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German Pages [214] Year 2016
Martina Böhm (Hg.)
Kultort und Identität Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike Mit Beiträgen von Martina Böhm, Max Küchler, Christl M. Maier, Matthias Müller, Enno Edzard Popkes, Jörg Rüpke und Günter Stemberger
2016
Vandenhoeck & Ruprecht
Biblisch-Theologische Studien 155 Herausgegeben von Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski und Matthias Konradt
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–2935–6 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter www.sonnhueter.com Satz: Martina Böhm, Hamburg
Vorwort
Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge wurden im März 2014 auf einer Tagung, deren Thema dem Titel des Bandes entsprach, auf der Ebernburg bei Bad Münster am Stein (Rheinland-Pfalz) gehalten. Die Tagung war die dritte von fünf zwischen 2012-2016 durchgeführten Tagungen zum Rahmenthema „Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike“ – ein Projekt, das zwar der Fachgruppe „Neues Testament“ der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie zugeordnet war, das aber im Hinblick auf Verantwortung wie Durchführung eine bewusst interdisziplinäre Ausrichtung besaß. Während die erste Tagung (2012) unter der Leitung von Prof. Dr. Markus Öhler allgemeinen Aspekten von Identitätsbildung gewidmet war, stand auf der zweiten, von Prof. Dr. Eberhard Bons hauptverantwortlich getragenen Tagung (2013) der Zusammenhang von „Identität und Gesetz“ im Zentrum der Überlegungen. Beide Tagungsbände liegen bereits vor (BThSt 142 und 151); die Bände der Tagungen von 2015 („Identität und Schrift“, Prof. Dr. Marianne Grohmann) und von 2016 („Identität und Sprache“, Prof. Dr. Florian Wilk) befinden sich in Vorbereitung. Dass die Beiträge der Tagung von 2014 nun auch einem breiteren Publikum zugänglich werden, verdient vielfachen Dank: zuallererst der Autorin und den Autoren, die die Beiträge nicht nur erstellt, sondern auch für den Druck überarbeitet haben; sodann den Herausgebern der „Biblisch-theologischen Studien“, Herrn Prof. Dr. Jörg Frey und Herrn Prof. Dr. Matthias Konradt, die der Aufnahme dieses Bandes in die Reihe freundlicherweise zugestimmt haben; und nicht zuletzt ist Herrn Dr. Volker Hampel, dem zuständigen Lektor des Neukirchener Ver-
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Vorwort
lages, für große Geduld, genaue Blicke und alle freundliche Begleitung und Beratung bei der Entstehung der Druckvorlage zu danken. Hamburg, im September 2016 Martina Böhm
Inhalt
Vorwort
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Martina Böhm Einführung .........................................................................
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Jörg Rüpke Religiöse Identität: Topographische und soziale Komponenten ...................................................................
19
Matthias Müller Unter den ägyptischen Priestern auf der Insel Elephantine ........................................................................
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Christl M. Maier Identität ohne Tempel? Der Diskurs um die Zerstörung Jerusalems im Jeremiabuch ...................
97
Max Küchler Reale, literarische und ikonographische Tempel der Juden, Römer und Christen in Jerusalem als Monumente behaupteter, verlorener und neu zu schaffender Identität .................................................
129
Günter Stemberger Die Bedeutung des Jerusalemer Tempels für die Identität des rabbinischen Judentums .......................
167
Enno Edzard Popkes Jesu Haltung zum Tempel und die frühchristliche Tempelmetaphorik ..........................................................
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Die Autorin und die Autoren des Bandes
205
...............
Martina Böhm
Einführung
1.
Kultort und religiöse Identität
Das Thema „Kultort“ gehört zu den klassischen Inhalten der Religionswissenschaft, näherhin der Religionsphänomenologie.1 Im Rahmen dieser Disziplin kann man sich dem Phänomen „Kultort“ in forschungsgeschichtlicher Hinsicht mit verschiedenen, inzwischen ebenfalls klassisch gewordenen Ansätzen nähern und es darum auch unterschiedlich definieren: Man kann das aus religionspsychologischer, aus einer auf das individuelle und kollektive Erleben konzentrierten Perspektive tun (R. Otto)2; man kann sich dem Thema „Kultort“ in Form vergleichender Religionsforschung, die sich für die äußerliche Klassifizierung und Ordnung religiöser Phänomene interessiert, annähern (W. B. Kristensen)3, oder man geht auf das Phänomen „Kultort“ von pragmatischer, auf die Handlungsebene ausgerichteter Seite her zu (J. Wach)4. In der gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Forschung werden als Antwort auf die Frage: „Was ist ein Kultort?“ die verschiedenen Perspektiven und Aspekte eher zusammengeführt. Ein Kultort ist demnach 1
Vgl. Udo Tworuschka, ed., Heilige Stätten, Darmstadt 1994, 1. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 351963. Vgl. dazu Tworuschka, Heilige Stätten 2f. 3 William Brede Kristensen, The Meaning of Religion. Lectures in the Phenomenology of Religion, Den Haag 1960. Vgl. dazu Tworuschka, Heilige Stätten 3. 4 Joachim Wach, Vergleichende Religionsforschung, Stuttgart 1962. Vgl. dazu Tworuschka, Heilige Stätten 3f. Es gibt weitere Ansätze, für die auf die einschlägige religionswissenschaftliche Literatur verwiesen sei: Tworuschka, Heilige Stätten 4-8. 2
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zunächst ganz allgemein eine natürliche oder künstlich geformte und häufig von der profanen Umgebung abgegrenzte Stätte, an der ein Kult in Form ritualisierter Handlungen zelebriert wird; eine Stätte, an der man aufgrund eines Mythos oder einer Gründungslegende mit jenseitigen Mächten bevorzugt kommuniziert und an der sich das Welt- und Selbstverständnis eines Individuums wie auch einer Gruppe manifestiert und vergewissert.5 Der Kultort kann konstant vorhanden, mobil oder immobil sein, er kann aber auch nur zeitweilig konstituiert werden. Er kann sich an öffentlich zugänglichen oder allein einer bestimmten Gruppe oder bestimmten Personen exklusiv vorbehaltenen Plätzen befinden6 – mit allen denkbaren Systemen von Übergangs- und Zwischenstufen im Hinblick auf den Zutritt. In diesem unspezifischen Sinn können mit dem Begriff „Kultort“ einerseits temporär oder konstant genutzte heilige Stätten im Sinne von größeren Bezirken gemeint sein; der Begriff kann aber auch die eigentlichen Orte kultischer Praxis wie Steinmale, Altäre, Opferplätze oder Tempel bezeichnen. Das Thema „religiöse Identität“ kommt bei ihm dann ins Spiel, wenn man nach dem Grund für die gerade an diesem Ort geglaubte, erfahrene und erwartete besondere Gottespräsenz fragt; wenn man sich mit der geographischen und politischen Lage des Kultorts, mit seiner Gründungslegende und mit seiner Geschichte beschäftigt, und wenn man beginnt, der mit architektonischen Mitteln vorgenommenen „inszenatorischen Ausgestaltung“7 des Kultorts auf den Grund zu gehen. Auf jeden Fall rückt das Thema jedoch dort in den Vordergrund, wo man die 5
Vgl. Christoph Elsas, Art. Kultort, in: H. Cancik / B. Gladigow / K.H. Kohl, edd., Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe IV, Stuttgart u.a. 1998, 32-43: 32. 6 Vgl. Ivonne Ohlerich, Kultorte und Heiligtümer auf dem Gebiet des Bosporanischen Reiches. Vom Beginn der Kolonisation bis zum Ende des 2. Jh. v. Chr., Diss.-schrift Rostock 2010, 19. 7 Elsas, Art. Kultort, Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe IV 32.
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am Kultort praktizierten Rituale sowie deren intendierte und reale Funktionen für das Individuum wie für die Gemeinschaft genauer zu beschreiben versucht. Hier zeigt sich im Zusammenspiel mit den anderen Aspekten schnell, dass Kultorte und die an ihnen befindlichen Heiligtümer gleichsam Symbole konstruierter wie gelebter religiöser (und darüber hinausgreifender, weiter gefasster) Identität nach außen wie auch nach innen hin werden können – ohne dass religiöse Identität allerdings zwangsläufig und permanent auf einen Kultort angewiesen sein muss. Der hohe Symbolgehalt eines Kultortes für religiöse Identität wird immer dann besonders manifest, wenn ein Heiligtum an einem Kultort zerstört und in seinen Funktionen bewusst zum Erliegen gebracht wird: Mit dem Angriff auf den Kultort im engeren wie im weiteren Sinne soll in der Regel auch die an ihn gebundene (religiöse) Identität verletzt, wenn nicht sogar verwüstet werden. In dem Fall, dass sich die Zerstörung als nachhaltig erweist, kann es im Hinblick auf die Frage nach der religiösen Identität dann für eine Gruppe wie auch für Einzelne spannend werden: – Wie wichtig bleibt der Kultort für die religiöse Identität? – Hält die Gruppe oder ein Teil von ihr grundsätzlich am Kultort und an der Hoffnung auf Restitution des Heiligtums fest? Und wenn ja, mit welchen Motiven und mit welchen Mitteln? – Wird der Kultort relativiert und damit in seiner Bedeutung für die religiöse Identität begrenzt? – Wird er eventuell substituiert? – Werden entsprechende Konzepte erst durch die Zerstörung eines Heiligtums angestoßen oder müssen sie als ohnehin zwangsläufige Entwicklung interpretiert werden? In der Mehrzahl der in diesem Band versammelten Beiträge werden diese Fragen eine besondere Rolle im Hinblick auf den/ die Tempel in Jerusalem spielen, hier
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soll im Folgenden jedoch zunächst das biblische Beispiel Bet-El aufgegriffen werden. 2.
Bet-El als biblisches Exempel für den Zusammenhang von Kultort und Identität
In den klassischen Werken der Religionswissenschaft findet man zum Thema „Kultort“ immer wieder einen Bezug zum Traum Jakobs von der Himmelsleiter und der mit dem Traum verbundenen Gründung des Kultortes Bet-El (Gen 28,10-22).8 Ganz abseits aller realhistorischen Hintergründe, aller komplexen überlieferungsgeschichtlichen, literarhistorischen und einzelexegetischen Fragen kann man schon auf der vorliegenden Textund Erzählebene einen illustrativen Eindruck von einem literarisch konstruierten Zusammenhang von Kultort und Identität erhalten, dem über eine längere Epoche hin natürlich auch eine Lebenswirklichkeit für eine große Gruppe entsprochen hat. „ – מה נורא המקום הזהwie furchtbar ist diese Stätte!“9 ruft Jakob, der schuldbeladene Flüchtling in Gen 28,17, nachdem er von der Himmelsleiter (bzw. eigentlich einer Rampe)10 geträumt und mit elementarem Erschauern entdeckt hat, dass es sich bei seinem Schlafplatz im Freien um einen heiligen Ort – einen Ort, an dem Gott Zugang zu sich selbst gewährt – handelt. „Dies ist nichts anderes als das Haus Gottes und dies die Pforte des Himmels!“ (Gen 28,17) fügt er, bereits deutend, hinzu. Der verheißungsvolle, auch die nachfolgenden Generationen einbeziehende Traum (Gen 28,12-15) hat den Ort 8
Vgl. u.a. Kristensen, Meaning of Religion 365.370; Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane, Frankfurt a.M. 1984, 27; Gerbold Becker, Die Ursymbole in den Religionen, Graz u.a. 1987, 158f. 9 So die Zürcher Übersetzung. Andere Übersetzungen bieten für נורא „ehrfurchtgebietend“ (EÜ) oder „heilig“ (Luther 1984). 10 Sie kann als Anspielung auf einen Brandopferaltar verstanden werden. Vgl. Ina Willi-Plein, Das Buch Genesis, NSK-AT 1/2, Stuttgart 2011, 185f.
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nicht erst zu einer Stätte der Gottespräsenz werden lassen, sondern nur gezeigt, dass der Ort von Gott zu einer solchen Stätte bestimmt worden ist (V. 16).11 Die im Traum erfahrene Theophanie ist weitreichend: sie enthält die Selbstverpflichtung Gottes, Land zu geben, in dem sich zahlreiche Nachkommenschaft ausbreiten wird (V. 13f.), eine Bekräftigung des Segens (V. 14) und eine Beistandszusage (V. 15).12 Am nächsten Morgen richtet Jakob den Stein, der zu seinen Häupten gelegen hat, als Massebe auf, um die von ihm erlebte Gottespräsenz zu markieren (V. 18).13 Er weiht das Steinmal mit Öl und versucht auf diese Weise, der Heiligkeit des Ortes mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, gerecht zu werden.14 Um dem Ort Kontinuität zu verleihen, gibt der Flüchtling ihm einen Namen: Bet-El (V. 19). Am Ende leistet er ein Gelübde, in dem er sich verpflichtet, an der Stelle der Massebe später ein Heiligtum entstehen zu lassen und dort den Zehnten zu entrichten (V. 20-22). In alledem wird der Ort ( )המקוםin der erzählerischen Gestaltung von Gen 28 zu einem Ort der Vergewisserung des Gottesverhältnisses und damit auch des Selbstverständnisses nicht nur für den Erzvater Jakob in schwieriger Situation, sondern auch für seine Nachkommenschaft, denn der schuldige Ahn hat hier eine tief- und weitgreifende Rettungserfahrung gemacht, die auf der Erzählebene mittelbar auch seine Sippe und die ihm nachfolgenden Generationen betrifft. Auf der Erzählebene der Genesis wird in 35,1-7 das Geschehen fortgesetzt. Es gibt eine göttliche Anweisung 11
Vgl. Claus Westermann, Genesis, BKAT I/17, Neukirchen-Vluyn 1980, 553. Vgl. dazu auch die religionswissenschaftliche Perspektive bei Tworuschka, Heilige Stätten 5: „Heilige Stätten werden nicht vom Menschen ‚gewählt’, sondern ‚gefunden’.“ 12 Diese Elemente verbinden sich hier zwar mit dem Kultort, sie sind aber nicht prinzipiell an einen Kultort gebunden. Vgl. Willi-Plein, Genesis 135. 13 Vgl. Willi-Plein, Genesis 184. 14 Vgl. Horst Seebass, Genesis II/2. Vätergeschichte II (23,1-36,43), Neukirchen-Vluyn 1999, 319.
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zum Altarbau und Jakob verpflichtet seinen gesamten Anhang zu kultischer Reinigung (Gen 35,2-4). Im konkreten Fall bedeutet das kollektive Erscheinen vor Gott für Jakobs Anhang den Bruch mit der bisherigen, privaten religiösen Identität:15 „1 Und Gott sprach zu Jakob: Mach dich auf, zieh hinauf nach Bet-El, lass dich dort nieder, und errichte dort einen Altar dem Gott, der dir erschien, als du vor deinem Bruder Esau flohst. 2 Da sprach Jakob zu seinem Haus und zu allen, die bei ihm waren: Schafft die fremden Götter weg, die unter euch sind, reinigt euch und wechselt eure Kleider. 3 Dann wollen wir uns aufmachen und nach Bet-El hinaufziehen, und dort will ich für den Gott, der mich am Tag meiner Bedrängnis erhört hat und der mit mir war auf dem Weg, den ich gegangen bin, einen Altar errichten. 4 Da gaben sie Jakob alle fremden Götter, die sie bei sich hatten, und die Ringe, die sie an ihren Ohren trugen, und Jakob vergrub sie unter der Terebinthe, die bei Schechem steht. 5 Dann brachen sie auf. Ein Gottesschrecken aber kam über die Städte ringsumher, und sie verfolgten die Söhne Jakobs nicht. 6 So kam Jakob nach Lus, das im Land Kanaan liegt – das ist Bet-El –, er und alle Leute, die bei ihm waren. 7 Und dort baute er einen Altar und nannte den Ort El-Bet-El, denn dort hatte Gott sich ihm offenbart, als er vor seinem Bruder floh.“16
Die untergeordneten Gruppenmitglieder sind vor Ort anwesend, weiter aber nicht aktiv beteiligt. Sie partizipieren an der religiösen Rettungserfahrung des Patriarchen, denn mittelbar ist es auch ihre eigene Rettung. Ihre religiöse Identität wird an die religiöse Identität des Sippenoberhauptes gebunden; aus dem Ort einer vom Sippenoberhaupt erfahrenen Gottespräsenz wird ein kultischer Orientierungspunkt für die ganze Gruppe, deren Identität damit gestärkt wird. Man kann hier von einem Akt der Etablierung offizieller religiöser Gruppenidentität und dessen geographischer Fixierung reden und sich nebenbei vorsichtig fragen, ob und inwiefern sich inoffiziell ge15 Vgl. Seebass, Genesis II/2 440, der hier privat geübte Praktiken voraussetzt. 16 Gen 35,1-7; Übersetzung: Zürcher Bibel.
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wordene, private religiöse Identität auf den unteren Ebenen der sozialen Hierarchie durch einen angeordneten symbolischen Akt der Hierarchiespitze beerdigen lässt und nicht unterschwellig eine Gefahr für die Stabilität der Gruppenidentität bleibt. In Ri 20 begegnet Bet-El schließlich – angemerkt sei: fiktiv und aus späterer kritisch-judäischer Perspektive17 – als kultischer Orientierungspunkt der Stämme Israels. Hier wird Gott vor wichtigen Kriegsentscheidungen kollektiv befragt (V. 18 und 27); hier wird Klagefeier gehalten und gefastet und geopfert (V. 26)18. Dennoch läuft die ganze Geschichte im Norden schief und bietet der funktionierende Kultort keine Garantie für das Bestehen der Gemeinschaft (zumal dann, wenn die Gemeinschaft kollektiv versagt). Durch die Propheten und in den Geschichtsbüchern lässt sich die literarisch mit bestimmten Interessen geformte und polemisch dargestellte Geschichte des inzwischen zum Staatsheiligtum des Nordreiches Israel erhobenen Kultortes19 weiterverfolgen. Dieses Bet-El ist vieles, vor allem aber auch ein aus politischen Motiven in bewusste Konkurrenz zu Jerusalem gesetzter Ort des Staatskults an der Grenze zum Südreich. Dem Volk soll eine regional erreichbare Alternative geboten werden, die dem Regenten Loyalität sichert und damit auch Stabilität des eigenen, noch jungen Machtbereichs.20 Bezeichnend sind die im Vorfeld geäußerten, strategischen Motive Jerobeams in 1Kön 12,27: „Wenn dieses Volk hinaufzieht, um Schlachtopfer darzubringen im Haus des HERRN in Jerusalem, wird das Herz dieses Volks zu-
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Vgl. Klaus Koenen, Art. Bethel (Ort), wibilex (http://www. bibelwissenschaft.de/stichwort/10612/) aufgerufen am 25.02.2014. 18 Vgl. auch Ri 21,4f. 19 In traditionsgeschichtlicher Hinsicht steht allerdings in Frage, ob es sich um das gleiche Heiligtum wie das der Väterüberlieferung handelt. 20 1Kön 12,28f.
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Martina Böhm rückkehren zu ihrem Herrn, zu Rehabeam, dem König von Juda, mich aber werden sie umbringen...“21
Bet-El ist legitimes Jahwe-Heiligtum; ein Ort, an dem sich durch den Staatskult der rettenden Macht und der helfenden Präsenz Gottes zugunsten Israels und seines Königs vergewissert wird.22 Zugleich ist Bet-El aber auch ein Ort, der wegen seiner Kultobjekte, seines Kultpersonals und seiner Kultpraxis wiederholt prophetische Kritik auf sich zieht.23 In judäischer Perspektive ist BetEl schließlich nur noch eines: ein Kultort der Anderen, ein Hort der Sünde, von dem man sich abgrenzen muss, ein Kultort, dessen pervertierte Praxis sogar zum Untergang des ihn umgebenden Königreiches beitragen wird.24 Einhundert Jahre später wird die Kultstätte Bet-El im Rahmen der josianischen Reform offiziell unbrauchbar gemacht (2Kön 23,15). Ob der Kult damit auch zum endgültigen Erliegen kam, bleibt unsicher.25 Bet-El stellt (wie auch Jerusalem mit seinen zeitlich nacheinander liegenden Tempeln) im antiken Mittelmeerraum in mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall dar. Durch die biblischen Texte mit ihren Diskursen um den Kultort werden – anders als bei vielen anderen Kultorten der Umwelt – Einblicke in die Glaubenswelt der Kultteilnehmer wie auch in die Wahrnehmung des Kultortes aus der kritischen und gegnerischen Distanz möglich. Dennoch verfälschen normative Texte immer auch das Bild, so dass es trotz guter Quellenlage schwierig bleibt, den realhistorischen Interessen und Interessenten an religiöser Identität auf die Spur zu kommen.
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Übersetzung: Zürcher Bibel. Vgl. Koenen, Art. Bethel (Ort), wibilex. 23 1Kön 12,28-13,10; Am 4,4f; 5,4f; Hos 10,5-8. 24 Vgl. 2Kön 10,29. Vgl. Koenen, Art. Bethel (Ort), wibilex. 25 Josias Maßnahmen waren „allerdings höchstwahrscheinlich noch nicht das Ende allen Kultes in Bet-El, wie sich aus Sach 7,2 erschließen lässt“ (Willi-Plein, Genesis 134). Vgl. dazu kritisch auch Walter Groß, Richter, HThKAT, Freiburg 2009, 144. 22
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Vom biblischen Exempel Bet-El her soll der Blick für den Zusammenhang von Kultort und Identität im Folgenden wieder ins Allgemeine in Form von zwölf Thesen und Grundsatzüberlegungen geweitet werden. 3.
Zwölf Thesen und Grundsatzüberlegungen zum Zusammenhang von Kultort und religiöser Identität
1. Die mit Jakob verbundene Kultortätiologie von Bet-El illustriert, dass sich an Kultorten das Göttliche in der Überzeugung von Individuen, einer Gruppe oder Gemeinschaft in besonderer Weise manifestiert hat und darum zu erwarten steht, dass es sich auch weiterhin manifestieren wird.26 Hier konzentrieren sich Gottesverhältnis und Selbstverständnis des Individuums genauso wie Gottesverhältnis und Selbstverständnis der Gruppe. 2. Kultorte haben in der Regel eine Gründungslegende (ggf. auch einen Mythos), die den Anspruch einer Gruppe auf den Ort erklärt und legitimiert, zugleich aber auch die historische Dimension der Beziehung einer Gruppe zur Gottheit aufzeigt. 3. Ein Kultort hat mit seinen religiösen Ritualen wie Opfern, Versöhnungsritualen oder dem Zelebrieren von Festen unersetzbare oder zumindest nicht einfach kompensierbare Funktionen für das Individuum wie für die Gemeinschaft. Er erhält seine Bedeutung erst durch das Individuum oder die Gemeinschaft, die diese Funktionen für die eigene religiöse Identität als konstitutiv betrachtet. Umgekehrt verliert ein Kultort dann an Bedeutung, wenn seine Funktionen für die hinter ihm stehenden Individuen oder die Gruppe an Relevanz verlieren oder die gleichen Funktionen von einem anderen Kultort in überzeugenderer Weise erfüllt werden. Das Verhältnis der These 3 zu den Thesen 1und 2 ist dabei interessant: Ist von der Konstanz des Heiligen an 26
Vgl. Gerardus van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 41977, 445f.
