschaft des Judentums als Vorbild für eine Existenz in den deutschen Län-
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dern im 19. Jahrhundert. Die Wiedereroberung der Iberischen Halbinsel von den Moslems und die darauffolgende Herrschaft der katholischen Kirche in Spanien, die Vertreibung der Juden sowie die Einsetzung der Inquisition wurden sodann als Ursache für die Hochblüte des Rabbinismus in Polen im 16. Jahrhundert gesehen, der für das aschkenasische Judentum eine ›dunkle Epoche‹ eingeleitet habe. Erst die Haskalah habe wieder an den Rationalismus des sephardischen Judentums, der beispielhaft vom Arzt, Philosophen und Gelehrten Maimonides repräsentiert wurde, angeschlossen. Die Wissenschaft des Judentums wollte diesen Kurs weiterführen und ausbauen. Die Hinwendung zum sephardischen Judentum der Iberischen Halbinsel bewirkte bzw. erleichterte die Abwertung der osteuropäischen Juden sowie die Ablehnung des vormodernen, traditionellen aschkenasischen Judentums. Die Maskilim und die Vertreter der Wissenschaft des Judentums identifizierten sich mit der kulturellen Offenheit, dem wissenschaftlichen Interesse und der Wertschätzung des Ästhetischen bei den Sepharden, denen sie die angebliche geistige Enge, gesellschaftliche Abgeschlossenheit und religiöse Verstocktheit des aschkenasischen Judentums gegenüberstellten. Es sollte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dauern, bis das Ostjudentum von den ›aufgeklärten‹ Juden Zentraleuropas ›neu entdeckt‹ und ihm dann auch Wertschätzung entgegengebracht wurde. Mit dem traditionellen Judentum der voremanzipatorischen Zeit ging es rascher. Dessen Aufwertung begann bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert, wobei vor allem die Malerei, etwas später auch die Literatur, dazu beitrugen. Auf liturgischem Gebiet, wo einige deutsche Synagogen die sephardische Betonung des Hebräischen übernahmen, und in der Synagogenarchitektur, in der sich der maurisch-orientalische Stil durchsetzte, hinterließ das Interesse an der sephardischen Kultur des Mittelalters ebenso Spuren. Die prächtigen Synagogen, die im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts erbaut wurden, sei es der Seitenstettentempel in Wien oder die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin, stellen ein beredtes Zeugnis von dieser Entwicklung dar. Sie geben Auskunft über das Selbstbe-
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wusstsein der Juden und zeigen, dass sie sich in den öffentlichen Raum einschrieben. Die Neue Synagoge in Berlin bestach zu ihrer Zeit durch ihre monumentale Form. Sie war, als sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts fertiggestellt wurde, die größte Synagoge der Welt und fasste 2.000 Besucher. Zu ihrer Einweihung kamen viele öffentliche Würdenträger, und auch der preußische Ministerpräsident, Otto von Bismarck, war zugegen. Medaillen, die zu diesem Anlass geprägt wurden, Reproduktionen von Gemälden, die dieses Ereignis festhielten, und andere Memorabilia sorgten dafür, dass es zu einem Teil des deutsch-jüdischen kulturellen Gedächtnisses wurde.
Juden in der Kultur des 19. Jahrhunderts Bildende Kunst ist neben der Musik ein weiteres Gebiet, an dem die gesellschaftliche Situation der Juden im 19. Jahrhundert abgelesen werden kann. Vor allem die Malerei zeigte einerseits die Bemühungen der Juden um soziale Anerkennung, und andererseits die Schwierigkeiten, mit denen sie in Verfolgung dieses Zieles konfrontiert waren. Die Suche nach Respekt von ihren Mitmenschen und die letztendliche Enttäuschung darüber, dass er ihnen häufig verweigert wurde, lässt sich an zwei Porträts, die einen Großteil des 19. Jahrhunderts umspannen, festmachen. Das erste Werk stellt ein Selbstbildnis von Moritz Oppenheim aus dem Jahr 1822 dar, und beim zweiten handelt es sich um eine Darstellung von Walter Rathenau, späterer Reichsaußenminister und Sohn des deutsch-jüdischen Industriellen und AEG-Gründers Emil Rathenau. Es wurde von Lesser Ury (1861–1931) angefertigt. Beide Bilder lassen sich mit der Forderung der Haskalah wie auch der Wissenschaft des Judentums, jüdische Tradition zu modernisieren, ohne sich von ihr loszusagen, in Verbindung bringen. Dieses Ziel wurde von den meisten aufgeklärten Juden so lange für realisierbar gehalten, wie sie hoffen konnten, dass die Gesellschaft verstärkt nach universellen Standards ausgerichtet sei. Gleichzeitig jüdisch und deutsch zu sein schien allerdings im Gefolge der Romantik, als Gemeinschaft zunehmend nach nationalen Kriterien definiert wurde, problematisch zu sein. Die Merkmale des Deutschen wurden als weitgehend exklusiv betrachtet und mit dem Französischen, Englischen, aber auch Jüdischen für unvereinbar gehalten. Juden, so wurde behauptet, seien in Deutschland Fremde, die keinen ›organischen‹ Bezug zur Landessprache hätten und dadurch auch die deutsche Kultur nicht begriffen. Sie seien und blieben, wie Gottfried Herder es ausdrückte, ein »asiatisches Volk«. In diesem Kontext orientierten sich viele Juden an ein (fälschlicherweise) Moses Mendelssohn zugeschriebenes Diktum, wonach seine Glaubensgenossen im Inneren jüdisch und nach außen durch nichts unterscheidbare
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Menschen sein sollten, sich somit ihr Jüdischsein nicht anmerken lassen dürften. Es sollte kein Hindernis im Umgang mit Nichtjuden darstellen. Oppenheims Selbstporträt, das den Maler in makellosem Aussehen zeigt, ohne den geringsten Hinweis auf sein Jüdischsein zu vermitteln, bildet ein illustratives Beispiel für die Realisierung dieser Verhaltensvorgabe. Nichts deutet auf eine (ethnische/religiöse) Differenz zwischen ihm als Juden und einem nichtjüdischen Deutschen hin. Er stellt sich in beispielhafter Bürgerlichkeit dar. Lesser Urys Porträt von Walter Rathenau scheint auf den ersten Blick in der gleichen Weise gemalt worden zu sein. Bei näherer Betrachtung werden aber Unterschiede deutlich, die Rathenau in einer etwas anderen Position zeigen. Er ist an den linken Bildrand gerückt, weg von der Mitte, wodurch seine – im konkreten Fall gesellschaftliche – Nichtzugehörigkeit ausgedrückt wird. Die Rassenlehre und mit ihr der rassische Antisemitismus, die um 1896, als das Bild fertig gestellt wurde, im gesellschaftlichen Denken fest verankert waren, haben die Unterteilung in inneres Jüdischsein und äußere Angepasstheit aufgehoben. Trotz Verwirklichung aller kulturellen Standards ist es für einen Juden, so deutet das Bild an, nicht möglich, als Deutscher wahrgenommen zu werden. Judesein wurde somit nicht mehr lediglich als private Angelegenheit gesehen, sondern hatte unmittelbare Auswirkungen auf die nationale Zuordnung. Juden in der Malerei Die Enttäuschung über die unterbliebene gesellschaftliche Anerkennung war bei den jüdischen Malern nicht anders als bei den jüdischen Komponisten und Musikern. Aber bevor der Optimismus einer resignativen Stimmung wich, hatte es über lange Phasen des 19. Jahrhunderts vielfältige Begegnungen und Interaktionen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Künstlern gegeben, die die Hoffnung auf eine gleichberechtigte Aufnahme in den allgemeinen Sozialverband genährt hatten. Die Zuversicht auf ein
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letztlich gedeihliches Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden und die tatsächlichen Kontakte zwischen ihnen hatten befruchtende Auswirkungen auf die deutsche Malerei. Sie machen ein weiteres Mal deutlich, wie sehr Kultur von Juden und Nichtjuden gemeinsam gestaltet wurde. Im Vergleich zur Literatur brachte die Malerei im 19. Jahrhundert nur relativ wenige jüdische Künstler hervor. Dies hatte allerdings nichts mit dem sog. Bilderverbot im Judentum zu tun. Der Grund dafür dürfte vielmehr in der Teilhabe der Juden an und deren Identifikation mit einem bürgerlichen Milieu, das der bildenden Kunst weniger Interesse als der Literatur entgegenbrachte, gelegen haben. Gleichzeitig bildete sich in der Malerei in Ablehnung des französischen Klassizismus ein Kanon deutschen Kunstschaffens heraus, der sich eng an christlichen Werten orientierte und das Mittelalter idealisierte. Diese Vorgaben wurden von der Gruppe der Nazarener beispielhaft verkörpert. Es handelte sich bei ihr um deutsche Maler, die sich äußerlich durch einen unkonventionellen Lebensstil, zu dem altertümliche Kleider und lange Haare gehörten, auszeichneten. In künstlerischen Belangen interessierten sie sich für die Spiritualität mittelalterlicher religiöser Kunst und die italienische Renaissance. Diese Orientierung konnte für einzelne Juden, die sich der Malerei zuwenden wollten, ohne dabei christliche Werte hervorzuheben, ein unüberwindbares Hindernis darstellen. Einige Maler, die als Juden geboren wurden, fanden unter den Nazarenern aber sehr wohl eine künstlerische Heimat und identifizierten sich mit ihren Kunstprinzipien. Dazu gehörten beispielsweise Mendelssohns Enkelkinder, die Gebrüder Johann (1790–1854) und Philipp (1793–1877) Veit, und Eduard Bendemann (1811–1886). Manchmal wird auch Wilhelm Schadow (1789–1862), dessen Mutter aus einer jüdischen Familie stammte, zu ihnen gezählt. Bis auf ihn, dessen Eltern bei seiner Geburt beide katholisch waren, konvertierten sie allesamt zum Christentum und vertraten den künstlerischen Stil wie auch den geistigen Habitus der Nazarener in beispielhafter Weise. Dies kam u. a. in Philipp Veits und Schadows Freskotechnik zum Ausdruck, wie
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auch in der Meinung des Ersteren, dass die Aufgabe der Kunst in der Vermittlung des wahren Ebenbildes Gottes, das Christus verkörpert habe, liege. Damit nahm er eine Perspektive ein, die in radikalem Kontrast zum jüdischen Verzicht von Gottesdarstellungen stand. Beide Maler erlangten auch angesehene berufliche Positionen. Schadow wurde 1826 eine Berufung an die Akademie in Düsseldorf zuteil, und Philipp Veit wurde vier Jahre später zum Akademiedirektor am Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt/M. ernannt. Die genannten Maler können nicht als jüdische Künstler bezeichnet werden. Das hat nichts mit deren Konversion zu tun, und auch ihr Kontakt zu den Nazarenern und die Aneignung von deren Malstil spricht nicht dagegen. Vielmehr steht die Charakterisierung der Gebrüder Veit sowie von Schadow und Bendemann als nichtjüdische Maler mit ihren künstlerischen Produktionen und den Motiven, denen sie sich zuwandten, in Zusammenhang. Darin ist nicht nur keine Auseinandersetzung mit jüdischen Themen bzw. mit Judentum zu erkennen, sondern sie bringen auch nirgendwo eine Identifikation mit irgendwelchen Aspekten von Judentum zum Ausdruck. Nicht alle Maler jüdischer Herkunft konvertierten, bevor sie sich mit den Nazarenern und deren Maltechniken anfreundeten. Ein Beispiel für einen Künstler, auf dessen Schaffen die Bekanntschaft und Interaktion mit den Nazarenern befruchtend wirkte, ohne dass er seinen Bezug zum Judentum aufgab, stellte Moritz Daniel Oppenheim dar. Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882) Moritz Daniel Oppenheim gilt als der erste jüdische Maler in Deutschland, zumindest als der erste, der zu seiner Lebzeit als Jude auch unter Nichtjuden Anerkennung fand. Er wurde im hessischen Hanau geboren und genoss eine traditionelle jüdische Erziehung, die den Besuch des Cheders, der jüdischen Elementarschule, und der weiterführenden Talmud-Thora Schule einschloss, bevor er 1809 auf das allgemeine Gymnasium wechselte.
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Schon früh wurde sein künstlerisches Talent entdeckt, das an der Hanauer Zeichenakademie gefördert wurde. Sein künstlerischer Werdegang wurde durch Studienaufenthalte in München, Rom und Neapel beeinflusst, bevor er sich in Frankfurt/M. als Maler niederließ und als erster Jude die Ehrenmitgliedschaft der Frankfurter Museumsgesellschaft verliehen bekam. Von prägender Wirkung auf Oppenheims frühes künstlerisches Wirken war sein Studienaufenthalt in Rom, wo er in engem Kontakt mit den bereits erwähnten Nazarenern stand. Seine Figurzeichnungen, die Hervorhebung der Gebärdensprache sowie der den Vordergrund betonende Kompositionsaufbau seiner Werke geben davon beredtes Zeugnis. Auch thematisch, in seiner Beschäftigung mit christlichen Themen, dürfte der Einfluss der Nazarener auf ihn zum Ausdruck gekommen sein. Aber gleichzeitig verzichtete er nicht darauf, eine eigene, jüdische Position zu bewahren. Dieses Selbstbewusstsein zeigte sich bereits recht früh in seinem Monumentalgemälde Moses mit den Gesetzestafeln (1817/18) und sollte sich in späteren Jahren noch verstärken. Erfahrungen antisemitischer Diskriminierung dürften dabei eine nicht ganz unwichtige Rolle gespielt haben. Wie Mendelssohn Bartholdys Kompositionen, so lassen sich auch Oppenheims Arbeiten nur vor dem Hintergrund seiner Verbindung mit nichtjüdischen Kollegen verstehen und richtig einordnen. Er war ein jüdischer Maler, aber seine künstlerische Virtuosität entwickelte sich im Miteinander mit Nichtjuden und deren Werken. Die Fruchtbarkeit dieser Kontakte zeigt sich in aller Deutlichkeit an seiner Illustrationsserie zu Goethes Hermann und Dorothea. Sie resultiert aus Oppenheims intensiver Beschäftigung mit dem deutschen Dichterkönig wie auch seiner Kenntnis der nazarenischen Literaturillustrationen. Gleichzeitig geht er bei dieser Arbeit deutlich über die Nazarener hinaus, indem er bürgerliche Tugenden auf der Grundlage eines säkularen Humanismus vorträgt und den Einfluss des Christentums in den Hintergrund treten lässt. Ein zentrales Anliegen von Oppenheim war, mit seiner Malerei die Anerkennung von Juden durch Nichtjuden als Ihresgleichen
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zu fördern. Es kam beispielhaft in seinen Porträts von Kaiser Joseph II und Otto IV im Kaisersaal des Frankfurter Römer zum Ausdruck, die von der von Amschel Mayer Rothschild gestifteten Loge »Sokrates zur Standhaftigkeit« gesponsert wurde. Die finanzielle Spende wie auch Oppenheims Arbeit erlaubten dem Maler und der Frankfurter Judenschaft, ihre Bindung an die Stadt und deren Geschichte zu betonen und zu hoffen, dass diese von Nichtjuden gewürdigt werde. Das Ziel, die Kluft zwischen Judentum und nichtjüdischer Kultur zu überwinden, verfolgte Oppenheim auch in vielen anderen seiner Werke. Er pflegte Judentum in einer Weise darzustellen, die Zweifel an dessen Vereinbarkeit mit kulturellen Prozessen des nichtjüdischen Gesellschaftsteils gar nicht erst aufkommen lassen sollte. Ein für diesen Zweck illustratives Werk stellt das Gemälde Die Heimkehr des Freiwilligen aus den Befreiungskriegen zu den nach alter Sitte lebenden Seinen dar, das zwischen 1833 und 1834 entstand (siehe Abb.). Oppenheim skizziert darin eine Familie, die am Ausgang des Sabbaths um einen Tisch versammelt sitzt und sich dem ältesten Sohn zuwendet. Er ist Soldat und kämpft gegen die napoleonische Besetzung deutscher Territorien. Er ist nach Hause gekommen, um Sabbath mit seiner Familie zu feiern. Damit wird Familiensinn, ein bürgerlicher Wert, auf Kosten eines jüdisch-religiösen Verbots, am Sabbath zu reisen, hervorgehoben. Im Brustbereich der Uniform befindet sich ein Verdienstkreuz, das der Soldat als Auszeichnung für seine Tapferkeit erhalten hat und das die Vereinbarkeit von Christentum und Judentum andeutet. Einer der Brüder des Soldaten ist mit einem kuttenförmigen Gewand bekleidet, das einer Mönchstracht ähnlich sieht. Dadurch wird einem vermeintlichen Signum des Christentums ein Platz in einer jüdischen Familie zugewiesen. Christentum und Judentum, so kann aus der Betrachtung des Gemäldes geschlossen werden, müssen einander nicht unversöhnlich gegenüberstehen, sondern können im Einvernehmen miteinander existieren. Oppenheims Darstellung einer traditionell lebenden jüdischen Familie zeigt, dass bürgerliche Werte nicht nur ›modernes‹ Judentum charakterisieren, sondern bereits in einem voremanzipa-
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Abb. 3: Moritz Daniel Oppenheim: Die Heimkehr des Freiwilligen aus den Befreiungskriegen zu den nach alter Sitte lebenden Seinen.
torischen Judentum gelebt wurden. Juden sollen dadurch auch ohne vorangegangene innere Reformen als Teil der umfassenden Gesellschaft und, wie der Hinweis auf die Teilnahme an den antinapoleonischen Befreiungskriegen deutlich macht, der deutschen Nation verstanden werden. Oppenheims Malerei und darin artikulierte Ansichten wurden sowohl von vielen Juden als auch Nichtjuden positiv rezipiert. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass Oppenheim zumindest in einem Ausschnitt der deutschen Bevölkerung zu einer positiven Bewertung von Judentum beigetragen hat. Wie sich diese
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Entwicklung für einzelne Juden im Alltagsleben niederschlug, lässt sich allerdings nicht so leicht beantworten. Allgemein handelte es sich bei der frühen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch um eine Zeit, in der sich das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden entspannte, und Oppenheim hatte zweifelsohne daran mitgewirkt. Dass letztlich auch die Literatur Oppenheims Perspektive des möglichen Ausgleichs zwischen Juden und Nichtjuden aufgriff, ist ein Indiz dafür, dass die neue Sichtweise in breiteren Kreisen der Judenschaft auf Resonanz stieß. Sie wurde teilweise auch durch die Forschung vorangetrieben. Einige Repräsentanten der Wissenschaft des Judentums, wie beispielsweise Leopold Zunz oder, in späteren Jahren, Moritz Güdemann, trugen ähnliche Ansichten vor wie Oppenheim sie in seinen Werken versinnbildlichte. Maurycy Gottlieb (1856–1879) Oppenheims Selbstportrait aus dem Jahr 1822, in dem er sich als Bürger darstellt, an dem nichts auf sein Judentum hinweist, wurde in einer Periode gemalt, als Juden ihre Akzeptanz durch die nichtjüdische Gesellschaft als ein Ziel vor Augen hatten und dessen Realisierung lediglich eine Frage der Zeit zu sein schien. Bis zu seiner endgültigen Verwirklichung wollten sie ihr Jüdischsein vor der öffentlichen Aufmerksamkeit verborgen halten. Dieses Verhalten wurde für jüdische Künstler allerdings zu einem Problem, als sich die moderne Malerei der Darstellung innerer Empfindungen annahm. Wie sollten Juden etwas zum Ausdruck bringen, das eigentlich für ihre Privatsphäre bestimmt war? Eine der möglichen Antworten gab der 1856 im damals zu Österreich gehörenden Galizien geborene Maurycy Gottlieb, der einen Teil seiner prägenden Studienjahre in München verbrachte. Dort erlebte er den Rembrandt-Boom und wurde mit den von Rembrandt gemalten Personen, die für Juden aus dessen Nachbarschaft gehalten wurden, vertraut. Er konnte an ihnen das Malen sog. jüdischer Gesichter lernen, was ihm letztlich bei seinem Selbstporträt Ahasver von 1876 zugute kam. Anders als Oppen-
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heim ein halbes Jahrhundert zuvor versucht Gottlieb nicht, sein Jüdischsein zu verbergen. Vielmehr hebt er es mittels Betonung vermeintlich typisch jüdischer Merkmale hervor, wie an der Darstellung der Nase, der Lippen und eines Anflugs von Feminisierung zu erkennen ist. Gleichzeitig bildet er sich in bürgerlicher Kleidung ab, was darauf hinweist, dass er Judesein und ein Leben nach säkularen gesellschaftlichen Standards für vereinbar hält. Eine Parallele zeigt sich in diesem Punkt zu einem anderen jüdischen Maler außerhalb Deutschlands, Camille Pissarro (1830– 1903). In seinen Bildern jüdischer Bankiers betont er ebenfalls als jüdisch erachtete Gesichtsmerkmale. Damit will er die Absurdität hervorheben, dass Nichtjuden diese Menschen zuvorderst als Juden betrachteten statt sie gemäß ihrer beruflichen Funktion bewerten. Gottliebs Offenheit bei seinem Selbstporträt zeugt von einem starken jüdischen Selbstbewusstsein, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie bereits erwähnt, auch im Bereich der religiösen Riten und Vorschriften zum Ausdruck kam. Judentum wurde zunehmend mit Überzeugung vertreten. Es gab eine verbreitete Zuversicht, dass es nicht mehr lange dauerte, bis es als zur Gesellschaft gehörig anerkannt und respektiert würde. Gottliebs jüdisches Selbstbewusstsein darf aber keineswegs mit einer ausgesprochen jüdischen Identität gleichgesetzt werden. Wie für Mendelssohn Bartholdy, so gilt auch für Gottlieb, dass sein persönlicher Bezug zum Judentum nur schwer beschrieben werden kann. Er wuchs in einer religiösen Familie auf und schloss sich als Jugendlicher der Migration vieler galizischer Juden nach Wien an, um dort zu studieren. Schon sehr bald kehrte er in seine Heimatprovinz zurück, um in Krakau von Jan Matejko (1838– 1893), dem berühmtesten zeitgenössischen polnischen Maler, unterrichtet zu werden. Gottlieb wollte als polnischer Künstler Anerkennung finden. Er blieb aber nur kurz in Galizien, weil er mit Antisemitismus konfrontiert wurde. Dieser stärkte auch sein jüdisches Selbstverständnis, ließ es aber nicht zu seiner einzigen, vielleicht nicht einmal primären Identitätskomponente werden. Er fühlte sich als Pole wie auch als Jude. Als Vorname vermied er
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aber sowohl das polnische Maurycy wie auch das hebräische Mosche bzw. die jiddische Form Mojsche. Stattdessen nannte er sich Moritz. Darin kann auch ein deutsches Bewusstseinselement gesehen werden. Gottliebs identitäre Verfassung bestand demnach aus verschiedenen Aspekten, die alles andere als statisch waren. Seine identitäre Positionierung hing wohl von seinem Umfeld ab, in dem er sich in bestimmten Lebensphasen bewegte, und kann nicht festgeschrieben werden. Gottliebs Mehrfachidentitäten offenbaren sich auch in einer Reihe von Selbstbildnissen. Dazu gehört ein Gemälde, in dem er sich als Pole darstellt, besser gesagt als jüdischer Pole, der 1863 an der polnischen Revolte gegen die russische Herrschaft teilgenommen hat. In einem anderen Werk skizziert er sich wiederum als Araber, konkret als Beduine, und stellt damit einen Bezug zu den frühen jüdischen Siedlern in Palästina her. Mit diesen Beispielen ist die Reihe an Gottliebs Selbstporträts noch nicht abgeschlossen. Ohne auf weitere Gemälde einzugehen, erlauben die erwähnten Artefakte aber bereits die Feststellung, dass Gottlieb einen reichhaltigen Bewusstseinsfundus hatte. Er war zweifelsohne ein jüdischer Maler, aber dies nicht ausschließlich. Er wollte auch als polnischer Maler wahrgenommen werden, als europäischer Künstler, bekannte sich zur orientalischen Kultur und anderes mehr. Seine jüdische Identität beruhte nicht allein auf einem positiven Bekenntnis zum Judentum, sondern war auch durch seine Erfahrungen mit Judenfeindschaft bedingt, die nicht zuletzt in Polen stark verwurzelt war. Selbst Gottliebs Lehrer Matejko, den er über alles schätzte, stellte sich als judenfeindlich heraus, zwar nicht Gottlieb gegenüber, aber in seinem Verhältnis zu anderen jüdischen Schülern. Die Ausführungen zu Gottlieb könnten mit der Feststellung ausklingen, dass er sich an universellen Prinzipien und ein noch bestehendes Vertrauen in deren Durchsetzbarkeit orientierte, die ein weitgehend harmonisches Miteinander von Juden und Nichtjuden ermöglichen würde. Sein jüdisches Selbstbewusstsein müsste er nicht aufgeben. Jüdische Identität wie auch die Erwartung einer friktionsfreien jüdisch-nichtjüdischen Ko-Existenz
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Abb. 4: Maurrey Gottlieb: Christus vor seinen Richtern.
kommen bei ihm exemplarisch im Bild Christus vor seinen Richtern (1877–1879) zum Ausdruck (siehe Abbild), in dem er, gleich wie in Jesus predigt in Kapernaum (1878–1879), Christus als Juden darstellt. Jesu Judesein gilt ihm einerseits als verbindende Gemeinsamkeit von Juden und Nichtjuden. Gleichzeitig bringt er mit der Betonung von Jesu jüdischer Herkunft den Mut auf, zeitgenössischen christlichen Sichtweisen, die dies ignorierten bzw. in Jesus einen Heilsverkünder sahen, der bewusst mit dem Judentum gebrochen habe, eine andere Perspektive entgegenzusetzen. Gottliebs Beschäftigung mit Jesus kam nicht ganz überraschend. In den 1870er Jahren und später gab es allgemein ein großes Interesse an Christus, und zwar unter jüdischen wie auch nichtjüdischen Künstlern und Wissenschaftlern. Angestoßen wurde es vor allem durch Ernest Renans 1863 erschienene Biographie Das Leben Jesu, und in der Folge wurde eine Auseinandersetzung mit Christus zu einer akzeptablen intellektuellen und künstlerischen Beschäftigung. Diesem Trend schloss sich schon recht früh der jüdische Historiker Heinrich Graetz (1817–1891) an, dessen monumentales Opus Geschichte der Juden von der ältes-
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ten Zeit bis auf die Gegenwart (siehe unten) Gottlieb während seines Münchener Studienaufenthalts rezipierte. Selbst Bildhauer beschäftigten sich mit dem ›jüdischen Jesus’. Große Bekanntheit unter ihnen erlangte vor allem der 1843 in Vilnius geborene und 1902 in Frankfurt am Main gestorbene Mark Matvejevich Antokolski, der auch eine Zeitlang in Berlin arbeitete. Mit seinem Ecce Homo griff er nicht nur die unter Juden verbreitete Anschauung von Jesu Judesein auf, sondern reagierte auch auf antijüdische Tendenzen, indem er Judenfeinden die Widerwärtigkeit ihrer Haltung vorhielt. Und wie bereits ausgeführt worden ist, widmete sich auch Abraham Geiger dem jüdischen Jesus. Die zentrale Aussage seines 1864 publizierten Buches lautet, dass Jesus ein frommer Jude gewesen sei, der niemals vorgehabt habe, dem Judentum den Rücken zu kehren. Diese zweifelsohne sehr provokante Interpretation, zu der sich viele Juden bekannten und die erwartungsgemäß einen Entrüstungssturm unter christlichen Bibelforschern auslöste, floss allerdings nicht in Gottliebs künstlerische Darstellungen ein. In Christus vor seinen Richtern, das er in seiner Geburtsstadt Drohobycz zu malen begann und das wegen seines frühzeitigen Todes unvollendet blieb, erscheint Jesus zwar in orientalischer Kleidung, aber seine Gesichtszüge haben keinen ›typisch semitischen‹ Ausdruck, mit dem zeitgenössische Künstler Juden zu kennzeichnen pflegten. Stattdessen hat Gottliebs Christusdarstellung eher eine Ähnlichkeit mit den Gemälden der Schule der Nazarener. Auch in Jesus predigt in Kapernaum gibt es eine starke Anlehnung an die christliche Ikonographie. Gottlieb vertritt demnach keine allzu kontroverse Perspektive. Er möchte Jesus dem Christentum nicht entreißen und eine einseitig jüdische Sichtweise lancieren. Vielmehr steht Christus bei ihm in der Tradition jüdischer Propheten. Er trägt eine universelle Botschaft vor, die religiöse und ethnische Gegensätze transzendiert. Gottlieb lässt sich mit dieser Darstellungsweise jedenfalls nicht eindeutig als jüdischer Künstler klassifizieren. Es mag sein, dass der Maler auf seine Ambitionen, auch als polnischer Maler anerkannt zu werden, Rücksicht nahm: Die zentrale Stellung des
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Katholizismus in Polen und die enge Identifikation der polnischen Bevölkerung mit dem Christentum hätten ihn, wenn er Jesus mit eindeutig jüdischen Zügen dargestellt hätte, mit großer Wahrscheinlichkeit den Polen entfremdet. Auf jeden Fall erscheint bei ihm Jesus als eine Figur, die Verbindungen zwischen Christentum und Judentum aufzeigt. Die Betonung von deren Vereinbarkeit ist auch an einer Reihe von Portraits historischer jüdischer Gestalten, die Gottlieb malte, ersichtlich. Sie haben allesamt ein Merkmal gemeinsam: Sie sind stolze Juden. Sie verstecken ihr Jüdischsein nicht, sondern betonen es und heben es hervor. Aber wiederum bleiben diese Juden nicht auf ihr Judentum beschränkt und isolieren sich auch nicht von der nichtjüdischen Welt, sondern bringen sich in diese ein. Sie sind Teil der allgemeinen Kultur und Gesellschaft und wollen als Juden akzeptiert und anerkannt werden. Max Liebermann (1847–1935) In diesem zeitlichen Kontext der Debatte über den jüdischen Jesus präsentierte der jüdische Maler Max Liebermann (1847–1935) anlässlich der Internationalen Kunstausstellung in München im Jahre 1879 das Bild Der zwölfjährige Jesus im Tempel (siehe Abb.). Er rief damit einen Skandal hervor und provozierte eine Menge antisemitischer Anwürfe. In einer Zeitung heißt es, dass Liebermann den »hässlichsten naseweisen Juden-Jungen, den man sich denken kann«, dargestellt habe, umgeben von einem »Pack der schmierigsten Schacherjuden«. Der Bayerische Landtag debattierte über das Bild und verurteilte es, und Prinz Luitpold sprach sich dafür aus, es in einer Seitengalerie aufzuhängen, abseits vom zentralen Besucherstrom. Es schien, als sollte es Juden nunmehr unmöglich gemacht werden, Jesus in einem jüdischen Milieu zu lokalisieren. Den negativen Höhepunkt der Debatte über die Frage, ob Jesu Handeln von seinem Judentum bestimmt gewesen sei, sollte im Übrigen Houston Stewart Chamberlain setzen, der in seinen Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts behauptete, dass Jesus kein Jude, sondern ›arisch‹ gewesen sei. Mit der rassi-
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Abb. 5: Max Liebermann: Der zwölfjährige Jesus im Tempel.