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einem Ort auszugehen?27 Ist darum jeder (aufgegebene) Kultort prinzipiell restituierbar, zumindest so lange, wie die ursprüngliche Trägergruppe existiert und solange sie eine Selbstbindung der Gottheit an diesen Ort sieht? 4. Ein funktionierender größerer Kultort braucht eine funktionierende Gemeinschaft.28 Diese setzt hier ihre offiziell bestehenden religiösen Überzeugungen und Konzepte räumlich, baulich und rituell um (bzw. inszeniert sie) und entwickelt sie dann auch weiter. Der einzelne Besucher kann das jeweils modifizierte Konzept anschaulich erfahren, er kann am Ritus in der für ihn vorgesehenen Form teilnehmen und sich so aktiv als Teil einer – in der Regel seiner – religiösen Gemeinschaft erleben und die eigene religiöse Identität darstellen und kommunizieren. Davon unbenommen kann es neben offiziellen Kultorten inoffizielle Kultorte geben, die die Differenz zwischen offizieller religiöser Identität und inoffizieller religiöser Identität anzeigen. 5. So sind Kultorte in jedem Fall primär Symbole der religiösen Überzeugungen und der religiösen Praxis eines Individuums, einer Gruppe oder Gemeinschaft, sie sind zugleich aber auch Ausdruck deren gestalterischen Vermögens29 und deren Willens und Möglichkeiten zur geistigen und materiellen Investition in den Kultort. Die Motive zur Investition müssen dabei allerdings nicht immer rein religiöser Natur sein, denn einem Kultort kann auch eine hohe repräsentative oder sogar politisch zielgerichtete Funktion zukommen. Vor allem offizielle Kult27 Elsas, Art. Kultort, Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe IV 34, weist auf die potentielle Konstanz von Kultorten gegenüber Religionswechseln hin. Vgl. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion 446: „Eine heilige Stätte bleibt heilig, auch dann, wenn sie schon längst vernachlässigt ist“. 28 Vgl. Gunvor Lindström / Dietrich Raue / Thomas Schattner, Forschungsplan und Forschungscluster des Deutschen Archäologischen Instituts. Cluster 4: Heiligtümer. Gestalt und Ritual. Kontinuität und Veränderung, www.dainst.org/de/cluster4?ft=126%2B1493%2B126 (Aufruf am 26.11.13). 29 Vgl. Lindström / Raue / Schattner, Cluster 4: Heiligtümer.
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orte können Selbstverständnis, Status und Anspruch der hinter ihnen stehenden Gruppe oder Gemeinschaft, aber auch einzelner Bauherren und Stifter, in regionaler wie auch überregionaler Hinsicht anzeigen.30 6. Als Versammlungsstätte einer bestimmten Gemeinschaft oder Gruppe stärkt ein Kultort das Bewusstsein der Zugehörigkeit und kann auch damit von vornherein politischen Zwecken dienen. So spielen Kultorte nicht nur eine wichtige Rolle für die Darstellung und Vergewisserung der religiösen Identität der Besucher und Besucherinnen, sondern auch für die Sicherung des Territoriums einer Gemeinschaft oder u.U. auch nur eines Regenten. 7. Kultorte sind zunächst Kommunikationszentren, Festorte und identitätsstiftende Orientierungspunkte der lokalen und regionalen Bevölkerung,31 können aber auch wie etwa der Jerusalemer Tempel oder das samaritanische Heiligtum auf dem Garizim überregionale Bedeutung haben. Wenn sie als überregional bedeutsame Kultorte funktionieren, wird für die Frage der Identität das Verhältnis zwischen regionalen und überregionalen Orientierungspunkten interessant. 8. Kultorte können durch die Gestaltung verschiedener Grade von Öffentlichkeit und Restriktionen in der Zugänglichkeit (etwa im Hinblick auf kultische Reinheit) auch Ausdruck der in einer Gruppe oder Gemeinschaft bestehenden Differenzierungs- und Abgrenzungsstrategien nach innen und nach außen sein. Religiöse Identität muss – zumindest in theoretischer Hinsicht – auch innerhalb einer Gruppe nicht statisch bestehen. Sie kann zwar beschädigt, aber im Rahmen der Selbstbewahrungsstrategie einer Gruppe auch wiederhergestellt werden. 30
Vgl. Lindström / Raue/ Schattner, Cluster 4: Heiligtümer: „In den meisten Fällen zeichnen sich solche Orte durch hohe Investitionen der jeweiligen Gesellschaft und einen großen gestalterischen Aufwand aus. Nach außen wird dies von den Bauherren und Stiftern mit dem Respekt vor der Gottheit begründet. Tatsächlich spielt kompetitives Verhalten innerhalb einer Kultur wie auch gegenüber benachbarten Gesellschaften aber eine ebenso große Rolle.“ 31 Vgl. Lindström / Raue / Schattner, Cluster 4: Heiligtümer.
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9. Binnendifferenzen und Konflikte innerhalb einer Gruppe können zur freiwilligen Abwendung einer Gruppe vom Kultort der Mehrheit, aber auch zu unfreiwilliger Ausgrenzung einer Minderheit führen. In beiden Fällen kann es sich um die Konsequenz aus einer faktisch bereits veränderten religiöser Identität eines Teils der Gruppe oder Gemeinschaft handeln. 10. Kultorte geben den nächsten Generationen die Möglichkeit, religiöse Identität in Kontinuität, aber auch in Wandel zu leben und das je eigene – u.U. veränderte kulturelle oder politische – Selbstverständnis an prominenter Stelle darzustellen. Insofern ist durch den Lauf der Zeit an einem Kultort aber auch nicht einfach von unveränderten und ungebrochenen Kontinuitäten auszugehen. 11. Kultorte sind in alledem zwar primär, aber nicht allein nur Symbole religiöser Identität, sondern betreffen Identität in allen ihren Aspekten. Das wird auch daran sichtbar, dass die bewusst herbeigeführte sekundäre Verwendung oder sogar Zerstörung eines Kultortes nicht nur religiöse Identität angreifen und zerschlagen will, sondern die Zerschlagung oder Deformierung von Identität in allen ihren Aspekten betrifft. Kultorte sind darum auch hervorragende Orte der Illustration – oft gewaltsam – transformierter Identität. D.h., wo ein Heiligtum gewaltsam und mit symbolischer Absicht umfunktioniert, wo es durch Fremdeinwirkung zerstört und durch ein anderes demonstrativ überbaut wird, wird auch eine – in der Regel zunächst offiziell geforderte, aber noch keineswegs umgehend realisierte – Transformation bisher bestehender religiöser Identität angezeigt. 12. Der gewaltsam erlittene und nachhaltig bestehende Verlust eines Kultortes mit seinen bisherigen Funktionen stellt die Stabilität bestehender religiöser Gruppenidentität vor substantielle Herausforderungen. Ob und wie der Verlust kompensiert werden kann, hängt dann am religiösen Konzept und sowie dem geistigen Potential der Trägergruppe, das Konzept selbst neu auszurichten, zu transformieren und dann auch zu weitgreifender Akzeptanz zu bringen.
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4.
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Zu den Beiträgen dieses Bandes
In den Beiträgen dieses Bandes werden eine Reihe der oben angesprochenen Aspekte aufgegriffen, vertieft und weitergeführt, aber auch kritisch betrachtet.32 Jörg Rüpke fragt aus religionswissenschaftlicher Perspektive nach der Rolle von Kultorten für die religiöse Identität sowohl von Einzelnen wie von Gruppen. Unter dem Begriff des „Identitätsregimes“ richtet er diese Frage auf die ganz unterschiedlichen Kontexte und Strukturen von a) Orten identitätsstiftender Erfahrungen, b) Motiven und Metaphern individueller Reflexion auf Identität und c) sozialen und kommunikativen Situationen, in denen Identitäten thematisiert und repräsentiert werden. Im Imperium Romanum der Kaiserzeit lassen sich Reflexionen auf religiöse Identitäten im Anschluss an die Teilnahme an aufwändigen Ritualen notieren, sie sind aber oft auf den familiären Kontext oder situative Bedürfnisse beschränkt. Wichtiger, so die These des Beitrags, sind Reflexionen auf ferne, aber zentrale Bezugsorte verschiedener religiöser Zeichensysteme und Praktiken. Sie reflektieren weniger die Spezifika bestimmter Traditionen als vielmehr den Wunsch, sich selbst und sein eigenes religiöses Handeln im weiten Raum des Imperium zu verankern. Der zweite Beitrag kommt aus der Ägyptologie. Matthias Müller gibt einen detaillierteren Einblick in die Siedlungsgeschichte und die Siedlungsstruktur der Nilinsel Elephantine von ca. 3000 v. Chr. bis in die Gegenwart; er stellt die Grabungen und Textsammlungen vor und wendet sich dann den Tempeln Elephantines und der Umgebung zu. Neben der „Tempelbibliothek“ stellt er das Funktionieren und die Funktionen eines ägyptischen Lokaltempels dar, ehe er speziell auf die Chnumpriester von Elephantine eingeht. Mehrere Quellentexte ergänzen 32 Die Autorin und die Autoren der Beiträge haben die im Folgenden gebotenen inhaltlichen Zusammenfassungen im Wesentlichen selbst erstellt.
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das Bild. In ihnen begegnet eine lokale Priesterschaft, die durch die Zeiten hinweg ihre Partikularinteressen gegen die jeweilige Zentralverwaltung durchzusetzen versucht, indem sie sich bemüht, sich deren Kontrolle zu entziehen. Aufgrund der Textsorten und dadurch auch der Kontexte sind – so das Fazit des Verfassers – identitätsstiftende Aussagen allerdings kaum anzutreffen. Christl M. Maier beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Diskurs um die Zerstörung Jerusalems im Jeremiabuch. Weil der Diskurs unterschiedliche Stimmen umfasst, lässt sich – so setzt die Verfasserin voraus – die Frage nach der identitätsstiftenden Funktion des Kultortes nicht eindeutig beantworten. Zwar ist die Kritik am Tempel in Jer 7 prominent platziert. Sie richtet sich jedoch primär gegen die zionstheologische Vorstellung, die Präsenz Gottes im Tempel garantiere die Uneinnehmbarkeit Jerusalems, und gegen den Gedanken, Opfer könnten soziale Vergehen sühnen. Die mehrfach überarbeitete Tempelrede führt rückblickend Fremdkulte als Grund für den Untergang an (7,9.17f.30-32) und übt generelle Kritik an Opfern (7,21-23). Im Versuch, die Gottesbeziehung neu zu fassen, hebt sie das Hören auf die Worte Jeremias (7,3; 26,4-6) und die Orientierung an der Tora (7,5-8; 26,4) hervor. Die Priester werden durchgängig als Gegner Jeremias charakterisiert; ihnen wird Führungsversagen und die Verehrung fremder Gottheiten vorgeworfen (Jer 2,26f.; 32,32-35). Für die Ortsbindung an Jerusalem, die über die weibliche Personifikation Zions vermittelt wird, und für die Heilsverheißung an die Überlebenden der Katastrophe spielen Tempel und Kult jedoch keine Rolle. Nur zwei späte Fortschreibungen legitimieren levitische Priester als Kultbedienstete (Jer 33,18.21). Auch der Beitrag von Max Küchler ist Jerusalem gewidmet. Der Blickwinkel „Kultort und Identität“ bekommt für den Verfasser bei Jerusalem eine besondere Schärfe, da der Tempel von Jerusalem für Juden, Christen und Muslime nicht nur ein vergangener Identifikationsort ist, sondern bis in die Gegenwart mehr oder weniger kämpfe-
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risch als solcher beansprucht wird. Blickt man in die Geschichte zurück, so entdeckt man die Kanaanäer mit ihrem Kult nur noch als offiziell ausgelöschte Stifter der religiösen Identität des Ortes, kann diese aber als weiter wirksame Elemente im Kult, in der Ikonographie und der Administration Israels aufweisen. Der Tempel Salomos ist ein Synthese kanaanäischer und typisch israelitischer Elemente und wird in der Folge zum Archetyp der religiösen Identität Israels, welchem beim Bau des so genannten Zweiten Tempels durch Serubbabel nachgetrauert und bei dessen ‚Neuschöpfung’ durch Herodes nachgeeifert wird. In der babylonischen Exilszeit des 6. Jh. v. Chr. war der Tempel zum theologisch einzigartigen Ort des Heils und als solcher zum weltweiten Zentrum nicht nur des Judentums, sondern jeglichen wahren Kultes geworden. Herodes demonstrierte diese Universalität des jüdischen Tempels in seinem Prachtbau, durch welchen er nicht nur seine eigene Größe, sondern auch die Größe des Gottes Israel vor der paganen Welt demonstrierte. Mit der Zerstörung dieses identitätsstiftenden Bauwerks durch die Römer war die Auslöschung Israels überhaupt intendiert, doch schufen sich die Juden in der Tora, den Akademien und Synagogen neue ortsunabhängige Identitätsorte, ohne dass je der Wunsch nach einem dritten Tempel völlig erlosch. In byzantinischer Zeit wurde die israelitischjüdische Identität in einem neutestamentlichen Gewand zwar weitergeführt, blieb jedoch als solche für die Juden selbst unannehmbar. Als dann in früharabischer Zeit im Felsendom aus muslimischer Sicht ein neuer Tempel Salomos entstand, verflüchtigten sich die anfänglichen Hoffnungen der Juden auf die Wiederfindung ihres Identitätsortes in verschiedenste, manchmal historisch, manchmal eschatologisch dimensionierte Projekte eines Dritten Tempels. Zur Zeit schwebt diese Vorstellung in radikalen Kreisen des Judentums als gefährliche Wolke über dem Heiligen Ort, den sich vor allem die Juden und Muslime gegenseitig abstreiten, obwohl sich in beiden Religionen Ansätze für eine ökumenisch dimensionierte Lösung der Identitätsfrage finden ließen.
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Martina Böhm
Günter Stemberger richtet in seinem Beitrag den Fokus auf die Bedeutung des Jerusalemer Tempels für die Identität des rabbinischen Judentums. Anders als die Apokalypsen 4 Esra und 2 Bar, die in den Jahrzehnten nach 70 den Verlust des Tempels zu bewältigen versuchen, anders auch als der Bar Kokhba-Aufstand der Jahre 132-135/6, der gar den Wiederaufbau des Tempels als Ziel hatte, reagieren die frühen Rabbinen äußerst zurückhaltend auf die Zerstörung des Tempels. In der frühen rabbinischen Literatur wird sie nur am Rand erwähnt; der Wunsch seines Wiederaufbaus wird erst in späten Texten bei Nennung des Tempels formelhaft ausgesagt. Wichtig bleibt der v.a. in der Mischna thematisch noch so dominante Tempel nur als Symbol der Vergangenheit. Doch ist er nunmehr rabbinisch überformt und geistig überhöht als Gegenstand des Studiums, das den Tempelkult vollwertig und sogar besser ersetzt. Priester haben ihre Funktionen fast völlig verloren; ihnen bleiben allein ein gewisser Ehrenvorrang und gesetzliche Vorrechte und Einschränkungen aus der Bibel. Daher wehren sich die Rabbinen auch dagegen, dass Synagogen als Ersatz und in Nachahmung des Tempels gestaltet werden. Anders verhalten sich die Stifter der Synagogen Palästinas und die darin einflussreichen Nachkommen von Priester- und Levitenfamilien. Sie greifen in der Ausformung der Synagoge bewusst Tempelmotive auf, verstehen diese als „heiligen Ort“ und unterteilen sie in aufsteigende Bereiche der Heiligkeit wie im Tempel. Auch in der Synagogenliturgie übernimmt man Elemente aus dem einstigen Tempelkult. Erst sehr spät kommt es zu einem Kompromiss zwischen Rabbinen und Synagoge, verbinden sich in der Synagoge Torastudium und sichtbare Symbole des einstigen Tempels wie der siebenarmige Leuchter oder der Toraschrein als Abbild der Bundeslade. So wird der Tempel schließlich doch noch bleibendes Zeichen jüdischer Identität. Enno Edzard Popkes richtet den Blick in seinem Beitrag auf frühchristliche Identitätsbildungsprozesse. Hier beschäftigen den Verfasser vor allem zwei Fragestellungen:
Einleitung
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In welcher Weise wird in den Evangelientraditionen die Haltung Jesu zum Jerusalemer Tempel bzw. zum Tempelkult dargestellt und in welcher Weise konnten sich die frühen Nachfolger Jesu diesbezüglich verhalten? Vor diesem Hintergrund erläutert der Verfasser im Anschluss die Entstehungshintergründe und Konzepte frühchristlicher Tempelmetaphorik.
Jörg Rüpke
Religiöse Identität: Topographische und soziale Komponenten
1.
Was für eine Identität?
„Religiöse Identität“ hat gleich zwei schwierige Bestandteile.1 Auch wenn das Augenmerk in diesem Kontext vor allem dem zweiten Begriff gelten muss, komme ich dennoch nicht umhin, kurz zu erläutern, wie ich den ersten Bestandteil verstehe. Für die Zwecke einer weiträumigen Betrachtung religionsgeschichtlicher Entwicklungen in der mediterranen Antike – und eine solche Zweckangabe scheint mir notwendig für jede Definition, die ja nur sinnvoll, nicht wahr sein kann – greife ich auf die Tradition der substanzialistischen Religionsdefinitionen zurück. Religion bestimme ich dann als die von menschlichen Akteuren vorgenommene Ausweitung der jeweiligen Umwelten über die unmittelbar plausible soziale Umwelt lebender Mitmenschen und vielfach auch Tiere hinaus in spezifischen Formen von Handlungsmacht, Kommunikation oder Identitätsformulierung eben dieser Akteure. Was an relevanter Umgebung nicht mehr „unmittelbar plausibel“ ist, kann durchaus kulturell verschieden sein; Plausibilität, „Beifallsfähigkeit“, ist selbst eine kommunikative, eine rhetorische Kategorie. Im einen Fall sind es Verstorbene, im anderen Fall personenartig gefasste Götter oder auch nur noch topographisch nicht mehr bestimmbare Orte. Die Interpretation und Zurech1
Die hier vorgestellten Überlegungen und Ergebnisse sind im Rahmen des Projektes „Lived Ancient Religion“ erarbeitet und von der Europäischen Union im Framework Programme 7 (2008-13) unter Agreement Nr. 29555 am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt gefördert worden.
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Jörg Rüpke
nung von dem, was in einer Kultur Umstrittenes – und damit in meinem Sinne „religiös“ – ist, hängt , das muss ich einräumen, auch von den Grenzen ab, die der religionswissenschaftliche Beobachter oder die Beobachterin selbst ziehen. Wann immer primär auf diese Zuschreibung von „agency“ an Gottheiten Bezug genommen wird – ob in Äußerungen, Handlungen, Rollenbestimmungen oder Institutionen –, haben wir es mit Religion zu tun.2 Ich fokussiere also auf Religion als etwas stets neu Entstehendes, als Ressource und Produkt von Einzelnen in ihrem handelnden Zugriff auf ihre gesamte Umwelt als zeitverhaftetes Wesen, in der kommunikativen Wendung an ihre soziale Umwelt und in der Selbst-Positionierung in dieser Umwelt. Ich setze also einen individuumszentrierten Kulturbegriff voraus.3 Mit einem solchen Religionsbegriff wäre ein Identitätsbegriff Meadscher Prägung4 durchaus vereinbar, der nach der Integration von eigenem Erleben und internalisierten Zuschreibungen anderer im Selbst fragt. Aus zwei Gründen scheint mir diese Fokussierung aber für die Frage nach der identitätsstiftenden Rolle von Kultorten in der Antike nicht hilfreich. Zum einen zeichnet sich die griechisch-hellenistische Tradition durch eine programmatische Trennung von „Philosophie“ und „Religion“ aus; eine Teilung, in der Reflexionen auf das Selbst primär
2
Dazu Jörg Rüpke, Religious Agency, Identity, and Communication: Reflecting on History and Theory of Religion, Religion forthcoming, 2015. 3 S. etwa Ann Swidler, Culture in Action: Symbols and Strategies, American Sociological Review 51/2, 1986, 273-286: 277. 4 George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Mit einer Einleitung hg. von Charles W. Morris, Frankfurt a. M. 1988; George Herbert Mead / David L. Miller/ George H. Mead, The individual and the social self: unpublished work of George Herbert Mead, Chicago [u.a.] 1982, s. Markus Öhler, ed., Religionsgemeinschaft und Identität: Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike, BThSt 142, Neukirchen-Vluyn 2013.