schen Bestimmung war es dann einerlei, ob er in einer jüdischen Umgebung aufwuchs und wirkte, er blieb von Juden grundverschieden. Liebermann wurde in Berlin geboren. Er wuchs in einem sehr wohlhabenden Milieu auf, was seine spätere berufliche Karriere insofern beeinflusste, als er durch Familienbesuche in den Häu-
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sern von gleichfalls sehr reichen Freunden verschiedene Werke der Nazarener zu sehen bekam, die ihn tief beeindruckten und sein Interesse an der Malerei weckten. Liebermann erwies sich schon sehr bald als origineller Künstler. In seinen frühen Werken setzte er sich mit dem Konzept der Arbeit auseinander und definierte diese als das wichtigste Moment für den Zusammenhalt einer Gruppe. Mit dieser Sichtweise, die eine Kritik an der zeitgenössischen sozialen und politischen Ordnung implizierte, stellte er andere gemeinschaftsbildende Elemente wie Religion oder Tradition hintan. Liebermann war einer der bedeutendsten Künstler Deutschlands um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er gehörte zu den Mitbegründern der Berliner Secession und diente 1899 als ihr erster Präsident, fungierte als Präsident der preußischen Akademie der Künste und gilt als Begründer des deutschen Impressionismus. Er war Zeit seines Lebens Deutscher und Jude. Zu Letzterem wurde er nicht nur durch antisemitische Angriffe, wie sie in der Episode um seinen jüdischen Jesus zum Ausdruck kamen. Seine Affinität zum Judentum zeigt sich allerdings nur in wenigen Werken. Dazu gehört sein Selbstbild mit Küchenstilleben, in dem er sich selbst, eine Kochmütze tragend und hinter einem mit Wintergemüse beladenen Tisch stehend, darstellt. Inmitten des Gemüsebergs liegt ein Huhn, das nicht nur angesichts seiner außerordentlichen Bedeutung in der Tradition jüdischer Festkultur Aufschluss über Liebermanns Gefühlswelt gibt, sondern noch dazu mit einem kleinen Etikett versehen ist, das den koscheren Charakter des geschlachteten Tieres angibt. Liebermann situiert sich damit selbst als Zubereiter eines (jüdischen) Festschmauses. Als Produzent des Werkes war er sowohl Jude wie auch allgemeiner Maler, der auf zeitgenössische Regeln der Bildgestaltung, konkret auf die Tradition der Stillebenmalerei der abendländischen Kunst, zurückgriff. Ein anderes Motiv, das einen Hinweis auf sein jüdisches Selbstbewusstsein zu geben vermag, stellt die Amsterdamer Judengasse dar, mit der er sich in den Jahren 1905 bis 1909 beschäftigte. Dabei malte er eine weitgehend vormoderne Judenschaft, die ei-
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ner bildhaften Idealisierung von jüdischem Leben nahe kommt, ähnlich wie es Oppenheim einige Jahrzehnte zuvor getan hatte. Mit der Imagination eines vergangenen, traditionellen Judentums konnte er sich wahrscheinlich besser identifizieren als mit den zeitgenössischen Juden im Berliner Scheunenviertel. Mit dem Eklat, den sein Jesusbild hervorrief, wurde Liebermann bewusst, dass er als Jude bestimmte Grenzen in seinem künstlerischen Wirken überschritten hatte. Fortan mied er religiöse Themen. Eine Zeitlang vertrat Liebermann die holländische Tradition der Genre-Malerei, um dadurch in einer sozial akzeptablen Form Kritik an zeitgenössischen Zuständen zu üben. Aus einer deklariert jüdischen Perspektive wäre dies kaum möglich gewesen, ohne sich zahlreichen Feindseligkeiten auszusetzen. Er musste seine Beschäftigung mit dem holländischen Malstil aber aufgeben, als Julius Langbehn in seinem Buch Rembrandt als Erzieher das »niederdeutsche Wesen« als Ideal des Deutschen propagierte und dabei auch vor antisemitischen Tönen nicht zurückschreckte. Auf jeden Fall wandte Liebermann sich von da an unverfänglicheren Motiven zu und beschäftigte sich vor allem mit Bildern bürgerlicher Freizeitgestaltung, die Familien im Zoo, beim Spaziergang und anderen Aktivitäten zeigen. Weitere Maler Ein Zeitgenosse von Liebermann, der heutzutage aber deutlich weniger bekannt ist, war Lesser Ury (1861–1931). Er gilt als der erste Künstler in Deutschland, der sich mit der Metropole auseinander setzte. Zudem entwickelte er einen jüdischen Symbolismus, mit dem es ihm gelang, jüdische urbane Erfahrungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert darzustellen. Damit beeinflusste er auch die nationaljüdische Bewegung und die damit einhergehende Entwicklung einer jüdischen nationalen Kunst. Wie viele Zionisten wandte Ury sich auf der Suche nach einem ›unverfälschten‹ Judentum der biblischen Periode zu. Dabei fällt auf, dass er seine jüdischen Figuren mit ausgesprochen kräftiger physischer Statur malte. Wahrscheinlich war er darauf bedacht,
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einen Gegentypus zu dem um die Jahrhundertwende zirkulierenden Stereotyp des schwächlichen, kranken und verweiblichten Juden zu schaffen. In seinem Werk Jerusalem (1896) skizziert er eine Anzahl von Juden, aus deren Gesichtern jegliche Freude und jegliches Glücksgefühl gewichen ist. Sie vermitteln lediglich tiefe Wehmut und Trauer. Die bedrückten Juden sitzen auf einer langen Bank, mit der eine Kontinuität zwischen der Zerstörung Jerusalems und der feindseligen Gegenwart, wahrscheinlich den antijüdischen Ausschreitungen in Russland, symbolisiert wird. Auch Urys Darstellungen von städtischem Leben sind freudlos und Ausdruck von entfremdenden Erfahrungen. Besonders deutlich kommt das in seinen Bildern über das Café zum Vorschein. Es stellt bei ihm zwar einen Raum dar, wo unterschiedliche Personen zusammenkommen. Doch bleiben sie voneinander distanziert und vermeiden ein Miteinander. Das Café ist bei Ury eine Lokalität, in der Menschen ihrer Isolation bewusst werden. Das Bild städtischer Existenz, das er vorstellt, findet sich im Übrigen auch bei dem (jüdischen) Soziologen Georg Simmel. Er schreibt in einem 1903 publizierten Aufsatz, dass die Herausforderungen des alltäglichen Lebens in der Stadt Menschen gegenüber ihren Mitbürgern abstumpfen ließen. Bisweilen bräuchten sie diese Indifferenz, um den Alltag bewältigen zu können. Sie würden einander immer mehr zu Fremden, und selbst Nachbarn, die seit Jahren Tür an Tür wohnten, kannten sich nicht einmal vom Sehen. Weitere jüdische Maler in diesem zeitlichen Kontext stellen Ludwig Meidner (1884–1966) und Jacob Steinhardt (1887–1968) dar, die stark von den italienischen Futuristen wie auch vom Pariser Künstler Robert Delaunay beeinflusst waren. Meidner und Steinhardt führten die Entwicklung der Malerei zu jener intensiven Schaffensperiode jüdischer Künstler, die sich im Expressionismus zeigte. Das kommt besonders deutlich in ihren Darstellungen des Kaffeehauses zum Ausdruck. Weit entfernt, wie bei Lesser Ury eine Stätte der Isolation und des Nebeneinanders zu sein, dient es bei ihnen als ein Ort der intensiven Interaktion und heftiger Debatten. Im Café lassen sich Künstler inspirieren und schöpfen Kreativität.
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Von besonderer Relevanz waren Meidner und Steinhardt für die Gründung der expressionistischen Gruppe Die Pathetiker im November 1912. Deren Ziel war es, Bilder in einer Weise zu malen, die die Betrachtenden einnehmen, bewegen und berühren. Die Künstler setzten ihre Ambitionen sehr erfolgreich um, und ihre Werke waren schon bald gesuchte Ausstellungsstücke in Galerien. In späteren Jahren sind Steinhardt und Meidner vor allem wegen ihres Beitrages zur jüdischen Renaissance (siehe unten), die sich u. a. in einer Rückbesinnung auf als jüdisch verstandene Werte und der Schaffung einer sog. jüdischen Kunst kundtat, bekannt geworden. In diesem Zusammenhang kann Steinhardts Pessach-Haggada aus dem Jahre 1923 genannt werden. Im Gegensatz zur traditionellen Haggada, die eine Sammlung von Gebeten, Segenssprüchen und verschiedenen Kommentaren darstellt und zu Pessach vorgetragen wird, verweisen die Illustrationen des Künstlers nicht auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten, sondern auf die zeitgenössische, von Krisen geschüttelte Gesellschaft der Weimarer Republik. Steinhardts Haggada stellt ein herausragendes Bespiel expressionistischer Kunst dar. Die Suche nach einer jüdisch-nationalen Kunst Max Liebermann verwahrte sich gegen seine Charakterisierung als jüdischer Künstler. Er wollte Maler sein, und Malen habe nichts mit Judentum zu tun, meinte er. Maurycy Gottlieb wollte Jude und Pole und Deutscher sein und war sicher auch vieles mehr. Selbst der als paradigmatischer Vertreter eines jüdischen Malers geltende Moritz Daniel Oppenheim zog sich nicht auf sein Judesein zurück, sondern arbeitete an einer Vereinbarkeit von Judentum und Deutschtum, und sein künstlerisches Schaffen wurde stark von zeitgenössisch vorherrschenden Malstilen und Themen beeinflusst. Es ist deswegen zweifelhaft, ob diese Künstler undifferenziert als jüdische Maler bezeichnet werden können. Sie waren Angehörige des allgemeinen Kunstbetriebes und besa-
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ßen eine jüdische Identität, daneben aber auch andere Bewusstseinsfacetten. Jüdische Identität kann bei Liebermann beispielsweise an seinem Der zwölfjährige Jesus im Tempel oder an seinem Selbstbild mit Küchenstilleben nebst einigen anderen Werken ausgemacht werden, aber nicht an all seinen Arbeiten. Liebermann war in diesem Sinne jüdischer Maler, vor allem aber auch deutscher Maler und in vielen Aspekten ganz allgemein ein Maler. Auch seine Werke können nicht einfach jüdische Kunst genannt werden – abgesehen davon, dass es nicht ganz klar ist, was darunter zu verstehen ist. Seit dem ausgehenden 19. und vor allem im frühen 20. Jahrhundert gab es gezielte Versuche, jüdische Kunst zu definieren. Sie gingen vor allem von einer jüdischen Erneuerungsbewegung aus, die als jüdische Renaissance bekannt wurde. Ihr Ziel war ein Neuverständnis von Judentum, wobei dessen Werte an die zeitgenössischen Herausforderungen angepasst werden sollten. Es handelte sich somit um eine Neuerfindung jüdischer Tradition. Entgegen zeitlich zurückliegenden Bestrebungen, Judentum neu zu bestimmen, wie sie beispielsweise die Wissenschaft des Judentums charakterisiert hatten oder im Rahmen der medizinischen Auslegung jüdischer Riten zum Ausdruck gekommen waren, sollten nunmehr ästhetische Elemente im Mittelpunkt stehen. Die jüdische Renaissance wollte ganz allgemein eine nationale Kultur schaffen, in deren Rahmen aber besonders die Kunst gefördert werden sollte. Malerei, daneben aber auch die Literatur, wurden als bestens geeignete Medien zur Artikulation des Jüdischen verstanden. Nach Martin Buber (1878–1965) gibt es keine internationale Kunst, sondern in ihren Äußerungen zeigen sich lediglich nationale Eigenheiten eines Volkes. In diesem Sinne bestand für ihn auch kein Unterschied zwischen Kunst und Leben. Erstere sei von jüdischer Existenz beeinflusst und habe dann auch wieder Auswirkungen auf das Dasein. Im Dezember 1901, anlässlich des Fünften Zionistenkongresses in Basel, wurde erstmals eine Ausstellung zu moderner jüdischer Kunst veranstaltet. Dabei wurden Werke von Lesser Ury, dem Maler und Graphiker Hermann Struck (1876–1944), dem
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Maler Jozef Israels (1827–1911) u. a. gezeigt. Vielsagend ist, dass auch Werke vom bereits erwähnten Nazarener Eduard Bendemann, einem als Jude geborenen, dann aber konvertierten Künstler vorgestellt wurden. Die Einbeziehung von dessen Werken in die Bilderschau geschah nicht aufgrund deren thematischen Ausrichtung, sondern wegen der ethnischen Herkunft des Künstlers. Daran ersieht man, dass es unter den Kulturzionisten, die die Träger der jüdischen Renaissance waren, ein sehr essentialistisches Verständnis von Judentum gab. Damit sollte einerseits eine Differenz zu Nichtjuden argumentativ unterfüttert und, wie noch gezeigt wird, die Akzeptanz der Vorstellung, dass Ost- und Westjuden eine Gemeinschaft bildeten, erleichtert werden. Die Kulturzionisten um Buber waren eine Fraktion innerhalb der zionistischen Bewegung. Anders als Theodor Herzl und die politischen Zionisten wollten sie nicht allein mit diplomatischen Mitteln für eine Wiederherstellung einer Heimstätte für Juden arbeiten, sondern auch den kulturellen Aspekt für die Herausbildung einer jüdischen Nation betonen. Dafür, so glaubten sie, bedürfe es einer eigenen jüdischen Kunst, deren Förderung und Bekanntmachung jedoch institutionell unterstützt werden müsse. Eine zentrale Einrichtung, mit der die Werke jüdischer Künstler einer jüdischen Öffentlichkeit zugänglich und über billige Reproduktionen einer breiteren Judenschaft vertraut gemacht werden sollten, war der Jüdische Verlag. Er wurde von Buber und anderen Mitstreitern in Berlin im Jahre 1902 gegründet. Zu ihnen gehörte auch Ephraim Moses Lilien (1874–1925), einer der bedeutendsten Repräsentanten einer jüdisch-nationalen Kunst. Er kam im galizischen Drohobycz, der Geburtsstadt von Maurycy Gottlieb, zur Welt und wirkte vor allem in Deutschland, wo er jüdisch-zionistische Motive vorstellte. Seine Arbeiten erschienen vornehmlich auf Buchumschlägen, Postkarten, als Illustrationen oder Werbematerial, wodurch ihnen weite Verbreitung gesichert war (siehe Abbild). Daneben sollten vor allem auch Zeitschriften die Kulturpolitik unterstützen. Das wahrscheinlich wichtigste Organ dafür war Ost und West, das 1901 ins Leben gerufen wurde und viele Abbildungen von Werken jüdischer Künstler enthielt.
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Abb. 6: Titelblatt der Zeitschrift Ost und West (1901), entworfen von E. M. Lilien.
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Zusammen mit Ausstellungen über jüdische Kunst trugen diese Unternehmungen zu einer neuen visuellen Kultur bei. Jüdische Kunst wurde durch eine Reihe von Initiativen und viele theoretische Texte propagiert, vor Augen geführt und zu definieren versucht. Dabei bildete sich ein Kanon zu ihrer Umschreibung heraus. Wie sehr eine vorgeblich eigenständige jüdische Kunst jedoch auf einem Miteinander von Juden und Nichtjuden basierte, zeigt sich beispielhaft an Lilien und Struck, die zeitgenössische künstlerische Strömungen aufgriffen und nutzbar machten. Während Lilien sich des Jugendstils bediente, schloss Struck am zeitgenössischen Rembrandt-Kult an. Jüdische Kunst wurde im Rahmen der jüdischen Renaissance zum zentralen Inhalt von Judentum. Sie erlaubte jenen Juden, die aufgrund des Antisemitismus auf ihr Judentum zurückgeworfen wurden, dieses aber nicht religiös verstehen wollten, sich mit ihm zu identifizieren. Dies lässt sich an Arnold Schönberg (1874–1951) exemplarisch veranschaulichen. Der in Wien geborene Komponist und Musiktheoretiker, der 1898 konvertierte, wurde aufgrund seines ihm zugeschriebenen Judeseins zu Beginn der 1920er Jahre aufgefordert, den österreichischen Ferienort Mattsee zu verlassen, weil er für Nichtjuden reserviert sei. In der Folge setzte er sich mit dem Judentum auseinander und schrieb die (unvollendet gebliebene) Oper Moses und Aaron. Judentum fand für ihn seinen Ausdruck in der Musik. In späteren Jahren, kurz vor seiner Flucht vor den Nationalsozialisten, sollte er das Judentum aber wieder annehmen. Die Förderer einer neuen Kunstpraxis Abseits der jüdisch-nationalen Kunst und der Entstehung einer neuen visuellen Kultur gab es eine weitere kulturelle Entwicklung, in die Juden involviert waren. Dabei handelte es sich um die Herausbildung einer neuen Kunstpraxis. Es gab eine Reihe wohlbetuchter jüdischer Sammler, die sich für moderne Kunst interessierten, Galeristen, wie beispielsweise Paul und Bruno Cassirer, und Kunstkritiker, die einen Kunstmarkt etablierten und Diskur-
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se über moderne Kunst anregten. Unter diesen Aktivitäten waren auch die Gründung von Zeitschriften wie Pan oder Kunst und Künstler sowie die Ausstellungen der Berliner Secession. Zusammen ließen sie ein kunstsinniges Publikum entstehen, das sich den Vorgaben des offiziellen Berlin, wie sie vom Kaiser oder der Akademie vorgetragen wurden, versagte. Während somit einerseits eine jüdisch-nationale Kunst propagiert wurde, leistete jüdisches Bürgertum Beträchtliches, um den deutschen Kunstmarkt zu modernisieren und zu internationalisieren. Es schuf damit eine neue Form von Öffentlichkeit, die im Weiteren auch für die Rezeption von zeitgenössischer Kunst bereit war. Juden trieben damit mehrere, und dabei einander durchaus widersprechende, Entwicklungen voran, und sie taten dies zumeist im Zusammenwirken mit Nichtjuden. Der Maler Oskar Kokoschka verdankte seinen Durchbruch mit großer Wahrscheinlichkeit Paul Cassirer, der im Juni 1910 nicht nur dessen Werke in Berlin zeigte und sie einer interessierten Öffentlichkeit bekannt machte, sondern ihn auch finanziell unterstützte und ihm damit die Möglichkeit gab, sich seiner Arbeit zu widmen. Kokoschka wurde Cassirer von Herwarth Walden (siehe unten) empfohlen, der auch Karl Kraus und den Architekten Adolf Loos mit Hilfe von Cassirer in Berlin einführte. Auf dieses Netzwerk von Kontakten konnte nicht zuletzt Arnold Schönberg bauen, woraus sich eine Achse Wien-Berlin ergab, die für die künstlerische Moderne sehr befruchtend wirkte. Wie sehr diese ›jüdischen‹ Aktivitäten in der breiteren Öffentlichkeit auf Ablehnung stießen, ersieht man an den Reaktionen auf eine von Paul und dessen Cousin Bruno Cassirer organisierte Ausstellung von Werken Manets, Monets und Segantinis im März 1899. In der Zeitschrift Die Lustigen Blätter heißt es dazu: »Devise: Durch Manet und Monet zu money.« Die Förderung der künstlerischen Avantgarde ging in starkem Maße, auf keinen Fall aber ausschließlich, auf jüdische Unternehmungen zurück. Es ist durchaus möglich, zwischen ihnen und den jüdischen Salons um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Parallelen zu finden. So wie einhundert Jahre zuvor betuchte und
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modernen Entwicklungen aufgeschlossene Juden Räumlichkeiten für den Austausch neuer Ideen zur Verfügung stellten, so lud auch Paul Cassirer zu Vortragsabenden, Musikabenden und Lesungen. 1910 gründete er die Gesellschaft Pan, die private Aufführungen von Theaterstücken veranstaltete, welche der Zensur zum Opfer fielen. Daneben gab es noch andere bekannte Salons, beispielsweise jenen von Felicie Bernstein, Cornelia Richter oder Samuel und Hedwig Fischer. Sie alle spielten bei der Herausbildung der modernen Kunst und als Begegnungsstätte, wo neue Trends diskutiert wurden, eine gewichtige Rolle. Literarische Selbstvergewisserungen Beginnend mit der Haskalah hat es immer wieder Versuche gegeben, jüdische säkulare Literatur, die sich anfangs vor allem in naturwissenschaftlichen Arbeiten erschöpfte, zu fördern. Zu diesem Zwecke waren eigene Verlage ins Leben gerufen worden und Vereine, die den Druck und damit auch den Absatz der Bücher unterstützen sollten. Die Herausgabe von Publikationen war teuer und der Erwerb von Büchern oftmals unerschwinglich. Abhilfe schufen Leihbibliotheken, die in den deutschen Ländern seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Fuß fassten, wie auch sog. Lesevereine. In den 1840er Jahren wurde der erste Jüdische Lehr- und Leseverein in Breslau gegründet, und schon bald fand sich diese Einrichtung in vielen anderen Städten. Bisweilen gehörte der größte Teil der jüdischen Gemeinde zu ihren Mitgliedern. Die Lesevereine und Leihbibliotheken sollten ähnlich schnell wieder an Bedeutung verlieren, wie sie entstanden waren. Die Verbilligung der Buchherstellung, dabei vor allem die Herausgabe von auf Massenproduktion ausgerichteten Reihen wie Reclams Universal-Bibliothek, und die Verbreitung von Tageszeitungen mit dem Abdruck von Fortsetzungsromanen waren für diese neuen Institutionen eine zu große Konkurrenz. Von jüdischer Seite wurde gezielt auf diese Umbrüche reagiert. Einerseits wurde mit der Jüdischen Universal-Bibliothek ebenfalls eine wohlfeile Reihe von
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Publikationen etabliert, und andererseits brachten auch jüdische Zeitungen Fortsetzungsromane. Ein weiterer Schritt, säkulare Literatur Juden zugänglich zu machen, wurde 1855 mit der Gründung des Institut zur Förderung der israelitischen Literatur gesetzt. Sein wesentlicher Erfolg bestand in der Rekrutierung eines jüdischen Lesepublikums, das über herkömmliche Unterscheidungen, seien sie religiös oder säkular, liberal oder orthodox, hinausging. Juden blieben dabei weitestgehend unter sich. Daneben wurden aber auch literarische Werke geschaffen, die sehr wohl die Grenzen zwischen Juden und Nichtjuden verschwimmen ließen. Deutsch-jüdische Literatur Ungefähr zur gleichen Zeit, als Oppenheim sich als jüdischer Künstler etablierte und Die Rückkehr des Freiwilligen malte, waren auch die ersten Regungen einer deutsch-jüdischen Literatur zu bemerken. Dabei handelte es sich um den historischen Roman. Am Beginn seiner Entwicklung steht Phöbus Philippsons Die Marranen, die 1837 in Teilabdrucken in der im selben Jahr von seinem Bruder Rabbiner Ludwig Philippson gegründeten Allgemeinen Zeitung des Judentums erschienen. Die moderne jüdische Prosaliteratur, die damit begründet wurde, lehnte sich eng an nichtjüdische Vorbilder an. Romane über die Inquisition gegen Protestanten waren zu dieser Zeit in weiten Teilen der deutschen Territorien beliebt, und mit der Ersetzung der Protestanten durch Juden auf der Iberischen Halbinsel, wo getaufte Juden als Marranen bezeichnet und verfolgt wurden, konnte ein eigenes, an Juden ausgerichtetes literarisches Genre geschaffen werden. Mit seiner Fokussierung auf die sephardischen Juden bediente sich der jüdische historische Roman einer historischen Perspektive, die auch die Wissenschaft des Judentums vortrug. Beide, sowohl die Wissenschaft wie auch die Literatur, betrieben die Wertschätzung einer jüdischen Vergangenheit, in der sich Juden durch weitgehende gesellschaftliche Integration und wissenschaftliche sowie künstlerische Leistungen auszeichneten. Sie sollte gleichsam als Vorbild für die Emanzipationsbestrebungen der deutschen Juden im
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19. Jahrhundert dienen. Damit trugen die historischen Romane wesentlich zur Herausbildung eines historischen Gedächtnisses bei, in dem die Geschichte des strengreligiösen, traditionellen aschkenasischen Judentums in den Hintergrund rückte. Stattdessen wurde der »sephardische Mythos« für die eigenen Ambitionen nach rechtlicher Gleichstellung und gesellschaftlicher Anerkennung eingesetzt. Neben dem jüdischen historischen Roman spielte die Ghettoliteratur bei der Herausbildung einer jüdischen Literaturform eine große Rolle. Dabei handelte es sich um keine Texte über Juden in tatsächlichen Ghettos. Solche gab es in den deutschen Ländern nämlich kaum. Dort waren eher die sog. Judengasse oder ein jüdischer Wohnbezirk vorherrschend, wo Juden teils aufgrund äußeren Drucks, teils freiwillig eng beieinander lebten. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem im Gefolge von Leopold Komperts Aus dem Ghetto, bürgerte sich der Begriff des Ghettojuden zur allgemeinen Bezeichnung des traditionellen, vormodernen Judentums ein. In diesem Sinne muss auch Ghettoliteratur verstanden werden: Als eine literarische Auseinandersetzung mit einer verschwundenen jüdischen Welt, für die man nostalgische Gefühle empfand, obwohl einzelne Romane keine zum kollektiven Gedächtnis gehörende jüdische Lokalität behandeln. Berthold Auerbach (1812–1882) Ein Vorreiter dieser Literaturgattung, der bisweilen auch als ihr erster Autor bezeichnet wird, war Berthold Auerbach, ein in Nordstetten im Schwarzwald geborener Jude. Zu seinen Lebzeiten erfreute er sich als Verfasser der Schwarzwälder Dorfgeschichten, die erstmals 1843 erschienen, einer weit über die deutschen Länder hinausgehenden Berühmtheit. In Deutschland selbst war er auch aufgrund seiner revolutionären politischen Gesinnung bekannt. Er war einer von fünf jüdischen Delegierten, die 1848 in Frankfurt dem Vorparlament zur Beratung von Wahlen zu einer deutschen Nationalversammlung angehörten.
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Mit seinen Schwarzwaldgeschichten gelang Auerbach etwas, worum sich die allermeisten anderen Juden vergeblich bemüht hatten und was ihnen auch noch lange verwehrt bleiben sollte: Er wurde als Jude von Nichtjuden akzeptiert. Sein Judesein war niemals Gegenstand von Kritik oder persönlichen Angriffen, und selbst Richard Wagner war ihm zugetan. In seinen Dorfgeschichten, die er in seinem Geburtsort situierte, idealisierte er einfaches Bauernleben und porträtierte Juden und Nichtjuden als miteinander und ohne Spannungen lebend. Damit gibt er in gewissem Maße auch Aufschluss auf sein eigenes Selbstbewusstsein: Als Kind hatte er sowohl eine traditionelle jüdische Ausbildung im Cheder als auch eine säkulare Erziehung genossen. In der Folge bezeichnete er sich in späteren Jahren als Deutscher, als Schwabe und Jude, und wies dabei auf die Vereinbarkeit all dieser Identitätsfacetten hin. Auerbach löste sich niemals vom Judentum. Ähnlich wie bei Oppenheim zeigte sich in seinen Werken eine Vereinbarkeit von zeitgenössischem, modernisierten und traditionellem, voremanzipatorischen Judentum. Auerbach wurde zu einer Zeit als Schriftsteller aktiv, als viele Juden von Nostalgie nach der von ihnen verlassenen Ghettowelt bzw. der sog. jüdischen Gasse ergriffen wurden. Ihnen war bewusst, dass ihre Verbürgerlichung sie von (ihrem Verständnis von) traditionellem Judentum entfremdete. So schrieb Auerbach in Spinoza, seinem ersten Ghettoroman aus dem Jahre 1837, dass »das jüdische Leben … nach und nach (zerfällt), ein Stück nach dem anderen sich ab(löst); … Wehmut ergreift uns, wenn wir diese Vergangenheit betrachten.« Auerbach bezieht sich auf ein Gefühl des Verlustes, das durch das Verschwinden eines vertrauten jüdischen Milieus entsteht. Diese emotionale Befindlichkeit wird auch in Oppenheims Sabbatzyklus angesprochen. Berthold Auerbach kann sowohl der Volksliteratur zugeordnet werden wie auch der Ghettoliteratur. Wenn er zu den Ghettoliteraten gezählt wird, dann aufgrund zweier historischer Novellen. Neben dem bereits erwähnten Spinoza, der im Amsterdam des 17. Jahrhunderts spielt, weist sein Dichter und Kaufmann in das
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Deutschland des 18. Jahrhunderts. Er fokussiert darin auf eine relativ rezente Vergangenheit des aschkenasischen Judentums, mit deren Alltagskultur viele seiner jüdischen Zeitgenossen gut vertraut zu sein meinten. Mit seiner positiven Skizzierung der jüngeren Geschichte versucht Auerbach, Judentum und Moderne miteinander zu versöhnen. Heinrich Heine (1797–1856) Auerbach mag zu seiner Zeit wegen seiner schriftstellerischen Leistungen berühmt gewesen sein. Heute wird seine Bekanntheit eindeutig von der Heinrich Heines überschattet. Wollte Auerbach als Deutscher und Jude, und nichts davon ohne das andere, wahrgenommen werden und schrieb er sich in einer Weise in die deutsche Literatur ein, dass Jacob Grimm seine Ansicht, Juden könnten das deutsche Wesen nie verstehen, revidieren musste, so war Heines literarisches Schaffen noch viel stärker mit der deutschen Kultur verbunden. Selbst die Nationalsozialisten konnten nicht alle seine Texte aus dem deutschen kulturellen Erbe tilgen. Seine Lorelei blieb nach 1933 Teil des deutschen Liedgutes, auch wenn Heines Name als ihr Verfasser nicht mehr genannt werden durfte. An diesem Beispiel wird einmal mehr ersichtlich, dass Juden und Nichtjuden gemeinsam an kulturellen Prozessen beteiligt waren und gemeinsam Kultur schufen. Das literarische Schaffen von Heine ist in mehrerer Hinsicht einzigartig. Mit seinem Buch der Lieder, das 1827 erschien, wurde er zum bekanntesten Dichter Deutschlands nach Goethe. Verschiedene angesehene Komponisten, darunter Franz Schubert (1797–1828), Franz Liszt (1811–1886) und Johannes Brahms (1833–1897), vertonten seinen Text. Selbst Wagners Opern blieben von Heine nicht unbeeinflusst. Und ihm gelang noch etwas anderes: Er entband die deutsche Literatur, die in den Jahren davor entstanden war, vom Gefühlsüberschwang, vom Pathetischen und Schwülstigen, das in der Romantik seine Wurzeln hatte. Heines Rabbi von Bacherach wird häufig als erste Ghetto-Geschichte bezeichnet. Er bemüht sich darin, die oftmals miserablen
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Existenzbedingungen der deutschen Juden im Mittelalter in Romanform zu beschreiben. Aber war er deswegen auch ein jüdischer Schriftsteller? War er mit seinem Buch der Lieder ein deutscher Schriftsteller? Wieder einmal, wie bereits bei den Malern, wird man bei Heine eine vielgestaltige Identität annehmen müssen, die kontextabhängig war und performativ zum Ausdruck kam. Nach Lion Feuchtwanger kann Heine wie eine Zwiebel geschält werden, auf eine (Persönlichkeits-)Schicht folgt die nächste, und nur alle zusammen machen ihn aus. Er ließ sich heimlich taufen, verlor damit aber nicht seinen Bezug zum Judentum. Er selbst meinte, dass er zwar getauft, aber nicht konvertiert sei. In diesem Sinne ist es schwierig, Heine eindeutig einzuordnen. Ghettoliteratur Verbreitet gilt, dass mit Berthold Auerbach die deutschen Territorien zur Geburtsstätte des Ghettoromans wurden. Trotzdem entstanden dort nur sehr wenige Werke. Vor allem in Bezug auf ihre Rezeption sind sie mit nachfolgenden Publikationen böhmisch-mährischer Provenienz, so eines Leopold Kompert, oder von galizischen Autoren wie Leo Herzberg-Fränkel oder Karl Emil Franzos, kaum vergleichbar. Vor 1848 gab es in Deutschland neben Auerbach nur einen weiteren Ghettoschriftsteller, den 1841 zum Protestantismus konvertierten Hermann Schiff, einen Vetter Heinrich Heines. Er wurde als David Bär Schiff geboren und sollte der einzige getaufte Ghettoschriftsteller bleiben. Er spezialisierte sich nicht auf dieses Genre, und seine Arbeiten zur Ghettoliteratur sind gegenüber seinen anderen Publikationen eher zweitrangig. Und im Vergleich zu seinem Cousin Heine trat er mit viel größerer Überzeugung zum Christentum über. Er blieb aber Zeit seines Lebens gegenüber dem Judentum ambivalent. In dieser Verfassung schrieb er Hundert und ein Sabbath sowie SchiefLevinche mit seiner Kalle oder Polnische Wirthschaft, worin er sich mit orthodoxem Judentum auseinander setzte. Im erstgenannten Roman stellt er es dem Reformjudentum gegenüber, und in letzterem christlichem Fanatismus.