Topographische und soziale Komponenten
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philosophischen Praktiken zugerechnet werden.5 Dass wir das gerade für das Judentum und Christentum anders sehen als für den „Polytheismus“,6 liegt weniger an Unterschieden in der Sache, als an der späteren und unserer Optik, die „Religion“ zu einer dominanten Klassifikation macht. Die besondere Bedeutung, die philosophische Reflexion für den christlichen Bereich allmählich wieder gewinnt, soll damit nicht bestritten werden. Der zweite Grund ist spezifischer. Im Zusammenhang mit einer identitätsbildenden Bezugnahme auf Orte steht meines Erachtens jener Identitätsbereich im Vordergrund, der als „kollektive Identität“ angesprochen wird. Und genau diesem möchte ich mich im Folgenden zuwenden. Der Begriff der kollektiven Identität ist zu Recht angegriffen worden. Das gilt dort, wo er der zugeschriebenen dauerhaften Zugehörigkeit zu einem Verband ein Pendant im Bewusstsein der angeblich Zugehörigen an die Seite stellt, das von einem stetigen, exklusiven Zugehörigkeitsgefühl getragen wird.7 Das gilt auch dort, wo von einer bestimmten kollektiven Identität auf eine entsprechende Gruppe geschlossen wird. Der Bezugspunkt kann ebenso ein realer wie ein bloß imaginierter Verband sein. Angesichts der Effekte, die Verbandszugehörigkeiten selbst so vager Form auf individuelles Verhalten haben können,8 wird man sich dennoch nicht einfach von die5
Garth Fowden, Late Polytheism, in: A. K. Bowman / A. Cameron / P. Garnsey, edd., The Cambridge Ancient History 12: The Crisis of Empire, A.D. 193-337, Cambridge 2005, 521-572: 528. 6 Zur Kritik eines so typologisch verfestigten Begriffes s. Jörg Rüpke, Polytheismus und Monotheismus als Perspektiven auf die antike Religionsgeschichte, in: C. Schöbel, ed., Gott – Götter – Götzen: XIV. Europäischer Kongress für Theologie, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 38, Leipzig 2012, 58-68. 7 S. kurz Éric Rebillard, Christians and their many identities in late antiquity, North Africa, 200-450 CE, Ithaca 2012, 2-5, der für den Begriff der „salient identity“ optiert. 8 Grundlegend für die „social identity theory“ waren die Arbeiten von Tajfel und Turner (etwa Henri Tajfel, Social identity and intergroup behaviour, Social Science Information 13/2, 1974, 65-93, dort 69 zur Definition von „Gruppe“; John C. Turner, Social comparison and
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sem Begriff verabschieden. Stattdessen ist ein Begriff von kollektiver Identität zu verlangen, der das Verhältnis des Individuums zu fiktiven oder realen Anderen differenziert und dynamisch fassen kann. Hierzu hat die jüngste sozialpsychologische Forschung verschiedene Versuche vorgelegt.9 Auch wenn Religion in dem hier vorzustellenden Konzept keine Rolle spielt, möchte ich mich dem Vorschlag dreier New Yorker Psycholog(inn)en anschließen, die sieben Elemente unterscheiden. Sie liegen allesamt auf der Ebene des Individuums, nicht bei der Gruppe, sind aber aufgrund ihres jeweils kollektiven Bezuges von der selbstbezüglich-individuellen Identität zu unterscheiden, die gerade im Blick auf Religion historisch zu differenzieren wäre. Die Elemente umfassen im Einzelnen 1) die Selbstklassifikation; 2) die Bewertung dieser Zugehörigkeit durch sich selbst und, soweit wahrnehmbar, durch andere;
social identity: Some prospects for intergroup behaviour, European Journal of Social Psychology 5/1, 1975, 5-34). Zusammenfassend Naomi Ellemers / Russell Spears/ Bertjan Doosje, edd., Social identity: context, commitment, content, Oxford 1999. 9 Z.B. James E. Cameron, A Three-Factor Model of Social Identity, Self and Identity 3/3, 2004, 239-262: 241, der die drei Faktoren kognitiver Zentralität (für den Akteur), ingroup-Affekt und ingroup-Bindungen unterscheidet. Solche Ansätze sind in jüngster Zeit auch für gegenwärtige Situationen religiöser Pluralität empirisch angewendet worden, z.B. Caroline Ng Tseung-Wong / Maykel Verkuyten, Religious and national group identification in adolescence: A study among three religious groups in Mauritius, International Journal of Psychology, 2012, 1-12; Maykel Verkuyten, Religious Group Identification and Inter-Religious Relations: A Study Among Turkish-Dutch Muslims, Group Processes & Intergroup Relations 10/3, 2007, 341-357; Maykel Verkuyten / Borja Martinovic, Social Identity Complexity and Immigrants' Attitude Toward the Host Nation: The Intersection of Ethnic and Religious Group Identification, Personality and Social Psychology Bulletin 38, 2012, 1165-1177; Matthew E. Brashears, Anomia and the sacred canopy: Testing a network theory, Social Networks 32, 2010, 187-196.
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3) die Bedeutung, die der Zugehörigkeit beigemessen wird; 4) die gefühlte emotionale Verbundenheit und Abhängigkeit bis hin zur weitgehenden Überlappung personaler und dieser kollektiven Identität; 5) der Grad der Einbettung der Mitgliedschaft in Alltagsvollzüge; 6) die Prägung des eigenen Verhaltens dadurch; und schließlich 7) die kognitive Dimension der Vorstellungen und Erzählungen über die Werte, Charakteristika und Geschichte der Gruppe.10 Im Blick auf die Frage der Ausbildung von religiösen Gruppen oder gar Religionen im Laufe der römischen Kaiserzeit11 muss noch einmal betont werden, dass mit „Gruppe“ hier kein fester Verband gemeint ist, sondern die situationsbezogene Gruppierung von Akteuren (nicht nur menschlichen), denen sich der Urteilende zurechnet oder nicht, bereits ausreichend ist. Selbstverständlich kann das zu kollektiver Identität hoher Komplexität mit multiplen Zugehörigkeiten (und Distanzierungen) führen.12 Wo Religion dabei ins Spiel kommt, ist genau eine der Fragen, die mit dem Stichwort des „Kultortes“ provoziert werden. Es geht um familiäre Identitäten bezogen auf primäre soziale Gruppen ebenso wie sekundäre Gruppenbildungen, es betrifft die unterschiedlichen La10
Richard D. Ashmore / Kay Deaux / Tracy McLaughlin-Volpe, An Organizing Framework for Collective Identity: Articulation and Significance of Multidimensionality, Psychological Bulletin 130/1, 2004, 80-114: 83 mit der zusammenfassenden Tabelle. 11 Dazu Jörg Rüpke, Hellenistic and Roman Empires and EuroMediterranean Religion, Journal of Religion in Europe 3, 2010, 197214; Jörg Rüpke, Early Christianity in, and out of, context, Journal of Roman Studies 99, 2010, 182-193; Jörg Rüpke, Von Jupiter und Christus: Religionsgeschichte in römischer Zeit, Darmstadt 2011; Jörg Rüpke, Reichsreligion? Überlegungen zur Religionsgeschichte des antiken Mittelmeerraums in römischer Zeit, Historische Zeitschrift 292, 2011, 297-322. 12 Siehe Ashmore / Deaux/ McLaughlin-Volpe, Organizing Framework, 84.
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gen von lokalen wie regionalen und überregionalen Identitäten und die Verschiebungen zwischen diesen. Wichtig ist es, sich hier vor Verdinglichung, Essentialisierung dieser Gruppen und Gemeinschaften zu hüten. Gerade materialbezogene Archäologen haben mit Blick auf Pierre Bourdieu davor gewarnt, von materiellen Dingen auf gleichermaßen feste soziale Dinge zu schließen: „Gemeinschaft ist etwas … was man tut“, stellen sie fest. Und es sind einzelne, die es tun: „Wie Menschen sich an einen bestimmten Ort gebunden fühlen, wird ebenso durch das bestimmt, was sie denken zu sein oder gerade nicht zu sein, wie sie sich mit anderen in Raum und auf Zeit, über Generationen, zusammenschließen, in gemeinsamen Erinnerungen oder im einverständlichen Vergessen. Man kann daher sagen, dass Gemeinschaften die Identitäten dieser Menschen ausdrücken.“13 Die scheinbar archaische Stabilität des sozialen Nahbereichs, des Lokalen, trügt häufig, auch sie ist nur eine Momentaufnahme von Bewegungen.14 2.
Identitätsregime
Für die Frage nach der Rolle von Kultorten für Identität möchte ich eine weitere Unterscheidung einführen. Dabei geht es mir nicht um Identitätsdimensionen, also etwa der Unterscheidung von Geschlecht, Kultur, Religion und 13
Peter van Dommelen / Fokke Gerritsen / Bernard Knapp, Common Places: Archaeologies of Community and Landscape, in: P. A. J. Attema, ed., Papers in Italian archaeology 6: Communities and settlements from the Neolithic to the early Medieval period; proceedings of the 6th Conference of Italian Archaeology held at the University of Groningen, Groningen Institute of Archaeology, the Netherlands, April 15-17, 2003, Vol. 1, BAR international series 1452, Oxford 2005, 55-63: 56 (meine Übersetzung). 14 Manuel A. Vásquez, Studying Religion in Motion: A Networks Approach, Method and Theory in the Study of Religion 20, 2008, 151184: 167 unter Verweis auf Arjun Appadurai, Grassroots Globalization and the Research Imagination, Public Culture 12/1, 2000, 1-19.
Topographische und soziale Komponenten
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deren unterschiedliche Verarbeitung durch die Träger solcher „multipler Identitäten“.15 Es geht mir auch nicht um Identitätsprozesse in ihrem zeitlichen Verlauf,16 für die auch die Peircesche Zeichentheorie mit ihren triangulären Beziehungen von Signifikant, Objekt und Interpret herangezogen worden sind.17 Ich meine vielmehr die ganz unterschiedlichen Kontexte und Strukturen von a) Orten identitätsstiftender Erfahrungen, b) den Motiven und Metaphern individueller Reflexion auf Identität und c) den sozialen und kommunikativen Situationen, in denen Identitäten thematisiert und repräsentiert werden. Man könnte hier im Anschluss an die Diskussion über die lieux de mémoire18 von „Identitätsorten“ sprechen; um keine Missverständnisse zu produzieren, möchte ich lieber den Begriff „Identitätsregime“19 einführen, um so die je unterschiedlichen, aber strukturellen Bedingungen der Identitätsformation nicht weniger zu betonen als die kon15 Zum „model of multiple dimensions of identity“ s. Elisa S. Abes / Susan R. Jones / Marylu K. McEwen, Reconceptualizing the Model of Multiple Dimensions of Identity: The roel of meaning-making capacity in the construction of multiple identities, Journal of College Student Development 48/1, 2007, 1-22; Susan R. Jones / Marylu K. McEwen, A Conceptual Model of Multiple Dimensions of Identity, ebd. 41/4, 2000, 405-414. 16 Dazu Glynis Breakwell, Resisting Representations and Identity Processes, Papers on Social Representations 19/6, 2010, 1-11 mit weiterführender Literatur. 17 So etwa von Thomas Turino, Signs of Imagination, Identity, and Experience: A Peircian Semiotic Theory for Music, Journal for Ethnomusicology 43/2, 1999, 221-235. 18 Pierre Nora / Charles-Robert Ageron, Les lieux de mémoire 1: La République, [Paris] 1984; das Konzept der „Erinnerungsorte“ ist in jüngerer Zeit expansiv und immer weniger erschließend verwendet worden, s. Etienne Francois, Erinnerungsorte zwischen Geschichtsschreibung und Gedächtnis. Eine Forschungsinnovation und ihre Folgen, in: H. Schmidt, ed., Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis – Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis, Formen der Erinnerung, Göttingen 2009, 275. 19 Dror Wahrman, The making of the modern self: Identity and culture in eighteenth-century England, New Haven 2004; Wahrman spricht vom „ancient régime of identity“, nutzt diesen Begriff aber allein, um die epochalen Bedingungen des 18. Jhs. herauszuarbeiten.
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kret sehr unterschiedlichen biographischen und historischen Faktoren. In diesem Sinne werde ich im Folgenden Erfahrungen, Reflexionen und Repräsentationen deutlich voneinander trennen, ohne zu bestreiten, dass Zusammenhänge bestehen. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Regime scheinen mir diese Zusammenhänge aber wesentlich schwächer zu sein, als es auf den ersten Blick scheint. Was bedeutet das für Kultorte? Zweifellos verbinden sich wichtige Prozesse der Identitätsformation mit Erfahrungen, die im Rahmen von Ritualen und in Erinnerung an solche Rituale an bestimmten Orten gemacht werden. Ich werde darauf im folgenden Schritt kurz eingehen, mich aber kurz fassen, da ich dazu nur wenig Neues zu sagen habe. Während solche Erlebnisse in der Regel unthematisch bleiben dürften, werden sie als Erfahrungen in der Reflexion im Rückgriff auf Sprache und Sagbares explizit - und verändern damit nachfolgende Erfahrungen,20 ja durch ihre Artikulation auch Sprache.21 Die „Orte“, die hier zu Bezugspunkten der Reflexion werden, müssen nicht mit den erstgenannten Erfahrungsorten übereinstimmen – Jerusalem, das in anderen Beiträgen eine zentrale Rolle spielt, ist vielleicht das beste Beispiel. Die Entstehung und Bedeutung solcher Orte in der römischen Kaiserzeit wird den Hauptteil meiner Überlegungen ein20 Zu diesem Prozess ausführlich Matthias Jung, Making life explicit – The Symbolic Pregnance of Religious Experience, Svensk Teologisk Kvartalskrift volume „Ernst Cassirer“, 2006, 16-23; Matthias Jung, "Making us Explicit“ – Artikulation als Organisationsprinzip von Erfahrung, in: M. Schlette / M. Jung, edd., Anthropologie der Artikulation, Würzburg 2005, 103-142; Matthias Jung, Qualitative Erfahrung in Alltag, Kunst und Religion, in: G. Mattenklott, ed., Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste: Epistemische, ästhetische und religiöse Erfahrungsformen im Vergleich, Hamburg 2004, 31-53; Matthias Jung, Erfahrung und Religion: Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg i. Br. 1999. 21 Magnus Schlette / Matthias Jung, edd., Anthropologie der Artikulation: Begriffliche Grundlagen und transdiziplinäre Perspektiven, Würzburg 2005.
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nehmen. Wichtig ist mir aber der abschließende Blick auf jene Situationen, an denen Identität überhaupt thematisiert wird. Identität ist nichts – oder doch: gerade wie der Personalausweis, der „carte d’identité“, die man in der Tasche mit sich herumträgt. Die meiste Zeit des Tages, der Woche, des Jahres denkt man nicht an jene Merkmale, die dort als identitätskonstituierend ausgewiesen sind. Das gilt nicht nur für Augenfarbe und Größe, sondern auch für Nationalität und anderes Nichtvermerktes: Konfession, WissenschaftlerIn-Sein und so weiter. Selbst die langfristige Übernahme einer Rolle verbindet sich ja in vielen Situationen mit deren Thematisierung. Kurzum: Nicht weniger spannend als die Frage, wer hat eine durch eine Kultort konstituierte Identität, ist die Frage, wann sie überhaupt benötigt oder beschworen wird. 3.
Kult und Identität
Es steht außer Zweifel, dass große öffentliche Rituale gesellschaftliche Strukturen widerspiegeln und zugleich helfen, normative und soziale Ordnungen – Werte, Hierarchien, politische Strukturen – zu errichten und zu stabilisieren,22 auch wenn der Beitrag solcher Rituale in pluralistischen Gesellschaften deutlich zurückgeht.23 Für das Individuum besitzen Rituale einen vergleichbaren 22
Ritualtheorien haben diese Ergebnisse von sehr unterschiedlichen Positionen aus gewonnen, s. etwa J. Frits Staal, Ritual Syntax, in: M. Nagatome, ed., Sanskrit and Indian Studies: Essays in Honor of Daniel H.H. Ingalls, Dordrecht 1980, 119-142; Walter Burkert, Glaube und Verhalten: Zeichengehalt und Wirkungsmacht von Opferritualen, Le Sacrifice dans l'antiquité, 1981, 91-125; Aurelio Bernardi, Homo ritualis, RSI 96, 1984, 784-810; J.C. Heesterman, Ritual, Revelation, and Axial Age, in: S. N. Eisenstadt, ed., The Origins and Diversity of Axial Age Civilizations, Albany 1986, 393-406; Roy A. Rappaport, Ritual, Time, and Eternity, Zygon 27, 1992, 5-30. 23 Siehe die Kritik bei Jörg Rüpke, Überlegungen zur öffentlichen Festkultur aus ritualtheoretischer Perspektive, in: H. Groschopp, ed., Humanismus – Laizismus – Geschichtskultur, Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin 6, Aschaffenburg 2013, 123-138.
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Effekt.24 Sie stellen sich dar als Routinisierung der Reproduktion fundamentaler Sozialbeziehungen und des Embodiment, der Verleiblichung der Inhalte eines kollektiven Gedächtnisses.25 Die unter dem Stichwort der Performanz betriebenen Forschungen haben freilich betont, wie sehr diese Aneignung auch eine ständige Reinterpretation und affektive Aufladung des unterstellten Ritualskripts darstellt.26 Dass wichtige rituelle Rollen identitätsstiftend sein können, nimmt daher nicht wunder.27 Vier Beobachtungen müssen aber die Schlussfolgerungen, die man aus diesen Überlegungen im Blick auf re24 Synnøve Des Bouvrie, Continuity and Change without individual agency: TheAttic ritual theatre and the ‚Socially unquestionable’ in the tragic genre, in: A. Chaniotis, ed., Ritual dynamics in the ancient Mediterranean: Agency, emotion, gender, representation, Heidelberger althistorische Beiträge und epigraphische Studien 49, Stuttgart 2011, 139-178: 171: „a programme of performances ... producing a sequence of prescribed sentiments“. 25 Ronald L. Grimes, Ritual Criticism: Case Studies in Its Practice, Essays on Its Theory, Studies in Comparative Religion, Columbia, SC 1990; Roy A. Rappaport, Ritual and Religion in the Making of Humanity, Cambridge 1999; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999; Johan Rasmus Brand t/ Jon Wikene Iddeng, edd., Festivals in the Ancient World, Oxford 2012; Jörg Rüpke, Public and publicity: long-term changes in religious festivals during the Roman republic, ebd., 305-322. 26 Richard Schechner, Between Theater and Anthropology. Foreword by Victor Turner, Philadelphia 1985; Benedikt Kranemann / Jörg Rüpke, edd., Das Gedächtnis des Gedächtnisses: Zur Präsenz von Ritualen in beschreibenden und reflektierenden Texten, Europäische Religionsgeschichte 2, Marburg 2003; Jörg Rüpke, Acta aut agenda: Text-Performanz-Beziehungen in der römischen Religionsgeschichte, in: ebd., 11-38. 27 Für Beispiele aus unterschiedlichen Kontexten s. etwa Jan C. Heesterman, ‚I am who I am’: Truth and Identity in Vedic Ritual, in: G. R. Oberhammer, ed., Beiträge zur Hermeneutik indischer und abendländischer Religionstraditionen, Wien 1991, 147-177; Anders Holm Rasmussen / Susanne William Rasmussen, Religion and society: rituals, resources and identity in the ancient Graeco-Roman world, the BOMOS-conference 2002-2005, Analecta Romana Instituti Danici Supplementum, Roma 2008.
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flexiv thematisch werdende religiöse Identität ziehen kann, begrenzen. Zum ersten spielt sich der größte Teil rituellen Erlebens in einem räumlichen Nahbereich, unter Umständen – das gilt freilich kaum für großstädtische insulae – sogar im weiteren häuslichen Bereich ab.28 Grabanlagen etwa zeigen, dass hier familiäre Identität weit vor jeder religiösen steht. Zweitens ist die Beteiligung an zentralisierten Ritualen in der Frequenz wie der Intensität für die Städte des Mittelmeerraums sehr zurückhaltend zu beurteilen. Vielfach beschränkte sie sich aufs Zuschauen; allein in entsprechenden Zweckbauten wie Theater oder Amphitheatern war eine Akustik gegeben, die über einige Hundert Umstehende hinausging.29 Beides kann intensives Erleben ermöglichen, aber auch Anwesenheit ohne weitere Teilnahme. Die Fälle, drittens, in denen Kultorte eigens im Rahmen von Orakelkonsultationen, Heilungen oder undifferenzierten Pilgerfahrten aufgesucht wurden, waren sicher eng begrenzt; es liegt in ihrem überregionalen Charakter und ihrer Zugänglichkeit 28
Zum Hauskult s. Jan Theo Bakker, Living and Working with the Gods: Studies of Evidence for Private Religion and its Material Environment in the City of Ostia (100-500 AD), Dutch Monographs on Ancient History and Archaeology 12, Amsterdam 1994; Maddalena Bassani, Sacraria: ambienti e piccoli edifici per il culto domestico in area vesuviana, Antenor Quaderni 9, Roma 2008; Federica Giacobello, Larari pompeiani. Iconografia e culto dei Lari in ambito domestico, Milano 2008; Deborah Boedecker, Family Matters: Domestic Religion in Classical Greece, in: J. Bodel / S. M. Olyan, edd., Household and family religion in antiquity, The Ancient World: Comparative Histories, Malden 2008, 229-247; Lisa C. Nevett, Domestic Space in Classical Antiquity, Cambridge 2010; zum Grabkult als Familienangelegenheit s. etwa Maureen Carroll, ed., Living through the dead: burial and commemoration in the classical world, Studies in funerary archaeology, Oxford [u.a.] 2011; Maureen Carroll, Spirits of the Dead – Roman Funerary Commemoration in Western Europe, Oxford Studies in Ancient Documents, Oxford 2006; Valerie M. Hope, Constructing Identity: The Roman Funerary Monuments of Aquileia, Mainz and Nimes, BAR International Series 960, Oxford 2001; B. D. Shaw, Latin Funerary Epigraphy and Family Life in the Later Roman Empire, Historia 33, 1984, 457-497. 29 Rüpke, Public and publicity.
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begründet, dass sie möglicherweise hohe religiöse, kaum aber kollektive Identität zu begründen vermochten. Gleichwohl dürften sie für die im nächsten Schritt zu behandelnden Phänomene nicht unbedeutend gewesen sein. Viertens gewann in der Kaiserzeit intellektuelle Kult-, vor allem Opferkritik an Breitenwirkung. Das lässt sich verstehen als Zurückdrängung traditioneller landbesitzender Eliten, die über die für öffentliches Ritual notwendigen Ressourcen, Vieh vor allem, verfügten. An ihre Stelle traten Intellektuelle, die Texte produzierten und auslegten.30 Diese Konkurrenz wird vor allem dort wichtig, wo Kommunikation mit und über solche Texte nicht nur ein Element innerhalb aufwändiger ritueller Rahmen darstellt. Die Reichweite solcher textbezogener Praktiken zur Ausbildung spezifischer und distinkter Identitäten gilt es allerdings im Einzelfall sehr genau zu überprüfen. 4.
Ferne Orte und kollektive Identitäten
In einem wichtigen Aufsatz hat Alexia Petsalis-Diomidis in einer Analyse von Raumvorstellungen Severischer Zeit festgestellt, dass Mithraskult, Judentum und Christentum als zentrales Merkmal teilen, dass sie einer entfernten heiligen Landschaft („sacred landscape“) große Bedeutung zuweisen, ohne damit universalistische Ansprüche aufzugeben.31 Das Phänomen ist nicht isoliert: Das severische Architekturprogramm in Rom wie in Nordafrika und die Bürgerrechtsverleihung durch die Constitutio Antoniniana weisen in gleicher Weise auf eine „Neukalibrierung von geographischen Zentren und Perspektiven sowie eine Verlagerung dessen, was lokale und univer-
30 Daniel C. Ullucci, The Christian rejection of animal sacrifice, Oxford [u.a.] 2012. 31 Alexia Petsalis-Diomidis, Landscape, transformation, and divine epiphany, in: S. Swain / S. Harrison / J. Elsner, edd., Severan culture, Cambridge 2007, 250-289: 252.