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Für die zweite Jahrhunderthälfte können noch einige weitere deutsche Ghettoliteraten genannt werden. Zu ihnen zählt Aron Bernstein (1812–1884), der in Posen eine traditionelle jüdische Erziehung genoss und in den 1830er Jahren nach Berlin kam. Dort wurde er zum Mitbegründer der lokalen jüdischen Reformgemeinde. 1857 verfasste er die Ghettonovelle Vögele der Maggid, in der er ein Miteinander von Juden und Nichtjuden beschreibt, das frei von Friktionen und Auseinandersetzungen ist. Neben Bernstein sind auch einzelne orthodoxe Ghettoschriftsteller zu erwähnen, zu denen vor allem Herz Ehrmann, Isidor Borchardt und Arthur Kahn gehören. Letzterer war der einzige Autor, der jüdische Existenz in den rheinischen Gemeinden schildert. Ehrmann wiederum legt sich geographisch überhaupt nicht fest, sondern siedelt seine Erzählungen in der Vergangenheit an und lässt in seine Texte talmudische Unterhaltungen und Bibelkommentare einfließen. Wie bereits in den Ausführungen über Musik und Malerei angeklungen ist, so stellt sich auch auf dem Gebiet der (Ghetto-)Literatur häufig die Frage, wann und in welchem Maße sie als jüdisch bezeichnet werden kann. Sie muss nicht nur im Hinblick auf den getauften Schriftsteller Hermann Schiff aufgeworfen werden, der immer wieder betonte, dass er keine jüdische Erziehung genossen habe, sondern auch auf einige galizische Ghettoschriftsteller, wie beispielsweise Leopold von Sacher-Masoch (1836– 1895), Eliza Orzeszkowa (1842–1919) und Alfred Steuer, die alle drei nichtjüdisch waren. Orzeszokowa wurde in Deutschland sowohl von Nichtjuden als auch Juden rezipiert, und einige von Sacher-Masochs Werken wurden in der jüdischen Presse, selbst in ihrer orthodoxen Variante, dem Israelit, begeistert besprochen. Wie wird in diesem Zusammenhang das Jüdische verstanden? An der Religionszugehörigkeit oder gar der Herkunft der Autoren kann es unmöglich liegen. Eine Antwort darauf könnte lauten, dass es mit der behandelten Thematik in Zusammenhang steht. Das bedeutet, dass auch Nichtjuden jüdische Literatur verfassen können und tatsächlich geschrieben haben. Der vielleicht wichtigste Autor auf dem Gebiet der Ghettoliteratur, zumindest jener, der sie überaus populär machte und end-
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gültig als eigenes Genre etablierte, war Leopold Kompert (1822– 1886). Er wurde in Münchengrätz in der Nähe von Austerlitz geboren, und seine Geschichten spielen in dieser Landschaft. 1848 trat er mit seinem Werk Aus dem Ghetto an die Öffentlichkeit, das sofort zu einem Erfolg wurde. Drei Jahre später folgten seine Böhmische Juden, 1860 Neue Geschichten aus dem Ghetto, und den Abschluss bildeten Geschichten einer Gasse (1864). Seine Texte wurden begeistert aufgenommen und fanden eine breite Leserschaft. In der Folge wurden sie in eine Reihe fremder Sprachen übersetzt. Kompert widmete sich ausschließlich vormodernem Judentum. Mit seinem Rückgriff auf die Vergangenheit gelang es ihm, voremanzipatorisches Judentum aufzuwerten und dessen Werte mit jenen der Moderne als vereinbar zu skizzieren. Traditionelles Judentum ist nach Kompert die Wiege des ›verbürgerlichten‹ Judentums des 19. Jahrhunderts, und zwischen ihnen gibt es keine fundamentale Kluft. Diese Sichtwiese kommt auch in Komperts Einbettung eines bürgerlichen Familienkonzeptes in das vormoderne Judentum zum Ausdruck. Komperts große Resonanz bedeutet nicht, dass er keine Kritiker hatte. Nicht wenige seiner Leser monierten einzelne Aspekte seiner Arbeit. Von einigen Juden wurde bisweilen geäußert, dass keine Komponente von Komperts Ghettoschilderungen der Realität entspreche und nichts daran authentisch sei. Andere stießen sich an Komperts Hervorhebungen sog. jüdischer Merkwürdigkeiten und bemängelten an seinen Arbeiten, dass er jüdisches Leben zu wenig mit universellen Prinzipien in Übereinstimmung bringe. Nichtjüdische Rezensenten wiederum sahen in seinem Werk bisweilen einen Abgesang auf das Judentum. Seine Schilderungen des historischen Ghettos, so meinten sie, habe dieses endgültig der Vergangenheit überantwortet, und mit ihrem Verzicht auf eine Ghettoexistenz seien Juden nunmehr bereit, ihr Judentum abzulegen. Trotz dieser Kritiken und eigenwilligen Interpretationen trug Kompert zu einem Lesepublikum aus Juden und Nichtjuden bei. Es hatte an gemeinsamen literarischen Erfahrungen teil und formte dadurch eine Lesegemeinschaft. Deren
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Mitglieder kannten einander zwar nicht, konnten sich aber miteinander verbunden fühlen. Ähnlich wie Kompert transzendierte auch Leopold von SacherMasoch (1836–1895) nationale und ethnische Grenzen. Er wurde im galizischen Lemberg als Sohn eines Arztes geboren und wurde als Kind ruthenisch, französisch und deutsch gelehrt. In seinen Ghettogeschichten überträgt er seine Mehrsprachigkeit auf seine jüdischen Protagonisten, die sich der Lektüre deutscher und polnischer Lektüre widmen. In der Realität wurde das Lesen säkularer Texte in diesen Sprachen von einem Großteil der galizischen Juden jedoch noch immer rigoros abgelehnt, ähnlich wie es einige Jahrzehnte zuvor in den deutschen Territorien der Fall gewesen war. In diesem Sinne hatten Sacher-Masochs Erzählungen einen stark fiktionalen Charakter bzw. zeichneten sich durch einen verzerrten Wirklichkeitsbezug aus. Sacher-Masoch schrieb zwar primär für ein nichtjüdisches Publikum, und seine Arbeiten wurden in nichtjüdischen Zeitschriften veröffentlicht. Aber jüdische Medien druckten sie nach. Seine Ghettogeschichten fanden selbst in orthodoxen jüdischen Veröffentlichungen ausführliche positive Besprechungen. Damit trug er ebenfalls zu einem Juden und Nichtjuden umfassenden Lesepublikum bei, das Leseerfahrungen miteinander teilte. SacherMasoch unterscheidet sich von jüdischen Ghettoschriftstellern in der Behandlung weiblicher Charaktere, die in seinen Texten einen stark erotischen Reiz ausüben und in der Anbahnung amouröser Beziehungen bisweilen auch initiativ werden. Üblicherweise werden Frauen in der Ghettoliteratur als asexuelle Personen skizziert, die sich um den Lebensunterhalt ihrer Familien sorgen, damit sich ihre Männer dem Talmudstudium widmen können. In der Behandlung der Chassidim, einer Gruppe ultraothodoxer Juden, ist zwischen Sacher-Masoch und anderen galizischen Schriftstellern ebenfalls eine Differenz festzustellen. Er steht ihnen positiv gegenüber und betont ihre humane Haltung. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bahnte sich allgemein eine neue Haltung der in Zentral-und Westeuropa lebenden Juden gegenüber der osteuropäischen Judenschaft an. Die
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Annahme, dass eine Modernisierung von Judentum zu einer gesellschaftlichen Anerkennung von Juden durch die nichtjüdischen Gesellschaftsteile führe, wurde zunehmend für unrichtig gehalten. In der Folge verlor die Gegenüberstellung von modernisierungsbereitem Westjudentum und in der Strenggläubigkeit verharrendem Ostjudentum an Bedeutung. Diese Tendenz kommt auch in der Ghettoliteratur, vor allem in den literarischen Werken von Karl Emil Franzos (1848–1904) zum Ausdruck. Franzos, der wie Sacher-Masoch in Galizien geboren wurde und in Berlin verstarb, ist der meistgelesene Ghettoschriftsteller, und er war unter Juden wie auch Nichtjuden bekannt und beliebt. Er zeigte eine große Affinität zur deutschen und deutsch-österreichischen Kultur, vor allem zur deutschen Sprache, und wandte sich gegen jüdische Exklusionsbestrebungen, die von orthodoxen religiösen Kreisen bisweilen verfolgt wurden. Wie viele andere Schriftsteller, so trat auch Franzos für enge interkulturelle Kontakte ein. Dies fand vor allem in seiner Geschichte Schiller in Barnow, in der er deutschjüdisch-polnische Interaktionen skizziert, seinen Niederschlag. Liebesromane Ein Jahr nach dem Erscheinen der ersten Folge von Phöbus Philippsons Die Marranen veröffentlichte sein Bruder Ludwig seine erste Liebesgeschichte in der von ihm edierten Allgemeinen Zeitung des Judentums. Der Kurzroman, der unter dem Titel Die Gegensätze erschien, behandelt vor dem Hintergrund einer romantischen Liebesheirat die Vereinbarkeit von traditionellem Judentum und einem Leben in der modernen Gesellschaft. Weitere Novellen von Philippson wie auch Werke anderer jüdischer Autoren beschäftigen sich ebenfalls mit dem Gefühlsleben junger Juden. Deren Heirat einer selbstgewählten (jüdischen) PartnerIn wird mit einer Festigung ihrer Identifikation mit dem Judentum gleichgesetzt. In diesem Sinne hatten die Romane eine klare ideologische Funktion. Sie sollten die Bedeutung einer Reform der Alltagskultur, konkret der Durchsetzung der Liebesheirat, vor Augen führen.
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Die Liebesgeschichten verbreiteten die bereits von der Haskalah gestellten Forderungen nach einer Aufgabe arrangierter Eheschließungen unter Juden. Ideen, die vor einigen Jahrzehnten noch weithin als unrealisierbar gegolten hatten und nur von einigen wenigen Intellektuellen vorgetragen worden waren, wurden nunmehr von einem populären Medium aufgegriffen und fanden dadurch Zugang zu einer breiteren jüdischen Öffentlichkeit. Aber anders als von vielen radikalen Aufklärern bezweckt sollte die freie Gattenwahl in den literarischen Texten nicht unbedingt mit einer Abkehr von der religiösen Strenggläubigkeit einhergehen. Vielmehr galt sie als Garant für eine Aufrechterhaltung jüdischer Werte in der Moderne. Ein weiterer Punkt, in dem die Übernahme von Intentionen der Haskalah oder der Wissenschaft des Judentums durch den Liebesroman zum Ausdruck kam, bestand in den Bemühungen, von Nichtjuden stammenden Charakterisierungen von Juden eigene Darstellungen entgegenzustellen. Das war beispielsweise das Anliegen von Salomon Formstecher (1808–1889), einem Reformrabbiner, der 1863 seinen Roman Buchenstein und Cohnberg: Ein Familiengemälde aus der Gegenwart veröffentlichte. Das Werk gilt als Gegenentwurf zu Gustav Freytags Soll und Haben, das jüdischen Geschäftsgeist mit bürgerlichen Werten kontrastiert. Formstecher, und mit ihm eine zahlenmäßig kräftig wachsende Judenschaft, besaß ein genügend ausgeprägtes Selbstbewusstsein, um auf solche antijüdischen Verzerrungen mit positiven Präsentationen von Judentum zu reagieren. Häuslichkeit, Familienleben und Liebesheirat, wichtige bürgerliche Standards, wurden als zentrale jüdische Werte skizziert, deren Einhaltung den Bestand von Judentum sicherten. Gleichzeitig wurde auch traditionelles Judentum als mit diesen Aspekten vereinbar verstanden. Anders als die Ghettoromane waren die Liebesromane aber nicht für ein allgemeines Publikum bestimmt, sondern auf jüdische Leser zugeschnitten. Jüdische Literatur gewährt nicht nur Einblick in ein neues Denken der Juden, das sich innerhalb weniger Jahrzehnte vollzog, sondern zeigt auch innerjüdische Kämpfe und Konflikte auf. Bei
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Weitem nicht alle jüdischen Schriftsteller priesen den bürgerlichen Wertekanon. Bisweilen erschienen auch Werke, die den ›Kult der Häuslichkeit‹ und den Sinn des Ehelebens kritisierten, was beispielsweise durch Rahel Meyer geschah. Geboren 1806 in Danzig, verbrachte sie eine Zeit ihres Lebens in Wien und zog dann nach Berlin. In ihrem 1853 erschienenen Roman Zwei Schwestern hinterfragt sie das Glück, das eine Heirat und Familienleben mit sich brächten, und bezweifelt, dass dessen Erfahrung möglich wäre, bevor Juden eine allgemeine Gleichberechtigung erhielten. In In Banden frei, einem Bildungsroman von 1865, stellt sie weibliche Selbstbestimmung sogar als wichtigeres Ziel als eine Eheschließung dar. Obwohl sie ihre Geschichte in eine jüdische Lebenswelt einbettet und diese nicht verlässt, nimmt sie eine Position ein, die mit der bürgerlichen Orientierung des zeitgenössischen Judentums kontrastiert. An all diesen Werken, ob in ihnen eine Identifikation mit oder eine kritische Distanz gegenüber dem bürgerlichen Wertehorizont zum Ausdruck kommt, wird der geistige und alltagskulturelle Umbruch offenbar, den Juden im 19. Jahrhundert erfuhren. Sie zeigen auch, dass es seit der Haskalah unterschiedliche Vorgaben für eine als ideal und wünschenswert vorgestellte Lebensführung gab, die allesamt von nichtreligiösen geistigen Autoritäten stammten. Novellen und Romane, vor allem wenn sie in den Zeitungen abgedruckt wurden, waren ein herausragendes Medium, um neue alltagskulturelle Orientierungen vorzustellen. Der literarische Umgang mit Antisemitismus Der Antisemitismus, der im ausgehenden 19. Jahrhundert stark zunahm, spielte bei jüdischen Schriftstellern, die weitgehend in der allgemeinen Kultur verankert waren und blieben, ebenfalls eine große Rolle. Er verschonte auch sie nicht, und sie mussten sich, gewollt oder ungewollt, mit ihm auseinander setzen. Es gab drei voneinander unterscheidbare Formen des Umgangs mit ihm. Vor allem die ersten beiden Ansätze spiegeln eine enge jüdischnichtjüdische kulturelle Verflechtung wider, indem sie anzeigen,
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wie sehr Juden sich mit den Augen von Nichtjuden betrachteten, d. h. deren Vorstellungen über Juden übernahmen. Eine erste Reaktion auf die antijüdischen Vorurteile bestand in deren Projektion auf die Ostjuden oder orthodox lebende deutsche Juden. Sie wurden als ein Typus skizziert, der in vielerlei Hinsicht die Vorgaben für ein als gesittet erachtetes Verhalten verletzte und dadurch Judenfeindschaft hervorrief. Die innerjüdische Distanzierung wird beispielsweise in Die Juden von Zirndorf (1897) von Jakob Wassermann behandelt, in Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie (1908), Auguste Hauschners Die Familie Lowositz, Adolf Dessauers Großstadtjuden (1910), Max Brods Jüdinnen (1911) oder auch in Jettchen Gebert (1906) von Georg Hermann, der zu seiner Zeit auch als ›jüdischer Fontane‹ bezeichnet wurde. Eine zweite Strategie des Umgangs mit antijüdischen Imaginationen bestand in deren Adoption, gleichzeitig aber Umkehrung des judenfeindlichen Inhalts. Negativ bewertete Eigenheiten, die Juden angeblich kennzeichneten, wurden positiv konnotiert und als jüdische Charakteristika akzeptiert, während gleichzeitig Verhaltensweisen, die als typisch nichtjüdisch-deutsch galten, als ein Defekt gedeutet wurden. Dieser Umgang mit Vorurteilen, der vor allem auch die Neubestimmung von jüdischer Identität im Rahmen der jüdischen Renaissance kennzeichnete, ist exemplarisch an der Selbstbeschreibung der jüdischen Autoren als Orientalen ablesbar. Die Behauptung, dass Juden Eindringlinge nach Europa seien und nach Asien gehörten, hatte die Diskussion über sie seit dem frühen 19. Jahrhundert bestimmt. Wie bereits erwähnt, hatte bereits Johann Gottfried Herder Juden als »asiatisches Volk« bezeichnet. Diese Auffassung wie auch die mit ihr verbundenen abwertenden Assoziationen, wonach Asiaten oder Orientalen nomadisch, unzivilisiert, primitiv und sinnlich-wollüstig seien, setzten sich in den darauffolgenden Jahrzehnten immer stärker durch. Im Zuge der Neuauslegung diskriminierender Begriffe wurden sodann die Bezeichnung ›Asiate‹ bzw. ›Orientale‹ wie auch dessen angebliche Eigenheiten positiv gewertet. Beispielhaft wurde das neue Verständnis von orientalisch von Max Brod ver-
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wendet, als er über Gustav Mahler meinte, dass der Marsch-Rhythmus, der gelegentlich in seinen Kompositionen zu hören sei, an chassidische Lieder erinnere; obwohl Mahler nie ostjüdische Volkslieder gehört habe, habe er aus dem Urgrund seiner jüdischen Seele, die eine orientalische Seele sei, geschöpft. Das Orientalische war nicht mehr das Imitierende, Passive, sondern hatte eine schöpferische Funktion. Nach Brod ist das ›orientalische Wesen‹ in Mahler der Hauptgrund für seine musikalische Genialität. Mit diesem Zusammenhang versuchte er, Wagners Vorurteil, dass Juden unmusikalisch seien, zu entkräften. Er stimmte mit ihm auch darin überein, dass Juden eine eigene Sprache hätten, die beim Singen oder in der Musik immer wieder vernehmbar sei. Aber diese Zuschreibung wurde nicht mehr als nachteilig gewertet. Eindrucksvoll kommt die neue Umschreibung des Orientalischen auch in Jud Süß (1925) von Lion Feuchtwanger (1884–1958) zum Ausdruck. Mit dem Werk, das – in Anlehnung an Alfred Döblins (1878–1957) Wallenstein (1920) – dem Genre des historischen Romans nach Jahren des Niedergangs wieder zum Durchbruch verhalf, wollte Feuchtwanger der Leserschaft die Nachteile einer ›europäischen Machtorientierung‹ zugunsten eines ›asiatischen Handlungsverzichts‹ vor Augen führen. Else Lasker-Schüler oder der österreichische Dramatiker und Lyriker Richard Beer-Hofmann (1866–1945) können ebenfalls als Beispiele von Literaten/innen angeführt werden, die sich mit einem jüdisch-orientalischen Wesen identifizierten. Bei LaskerSchüler dürfte es sich dabei um eine Reaktion auf antisemitische Erfahrungen gehandelt haben, mit denen sie bereits als Kind konfrontiert war. Ihre Hochschätzung des Orientalischen ist beispielhaft in ihren Hebräischen Balladen (1913) erkennbar und zeigte sich häufig auch in ihrem Alltagsleben, beispielsweise indem sie sich in der Öffentlichkeit einen Turban aufsetzte. Neben seiner Akzeptanz des Orientalischen hing Beer-Hofmann, wie an seinem Gedicht Schlaflied für Mirjam ablesbar ist, auch der Vorstellung an, dass Judesein etwas ethnisch Verhaftetes sei, das durch das ›Blut‹ über Generationen weitergegeben werde. In diesem
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Punkt gibt es zwischen Beer-Hofmann und Buber eine geistige Verwandtschaft. Aber ebenso wenig wie Lasker-Schüler gilt BeerHofmann vornehmlich als Literat der jüdischen Renaissance, vielmehr ganz allgemein als ein österreichisch-jüdischer Schriftsteller. Er selbst bezeichnete sich als Jude wie auch als Österreicher. Nichtsdestotrotz ist an ihm wie auch anderen jüdischen Schriftstellern, die in der allgemeinen Kultur fest verankert waren, ersichtlich, dass sich die Tendenzen der jüdischen Renaissance in ihren Werken widerspiegeln, gleich wie sich in ihr Strömungen der allgemeinen Kultur finden. Die dritte Form des literarischen Umgangs mit antijüdischen Stereotypen bestand in deren Annahme und konzentriertem Ausleben. Zu den Werken, die eine Performance des als jüdisch Erachteten beschreiben, gehören beispielsweise Max Brods Roman Schloß Nornepygge (1908) oder auch Joseph Roths Zipper und sein Vater (1928). Arnold Zipper versucht in dieser Erzählung, mit seinen existenziellen Fehlschlägen, wozu u. a. seine gescheiterte Ehe und berufliche Misserfolge gehören, zurande zu kommen, indem er in die Rolle eines Clowns schlüpft und dabei seine Selbstverachtung zum Thema macht und betont. Im Weiteren sind auch Texte von Jakob Wassermann (Der Fall Maurizius, 1928) oder Elias Canettis Die Blendung (1935) zu nennen. Darin beschreibt der 1905 im bulgarischen Russe geborene Schriftsteller den Hauptprotagonisten Fischerle als buckligen, zwerghaften Betrüger und Schwindler. Sowohl dessen physische Deformation wie auch Charakter weisen eine Übereinstimmung mit feindseligen Zuschreibungen an Juden auf. Es ist aber gerade die mangelnde Subtilität in der Beschreibung der jüdischen Charaktere, die Überzeichnung des als jüdisch Erachteten, die eine Distanz zwischen dem Autor und dem Protagonisten schaffen und die Vorstellung des Jüdischen ins Groteske verzerren.
Juden im öffentlichen Raum Im späten 19. und vor allem um die Wende zum 20. Jahrhundert suchten Juden zunehmend öffentliche Räume auf. Sie setzten damit einen Trend fort, der mit der Abkehr von ihrer traditionellen religiösen Lebensführung in der voremanzipatorischen Zeit begonnen hatte. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewann diese Entwicklung an neuer Dynamik und Qualität. Hatten Juden in den vorangegangenen Jahrzehnten eine nichtreligiöse jüdische Identität vor allem im privaten und halböffentlichen Raum gepflegt, vornehmlich in der Familie oder in jüdischen Vereinen, so wurde die Bestimmung von Judesein nunmehr zunehmend auch in den öffentlichen Raum verlagert. Juden verbrachten immer mehr Zeit im Theater, Café, beim Spaziergang, oder sie vergnügten sich bei allgemeinen populärkulturellen Vorstellungen, also immer auch in Gegenwart von Nichtjuden. Die unmittelbaren Bezugspersonen mussten nicht mehr aus dem erweiterten Familienkreis oder der jüdischen Gemeinde kommen, sondern konnten auch Nichtjuden umfassen. Das geänderte Freizeitverhalten hatte Auswirkungen auf jüdisches Selbstverständnis. Jüdische Identität wurde neu verhandelt und jüdisches Selbstbewusstsein wandelte sich infolge des verstärkten Miteinanders von Juden und Nichtjuden. Das heißt aber nicht, dass deren Verhältnis in jedem Fall harmonischer wurde. Größere Nähe kann auch zu verstärkten Friktionen führen, und dafür gibt es eine Reihe von Belegen. Im Berliner Revuetheater Metropol fand der unterdrückte Groll von einigen seiner nichtjüdischen Besucher über die starke Präsenz von Juden anlässlich eines Maskenballs im Jänner 1902 ein Ventil, als James von Bleichröder, ein Sohn des bekannten jüdischen Bankiers Gerson von Bleichröder, von einem Gast antisemitisch beschimpft wurde. Die Szene artete in eine Rauferei und einen größeren Tumult aus. Dass andere Nichtjuden sich aber auf die Seite von James von Bleichröder stellten und damit ausdrückten, dass sie das jüdisch-nichtjüdische Miteinander schätzten, zeigt wiederum, dass die neuen Kontaktzonen durchaus auch positiv gesehen wurden.
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Bisweilen hatten die häufigeren Begegnungen von Juden und Nichtjuden aber keine merkbaren Auswirkungen auf ihre Beziehungen. Obwohl beide die gleichen öffentlichen Räume aufsuchten, blieben sie weitgehend unter sich. Juden mochten dasselbe Café wie Nichtjuden frequentieren, ihre Zeit verbrachten sie dabei aber eher in Geselligkeit anderer Juden. Die verstärkte Gegenwart von Juden im öffentlichen Raum bahnte sich bereits vor der Mitte des 19. Jahrhunderts an. Juden in Kaffeehäusern waren bereits in den 1830er Jahren keine Seltenheit mehr, auch wenn ihnen zu dieser Zeit noch leichter und öfter als in späteren Jahrzehnten Missgunst gegen ihr Eintauchen in die allgemeine öffentliche Sphäre entgegenschlug. Eine andere Art der Bemächtigung des öffentlichen Raumes war der Spaziergang. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war das nicht zielgerichtete Herumwandern auf der Straße bereits eine beliebte Art der Freizeitgestaltung. Es bildete sich sogar ein eigener Typ des Spaziergängers heraus, den Charles Baudelaire im Jahre 1846 als Flâneur, der der Held des modernen Lebens sei, beschrieb. Baudelaire lenkte damit den Blick nicht nur auf den Spaziergang als ein immer prägenderes Freizeitverhalten, sondern skizzierte mit dem Flâneur einen lustwandelnden Müßiggänger, der sich zwar vom Treiben auf der Straße anstecken ließ, aber nicht Teil der dahinschlendernden Menschen war. Er blieb inmitten der Masse ein Solitär, ging in der Gruppe nicht auf. Er beobachtete, ließ sich sehen und grüßte, ohne mit einzelnen Personen in näheren Kontakt zu treten. Damit zeigte sich auch beim Spaziergang, dass das Aufsuchen des öffentlichen Raumes, das Herumwandern auf den neu errichteten Prachtstraßen der urbanen Zentren, nicht unbedingt in Gefühle der Gemeinschaft der Menschen münden musste. Juden und Nichtjuden spazierten in ihrer Freizeit auf der Berliner Friedrichstraße, am Hamburger Jungfernstieg oder am Wiener Ring. Das hieß aber nicht unbedingt, dass sie das miteinander machten. Die Spaziergänger waren nicht nur auf den städtischen Boulevards zu finden, sondern auch in den Parkanlagen, wo oftmals populärkulturelle Veranstaltungen stattfanden. Ein illuminieren-
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des Beispiel für einen solchen Ort, der Spaziergang und die Möglichkeit zur Unterhaltung vereinte, war der Wiener Prater. Dort traf man regelmäßig einen bekannten jüdischen Flâneur, den Schriftsteller Peter Altenberg. Von ihm stammt übrigens der einzige ethnographische Bericht über exotische Ausstellungen im Prater, ein Meisterwerk des beobachtenden Erzählens. Juden und Nichtjuden verbrachten im Prater ihre Freizeit, genossen das bunte Treiben, vergnügten sich in den populärkulturellen Einrichtungen und frequentierten dann häufig doch nur Gasthöfe, wo sie ihre alten Bekannten wiedersahen. Antisemiten trafen sich gerne in der sog. Ansbacher Bierhalle, während Juden nicht weit davon entfernt in einem Gasthof zusammenkamen, wo sie unter sich blieben. Das einander ähnelnde Freizeitverhalten von Juden und Nichtjuden und die gemeinsame Besetzung des öffentlichen Raumes führte somit zu einer größeren Nähe zwischen ihnen, was auf ihre Identität große Auswirkungen haben konnte. Sie bedeutete aber nicht, dass in jedem Fall auch die Schranken zwischen ihnen fielen. Häufig wurde die gewohnte Distinktion einfach neu ausgehandelt. Juden in der Populärkultur Populare Kultur, die mit Unterschichten identifiziert wird, hat es als Kontrast zur Hochkultur so lange wie diese gegeben. Der im Folgenden verwendete Begriff der Populärkultur bezieht sich aber nicht auf eine bestimmte soziale Gruppe als Konsumenten, sondern bezeichnet die Beliebtheit von Kulturproduktionen unter grundsätzlich allen gesellschaftlichen Schichten und Klassen. Zwischen Massenkultur, deren Beginn gewöhnlich erst in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts angesetzt wird und deren zentrales Produkt der Film darstellt, und Populärkultur wird auf den folgenden Seiten kein Unterschied gemacht. Populär- bzw. massenkulturelle Einrichtungen waren allen Menschen zugänglich und gehörten zu den öffentlichen Räumen. Sie dienten Juden und Nichtjuden als wichtige Kontaktzonen. Zu
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den bedeutendsten populärkulturellen Einrichtungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert zählte der Zirkus. Juden wie auch Nichtjuden gehörten zu den bekannten Zirkusunternehmern, bildeten das Publikum und stellten auch viele Akteure. Namen jüdischer Zirkusse wie Blumenfeld, Lorch und Strassburger, die heutzutage fremd klingen und kaum mehr mit der Zirkuswelt assoziiert werden, galten einst als Garant für spannende Unterhaltung und atemberaubende akrobatische Vorstellungen, und das bei jüdischen wie auch nichtjüdischen Zuschauern. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gab es zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Zirkussen, zu denen der auch gegenwärtig noch bekannte Zirkus Krone oder der Zirkus Stosch-Sarrasani gehörten, einige gewichtige Unterschiede. Während Letztere stationär waren und an einem Ort verblieben, waren jüdische Unternehmungen Wanderzirkusse. Sie besaßen zwar ein Winterquartier, waren die restliche Zeit des Jahres aber auf der Straße und unterhielten Menschen auch in kleineren Orten. Das hatte unmittelbare Folgen auf die jeweiligen Aufführungen. Nichtjüdische, stationäre Betriebe griffen auf einen gleichbleibenden Besucherpool zurück und waren deswegen gezwungen, in ihren Darstellungen innovativ zu sein und ihr Programm öfters zu ändern. Nur dann konnten sie Menschen, die schon einmal unter den Zuschauern gewesen waren, ein weiteres Mal zu den Vorstellungen locken. Nichtjüdische Zirkusse verließen sich stärker als jüdische Unternehmungen auf technische Spektakel, um ein Publikum zu begeistern. Diese konnten schneller geändert werden als artistische Leistungen, die von den Akteuren oft jahrelang eingeübt werden mussten. Jüdische Zirkusse griffen zudem häufig auf die Tierdressur zurück. Im Mittelpunkt der Aufführungen stand das Pferd, das im 19. Jahrhundert zuvorderst mit Großgrundbesitzern, dem Adel und der Armee assoziiert wurde, also mit gesellschaftlichen Gruppen, zu denen Juden bis zur Emanzipation kaum und später auch nur beschränkt Zugang hatten. Jüdische Zirkusvorstellungen schufen damit eine Welt, in der es diesen Ausschluss nicht mehr gab, in der Juden sich sehr wohl Symbole sozialer Zugehörigkeit, die ihnen lange Zeit verwehrt worden waren, zu eigen machen konnten.
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Die Herstellung einer fiktiven Welt, in der Juden keine Benachteiligungen zu gewärtigen hatten, zeigte sich auch im weitgehenden Verzicht jüdischer Zirkusse auf Werbemaßnahmen für ihre Vorstellungen. In der Vergangenheit waren Bemühungen im Wirtschaftsleben, durch Reklame auf die eigenen Leistungen aufmerksam zu machen, lange Zeit verpönt gewesen. Nur marginalisierte Gruppen machten davon Gebrauch, während respektable Berufe ohne diese auskamen. Wie bei der Pferdedressur übernahmen jüdische Zirkusse diese in der Zwischenzeit allerdings eher antiquierte Haltung. Sie imaginierten eine Teilhabe an gesellschaftlichen Milieus, von denen sie in der Vergangenheit exkludiert gewesen waren. Gleichzeitig gab es in dieser Welt keine Spuren einer bewussten oder betonten Jüdischkeit, und auch Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden blieben ausgeblendet. Damit unterschieden sich die jüdischen Zirkusse von anderen jüdischen Unternehmungen auf dem Gebiet der Populär- bzw. Massenkultur, die oftmals zu den Vorreitern neuerer Entwicklungen zählten und deren Judentum nicht nur nicht versteckt, sondern betont oder im Verein mit Nichtjuden einer neuen Umschreibung zugeführt wurde. Juden in der theatralen Unterhaltung Juden warteten mit unterschiedlichem populär- und massenkulturellen Engagement auf. Einerseits popularisierten sie kulturelle Aktivitäten, die bisweilen dem Inhalt und der Sprache nach eng mit ihrer traditionellen Alltagskultur verbunden waren, und machten sie auch einem nichtjüdischen Publikum zugänglich. Eine dieser Einrichtungen im Bereich der jüdischen Populärkultur, die aber auch von Nichtjuden aufgesucht wurde, stellte das jiddische Theater dar. Andererseits waren Juden auf dem Gebiet der allgemeinen Populär- und Massenkultur aktiv, und zwar als Produzenten, Akteure wie auch als Konsumenten. Zu den allgemeinen populär- und massenkulturellen Institutionen gehörten das Kabarett, das Varieté, das eine Unterhaltungsform aus Musik, erheiternden Präsen-
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tationen, zirkushaften Darbietungen von Tiergruppen und Artisten u. a. darstellte, oder auch das Revuetheater. Nicht zuletzt zählten dazu auch neue Formen der Konsumkultur, wobei vor allem das Warenhaus genannt werden kann. Das Aufkommen der Massen- und Populärkultur war ein Ergebnis intensivierter Kommunikation, eines beschleunigten Transportwesens sowie einer allgemeinen gesellschaftlichen Demokratisierung, die sich nun auch auf das Wirtschaftsleben, und damit auf die Kommerzialisierung von Kultur, ausdehnte. Die Modernisierung der jüdischen Lebenswelt im ausgehenden 19. Jahrhundert trug dazu bei, dass Juden an diesen kulturellen Prozessen bisweilen an vorderster Front teilhatten und sie zusammen mit Nichtjuden gestalteten. Die allgemeine Geschichtsschreibung hat jüdische populärkulturelle Aktivitäten, wie beispielsweise Aufführungen des jiddischen Theaters oder auch Vorführungen des Jargontheaters, weitgehend vernachlässigt. Der Grund dafür dürfte in der verbreiteten Annahme liegen, dass jüdische Populärkultur für Juden bestimmt gewesen sei und keine Relevanz für das allgemeine Kulturleben gehabt habe. Diese Vorstellung ist von jüdischen Historikern weitgehend gestützt worden. Ein genauerer Blick auf jüdische populärkulturelle Darbietungen lässt allerdings erkennen, dass sie nicht nur von Juden, sondern auch von Nichtjuden besucht wurden. Zusammen mit allgemeinen populärkulturellen Veranstaltungen waren sie wichtige Begegnungsorte, wo Juden und Nichtjuden miteinander interagierten. Indem sie gemeinsam Aufführungen beiwohnten, schufen sie auch einen geteilten Erfahrungsraum und konstituierten miteinander einen Ausschnitt von Realität. Dies musste nicht immer im gegenseitigen Einvernehmen geschehen, sondern konnte auch von Spannungen überlagert sein. Dabei bisweilen auftretende Konflikte ändern jedoch nichts am Umstand, dass Juden und Nichtjuden zunehmend gemeinsam öffentliche Räume besetzten und dabei zu einer neuen Form des Miteinanders fanden, was auf das Verständnis von Judesein große Auswirkungen hatte.
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Die jiddische Bühne und das Jargontheater Die ersten jiddischen Aufführungen in Zentraleuropa, vor allem in Berlin und Wien, fanden in den frühen 1880er Jahren statt. Das war schon bald nach Gründung des jiddischen Theaters durch Abraham Goldfaden im Jahre 1876 im rumänischen Jassy. Bei den in Berlin und anderswo auftretenden Akteuren handelte es sich um Schauspieler aus Osteuropa, die sich zu einer losen Truppe zusammengeschlossen hatten und von einer Stadt zur anderen zogen. Sie führten zumeist qualitativ anspruchslose Stücke auf, wobei viel improvisiert wurde. Das Ambiente der Vorstellungen war den Verhältnissen anderer Vorstadtbühnen ähnlich: Während der Darbietungen durften die Besucher essen, trinken und sich miteinander unterhalten. Die ungezwungene, aber geräuschvolle Atmosphäre erleichterte es dem Publikum, direkt auf das Vorgetragene zu reagieren und seine Eindrücke auf die gespielten Stücke zu artikulieren. Im Leipziger Tageblatt vom 17. 1. 1913 wird angemerkt, dass jiddische Darbietungen vor einem Publikum stattfinden, das sie »mit lebhaften Gebärden, mit Zwischenrufen des Erstaunens, Abscheues, Triumphes unter großem Beifall« begleitet. Unter die Äußerungen fallen auch Missfallensbekundungen über das Präsentierte, die sich unter den anwesenden Nichtjuden sehr schnell in judenfeindliche Artikulationen wandeln konnten. In einer Aufführung im Jahr 1881 in Berlin machten diese beispielsweise ihrem Unmut über Juden Luft und begannen, »Nieder mit den Juden« zu skandieren. Diese antworteten darauf mit »Nieder mit Stoecker“-Rufen, womit der antisemitische Hofprediger gemeint war. Solche antijüdischen Ausfälle kamen zwar nicht häufig vor, aber die Furcht davor war weit verbreitet. In Wien wurden deswegen die ersten Versuche, jiddische Stücke aufzuführen, von der ansässigen Judenschaft verhindert. Dieser Schritt konnte die Entwicklung des jiddischen Theaters lediglich verzögern, nicht jedoch unterbinden. Vor allem die verstärkte Zuwanderung von osteuropäischen Juden nach Zentraleuropa ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert garantierte ihm ein treues und zahlreiches Pub-
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likum. Auch die – besonders kommerziellen – Erfolge der jiddischen Bühne in den USA belebten die Theaterszene in Europa. Und letztlich ließen sich immer mehr intellektuelle und gesellschaftlich gutsituierte Juden, die sich zuvor über die unprofessionellen Aufführungen despektierlich geäußert hatten, von ihnen einnehmen und begeistern. Selbst Franz Kafka entdeckte das jiddische Theater für sich. Über die zunehmende Resonanz jiddischer Inszenierungen bei sozial gehobenen Bevölkerungskreisen gibt ein Artikel in der Wiener jüdischen Zeitung Die Wahrheit Auskunft, in dem am 2. 8. 1901 über Gastspiele eines jiddischen Theaterensembles unter der Leitung des einstigen Lemberger Theaterdirektors Gimpel berichtet wird. Darin wird nicht nur das hohe Niveau der Vorstellungen betont, sondern auch angeführt, dass ein »distinguiertes Publikum« anwesend gewesen sei und »reichen Beifall« gespendet habe. Während das jiddische Theater eine Zeitlang gegen sein schlechtes Image kämpfen musste und in den frühen Jahren seiner Existenz sich weitgehend auf jüdische wie auch nichtjüdische Unterschichten stützte, stieß das Jargontheater von Anfang an vor allem im Bürgertum auf Resonanz. Und im Gegensatz zu den jiddischen Aufführungen, die zumeist im ostjüdischen Milieu spielten, bezog sich das Jargontheater auf die zeitgenössische jüdische Gesellschaft Zentraleuropas. Diese wurde aber nicht als ein weitgehend abgeschlossenes, auf sich bezogenes Milieu skizziert, sondern als zur Gesamtgesellschaft gehörend dargestellt. Ethnische und kulturelle Minderheiten, und darunter natürlich auch Juden, wurden als Teil einer pluralen Gesellschaft verstanden. Das – wiederum jüdische und nichtjüdische – Publikum dürfte mit dieser Darstellung einverstanden gewesen sein. Antijüdische Tumulte, wie sie das jiddische Theater kannte, sind im Jargontheater nicht vorgekommen. Das Jargontheater unterschied sich vom jiddischen Theater nicht nur im Hinblick auf sein Publikum, sondern vor allem auch auf seine Sprache. Der Jargon war eine Mischung vordringlich aus Jiddisch und dem lokalen Dialekt nebst einigen anderen sprachlichen Einsprengseln. Dadurch waren die Aufführungen Nichtju-
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den jedenfalls leichter verständlich als das Jiddische. Wenn sie jiddische Aufführungen besuchten, wurde ihnen der Inhalt des Dargebotenen oftmals nur aus der Gestik, Mimik und dem Körpereinsatz der Schauspieler verständlich. Im Jargontheater konnten sie den Dialogen folgen, was auch notwendig war, weil die Akteure sich oftmals in Wortwitz übten und vorherrschende Vorurteile und Stereotypen in subtiler Weise dekonstruierten. Der Inbegriff der Jargonbühne in Berlin war das 1906 gegründete Gebrüder Herrnfeld-Theater. David, der sich später Donat nennen sollte, und Anton Herrnfeld wurden wahrscheinlich in Ungarn geboren und wuchsen in einer Schauspielerfamilie in Bayern auf. Eine andere Erzählung legt auf ihren bayerischen Geburtsort Wert. Jedenfalls betonten sie Zeit ihres Lebens ihre ungarische Herkunft, weil diese ihren Theateraufführungen einen etwas fremdländischen Charakter gab. Sie hofften, dadurch auf größere Anerkennung zu stoßen. Ihre ersten Erfahrungen auf der Bühne machten sie in Wien, wo sie als Neger-Quartett auftraten. Seit 1891 waren sie in Berlin, wo sie zuerst als Budapester Possentheater Bekanntheit erlangten. Mit dem Kauf eines Varietés im Jahre 1897 wurden sie zu Unternehmern auf dem Unterhaltungssektor. Das Jargontheater der Gebrüder Herrnfeld zeichnete sich durch seinen religiös und ethnisch pluralen Nationalismus aus. Juden wurden als Teil des deutschen nationalen Verbandes gesehen. Damit stellte sich das Herrnfeld-Theater explizit gegen den zeitgenössischen völkischen Nationalismus, der Juden keinen Platz im Nationalgefüge ließ. Aufgrund dieses neuen Verständnisses von Gemeinschaft war es dem Herrnfeld-Theater möglich, Juden in den Aufführungen zu karikieren. Die Schauspieler wussten, dass die Hervorhebung vermeintlicher jüdischer Eigenarten vom Publikum nicht als Evidenz jüdischer Differenz aufgefasst und antijüdische Gefühle hervorrufen würde. Vielmehr lösten Juden und Nichtjuden eine etwaige Entfremdung zwischen ihnen durch gemeinsames Lachen über das Dargebotene auf. Ähnlich populär, wenn nicht noch bekannter als das HerrnfeldTheater in Berlin, war die Budapester Orpheumgesellschaft in Wien. Es handelte sich bei ihr ebenfalls um ein Jargontheater. Im kon-
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kreten Fall gab die Bezeichnung Budapest tatsächlich Aufschluss über die Herkunft der meisten ihrer Mitglieder. Die ungarische Stadt hatte um die Jahrhundertwende eine lebendige, ebenfalls in weitem Maße von Juden getragene Unterhaltungskultur, und viele Akteure in Wien und Berlin kamen ursprünglich aus Budapest. Die drei Städte bildeten ein ›Jargondreieck‹, innerhalb dessen die Schauspieler große Mobilität zeigten und zwischen den einzelnen Städten pendelten. Alexander Rott war beispielsweise ein integrales Mitglied der Budapester Orpheumgesellschaft in Wien und spielte auch im Folies Caprice in Budapest, und Arthur Franzetti sowohl dort wie auch im Berliner Herrnfeld-Theater. Das Jargontheater zeigt, dass Juden und Nichtjuden Kontaktzonen fanden, in denen sie sich nicht nur des Jüdischen versicherten und ihr Judesein verhandeln konnten, sondern sich in Gegenwart von Nichtjuden dazu bekennen durften. Juden und Nichtjuden konstituierten durch den Besuch der Aufführungen zumindest kurzzeitig, für die Dauer der Darbietungen, eine Gemeinschaft, die durch eine gemeinsame Praxis hervorgerufen wurde. Das Jargontheater als öffentlicher Raum konnte einen Weg für ein friktionsfreies Miteinander von Juden und Nichtjuden weisen. Dass die Geschichte dann aber eine andere Richtung einschlug, ist auch eine Tatsache, die nicht vergessen werden darf. Neben dem Jargontheater gab es noch andere jüdisch-nichtjüdische Begegnungsstätten auf dem Unterhaltungssektor, wo Judesein, abgesehen von Ausnahmen, gleichfalls kein Streitpunkt zu sein schien. Dazu gehörte in Berlin vor allem das Revue-Theater, das im 1898 gegründeten Metropol eine weithin bekannte Einrichtung fand. Anders als im Jargontheater wurde Judentum im Metropol aber nicht als Teil der größeren deutschen Gesellschaft dargestellt, sondern es wurde gar nicht thematisiert, weil es für den überwiegenden Teil seiner Besucher einfach keine Relevanz hatte. Im Revuetheater konstituierte sich eine Gemeinschaft, in der auf verbreitete gesellschaftliche Kategorisierungen wie auch Wertauffassungen wenig Wert gelegt wurde. Und im Gegensatz zum Jargontheater frequentierten zuvorderst gehobene soziale Schichten, bisweilen selbst der Adel, das Metropol. Es
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hatte zwar einen nichtjüdischen Leiter, gewann aber seine Resonanz vor allem durch die Arbeiten einiger jüdischer Komponisten, allen voran von Victor Hollaender (1866–1940), Rudolf Nelson bzw., wie sein ursprünglicher Name lautete, Rudolf Lewysohn (1878–1960), und nicht zuletzt von Julius Freund (1862–1914). Die Operette und das Wienerlied Die stark Präsenz von Juden in der Populärkultur zeigt nicht nur, dass es eine Vielzahl von Kontaktzonen zwischen ihnen und Nichtjuden gab, wo sie einander begegneten und in der Folge auch ihre Identität aushandelten. Bisweilen prägten Juden durch ihr populärkulturelles Engagement das Selbstverständnis von Städten. Das war in hohem Maße in Wien der Fall, wo Juden im »Silbernen Zeitalter« der Wiener Operette den ganz überwiegenden Teil der Komponisten und Librettisten stellten. Die Operette, die, anders als die Oper, nicht zur Hochkultur zählt, galt in Wien nicht nur als ein musikalisches Genre neben anderen, sondern wurde mit der Stadt identifiziert. Es vermochte, wie angenommen wurde, den Charakter von Wien beispielhaft auszudrücken. Die Teilhabe von Juden an diesem konstruierten Bild der Donaumetropole war jedenfalls enorm. Diese herausragende kulturelle Teilhabe erwies sich auch auf dem Gebiet des Wienerliedes, das neben der Operette die zweite Musikgattung war, mit dem sich die Bewohner der Stadt identifizierten und das deren Ambiente zu reflektieren schien. Das Wienerlied wurde von Volkssängern gesungen, von denen nicht wenige jüdisch waren. Die Gesellschaft Hirsch war eine dieser jüdischen Gruppen. Eines der berühmtesten Wienerlieder, das auch die inoffizielle Hymne Wiens darstellte, war das Fiakerlied. Es stammte aus der Feder von Gustav Pick (1832–1921), einem jüdischen Komponisten, der sich darin als vollständiges Mitglied der Wiener Gesellschaft beschreibt und mit der Hauptstadt der Habsburgermonarchie identifiziert. Gesungen wurde das Fiakerlied von Alexander Girardi (1850–1918), einem berühmten zeitgenössischen (nichtjüdischen) Schauspieler. Es zeigt demnach nicht
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nur die Teilhabe von Juden am Populärkulturellen, sondern weist auch auf eine intensive Interaktion zwischen ihnen und Nichtjuden hin, die das Aufblühen der Populärkultur, wie wir sie heute kennen, überhaupt erst möglich machte. Juden und das moderne Theater Populärkulturelle Aufführungen wie Kabaretts, Revues, und vor allem auch massenkulturelle Veranstaltungen entwickelten sich erst im späten 19. Jahrhundert. Dass Juden dabei eine ganz zentrale Rolle spielten, mag gleich begründet sein wie deren bemerkenswertes Engagement bei der Herausbildung des modernen Theaters: Sie waren weniger als Nichtjuden einem traditionellen Kulturkanon verbunden, dadurch offener für neue Entwicklungen und konnten flexibler auf daraus resultierende Herausforderungen reagieren. Während sie im Bereich der Populärkultur einen integralen Bestandteil der Kulturschaffenden stellten, trieben sie auch die Entwicklung des modernen Theaters voran, ähnlich wie es in späteren Jahren auf dem Gebiet des Films der Fall sein sollte. Exemplarisch für die Teilhabe von Juden an der Entwicklung des modernen Theaters können die Aktivitäten von Otto Brahm (1856–1912), Sohn eines Hamburger Kaufmanns namens Otto Abrahamsohn, genannt werden. Zu einer Zeit, als naturalistische Aufführungen von der Zensurbehörde bisweilen verboten wurden oder die bei ihr eingereichten Stücke oftmals stark verändert werden mussten, gründete Brahm mit einigen Gleichgesinnten 1889 in Berlin die Freie Bühne. Es handelte sich dabei um eine private Einrichtung zur Darbietung von Dramen vor allem von Gerhart Hauptmann und Henrik Ibsen. Das Publikum setzte sich nur aus beitragszahlenden Mitgliedern zusammen. Ähnliche Unternehmungen zur Umgehung der Zensur gab es auch in anderen deutschen Städten. In München organisierte beispielsweise der Schutzbund für deutsche Kunst und Kultur, auch als Goethebund bekannt, seit 1891 geschlossene Aufführungen von Hauptmann, Ibsen und Max Halbe.
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Einige Jahre nach Gründung der Freien Bühne übernahm Brahm mit Hilfe von 20 finanziellen Förderern, von denen 19 jüdisch waren, das Deutsche Theater und machte mit dieser Bühne naturalistische Vorstellungen einem breiteren Publikum, das ebenfalls mehrheitlich jüdisch war, zugänglich. Das heißt nicht, dass Juden einen ausgeprägten Hang zum Naturalismus gehabt hätten. Brahm war von Juden auch scharfer Kritik wegen seines Engagements für den Naturalismus ausgesetzt. Trotzdem wurde diese Kunstgattung schon bald als »jüdische Kunst« bezeichnet und denunziert. Der Umstand, dass keiner der bekannten Dramatiker des Naturalismus jüdisch war, spielte dabei keine Rolle. Sie verdankten die Aufführung ihrer Stücke aber in großem Maße den Aktivitäten von Brahm und seinen hauptsächlich jüdischen Sponsoren. Brahm sollte schon bald von einem anderen jüdischen Theaterdirektor und Regisseur in den Schatten gestellt werden. Dabei handelte es sich um den in Wien aufgewachsenen Max Goldmann (1873–1943), der unter seinem Künstlernamen Reinhardt bekannt wurde. 1894 von Brahm an das Deutsche Theater geholt, behagte ihm die dort herrschende Betonung des Naturalismus nicht allzu sehr. In der Folge gründete er mit einem Kollegen im Jahr 1901 das Kabarett Schall und Rauch. Er griff damit eine Entwicklung auf dem Unterhaltungssektor auf, die 20 Jahre zuvor mit der Etablierung des weltweit ersten Kabaretts, dem Chat Noir in Paris, eingeleitet worden war. Im Schall und Rauch versuchte Reinhardt forthin, seine Vorstellungen von Theater zu realisieren. Dabei wandte er sich vom Naturalismus ab und verfocht einen pluralistischen Aufführungsstil, d. h. dass unterschiedliche literarische Gattungen auf der Bühne gespielt werden konnten und sollten. Später sollten sich seine Inszenierungen vor allem dadurch auszeichnen, dass er – im Gegensatz zur zeitgenössischen Tradition des bürgerlichen Theaters – für die Schauspieler wahrnehmbare Zuschauerreaktionen nicht ignorierte, sondern sie geradezu provozierte. Die Fokussierung der Körperlichkeit der Akteure oder die Verwendung der Arenabühne eröffneten den Zuschauern neue Wahrnehmungsperspektiven und ließen sie ihre Überra-
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schung darüber vernehmbar artikulieren. Reinhardt förderte damit eine Inszenierungsweise, die erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder für theatrale Darstellungen bedeutsam werden sollte. Wie bei den Aufführungen von Brahm, so waren es auch im Fall von Max Reinhardt vor allem Juden, die zu den Vorstellungen im Schall und Rauch kamen. Im Wissen um das dominant jüdische Publikum wurden in den Darbietungen scheinbare jüdische Eigentümlichkeiten häufig verlacht. Unter Teilen des Publikums stieß dieses Vorgehen jedoch auf starke Ablehnung, weil sie befürchteten, dass dadurch Antisemitismus gefördert würde. Das änderte aber nichts am Inhalt der Vorstellungen bzw. an der bisweilen recht unverblümt vorgetragenen judenkritischen Komik. 1905 übernahm Reinhardt von Brahm das Deutsche Theater. Schon zuvor hatte er sich erfolgreich um die Leitung des Neuen Theaters am Schiffbauerdamm bemüht, die er 1906 aber wieder abgab, um sich dem Ausbau des Deutschen Theaters zu den Kammerspielen zu widmen. Im November 1906 führte Reinhardt in seiner neuen Spielstätte Frank Wedekinds Frühlings Erwachen auf, das in stilistischer Hinsicht als Vorbote des Expressionismus angesehen werden kann. Dass Reinhard selbst zu dessen frühen Förderern gehörte, muss in diesem Zusammenhang nicht eigens erwähnt werden. Eine weitere Wegmarke setzte er mit der Aufführung von Rex Oedipus in einer Neuübersetzung von Hugo von Hofmannsthal, einem weiteren jüdischen Theatergenie aus Wien. Das Stück wurde vor Tausenden Zuschauern aufgeführt. Es war die erste Inszenierung in der Moderne, das eine Vielzahl von Akteuren aufwies und vor einem Massenpublikum stattfand. Reinhardt hob die Grenzen zwischen Schauspielern und Zuschauern weitgehend auf und machte damit etwas, das bislang von Vorstadtbühnen bekannt war, auch für das moderne, seriöse Theater möglich. In späteren Jahren fanden Elemente dieser Aufführungsweise in die Lehrkantate Eingang, die erstmals 1929 von Bertolt Brecht, in der Vertonung der jüdischen Komponisten Kurt Weill und Paul Hindemith, konzipiert wurde. Solche Lehrkantaten, die das Publikum
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in die Aufführung eingliedern, ihm einen Teil der Rolle des Chors überlassen und dabei die Kluft zwischen Schauspielern und Zusehern überwinden und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen ihnen fördern, wurden in den frühen 1930er Jahren in verschiedenen jüdischen Gemeinden aufgeführt, um das Gemeinschaftsgefühl unter Juden zu stärken. Zu den bekanntesten Lehrkantaten gehört Das Wasser von Alfred Döblin und Ernst Toch. Dass die Lehrkanten aber nicht nur von Juden besucht wurden, sondern Nichtjuden ihnen ebenfalls beiwohnten und damit gleichzeitig auch Teil der dabei konstituierten Gemeinschaft waren, wird oft übersehen. Somit bildete dieses musikalische Genre eine weitere Kontaktzone von Juden und Nichtjuden und trug zu einer größeren Vertraulichkeit unter ihnen bei. Wien war berühmt für die Präsenz von Juden auf den und im Umfeld von Sprechbühnen. An dieser Stelle soll nicht ihr Engagement im bürgerlichen Theater, sondern im Bereich der populären Bühne kurz erwähnt werden. Das erste Kabarett in der Donaumetropole, das Jung-Wiener Theater zum lieben Augustin, wurde vom jüdischen Schriftsteller Felix Salten und mit finanzieller Unterstützung von Siegfried Löwy im November 1901 eingerichtet. Salten ist vor allem als Autor von Bambi und von Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne. Von ihr selbst erzählt, eines Meisterwerkes der erotischen Literatur, bekannt. Das Augustin hatte nicht lange Bestand. Von größerer Bedeutung sollten Die Hölle und das Nachtlicht sein. Erstere Einrichtung wurde 1906 ins Leben gerufen, und ihr Erfolg hing weitgehend vom Verfasser der Kabarett-Texte, Fritz Grünbaum, ab. Das Nachtlicht wurde von einem Teil der Mitglieder des ersten Münchener Kabaretts Elf Scharfrichter gegründet. Peter Altenberg, Roda Roda und andere jüdische Schriftsteller teilten ihr Interesse für diese in Paris ins Leben gerufene Bühnenform. In Berlin wurde das erste Kabarett, das Überbrettl, im selben Jahr wie in Wien das »Augustin« gegründet, und zwar von einem Nichtjuden. Sein Komponist jedoch, Oscar Straus, war jüdisch, und auch viele weitere Kabarett-Komponisten, wie beispielsweise der bereits genannte Rudolf Nelson. Dieser war er auch Gründer
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von anderen Kabarett-Einrichtungen, wie dem Roland von Berlin und dem Chat Noir. Juden gehörten zu den Wegbereitern und Förderern modernen Theaters. Zusammen mit Nichtjuden schufen sie öffentliche Räume, wo Juden über ihre Identität in der Moderne reflektieren konnten. Da diese öffentlichen Räume auch von Nichtjuden besetzt waren, wurde jüdisches Selbstbewusstsein in starkem Maße in Interaktion mit ihnen umschrieben bzw. mit ihnen ausverhandelt. Dies lässt sich besonders gut am jüdischen Humor festmachen. Juden situieren sich im öffentlichen Raum In der von Rabbiner Josef Samuel Bloch in Wien herausgegebenen Zeitschrift Oesterreichische Wochenschrift wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Werbung für den Besuch von Venedig in Wien, einen Vergnügungspark im Wiener Prater, geschaltet. Sie weist darauf hin, dass Juden als Konsumenten populärkultureller Veranstaltungen in Frage kamen und diese sicher auch nützten. Dass eine Zeitlang einer der Betreiber von Venedig in Wien gleichfalls Jude war, soll nicht weiter verwundern. Juden waren unter den Organisatoren, Produzenten wie auch Konsumenten von Populärkultur stark vertreten. Von noch größerem Interesse als die Anzeige in der Oesterreichischen Wochenschrift ist eine Werbeeinschaltung im Neuen Wiener Tagblatt, einer allgemeinen liberalen Tageszeitung mit einem jüdischen Herausgeber. Im Jahre 1901 erschien dort ebenfalls ein Hinweis auf Venedig in Wien. Gleich daneben wurde eine Ankündigung, dass Kantor Baruch Schorr aus Lemberg in einer Synagoge in der Wiener Leopoldstadt den Gottesdienst gestalten würde, platziert. Da es sich beim Neuen Wiener Tagblatt nicht um ein dezidiert an jüdische Leser gerichtetes Medium handelte, kann davon ausgegangen werden, dass sich auch Nichtjuden von der Bekanntmachung angesprochen fühlen konnten. Venedig in Wien als ein öffentlicher Raum, der um Juden warb, und eine Synagoge als ein jüdisch-religiöser Raum, für deren Gottesdienst in einem öffentlichen Medium geworben wurde,
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deuten an, dass der jüdische und der allgemein-öffentliche Raum tendenziell miteinander verschwammen. Immer mehr Juden erkundeten ihr Selbstbewusstsein im öffentlichen Raum. Sie konstituierten es nicht mehr in einer abgeschiedenen religiösen Sphäre und zogen sich auch in keinen privaten Bereich wie den der Familie zurück. Stattdessen traten sie in die Öffentlichkeit und nahmen an Praktiken teil, durch die sie ihr Selbstverständnis als Juden neu umschreiben mussten und zu einer neuen Form von Zusammengehörigkeitsgefühl unter ihnen gelangten. Da dieser Bereich kein spezifisch jüdischer war, sondern auch von Nichtjuden aufgesucht wurde, nahmen Nichtjuden stärker als je zuvor an der Ausbildung jüdischer Identität teil. Zu diesen Räumen gehörte vor allem das Kaffeehaus. Es wurde im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert mehr als jeder andere öffentliche Bereich mit Juden in Verbindung gebracht. Bekannt sind in diesem Sinne nicht nur die Beispiele jüdischer Literaten, die sich bevorzugt in den Cafés trafen, sich dort austauschten, auf Inspiration hofften und kleinere Lesungen veranstalteten. In Berlin nahm das Café-des-Westens am Kurfürstendamm diese Rolle ein. In der Weimarer Republik trafen sich Franz Werfel, Else Lasker-Schüler, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig, Alfred Döblin, Walter Benjamin u. a. im Romanisches Café. Im frühen 20. Jahrhundert hatten die sog. Hebraisten in Berlin ihren Stammtisch im Café Metropol, und dort machten sie auch die Redaktionsarbeit für Zeitschriften wie Ha-Olam und He-Atid. Letztere war von Saul Israel Hurwitz, der auch zu den Organisatoren der 1909 in Berlin stattgefundenen ersten Konferenz über hebräische Sprache und Kultur gehörte, zwei Jahre zuvor gegründet worden. Wien war für seine Kaffeehauskultur nicht weniger bekannt als die Hauptstadt des deutschen Reiches, und viele jüdische Künstler und Kulturschaffende machten sich das Café zu ihrem zweiten Heim. Kaffeehäuser wie das Café Herrenhof, das Café Museum oder das legendäre Café Griensteidl sind nur einige wenige dieser Lokalitäten, wo sie sich trafen. Es waren aber nicht nur bekannte Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle oder die lebensfreudige Bohème, jüdisch wie auch nichtjüdisch, die sich das Café als Ort