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sale kaiserzeitliche Kultur ausmache“.32 Petsalis-Diomidis sucht die Erklärung für diese Phänomene, zu denen sie individuelle Reiseberichte und Epiphanieberichte hinzuzählt, in einer neuen Art des Sehens und der Wahrnehmung von Differenz, die mit dem verstärkten individuellen Wunsch nach persönlichem Kontakt mit dem Göttlichen einhergehen.33 Mir scheint das Phänomen breiter zu sein und nach einer entsprechend weiteren Erklärung zu verlangen. Jerusalem ist, bedingt durch die durch die Zerstörung ausgelöste reale und Imaginationskrise ein kontingenter Sonderfall, aber die frühkaiserzeitliche Ägypten-Inszenierung im Bereich des Isis-Kultes (durch das Iseum aus Pompeji sicher datiert) oder die auf Rom bezogenen provinzialen Kapitoliumsbauten des ersten und zweiten Jahrhunderts n. Chr. sind unverfängliche Zeugen.34 Zwei Erklärungen bieten sich an. Die erste wird mit dem Stichwort Diaspora aufgerufen und ist in jüngster Zeit, komparativ untersetzt, von Greg Woolf vorgetragen worden.35 Verkürzt dargestellt: Die umfangreichen Verpflan32
Ebd. (meine Übersetzung). Ebd., 289. 34 S. etwa Oskar Kuhfeldt, De Capitoliis imperii Romani, Berlin 1882; Eva-Maria Lackner, Arx und Capitolinischer Kult in den Latinischen und Bürgerkolonien Italiens als Spiegel römischer Religionspolitik, in: M. Jehne / B. Linke / J. Rüpke, edd., Religiöse Vielfalt und soziale Integration: Die Bedeutung der Religion für die kulturelle Identität und politische Stabilität im republikanischen Italien, Studien zur Alten Geschichte 17, Heidelberg 2013, 163-201; Kathryn Lomas, The idea of a city: Élite ideology and the evolution of urban form in Italy, 200 BC-AD 100, in: H. M. Parkins, ed., Roman Urbanism: Beyond the Consumer City, London 1997, 21-41. Die ältere Interpretation, wonach diese Bauten den Status der Stadt anzeigten, ist nicht mehr haltbar; die Errichtung folgt dem Statuswechsel mehrfach erst Jahrzehnte oder gar ein Jahrhundert später nach. 35 S. u. und Greg Woolf, Found in Translation: The Religion of the Roman Diaspora, in: O. Hekster / S. Schmidt-Hofner / C. Witschel, edd., Ritual dynamics and religious change in the Roman Empire: Proceedings of the Eighth Workshop of the International Network Impact of Empire (Heidelberg, July 5-7, 2007), Impact of Empire 9, Leiden 2009, 239-252. 33
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zungen von Menschen aus militärischen Gründen, aber auch die ökonomisch bedingte und sozial ermöglichte Mobilität von Eliten wie Armen – die Dynastie der Severer aus Afrika wäre ein Beispiel – erzeugt verbreitet Diasporen und Menschen, die ihre Identität gerade auch durch einen weiten Raumbezug herstellen. Zweifellos ist das ein wichtiger Faktor, aber angesichts der dann doch wieder begrenzten Zahlen und dem Alter verschiedener Mobilitätsphänomene keine hinreichende Erklärung. Unter Rückgriff auf Beobachtungen von Clifford Ando und anderen von Greg Woolf muss die Ursache noch grundsätzlicher gesucht werden. Der vermutlich wichtigste Faktor ist der Prozess der Reichsbildung selbst. Reichsbildung ist keine Ausbildung eines Territorialstaates, sondern die systematische Kooptation lokaler und regionaler politischer Eliten zur Mitwirkung an einer wenigstens grob aufeinander abgestimmten Verwaltung, der Bildung eines gemeinsamen Marktes (auch wenn zahllose lokale Steuern verbleiben) und der Bündelung der militärischen Kräfte, genauer: der Zentralisierung der Verfügung darüber.36 Auch wenn sich für die lokalen Eliten damit neue Zugewinne an Prestige und Handlungsmöglichkeiten ergeben, verlieren sie doch ihr Herrschaftsmonopol: Provinzstatthalter und Kaiser werden zu Appellationsinstanzen, die über Münzen, Statuen, Bauwerke und andere Wohltaten auch im engsten lokalen Raum spürbar werden. Wenn Religion sich auf Akteure bezieht, die jenseits individueller und gesellschaftlicher Verfügung liegen und doch zugleich darauf bezogen werden, müssen religiöse Praktiken auf die komplexeren Schichtungen sozialer und politischer Identitäten reagieren. Sie können sich auf die untersten sozialen Formationen, Familien, Nachbarschaften konzentrieren. Das scheint der zentrale Prozess
36 Vgl. Greg Woolf, Rome: An empire's Story, Oxford 2012, 26f.; Clifford Ando, Imperial Rome AD 193-284: The critical century, Edinburgh History of Ancient Rome, Edinburgh 2012, 186-200.
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im chinesischen Reich gewesen zu sein.37 Sie kann sich ganz auf die Reichsebene konzentrieren, kann Monopoloder Reichsreligion werden. Das ist zumindest ansatzweise das byzantinisch-islamische Modell.38 Oder sie kann den intermediären Bereich besetzen und eigene Strukturen und Netzwerke ausbilden. Das scheint das in der Kaiserzeit dominierende Modell gewesen zu sein. Konzeptuell, in Selbst- und Fremdbeschreibungen etwa, kommt das nur begrenzt zum Ausdruck, da hier mangels eines pluralisierbaren Religionsbegriffs entweder von Philosophenschulen (sectae) oder Ethnien (gentes) gesprochen wird; Differenzen zwischen religiöser und politischer Identität lassen sich zeitgenössisch nicht einfach ausdrücken.39 Aber auch dort, wo eine eigene ethnische Identität behauptet wird, wird die Dominanz der Reichsebene nicht in Frage gestellt. Ansätze zur Konkurrenz von Reichspolitik und religiöser Formierung werden unterdrückt oder marginalisiert. Das trifft insbesondere auf das Mönchtum zu oder auf die Bildung jüdisch (Chasaren) oder zoroastrisch (Iran) geprägter Staaten außerhalb des Imperium Romanum. Die vergleichsweise hohe Mobilität in diesen Räumen – und hier kommt der Faktor Diaspora wieder hinein - tut ein weiteres: Zum einen sorgen Immigranten für eine religiöse Pluralität, die zunehmend als solche erfahrbar wird.40 Zum anderen hängen diese nicht nur nostalgisch 37
Siehe Helwig Schmidt-Glintzer, China: Vielvölkerreich und Einheitsstaat, München 1997. Greg Woolf hat den komparativen Ansatz auf einer Tagung in Cambridge zum 2. Jh. n. Chr. im März 2013 vertieft. 38 See Garth Fowden, Before and after Muhammad: The first millennium refocused, Princeton, NJ 2013; Garth Fowden, Empire to Commonwealth: Consequences of Monotheism in Late Antiquity, Princeton, New Jersey 1993. 39 Zum letzten Ando, Imperial Rome, 124; zu den Analogbegriffen Jörg Rüpke, Religiöser Pluralismus und das Römische Reich, in: H. Cancik / J. Rüpke, edd., Die Religion des Imperium Romanum: Koine und Konfrontationen, Tübingen 2009, 331-354. 40 Rüpke, Religiöser Pluralismus; Jörg Rüpke, Polytheismus und Pluralismus: Überlegungen zur religiösen Konkurrenz in der römi-
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Kindheits-Kulten an, sondern fordern Wiedererkennbarkeit zuvor erlebter Zeichensysteme ein. Ikonographische Schemata, Musterbücher und im weiten Raum zirkulierende Texte schaffen jene Wiedererkennbarkeit, die uns heute zu der homogenisierenden Rede von „Kulten“ verführt.41 Religiöse Praktiken, ja selbst Vorstellungen bleiben primär lokal, aber sie erheben den Anspruch, ja müssen den Gestus des Verweisens auf etwas Translokales, auf Uniformität und fremde Zentren bieten. In der reichsbedingt neuen Mehrschichtigkeit und damit Uneindeutigkeit von politischen Identitäten wird im römischen Reich Religion zu einem wichtigen Instrument der Bildung von kollektiven Identitäten und Netzwerken auf der lokalen Ebene. Je eher religiöse Zeichen und Praktiken dabei den umfassenden Zugang zur Welt, den vorher lokale politische Identitäten und Institutionen geboten haben, ersetzen können, um so erfolgreicher sind sie, je eher sie Reflexion und Gruppenbildung in ihre Praktiken und Zeichen einbinden können, um so eher überleben sie. An genau dieser Stelle wird die überregionale Anbindung, der Verweis auf einen Ort des verehrten Gottes jenseits der Alltagswelt wichtig. Es ist dieser Ort, der die (im Maßstab des Imperiums) „Globalität“ einer Gottheit absichert, die natürlich auch weiterhin lokal wirksam sein soll. Für die universalistischen heno- oder monotheistischen Gottheiten wie Isis, Mithras oder den namenlosen ho theos scheint das banal, aber es lässt sich auch in der Anrufung der Nemeseis von Smyrna oder von Victoriae der Balkanprovinzen in anderen Provinzen feststellen. Das alles bedarf umfangreicher Rhetorik oder BildDidaktik. schen Kaiserzeit, in: A. Gotzmann u. a., edd., Pluralismus in der europäischen Religionsgeschichte, Europäische Religionsgeschichte, Marburg 2001, 17-34. 41 S. etwa Jörg Rüpke, Buchreligionen als Reichsreligionen? Lokale Grenzen überregionaler religiöser Kommunikation, Mittellateinisches Jahrbuch 40, 2005, 197-207.
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Muster dafür kann der Kaiser sein, dessen Einzigartigkeit und universale Macht mit ungeheurer medialer Intensität und Breite – von der Münze bis zum Strafrecht, von der Büste bis zum Kalender – „eingetrichtert“ wird. Er ist der gegebene, mit jenem fernen und allmächtigen „Rom“ assoziierte Gott für das Imperium Romanum.42 Allerdings ermöglicht diese Gottheit im Inneren des Reiches keine spezifische, von anderen unterscheidende und die eigene soziale oder geographische Mobilität ausdrückende kollektive Identität mehr. Aber dieser Gott legt die Messlatte hoch; im Zweifelsfall muss man den sich im Besitz des symbolischen Zentrums Befindenden durch einen überirdischen, himmlischen Ort und Kultort – ich denke hier an das Traktat „An die Hebräer“43– übertrumpfen. Die identitätsbildenden religiösen Orte müssen keine realen Kultorte sein, ja es müssen nicht einmal echte Orte sein: Der Kaiser ist ein Beispiel dafür, dass ein Mensch selbst als locus, als topos dienen kann. Der soeben angedeutete Wettbewerb gleicht die Wettbewerber aneinander an, wie wir das auch heute kennen: Kaisermysterien und theologische Orakel, eigene Architektur und imaginierte oder reale Zentren, ob in Rom, Alexandrien, Jerusalem oder Doliche, in Abonuteichos oder Klaros, gemeinsame Mähler und Spiele, literarisierte Erzählungen und passende Amulette, Heroengräber und Martyrien samt Weihungen und sakralen Mitbringseln (Pilgerflaschen zum Beispiel) – die Bausteine sind erstaunlich, nein: erwartbar ähnlich. Natürlich gibt es auch Verlierer: Die alten Eliten, die politische Macht mit der in der öffentlichen Schlachtung von Tieren demonstrierten agrarischen Verfügungsgewalt verbanden, verlieren die Attraktivität des im lokalen politischen Verband voll42
So eindringlich Clifford Ando, The Matter of the Gods: Religion and the Roman Empire, Transformation of the Classical Heritage, Berkeley 2008, 119. 43 Jörg Rüpke, Starting sacrifice in the beyond: Flavian innovations in the concept of priesthood and their repercussions in the treatise ‚To the Hebrews’, Revue d’histoire des religions 229, 2012, 5-30.
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zogenen Opfers. Der bloße Kultfunktionär steht unter dem Druck der Religionsphilosophen. Ohne aufwändige Ritualdeutung bekommt das Ritual einen schalen Geschmack. Die Wahl der Kultorte ist freilich nicht beliebig. Zumindest von späten ersten bis zum frühen dritten Jahrhundert hat das Imperium Romanum ein symbolisches und intellektuelles Zentrum, Rom. Hier will jede Schule, jedes größere Netzwerk irgendwie präsent sein, hier werden Ideen über kulturelle Distanzen in hoher Geschwindigkeit transportiert. Dieser intellektuelle Kommunikationsraum ist ähnlich entgrenzt, wie wir es vorher und nachher aus Alexandria kennen; gerade deswegen lädt er natürlich auch zu Polemik und Abgrenzung ein. Die Oracula Sibyllina verdammen den Ort, hermetische Texte stellen dem Zufluss des syrischen Orontes in den Tiber, den Juvenal schon im ersten Jahrhundert (wenn auch nicht explizit auf Religion bezogen) beklagt hat, die Behauptung von Ägypten als templum totius mundi entgegen.44 Es spricht viel dafür, dass in Rom und von Rom aus zentrale Texte, die später teilweise in den neutestamentlichen Kanon eingehen werden, entstehen, ich meine die Evangelien,45 Apostelakten, Briefe, Traktate wie „An die Hebräer“. Aber hier finden sich auch griechische Priester wie Plutarch und Appian, Philosophen wie Epiktet, Cornutus und Marc Aurel, Gemeindestifter wie Markion, Justin und Valerianus, Isispriester aus Alexandrien und Gelehrte aus Palästina (Matthatias). Hier fördert der Kaiser die Verehrung bestimmter Götter mit Spielen, Tempeln und Bevorzugung von Netzwerken, hier wirken die Lobbyisten der Juden nicht anders als die von syrischen Baalskulten. Das ganze könnte ein intellektuelles Spiel bleiben, wenn der Prozess nicht noch einmal grundlegendere Konsequenzen für Religion insgesamt hätte: 44
Asclepius 24; Iuvenalis, sat. 3,62. Vgl. Markus Vinzent, Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels, Leuven 2014. 45
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Religion wird auf vielen Ebenen des Lebens wichtiger. Religion wird komplexer: religiöse Praktiken, Netzwerk- und Gruppenbildung, philosophische Reflexionen verdichten sich, werden stärker miteinander verknüpft. Religion nimmt unter den kollektiven Identitäten der Menschen einen wichtigeren Platz ein: die einzelnen sehen sich häufiger (wenn auch insgesamt noch immer selten) als Angehörige einer religiösen Gruppe. Das heißt allerdings weder, dass es diese Gruppe tatsächlich geben muss, noch dass das Zugehörigkeitsgefühl erkennbare Konsequenzen hat. Religiösen Akteuren, religiösen Spezialisten – von Anbietern von Horoskopen über Kultprofis für bestimmte Gottheiten bis hin zu Äbten – gelingt es immer öfter und umfangreicher, Ressourcen zu gewinnen, die einen Ausbau des Betriebes ermöglichen: bis hin zu Wohltätigkeitsleistungen und Armenhilfen in großem Stil. Institutionen wachsen heran. Das alles – zunehmende Alltagsbedeutung, steigende Komplexität, höhere individuelle Wertschätzung, steigender Konsum gesellschaftlicher Ressourcen – führt zur Entstehung eines eigenen gesellschaftlichen Feldes „Religion“ und entsprechend einem eigenen Typ von „religiöser Macht“ und „religiöser Autorität“. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Gesellschaften rund ums Mittelmeer insgesamt: Auch auf anderen gesellschaftlichen Feldern wird die Verknüpfung mit religiöser Macht, die Verfügung über religiöse Ressourcen wichtig: Seit der Tetrarchie am Ende des dritten Jahrhunderts ist Religion ein zentraler Faktor für Herrschaftslegitimation, Bischöfe werden in der Spätantike zu Stadtpatronen, Rabbinen organisieren die aramäisch-hebräische Diaspora, religiöser Auftrag und militärische Expansion gehen im frühen Islam Hand in Hand. Noch einmal kommt Diaspora verschärfend ins Spiel. Wenn man meinem Modell der „Entgrenzung“ folgen will, das nicht zuletzt auch auf Jonathan Zittel Smiths Idee von einem Wandel von ortsbezogenen und herrschaftstabilisierenden „lokativen“ und individuumsbezo-
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genen und herrschaftskritischen „utopischen“, das heißt nicht-mehr-ortsbezogenen Kulten beruht,46 dann muss die konsequente Bekämpfung religionsdurchtränkter Rebellionen in den ehemaligen hellenistischen Reichen, Ägypten, die jüdischen Kriege, Palmyra, in jedem Fall genannt werden: Wenigstens in den beiden erstgenannten Fällen, aber vielleicht auch mit Emesa, Doliche und dem ursprünglich iranischen Mithras wird diesem Machtzentrum derart gründlich die Grundlage autonomer Machtbildung entzogen, dass die „Religionifizierung“ und mit ihr unter den genannten Bedingungen die Universalisierung massiv vorangetrieben wird. Elagabal scheitert zwar in Rom, nicht aber der Sonnengott, wie Aurelian am Ende des dritten und Konstantin am Anfang des vierten Jahrhunderts zeigen. Wenn ein Kaiser wie Konstantin dann auch noch das Netzwerk seiner bischöflichen Freunde so ernst nimmt, dass er sie zu Beratern in entfernten lokalen Angelegenheiten macht,47 treibt er die überregionale Institutionalisierung in einer Weise voran, die diese (oder andere) Religionen aus eigener Kraft nie geschafft hätten. Religionen werden hier reichsförmig – und auf dieser Grundlage in neuem und großflächigerem Sinne wieder „lokativ“. Diese Analyse hat noch eine weitere Implikation. Dass einige der erfolgreichsten religiösen Zeichen – und als solche muss ich als Religionswissenschaftler Götter behandeln – eine Vorgeschichte im fruchtbaren Halbmond, in Ägypten, Syrien-Palästina, aber auch in den vielfältigen Landschaften Kleinasiens haben, hat kaum etwas mit spezifischen Botschaften zu tun: Auferstehung der Toten und Jenseitsvorstellungen fanden viele lächerlich. Persönliche Zuneigung und Gemeinschaftserlebnisse boten auch andere Gottheiten. Die Faktoren, die eine substanzi46 Jonathan Z. Smith, Map is not Territory, in: J. Z. Smith, ed., Map is not Territory: Studies in the History of Religion, Leiden 1978, 289309. 47 Siehe Pedro Barceló, Das Römische Reich im religiösen Wandel der Spätantike: Kaiser und Bischöfe im Widerstreit, Regensburg 2013.
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elle Rolle spielten, dürften dagegen eher in dem Strukturierungsgewinn dieser auf dem Weg der „Religionifizierung“ stärker vorangeschrittenen Zeichensysteme zu suchen sein: Mit dem persischen und den hellenistischen Reichen gab es hier einfach eine mehr als dreihundertjährige Vorgeschichte der Verdichtung von Praktiken, Reflexion und Institution; die Tradition der komplexen Tempelökonomien bedeutete ebenfalls einen Institutionalisierungsvorsprung. Nicht Institutionen, sondern Menschen waren mein Ausgangspunkt, und die Frage nach den Kultorten hatte ich mit der Frage nach kollektiven Identitäten verbunden. Was leisten sie tatsächlich? Da die Möglichkeit empirischer Untersuchungen nicht mehr offen steht, bleibt nur eine Plausibilisierung aus eigener Alltagserfahrung und den wenigen Texten heraus. Wenn wir noch einmal das Analyseschema durchgehen, ergeben sich dabei folgende Befunde: 1) Die Selbstklassifikation wird wesentlich vereinfacht: Der Ort ermöglicht sozusagen ein HammelsprungVerfahren. Angesichts von verschwimmenden Grenzen zwischen dieser und jener Isis, diesem und jenem Sol Invictus, diesem und jenem Iuppiter, dem ho theos und theos Hypsistos, war das sicher kein Nachteil. Bei hoher Trennschärfe blieb die Zahl der Alternativen freilich gering. 2) Wenig wissen wir in den meisten Fällen über eine spezifische Bewertung gerade dieser Zugehörigkeit durch sich selbst. Es ist zu unterstellen, dass es sich um eine positive handelt, da sie auf einer freiwilligen Zuordnung beruht. Gleichzeitig kann es kaum entgangen sein, dass die Fremdwahrnehmung potenziell mit einer negativen Bewertung einhergeht. Der Raum ostentativer Gesten wird sehr unterschiedlich genutzt; die hohe Sichtbarkeit des ägyptischen Charakters der Isis- und Serapis-Verehrung kontrastiert mit den Kulträumen und Bildern des Sol Invictus Mithras; das Judentum bleibt jedenfalls im Blick auf Architektur und Rituale in der Öffentlichkeit weitgehend unsichtbar.
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3) Die Bedeutung, die der Zugehörigkeit beigemessen wird, kann schwer unterschätzt werden. Es handelt sich um eine hegemoniale, eine asymmetrische Klassifikation, oder einfacher ausgedrückt: Schwarzweißmalerei. Die anderen unterscheiden sich nicht nur in einem einzelnen Merkmal, sondern sind überhaupt anders, und zwar schlechter. Es ist klar, dass eine solche Identitätskonstruktion in imperialer Geringschätzung, vor allem aber in kolonialem Widerstand besondere Schärfe erreichen kann.48 Rom oder Babylon ist bei den anderen – ich denke etwa an die Sybillinischen Orakel oder die Johannes-Apokalypse – ein allumfassendes Identitätsmerkmal. Mit der Vier-Reiche-Lehre wird eine bestimmte Konstellation – etwa im Danielbuch – weiter aufgeladen und mit Zwangsläufigkeiten assoziiert. Es dürfte nicht zufällig sein, dass es ein Daniel-Kommentar ist, der zu den frühesten aus der Stadt Rom überlieferten jüdisch-christlichen Texten gehört.49 4) Die gefühlte emotionale Verbundenheit und Abhängigkeit bis hin zur weitgehenden Überlappung personaler und dieser kollektiven Identität fällt es schwer zu konstatieren, auch wenn genau das in Einzelfällen von den Spezialisten gefordert werden mag. In den Metamorphosen des Apuleius sehen wir im elften Buch eine so weitgehende Überlappung in Bezug auf den Gott, nicht aber auf den Ort. Gleiches gilt für Aelius Aristides, der auf Asklepios, nicht einen bestimmten Ort festgelegt ist. 48
David Frankfurter, Religion in Roman Egypt: Assimilation and Resistance, Princeton 1998; Arnaldo Momigliano, Some preliminary Remarks on the ‚Religious Opposition’ to the Roman Empire, Nono contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico, 1992, 681-699; vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial thought and historical difference, Princeton, NJ 2008; Jane Webster / Nicholas J. Cooper, edd., Roman Imperialism: PostColonial Perspectives: Proceedings of a Symposium held at Leicester University in November 1994, Leicester Archaeology Monographs, Leicester 1996. 49 Siehe Katharina Bracht, Hippolyts Schrift In Danielem, Studien und Texte zu Antike und Christentum 85, Tübingen 2014.