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erkoren, in dem sie einen Teil ihrer Freizeit verbrachten und mit anderen Leuten verkehrten. Auch jüdische Zuwanderer schlossen sich dem Trend an, sich im Kaffeehaus zu treffen und sich dort auszutauschen. Das Wiener Café Arkaden, unweit der Universität gelegen, war ein beliebter Treffpunkt der sog. Ostjuden aus Galizien und Russland. Sie konnten dort auch Zeitungen in jiddischer Sprache lesen, die für die Gäste auflagen. Das Kaffeehaus war um die Wende zum 20. Jahrhundert kein Ort mehr, den allein säkulare Juden frequentierten. Als öffentlicher Raum bildete das Café keine Alternative zur jüdisch-religiösen Sphäre der Synagoge oder der Studierstube. Vielmehr war es eine Örtlichkeit, wo Juden eine neue Form von Geselligkeit inmitten von Nichtjuden lebten. Für Juden schien der Besuch des Cafés ein wesentlicher Bestandteil ihres Freizeitverhaltens zu sein, der auch ihr Selbstverständnis prägte. Selbst orthodoxe Juden scheuten den Besuch des Kaffeehauses nicht, und zu Schabbath war es nach dem Gottesdienstbesuch häufig die erste Anlaufstelle, bevor sie nach Hause zurückkehrten. Die Tendenz selbst unter strenggläubigen Juden, sich im öffentlichen Raum ›einzurichten‹ und sich diesen ›anzueignen’, zeigte sich auch in der Ausrichtung großer religiöser Feiern. Sie wurden zunehmend aus dem Privatbereich oder der abgeschlossenen jüdischen Sphäre in den öffentlichen Raum verlagert. Zu diesem Zweck wurden Räume in Hotels und großen Gaststätten angemietet. Selbst zur Abhaltung jüdischer Gottesdienste an den Hohen Feiertagen wurde auf solche Räumlichkeiten ausgewichen, wenn die gewöhnlich benützten Bethäuser zu wenig Sitzplätze aufwiesen. Dass es dabei zu teilweise irritierenden Begegnungen mit Nichtjuden kam, ist durch eine Vielzahl von Beschwerdebriefen belegt. Der Ausgriff auf öffentliche Räume hatte sodann ganz konkrete Auswirkungen auf jüdisches Selbstverständnis. Wenn zu Purim kein jüdisches Theater, das sog. purimshpil, mehr aufgeführt wurde, sondern stattdessen ein Purimball in einem Hotel organisiert wurde, kam es zu einer Entwertung des ursprünglich religiösen Festcharakters. Purim gewann einen säkularen Einschlag
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und glich eher einer Karnevalsveranstaltung als einem jüdischen Fest. Nichtsdestoweniger konnten verweltlichte Juden, die mit jüdischer Religion wenig zu tun haben wollten, wie auch jene, denen ein zumindest nominelles Verhältnis zur jüdischen Tradition wichtig war, daran teilnehmen und einen Bezug zum Judentum aufrechterhalten. Und dass Nichtjuden zu diesen Veranstaltungen kamen, kann nicht nur folgerichtig geschlossen, sondern auch belegt werden. Ein weiterer wichtiger öffentlicher Raum, der von Juden stark frequentiert wurde, stellten Kurorte dar. Sie wurden von liberalen, eher konservativen, religiösen wie auch streng orthodoxen Juden, den Chassidim mit ihren Rebbes, aufgesucht. Aufgrund der Präsenz zahlreicher Nichtjuden dienten sie auch als Begegnungszonen von Juden und Nichtjuden. Einen Beleg für das Verschwinden nicht nur religiöser, sondern auch sozialer und gesellschaftlicher Schranken stellt ein Foto von König Eduard von England in Marienbad dar, in dem er neben einem mit Kaftan bekleideten orthodoxen Juden steht und ein Glas Wasser trinkt. Die Aufnahme erschien in vielen Zeitungen. Aber ähnlich den Cafés förderten Kurorte nicht nur Interaktionen zwischen Juden und Nichtjuden, sondern machten auch Differenzen zwischen ihnen deutlich bzw. stärkten gesellschaftlich konstruierte Unterschiede. Dies kam zum Ausdruck, wenn Juden zumeist nur in Gasthäusern verkehrten, die von Nichtjuden kaum aufgesucht wurden. Selbst inmitten dieser Kurorte und trotz vieler Kontakte zu Nichtjuden wurde somit jüdische Zusammengehörigkeit gepflegt, wenn auch zumeist unfreiwillig, aufgrund von Antisemitismus. Und dieses Gefühl des jüdischen Miteinanders basierte sodann nicht auf einem gemeinsamen religiösen Verständnis. Zur Entstehung von Warenhäusern Eine zentrale Einrichtung der Massenkultur, an deren Gestaltung und Entwicklung Juden einen wesentlichen Anteil hatten, stellt das moderne Warenhaus dar. Das erste Geschäft dieser Art wurde 1876 von Georg Wertheim gegründet. Bereits 1879 und 1882 er-
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öffneten Leonhard und Oscar Tietz in Gera diese neue Form von »Konsumtempel«. 1901 beteiligte sich Salman Schocken an der Führung eines Großkaufhauses seines Bruders in Zwickau, und sechs Jahre später öffnete das Kaufhaus des Westens, das von Adolf Jandorf gegründet wurde und zur damaligen Zeit das größte Warenhaus Deutschlands war, seine Türen. Der Warenhauskonzern der Gebrüder Jandorf, zu dem außer dem »Kadewe« noch andere Großkaufhäuser gehörten, wurde 1926 von der Firma Hermann Tietz übernommen. Die Salamander-Schuhgesellschaft, die von Sem Levi aufgebaut wurde, kann in diesem Zusammenhang ebenfalls genannt werden. Und auch die Familien Israel und Gerson bekundeten das ausgeprägte Engagement von Juden bei der Entwicklung des Großkaufhauses, das ursprünglich in New York und Paris konzipiert worden war. Dort waren vor allem die Gründer des Grand Magasin du Louvre und der Galeries Lafayette jüdisch, und für Wien symbolisierten die Kaufhäuser Gerngroß und Herzmansky die Teilhabe von Juden an diesen Aspekten der Massenkultur. Das Warenhaus hatte weitreichende Auswirkungen auf das alltägliche Konsumverhalten, indem es die gewohnte Form der Warenpräsentation änderte. Die Kosten der einzelnen Güter waren festgelegt und nicht mehr vom Feilschen abhängig, und sie mussten vor allem auch bar bezahlt werden. Ein Warenhaus war ein Produkt des neuen städtischen Lebensgefühls, das auf Innovationen und einer Beschleunigung des Transportwesens sowie der Verkehrsmittel folgte, einer Konzentration des Geschäftslebens in der Innenstadt und einer neuen Verfügbarkeit von Waren, die Massenkonsum möglich machte. Ein Beispiel für den Aufstieg eines kleinen jüdischen Händlers zum Besitzer eines Großkaufhauses aufgrund des neuen Massenkonsums bildete Jacob Rothberger in Wien. Er wurde 1825 im ungarischen Alberti Irsa geboren und kam in den 1850er Jahren in die Hauptstadt des Habsburgerreiches. Dort verdingte er sich anfangs als Schneidergeselle, bevor er mit viel Mühe die Gewerbeberechtigung als Schneider erhielt. Neben seinem Schneiderberuf richtete er schon früh ein Lager für fertige Kleider ein. Dabei
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handelte es sich um einen sehr jungen Geschäftszweig: Bis in die 1840er Jahre ließ sich die Bevölkerung Kleider, und das zu stattlichen Kosten, eigens anfertigen, oder suchte einen Altkleiderhändler auf. Angesichts des Mangels an neuen, aber wohlfeilen Bekleidungsstücken füllte der Verkauf fertiger Kleider eine Marktlücke, die sich dann vor allem angesichts der rapiden Bevölkerungszunahme und der dadurch bedingten steigenden Nachfrage nach Konfektionsgütern als gutes Geschäft erwies. Auch Rothberger, der sich mit wenig Kapital in Wien etabliert hatte, konnte aufgrund der demographischen Verschiebungen und der Entwicklung zum Massenkonsum stark expandieren. Er wurde zu einem der Begründer der österreichischen Herrenkonfektion. Sein Erfolg rief antisemitische Anwürfe gegen ihn hervor, wobei die Bezeichnung seines Kaufhauses als »Judenburg« noch zu den gemäßigten Ausdrücken gehörte. Im Weiteren setzte das Warenhaus auch auf dem Gebiet der Kunst, zumal der Schaufenstergestaltung, und Architektur neue Maßstäbe. Große Bekanntheit erlangte beispielsweise das von Adolf Loos in Wien gestaltete Gebäude für die Schneiderfirma Goldmann & Salatsch bzw. der Erweiterungsbau für das Kaufhaus Gerngroß durch den Architekten Ferdinand Fellner, der sich bei seiner Konzeption eng an den Bau des Berliner Warenhauses Tietz anlehnte. Das Warenhaus Wertheim in der Berliner Leipzigerstraße, das als das beeindruckendste und schönste Kaufhaus Deutschlands galt, wurde von Alfred Messel entworfen und zu einem anerkannten architektonischen Monument. Er wählte dafür den neugotischen Stil, um das Phänomen des Massenkonsums geschichtlich zu verankern sowie mit dem deutschen Nationalstolz in Verbindung zu bringen. In Bezug auf das Warenhaus lässt sich jedenfalls festhalten, dass Juden maßgeblich an seiner Herausbildung mitwirkten. Im Jahre 1932 tätigten die Warenhäuser im Besitze von Juden 79% aller Geschäfte von Großkaufhäusern. Der überdurchschnittlich große Anteil von jüdischen Warenhausbesitzern mag im Umstand begründet liegen, dass Juden aufgrund ihrer beruflichen Verankerung im Handel und vor allem auch wegen antijüdisch
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bedingter Schwierigkeiten, im Gewerbe Fuß zu fassen, aktiver ein Engagement auf diesem Gebiet verfolgten als Nichtjuden. Die Rolle der Juden bei der Entwicklung des Großkaufhauses bildet auch einen Beleg für die These, dass Juden sich an kulturelle Prozesse nicht angepasst haben, sondern in sie eingebunden waren und diese mitgestalteten. Es verwundert nicht, dass der wirtschaftliche Erfolg jüdischer Unternehmungen dem Antisemitismus Auftrieb gab. Sein Auftreten wurde dadurch erleichtert, dass die Gründungen von Warenhäusern durch Juden, und damit die Veräußerung billiger, massenproduzierter Güter, eine Konkurrenz für den lokalen Handel darstellten und die Existenz des Handwerks bedrohten. In einer Kritik an den Großkaufhäusern wurde häufig ein sog. jüdischer Geschäftsgeist einer ›christlichen Handelstradition‹ gegenübergestellt. Nicht zuletzt aus diesen Anklagen erwuchsen sodann von Juden getragene Bemühungen zur Herstellung und Verbreitung eines Kunsthandwerkes. Es sollte die Vorstellung, Juden seien einzig an massenproduzierten Gütern interessiert und hätten an der Ästhetik von Waren kein Interesse, widerlegen. Aus diesen Aktivitäten entstanden beispielsweise im Jahre 1903 die Wiener Werkstätte, die auf die finanzielle Unterstützung des Industriellen Fritz Waerndorfer zurückgeht, oder die innenarchitektonischen Arbeiten von Peter Behrens im Haus von Walther Rathenau, womit die Vereinbarkeit von Industrie und modernem Design gezeigt werden sollte. Das Programm der Wiener Werkstätte hinterfragte die Oberflächlichkeit und den falschen Luxus zeitgenössischer Kultur und monierte billige Massenproduktion sowie den Historismus in der Kunst. Die Wiener Werkstätte wollte auch direkten Einfluss auf den kulturellen Alltag der Menschen nehmen. In diesem Sinne entwarf sie das Interieur des Kabarett Fledermaus als ein Gesamtkunstwerk, d. h. zeichnete sich auch für das Design des Programms oder die Bekleidung der Schauspieler verantwortlich. Das Kabarett Fledermaus wurde, wie erwähnt, von jüdischen Künstlern wie Peter Altenberg, Egon Friedell und Alfred Polgar geprägt.
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Juden waren natürlich nicht nur unter den Förderern und Unternehmern der neuen Konsumkultur, sondern sie waren auch Konsumenten und wurden von zeitgenössischen Händlern als solche gesehen. Dadurch waren sie einer bisweilen auf sie gerichteten Werbestrategie ausgesetzt. Produktwerbungen in jüdischen Zeitungen lassen sich im Großen und Ganzen in zwei verschiedene Kategorien einteilen. Zum einen handelte es sich um allgemeine Werbeeinschaltungen, d. h. sie wurden auch in anderen Zeitungen und Zeitschriften verwendet. Die angepriesenen Produkte, meist Luxusgüter, hatten keine spezifische Beziehung zu Juden. Und zum anderen gab es Waren, die entweder einen direkten Bezug zum Judentum hatten und ausschließlich von Juden erworben wurden, wie beispielsweise Gegenstände zur Feier jüdischer religiöser Feste; oder Güter, die prinzipiell von der breiteren Gesellschaft konsumiert wurden, aber die in jüdischen Printmedien mit dem Zusatz, koscher zu sein, beworben wurden. Ein illustratives Beispiel für letzteres Produkt stellt der koffeinfreie »Kaffee Hag« dar. Daran ersieht man einen recht interessanten Aspekt jüdischer Identität und der gesellschaftlichen Positionierung von Juden. Auf der einen Seite, über die allgemein beworbenen Güter, wurden sie als Teil der deutschen Konsumenten gesehen und in das allgemeine (Konsum-)Leben integriert. Auf der anderen Seite wurden sie als distinguierte Zielgruppe auserkoren, was ihr Differenzbewusstsein stärkte. Oberflächlich gesehen wurde dabei auf deren religiöse Identität rekurriert; in Wirklichkeit wurde ein sehr modernes jüdisches Selbstbewusstsein angesprochen, da der Erwerb von Geschenksgütern für das Zelebrieren von religiösen Festen ein Moment der Verbürgerlichung der Juden im 19. Jahrhundert darstellt. Die Filmindustrie Der Film war im 20. Jahrhundert das wichtigste Massenmedium. Seine Geschichte begann allerdings bereits vor der Jahrhundertwende und begeisterte am Anfang eher die sozial benachteiligten
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Schichten als breitere Bevölkerungskreise. Das war eine Folge der schlechten Qualität der frühen Filme, wodurch die Eintrittspreise zu den »Kinematographen-Theatern«, wie beispielsweise zu jenem von Rudolf Mosse in Frankfurt, Albert Lobenstein in Dresden oder Leo Leipziger in Berlin, gering und damit für die unteren Gesellschaftsschichten erschwinglich blieben. Die Vorstellungen fanden meist vor großen Menschenansammlungen in ungenügend gelüfteten, überfüllten Sälen statt. Da es sich um Stummfilme handelte, mussten die Besitzer der Kinematographen-Theater sich um zusätzliche Unterhaltung der Zuseher kümmern und Kommentatoren, Klavierspieler oder ganze Musikgruppen zur akustischen Untermalung der Filme engagieren. Zu Verbesserungen kam es erst mit den Messter-Tonfilmen, bei denen der Filmprojektor mit einem Grammophon verbunden wurde und zuvor synchron aufgenommene Schallplatten gespielt wurden. Maxim Galitzenstein wurde vor dem Ersten Weltkrieg Direktor des Messter-Filmunternehmens. Eine Alternative zu diesen frühen Filmtheatern bot der 1871 in Ostpreußen geborene jüdische Unternehmer Paul Davidson, der ab dem Jahre 1906 Kinosäle mit einer deutlich verbesserten Atmosphäre einrichtete. Seine erste Gründung war das Union Theater in Mannheim, und ab 1909 wurde er auch in Berlin aktiv. In weiterer Folge baute er ein Filmproduktionsunternehmen, die PAGU (Projektions-Aktien-Gesellschaft »Union“), auf. Der erste jüdische Schauspieler, der es zu großer Bekanntheit brachte und gleichzeitig auch für Davidsons Unternehmen arbeitete, war Ernst Lubitsch (1892–1947), der Sohn eines Besitzers eines Frauenbekleidungsgeschäftes in Berlin. Er verdingte sich eine kurze Zeit am Deutschen Theater unter Max Reinhardt, bevor er zum Film wechselte. Dort setzte er sich mit seinem schauspielerischen Talent rasch durch. Eine seiner großen Rollen spielte er 1916 im Film Schuhpalast Pinkus, in dem er zeitgenössische Vorstellungen von Männlichkeit karikierte und verbreitete Wertestandards hinterfragte. Dem ehrlichen, muskulösen und blonden Mann wird ein bereits an seiner Physiognomie ›erkennbarer‹ Jude gegenübergestellt, der im Film zum Helden aufsteigt. Bei der
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Darstellung des jüdischen Protagonisten gibt es gewisse Ähnlichkeiten mit Bildern von Pissarro, Gottlieb und anderen jüdischen Malern, die in ihren Werken ebenfalls vermeintlich jüdische Gesichtsmerkmale hervorhoben, um gleichzeitig vorherrschende Werturteile zu unterminieren. Ernst Lubitsch wirkte bei 39 Filmen für PAGU mit. Er baute ein tatkräftiges Team von Schauspielern auf, das wesentlich für den Erfolg von Davidsons Unternehmen verantwortlich war. Als sie ihn in den frühen 1920er Jahren Richtung Hollywood verließen, sah Davidson nicht zuletzt deswegen wenig Zukunft für sein Unternehmen und beging 1923 Selbstmord. Erich Pommer, geboren 1889 in Hildesheim, war ein weiterer jüdischer Filmdirektor, der die frühe Filmindustrie in Deutschland prägen sollte. Nach Tätigkeiten in den deutschen Niederlassungen der französischen Unternehmungen Gaumont und Eclair gründete er in Wien den Wiener-Autoren-Film und 1915 Decla. Einige Jahre darauf sollte sich Decla mit der Deutschen Bioscop verbinden und wenig später sich mit Ufa zur Universum Film Aktiengesellschaft vereinigen. Das Berlin der Weimarer Republik zog eine Reihe jüdischer Filmproduzenten und Schauspieler aus Wien an. Zu ihnen gehörte nicht nur der mit dem Vornamen Samuel geborene Billy Wilder (1906–2002), der vom schon erwähnten Maxim Galitzenstein für den Film entdeckt wurde, sondern auch Richard Ornstein (1880– 1963), der später als Richard Oswald Bekanntheit erlangen sollte. Am Beginn seiner beruflichen Karriere trat er als Schauspieler auf verschiedenen österreichischen Provinzbühnen auf, bevor er sich 1907 am Wiener Raimund-Theater und später am Theater in der Josefstadt einen Namen machte. Infolge antisemitischer Angriffe wechselte er 1910 ans Düsseldorfer Schauspielhaus und begann in dieser Stadt auch sein Engagement beim Film. Einige Jahre später ließ er sich in Berlin nieder und gründete seine eigene Produktionsfirma. Er entwickelte spezifische Filmgenres und setzte sich mit zeitgenössisch aktuellen, kontroversen Themen auseinander. Dazu gehörte beispielsweise der Umgang mit sexueller Gewalt und als abnormal erachteten sexuellen Haltungen wie
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Homosexualität (Anders als die Anderen, 1919) und Prostitution. In anderen Filmen setzte er sich mit dem Zustand einer Mehrfachidentität auseinander. In den späteren 1920er Jahren widmete er sich der Verklärung der k. u. k.-Zeit und produzierte Filme wie Wir sind vom k. u. k. Infanterieregiment … oder Im Weißen Rößl. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, floh Oswald zuerst ins europäische Ausland und dann in die USA. Ein weiterer Wiener, den es nach Berlin verschlug, war Joe May (1880–1954), der als Julius Otto Mandl geboren wurde. Er gelangte über ein Theaterengagement nach Deutschland. Knapp vor dem Ersten Weltkrieg fungierte er als Produzent für die Berliner Continental Film und gründete 1915 eine eigene Produktionsfirma. Nach einem kurzen Zwischenspiel bei der Decla widmete er sich wieder seiner Filmfirma, mit der er exotische Abenteuergeschichten produzierte, in denen westliche Stadtbewohner ans Ende der Welt verschlagen werden. Joe May zeigte dem Publikum das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen und Rechtssysteme und führte aus, wie diese das Selbstbewusstsein eines Menschen beeinflussen. Mays Filme waren eine Kritik an statischen Identitätszuschreibungen. Aber nicht alle jüdischen Wiener, die sich im Film verdingten, zog es nach Berlin. Die österreichische Metropole hatte selbst auch eine recht aktive Filmindustrie. Die ersten Filme, die in Europa von Juden für Juden geschaffen wurden, entstanden in Wien. Ein Grund dafür dürfte im zeitgenössischen Antisemitismus gelegen haben. Er bewog Juden, sich nicht länger als passive Opfer der vorherrschenden Stereotypisierungen zu verhalten, sondern sich aktiv um eine positive Selbstdarstellung zu bemühen. Während dabei einerseits biblische Erzählungen und Entwürfe einer jüdischen Geschichte aus jüdischer Perspektive gezeigt wurden, die für ein allgemeines, auch nichtjüdisches Publikum gedacht waren, wurden zionistische Filme vordringlich für jüdische Zuschauer gedreht. Dazu gehörte beispielsweise Otto Kreislers Theodor Herzl, der Bannerträger des jüdischen Volkes aus dem Jahr 1921. Daneben wurde auch eine Reihe von jiddischen Filmen produziert. Ihre Herstellung ging auf das Engagement des
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amerikanischen Filmdirektors und –produzenten Sydney M. Goldin zurück, der in Wien 1921 die Jüdische Kunstfilm-Gesellschaft gründete. Unter seiner Leitung entstanden in den folgenden Jahren mehrere populäre Filme, darunter Ost und West (1923) und Jiskor (1924). Auch H. K. Breslauers Die Stadt ohne Juden, die auf der Novelle von Hugo Bettauer (1872–1925) beruhte (siehe unten), gehörte dazu. Eine andere Kategorie jüdischer Filme, die in Wien produziert wurde, beschäftigt sich mit jüdischen Mythen wie auch Konzeptionen eines jüdisch-christlichen Abendlandes. Dazu zählen beispielsweise Sodom und Gomorrah – Die Legende von Sünde und Strafe (1921) unter der Regie von Mihaly Kertesz, der später unter dem Namen Michael Curtiz in den USA bekannt werden sollte, oder Die Sklavenkönigin/The Moon of Israel (1924) vom selben Regisseur. Diese Aufnahmen stellten wahrscheinlich die beste Produktion des Wiener Films zu dieser Zeit dar und wurden zu einem großen Publikumserfolg. Der große Anteil von Juden in der Weimarer wie auch österreichischen Filmindustrie mag ähnlich begründet werden wie deren Präsenz in anderen populärkulturellen Bereichen: Sie stellte ein neues kulturelles Gebiet dar, in das Juden aufgrund ihrer mangelnden Verhaftung in traditionellen kulturellen Feldern leicht und schnell vorstoßen konnten. Trotzdem war die Filmindustrie nicht von Juden ›beherrscht‹. Und es stellt sich bei einzelnen Personen auch die Frage, in welchem Sinne man sie als Juden bezeichnen kann. Das zeigt sich besonders bei Fritz Lang (1890– 1976), der vor allem für seine Vorlagen für Filme wie Dr. Mabuse, der Spieler, Metropolis und M. bekannt wurde. Er war zwar nach halachischer Auslegung, d. h. gemäß den jüdischen Religionsgesetzen, Jude, weil er eine jüdische Mutter hatte. Sie konvertierte jedoch zum Katholizismus, als er zehn Jahre alt war. Lang selbst wurde bereits bei seiner Geburt getauft und zeigte nie Interesse am Judentum. Er gehörte mit Joe May, mit dem er bei verschiedenen Projekten eng zusammenarbeitete, zu den ersten Filmschaffenden, die vor den Nationalsozialisten ins Exil flüchteten. Während Fritz Lang in Hollywood reüssieren konnte, war es sei-
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Juden im öffentlichen Raum
nem jüdischen Landsmann verwehrt, noch einmal erfolgreich Fuß zu fassen. Die Teilhabe von Juden an der Populärkultur weist auch auf ihre ausgeprägte Partizipation am allgemeinen gesellschaftlichen Leben und ihre starke Verflechtung mit Nichtjuden hin. Es überrascht deswegen, dass just in jenen Jahren, als Juden und der nichtjüdische Gesellschaftsteil in stärkeren Kontakt miteinander traten und sich mehr Gemeinsamkeiten zwischen ihnen auftaten, die Judenfeinschaft zunahm und Juden sich mit einer neuen Welle von Antisemitismus konfrontiert sahen. Es mag sein, dass zwischen den beiden Entwicklungen ein Zusammenhang in dem Sinne bestand, dass antijüdische Umtriebe eine Reaktion auf die größere Nähe von Juden und Nichtjuden und das sich daraus ergebende Verschwimmen von Unterschieden zwischen ihnen waren. Es ist aber auch möglich, dass die häufigeren jüdischnichtjüdischen Begegnungen und Interaktionen gar kein Gefühl des Miteinanders erzeugten, sondern an der Oberfläche blieben. Martin Freud, der Sohn des Begründers der Psychoanalyse, hält in seinen Aufzeichnungen über seinen Vater eine Episode fest, die sich in einem Biergarten in Wien abspielte. Dabei beobachtete dieser, wie ein ›augenscheinlich‹ jüdischer Junge ein Glas zerbrach. Sigmund Freud war über das vermeintliche Fehlverhalten des Knaben empört und verärgert. Das heißt, dass er sich in der Öffentlichkeit primär mit Juden identifizierte und von einer großen Unsicherheit im Umgang mit Nichtjuden geplagt war. Von einer Auflösung jüdischer und nichtjüdischer Unterschiede kann in diesem Fall jedenfalls keine Rede sein.
Die Überbrückung der Kluft zwischen Ost- und Westjuden Osteuropäische auf der einen und zentral- und westeuropäische Juden auf der anderen Seite drifteten im Laufe des 19. Jahrhunderts kulturell immer mehr auseinander, entfremdeten und unterschieden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts trotz einer Vielzahl jeweils interner Differenzen in religiöser und sozialer Hinsicht stark voneinander. Diese Unterschiede waren natürlich nicht bei allen sichtbar, und nicht wenige Juden in Frankfurt, München oder Leipzig mochten mehr mit ihren Glaubensbrüdern in Polen als mit den Mitgliedern ihrer jeweiligen jüdischen Gemeinden gemein gehabt haben. Aber der Tendenz nach waren die osteuropäischen viel religiöser und ärmer als die deutschen Juden und mehr auf Kontakte untereinander als mit Nichtjuden bedacht. Daneben, und zumindest teilweise aus diesen Unterschieden resultierend, gab es eine Typisierung des Ostjuden als Kontrast zum sog. Westjuden. Die Polarisierung von Ost- und Westjuden schien am Ende des 19. Jahrhunderts jedenfalls gefestigt zu sein. Gleichwohl waren auch gegenteilige Tendenzen zu beobachten, die zu einer Relativierung, bisweilen auch Aufhebung der Kluft zwischen ihnen führten. Auf den Gebieten der Literatur und Malerei wurden die Schranken zwischen Ost- und Westjuden schon eine Zeitlang vor der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend durchbrochen. Dieser Prozess setzte sich auf anderen kulturellen Gebieten fort bzw. wurde durch verschiedene soziale, politische und wissenschaftliche Entwicklungen verstärkt. Ein wichtiges Moment, das die Gemeinschaftsbildung der Juden vorantrieb, war deren zunehmende Neudefinition nach ethnischen Kriterien. Ein prägendes Element der deutschen Juden im 19. Jahrhundert war, dass sie sich vor allem über die Religion zum Judentum bekannten. In ihrer liberalen religiösen Ausrich-
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tung unterschieden sie sich stark von den strenggläubigen osteuropäischen Juden. Im frühen 20. Jahrhundert wurde der Begriff der Religion immer mehr durch jenen des jüdischen Stammes ersetzt. Statt von einer religiösen wurde von einer Stammesgemeinschaft gesprochen. Diese neue Umschreibung von Judentum bildete eine wichtige konzeptionelle Grundlage, um Ost- und Westjuden als ein Kollektiv zu denken und von religiös-kulturellen Merkmalen, die sie bisher unterschieden, abzusehen. Das neue Gemeinschaftsgefühl unter Juden ging mit einer zunehmenden Distinktion gegenüber Nichtjuden einher. Das kam nicht zuletzt im Bedeutungsverlust von Hermann Cohens Philosophie und dessen Implikationen zum Ausdruck. Hermann Cohen (1842–1918), der mit seinem nichtjüdischen Kollegen Paul Natorp an der Universität Marburg eine spezifische Tradition des Neukantianismus entwickelte, wollte zeigen, dass es ein rational begründbares, universelles ethisches System gibt, das in biblischen und jüdisch-prophetischen Quellen begründet liegt. Er sah zwischen Judentum und Protestantismus keinen großen Unterschied, sondern meinte einmal sogar, (protestantisches) Christentum könne prophetisches Judentum genannt werden. Der französisch-jüdische Philosoph Jacques Derrida sollte ihn am Ende des 20. Jahrhunderts deswegen einen Judeo-Protestanten nennen. Im Ersten Weltkrieg legte Cohen einige längere Essays mit dem Titel Deutschtum und Judentum vor, in denen er auch von einer engen Verbindung und gegenseitigen Durchdringung von deutschem und jüdischem Geist schrieb. Diese Sichtweise wurde mit der Resonanz von Martin Bubers Vorstellung eines jüdischen Nationalismus und der Betonung einer ethnischen Unterscheidung von Juden und Nichtjuden in den Hintergrund gedrängt. Im Folgenden werden zwei Entwicklungen, die zur Überbrückung der Kluft zwischen Ost- und Westjuden wesentlich beigetragen haben, etwas ausführlicher skizziert. Dabei handelt es sich um die Herausbildung der jüdischen Sozialwissenschaft und die Entstehung der jüdischen Volkskunde.