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5) Das legt nahe, dass der Grad der Einbettung der im Ortsbezug implizierten Mitgliedschaft in Alltagsvollzüge gering, ja verschwindend gering bleibt. 6) Gleiches dürfte für die Prägung des eigenen Verhaltens dadurch gelten. Hier sind es vor allem Apokalyptiker – Extremisten würden wir wohl heute sagen – und Märtyrerinnen und Märtyrer – Selbstmord-Attentäter trifft hier nicht zu – die hier Beispielerzählungen füllen, die vor allem in nachkonstantinischer Zeit im Christentum weite Verbreitung finden. 7) Anders sieht es dagegen mit der kognitiven Dimension der Vorstellungen und Erzählungen über die Werte, Charakteristika und Geschichte der Gruppe aus. So unspezifisch diese „Gruppe“ ist, so spezifisch und reich sind die Geschichten, die sich mit dem jeweiligen Ort verbinden; eine reiche Mythologie fehlt in keinem Fall, am wenigsten ortsgebunden vielleicht im Falle des Mithras, aber hier fehlen uns adäquate Textzeugnisse, die eine Kontrastierung mit dem ikonographischen Befund erlaubten.50 Es darf aber nicht übersehen werden, dass die ortsbezogenen Traditionen in der Regel ambivalent sind. Weder Persien noch Alexandria und Ägypten sind durchweg positiv besetzt, wenn man an Carrhae und Pompeius, späterhin an Aufstände und den Tod des Valerian in der Schlacht bei Edessa denkt. Aber auch Rom ist schon im engsten italischen Umfeld mit den Bürgerkriegen nicht unproblematisch, für Jerusalem findet sich eine negative Tradition seit dem Propheten Amos.51 50
Zur Mithrasikonographie Manfred Clauss, Mithras: Kult und Mysterien, München 1990; Richard Gordon, The Roman Army and the Cult of Mithras: A critical view, in: C. Wolff / Y. LeBohec, edd., L'armée romaine et la religion sous le Haut-Empire romain, Paris 2009, 397-450, Richard Gordon, Mithras Reallexikon für Antike und Christentum 24, 2012, 964-1009. 51 Zum Jerusalembild s. etwa Maria Häusl, ed., Tochter Zion auf dem Weg zum himmlischen Jerusalem: Rezeptionslinien der „Stadtfrau Jerusalem“ von den späten alttestamentlichen Texten bis zu den Werken der Kirchenväter, Leipzig 2011; David B. Capes, ‚Jerusalem’ in the Gabriel Revelation and the Revelation of John, in: M. Henze,
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Identitätsaktivierungen
Ich hatte anfangs eine dreifache Unterscheidung eingeführt, drei Identitätsregime voneinander abgesetzt, nämlich a) Orte identitätsstiftender Erfahrungen, b) Motive und Metaphern individueller Reflexion auf Identität und c) die sozialen und kommunikativen Situationen, in denen Identitäten thematisiert und repräsentiert werden. Zu letzteren, die ich hier als „Identitätsaktivierungen“ bezeichnen möchte, bleibt mir nur wenig zu sagen. Unser Hauptproblem ist ein quellenkritisches: Gerade die Meinungsführer, deren Autorität auf der Stärke der auf sie bezogenen kollektiven Identität der Angesprochenen beruht, verfassen Texte; gerade Texte, die die kollektive Identität stark machen, haben Chancen, innerhalb eines Netzwerkes oder einer Institution tradiert zu werden. Gerade die jüngsten Untersuchungen zum nordafrikanischen Christentum haben deutlich gemacht, wie differenziert, wechselseitig oft wenig prognostizierbar und wie selektiv solche kollektiven Identitäten mobilisiert werden; die jeweiligen Experten sehen sich dadurch genötigt, sie ständig einzufordern.52 ed., Hazon Gabriel: New Readings of the Gabriel Revelation, Atlanta 2011, 173-188; Kenneth R. Jones, Jewish Reactions to the Destruction of Jerusalem in A.D. 70: Apocalypses and Related Pseudepigrapha, Suppl. to the Journal for the Study of Judaism 151, Leiden 2011; Emmanuel Friedheim, Quelques remarques sur l´évocation de Jérusalem dans la littérature gréco-latine non Chrétienne, Revue d´histoire et de philosophie religieuses 90/2, 2010, 161-178; John Joseph Collins, Between Athens and Jerusalem: Jewish Identity in the Hellenistic Diaspora, Cambridge 2000; P. W. Walker, Holy City, Holy Places? Christian Attitudes to Jerusalem and the Holy Land in the Fourth Century, Oxford Early Christian Studies, Oxford 1990. 52 Siehe mit jeweils anderen Perspektiven Brent D. Shaw, Sacred violence: African Christians and sectarian hatred in the age of Augustine, Cambridge [u.a.] 2011; Éric Rebillard, Transformations of Religious Practices in Late Antiquity, Variorum Collected Studies Series, Farnham 2013; Rebillard, Christians and their many identities; Éric Rebillard, „Vivre avec les paїens, mais non mourir avec eux“: Le problème de la commensalité des chrétiens et des non-chrétiens (I - V siècles), in: É. Rebillard / C. Sotinel, edd., Les frontières du profane
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Untersuchungen dieses Typs bedarf es in größerem Umfang, um den Ort, den das Konzept „Identität“ in einer religionsgeschichtlichen Beschreibung der Transformationen der römischen Kaiserzeit haben sollte, genauer bestimmen zu können. Dieser Band könnte einen Beitrag dazu liefern.
dans l'antiquité tardive, Collection de l'école française de Rome, Rome 2010, 151-176; Éric Rebillard/ Claire Sotinel, Les frontières du profane dans l'antiquité tardive, Collection de l'école française de Rome, Rome 2010; Éric Rebillard, Groupes religieux et élection de sépulture dans l'Antiquité tardive, in: N. Belayche / S. C. Mimouni, edd., Les communautés religieuses dans le monde gréco-romain: Essais de définition, Turnhout 2003, 259-277.
Matthias Müller
Unter den ägyptischen Priestern auf der Insel Elephantine
Die Insel Elephantine genießt unter Theologen zu Recht eine gewisse Bekanntheit, da auf ihr aramäische Papyri gefunden wurden, die von einer Kolonie von Judäern mit einem Tempel berichten. Vorliegender Aufsatz soll hingegen das Augenmerk auf die ägyptischen Quellen der Insel richten und Schlaglichter auf die weitere, nicht nur indigene Bevölkerung setzen. Ungeachtet welcher Zeitstufe begegnet uns dabei in den Texten eine lokale Priesterschaft, die versucht, ihre Partikularinteressen gegen die jeweilige Zentralverwaltung durch Kontrollentzug durchzusetzen. Aufgrund der Textsorten und dadurch auch der Kontexte sind identitätsstiftende Aussagen kaum anzutreffen, wenn man von Äußerungen wie im Brief des Harpkolluthos hinsichtlich der eigenen Gottesfurcht absieht. Über den eigentlichen Kultvollzug berichten die Texte hingegen (meist) nicht. 1.
Historischer Überblick zu Elephantine
Je nach Forschungsschwerpunkt respektive je nachdem, welche Darstellungen man konsultiert, erscheint einem die Insel Elephantine gelegentlich ein Stück weit eindimensional. Beschreibungen von Ägyptologen basieren meist auf ägyptischen Quellen und (im Optimalfall) archäologischen Befunden, solche von Papyrologen auf den griechischen und solche von Theologen, Judaisten oder Spezialisten des Aramäischen meist auf den aramäischen Quellen. Dadurch kann man sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, die Insel wäre wahlweise nur von Ägyp-
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Matthias Müller
tern oder einer rein griechisch-sprachigen Bevölkerung mit teilweise ägyptischen Namen oder allein Juden (oder besser Judäern1) bewohnt gewesen. Indes war Elephantine wohl seit dem Siedlungsbeginn aufgrund seiner exponierten Lage an einem der äußersten Ränder des jeweiligen Reiches (ob Pharaonen-, Perser-, Ptolemäer-, Römerreiches, etc.) immer ein Schmelztiegel verschiedenster Kulturen bzw. lebten dort Menschen mit den unterschiedlichsten Herkunftshintergründen,2 auch wenn die anthropologische Untersuchung des Skelettmaterials der Ausgrabungen ein sehr homogenes Ergebnis erbrachte.3 Auch dieser Beitrag wird das Problem nicht vollständig remedieren, denn er wird versuchen, in erster Linie ägyptische Quellen aus der Zeit der Perserherrschaft und der späteren griechisch-römischen Epoche dem theologischen Leser näherzubringen, ohne dies in gleicher Weise für die griechischen Quellen zu tun. Einen Überblick über die Lage verschaffen die Abbildungen 1 (Karte Ägyptens) und 2 (Plan der Insel mit der 1
Siehe Ernst Axel Knauf, Elephantine und das vor-biblische Judentum, in: R.G. Kratz, ed., Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 22, Gütersloh 2002, 179-188: 179. 2 Siehe dazu den lesenswerten Überblick bei Günter Vittmann, Ägypten und die Fremden im ersten vorchristlichen Jahrtausend, Kulturgeschichte der Antiken Welt 97, Mainz 2003. Auch sollte man sich von ethnisch ‚eindeutigen’ Namen nicht täuschen lassen, wie Bsp. Vittmann, Ägypten und die Fremden 91.100, oder P. L. Bat 26 10,1 (= Sven P. Vleeming, Ostraka Varia. Tax Receipts and Legal Documents on Demotic, Greek, and Greek-Demotic Ostraka Chiefly of the Early Ptolemaic Period, from Various Collections (P. L. Bat. 26), Papyrologica Lugduno-Batava 26, Leiden u.a. 1994, 26) zeigen contra Ursula Kaplony-Heckel, Aus dem Hafen-Amt am Ersten Katarakt (Drei demotische Ostraka in München und Paris), in: D. Kessler / R. Schulz, ḥtp dj n ḥzj. Gedenkschrift für Winfried Barta, MÄU 4, Frankfurt am Main 1995, 215-228: 219 Anm. 14 = Ursula Kaplony-Heckel, Land und Leute am Nil nach demotischen Inschriften, Papyri und Ostraka, Gesammelte Schriften II, ÄA 71/2, Wiesbaden 2009, 1038-1051: 1042 Anm. 14. 3 Friedrich W. Rösing, Qubbet el Hawa und Elephantine. Zur Bevölkerungsgeschichte von Ägypten, Stuttgart u.a. 1990.
Unter den ägyptischen Priestern auf Elephantine
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gegenüberliegenden Stadt Syene/Assuan) am Ende des Beitrags. Obschon die Insel heute den arabischen Namen Gazīrat Aswān „Insel von Aswan“ trägt, hat sich wissenschaftsgeschichtlich deren gräzisierter Name (oder besser, die griechische Übersetzung des ägyptischen Namens) Elephantine eingebürgert. Die Siedlung Elephantine liegt ganz im Süden Ägyptens (ca. 890 km südlich von Kairo) gegenüber der heutigen Stadt Aswān im Nil, nördlich des 1. Katarakt genannten Gebietes von Stromschnellen, die eine direkte Schiffbarkeit des Flusses in Richtung Süden verunmöglichen, und befindet somit an einer Schnittstelle verschiedener Wegrouten zwischen Süd und Nord. Die Insel ist heute etwa 1,6 km lang und 450 m breit und hat eine Fläche von ca. 46 ha. Ein historisches Basisgerüst soll Tab. 1 liefern: ca. 3000 v. Chr. ca. 2400 v. Chr. 20. –19. Jh. v. Chr. 15. –11. Jh. v. Chr. 664/656–332 v. Chr. 332 v. Chr.–384 384–642 ab 642–heute
Tab. 1: Historische Eckdaten
Frühzeitsiedlung Ende Altes Reich (Satettempel, Qubbet el-Hawa) Mittleres Reich (Eroberung Nubiens, Kapellen auf Elephantine) Neues Reich (Ausbau Chnum- und Satet-tempel, Elephantine-Skandal) Spätzeit 1. Perserherrschaft, jüdische Gemeinde) Griechisch-römische Zeit (Ptolemäische Tempel) Spätantike/ Byzantinische Zeit (Christianisierung) Arabische Zeit (Aufgabe der Siedlung Elephantine im 10. Jh., der von Aswān 1412, Neubesiedlung im 19. Jahrhundert)
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Matthias Müller
Früheste Siedlungspuren auf der Insel verweisen an den Beginn des 3. vorchristlichen Jahrtausends4, in dessen Mitte dann die Gegend des heutigen Assuan5 zu einem Ausgangspunkt des ägyptischen Fernhandels mit Afrika wird,6 was zum Prosperieren der lokalen Eliten führte, wie die Anlage von Felsgräbern für die männliche Oberschicht auf dem Westufer des Nils auf der Qubbet elHawa dokumentiert. Auf der Insel lassen sich sowohl administrative7 als auch Sakralbauten (Tempel der Lokalgöttin Satet)8 sowie Siedlungsstrukturen9 am Südostende der heutigen Insel nachweisen. Allerdings bestand Elephantine damals aus zwei Inseln, zwischen denen nur bei Niedrigwasser trockenen Fußes gewechselt 4
Peter Kopp, Elephantine XXXII: Die Siedlung der Naqadazeit, AV 118, Mainz 2006, sowie Dietrich Raue, Untersuchungen in der Stadt des 3. Jahrtausends v. Chr., in: G. Dreyer et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 33./34./35. Grabungsbericht, MDAI.K 64, 2008, 63–151: 68-70; Michael Schultz et al., Ergebnisse paläopathologischer Untersuchungen an zwei frühdynastischen Skeleten aus der Stadtgrabung Elephantine: Versuch einer „biographischen“ Rekonstruktion, MDAIK 64, 2008, 267-287; Thomas Hikade, Elephantine XXXV: The Lithic Industries on Elephantine Island during the 3rd Millennium BC, AV 121, Wiesbaden 2013, 27-35. 5 Auch für Assuan selbst ist eine Besiedlung bereits im 3. Jahrtausend archäologisch gesichert, siehe Cornelius von Pilgrim et al., The Town of Syene. Report on the 5th and 6th Season in Aswan, MDAI.K 64, 2008, 305–356: 307-311, und Cornelius von Pilgrim / Wolfgang Müller / Luise Werlen, The Town of Syene. Report on the 8th Season in Aswan, MDAI.K 67, 2011, 125–161: 127-128. 6 Hierfür wird auch oft die Etymologie des ägyptischen Namens der Insel: 3bw „Elephant“ respektive „Elfenbein“ ins Spiel gebracht, siehe die Diskussion bei Josef Locher, Topographie und Geschichte der Region am Ersten Nilkatarakt in griechisch-römischer Zeit, APF.B 5, Stuttgart u.a. 1999, 22-23. 7 Martin Ziermann, Elephantine XVI: Befestigungsanlagen und Stadtentwicklung in der Frühzeit und im frühen Alten Reich, AV 87, Mainz 1993. 8 Günter Dreyer, Elephantine VIII: Der Tempel der Satet. Die Funde der Frühzeit und des Alten Reiches, AV 39, Mainz 1986. 9 Martin Ziermann, Elephantine XXVIII: Die Baustrukturen der älteren Stadt (Frühzeit und Altes Reich). Grabungen in der Nordoststadt (11.-16. Kampagne) 1982-1986, AV 108, Mainz 2003.
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werden konnte: Während die eigentliche Stadt auf der Ostinsel lag, diente die Westinsel als Friedhof und wies eine kleine Stufenpyramide sowie eine palatiale Anlage (von den Ausgräbern „Königspfalz“ genannt) auf. Die Senke zwischen den beiden Inseln wurde offenbar während des späten 3. Jahrtausends aufgefüllt, möglicherweise begünstigt durch einen generell tieferen Nilstand10 aufgrund einer graduellen Verschlechterung des noch im 4. Jahrtausend vorherrschenden subpluvialen Klimas und vielleicht einer Änderung der Niederschlagsverhältnisse im äthiopischen Hochland. Im Verlauf der ersten ägyptischen Zentralreichsphase (Altes Reich) ist Elephantine offenbar nicht Hauptort eines Gaues (in diesem Fall des 1. oberägyptischen), sondern war vielleicht ein extraterritorialer Stützpunkt.11 Als bauliches Zeichen der pharaonischen Zentralgewalt wird zusätzlich zu der bereits seit der 1. Dynastie am Ostufer bestehenden Festungsanlage in der 3. Dynastie die oben erwähnte Stufenpyramide angelegt, deren repräsentative Funktion12 jedoch offenbar nur von kurzer Dauer ist, da das Areal alsbald von Werkstätten (ab der 4. Dynastie) und dem Stadtfriedhof (ab der 5. Dynastie) eingenommen wird. Im späten 3. Jahrtausend wird der Tempel der Lokalgöttin Satet um- und neugebaut und um eine Kapelle für den Kataraktgott Chnum erweitert. 10
Siehe Stephan Johannes Seidlmayer, Historische und moderne Nilstände. Untersuchungen zu den Pegelablesungen des Nils von der Frühzeit bis in die Gegenwart, Achet. Schriften zur Ägyptologie A.1, Berlin 2001, 81-92. 11 Farouk Gomaà, Ägypten während der Ersten Zwischenzeit, BTAVO B.27, Wiesbaden 1980, 9-15. 12 Siehe Stephan Johannes Seidlmayer, Die staatliche Anlage der 3. Dynastie in der Nordweststadt von Elephantine. Archäologische und historische Probleme, in: M. Bietak, ed., Haus und Palast im Alten Ägypten, Internationales Symposium 8. bis 11. April 1992 in Kairo, Untersuchungen der Zweigstelle Kairo des Österreichischen Archäologischen Institutes XIV = DÖAW XIV, Wien 1996, 195-214; Stephan Johannes Seidlmayer, Town and State in the Early Old Kingdom. A View from Elephantine, in: A. J. Spencer, ed., Aspects of Early Egypt, London 1996, 108-127.
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Am Beginn des 2. vorchristlichen Jahrtausends ziehen die Eliten immer noch ökonomischen Gewinn aus dem Expeditionswesen, doch gehen diese dazu über, statt monumentaler Grabbauten auf der Qubbet el-Hawa Kapellen für ihren Memoria-Kult in einem Heiligtum auf der Insel zu errichten, das einem verehrten und vergöttlichten Privatmann namens Heqaib gewidmet ist.13 Erneut wird der Satet-Tempel umgebaut und um eine Anlage zur Begehung des Festes der Nilflut erweitert, die nach ägyptischer Vorstellung in Elephantine entspringt. Zusätzlich erhält der Gott Chnum ein eigenes Heiligtum im Stadtzentrum. Weiterhin sind auf der Insel umfangreiche Siedlungsstrukturen dokumentiert.14 Neben der ‚Altstadt’ des 3. Jahrtausends entsteht eine ‚Neustadt’ im Bereich der zugeschütteten Senke respektive der ursprünglichen Westinsel.15 Mit der ägyptischen Expansion nach Nubien und dessen anschließender Unterwerfung unter den Pharaonen des Mittleren Reiches wandelt sich Elephantines Status von dem einer Grenzstadt zu dem eines überregionalen Handelszentrums. Unter Pharao Sesostris III. wird die Befestigung der Stadt ausgebaut und mit dem Verlust des direkten Zugriffs auf Nubien in den folgenden Jahr13
Labib Habachi†, Elephantine IV: The Sanctuary of Heqaib, 2 Bde., AV 33, Mainz 1985; Detlef Franke, Das Heiligtum des Heqaib auf Elephantine. Geschichte eines Provinzheiligtums im Mittleren Reich, Studien zur Archäologie und Geschichte Altägyptens 9, Heidelberg 1994; Cornelius von Pilgrim, Zur Entwicklung der Verehrungsstätten des Heqaib in Elephantine, in: E. Czerny et al., Timelines. Studies in Honour of Manfred Bietak I, OLA 149, Leuven u.a. 2006, 403-418, respektive dazu auch Andreas Dorn, Elephantine XXXI: Kisten und Schreine im Festzug. Hinweise auf postume Kulte für hohe Beamte aus einem Depot von Kult- und anderen Gegenständen des ausgehenden 3. Jahrtausends v. Chr., AV 117, Wiesbaden 2015. 14 Cornelius von Pilgrim, Elephantine XVIII: Untersuchungen in der Stadt des Mittleren Reiches und der Zweiten Zwischenzeit, AV 91, Mainz 1996. 15 Siehe dazu Dietrich Raue, Untersuchungen in der Stadt des 3. Jahrtausends v. Chr., in: G. Dreyer et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 33./34./35. Grabungsbericht, MDAI.K 64, 2008, 63–151: 68-78, mit weiterführender Literatur.
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hunderten wird Elephantine dann (wieder) zur Grenzfestung nach Nubien, wobei die Stadt möglicherweise von Nubiern erobert wurde.16 In der Zeit des ägyptischen Neuen Reiches, in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends, ist die Region um Elephantine aufgrund der pharaonischen Eroberungen in Unternubien erneut nicht mehr der südlichste Außenposten des Reiches. Entgegen früheren Annahmen der Ausgräber nimmt die Ausdehnung der Stadt nicht nach Norden hin zu17 und die Tempel für Chnum und Satet werden mehrfach umgebaut und erweitert, wobei die Tempel und ihre Wirtschaftseinheiten ca. 1/3 der Stadtfläche einnehmen, was zur Entwicklung der Stadt Syene am Ostufer des Nils als Ausweichen der Wohnbevölkerung geführt haben könnte. Die Armarnazeit und deren Ikonoklasmus scheinen die Insel und ihre Götterkulte mehrheitlich unbeschadet überstanden zu haben.18 Obschon also durch Bautätigkeit vor Ort an den Tempeln (thutmosidischer Satettempel, Chnumtempel19) und die ausgegrabenen 16
Siehe Cornelius von Pilgrim, Untersuchungen zur Stadtbefestigung: Die Stadtmauer des Mittleren Reiches, in: Dietrich Raue et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 36./37./38. Grabungsbericht, MDAI.K 67, 2011, 181–207: 198-201. 17 Nach einem mündlichen Hinweis von Cornelius von Pilgrim. 18 Siehe Martin Bommas, Akhenaten in the 1st Upper Egyptian Nome, in: A. Gasse / V. Rondot, edd., Séhel entre Égypte et Nubie. Inscriptions rupestres et graffiti de l’époque pharaonique, Actes du colloque international (31 mai – 1er juin 2002), Université Paul Valéry, Montpellier, Orientalia Monspeliensa XIV, Montpellier 2004, 23-37. Nach einem freundlichen Hinweis von Cornelius von Pilgrim ist der Block indes eher Psammetich II. (595–589 v. Chr.) zuzuweisen. 19 Siehe Cornelius von Pilgrim, Der Chnumtempel des Neuen Reiches, in: G. Dreyer et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 28./29./30. Grabungsbericht, MDAI.K 58, 2002, 157–225: 184-192; Cornelius von Pilgrim, Der Chnumtempel des Neuen Reiches: Grabungsbefund und Architektur, in: G. Dreyer et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 31./32. Grabungsbericht, MDAI.K 61, 2005, 13– 138: 38-44, und Martin Bommas, Der Chnumtempel des Neuen Reiches: Dekoration, in: G. Dreyer et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 31./32. Grabungsbericht, MDAI.K 61, 2005, 13–138: 44-51, sowie Martin Bommas, Der Tempel des Chnum der 18. Dynastie auf
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Siedlungsstrukturen20 sowie durch Felsinschriften, angebracht als Memoria-Graffiti von Teilnehmern an der Kultprozession auf verschiedenen Inseln respektive an verschiedenen Orten zur Verewigung und rituellen Wiederholung derselben weiterhin rege Aktivitäten vor Ort dokumentiert sind,21 versiegt aufgrund der Erhaltungszufälle administratives und anderes inschriftliches Material für diese Zeitperiode nahezu vollständig, abgesehen von zwei Briefen aus jener Zeit.22 Aus einem Archiv aus dem ca. 180 km nördlich von Elephantine situierten Theben (gegenüber dem modernen Ort Luxor auf der Westseite des Nils) erfahren wir nur von Skandalen, in welche die lokale Priesterschaft in ramessidischer Zeit (11. Jh. v. Chr.) involviert gewesen sein soll.23 Elephantine, Diss. Heidelberg 2000, (abrufbar unter http://archiv. ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/3383/, letzter Abruf 04/IX/2015), und Cornelius von Pilgrim, Stratigraphie d’un temple. Le temple de Khnoum à Éléphantine du Nouvel Empire á la Période Ptolémaïque, BSFE 151, 2001, 35-53. 20 Bislang liegt nur die finale Publikation des keramischen Materials vor, siehe David A. Aston, Elephantine XIX: Pottery from the Late New Kingdom to the Early Ptolemaic Period, AV 95, Mainz 1999; für die Siedlungsstrukturen siehe die Vorberichte, z. B. Werner Kaiser et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 17./18. Grabungsbericht, MDAI.K 46, 1990, 185–249: 209-212. 21 Ein Teil von diesen liegt in nicht immer zuverlässigen Kopien bei Jacques De Morgan et al., Catalogue des monuments et inscriptions de l’Égypte antique, Première Série: Haute Égypte, Tome premier: De la frontière de Nubie a Kom Ombos, Wien 1894, vor. Eine Neuedition und Einbettung in den Kultraum Aswān-Elephantine bereitet Stephan Seidlmayer vor, siehe Stephan Johannes Seidlmayer, Die Inschriften auf der Nordseite der Tribüne vor dem Chnumtempel des Neuen Reiches auf Elephantine, MDAI.K 68, 2012, 219-236: 220 mit Anm. 6 mit weiterer Literatur. Die Inschriften von der Insel Sehel sind neu vorgelegt worden in Annie Gasse / Vincent Rondot, Les inscriptions de Séhel, MIFAO 126, Le Caire 2007. 22 Siehe dazu Günter Vittmann, The Hieratic Texts, in: B. Porten (ed.), The Elephantine Papyri in English. Three Millennia of Cross-cultural Continuity and Change, 2nd, revised edition, Leiden 20112, 43–45 (Doc. A4) & 58–60 (Doc. A6). 23 Eine Übersetzung liegt bei Vittmann, in: Porten, ed., The Elephantine Papyri in English, 20112, 46-57 (Dok. A5), vor; zu den Hintergrün-
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Auch für die erste Hälfte des 1. Jahrtausends vor der Zeitenwende sind unsere Quellen nur recht sporadisch. Der archäologische Befund dokumentiert weiterhin eine Siedlungskontinuität auf der Insel24, doch inschriftliche Zeugnisse oder dokumentarische Texte sind rar.25 Dieser Befund verändert sich in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends schlagartig in sein Gegenteil: Dokumentarische Texte in Demotisch und Aramäisch sowie später dann in Griechisch und literarische (und religiös-kultische Texte) in Hieratisch und Hieroglyphen sind in großer Zahl gefunden worden, doch leider nur eklektisch publiziert (siehe dazu gleich). Wie nicht anders zu erwarten, korreliert dies mit dem archäologischen Befund.26 Während die kuschitischen Herrscher der 25. Dynastie nur durch den siehe Pascal Vernus, Affaires et scandales sous les Ramsès. La crise des valeurs dans l’Égypte du Nouvel Empire, Paris 1993, 123140. 24 Siehe Kaiser et al., MDAI.K 46 212-213. 25 Das Berliner Museum hat zumindest zwei Fragmente einer Tempeltagebuchliste, die vom Verf. bearbeitet wird, und Günter Vittmann wies mich darauf hin, dass bei den Grabungen des DAI „eine größere Anzahl größerer und kleiner Fragmente von Abrechnungen der 22. Dynastie gefunden wurde,“ siehe Günter Vittmann, Der Stand der Erforschung des Kursivhieratischen (und neue Texte), in: U. Verhoeven, ed., Ägyptologische „Binsen“-Weisheiten Bde. 1-2. Neue Forschungen und Methoden der Hieratistik, Akten zweier Tagungen in Mainz im April 2011 und März 2013, AAWLM.G 14, Mainz u.a. 2015, 383-433: 398 mit Abb. 4 auf S. 399. 26 Siehe Kaiser et al., MDAI.K 46 213-223; speziell zum „aramäischen Quartier“ siehe neben dem grundlegenden Artikel von Bezalel Porten, The Structure and Orientation of the Jewish Temple at Elephantine. A Revised Plan of the Jewish District, JAOS 81, 1961, 3842, die neueren Beiträge von von Pilgrim, in: Dreyer et al., MDAI.K 58, 192-197, sowie Cornelius von Pilgrim, Textzeugnis und archäologischer Befund: Zur Topographie Elephantines in der 27. Dynastie, in: H. Guksch / D. Polz, edd., Stationen. Beiträge zur Kulturgeschichte Ägyptens Rainer Stadelmann gewidmet, Mainz 1998, 485-497. Die Verwendung der von Rubensohn geprägten Bezeichnung „Aramäerquartier“ dürfte allerdings zu stark die Vorstellung ‚ethnisch sauber’ getrennter Stadtviertel evozieren, die indes durch die Texte nicht getragen wird, siehe von Pilgrim, in: Meyer, ed., Egypt – Temple of the Whole World 311.
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Steleninschriften zu belegen sind, errichten die Pharaonen der 26. Dynastie diverse Anbauten und Erweiterungen im Tempelareal wie z. B. einen Nilometer. Mit der persischen Eroberung im Jahr 526 v. Chr.27 wird in der Grenzfeste eine persische Garnison28 stationiert, die sich partiell aus judäischen/ aramäischen Soldaten zusammensetzte, wobei es offenbar bereits vor dieser Zeit eine Judäer-Gemeinde samt Tempel auf der Insel gegeben zu haben scheint. Der judäische Tempel wird im Jahr 410 v. Chr. wohl auf Veranlassung der Chnumpriesterschaft mit Billigung des persischen Verwalters abgebrochen und später wieder aufgebaut.29 Die Pharaonen der 30. und letzten Dynastie Ägyptens leiteten eine weitere intensive Bauphase ein, die durch die ihr folgenden Ptolemäerkönige fortgeführt wurde.30 Der inzwischen um einiges größere Chnum-Tempel wird erneuert31, während der Satet-Tempel zwar auch neuge27 Wie Joachim Friedrich Quack, Zum Datum der persischen Eroberung Ägyptens unter Kambyses, Journal of Egyptian History 4, 2011, 228-246, plausibel machen konnte, ist die persische Eroberung nicht erst 525 v. Chr., sondern bereits ein Jahr früher zu datieren. 28 Zur Festung der Spätzeit siehe Cornelius von Pilgrim, Die Festung von Elephantine in der Spätzeit. Anmerkungen zum archäologischen Befund, in: A. Botta, ed., In the Shadow of Bezalel. Aramaic, Biblical, and Ancient Near Eastern Studies in Honor of Bezalel Porten, Culture and History of the Ancient Near East 60, Leiden u.a. 2013, 203-208; zur Entwicklung der Festung Elephantine siehe Cornelius von Pilgrim, Elephantine – (Festung-)Stadt am Ersten Katarakt, in: M. Bietak / E. Czerny / I. Forstner-Müller, edd., Cities and Urbanism in Ancient Egypt. Papers from a Workshop in November 2006 at the Austrian Academy of Sciences, Untersuchungen der Zweigstelle Kairo des Österreichischen Archäologischen Institutes XXXV = DÖAW LX, Wien 2010, 257-270. 29 Siehe dazu die umfassende Diskussion bei Angela Rohrmoser, Götter, Tempel und Kult der Judäo-Aramäer von Elephantine. Archäologische und schriftliche Zeugnisse aus dem perserzeitlichen Ägypten, AOAT 396, Münster 2014, 240-290. 30 Ewa Laskowska-Kusztal, Elephantine XV: Die Dekorfragmente der ptolemäisch-römischen Tempel von Elephantine, AV 73, Mainz 1996, 3-4. 31 Herbert Ricke, Die Tempel Nektanebos’ II. in Elephantine und ihre Erweiterungen, mit einer Bearbeitung der Inschriften aus der Kaiser-
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baut wird, doch Teile seines Areals an den Friedhof der heiligen Widder des Chnum verliert.32 Die Terrassenanlagen am Ostufer im Vorbereich der beiden Tempel werden in römischer Zeit noch einmal zu einem Gesamtensemble umgebaut.33 Wohnbauten und Siedlungshinterlassenschaften zeugen von einer fortwährenden Bewohnung der Insel.34 Der letzte bedeutende historische Abschnitt in der Geschichte Elephantines lag in der Spätantike35 respektive den ersten arabischen Jahrhunderten und endete mit der Auflassung der Siedlung auf der Insel im 10. Jahrhundert. Die spätantike Stadt36 hatte eine Fläche von ca. 6 ha, auf zeit im Chnumtempel von Elephantine von Serge Sauneron, BÄBFA 6, Kairo 1960; Walter Niederberger, Elephantine XX: Der Chnumtempel Nektanebos II. Architektur und baugeschichtliche Einordnung, AV 96, Mainz 1999; Hanna Jenni, Elephantine XVII: Die Dekoration des Chnumtempels auf Elephantine durch Nektanebos II., mit einem Beitrag von Susanne Bickel über die Dekoration des Tempeltorhauses unter Alexander IV. und der Südwand unter Augustus, AV 90, Mainz 1998; Laskowska-Kusztal, Elephantine XV; Christian Ubertini, Elephantine XXXIV: Restitution architecturale à partir des blocs et fragments épars d’époque ptolémaïque et romaine, AV 120, Mainz 2005. 32 Elisabeth Delange / Horst Jaritz, Elephantine XXV: Der Widderfriedhof des Chnumtempels. Mit Beiträgen zur Archäozoologie und zur Materialkunde, AV 105, Wiesbaden 2013. 33 Horst Jaritz, Elephantine III: Die Terrassen vor den Tempeln des Chnum und der Satet. Architektur und Deutung, mit einer Bearbeitung der griechischen und demotischen Inschriften von der Brüstung der Chnumtempel-Terrasse von Herwig Maehler und Karl-Theodor Zauzich, AV 32, Mainz 1980. 34 Robert D. Gempeler, Elephantine X: Die Keramik römischer bis früharabischer Zeit, AV 43, Mainz 1992; Mieczysław D. Rodziewicz, Elephantine XXVII: Early Roman Industries on Elephantine, AV 107, Mainz 2007. 35 Siehe Jitse H. F. Dijkstra, Philae and the End of Ancient Egyptian Religion. A Regional Study of Religious Transformation (298-642 CE), OLA 173, Leuven u.a. 2008. 36 Peter Grossmann, Elephantine I: Kirche und spätantike Hausanlagen im Chnumtempelhof. Beschreibung und typologische Untersuchung, AV 25, Mainz 1980; Felix Arnold, Elephantine XXX: Die Nachnutzung des Chnumtempelbezirks. Wohnbebauung der Spätantike und des Frühmittelalters, AV 116, Mainz 2003.
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der (geschätzt) 3000 Einwohner lebten, während das kaiserzeitliche Syene auf einer Fläche von 20 ha ca. 10000 Einwohnern Platz bot.37 Der Wandel von einem paganen zu einem mehrheitlich christlich dominierten Gebiet vollzog sich über einen längeren Zeitraum beginnend im 4. und kulminierend im 6. Jahrhundert, wobei die paganen Kulte offenbar in der Mitte des 5. Jahrhunderts bereits verschwunden sind.38 Nubische Stämme, die in der Gegend Raubzüge unternahmen, waren offenbar eine latente Bedrohung in jener Zeit. Wie in den anderen Gegenden Ägyptens bleibt Griechisch weiterhin die Sprache offizieller Dokumente, doch wird Koptisch im 6. bis 8. Jahrhundert zum Medium informeller Korrespondenz. Im Frühmittelalter, d.h. den ersten Jahrhunderten nach der arabischen Eroberung, hatte der Macht- und Religionswechsel zuerst wenig Auswirkungen in der ägyptischen Peripherie, da die byzantinischen Verwaltungs-, sprich Steuerstrukturen weitgehend übernommen wurden und erst allmählich der Konversionsdruck einsetzte.39 Im Gefolge militärischer Unternehmungen gegen die christlichen nubische Reiche siedelten sich arabische Stämme und Familien auch in der Region Aswān an – wenngleich offenbar mit Vorliebe außerhalb der bestehenden Siedlungen. Aufgrund seiner Lage an der Grenze aber auch um den Handel und die Expeditionen zu den Minengebieten in Nubien zu kontrollieren wurde eine arabische Garnision stationiert, was zur Gründung einer ‚neuen’ Siedlung Aswān auf dem Gebiet Syenes führte.40 Als einzi37
Arnold, Elephantine XXX 17-29; Wolfgang Müller, Syene (Ancient Aswan) in the First Millennium AD, in: E. R. O’Connell, ed., Egypt in the First Millennium ad. Perspectives from New Fieldwork, British Museum Publications on Egypt and Sudan 2, Leuven u.a. 2014, 59-69. 38 Dijkstra, Philae and the End of Ancient Egyptian Religion 125-218. 39 Siehe Heinz Halm, Die Kalifen von Kairo. Die Fatimiden in Ägypten 973-1074, München 2003, 132-139. 40 Siehe Jean-Claude Garcin, Un centre musulman de la HauteÉgypte médiévale: Qūṣ, Textes arabes et Études islamiques VI, Cairo 1976, 48–50.
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ges muslimisches Siedlung von Rang in der Region entwickelte sich Aswān zu einem Zentrum muslimischer Kultur mit einer eigenständigen Tradition.41 Innerhalb der neuangesiedelten Araber bildete der Stamm der Rabīca (später auch Banu Kanz genannt)42 eine Art Lokalaristokratie, deren Führer den Titel Kanz ad-Daula „Schatz des Reiches“ führen, aber erst unter dem Fatimidenherrscher al-Ḥākim (*985-†1021, Kalif ab 996)43 und unter dem Wesir Badr al-Ğamālī (Wesir von 1071-1094)44 wurden Kirchen in Moscheen umgewandelt respektive neue Moscheen errichtet. Schleichend wird offenbar auch das Koptische durch das Arabische als Umgangssprache ersetzt.45 Bereits in den letzten Jahrzehnten der Fatimidenherrscher und besonders seit ihrem Fall ist Aswān wohl derart durch Plünderungen durch Nubier und zu ihnen geflüchtete fatimidische Anhänger und Truppen bedroht, dass Saladin seinen Bruder Turan Schah 1173 nach Süden schickt und dieser bis ins nubische Ibrim vorstößt. Unter den Ayyubiden (1171-1252) setzte dann generell der Verfall der Region ein, der durch die Auseinandersetzung zwischen dem lokalen Stamm der Rabīca/ Bani Kanz und den Mamluken zu Beginn des 15. Jahrhunderts zu anarchischen Zuständen in der Region führte. Nach einer Pestepidemie 1402/03, der, al-Maqrizi zufolge, 21 000 Menschen in der Region Aswān zum Opfer gefallen sein sollen, wurde die Stadt Aswān während einer Strafexpedition der Mamluken gegen die Bani Kanz im Jahre 1412 geplündert, zerstört und ohne Einwohner zurückgelassen. Während ein kleiner Teil des ehemaligen Aswān ein un-
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Siehe Jean-Claude Garcin, Un centre musulman 50. Siehe Jean-Claude Garcin, Un centre musulman 47. 43 Siehe Halm, Die Kalifen von Kairo 220-228. 44 Siehe Heinz Halm, Kalifen und Assassinen. Ägypten und der Vordere Orient zur Zeit der ersten Kreuzzüge 1074-1171, München 2014, 46-54. 45 Arnold, Elephantine XXX: Die Nachnutzung des Chnumtempelbezirks 23-25. 42
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bedeutendes Dorf blieb, wurde der Rest des ursprünglichen Areals erst im 19. Jahrhundert wieder besiedelt. 46 2.
Überblick Grabungsgeschichte der Insel und zur Publikation der Quellen
Ansatzpunkt für die Grabungen47 auf der Insel war das Auftauchen aramäischer Papyri auf dem Antikenmarkt im Jahre 1904, die bereits 1906 von Cowley und Sayce publiziert wurden.48 Ungefähr zeitgleich beantragten daher eine deutsche und eine französische Mission die Konzession zu Ausgrabungen auf der Insel, woraufhin das Grabungsgebiet vom damaligen Direktor des Service des antiquités, Gaston Maspero, salomonisch geteilt wurde.49 Die westliche Hälfte des Areals wurde für das Berliner Museum von Otto Rubensohn und Friedrich Zucker ausgegraben50, die östliche Hälfte von einem französi46 Siehe Cornelius von Pilgrim / Kai-Christian Bruhn / Adel Kelany, The Town of Syene. Preliminary Report on the 1st and 2nd Season in Aswan, MDAI.K 60, 2004, 119–148: 120-121. 47 Zur Geschichte des archäologischen Ortes Elephantine siehe Cornelius von Pilgrim, „Auf Elephantine sollten wir überhaupt einmal graben“. Ein Streifzug durch die Forschungsgeschichte der Städte am ersten Nilkatarakt, in: L.D. Morenz / M. Höveler-Müller / A. elHawary, edd., Zwischen den Welten. Grabfunde von Ägyptens Südgrenze, Rahden/Westf. 2011, 63-84 (deutsch) und 85-96 (englisch). 48 Zur Geschichte des archäologischen Ortes Elephantine siehe Cornelius von Pilgrim, „Auf Elephantine sollten wir überhaupt einmal graben“. Ein Streifzug durch die Forschungsgeschichte der Städte am ersten Nilkatarakt, in: L.D. Morenz / M. Höveler-Müller / A. elHawary, edd., Zwischen den Welten. Grabfunde von Ägyptens Südgrenze, Rahden/Westf. 2011, 63-84 (deutsch) und 85-96 (englisch). 49 Siehe die Darstellung bei Josefine Kuckertz, Auf der Jagd nach Papyri. Otto Rubensohn in Ägypten, in: A. Pomerance & B. Schmitz, edd., Heiligtümer, Papyri und geflügelte Göttinnen. Der Archäologe Otto Rubensohn, HÄB 53, Hildesheim 2015, 41–59: 54–59. 50 Die Grabungsergebnisse wurden leider nie vollständig publiziert. Die Ausgräber selbst publizierten nur einen Vorbericht, siehe Honroth / Rubensohn / Zucker, ZÄS 46, 1909-10, 14-61; während die Edition der Grabungstagebücher nachträglich von Wolfgang Müller vorgelegt
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schen Team unter der Leitung von Charles Simon Clermont-Ganneau und Jean Clédat.51 Nach dem ersten Weltkrieg fanden Ausgrabungen des Päpstlichen Bibelinstituts statt.52 Seit 1969 wird die Insel durch das gemeinsame Grabungsprojekt des Deutschen Archäologischen Instituts, Zweigstelle Kairo, und des Schweizerischen Instituts für ägyptische Bauforschung und Altertumskunde in Kairo in jährlich durchgeführten Grabungskampagnen systematisch erforscht. Durch die Grabungen Rubensohns und Zuckers gelangte im Rahmen der Fundteilungen auch eine größere Anzahl an Texten aus verschiedenen Epochen und verschiedenen Sprachen und Schriften in das Berliner Ägyptische Museum, wie die folgende Zusammenstellung zeigt:53
wurde, siehe Wolfgang Müller, Die Papyrusgrabung auf Elephantine 1906-1908. Das Grabungstagebuch der 1. und 2. Kampagne, Forschungen und Berichte 20-21, 1980, 75-88; Wolfgang Müller, Die Papyrusgrabung auf Elephantine 1906-1908. Das Grabungstagebuch der 3. Kampagne, Forschungen und Berichte 22, 1982, 7-50, sowie Wolfgang Müller, Die Papyrusgrabung auf Elephantine 1906-1908. Nachtrag zum Grabungstagebuch der 1. und 2. Kampagne, Forschungen und Berichte 24, 1984, 41-44. Bedauerlicherweise ist Rubensohns und Zuckers Dokumentation der Funde alles andere als spezifisch, so dass man nur in seltenen Fällen Objekte, seien es Texte oder andere Artefakte, einem genauen Fundort zuweisen kann. 51 Auch hier wurden die Grabungsergebnisse respektive -unterlagen erst nachträglich vorgelegt, siehe Élisabeth Delange, ed., Les fouilles françaises d’Éléphantine (Assouan) 1906-1911. Les archives Clermont-Ganneau et Clédat, Mémoires de l’Académie des inscriptions et belles-lettres 46, Paris 2012. Die aramäischen Texte aus der Sammlung Clermont-Ganneau wurden vorgelegt von Hélène Lozachmeur, La collection Clermont-Ganneau. Ostraca, épigraphes sur jarre, étiquette de bois, Mémoires de l’Académie des inscriptions et belleslettres XXXV, 2 Bde., Paris 2006. 52 Alfonso Strazzulli / Paul Bovier-Lapierre / Sébastien Ronzevalle, Rapport sur les fouilles à Éléphantine de l’Institut Biblique Pontifical en 1918, ASAE 18, 1919, 1-7. 53 Wobei es bei den demotischen und griechischen Texte gelegentliche Überschneidungen gibt, wenn dem Haupttext in der einen, Beischriften in der anderen Sprache zugefügt wurden.