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Die jüdische Sozialwissenschaft Die jüdische Sozialwissenschaft etablierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin. Sie gilt als Reaktion u. a. auf die Migration der Ostjuden nach Westen. Viele im Deutschen Reich bereits seit langer Zeit ansässige Juden waren über die Ankunft ihrer verarmten Glaubensbrüder und –schwestern anfangs sehr bestürzt. Sie befürchteten, dass deren plötzliches Auftauchen einer judenfeindlichen Stimmung Auftrieb gäbe. Sowohl aus Mitleid wie auch in der Hoffnung, die Wanderbewegung eindämmen zu können, wollten deutsche Juden vor allem vor Ort, d. h. in Osteuropa, helfen. Sie mussten aber sehr rasch erkennen, dass es dazu Kenntnisse über die ostjüdischen Lebensbedingungen bedürfe, die nicht vorhanden waren. Aus diesem Grund wurde im Jahr 1902 ein Verein für jüdische Statistik gegründet, der Daten über die jüdischen Existenzverhältnisse in Galizien, Polen, Russland und anderen osteuropäischen Siedlungsgebieten sammeln sollte. Auf deren Basis sollten sodann Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden. Zwei Jahre später wurde das Bureau für jüdische Statistik unter der Leitung von Arthur Ruppin (1876–1943) eingerichtet. Es fungierte als zentrale Sammelstelle für statistisches Material über Juden. Ruppin, ein jüdischer Jurist und Soziologe, war 1903 nach Galizien gefahren, um eine Art ethnologischer Feldexpedition durchzuführen. Er spielte zu diesem Zeitpunkt mit dem Gedanken, sein Judentum gänzlich aufzugeben. Sein Ausflug in die östliche Habsburgerprovinz änderte sein Vorhaben. Er entdeckte ein Judentum, das er als authentisch auffasste und in dem er eine für ihn bislang unbekannte spirituelle Lebendigkeit fand. In der Folge revidierte er seine bisher abschätzige Auffassung über Ostjuden. Die Erfahrungen in der Habsburgerprovinz sollten sein restliches Leben weitgehend beeinflussen und bestimmen. Er wurde zu einem überzeugten Zionisten und wanderte einige Jahre nach seiner Galizienreise nach Palästina aus. Ruppins Meinungsänderung war Teil eines größeren Perspektivenwechsels im Hinblick auf Ostjuden. Er zeigte sich beispielsweise auch bei jüdischen Ärzten. Während vor der Jahrhundert-
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wende osteuropäische Juden gemeinhin als krank und degeneriert gegolten hatten, änderte sich die Expertenmeinung in den darauffolgenden Jahren. Keine der beiden Judenschaften galt nunmehr gegenüber der anderen als gesünder. Gleichzeitig wurden Abweichungen vom Krankheitsverhalten der Nichtjuden gefunden. So sollten beispielsweise alle Juden, sowohl jene in Berlin, Wien wie auch Lemberg und Odessa, eine ausgeprägte Resistenz gegenüber der Tuberkulose besitzen, während sich bei ihnen angeblich eine überdurchschnittliche Anfälligkeit für Nervenkrankheiten zeigte. Die verschiedenen Erkrankungsraten zwischen Juden und Nichtjuden wurden als bedeutender als etwaige Unterschiede zwischen Ost- und Westjuden gesehen. Diese Erkenntnisse stärkten ebenfalls die Vorstellung eines spezifisch jüdischen Kollektivs, für das die kulturelle Kluft zwischen Ost- und Westjuden vernachlässigbar sei. Im Weiteren wurde diese Entwicklung durch die Beschäftigung der jüdischen Sozialwissenschaftler mit quantitativen Aspekten von Judentum vorangetrieben. Sie setzten sich mit demographischen Prozessen auseinander, mit der Berufsstruktur oder mit Heiratsstatistiken. Daraus ablesbare Trends bei Ost- und Westjuden wurden miteinander verglichen. Die kulturell bedingte Unterscheidung zwischen ihnen, die seit der Haskalah vorherrschte, verblasste demgegenüber zunehmend. Die Arbeit der jüdischen Sozialwissenschaftler stärkte nicht nur die Vorstellung einer umfassenden, Ost- und Westjuden einbeziehenden jüdischen Gemeinschaft, sondern trug auch zu einer Neubestimmung der Wissenschaft des Judentums bei. Sie war seit ihren Anfängen vornehmlich historisch und philologisch orientiert. Judentum sollte über eine historisch-kritische Auslegung religiöser Schriften ein zeitgemäßes Verständnis erhalten. Die jüdischen Sozialwissenschaftler fassten Judentum nunmehr in Zahlen. Es wurde über verschiedene Berechnungen und Statistiken umschrieben. Damit verlor die Geschichtswissenschaft an Relevanz. Diese Entwicklung zeigte sich in einer scharfen Kritik an einer angeblich zu starken Vergangenheitsorientierung der Juden. Statt in die zurückliegende Geschichte, so meinten die Sozialwissen-
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schaftler, sollten Juden den Blick auf die Gegenwart und Zukunft richten. In diesem Zusammenhang wurde »vor der übertriebenen Wertschätzung des Altertums« gewarnt und darauf hingewiesen, dass Juden sich »mit aller Kraft dagegen sträuben (müssten), dass die Judenheit, das lebendige und lebensfähige Volk zu einer Art archäologischer Trümmer« gemacht werde. Bei der Distanzierung von einer zu ausgeprägten Beschäftigung mit der Geschichte handelte es sich wiederum nicht allein um ein jüdisches Vorgehen, sondern um eine allgemeine Entwicklung. Im Deutschen Reich lässt sie sich in einer Abkehr von der historischen Analyse religiöser Fragen beobachten, die den Protestantismus seit Friedrich Schleiermacher geprägt hat. Allgemein trugen die Schriften von Friedrch Nietzsche (1844–1900), Arthur Schopenhauer (1788– 1860) und Oswald Spengler (1880–1936) zur Überwindung des Historismus und in weiterer Folge zu einer Distanzierung eines historisch orientierten Denkens bei. Stattdessen wurde der Auffassung von Geschichte als Naturprozess, der sich eben auch mit quantifizierbaren Kategorien erfassen lässt, der Vorzug gegeben. Die jüdischen Sozialwissenschaftler wollten mit ihren Studien auch antijüdische Vorurteile und Annahmen zurückweisen. Sie bedienten sich dabei eines counter narrative. Viele nichtjüdische Anthropologen meinten beispielsweise, dass die frühen Eheschließungen unter Juden eine Ursache für Nervenkrankheiten bei ihnen darstellten. Jüdische Sozialwissenschaftler kehrten die Begründung um und bezeichneten das Heiraten in jungen Jahren als Quelle von Lebenskraft und Vitalität, was an der überdurchschnittlichen Langlebigkeit von Juden abgelesen werden könne. Weil jüdische Sozialwissenschaftler glaubten, dass Zahlen und Daten gegebene Verhältnisse objektiv darlegten und Statistiken klare Aussagen träfen, wurde ihre Wissenschaft auch als Grundlage für ein gemeinsames Arbeiten von jüdischen und nichtjüdischen Experten verstanden. Die Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, die vom Bureau für jüdische Statistik herausgegeben wurde, stand als Publikationsorgan nichtjüdischen Experten offen. Dies ist insofern von Relevanz, als vor dem Hintergrund der Annahme, dass Judentum durch Quantifizierungsmethoden zu-
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mindest partiell bestimmt werden könne, die Einladung an Nichtjuden zur Mitarbeit implizit auch deren Kooperation bei der Umschreibung von Judentum einschloss. Obwohl die jüdische Sozialwissenschaft zur jüdischen Gemeinschaftsbildung beitrug und damit auch eine tendenzielle Abkehr von Nichtjuden einleitete, blieben Orte des jüdisch-nichtjüdischen Miteinanders und der Interaktion erhalten. Eine ähnliche Bereitschaft, Nichtjuden bei der Umschreibung von Judentum mitwirken zu lassen, gab es im Übrigen beim jüdischen Museum in Wien. Es verstand sich als Ausstellungsort von Artefakten, die zur Geschichte der Juden Bezug haben, und das unabhängig davon, ob sie von jüdischen oder nichtjüdischen Künstlern und Produzenten stammen. Im jüdischen Museum konnten somit Nichtjuden mit den von ihnen geschaffenen Objekten zur Darstellung von Judentum beitragen. Das heißt, dass sie an der Bestimmung von Judentum und der Herstellung eines jüdischen Narrativs teilhaben durften. Die jüdische Volkskunde Versuche, das Jüdische nicht isoliert zu sehen und gegenüber dem Nichtjüdischen nicht abzuschotten, lassen sich auch bei der jüdischen Volkskunde beobachten. Ihr Gründer, der Hamburger Rabbiner Max Grunwald, und einer seiner wesentlichen Unterstützer, der Wiener Rabbiner Moritz Güdemann, wollten jüdisches Alltagsleben Nichtjuden vorstellen, damit sie mit jüdischen Traditionen vertraut werden und Ähnlichkeiten wie auch Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und ihrem eigenen kulturellen Umfeld finden. Gleichzeitig waren Grunwald und Güdemann der Ansicht, dass jüdisches Leben, auch jenes in Osteuropa, im Verband mit Nichtjuden konstituiert worden sei. In Russland war die Offenheit jüdischer Ethnographen gegenüber dem Nichtjüdischen noch ausgeprägter. Die dortige Jüdische Historische und Ethnographische Gesellschaft war mit Nachdruck darauf bedacht, die vielfältigen Interaktionen und Verbindungslinien zwischen Juden und Nichtjuden im Alltagsleben aufzuzeigen und zu belegen.
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Auch im Hinblick auf den Vergangenheitsbezug gab es zwischen der jüdischen Volkskunde und der Sozialwissenschaft auffallende Parallelen. Es mag zwar ein wenig widersprüchlich anmuten, aber die jüdische Volkskunde war trotz ihrer vielfältigen Sammelaktivitäten und Bemühungen, Objekte jüdischen (vor allem Alltags-)Lebens vor dem Verschwinden zu retten, nicht auf die Vergangenheit fokussiert, sondern fasste sie als einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung der Gegenwart und Zukunft auf. Eng damit verbunden war die Herabsetzung der Bedeutung von Geschichte, vor allem der ›Gelehrtengeschichte‹, die im elfbändigen, zwischen 1853 und 1876 erschienenen Werk Geschichte der Juden von Heinrich Graetz ihren Inbegriff gefunden hat (siehe unten). Anstelle von einzelnen geistigen Größen und Rabbinern sollte der breiten Masse und deren Lebensgestaltung im tagtäglichen Leben die Aufmerksamkeit geschenkt werden. Diese Orientierung setzte sich mit der jüdischen Renaissance fort. Ob es nun Martin Buber mit seinen chassidischen Geschichten oder die Lieder des Ghetto von Moses Lilien waren, wobei Letzterer Gedichte von Morris Rosenfeld über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Juden in der osteuropäischen Schtetlwelt illustrierte, sie alle zeigten eine deutliche Hinwendung zu einer (ost-)jüdischen Alltagsgeschichte. Die Abkehr von einer jüdischen Geistesgeschichte war somit eine umfassende Entwicklung. Sie fand auch in der jüdischen Historiographie ihren Ausdruck. Jüdische Geschichtsschreibung Es ist bereits angeklungen, dass im Judentum erst sehr spät eine professionelle Geschichtsschreibung einsetzte, die sich an einem linearen Narrativ orientierte und dem Entwicklungsgedanken verpflichtet zeigte. Mit wenigen Ausnahmen ging sie auf die Arbeiten der Wissenschaft des Judentums zurück. Die kulturelle Revolution, die sich darin spiegelte, lag neben der Abkehr von einem zyklischen Zeithorizont, der durch die religiösen Festtage vorgegeben war, in einer zunehmenden Bejahung der Diaspora. Sie wurde
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nicht mehr als eine weitgehend irrelevante Phase betrachtet, die zwischen dem eigenen Staatsgebilde im Altertum und der Wiederkunft des Messias liegt, sondern als eine Zeit, in der Juden ihr zeitgenössisches Leben gestalten und entwickeln. Jüdische Existenz in Europa erfuhr dadurch eine eigene Wertschätzung. In diesem Sinne war eine der Auswirkungen der Wissenschaft des Judentums ein neues Verständnis jüdischer Existenz außerhalb Palästinas und somit auch des Verhältnisses zum Land, in dem Juden lebten. Ein früher Repräsentant der neuen Historikergeneration, und der erste, der eine mehrbändige Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart vorlegte, war Isaak Markus Jost. Er begriff die Historie als reine Geistesgeschichte und verfolgte mit seiner Geschichtsschreibung ganz klare politische Ziele: Einerseits sollte die Emanzipation der Juden vorangetrieben und unterstützt werden, und andererseits zielte sie auf innerjüdische Reformen ab. Von noch größerer Bedeutung für die jüdische Historiographie war Heinrich Graetz. Seine als ›Tränengeschichte‹ bekannte Erzählung basiert auf der Vorstellung, dass die Beziehungen zwischen Juden zu Nichtjuden weitgehend durch Bedrängnisse und Verfolgungen von Ersteren charakterisiert gewesen seien. In der Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel am Ausgang des 15. Jahrhunderts hätten die antijüdischen Gewalttätigkeiten ihren Höhepunkt gefunden und in der Folge auch die Grundfesten von Judentum erschüttert. Aber innerjüdische Entwicklungen, vor allem die Beschäftigung mit der Kabbalah und der Chassidismus, hätten ebenfalls an seinem Verfall und Niedergang mitgewirkt. Mit der Hervorhebung dieser von einem starken Irrationalismus geprägten Strömungen nimmt Graetz eine ähnlich negative Haltung gegenüber der osteuropäischen Judenschaft ein wie viele seiner Zeitgenossen. In seinem historischen Narrativ spiegelt sich demnach eine verbreitete kulturelle Perspektive wider. Als positives Gegenbeispiel zu den mystisch-religiösen Bewegungen gelten ihm rational arbeitende Experten. Daher gibt es bei Graetz auch eine Fokussierung auf jüdische ›Gelehrte‹.
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Wie in der Malerei und Literatur setzte sich im frühen 20. Jahrhundert auch in der jüdischen Historiographie eine neue Sichtweise durch, die die osteuropäische Judenschaft nicht ignorierte oder gar verabscheute, sondern sie einer positiven Bewertung unterzog. Ein Historiker, der sich dafür in ganz besonderem Maße einen Namen machte, war der aus Russland stammende Simon Dubnow (1860–1941). In den Jahren 1925–1929 erschien seine zehnbändige Weltgeschichte des jüdischen Volkes, der bald darauf eine Geschichte des Chassidismus folgte. Neben anderen Arbeiten schrieb er diese beiden Werke in Berlin. Dubnow setzt sich in seinen Schriften für einen säkularen Diasporanationalismus ein. Er begreift Juden als ein eigenes Volk, das allerdings nicht nach einem eigenen Territorium streben solle. Vielmehr sollten Juden in den Ländern, in denen sie leben, für eine kulturelle Autonomie eintreten. Innerhalb seiner Diasporageschichte, in der Dubnow ein über den Lauf der Geschichte und über Ländergrenzen hinweg verbundenes jüdisches Volk beschreibt, lenkt er das Hauptaugenmerk auf die osteuropäischen Juden. Den wichtigsten Faktor für ihren Zusammenhalt sowie für ihre zukünftige Autonomie sieht er in den jüdischen Institutionen, besonders in der jüdischen Gemeindestruktur. Damit distanziert er sich nicht nur von der Gelehrtengeschichte eines Heinrich Graetz, sondern auch von einer kulturgeschichtlichen Orientierung, die in der jüdischen Volkskunde zum Ausdruck kam. Mit seinem institutionsgeschichtlichen Ansatz, in dessen Zentrum die kommunale Selbstverwaltung steht, und der Fokussierung auf das osteuropäische Judentum schafft Dubnow ein neues historisches Narrativ. Die Abkehr von der ›Gelehrten-‘‚ vor allem aber von der ›Leidensgeschichte‹ war damit vollzogen. Der Bruch zeigt sich noch viel ausgeprägter in den Arbeiten späterer jüdischer Historiker, vor allem bei dem aus Galizien stammenden Salo Wittmayer Baron (1895–1989), der in Wien studierte und schließlich in New York tätig wurde. In einem wegweisenden Artikel aus dem Jahre 1928 macht er darauf aufmerksam, dass Juden in der Geschichte zwar in vielerlei Hinsicht Benachteiligungen erfahren, gleichzeitig aber
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auch Privilegien genossen hätten, die sie im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen, beispielsweise der Bauernschaft, bessergestellt hätten. Baron wird heutzutage gerne wieder zitiert. Zu seiner Zeit stieß er mit seiner Interpretation der Geschichte aber vor allem in Deutschland auf wenig Resonanz. Das hatte nicht zuletzt mit dem Erstarken und der späteren Machtübernahme der Nationalsozialisten zu tun. Unter diesen Voraussetzungen wurde eine Abkehr von der sog. Leidensgeschichte von vielen als unangebracht empfunden. Daneben gab es noch andere historiographische Ansätze. Einen davon stellt Siegmund Kaznelson in seinem Werk Juden im deutschen Kulturbereich vor. Darin verfolgt er eine bisweilen bis heute bei manchen Historikern noch beobachtbare ›Beitragsgeschichte’. Ihr Fokus liegt auf der Darstellung von vor allem kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen von Juden in der sog. deutschen Kultur. Das Problem bei solchen Skizzierungen besteht darin, dass kaum geklärt ist, worin das Jüdische am sog. Beitrag liegt. Was ist an den Erfolgen eines jüdischen Schachspielers oder eines jüdischen Sportlers jüdisch, außer der ›Herkunft‹ des jeweiligen Akteurs? Wenn Jüdischsein situativ bestimmt wird, wie es in den Ausführungen über jüdische Musiker und Künstler im 19. Jahrhundert bereits ausführlich zur Sprache gekommen ist, dann sollte sich die Frage nach dem ›jüdischen Beitrag‹ erübrigen. Ein weiteres Werk, das in den 1930er Jahren erschien, ist Ismar Elbogens Die Geschichte der Juden in Deutschland. Elbogen konzentriert sich darin zunehmend auf den Antisemitismus, dem Juden vor allem im Kaiserreich ausgesetzt waren. In einer weiteren, 1944 in englischer Übersetzung in den USA erschienenen Arbeit greift er Graetzs Leidensgeschichte wieder auf und wendet das Konzept auf seine eigene Gegenwart an. In der jüdischen Geschichtsschreibung spiegeln sich Perspektiven auf die jüdische Vergangenheit und Deutungen der jüdischnichtjüdischen Verhältnisse wider, die sich auch in verschiedenen Bereichen der Kunst- und Literatur finden. Die jüdische Historiographie bildet somit ein vielgestaltiges – wenn auch gebrochenes – Abbild der zeitgenössischen Verfasstheit der Juden.
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Ihr Beitrag zur Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses war wesentlich, kann aber nicht ohne die Leistungen jüdischer Künstler und Kulturschaffender umfassend beurteilt werden. Jüdische Historiographie und jüdische Studien nach 1945 Nach der Shoah erholte sich die jüdische Historiographie nur langsam. Wesentlich war, dass nunmehr vermehrt, bisweilen auch mehrheitlich, Nichtjuden jüdische Geschichte schrieben bzw. einzelne ihrer Aspekte erforschten. Zu diesen Historikern, die ab den späteren 1960er Jahren die jüdische Historiographie prägen sollten, zählten u. a. Reinhard Rürup, Stefi Jersch-Wenzel und Monika Richarz. Ihre Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte war anfangs vor allem durch die Frage motiviert, wie es zur Katastrophe des Massenmordes an den Juden hatte kommen können. Vor dieser jungen Generation deutscher Historiker/-innen waren es vor allem deutsch-jüdische Emigranten, die die jüdische Historiographie prägten. Dazu gehörte insbesondere Adolf Leschnitzer, der ab den 1950er Jahren an der Freien Universität Berlin über deutsch-jüdische Geschichte lehrte. Er wurde ebendort 1955 der erste (Honorar-)Professor für jüdische Geschichte in Deutschland nach 1945. Viele weitere Historiker betrieben ihre Studien zur jüdischen Geschichte in Deutschland in Verbindung mit dem Leo Baeck Institut, das 1955 von Martin Buber, Gershom Scholem u. a. in Jerusalem gegründet worden war. Die daraus hervorgegangenen Ergebnisse wurden zumeist in einschlägigen Zeitschriften publiziert. An dieser Konstellation ist bemerkenswert, dass sich jüdische Historiographie in ihren methodischen Ansätzen von der allgemeinen deutschen Geschichtsschreibung unterschied. Während dort eine sozialgeschichtliche Herangehensweise dominant war, beschäftigten sich die Beiträge zur jüdischen Geschichte vornehmlich mit geistigen und religiösen Strömungen sowie Biographien. Eine Annäherung der jüdischen und deutschen Historiographien sollte erst ab den 1970er Jahren erkennbar sein.
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Es ermangelt nicht einer bedrückenden Ironie der Geschichte, dass das Studium von Judentum an einer staatlichen Hochschule in Deutschland, das ein zentrales Ziel der Begründer wie auch späteren Träger der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert war, erst nach 1945, d. h. nach der Vertreibung und Ermordung des größten Teils der deutschen Juden, möglich wurde. In den Jahrzehnten davor war das nur bedingt, mit Dozenturen beispielsweise in Frankfurt/M., die Martin Buber innehatte, Gießen oder auch Leipzig, der Fall. Beginnend mit Berlin (1963), Köln (1966) und Frankfurt/M. (1969) wurden sodann im Rahmen philosophischer bzw. geisteswissenschaftlicher Fakultäten Institute oder Seminare für Judaistik etabliert. Im Jahre 1959 wurde die Bibliothek Germania Judaica in Köln eröffnet, 1966 in Hamburg das Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Mehr als zwanzig Jahre später kam es dann zur Gründung weiterer Einrichtungen für Forschung und Lehre, wie beispielsweise die 1985 innerhalb der Germanistik als eigene Abteilung fungierende Jiddistik an der Universität Trier, das Salomon-Ludwig-Steinheim Institut in Duisburg (1986) oder, noch einmal zehn Jahre später, der Lehrstuhl für jüdische Studien und Kultur an der Universität München (1997). Nach dem ›Fall der Mauer‹ im Jahr 1989 hat sich dieser Trend in der früheren DDR fortgesetzt, wobei vor allem das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig und das interdisziplinär konzipierte Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam als Neugründungen herausragen. In den letzten 20 Jahren des 20. Jahrhunderts erlebten die Judaistik bzw. Jüdischen Studien in Deutschland einen regelrechten Boom. Im Hinblick auf die relativ geringe Zahl von Juden im Land, deren Umfang bis in die 1980er Jahre weniger als 30.000 Personen betrug, ist diese Entwicklung einigermaßen erstaunlich. Und bis auf die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, die 1979 auf Initiative des Zentralrats der Juden in Deutschland zur Ausbildung von Rabbinern, Kantoren und Religionslehrern ins Leben gerufen wurde, dienten die universitären Einrichtungen auch kaum der Aufrechterhaltung jüdischen Lebens. Sie waren vordringlich für Nichtjuden vorgesehen und wurden auch tatsäch-
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lich mehrheitlich von ihnen besucht. Auch unter den Lehrenden waren Juden eine Minderheit. Damit war aber das ursprüngliche Ziel der Wissenschaft des Judentums, die Lehre und Forschung über jüdische Geschichte und Kultur an einer Universität einzurichten und aus den Händen von Nichtjuden zu nehmen, um deren meist christlich und judenfeindlich geprägten Perspektive eine eigene Sichtweise entgegenzusetzen, nur bedingt verwirklicht. Das Studium von Judentum wurde zwar an einer öffentlichen Bildungsinstitution ermöglicht; aber es wurde eben nur partiell von Juden vermittelt. Anders als in früheren Jahren ging damit jedoch keine Rückkehr zu einem christlichen Verständnis von Judentum einher. Da sich die Wissenschaftler in Deutschland in einem Fach behaupten mussten, das starke Anstöße von Kollegen vor allem aus Israel und den USA erhielt, war es unmöglich, zu judenkritischen Polemiken zurückzukehren. In diesem Sinne tat sich durchaus, wenn auch mit Nichtjuden, ein qualitativer Neubeginn von jüdischen Studien auf.