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Berlin, Papyrussammlung SMB-SPK54 Hieratisch & hieroglyphisch: 45 Papyri & 4 Ostraka Demotisch: 360 Papyri, 91 Ostraka, 5 Holztafeln, 4 Palmrippen55 Aramäisch: 107 Papyri, 81 Ostraka, 1 Holzsplitter Griechisch: 23 Papyri, 167 Ostraka Koptisch: 1 Papyrus, 1 Pergamentblatt (Kodex), 61 Ostraka Arabisch: 9 Ostraka
Aufgrund der üblichen Fundteilungen gelangten Texte aus der Grabung naturgemäß auch in das Kairener Museum.56 Aus ihren jeweiligen Grabungen verfügen auch der Pariser Louvre und das Päpstliche Bibelinstitut in Jerusalem über Texte aus Elephantine. Weitere Sammlungen mit Elephantine-Texten sind das Brooklyn Museum, die BNU in Strasbourg und das Ashmolean Museum in Oxford sowie die Sammlungen in Moskau, München, Padua, Uppsala, Wien und Zürich;57 54
Quellen: Rubensohn-Datenbank http://elephantine.smb.museum/ & Trismegistos-Datenbank http://www.trismegistos.org/. Die arabischen Texte sind in der Rubensohn-Datenbank noch nicht zugänglich, die Angabe wurde Verena M. Lepper, Die ägyptische und orientalische „Rubensohn-Bibliothek“ von Elephantine. 4000 Jahre Kulturgeschichte einer altägyptischen Insel, in: V.M. Lepper, ed., Forschung in der Papyrussammlung. Eine Festgabe für das Neue Museum, Ägyptische & Orientalische Papyri & Handschriften des Ägyptischen Museums & Papyrussammlung Berlin 1, Berlin 2012, 497-507: 502, entnommen. 55 Dazu kommen noch sicher mehr als 100 000 kleine und Kleinstfragmente, siehe Karl-Theodor Zauzich, Ägyptische Handschriften II, Verzeichnis der orientalischen Handschriften in Deutschland XIX, Wiesbaden 1971, XII. 56 Nach dem Berliner Inventarbuch wurden auch 38 Papyri und 15 Ostraka am 01.05.1912 wieder von Berlin nach Kairo zurückgegeben, siehe Lepper, in: Lepper, Forschung in der Papyrussammlung 503. 57 Zu den frühptolemäischen demotischen Texten siehe die Auflistung bei Vleeming, Ostraka Varia 5-69, sowie Ola el Aguizy, Some Demotic Ostraca in the Cairo Museum, EVO 17 (= Acta Demotica. Acts of the Fifth International Conference for Demoticists, Pisa, 4th-8th September 1993), 1994, 125-144; Friedhelm Hoffmann, Zwei demotischgriechische Salzsteuerquittungen, in: B. Palme, ed., Wiener Papyri als Festgabe zum 60. Geburtstag von Hermann Harrauer (P. Harrauer),
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diese erwarben ihre Texte indes aus dem Kunsthandel. Zu diesen sind dann naturgemäß noch die Funde der obengenannten Grabungen des DAI Kairo und des Schweizerischen Instituts in Kairo seit 1969 zu stellen.58 Generell ist indes zu konstatieren, dass das einzige Sprachkonvolut, das annähernd vollständig publiziert Wien 2001, 55-58 & Taf. 11; Soad Abd el-Aal, Some Demotic Receipts of Various Payments in the Cairo Museum, ASAE 78, 2004, 21–34: 23-24 (Nr. 3), 26-28 (Nr. 7 & 9); George R. Hughes, Catalogue of Demotic Texts in the Brooklyn Museum, with Contributions by Brians P. Muhs and Steve Vinson, OIC 29, Chicago 2005, Nr. 74, 75, 87, 90, 147(?), 155, 178, 180, 184, 187, 188, 193; und die Aufstellung bei Ruth Duttenhöfer, Neue Dokumente zur Salzsteuer aus Elephantine, in: R. Ast / H. Cuvigny / T. M. Hickey / J. Lougovaya, edd., Papyrological Texts in Honor of Roger S. Bagnall, ASP 53, Durham/NC 2013, 79–95: 81-85; zu späteren ptolemäischen Ostraka siehe Kaplony-Heckel, in: Kessler / Schulz, Gs. Barta, 215228 = Kaplony-Heckel, Land und Leute II 1038-1051, und Ursula Kaplony-Heckel, Eine Acker-Amt-Quittung aus Elephantine (DO Bodl. Eg. Inscr. 918), Enchoria 28, 2002-2003, 33-36 = KaplonyHeckel, Land und Leute II 1236-1239; und zu römischen Ostraka siehe Hughes, Cat. Demotic Texts Brooklyn Museum, Nr. 68, 70, 138140. 58 Einen generellen Überblick über die Gesamtzahl der Funde bis 1993 gibt Friedhelm Hoffmann, Zu den demotischen Ostraka, in: W. Kaiser et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 21./22. Grabungsbericht, MDAI.K 51, 1995, 99-187: 185. Ansonsten siehe für hieratisch geschriebene Texte: Hans-Werner Fischer-Elfert, Hieratische Schriftzeugnisse, in: G. Dreyer et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 28./29./30. Grabungsbericht, MDAI.K 58, 2002, 157–225: 214-218; für demotisch geschriebene Texte: Adel Farid, Ein demotisches Familienarchiv aus Elephantine, MDAI.K 46, 1990, 251-261, Hoffmann, in: Kaiser et al., MDAI.K 51, 1995, 99–187: 185-187, Friedhelm Hoffmann, Zu den demotischen Ostraka, in: W. Kaiser et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 23./24. Grabungsbericht, MDAI.K 55, 1999, 63–236: 224-226, und Hoffmann, MDAI.K 64, 2008 132-137; für griechische Texte: Guy Wagner, Elephantine XIII: Les Papyrus et Les Ostracas grecs d’Elephantine (P. et O. Eleph. DAIK), AV 70, Mainz 1998, und Ruth Duttenhöfer, Die griechischen Ostraka, in: G. Dreyer et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 31./32. Grabungsbericht, MDAI.K 61, 2005, 13–138: 121-125; sowie für koptische Texte: Sofia Schaten, Die koptischen Ostraka, in: G. Dreyer et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 31./32. Grabungsbericht, MDAI.K 61, 2005, 13– 138: 125-128.
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vorliegt, das der aramäischen Texte ist, heute bequem konsultierbar über die Textsammlung TAD bzw. inzwischen in zweiter Auflage vorliegende Sammlung der Übersetzungen, beides herausgegeben von Bezalel Porten.59 Relativ gut publiziert, doch nicht immer auch gut erschlossen sind die griechischen Quellen60, doch bereits das demotische Material, obschon in größerer Menge erhalten, sperrt sich nicht nur aufgrund der Schrift61 der ‚einfachen’ Erschließung.62 In den letzten Jahren ist auch die Erschließung der hieratischen Texte durch Arbeiten von Joachim Friedrich Quack und Hans-Werner FischerElfert ein großes Stück vorangekommen.63 59 Bezalel Porten / Ada Yardeni, Textbook of Aramaic Documents from Ancient Egypt, 4 Bde., Jerusalem 1986-1999; Bezalel Porten, ed., The Elephantine Papyri in English. Three Millennia of Crosscultural Continuity and Change, 1st edition, Leiden 1996; 2nd, revised edition Leiden 2011. Beides wird jetzt für das Berliner Material komplementiert durch die Scans in der Rubensohn-Datenbank. 60 Vergleiche neben den Angaben in der Trismegistos-Datenbank jene bei Locher, Topographie und Geschichte. 61 Vgl. hierzu die Ausführungen des Bearbeiters in Zauzich, Ägyptische Handschriften II, XII-XIII, sowie das Vorwort des Herausgebers Erich Lüddeckens in Zauzich, Ägyptische Handschriften II, VII. 62 Neben den drei magistralen Bänden Wilhelm Spiegelberg, Demotische Papyrus von der Insel Elephantine I, Demotische Studien 2, Leipzig 1908; Karl-Theodor Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, Demotische Papyri aus den Staatlichen Museen zu Berlin, Lieferung I, Berlin 1978; Karl-Theodor Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, Demotische Papyri aus den Staatlichen Museen zu Berlin, Lieferung III, Berlin 1993 (ein weiterer Band aus der Hand KarlTheodor Zauzichs ist zu erwarten in der Reihe Ägyptische und orientalische Papyri und Handschriften des Ägyptischen Museums und Papyrussammlung Berlin), bietet Zauzich, Ägyptische Handschriften II, einen Katalog zu den größeren Papyri und Fragmenten. In Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, VII-VIII, findet sich auch eine Liste der bis anhin edierten demotischen Elephantine-Papyri. Aktualisierte Angaben sind jetzt der oben erwähnten RubensohnDatenbank (http://elephantine.smb.museum/) zu entnehmen. 63 Siehe neben den unter Kapitel 4. (Texte der Tempelbibliothek) verzeichneten Beiträgen Quacks noch Joachim Friedrich Quack, Fragmente eines Kommentars zum Mundöffnungsritual, im Druck in einer Festschrift; sowie Hans-Werner Fischer-Elfert, Magika Hieratika in Berlin, Hannover, Heidelberg und München, mit einem Beitrag
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Die Tempel Elephantines und der Umgebung
Wie alle Städte des pharaonischen Ägyptens weisen auch Elephantine und seine Umgebung eine gewisse Anzahl an verschiedenen Göttern geweihten Tempeln auf.64 Auf der Insel selbst sind dies die beiden Haupttempel: der Satetund der Chnum-Tempel. Die Götter Chnum (anthropomorpher Gott mit Widderkopf) und Satet (Göttin in menschlicher Gestalt) bilden das Götterpaar der Kataraktregion, zu dem sich noch die Göttin Anukis als Schwester der Satis gesellt.65 Während aber der Satettempel bereits im 3. Jahrtausend auf der Insel bestand66, weisen die frühesten Indizien für den Chnumtempel an den Beginn des 2. Jahrtausends.67 Im Laufe der Zeit wird der Chnumtempel indes zum ‚wichtigeren’ Heiligtum Elephantines. Daneben existierten verschiedene Kapellen in Naos-Form von Myriam Krutzsch, Ägyptische und Orientalische Papyri und Handschriften des Ägyptischen Museums und Papyrussammlung Berlin 2, Berlin 2015: 103-110 und 157-172; Carsten Knigge Salis / Matthias Müller / Ghislaine Widmer, Spätzeitliche Fragmente religiöser Papyri, in: V.M. Lepper, ed., Forschung in der Papyrussammlung. Eine Festgabe für das Neue Museum, Ägyptische und Orientalische Papyri und Handschriften des Ägyptischen Museums und Papyrussammlung Berlin 1, Berlin 2012, 75-96. 64 Zu den Tempeln der Ptolemäer- und Römerzeit im 1. oberägyptischen Gau, siehe die Zusammenstellung der Quellen bei Gihane Zaki, Le premier nome de Haute-Égypte du IIIe siècle avant J.-C. au VIIe siècle J.-C. d’après les sources hiéroglyphiques des temples ptolémaïques et romains, Monographies Reine Elisabeth 13, Turnhout 2009. 65 Zu den beiden Göttinnen siehe Dominique Valbelle, Satis et Anoukis, Mainz 1981. 66 Dreyer, Elephantine VIII: Der Tempel der Satet. 67 Siehe Werner Kaiser, Zum Chnumtempel des Neuen Reiches, in: W. Kaiser et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 21./22. Grabungsbericht, MDAI.K 51, 1995, 99–187: 147-148; Werner Kaiser, Zum Chnumtempel des Mittleren Reiches, in: W. Kaiser et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 23./24. Grabungsbericht, MDAI.K 53, 1997, 117–193: 159-161; Werner Kaiser, Zum Chnumtempel des Mittleren Reiches, in: W. Kaiser et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 23./24. Grabungsbericht, MDAI.K 55, 1999, 63–236: 108110.
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auf der Terrasse des Chnumtempels. Für die Schwesterstadt Syene/Aswān ist ein Isis-Tempel dokumentiert.68 Auf der ungefähr 2 km südwestlich von Elephantine liegenden Insel Sehel (bzw. Sehelnarti) mit der berühmten Hungersnotstele69 befand sich ein Heiligtum, das anfangs offenbar der Göttin Satet geweiht war, doch wurde der dort vollzogene Kult später für die Göttin Anukis umgewidmet.70 In der Ptolemäerzeit wurde dort neben den Hauptgottheiten der Region (Chnum, Satet und Anukis) auch eine lokale Form des Osiris(?) unter dem Namen „Der Gott im Westen“ verehrt.71 Weiter südlich, auf der Insel Bigeh, stand das sogenannte Abaton72, und die heu68 Siehe neben Edda Bresciani / Sergio Pernigotti, Assuan: Il tempio tolemaico di Isi & I blocchi decoratie iscritti, con un contributo di D. Foraboschi per le iscrizioni greci, Biblioteca di studi antichi 16, Pisa 1978, auch Kai-Christian Bruhn, Investigating the Isis Temple, in: C. von Pilgrim et al., The Town of Syene. Preliminary Report on the 3rd and 4th Season in Aswan, MDAI.K 62, 2006, 215–277: 220-228, und Jitse H.F. Dijkstra, Syene I: The Figural and Textual Graffiti from the Temple of Isis at Aswan, BÄBFA 18, Kairo 2012, 11-19. 69 Siehe Gasse / Rondot, Les inscriptions de Séhel, 336 mit Abb. auf 562-567, und die Übersetzung von Carsten Peust, Hungersnotstele, in: B. Janowski / G. Wilhelm, edd., Texte zum Rechts- und Wirtschaftsleben, TUAT.NF I, Gütersloh 2004, 208-217. 70 Siehe Annie Gasse, Le voyage à Séhel avec les adorateurs de Satet et Ânouqet, in: A. Gasse / V. Rondot, edd., Séhel entre Égypte et Nubie. Inscriptions rupestres et graffiti de l’époque pharaonique, Actes du colloque international (31 mai – 1er juin 2002), Université Paul Valéry, Montpellier, Orientalia Monspeliensa XIV, Montpellier 2004, 65-79. 71 Siehe Vincent Rondot, Séhel et son dieu. Une île de la première cataracte et ses cultes à l’époque tardive, in: A. Gasse / V. Rondot, edd., Séhel entre Égypte et Nubie. Inscriptions rupestres et graffiti de l’époque pharaonique, Actes du colloque international (31 mai – 1er juin 2002), Université Paul Valéry, Montpellier, Orientalia Monspeliensa XIV, Montpellier 2004, 111-125. Die zitierte Namensform auf den griechischen Stelen passt allerdings besser zu einem ägyptischen „der, der im Westen ist“, als zu dem hieroglyphisch belegten „der Gott im Westen“, vgl. Günter Vittmann, Bemerkungen zu spätzeitlichen Objekten in Frankfurt, GöMisz 141, 1994, 97-102: 99, und, ihm folgend, Locher, Topographie und Geschichte 41. 72 Alward M. Blackman, The Temple of Bîgeh, Les temples immergés de la Nubie, Le Caire 1915; siehe Günther Hölbl, Altägypten im
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te durch den Assuan-Staudamm versunkene Insel Philae beherbergte einen Tempel der Isis und einen zu Ehren des Gottes Chnum-Arensnuphis.73 Die demotischen Ostraka berichten darüberhinaus von einem Haus (also Tempel) des Gottes Schu und erwähnen die Kulte vergöttlichter Personen wie Osiris-Espmetis oder wenig bekannte Gottheiten wie Harbekis (vielleicht eine Form des Falkengottes Horus).74
römischen Reich. Der römische Pharao und seine Tempel, II: Die Tempel des römischen Nubien, Zaberns Bildbände zur Archäologie. Sonderbände der Antiken Welt, Mainz 2004, 98 mit Abb. 133 zum heutigen Zustand. 73 Die Publikationen von Georges Bénédite, Le temple de Philæ, MMAF 13, Paris 1893 und 1895, Hermann Junker, Der große Pylon des Tempels der Isis in Philä, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Denkschriften – Sonderband, Wien 1958, und Hermann Junker† / Erich Winter, Philä II: Das Geburtshaus des Tempels der Isis in Philä, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Denkschriften – Sonderband, Wien 1965, bieten nur die Inschriften zweier Tempelteile. Zu den Tempelanlagen siehe Antonio Giammarusti / Alessandro Roccati, File. Storia e vita di un santuario egizio, Novara 1980, und Dieter Arnold, Temples of the Last Pharaohs, New York u.a. 1999, 172-173, 178, 190-193, 202-204, 220-221, 235-237, 264 und 272 mit den Plänen auf 18-19, sowie Hölbl, Altägypten im römischen Reich II, 40-98, zum heutigen Zustand. Die Edition der Texte wurde kürzlich wieder aufgenommen, siehe Holger Kockelmann / Erich Winter, Die zweite Ostkolonnade des Tempels der Isis in Philae (CO II und CO IIk), Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophischhistorische Klasse, Denkschriften der Gesamtakademie 78, 2 Bände, Wien 2016. 74 Siehe Hoffmann, in: Dreyer et al., MDAI.K 64, 2008, 135-136, und Friedhelm Hoffmann, Die Datierung des Ostrakons Brooklyn 12768 1630 und der Kult des Osiris-Espmetis auf Elephantine in römischer Zeit, in: D. Kessler et al., edd., Texte – Theben – Tonfragmente. Festschrift für Günter Burkard, ÄAT 76, Wiesbaden 2009, 206-213. Für die Tempel Elephantines in der Dokumentation aus den Texten der Ptolemäer- und Römerzeit, siehe Locher, Topographie und Geschichte 36-57.
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Texte der Tempelbibliothek
Wie jeder ägyptische Tempel verfügten auch die Tempel von Elephantine über eine umfangreiche Tempelbibliothek, von der bei den oben erwähnten deutschen und französischen Grabungen allerdings nur mehr Fragmente gefunden wurden, die heute in den Sammlungen in Berlin und im Pariser Louvre aufbewahrt werden. Der größere Teil des Berliner Materials ist indes, wie bereits oben erwähnt, noch unpubliziert. Unter den publizierten Stücken lassen sich als (wahrscheinlich) zur Tempelbibliothek gehörend Wissenstexte (im weitesten Sinne) ausmachen, wie der Medizinische Papyrus Rubensohn75, Traumdeutungshandbücher76 oder Listen von Naturerscheinungen77, Ritualtexte, wie die nur mehr pitoyablen Fragmente von Hymnen auf den Gott Chnum78 oder einem Fragment mit Abschnitten eines Königsrituals79, aber auch literarische Texte wie das Papyrusfrag75 Wolfhart Westendorf, Papyrus Berlin 10456: ein Fragment des wiederentdeckten medizinischen Papyrus Rubensohn, in: Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Berliner Ägyptischen Museums, Mitteilungen aus der Ägyptischen Sammlung 8, Berlin 1974, 247-254; siehe auch die Übersetzung bei Vittmann, in: Porten, Elephantine Papyri, 2 2011, 72-74 (Dok. A10). Weitere medizinische Texte aus dem Fund werden u. a. derzeit von Juliane Unger/ Heidelberg bearbeitet. 76 Joachim Friedrich Quack, Aus zwei spätzeitlichen Traumbüchern (Pap. Berlin P. 29009 und 23058), in: H. Knuf / C. Leitz / D. von Recklinghausen, edd., Honi soit qui mal y pense. Studien zum pharaonischen, griechisch-römischen und spätantiken Ägypten zu Ehren von Heinz-Josef Thissen, OLA 194, Leuven u.a. 2010, 99-110 mit Taf. 3437. 77 Joachim Friedrich Quack, Ein Fragment einer Liste mit Naturerscheinungen. Pap. Berlin 23055, in: I. Régen / F. Servajean, edd., Verba manent. Recueil d’études dédiées à Dimitri Meeks II, Cahiers «Égypte Nilotique et Méditerranéenne» 2, Montpellier 2009, 354-361. 78 Knigge Salis / Müller / Widmer, in: Lepper, ed., Forschung in der Papyrussammlung 75-96. 79 Joachim Friedrich Quack, Anrufungen an Osiris als nächtlichen Sonnengott im Rahmen eines Königsrituals (pBerlin 23026), in: V.M. Lepper, ed., Forschung in der Papyrussammlung. Eine Festgabe für das Neue Museum, Ägyptische und Orientalische Papyri und Hand-
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ment mit Abschnitten der Lehre des Amenemhet und der Lehre des Khety80 oder ein anderes mit einer späten Version der Geschichte von Horus und Seth81. Noch unpubliziert sind die Fragmente des Buchs vom Tempel, eines Handbuches mit Anweisungen zum Tempelbau, wie auch zur Organisation der Priesterschaft, das JoachimFriedrich Quack zur Publikation vorbereitet.82 Alle Texte lassen sich einem Spätzeitkonvolut zuweisen. In den letzten Jahren erwies es sich aufgrund der Forschungen von Joachim Friedrich Quack jedoch als immer wahrscheinlicher, dass ein umfangreiches Konvolut gut bis sehr gut (ja gelegentlich fast vollständig) erhaltener Papyri aus der gleichen Epoche wohl nicht, wie man ursprünglich mangels archäologischen Kontexts für diese auf dem Antikenmarkt erstandenen Texte annahm, aus einem Tempel im Nildelta, also ganz im Norden Ägyp-
schriften des Ägyptischen Museums und Papyrussammlung Berlin 1, Berlin 2012, 165-187. 80 Joachim Friedrich Quack, Aus einer spätzeitlichen literarischen Sammelhandschrift (Papyrus Berlin 23045), ZÄS 130, 2003, 182-185 mit Taf. XLV. 81 Joachim Friedrich Quack, Der Streit zwischen Horus und Seth in einer spätneuägyptischen Fassung, in: C. Zivie-Coche / I. Guermeur, ed., «Parcourir l’éternité». Hommages à Jean Yoyotte II, Bibliothèque de l’École des Hautes Études. Sciences religeuses 156, Turnhout 2012, 907-921. 82 Vgl. Joachim Friedrich Quack, Das Buch vom Tempel und verwandte Texte. Ein Vorbericht, ARG 2, 2000, 1-20; Joachim Friedrich Quack, Die Götterliste des Buches vom Tempel und die gauübergreifenden Dekorationsprogramme, in: B. Haring / A. Klug, edd., 6. Ägyptologische Tempeltagung. Funktion und Gebrauch altägyptischer Tempelräume, Leiden 4.-7. September 2002, Wiesbaden 2007, 213235; Joachim Friedrich Quack, Die Theologisierung der bürokratischen Norm. Zur Baubeschreibung in Edfu im Vergleich zum Buch vom Tempel, in: R. Preys, ed., 7. Ägyptologische Tempeltagung: Structuring Religion. Leuven, 28. September – 1. Oktober 2005, Königtum, Staat und Gesellschaft früher Hochkulturen 3,2, Wiesbaden 2009, 221-229.