Jüdische Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Jahre vor und nach dem Ersten Weltkrieg zeigten auf dem Gebiet der Kunst und Literatur ein intensives jüdisch-nichtjüdisches Miteinander. Es charakterisierte vor allem die »expressionistische Dekade« von 1910 bis 1920, in der Juden an vorderster Front an den wegweisenden kulturellen Prozessen beteiligt waren. So führten Arnold Zweig und Alfred Döblin den Expressionismus in die deutsche Literatur ein, und speziell um das expressionistische Drama machte sich der österreichische jüdische Schriftsteller Franz Werfel verdient. Weitere bedeutende jüdische Schriftsteller, die dem Expressionismus zuzurechnen sind, waren u. a. Jakob von Hoddis (Hans Davidsohn, 1887–1942), dessen Gedicht Weltende zu den wichtigsten Texten der Bewegung gehört, Ernst Toller (1893–1939) oder Paul Kornfeld (1889–1942). Die jüdische Renaissance eröffnete Juden die Möglichkeit, sich vom allgemeinen Kunstbetrieb zu lösen und sich sog. jüdischer Kunst und Kultur zu widmen. Aber für viele jüdische Kulturschaffende war das kein erstrebenswertes Ziel, und sie wollten sich weiterhin in allgemeine kulturelle Prozesse einbringen und im Kreis gleichgesinnter Künstler bewegen, egal ob sie jüdisch oder nichtjüdisch waren. Eine dieser Gruppen, die sich dem Neuen in Kunst und Kultur verpflichtet fühlten und die Möglichkeit zu jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen und kreativer Inspiration boten, stellte Die Neue Gemeinschaft der Gebrüder Heinrich und Julius Hart dar. Ähnlich wie die Salons im späten 18. Jahrhundert war sie eine Stätte, wo sich Künstler und Intellektuelle, die den vorherrschenden gesellschaftlichen Werten andere Normen entgegensetzen wollten, zum Austausch trafen. Die Neue Gemeinschaft propagierte eine anti-rationale Weltsicht sowie einen Kult der Liebe und der Natur. Unter den jüdischen Mitgliedern waren u. a. Martin Buber, der Dichter Erich Mühsam, der Musiker Georg Lewin, der später
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unter dem Namen Herwarth Walden bekannt und der zweite Ehemann von Else Lasker-Schüler wurde, wie auch diese selbst. Eine andere Organisation war Der Neue Klub, der sich ab 1910 Neopathetisches Cabaret nannte. Er war zwar eine weithin jüdische Vereinigung, organisierte aber öffentliche Abende, bei denen er verschiedenen, vor allem expressionistischen Autoren die Chance zu einem Auftritt gab. In diesem Kontext wurde beispielsweise der Dichter Georg Heym entdeckt. Auch viele andere verdankten einen wichtigen Teil ihrer Karriere, oder zumindest einen wesentlichen Impuls, jüdischen Mäzenen, Verlagen und Ausstellungsleitern. Zu diesen Künstlern und Autoren gehörten neben Heym auch Thomas und Heinrich Mann, und unter den jüdischen Förderern sind an vorderster Stelle die bereits erwähnten Gebrüder Cassirer, Walden oder auch der Verleger Samuel Fischer zu nennen. Der Salon Cassirer, eine Galerie, stellte die Werke vieler moderner Künstler aus, zu denen Max Liebermann, die französischen Impressionisten und später auch die Expressionisten gehörten. In diesem Sinne tat sich zu dieser Zeit ein sehr produktives und förderliches Miteinander von Juden und Nichtjuden auf. Sie war in der Geschichte nicht neu und hatte ihre Vorgänger. Aber in ihrem Umfang und ihren Auswirkungen schien sie doch eine neue Qualität zu besitzen. Else Lasker-Schüler, eine Repräsentantin des Expressionismus, profitierte sehr stark von ihrer künstlerischen Bekanntschaft mit Gottfried Benn. Als Frau von Herwarth Walden war sie auch mit vielen anderen zeitgenössischen Künstlern bekannt, was nicht zuletzt auf die Aktivitäten ihres Mannes zurückzuführen ist. Er gründete u. a. die Zeitschrift Der Sturm, das vielleicht wichtigste Medium für Kunst und Literatur während des »expressionistischen Jahrzehnts«. Darin wurden auch Reproduktionen von Werken Oscar Kokoschkas, Wassily Kandinskys oder August Mackes vorgestellt. 1913 organisierte er eine Ausstellung mit dem Titel Erster Deutscher Herbstsalon, bei der er zeitgenössische Kunst zeigte, darunter Gemälde von Picasso, italienischer Futuristen und Kubisten. Ein Wiener Pendant zu den Cassirers in Berlin war Karl Wittgenstein, der Vater des berühmtem Philosophen. Er beauf-
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tragte u. a. den Architekten Josef Hoffmann mit dem Bau seines Landhauses, und seine Tochter ließ sich von Klimt porträtieren. So wie Meidner und Steinhardt das Café malten, nämlich als Stätte des intensiven Austauschs, der Kommunikation und Interaktion, so empfanden auch andere expressionistische Kulturschaffende das Kaffeehaus als wichtige Stätte der Begegnung. Es war ein Treffpunkt, in dem vorgelesen, diskutiert und über neue Projekte gesprochen wurde. Und es war vor allem auch ein Ort, an dem Bekanntschaften geschlossen und Netzwerke geknüpft wurden. Eines der bekanntesten Kaffeehäuser, das für Künstler und Literaten sehr wichtig war, stellte das Café des Westens am Berliner Kurfürstendamm dar. Es war nicht nur der Ort, den Else Lasker-Schüler fast täglich aufsuchte und wo sie sich mit den zeitgenössischen Künstlern unterhielt, sondern auch die Lokalität, wo sie Walter Benjamin einmal als jungen Mann zu ihrem Tisch einlud. Damit machte sie die Bekanntschaft mit einem Menschen, der als deutsch-jüdischer Intellektueller mehr noch als sie selbst die Moderne und das neue Zeitgefühl in der Weimarer Republik verkörpern sollte. Die Jahre der Weimarer Republik Neben den Leistungen jüdischer Künstler und Literaten in der allgemeinen Kultur gab es Aktivitäten, die zur jüdischen Kultur zu zählen sind, auch wenn nicht wenige Nichtjuden unter ihren Konsumenten waren. Dabei handelte es sich um hebräische und jiddische Aufführungen. Im Gegensatz zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gab es in der Weimarer Periode kaum mehr jiddisches Theater. Jiddische Inszenierungen wurden größtenteils von Wandertruppen aus Osteuropa, die Deutschland bereisten, abgedeckt. Eine große Ausnahme bildete das jiddische Kabarett Kaftan. Es wurde im Februar 1930 in Berlin von dem aus Russisch-Polen stammenden Schauspieler Maxim Sakaschansky (1886–1952) und der in Prag geborenen Ruth Klinger (1906–1989) gegründet. Das Kabarett Kaftan erfreute sich großer Popularität, seine Auf-
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führungen waren auf Wochen ausverkauft. Wegen der politische Lage in Deutschland hatte es aber nur kurzen Bestand. Sakaschansky und Klinger emigrierten nach Palästina, wo diese sich u. a. als Sekretärin von Arnold Zweig verdingte. Das Kabarett Kaftan stieß auch in verschiedenen Städten außerhalb Deutschlands, die es im Rahmen einer Tournee besuchte, auf starken Widerhall. Eine Ausnahme bildete allerdings Wien. Der Grund dafür dürfte im Umstand gelegen sein, dass die österreichische Hauptstadt eine dynamische jiddische Kulturszene hatte und die bestehenden Theatergruppen eine zu große Konkurrenz für die Berliner Truppe Kaftan bildeten. In Wien gab es die bereits in den Vorkriegsjahren gegründete Jüdische Bühne und die im Mai 1919 ins Leben gerufene Freie Jüdische Volksbühne, die, im Gegensatz zu Ersterer, anspruchsvolles jiddisches Theater bot. Zu diesem Zweck wurden Stücke von Scholem Alejchem, Schalom Asch, Isaac Leib Perez und anderen jiddischen Schriftstellern mit internationaler Reputation gespielt. Mit diesem qualitativ hochstehenden Repertoire konnte die Freie Jüdische Volksbühne nicht nur Juden, die in der ostjüdischen Kultur aufgewachsen waren oder an ihr Gefallen fanden, sondern auch Nichtjuden anlocken. In einer Besprechung über ein Stück der Freien Jüdischen Volksbühne wird erwähnt, dass man bei der Aufführung »einen größeren Prozentsatz kunstverständiger arischer Besucher im Saale zu treffen (vermag) als bei mancher Burgtheater-Premiere«. Daneben gab es noch andere jiddische Bühnen, wie beispielsweise das Jüdische Künstlerkabarett oder die Jüdischen Künstlerspiele. Anders als in Berlin war in Wien die jiddische Theaterszene jedenfalls auch nach dem Ersten Weltkrieg noch sehr lebendig. In der Weimarer Republik waren selbst die Gastspiele ausländischer Truppen keine rein jüdische Domäne, sondern wurden auch von Nichtjuden besucht. Dies war beispielsweise bei den Aufführungen der Wilnaer Truppe der Fall, die in den frühen 1920er Jahren nach Berlin kam und dort auch Max Reinhardt begeisterte, oder bei den Auftritten des Moskauer Jüdischen Akademischen Theater (GOSET). Selbst die 1917 in Moskau gegründete Habimah, eine hebräische Theatergruppe, die seit 1926 meh-
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rere Tourneen nach Deutschland veranstaltete und dort auf großen Jubel stieß, zog nichtjüdisches Publikum an. Trotz des gemeinsamen Besuches der Habimah-Vorstellungen darf nicht vergessen werden, dass darin nicht nur ein jüdischnichtjüdisches Miteinander zum Ausdruck kam, sondern dass hebräisches Theater zuvorderst ein Aspekt der kulturellen Rückbesinnung der Juden auf ein eigenes Erbe war, die, wenn auch nicht notwendigerweise, mit einer Distanzierung von der allgemeinen Kultur einherging. Die Weimarer Republik ist zwar zu einem Synonym für ein pulsierendes kulturelles Leben geworden, an dem Juden einen enormen Anteil hatten. Und die Beispiele, an denen jüdisch-nichtjüdische Interaktionen in aller Deutlichkeit abgelesen werden können, sind vielzählig. Die Zusammenarbeit von Bertolt Brecht mit dem jüdischen Komponisten Kurt Weill (1900–1950) ist bestens bekannt, oder auch mit Paul Dessau (1894–1979), der die Musik zu Brechts Mutter Courage verfasste. Trotzdem konnten jüdische Künstler und Literaten, selbst wenn sie ein integraler Teil der allgemeinen Kultur waren, den zeitgenössischen Antisemitismus nicht ignorieren, und nicht wenige von ihnen führte er zu einer mehr oder weniger starken Besinnung auf das Judentum. Das Interesse an Hebräisch war ein zentraler Aspekt dieser Entwicklung. Darum gab es in der Zwischenkriegszeit auch eine Hebräisch-Renaissance. Dazu trugen die bekannten Schriftsteller und Dichter Samuel Josef Agnon, der in späteren Jahren einen Nobelpreis erhalten sollte, Saul Tschernikowski und Chajim Nachman Bialik bei, die allesamt eine bestimmte Zeit in Deutschland lebten. Franz Kafka zog eigens nach Berlin, um Hebräisch zu lernen, und der Warenhausbesitzer Salman Schocken rief einen Verlag ins Leben, der u. a. Übersetzungen von klassischen hebräischen Werken herausgab. Die Weimarer Republik war von einer zweifachen Entwicklung gekennzeichnet. Einerseits hingen Juden der Hoffnung an, im Rahmen der demokratischen Staatsform endgültig als gleichberechtigte Mitgestalter der Gesellschaft anerkannt zu werden. Die namhafte Mithilfe von einzelnen Juden bei der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) kann als paradigmati-
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scher Beleg dafür angesehen werden. Unter ihnen waren auch Albert Einstein, der Begründer der Relativitätstheorie, und Walther Rathenau, der spätere deutsche Außenminister. Er sollte nach nur wenigen Monaten in dieser Funktion ermordet werden. Kurze Zeit später wurde auch der Herausgeber der Zeitschrift Die Zukunft, Maximilian Harden, beinahe erschlagen. Die Zuversicht der Juden auf eine vollständige Akzeptanz wurde durch solche Gewaltakte stark gedämpft. Diese judenfeindliche Atmosphäre hat der Schriftsteller Joseph Roth in seinem Roman Im Spinnennetz beschrieben, der Ende 1923 zuerst als Vorabdruck in der Wiener Arbeiter-Zeitung erschien. Vielen Juden wurde es immer einsichtiger, dass ihre gesellschaftlichen Bestrebungen nur sehr schwer, wenn überhaupt, durchsetzbar waren. Häufig verschlimmerte sich die Situation für sie noch. Davon konnte beispielsweise der Gründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, erzählen, der einst ein Befürworter des Ersten Weltkrieges war und seinen Sohn in den Kampfhandlungen verlor. Nunmehr musste er ansehen, wie seine Philosophie als jüdisch denunziert wurde. Die Enttäuschung, die sich vielen Juden in dieser Situation bemächtigte, vermittelte nicht wenigen ein deprimierendes Gefühl des Alleineseins. Damit kämpfte beispielsweise Jacob Wassermann, einer der bekanntesten impressionistischen Schriftsteller in Deutschland. Ihm blieb Zeit seines Lebens die Anerkennung als Deutscher, die er sich so sehr gewünscht hatte, versagt. Auch die große Resonanz seiner Texte, deren Auflage die Millionengrenze überschritt und die in mehrere Sprachen übersetzt wurden, änderte nichts daran. Da er in einem säkularen Haushalt aufwuchs, der ihm keine Bindung an das Judentum vermittelte, konnte er darin auch keine Alternative zu dem ihm versagten Deutschsein finden. Nach seinen eigenen Worten stellt Judentum für ihn ein »trübes Medium zwischen mir und allen geistigen und bürgerlichen Dingen« dar. An einer gesellschaftlichen Isolation aufgrund seines Judentums litt auch Walter Benjamin (1892– 1940), der zu den bedeutendsten Kulturkritikern der Weimarer Republik gehörte. Zusammen mit dem Philosophen Ernst Bloch
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(1885–1977) suchte er nach ›Spuren der Hoffnung‹, um dieser Einsamkeit zu entrinnen. Er sah in Franz Kafkas Schriften eine Beschreibung dieses Gefühls der Entfremdung, wobei es in diesem Fall nicht als eine jüdische Eigenheit, sondern als eine universale menschliche Verfasstheit in der urbanen Gesellschaft verstanden wird. Franz Kafka (1883–1924) war in einem deutschsprachigen Umfeld in Prag aufgewachsen, sein Werk spiegelt die antibürgerliche Unruhe und den Generationenkampf kurz vor dem Ersten Weltkrieg wider und geht doch gleichzeitig darüber hinaus. Dies machte Kafkas Romane, die erst nach seinem Tod breiter rezipiert wurden, für die Jugend der Weimarer Zeit attraktiv, als die Konflikte und Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft sich nach Krieg und Inflation fast unlösbar zuzuspitzen schienen. Mit einer ähnlichen Thematik setzte sich auch die Frankfurter Schule auseinander, die am Institut für Sozialforschung der dortigen Universität verankert war. Auf finanzielle Unterstützung des jüdischen Getreidehändlers Hermann Weil zurückgehend, fand sie im Inhaber der Professur für Soziologie, Karl Mannheim (1893–1947) einen zentralen Förderer. Zu ihren Köpfen zählten Theodor W. Adorno (1903–1969), Max Horkheimer (1895–1973), Herbert Marcuse (1898–1979) u. a., die in ihren Arbeiten eine kritische Gesellschaftsanalyse unter marxistischer und psychoanalytischer Perspektive vorantrieben. Jüdische Kultur im Nationalsozialismus Ab 1933, als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen, änderte sich die Situation für die Juden fundamental. Jegliches Miteinander von Juden und Nichtjuden wurde zu beenden und unterbinden versucht, und das jüdische kulturelle Leben fand nur mehr in Isolation statt. Es war natürlich nicht möglich, alle Spuren von Juden im allgemeinen Kulturleben zu tilgen. Dass die Lorelei von Heinrich Heine, wie bereits erwähnt, immer noch als Teil des deutschen kulturellen Erbes galt, auch wenn ihr Verfasser nicht mehr genannt wurde, zeigt, wie schwie-
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rig es ist, geistiges oder kulturelles Leben in Deutschland ohne Juden zu denken. Dies hatte einige Jahre zuvor der österreichische jüdische Schriftsteller Hugo Bettauer (1872–1925) in seinem Roman Stadt ohne Juden (1925) versucht. Er zeichnet darin ein Bild erschütternder Öde (alltags-)kulturellen Lebens, weswegen er letztlich auch mit seinem Leben bezahlen musste. Juden in Deutschland mussten sehr schnell erkennen, dass sie nicht mehr erwünscht waren. Das Land verstieß, verfolgte und ermordete die jüdischen Intellektuellen und Kulturschaffenden, die das Leben der Weimarer Republik so nachhaltig geprägt hatten. Dreieinhalb Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden in Berlin gegenüber der Universität die Bücher von Juden und anderen Schriftstellern, die sog. entartete Literatur produzierten, verbrannt. Unter ihnen waren Werke von Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Stefan Zweig, Heinrich Heine u. a. Else Lasker-Schüler, die 1932 den renommierten Kleistpreis erhalten hatte, wurde auf offener Straße von Nationalsozialisten überfallen und mißhandelt. Viele Schriftsteller konnten zwar durch Emigration ihr Leben retten, begingen dann aber Selbstmord, beispielsweise Stefan Zweig in Brasilien, Ernst Toller in New York oder Kurt Tucholsky, der scharfzüngige Kritiker der Weimarer Republik, in Schweden. Walter Benjamin schaffte es bis zur französisch-spanischen Grenze und nahm sich dort das Leben. Arnold Zweig war einer der wenigen Schriftsteller, die mit viel Glück nach Palästina entkamen. Er sollte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Ostdeutschland zurückkehren. Trotz dieser existenziellen Tragik wurde die Gefahr, die Juden von den Nationalsozialisten drohte, lange nicht in ihrem vollen Umfang erkannt. Zu sehr identifizierten sie sich mit Deutschland und der deutschen Kultur. 1933 sollten nur 37.000 das Land verlassen, und die jährlichen Auswanderungszahlen gingen bis 1938 sogar zurück. Die stockende Emigration hatte sicherlich auch mit der Schwierigkeit zu tun, ein Visum für ein anderes Land zu erhalten. Erst 1938 stieg der Umfang der Flüchtenden wieder auf 40.000 an. Aufführungen jüdischer Künstler, vor allem Theaterinszenierungen, fanden auch nach dem 1. April 1933 statt, als gegen sie
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ein Auftrittsverbot ausgesprochen wurde. Allerdings gab es für jüdische Künstler keine öffentliche Bühne mehr, die auch Nichtjuden zugänglich gewesen wäre. Stattdessen organisierten sie sich im Kulturbund deutscher Juden, der im Juli desselben Jahres gegründet und nach 1935 in Jüdischer Kulturbund umbenannt wurde. Als Spielstätte mietete die Vereinigung ein Theater in der Berliner Kommandantenstraße, wo Schauspiele, Konzerte, Kabaretts und vieles mehr aufgeführt wurden. Am 1. Oktober 1933 wurde das Theater symbolhaft mit einer Inszenierung von Lessings »Nathan der Weise« eröffnet. In weiterer Folge konzentrierte sich der ›Kulturbund‹ aber vor allem auf jiddische Klassiker, nachdem ihm verboten worden war, Stücke sog. arischer Autoren zu spielen. Leiter des ›Kulturbundes‹ war Kurt Singer, ein Berliner Dirigent, Musikwissenschaftler und Neurologe. Martin Buber war Ehrenpräsident, und Max Liebermann, Jacob Wassermann sowie Georg Hermann, dessen famos erfolgreicher Roman Jettchen Gebert bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten in Millionenauflage erschien, stellten sich ebenfalls für die Vereinigung zur Verfügung. Obwohl die Programmgestaltung vom Reichskulturwart abgesegnet werden musste und keine öffentliche Werbung gemacht werden durfte, wurde die Zeit bis 1938 als relativ frei von gröberen Störungen empfunden. Dies hatte auch damit zu tun, dass die Funktionäre des ›Kulturbundes‹, allen voran Kurt Singer, die Beschränkungen für jüdische Künstler nicht allein unter negativen Vorzeichen betrachteten, sondern auch als Gelegenheit, jüdische Kultur, oder das, was dafür gehalten wurde, und ein jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Dass Juden, die zuvor als Musiker oder Schauspieler im Rahmen von Kulturbundaufführungen tätig gewesen waren, bisweilen als Verräter am Aufbau einer jüdischen Kultur bezeichnet wurden, wenn sie emigrierten, mutet vor diesem Hintergrund ein wenig bizarr an. Der Kulturbund war keine Berliner Einrichtung, sondern es gab im ganzen Staatsgebiet lokale Organisationen. 1938 zählte man in 100 deutschen Städten 76 Institutionen. Die meisten Mitglieder gab es mit 18.000 im Jahre 1937 in Berlin. In ganz Deutsch-
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land belief sich ihre Anzahl auf 50.000, also kaum mehr als zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung. An diesen Zahlen wird klar, dass selbst in Zeiten äußerster Bedrängnis bei der überwiegenden Zahl der deutschen Juden die Vorstellung eines eigenen, abgeschotteten Kulturlebens auf wenig Resonanz stieß. Juden blieben dem Kulturbund nicht fern, weil seine Aufführungen zu wenig Qualität hatten, sondern weil das Repertoire ›zu jüdisch‹ war. Trotzdem hatte der Kulturbund unerwartet lange Bestand, nämlich über den Kriegsbeginn hinausgehend. Er wurde erst im September 1941 aufgelöst. Eine weitere wichtige kulturelle Institution von Juden im nationalsozialistischen Deutschland war die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung unter der Leitung von Martin Buber. Sie koordinierte die Lehrhäuser, die in verschiedenen Städten Deutschlands zum Treffpunkt der sozial isolierten Juden wurden. Das Lehrhaus war eine bekannte Institution, die jüdisches Leben in der Weimarer Republik nachhaltig geprägt und einen wesentlichen Faktor der jüdischen Renaissance gebildet hatte. Als Institution ging es auf das von Franz Rosenzweig (1886–1929) im August 1920 in Frankfurt/M. eingerichtete Freie Jüdische Lehrhaus zurück, das eine Mischung aus dem jüdischen Bet ha-Midrasch und der öffentlichen Volkshochschule sein und jüdisches Wissen in einer neuen Form weitergeben – und dadurch zu einer Neuentdeckung von Judentum führen – sollte. Weder Rabbiner noch ausgebildete Lehrer sollten am Lehrhaus unterrichten. Sein Ziel war es, eine moderne jüdische Kultur, die mit der deutschen eng verbunden war, hervorzubringen. Das Lehrhaus blieb auch während des Nationalsozialismus eine Zeitlang bestehen, aber die geänderten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen verfremdeten seinen ursprünglichen Zweck. Eine Vermittlung jüdischen Wissens, um jüdisches Leben wieder aufblühen zu lassen, ohne eine Entfremdung von der allgemeinen Kultur einzuleiten, war nunmehr nicht mehr möglich.
Juden in Deutschland nach 1945 Für die Juden in Deutschland lässt sich die Zeit von 1945 bis zur Gegenwart in drei Phasen einteilen. Im ersten Abschnitt, der rund 20 Jahre dauerte, versuchten sie, sich wirtschaftlich zu konsolidieren. Sie vermieden es, in der Öffentlichkeit ihr jüdisches Selbstbewusstsein zu betonen, und wollten vor allem nicht auffallen. Die Judenschaft im Nachkriegsdeutschland setzte sich aus ca. 10.000 Displaced Persons (DPs), also Menschen, die von den Alliierten aus den Konzentrationslagern befreit worden waren und nicht mehr in ihre frühere Heimat zurückkehren wollten oder konnten, und 15.000 in Deutschland überlebenden Juden zusammen. Ihre gesellschaftliche Passivität war größtenteils durch ihre traumatischen Erfahrungen während der Nazi-Diktatur bedingt. Sie war aber auch eine Reaktion auf das weitgehend fehlende Interesse der nichtjüdischen Bevölkerung, sich mit ihnen und der unmittelbaren Vergangenheit auseinander zu setzen. Der nichtjüdische Gesellschaftsteil schien froh zu sein, dass Juden sich in eine soziale Nische verflüchtigten. Seine Indifferenz, vielleicht auch Ignoranz gegenüber Juden war stark durch Schuldgefühle über die eigene Verwicklung in die Shoah bedingt sowie von Bemühungen getragen, diesen Teil der Geschichte hinter sich zu lassen. Die ersten Bestrebungen, die jüngere Vergangenheit aufzuarbeiten und, damit einhergehend, ein gesteigertes Interesse an jüdischer Geschichte und Kultur zeigten sich vereinzelt schon in den 1960er Jahren. Sie taten sich, wie bereits erwähnt, in der Hinwendung einiger nichtjüdischer Historiker zur jüdischen Geschichte kund, daneben aber auch in der Etablierung universitärer Institutionen zum Studium von Judentum bzw. seiner Geschichte und Kultur. In späteren Jahren gab es eine erstaunliche Begeisterung für Klezmermusik. Zum anderen erwuchs die nichtjüdische Neugierde am Judentum einem Schamgefühl jüngerer Menschen über die Involvierung der Elterngeneration, häufig der eigenen Familie, in die
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Vernichtung der Juden während des Nationalsozialismus. Die Beschäftigung mit diesem Teil der Geschichte ging bisweilen mit symbolhaften Aktivitäten zu ihrer Bewältigung einher. Sie bestanden u. a. in der Gründung von musealen Einrichtungen, Vereinen zur Pflege jüdischer Friedhöfe oder auch Oral History-Projekten mit Überlebenden des Holocausts. In weiterer Folge ließ die Auseinandersetzung mit dem beinahe vernichteten Judentum auch ein Interesse an der untergegangenen, besser: versenkten Kultur der ostjüdischen Schtetlwelt, oder zumindest das, was man für sie hielt, entstehen. Aus ihr bezog die Klezmermusik in den 1980er und vor allem 1990er Jahren ihre Popularität. Diese zweite Phase der Nachkriegsgeschichte ist somit durch ein Streben von Nichtjuden, ihr Wissen über Judentum zu erweitern, geprägt. Gleichzeitig traten Juden aus ihrer gesellschaftlichen Passivität heraus und begannen, ihre jüdische Identität öffentlich zu bekunden und für ihre Belange einzutreten. Erste Regungen eines gestärkten jüdischen Selbstbewusstseins gab es bereits Mitte der 1960er Jahre. Aufbauend auf dem Roman Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond von Gerhard Zwerenz machte der Regisseur und Filmproduzent Rainer Werner Fassbinder (1945–1982) daraus ein Theaterstück mit dem Titel Der Müll, die Stadt und der Tod. Dabei wird die Grundstücksspekulation in Frankfurt/M. problematisiert, gleichzeitig aber an einem jüdischen Spekulanten festgemacht. Der Rückgriff auf ein traditionelles antijüdisches Stereotyp empörte viele Juden, und während einer Aufführung des Stückes in Frankfurt/M. besetzten einige Mitglieder der lokalen jüdischen Gemeinde und andere Mitstreiter die Bühne. Weitere geplante Inszenierungen wurden daraufhin abgesagt. Durch diese Aktivitäten wurde deutlich, dass Juden in Deutschland sich anschickten, der Tradierung von Vorurteilen nicht mehr zuschauen zu wollen. Beginnend in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts, verstärkt aber in den letzten fünf Jahren, hat die allgemeine Neugierde am Judentum merkbar nachgelassen. Die neue Konstellation ist nicht zuletzt tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der jüdischen Gemeinden wie auch neuen politischen Konstellationen geschuldet.
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Auf den abschließenden Seiten werden einige Entwicklungen, die ein gesteigertes Interesse von Nichtjuden am Judentum bekunden, kurz beschrieben. Nichtjuden waren auch an der Auslegung und Vermittlung von einzelnen seiner Aspekte zentral beteiligt und haben in der Folge das gesellschaftliche Verständnis von Judentum beeinflusst. In diesem Kontext wurde sodann die Frage nach jüdischer ›Authentizität‹ aufgeworfen und diskutiert. Der Klezmer-Boom Beginnend in den 1970er Jahren erlebte die ostjüdische Musik eine neue Renaissance. Unter den bekanntesten Musikschaffenden der damaligen Zeit waren Geduldig und Thimann in Wien sowie Manfred Lemm in Wuppertal. Erstere brachten bereits 1975 eine Platte mit jiddischen Volksliedern heraus. In den 1980er Jahren wurde das Interesse für solche Songs durch Klezmermusik ersetzt, die in der Zwischenzeit zu einem Synonym für den ›authentischen‹ musikalischen Ausdruck der osteuropäischen Juden geworden war. Dabei speiste sie sich, wie es allgemein für kulturelle Aktivitäten der Fall ist, aus einer Reihe unterschiedlicher Quellen, konkret aus polnischen, rumänischen und anderen volksmusikalischen Traditionen, sie nahm Anleihen bei der Musik der Roma, natürlich auch dem jüdischen Volkslied, jüdischen liturgischen Gesängen u. a. m. Von ›jüdischer Authentizität‹ kann dabei schwerlich die Rede sein. Vielmehr ist Klezmer ein herausragendes Beispiel für die Verschränktheit und Verwobenheit jüdischer und nichtjüdischer musikalischer Kulturen. Der Versuch, Kultur ausschließlich mit einer ganz bestimmten Volksgruppe in Verbindung zu bringen, d. h. im gegenständlichen Fall die Klezmermusik ausschließlich mit den Ostjuden, beruht eher auf konstruierten Zuschreibungen denn auf einer seriösen und haltbaren Definition dieser Musik. Die ›Entdeckung‹ von Klezmermusik ging von jungen amerikanischen Juden auf der Suche nach eigenen musikalischen Wurzeln aus. Die 1960er und 1970er Jahre waren in den USA durch
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ein Interesse an Folkmusik sowie regionalen und ethnischen Musikstilen geprägt. Nicht wenige jüdische Musiker vertieften sich in irische Musik, Appalachian String Band-Musik und andere musikalische Stilrichtungen. Nach einiger Zeit fingen sie auch an, nach jüdischen musikalischen Traditionen zu fragen und zu forschen. Und sie stießen dabei auf Klezmermusik. Von den USA schwappte dieser Trend nach Europa über und fand vor allem in Deutschland große Resonanz. Die Popularität von Klezmermusik im Land zeigt sich nicht zuletzt daran, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts allein in Berlin rund 30 verschiedene Klezmergruppen spielten und um öffentliche Auftritte konkurrierten. Sehr schnell wurde die Klezmermusik auch von Nichtjuden aufgegriffen. Es dauerte nicht lange, bis sie einen beträchtlichen Teil, wenn nicht sogar die Mehrheit der Musiker stellten. Und auch das Publikum setzte sich größtenteils aus Nichtjuden zusammen. Nichtjüdische Konzertbesucher und Musiker begeisterten sich somit für eine stark mit dem vernichteten Ostjudentum assoziierte Musik. Bei Bands wie Gojim oder Klezgoyim kommt die nichtjüdische Herkunft ihrer Mitglieder bereits in ihrer Namensgebung zum Ausdruck. Was ist jüdische Kultur? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, in welchem Maße das Jüdische von Nichtjuden repräsentiert werden kann und soll. Ist es legitim, dass nach der Vernichtung eines Großteils der deutschen Juden die Kinder und Enkelkinder der Tätergeneration jüdische Kultur darstellen und damit auch konstituieren? Welche Rolle spielen Juden in diesem Kontext überhaupt noch? Das Phänomen, dass Nichtjuden am Judentum nicht nur Interesse aufbringen und sich mit ihm auseinander zu setzen beginnen, sondern sogar die Mehrheit unter dessen Vermittlern stellen, hat letztlich die Frage aufgeworfen, in welchem Maße Judentum in Deutschland ›virtuell‹ sei, d. h. von Nichtjuden konstruiert und aufrechterhalten wird, um de-
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ren spezifischen Vorstellungen von Judentum Genüge zu tun. Es scheint, dass im Gegensatz zum frühen 20. Jahrhundert, als Juden in den öffentlichen Raum drängten und dort in Präsenz von Nichtjuden ihre Identität aushandelten, nunmehr Nichtjuden einen vermeintlich jüdischen Raum schaffen und dabei ihr Bewusstsein in der Darstellung des Jüdischen ergründen. Deutsche Nichtjuden werden somit häufig von anderen Nichtjuden in das Judentum eingeführt. Das ist nicht nur an den Universitäten der Fall, sondern auch in anderen Einrichtungen, beispielsweise Museen. In einem kleinen Ort in Westfalen wurde beispielsweise ein jüdisches Museum mit dem Ziel gegründet, Besucher über jüdisches Alltagsleben zu informieren. Dass dabei Nichtjuden, die noch nie in ihrem Leben einem Juden begegnet sind und somit über Judentum lediglich aus Büchern gelernt haben, diese Aufgabe übernehmen, und es auch bei anderen Mitarbeitern sowie den Betreibern des Museums keinen Bezug zum Judentum gibt, lässt die Frage berechtigt erscheinen, was unter Judentum und jüdischer Existenz im gegenwärtigen Deutschland verstanden wird. Die Überlappung des Jüdischen und Nichtjüdischen reicht bisweilen noch darüber hinaus. Im Hinblick auf den Umstand, dass nichtjüdische Klezmermusiker bei ihren Auftritten nicht nur eine als jüdisch verstandene Musik produzieren, sondern sich bisweilen auch in ostjüdischer Tracht kleiden und damit selbst dem Aussehen nach jüdisch wirken wollen, ist die Behauptung erlaubt, dass Nichtjuden nicht nur jüdische Musik, sondern auch Juden spielen. Sie stellen Juden dar. Zur Instruktion über das Jüdische bedarf es scheinbar keiner Juden mehr. Es verwundert in diesem Kontext wohl kaum, dass jüdische Gemeinden irritiert auf diese Entwicklung reagieren und bei Einladungen zu jüdischen Kulturfestivals, die von ihnen organisiert werden, nichtjüdische Performer jüdischer Kultur gemeinhin ignorieren. Die Popularität von Klezmermusik lässt sich in eine breitere Tendenz einordnen, die sich als eine Art Wiederentdeckung der vernichteten Welt des Ostjudentums bezeichnen lässt. Im Gegensatz zur jüdischen Renaissance knapp einhundert Jahre zuvor findet
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sich die Begeisterung für ostjüdische Kultur diesmal in starkem Maße bei Nichtjuden. Das Interesse daran schlägt sich in der Institutionalisierung jüdischer Kulturtage nieder. Klezmerfestivals und jüdische Kulturtage finden im Deutschland der Gegenwart an vielen Orten statt, vor allem in Berlin, Weimar, Dresden, München und Worms. In deren Rahmen gibt es häufig Workshops zu unterschiedlichen Aspekten ostjüdischer Kultur, besonders zur jiddischen Sprache, zu Tanz und zum Kochen. Die Teilnehmer an den Veranstaltungen wollen dadurch Kenntnisse über die ostjüdische Alltagswelt erlangen. Ein wichtiger und nicht zu ignorierender Aspekt dieser Entwicklung liegt in der Motivation, Geschichte neu zu denken und die nationalsozialistische Vergangenheit zu bewältigen. Das mag in der persönlichen Biographie der einzelnen Musiker begründet liegen, wie es beispielsweise bei dem nichtjüdischen Leiter einer bekannten österreichischen Klezmerband der Fall ist, dessen Vater einst bekennender Nationalsozialist war und auch in späteren Jahren stark antisemitisch blieb. Indem sich dessen Sohn der Klezmermusik widmet, zieht er zwischen sich und der Haltung seines Vaters eine klare Unterscheidungslinie. Ein ähnlicher Umgang mit der Geschichte zeigt sich im Rahmen jüdischer Kulturfestivals. Sie besetzen häufig symbolhaft bestimmte Räume, die historisch mit dem Nationalsozialismus verbunden sind, und ordnen sie dadurch in ein neues geschichtliches Narrativ ein. Damit wird eine Art Vergangenheitsbewältigung auf einer gesellschaftlichen Ebene geübt. In Weimar beispielsweise finden alljährliche Workshops für Klezmermusiker in der Nähe des von den Nationalsozialisten errichteten Gauforums statt. In diesem Gebäude wurde 1939 die Ausstellung »Entartete Musik« organisiert. Mit der Neubestimmung der Räumlichkeiten wird ausgedrückt, dass die nationalsozialistische Ideologie ihre Ziele nicht verwirklichen konnte. Die Neuausrichtung von Gebäuden geht noch ein Stück weiter: Ein Openair-Film-Festival, das seit 2008 die Weimerer Workshops begleitet, findet im Innenhof des Marstallhofes statt, der früher der Sitz der Gestapo war.
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Das Ende des ›virtuellen‹ Judentums Die Diskussionen über ›jüdische Authentizität‹ verlieren in der Gegenwart an Aktualität. Das hat einerseits mit den Folgen der massenhaften Einwanderung von Juden aus der früheren Sowjetunion zu tun, und andererseits mit dem politischen Umgang mit dem islamischen Fundamentalismus im frühen 21. Jahrhundert. Nach der deutschen Wiedervereinigung lockerte Bonn für Juden die Voraussetzungen für eine Immigration. Damit sollte eine Geste der Wiedergutmachung ihnen gegenüber gesetzt werden. Gleichzeitig verbesserten sich die Ausreisemöglichkeiten in Russland und den benachbarten Ländern unter Gorbatschow. Innerhalb von fünfzehn Jahren, von 1990 bis 2005, wanderten an die 187.000 Juden aus den GUS-Staaten nach Deutschland ein. Mehr als 100.000 wurden Mitglieder von jüdischen Gemeinden. 1991 erhielten sie den Status von Kontingentflüchtlingen, womit ihre Lage jener der Deutschen weitgehend gleichgestellt wurde. Mit der zahlenmäßigen Zunahme von Juden und der Stärkung jüdischer Gemeinden blühte jüdisches Leben in Deutschland auf und wurde auch von der nichtjüdischen Öffentlichkeit deutlicher wahrgenommen. Judentum verlor dadurch seinen ›exotischen‹ Charakter. Es wurde der allgemeinen Bevölkerung zunehmend vertraut und als integraler Bestandteil der Gesellschaft gesehen. Davon zeugen nicht zuletzt zahlreiche Synagogen, die nach deren Zerstörung durch die Nationalsozialisten in den letzten Jahren wieder errichtet worden sind und im Gegensatz zu den Moscheenbauten keinen Anstoß in der allgemeinen Bevölkerung erregen. Mit der stärkeren Entfaltung jüdischer Existenz in der allgemeinen Gesellschaft scheint es keiner nichtjüdischen Ambitionen mehr zu bedürfen, um dieses in der Öffentlichkeit präsent zu halten und vor seinem vermeintlich gänzlichen Verschwinden zu retten. Unabhängig davon gibt es seit dem beginnenden 21. Jahrhundert eine politische Konfrontation mit dem islamischen Fundamentalismus, woraus eine verstärkte Neugierde im Hinblick auf den Islam entstand. Sie geht allerdings auf Kosten eines Interes-
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ses am Judentum. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt an der deutschen Universitätspolitik abzulesen: Während die Gründungsphase von Einrichtungen in Jüdischen Studien/Judaistik an den Hochschulen zu Ende gekommen zu sein scheint und die Fächer bisweilen mit einem Studierendenmangel zu kämpfen haben, werden nunmehr verstärkt Zentren für Islamische Studien etabliert. Gleichzeitig erfreuen sich die bereits bestehenden Institutionen für Islamwissenschaften unter den Studenten großer Resonanz und ziehen viele nichtmoslemische Studierende an. Diese stellen bisweilen bis zu drei Viertel der Seminarbesucher. Mit der rasch schwindenden Aufmerksamkeit für jüdische Kultur wird deutlich, dass die vielfältige Beschäftigung mit Judentum im ausgehenden 20. Jahrhundert keine tiefgehende Auseinandersetzung mit ihm dargestellt hat, sondern lediglich eine kurzzeitige ›Modeerscheinung‹ war. Nichtsdestoweniger hat sie tiefe Spuren in der allgemeinen Gesellschaft hinterlassen. Jüdische Museen im Nachkriegsdeutschland Frankfurt ist für die jüdische Nachkriegsgeschichte in Deutschland nicht nur im Hinblick auf die Fassbinder-Affäre wegweisend, sondern auch auf das Museumswesen. In dieser Stadt wurde nämlich das erste jüdische Museum, das nicht an ein bestehendes öffentliches Museum angeschlossen ist, eingerichtet. Der Beschluss der Frankfurter Stadtpolitiker zu dessen Gründung geht auf das Jahr 1980 zurück. Dabei konnte auf etliche Jahre zurückliegende Bemühungen von offizieller Hand, Quellen zur jüdischen Geschichte zu sichern, angeschlossen werden. In den frühen 1960er Jahren war schon einmal eine Kommission eingerichtet worden, die sich damit befasst hatte. Zwei Jahre nach dem Tumult um die Aufführung des Fassbinder-Stückes erhielten die Bestrebungen, Zeugnisse jüdischer Geschichte zu bewahren und sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, neuen Auftrieb, als im Rahmen von Bauarbeiten ein Teil der Frankfurter Judengasse freigelegt wurde. Viele Frankfurter Bürger, aber nicht
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so sehr die lokale jüdische Gemeinde, setzten sich mit Nachdruck für deren Erhalt ein. Rekonstruktionen der entdeckten Bauten, u. a. einige Häuser und Ritualbäder, wurden letztlich im Frankfurter jüdischen Museum, das im November 1988 eröffnet wurde, ausgestellt. Das allgemeine Engagement für den Erhalt jüdischer ›Kulturdenkmäler‹ blieb kein Frankfurter Charakteristikum, sondern zeigte sich ab den 1990er Jahren auch an anderen Orten. Dabei ragt der jüdische Museumsbau in Berlin hervor, der im Jänner 1999 öffentlich zugänglich gemacht wurde. Er trat die Nachfolge des nur wenige Tage vor der Übernahme der Kanzlerschaft durch Adolf Hitler eröffneten (und bald darauf wieder geschlossenen) jüdischen Museums an. Erste Pläne, Ausstellungen jüdischer Kulturobjekte einen Raum zu geben, gab es in Berlin bereits in den späten 1960er Jahren. Damals wurde allerdings daran gedacht, ihnen im Berlin Museum, das 1971 seine Pforten öffnete, einen Platz zuzuweisen. In den späten 1980er Jahren wurde sodann der Plan, das jüdische Museum als einen eigenen Erweiterungsbau des Berlin Museums einzurichten, angenommen. Die beiden Berliner jüdischen Museen, das historische wie auch das am Ende des 20. Jahrhunderts in Angriff genommene, sagen viel über die Erwartungen und den Zustand der jeweiligen jüdischen Gemeinde, und damit auch über die Verhältnisse der Juden zur allgemeinen Gesellschaft, aus. Das alte, im Jänner 1933 eröffnete Museum schien eine enge Verbundenheit zwischen der jüdischen und deutschen Kultur zu betonen. Damit sollte ein dem zeitgenössischen Kontext widersprechendes Konzept der Beziehungen von Juden und Nichtjuden vorgestellt werden. Im neuen jüdischen Museum sollte das jüdisch-nichtjüdische Miteinander deutlich abgeschwächter vorgestellt und auch architektonisch, in der ›erschwerten‹ Verbindung des jüdischen mit dem Berlin Museum, zum Ausdruck kommen. Das jüdische Museum sollte nur ›indirekt‹ an Letzteres angeschlossen werden, d. h. nicht durch äußerliche, klar sichtbare Zugänge, sondern in Form von unterirdischen Gängen, die eine Verflechtung zwischen der allgemeinen Berliner und der jüdischen Geschichte lediglich nahelegen
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und vage andeuten. Judentum und allgemeine Kultur würden als zusammengehörend, doch gleichzeitig auch wieder als selbstständig und voneinander getrennt verstanden. Besondere Beachtung sollte der international vielbeachtete Bau von Daniel Libeskind durch seine voids erfahren, d. h. leere Räume, die an die Absenz der Berliner Juden aufgrund der Shoah gemahnen. Diese voids unterbrechen die museale Erzählung und weisen auf einen geschichtlichen Kontinuitätsbruch hin, der durch die Shoah verursacht wurde. Das ursprüngliche Konzept, das jüdische Museum als einen eigenen Erweiterungsbau des Berlin Museums einzurichten, war kontrovers. Letztlich wurde beschlossen, dem jüdischen Museum gänzliche Autonomie zu gewähren. Vor seiner Eröffnung wurde die allgemeine Berlin-Geschichte in das Märkische Museum ausgelagert. Etwas anders stellt demgegenüber das jüdische Museum in München das Miteinander von Juden und Nichtjuden dar. Gleich wie beim Berliner jüdischen Museum reichen die ersten Initiativen zu dessen Etablierung in die Weimarer Republik zurück. 1928 erging der erste Aufruf zur Einrichtung eines »Landesmuseums für jüdische Altertümer«, und 1930 gab es bereits eine erste entsprechende Ausstellung. Aufgrund der schon bald darauf stattgefundenen Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Deutschland konnten weiterreichende Pläne allerdings nicht verwirklicht werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte das bereits erwähnte Desinteresse der Juden an einem gesellschaftlichen Engagement oder gar einer öffentlichen Selbstrepräsentation die Einrichtung eines jüdischen Museums lange Zeit verzögern. Auch die Stadt München zeigte keine Ambitionen, entsprechend initiativ zu werden. Es gab zwar individuelle Bemühungen, kleinere Ausstellungen zu organisieren, aber für die Realisierung größerer Vorhaben fehlte es an Unterstützung. Dies änderte sich erst 1998, als ein neun Jahre zuvor in einer kleinen Wohnung eingerichtetes privates jüdisches Museum zu schließen drohte. Nunmehr fanden sich sowohl die Stadt München als auch die ansässige Judenschaft
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bereit, dessen Erhalt und Ausbau zu fördern. Der neue Museumsbau wurde 2007 in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer neu erbauten Synagoge eröffnet. Das jüdische Museum in München stellt ein Narrativ vor, das sich deutlich von der Erzählung, die unter den Juden in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorherrschte, absetzt. Bis in die 1970er Jahre wurde von ihnen im Großen und Ganzen die Anschauung vertreten, dass die deutsch-jüdische Geschichte in der Shoah kumulierte, dass die Judenverfolgungen und der Antisemitismus in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor auf die Judenvernichtung unter den Nationalsozialisten zusteuerten. Für viele Juden, vor allem für jene, die diese Zeit auf der Flucht, im Versteck oder durch glückliche Fügung überlebten, mag diese Geschichtsschau vertretbar und die einzig angemessene historische Deutung sein. Aber wie im vorliegenden Buch darzustellen versucht wurde, gab es in der Geschichte nicht nur Judenfeindschaft, sondern oftmals auch gemeinsame Interessen von Juden und Nichtjuden, nicht lediglich oberflächliche Kontaktzonen und flüchtige Begegnungsorte, sondern auch ein Miteinander und Füreinander. Zugegebenermaßen waren entsprechende Bemühungen oftmals einseitig und wurden von Nichtjuden ignoriert oder gar zu hintertreiben versucht. Aber die kulturellen Verflechtungen, die jüdisch-nichtjüdischen Interaktionen sind trotzdem Teil der jüdischen Geschichte, der nicht ausgeklammert werden kann. Das mindert nicht die Dimension der Shoah, erweitert aber die geschichtlichen Betrachtungen. Und diese Perspektive hat sich das jüdische Museum in München zu eigen gemacht. Es will Münchner jüdische Geschichte und Kultur als Teil der Stadtgeschichte erscheinen lassen, was auch heißt, dass Juden als Teil der allgemeinen Gesellschaft gesehen werden. Ein Ausstellungsstück, an dem diese Sichtweise besonders gut zum Ausdruck kommt, stellt ein Bierkrug dar. Auf den ersten Blick hat das Trinkgefäß wenig mit Judentum zu tun, und ob sein Platz in einem jüdischen Museum angemessen ist, könnte bezweifelt werden. Er mag eher die bayerische Trinkkultur symbolisieren. Bei näherem Hinsehen erkennt man aber eine Inschrift,
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Juden in Deutschland nach 1945
die lautet: »Reservelazarett – israelitisches Krankenheim, Weihnachten 1917«. Bei dieser Einrichtung, die 1911 vom Verein Israelitische Privatklinik eröffnet wurde, handelte es sich um ein Krankenhaus, zu dem Patienten aller Konfessionen Zugang hatten. Es institutionalisierte eine jüdisch-nichtjüdische Gemeinschaft jenseits religiöser Schranken. Während des Ersten Weltkrieges diente es als Aufnahmestation für verwundete Frontsoldaten, jüdische wie auch nichtjüdische. Damit wurde es ein Symbol für die nationale Teilhabe der Juden. Letztlich ist auch die Datumsangabe in der Inschrift recht interessant. Sie weist auf die Relevanz von Weihnachten für Juden hin – vielleicht nicht unbedingt in seiner christlichen Bedeutung, sondern als ein Fest, dessen Feier eine gesellschaftliche Zugehörigkeit ausdrückt. An diesem Ausstellungsstück wird jedenfalls deutlich, dass das jüdische Museum in München jüdische Geschichte in einer Weise darstellt, die enge jüdisch-nichtjüdische Verflechtungen aufzeigt. Aber nicht in allen jüdischen Museen ist dieses Narrativ so dominant. In der Darstellung jüdischer Geschichte gibt es eben plurale Deutungen. Jüdische Schriftsteller/-innen Die Shoah hat die Werke jüdischer Kulturschaffender im deutschen Sprachraum nachhaltig geprägt. Auf keinem anderen Gebiet zeigt sich das so deutlich wie in der Literatur. Wie teilweise bereits im Fin-de-Siècle, so zählen auch in der Gegenwart jüdische Autoren/-innen, vor allem in Österreich, zu den besten ihrer Zunft und tragen wesentlich zur internationalen Anerkennung der Literaturszene bei. Namen wie Robert Menasse, Doron Rabinovici, Robert Schindel und in Deutschland vor allem Maxim Biller, Barbara Honigmann oder Esther Dischereit sind nur die wichtigsten Verfasser/-innen literarischer Werke, die große Bekanntschaft erlangt haben. Sie schreiben alle vor der Folie der nationalsozialistischen Judenvernichtung und versuchen, mit deren Auswirkungen auf die Gegenwart zurande zu kommen.
Jüdische Schriftsteller/-innen
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Es dauerte eine Zeitlang, bis es nach 1945 von jüdischer Seite möglich war, sich unter Einhaltung literarischer Qualitätskriterien mit dem Thema der Shoah auseinander zu setzen. Die erste Generation jüdischer Autoren, zu denen beispielsweise Jurek Becker gehörte, schrieb meist aus ihren eigenen Erfahrungen und als Augenzeugen des Massenmordes. In der Folge wurden ihre Bücher auch eher als Quellen für die Geschichtswissenschaft denn als Veröffentlichungen von hohem literarischen Wert behandelt. Die zweite Generation jüdischer Schriftsteller, die sich in etwa ab den 1980er Jahren profilierte, verhält sich umgekehrt und berücksichtigt die Debatten und Diskurse in der Geschichtswissenschaft über den Holocaust. Sie ist nicht mehr von der Frage getrieben, wie er dargestellt und über ihn geschrieben werden könne, sondern wie mit Geschichte verfahren werde müsse, welche Rolle die Erinnerung an das Grauen des Holocaust einnehme und wie sie bewahrt werden könne. Ein bezeichnendes Werk für diesen Ansatz bildet der Roman Gebürtig von Schindel. Gleichzeitig verliert der nationalsozialistische Judenmord seine dominante Position in den literarischen Werken und macht einem subtilen Umgang mit ihm Platz. In den Veröffentlichungen geht es auch darum, die Erwartungen an die Literatur, unterhaltend zu sein, zu erfüllen. Nichtsdestoweniger bleibt die Frage, was aus der Geschichte gelernt werden könne, bestehen. Die dritte Generation von jüdischen Schriftsteller/-innen verfolgt wiederum einen neuen Ansatz. Dabei wird vom Bezug auf die Geschichte und der Frage, was sie für die Gegenwart bedeute und wie ihr Umgang mit der Shoah sei, abgegangen. Diese geschichtswissenschaftliche Bindung, meint beispielsweise Eva Menasse, behindere sie beim Erzählen, das vom Leben, nicht aber von der Theorie, inspiriert sein solle. Welche Position auch immer zur Shoah eingenommen wird, sie war und ist für die jüdischen Autoren/-innen präsent und beeinflusst ihre Werke.
Nachwort Auf den vorangegangenen Seiten wurde darzustellen versucht, dass Juden am allgemeinen Kulturleben wesentlich teilhatten und dass ihre Leistungen in weitem Maße einem engen Kontakt mit Nichtjuden geschuldet waren. Die Frage, wie sehr einzelne Künstler als Juden bezeichnet werden können oder ihre Werke zur jüdischen Kunst zu zählen sind, musste unbeantwortet bleiben. In der Gegenwart, d. h. zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, hat sich das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden im Vergleich zur Vergangenheit stark gewandelt. Juden scheinen nunmehr ein selbstverständlicher Teil des Kulturlebens zu sein. Gleichzeitig gehen Juden mit jüdischen Motiven, Symbolen oder dem, was sie als jüdisch verstehen, viel gelassener um. Zwar war es nie leicht zu bestimmen, was jüdisch sei. Aber gegenwärtig wird dies durch eine verstärkte Hybridisierung des als jüdisch Erachteten noch zusätzlich erschwert. Das ersieht man exemplarisch an der Musik. War bis vor wenigen Jahren Klezmermusik noch ungemein populär und galt sie als Inbegriff der (ost-) jüdischen Musik, so stoßen jetzt jüdische Musiker auf Resonanz, die als jüdisch geltende Musik mit anderen Musikstilen oder Themen kreativ vermengen. Dieser neuartigen Musikproduktion hat sich beispielsweise Maya Saban, eine in Deutschland geborene und aufgewachsene Jüdin, verschrieben. Mit Jewdyssee versucht sie, jüdische Klassiker, darunter Yankele oder Bei mir bist du scheijn, mit Anleihen bei verschiedensten musikalischen Genres neu zu spielen. Maya Saban ist auch bekannt als Sängerin der Lena-Meyer-Landrut-Band, die 2010, nach mehr als einem Vierteljahrhundert erstmals wieder den Sieg im Eurovision Songcontest nach Deutschland holte. Im Miteinander von Juden und Nichtjuden, im konkreten Fall von Maya Saban und Lena Meyer-Landrut sowie anderen Musikern/-innen, wurde ein ›deutscher Beitrag‹ in einem musikalischen Wettkampf geschaffen. Maya Saban ist nur eine von vielen Musikern/-innen und anderen jüdischen Kulturschaffenden, die das Leben und die kultu-
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Nachwort
relle Szene vor allem in Berlin bereichern. Die Hauptstadt Deutschlands ist unter Israelis äußerst beliebt, und viele von ihnen ziehen dorthin. Diese Immigranten haben zumeist nur ein geringes Interesse an der ehemaligen ostjüdischen Schtetlwelt, und gleichzeitig auch einen anderen Bezug zum Nationalsozialismus als ›alteingesessene‹ Juden. Im Vergleich zu ihrer Elternund Großelterngeneration ist bei ihnen das Gefühl der Betroffenheit in Bezug auf die Shoah gering, und sie begegnen Deutschen entkrampfter. Das kommt besonders deutlich beim jüdischen Kabarettisten Oliver Polak zum Ausdruck, der in provokanter Weise die Grenzen der political correctness missachtet und mit Klischees spielt, um diese aufzubrechen. In seinen Kabarettprogrammen, die u.a. »Jud süß-sauer« heißen, verstößt er in demonstrativer Weise gegen die von Juden und Nichtjuden akzeptierte Konvention, dass über das Judesein nicht gelacht werden dürfe. Ähnlich provokativ, gleichzeitig aber auf große Resonanz stoßend, ist der Israelische DJ Aviv Netter, der sich ebenfalls in Berlin niedergelassen hat und dort schwulenfreudliche Partys mit einem israelischen Anklang veranstaltet. So laufen die Veranstaltungen unter dem Namen Meschugge, und an die Wände sind ein Davidstern, ein Porträt von Israels früheren Premierministerin Golda Meir, aber auch ein Schweinekopf projiziert. Aviv Netters Partys haben so großen Zulauf, dass ihn die israelische Botschaft nach München fliegen ließ, um für die dortige Schwulengemeinde eine ähnliche Veranstaltung zu organisieren. Was man an solchen Hinweisen ablesen kann ist, dass Juden vollständig Teil des kulturellen Lebens sind. Dafür können noch viele andere Beispiele angeführt werden, z. B. Oliver Althausen, der 2011 Fasnachtsprinz von Mannheim wurde. Althausen ist Mitglied der jüdischen Gemeinde, besucht die Synagoge, nimmt aber auch an diesem ursprünglich sehr katholischen Brauch teil. Eine Entwicklung, in der sich ebenfalls eine Art entspanntes, auf jeden Fall aber neues Verhältnis zwischen Juden und Deutschen niederschlägt und das ein Abrücken der Juden von einem Narrativ, das in den Jahrzehnten nach der Shoah vorgeherrscht hat, anzeigt, kommt im Synagogenbau zum Ausdruck. Als her-
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ausragendes Beispiel für die neue Entwicklung kann die Synagoge in Mainz erwähnt werden, die im Herbst 2010 eröffnet wurde. Sie unterscheidet sich von vielen anderen Synagogenbauten, vor allem aber auch von dem bereits erwähnten, neben dem Münchner Museum lokalisierten Gotteshaus, in zweierlei Hinsicht: Zum Ersten gibt es keinen Bezug zum Holocaust, d. h. der Neubau entschlägt sich seiner Instrumentalisierung zur Erinnerung an die systematische Ermordung der Juden während des Nationalsozialismus. Die Münchner Synagoge wird gewöhnlich, mit Ausnahme der hohen Feiertage, unterirdisch durch »Gang der Erinnerung« betreten, der an die Vernichtung von sechs Millionen Juden gemahnt. In Mainz gibt es stattdessen eine Referenz zum Mittelalter, als die dortige jüdische Gemeinde eine der bedeutendsten auf deutschem Boden war. Und zum Zweiten verabschiedet sich die Mainzer Synagoge von einem verbreiteten architektonischen Selbstverständnis: Anders als in München oder auch in Dresden, wo die jüdischen Gotteshäuser bisweilen massive Bauelemente darstellen, passt sich der Mainzer Neubau architektonisch an die Umgebung an und hebt sich in seiner Größe nicht davon ab. Auch darin kommt symbolisch das Miteinander mit der nichtjüdischen Umgebung zum Ausdruck. Die selbstgewählte Unauffälligkeit ist nicht Ausdruck des Wunsches, nicht aufzufallen, wie es in den Jahren nach dem Holocaust bei vielen Synagogenbauten der Fall gewesen ist, sondern ein Anzeichen der gesellschaftlichen und kulturellen ›Dazugehörigkeit‹.
Literatur Brenner, Michael, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik (München 2000). Dalinger, Brigitte, „Verloschene Sterne“. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien (Wien 1998). Glasenapp, Gabriele von, Aus der Judengasse. Zur Entstehung und Ausprägung deutschsprachiger Ghettoliteratur im 19. Jahrhundert (= Conditio Judaica 11, Tübingen 1996). Gronemann, Sammy, Hawdoloh und Zapfenstreich. Erinnerungen an die ostjüdische Etappe 1916-1918 (Berlin 2 1984) John, Michael, Lichtblau, Albert, Schmelztiegel Wien – Einst und Jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten (Böhlau Verlag: Wien 1990). Lässig, Simone, Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert (Göttingen 2004). Otte, Marline, Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890-1933 (New York 2006). Rauschenberger, Katharina, Jüdische Tradition im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Geschichte des jüdischen Museumswesens in Deutschland (= Forschungen zur Geschichte der Juden. Abteilung A: Abhandlungen 16, Hannover 2002). Riss, Heidelore, Ansätze einer Geschichte des jüdischen Theaters in Berlin 1889-1936 (Frankfurt/M. 2000). Slobin, Mark, The Neo-Klezmer Movement and Euro-American Musical Revivalism. In: Journal of American Folklore 97 (1984) 98-104. Triendl-Zadoff, Mirjam, Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne (= Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 6, ed.
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Literatur
Michael Brenner, Stefan Rohrnacher, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007). Yerushalmi, Yosef Hayim, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis (Verlag Klaus Wagenbach: Berlin3 1996).
Bildnachweise Georg Heuberger, Anton Merk (ed.), Moritz Daniel Oppenheim. Die Entdeckung des jüdischen Selbstbewusstseins in der Kunst (Frankfurt/M. 1999). Richard I. Cohen, Jewish Icons. Art and Society in Modern Europe (Berkeley 1998). Ezra Mendelsohn, Painting a People. Maurycy Gottlieb and Jewish Art (Lebanon/NH 2002). Chana C. Schütz, Max Liebermann as a »Jewish« Painter: The Artist’s Reception in His Time. In: Berlin Metropolis: Jews and the New Culture, 1890– 1918, ed. Emily D. Bilski (Berkeley 1999) 146–163. Inka Bertz, Jewish Renaissance – Jewish Modernism. In: Berlin Metropolis: Jews and the New Culture, 1890–1918, ed. Emily D. Bilski (Berkeley 1999) 164–187.
Personenregister Adorno, Theodor 133 Agnon, Samuel 131 Alejchem, Scholem 130 Altenberg, Peter 87,99,106 Althausen,Oliver 152 Antokolski, Mark Matvejevich 58 Arnim, Achim von 39 Asch, Schalom 130 Auerbach, Berthold 72,73,74,75 Bach, Johann Sebastian, 11,12,13 Baron, Salo Wittmayer 121,122 Basedow, Johann Bernhard 28 Becker, Jurek 149 Beer-Hofmann, Richard, 83,84 Bellotto, Bernardo 21 Bendemann, Eduard 49,50 Benjamin, Walter 101,129,132,134 Benn, Gottfried 128 Bernstein, Aron 76 Bernstein, Felicie 70 Bettauer, Hugo 111,134 Bialik, Chajim Nachman ,131 Biller, Maxim 148 Bismarck, Otto von 46 Bleichröder, Gerson von 85 Bleichröder, James von 85 Bloch, Ernst 132 Bloch, Josef Samuel 100 Borchardt, Isidor 76 Börne, Ludwig 40,41 Brahm, Otto 96,97,98 Brahms, Johannes 74 Brecht, Bertolt 98,131 Brod, Max 82,83,84 Buber, Martin 65,66,84,114,119,123,124,1 27,135,136 Canetti, Elias 84 Cassirer, Bruno 68,69,128 Cassirer, Paul 68,69,70,128 Chamberlain, Houston Stewart 59 Cohen, Hermann 114
Cohen, Philippine 29 Curtiz, Michael 111 Davidson, Paul 108,109 Delaunay, Robert 63 Derrida, Jacques 114 Dessau, Paul 131 Dessauer, Adolf 82 Dischereit, Esther 148 Döblin, Alfred 83,99,101,127 Dohm, Christian Wilhelm 24,26 Dubnow, Simon 121 Ehrmann, Herz 76 Emden, Jacob 23,25 Eybeschütz, Jonathan 8 Fassbinder, Rainer Werner 138,144 Feuchtwanger, Lion 75,83,134 Finckenstein, Karl von 36 Fischer, Hedwig 70 Fischer, Samuel 70,128 Formstecher, Salomon 80 Franzos, Karl Emil 75,79 Freud, Martin 112 Freud, Sigmund 112 Freund, Julius 95 Freytag, Gustav 80 Galitzenstein, Maxim 108,109 Gans, Eduard 42,43 Geiger, Abraham 43,44,58 Girardi, Alexander 95 Goethe, Johann Wolfgang 9, 10, 13, 33, 39, 51, 74 Gottlieb, Maurycy 54, 55, 56, 57, 58, 59, 64, 66, 109 Grattenauer, Karl Wilhelm 14 Graetz, Heinrich 57,119,120,121,122 Grünbaum, Fritz 99 Grunwald, Max 118 Güdemann, Moritz 54,118
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Personenregister
Harden, Maximilian 132 Hauschner, Auguste 82 Heine, Heinrich 7, 11, 13, 40, 42, 43, 74, 75, 133, 134, Herder, Johann Gottfried 47,82 Hermann, Georg 82,135 Herrnfeld, Anton 93 Herrnfeld, Donat 93 Herz, Henriette 35,36,37,40 Herz, Marcus 35 Herzberg-Fränkel, Leo 75 Herzl, Theodor 66,110 Heym, Georg 128 Hindemith, Paul 98 Hitzig, Julius Eduard 39 Hoddis, Jakob von 127 Hoffmann, Josef 129 Hofmannsthal, Hugo von 98 Hollaender, Victor 95 Honigmann, Barbara 148 Horkheimer, Max 133 Humboldt, Alexander von 11,36 Hurwitz, Saul Israel 101 Husserl, Edmund 132 Jarndorf, Adolf 104 Jersch-Wenzel, Stefi 123 Jost, Isaac Markus 31,121 Kafka, Franz 92,131,133 Kahn, Arthur 76 Kandinsky, Wassily 128 Kant, Immanuel 33 Kaznelson, Siegmund 122 Kertesz, Mihaly 111 Klinger, Ruth 129,130 Kokoschka, Oskar 69,128 Kompert, Leopold 72,75,77,78 Kornfeld, Paul 127 Kreisler, Otto 110 Lang, Fritz 111 Langbehn, Julius 62 Lasker-Schüler, Else 83,84,101,128,129,134 Leipziger, Leo 108 Leschnitzer, Adolf 123 Levi, Sem 104 Lewin, Georg 127
Liszt, Franz 74 Levin, Markus 29 Levin, Rahel 29,36,37 Liebermann, Max 59, 60, 61, 62, 64, 65, 128, 135 Lilien, Ephraim Moses 66,67,68,119 Lobenstein, Albert 108 Loos, Adolf 69,105 Löwy, Siegfried 99 Lubitsch, Ernst 108,109 Macke, August 128 Mahler, Gustav 83 Maimon, Solomon 32,33 Mann, Heinrich 128 Mann, Thomas 128 Marcuse, Herbert 133 Matejko, Jan 55,56 May, Joe 110,111 Meidner, Ludwig 63,64,129 Menasse, Eva 149 Menasse, Robert 148 Mendelssohn, Moses 11,13,30,33,36,47,49 Mendelssohn Bartholdy, Felix 9, 10, 11, 12, 13, 14, 51, 55 Meyer, Rahel 81 Meyerbeer, Giacomo 14 Meyer-Landrut, Lena 151 Mosse, Rudolf 108 Mühsam, Erich 127 Natorp, Paul 114 Nelson, Rudolf 95,99 Netter, Aviv 152 Nietzsche, Friedrich 117 Oppenheim, Daniel Moritz 9,10,11,13,47, 48,50,51,52,53,54,62,64,71,73 Orzeszkowa, Eliza 76 Oswald, Richard 109,110 Pasternak, Leonid 11 Perez, Isaac Leib 130 Pestalozzi, Johann Heinrich 28 Philippson, Ludwig 71,79 Philippson, Phöbius 71,79 Pick, Gustav 95 Pissarro, Camille 55,109
Personenregister Polak, Oliver 152 Pommer, Erich 109 Rabinovici, Doron 148 Rathenau, Emil 47 Rathenau, Walter 47,48,106,132 Reinhardt, Max 97,98,108,130 Rembrant (van Rijn, Rembrandt) 54 Richarz, Monika 123 Richter, Cornelia 70 Roda, Roda 99 Rosenfeld, Morris 119 Rosenzweig, Franz 136 Roth, Joseph 84,132 Rothberger, Jacob 104,105 Rothschild, Amschel Mayer 52 Rott, Alexander 94 Ruppin, Arthur 115 Rürup, Reinhard 123 Sacher-Masoch, Leopold von 76,78,79 Saban, Maya 151 Sakaschansky, Maxim 129,130 Salten, Felix 99 Schadow, Wilhelm 49,50 Schiff, Hermann 75,76 Schindel, Robert 148,149 Schlegel, August Wilhelm 38 Schlegel, Friedrich 38 Schleiermacher, Friedrich 11, 36, 37, 38, 39, 117 Schnitzler, Arthur 82 Schocken, Salman 104,131 Scholem, Gershom 123 Schönberg, Arnold 68,69 Schoppenhauer, Arthur 117 Schorr, Baruch 100 Schubert, Franz 74 Simmel, Georg 63
Singer, Isaac Bashevis 7 Singer, Kurt 135 Spengler, Oswald 117 Steinhardt, Jacob 63,64,129 Steuer, Alfred 76 Struck, Hermann 65,68 Tanner, Henry Ossawa 12 Tietz, Hermann 104,105 Tietz, Oscar 104 Toch, Ernst 99 Toller, Ernst 127,134 Tschernikowski, Saul 131 Tucholsky, Kurt 101,134 Ury, Lesser 47,48,62,63,65 Varnhagen, Karl August 29 Varnhagen, Rahel 41 Veit, Dorothea 36,37,38 Veit, Johann 49,50 Veit, Philipp 49,50 Veit, Simon 13,38 Walden, Herwarth 69,128 Wassermann, Jakob 82,84,132,135 Wedekind, Frank 98 Weill, Kurt 98,131 Werfel, Franz 101,127 Wertheim, Georg 103,105 Wessely, Naphtali Herz 28,29 Wilder, Billy 109 Wittgenstein, Karl 128 Wolf, Elcan Isaac 24,25 Zelter, Karl 9 Zweig, Arnold 127,130,134 Zweig, Stafan 101,134 Zunz, Leopold 31,42,43,54
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