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tens, stammt, sondern wohl aus Elephantine: die sogenannten Wilbour-Papyri in Brooklyn.83 Obschon bereits zwischen 1880 und 1897 von Charles Edwin Wilbour angekauft und von dessen Tochter 1947 dem Brooklyn Museum übereignet, sind bislang nur sechs der Papyri publiziert: ein magischer Text mit zwei großen Zeichnungen84, ein Papyrus mit einem Ritualtext zur Bekräftigung der Macht Pharaos85, ein Papyrus mit Sprüchen zum Schutz Pharaos86, ein Papyrus mit einem Traktat zur Heilung von Schlangenbissen nebst Beschreibungen von Schlangen und deren Bissmustern87, ein magischer Text wider gefährliche und giftige Tiere88, ein Weisheitstext89 sowie ein Papyrus mit der Beschreibung 83 Allerdings scheint die Beobachtung auf Hans-Werner Fischer-Elfert zurückzugehen, siehe dessen Rezension von Altmann, Kultfrevel des Seth, LingAeg 19, 2011, 311. Ein angekündigter Beitrag von Paul O’Rourke wird demnächst diese Verbindung untermauern, siehe Paul F. O’Rourke, Charles Edwin Wilbour and the Provenance of His Papyri, in: Verena M. Lepper , ed., Essays on Elephantine (in Vb.); bis dahin siehe Paul F. O’Rourke, A Royal Book of Protection of the Saite Period (P. Brooklyn 47.218.49), YES 9, Yale 2015, 17. 84 Serge Sauneron, Le papyrus magique illustré de Brooklyn, Papyrus du Brooklyn Nos 47.218.156, Wilbour Monographs 3, New York 1970. 85 Jean-Claude Goyon, Confirmation du pouvoir royal au nouvel an [Brooklyn Museum Papyrus 47.218.50], BdE 52, Kairo 1952 [Übersetzung und Kommentar]; New York u.a. 1974 [Tafeln]. 86 Paul F. O’Rourke, A Royal Book of Protection. 87 Serge Sauneron, Un traité égyptien d’ophiologie, Papyrus du Brooklyn Nos 47.218.48 et .85, PIFAO – Bibliothèque générale 11, Kairo 1989; eine deutsche Übersetzung liegt bei Katharina Stegbauer, Das Brooklyner Schlangenbuch, in: B. Janowski / D. Schwemer, edd., TUAT.NF V: Texte zur Heilkunde, Gütersloh 2009, 274-298, vor. 88 Jean-Claude Goyon, Le recueil de prophylaxie contre les agressions des animaux venimeux du Musée de Brooklyn, Papyrus Wilbour 47.218.138, Studien zur spätägyptischen Religion 5, Wiesbaden 2012. 89 Richard Jasnow, A Late Period Hieratic Wisdom Text (P. Brooklyn 47.218.135), SAOC 52, Chicago 1989; deutsche Übersetzung in Friedhelm Hoffmann / Joachim Friedrich Quack, Anthologie der demotischen Literatur, Einführungen und Quellentexte zur Ägyptologie, 230-238 mit weiteren Literaturhinweisen und Anmerkungen auf 360361.
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und Ausdeutung von Kultorten im Nildelta90; letzterer war der Grund für die Verortung des gesamten Konvolutes im Norden des Landes. Unter den noch unpublizierten Texten findet sich z.B. ein Handbuch mit Anweisungen für die Behandlung von Mutter und Neugeborenem kurz nach der Entbindung91 sowie weitere medizinische und literarische Texte. Die Zahl der zusätzlichen Fragmente wurde von Sauneron auf ca. 100 000 geschätzt.92 Parallel zum bei den Grabungen auf Elephantine gefundenen Material datieren auch diese Texte in die Spätzeit. Die folgenden Textzitate sollen exemplarisch für die Inhalte der zur Tempelbibliothek gehörenden Texte stehen. Als erstes seien zwei Abschnitte aus dem Brooklyner Schlangenhandbuch zitiert: Im ersten wird die Sandotter, ägyptisch als Asiatenschlange bezeichnet, beschrieben; nach den Angaben zum Aussehen und des Bissmusters folgen Hinweise zu den Heilungschancen und die Angabe, wie lange der Patient an den Folgen leiden wird. Der Hinweis, für welchen Gott die Schlange steht, dient womöglich dafür, den oder die richtigen göttlichen Adressaten oder -in für begleitende Gebete zu kennen. Am Ende folgt die Präzisierung hinsichtlich des Aussehens eines weiblichen Tieres. Was das Männchen der Asiatenschlange (d. i. die Sandotter) angeht: Es hat die Färbung einer Wachtel. Sein Kopf ist groß, sein Nacken ist kurz und sein Schwanz ist wie der Schwanz einer Maus. Die Öffnung seines Bisses ist wie eine kleine Rosine. Man kann davor selbst drei Tage nach dem Biss noch erretten. Sein (des Patienten) Fieber (dauert) neun Tage. Werde deswegen nicht müde! Es steht für Sobek, Variante: Neith. 90
Dimitri Meeks, Mythes et Légendes du Delta d’après le papyrus du Brooklyn Nos 47.218.84, MIFAO 125, Kairo 2006. 91 Serge Sauneron, Some Newly Unrolled Hieratic Papyri in the Wilbour Collection of The Brooklyn Museum, The Brooklyn Museum Annual VIII (1966-1967), 98–102: 100-101. 92 Sauneron, The Brooklyn Museum Annual VIII 98.
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Matthias Müller Das Weibchen: Seine Länge ist eine Elle und eine Handbreit. pBrooklyn 47.218.48&85, Kol. i,19-20 (hieratisch, spätmittelägyptisch)93
Der zweite Abschnitt betrifft die Hornviper. Auch hier folgt auf die Beschreibung des Aussehens der Schlange, die der Bisswunde, wobei nach der Größe der Wunde die auftretenden Folgen unterschieden werden. Auch hier wird die Gottheit genannt, die durch die Schlange repräsentiert wird, gefolgt von einer kurzen Anweisung, wie das Gift aus dem Körper entfernt werden kann. Was die Viper mit zwei Hörnern (Hornviper) angeht: Ihre Farbe gleicht der einer Wachtel; auf ihrem Scheitel sind zwei Hörner; ihr Kopf ist breit, ihr [Nacken kurz], ihr Schwanz ist dick. Ist der Rand ihrer Bisswunde weit, schwillt das Gesicht des von ihr Gebissenen an. Ist die Bisswunde klein, wird der von ihr Gebissene müde, außer [...]. Das Fieber beträgt neun Tage, (doch) er wird leben. Sie steht für Horus. Man kann ihr Gift durch häufiges Erbrechen lassen und dadurch, dass sein [...] beschworen wird, [daraus] entfernen. pBrooklyn 47.218.48&85, Kol. ii,4-6 (hieratisch, spätmittelägyptisch)94
Schlussendlich seien aus der Behandlungssektion des Papyrus drei Rezepte zitiert. Wie so oft, sind nicht alle Ingredienzien eindeutig zu bestimmen: Heilmittel für die große Viper: Pflanze namens „Bild des Horus“ unterägyptisches Salz Bier werde getrunken und erbrochen. Des Weiteren: Pflanze namens „Bild des Seth“ weiße Zwiebeln Bier 93
1 (Quantum) 1 (Quantum) 5⁄64 (Quantum) 1 (Quantum) 1 (Quantum) 5⁄64 (Quantum)
Sauneron, Un traité égyptien d’ophiologie, 13-14; Stegbauer, in: TUAT.NF V, 281-282 §18. 94 Sauneron, Un traité égyptien d’ophiologie, 25-26; Stegbauer, in: TUAT.NF V, 283 §28.
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werde getrunken und erbrochen. pBrooklyn 47.218.48&85, Kol. iv,1213 (hieratisch, spätmittelägyptisch)95 Des Weiteren: Das Kraut der Platterbse, in der Sprache der Asiaten Gulban genannt und das überall wächst, werde zerrieben, mit Wein oder Bier glattgerührt und vom Gebissenen getrunken. Es tötet das Gift wirklich. Es wird (auch) [wegen] jeder (anderen) Schlange zubereitet. pBrooklyn 47.218.48&85, Kol. iv,1314 (hieratisch, spätmittelägyptisch)96
Ein weiterer Text aus der Tempelbibliothek behandelt heilige Stätten und Orte im unterägyptischen Delta des Nils, ganz im Norden Ägyptens (siehe die Karte 1). Exemplarisch sei hier der Eintrag für den Ort Mendes zitiert: Anpi nennt man Mendes auch, es ist eine heilige Stätte des Herzensmüden (Osiris). Der das Leben des unversehrt Erwachten (Osiris) neu beginnt hatte sich als Ba nach Busiris begeben, indem sein Gehörn wieder (auf ihm) befestigt war. Er hatte sich nämlich auf den Weg gemacht und Hu und Sia sind in seinem Gefolge. Man sagt zu diesem Gott Genitalorgan des großen Gottes (Osiris), denn er kopulierte als begattender Ba. Man sagt zu den Gliedern des Gottes (das) Lebendige in Bezug auf den Phallus und das Rückgrat. Das, was existiert, befindet sich auf dem Djed-Pfeiler und eine Vulva aus Metall ist neben ihm, während die beiden weiblichen Geschwister (d. s. Isis & Nephthys) zur Konsekration des Phallus zugegen sind. Denn die Witwe (d. i. Isis) und die Schmerzflamme (d. i. Nephthys), sagt man, sind sein Schutz. Seine Lebenszeit ist bis zur Ewigkeit und er verweilt bis zur Unendlichkeit. pBrooklyn 47.218.84, Kol. xi,9-xii,2 (hieratisch, spätmittelägyptisch)97 95
Sauneron, Un traité égyptien d’ophiologie, 90; Stegbauer, in: TUAT.NF V, 292 §65a&b. 96 Sauneron, Un traité égyptien d’ophiologie, 90-91; Stegbauer, in: TUAT.NF V, 292 §65c.
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Ein anderer Teil der wohl im Tempel aufbewahrten Dokumentation ist das Archiv der Chnumpriester, das im folgenden im Vordergrund stehen soll. Die demotischen Papyri erstrecken sich, soweit man sie sicher datieren kann, über den Zeitraum von 577 v. Chr. bis 25/26 n. Chr.98, und werden dann in der Befundsituation durch Ostraka abgelöst, da offenbar sämtliche offizielle Dokumentation in römischer Zeit in griechischer, oder, wenn Heeresdinge betreffend, in lateinischer Sprache aufgezeichnet werden musste. Eine gewisse Anzahl an Papyri lässt sich in die Ptolemäerzeit datieren, wobei sich auch hier die Texte eher im Zeitraum Ptolemaios II. bis Ptolemaios IV. (285/284-204 v. Chr.) sowie Ptolemaios VIII. (116-107 und 88-80 v. Chr.) ballen.99 Für die Papyri100 lassen sich als Haupttextsorten Briefe, Abrechnungen und Urkunden bestimmen; andere Text97
Meeks, Mythes et Légendes 25 mit dem philologischen Kommentar auf 117-119 und dem Kommentar zu den Mythemen auf 262-265. 98 Zauzich, Ägyptische Handschriften II, XVII. Dort wird noch 590 v. Chr. als frühestes Datum für einen datierbaren Text angeben, doch ist dieser inzwischen, worauf mich Günter Vittmann hinwies, durch Michel Chauveau in die Zeit Psammetich V. = Amyrtaios und somit den Zeitraum 31.12.401-29.01.400 v. Chr. datiert, siehe Michel Chauveau, Les archives d’un temple des oasis au temps des Perses, BSFE 137, 1996, 32–47: 44-47. Als frühester datierter Text muss mit Vittmann somit pBerlin P 23595 aus dem 13. Regierungsjahr des Pharaos Apries (d. i. 577 v. Chr.) angesehen werden, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 126 (Nr. 222). 99 Wie es scheint, beschränken sich die demotischen Steuerquittungen aus frühptolemäischer Zeit auf den Zeitraum der Herrschaft Ptolemaios II. bis zu der Ptolemaios IV., siehe Vleeming, Ostraka Varia 6, und Friedhelm Hoffmann, Zu den demotischen Ostraka, in: G. Dreyer et al., Stadt und Tempel von Elephantine. 33./34./35. Grabungsbericht, MDAI.K 64, 2008, 63-151: 134. Laut den Beobachtungen Hoffmanns nimmt dann in römischer Zeit die Anzahl der Briefe und Abrechnungen auf Ostraka (statt solchen auf Papyrus) zu, während die offizielle Kommunikation mit den Verwaltungen nur noch über die griechische Sprache abgewickelt wird, siehe Hoffmann, in: G. Dreyer et al., MDAI.K 64, 2008, 134-135. 100 Die Texte werden nach den Editionen zitiert inklusive Verweis auf die Übersetzung von Cary J. Martin, The Demotic Texts, in: Porten, ed., The Elephantine Papyri in English, 11996, 22011, sofern dort
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sorten sind nur marginal vertreten.101 Neben dem Archiv der Chnumpriester lassen sich aus dem Material der Berliner Sammlung auch noch andere Teilkonvolute rekonstruieren, so ein Familienarchiv aus Assuan (das allerdings nicht aus den Grabungen von Rubensohn und Zucker stammt, sondern bei einem Händler in Luxor angekauft wurde)102 , oder ein vorperserzeitliches ‚Archiv’103. 5.
Ein Tempel und seine Priester
An der Spitze eines ägyptischen Lokaltempels104 des ausgehenden 1. Jahrtausends vor Christus standen die Propheten und der Lesonis. Während erstere (an kleineren Tempeln vielleicht auch nur einer oder gar keiner
aufgenommen. In die Übersetzungen flossen auch die Korrekturen und Anmerkungen Günter Vittmanns für die Aufarbeitung der Texte im Rahmen des Thesaurus Linguae Aegyptia ein, die auf http://aaew.bbaw.de/tla/index.html unter der jeweiligen Inventarnummer im Bereich Demotische Textdatenbank, Akademie für Sprache und Literatur, Mainz abrufbar sind. Die Übersetzungen wurden indes etwas weniger „philologisch“ gestaltet. 101 Zauzich, Ägyptische Handschriften II, XVI. 102 Dies sind die Papyri Berlin P 13593-13601, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 33-39. Von diesen ist indes nur einer, pBerlin P 13593, publiziert worden, siehe Erich Lüddeckens, Ägyptische Eheverträge, Ägyptologische Abhandlungen 1, Wiesbaden 1960, 64-69 Urk. 28; Martin, in: Porten, The Elephantine Papyri in English, 11996, 366-370/ 22011, 365-369 (Dok. C33). 103 So nach Wolja Erichsen, Zwei frühdemotische Urkunden aus Elephantine, in: Coptic Studies in Honor of Walter Ewing Crum, Boston 1950, 271-286: 272. Günter Vittman wies mich indes auf den Beitrag von Michel Chauveau hin, nach dem einer der beiden Papyri in die Zeit Psammetichs V. = Amyrtaios zu datieren ist, siehe Chauveau, BSFE 137, 44-47; zur Gleichsetzung Psammetichs V. = Amyrtaios, siehe Werner Huß, Ägypten in hellenistischer Zeit, 332-30 v. Chr., München 2001, 43 Anm. 6. 104 Siehe die Einleitung bei Martin, in: Porten, The Elephantine Papyri in English, 11996, 281-283 / 22011, 280-282, bzw. immer noch Walter Otto, Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Hellenismus, 2 Bde., Leipzig u.a. 1905 / 1908.
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davon)105 für die kultischen Belange verantwortlich waren, oblag dem Lesonis106 die administrative Verwaltung des Tempels. Realiter dürfte es aber kein generelles Stellenprofil gegeben haben, sondern sich an unterschiedlichen Tempeln lokale Praktiken herausgebildet haben, die variierende Formen der Überschneidung erzeugten, die sich mal mehr, meist indes wohl weniger mit dem starren Profil ägyptologisch-/papyrologischer Vorstellungen deckten. Unter dieser Führungsschicht standen Priester der Kategorie archistolistes107 und darunter die sogenannten wabPriester, ägyptisch wcb „die (kultisch) Reinen“ genannt. Diese haben den täglichen Kult vollzogen, für den die Anwesenheit der Propheten wohl nicht immer von Nöten war. Die Priesterschaft wurde durch den Tempel versorgt, meist mit Brot und Bier108 , und war nach Phylen organisiert. Waren es bis zum Kanopus-Dekret immer vier Phylen, sind es seit dessen Inkrafttreten (im Jahr 238 v. Chr.) fünf.109 Spezifische Aufgaben erfüllten am Tempel die
105
Bislang scheint es auf Elephantine mehrheitlich Hinweise für den 1. Propheten zu geben, siehe Martin, in: Porten, The Elephantine Papyri in English, 11996, 281, doch legt die Erwähnung eines 4. Propheten in einer perserzeitlichen Zeugenliste nahe, dass auch der Chnum-Tempel deren vier besaß, siehe Martin, in: Porten, The Elephantine Papyri in English, 11996, 281. 106 Es handelt sich um die gräzisierte Wiedergabe des ägyptischen Titels mr-šn. 107 Priester, deren Aufgabe die Bekleidung der Kultbilder und -objekte war, siehe Otto, Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten I 8386. 108 Für die Versorgung mit Brot siehe pBerlin P 15619,4-5 (Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, P. 15619), in dem ein Priesteranteil von 5 Broten respektive eine Menge von 8 1/3 Broten pro Tag erwähnt wird, die im Monat 250 Broten entsprächen. Leider fehlen die Angaben, für wie viele Priester diese Menge vorgesehen war. 109 Siehe Stefan Pfeiffer, Das Dekret von Kanopos (238 v. Chr.). Kommentar und historische Auswertung eines dreisprachigen Synodaldekretes der ägyptischen Priester zu Ehren Ptolemaios’ III. und seiner Familie, APF.B 18, München 2004.
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pastophoroi110, die Schreiber und andere, wie Obersänger oder Trompeter,111 bei denen es sich um die unteren Schichten der lokalen Eliten gehandelt hat. Allerdings dürfte es auch hier Überschneidungen mit den wabPriestern bzw. sogar den Propheten112 gegeben haben, da sich die Vertreter bestimmter Priesterdienste aus dieser Gruppe rekrutiert haben dürften. Bislang fehlen in der Elephantine-Dokumentation die Choachyten113, d. h. Wasserspender, die im Totenkult eingesetzt wurden, wie auch Mumifizierungspriester zu fehlen scheinen; wahrscheinlich, weil die großen Gräber mit entsprechendem Ahnen- und Verstorbenenkult nicht auf der Insel lagen. Da die Tempelinstitutionen durch Schenkungen und Stiftungen über im Laufe der Jahrtausende gewachsenen Land-, Vieh- und teilweise auch Personenbesitz verfügten, gab es an den Tempeln naturgemäß entsprechendes
110
Bis vor kurzen als ‚Kapellenträger’ verstanden, die für den physischen Transport der Kultbilder und -objekte verantwortlich waren, zurückgehend auf Otto, Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten I 94-98; inzwischen aber als Türwächter und Vorhangheber identifiziert von Friedhelm Hoffmann & Joachim Friedrich Quack, Pastophoros, in: A. M. Dodson, J. J. Johnston, und W. Monkhouse, edd., A Good Scribe and an Exceedingly Wise Man. Studies in Honour of W. J. Tait, GHP Egyptology 21, London 2014, 127–155. 111 Siehe Hoffmann, in: Dreyer et al., MDAI.K 64, 2008, 136. 112 Zumindest was den Archistolistes betrifft, siehe Otto, Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten I 83. 113 Zwar verdanke ich Jan Moje den Hinweis auf deren Belegung in pBerlin P 13531 vso (Spiegelberg, Dem. Papyrus von der Insel Elephantine I 22 Nr. 9; Zauzich, Ägyptische Handschriften II 4) wo mindestens drei von ihnen in einer Liste priesterlicher Einkünfte aus der Ptolemäerzeit auftauchen, doch stammt dieser Text aus dem Archiv des Praktors Milon und behandelt dessen Tätigkeit in Edfu und nicht in Elephantine, siehe zum Archiv Willy Clarysse, The Archive of the Praktor Milon, in: K. Vandorpe / W. Clarysse, edd., Edfu, an Egyptian Provincial Capital in the Ptolemaic Period, Handelingen van het Contactforum Brussels, 3 September 2001, Brüssel 2003, 17-27.
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Personal wie Hirten, Bäcker, Fischer, Arbeiter/ Handwerker114 , Lieferanten, Sklaven, etc. Propheten
Lesonis archistolistes wab-Priester Schreiber
pastophoroi
Hirten Arbeiter
Lieferanten
etc.
Schematisierte Hierarchieebenen eines Tempels
Für die Tempel in der Region Aswān/ Elephantine gilt es indes zu präzisieren, dass es in dem Landstrich von Aswān bis zum Gabal es-Silsilah, ca. 65 km nördlich, aus topographischen Gründen kein kultivierbares Land im Uferbereich des Nils gibt.115 Landwirtschaftliche Nutzung lässt sich auf der Insel Elephantine nachweisen, aber möglicherweise eher in privatem Rahmen.116 Tempelland des Chnumtempels lässt sich in den Texten nachweisen, doch ist nicht klar, wo dieses lag.117 114
Offenbar nicht an allen Tempeln, wie die Bitte des Lesonis des Tempels von Philae an den Lesonis des Chnumtempels von Elephantine zeigt, der letzteren um die Übersendung von Handwerkern für fünf Tage bittet, siehe pBerlin P 15622+23668,3-4 (Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, P. 15622+23668); vgl. auch den unten zitierten Brief pBerlin P 13548. 115 Siehe Joseph Gilbert Manning, Land and Power in Ptolemaic Egypt. The Structure of Land Tenure, Cambridge 2003, 31.73. 116 So z. B. in dem (noch unpublizierten) Pachtvertrag pBerlin P 13617+23676 aus dem Jahr 528/527 v. Chr., siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 41-42. Griechische Ostraka, Steuerquittungen herausgegeben von der Bank von Syene, quittieren die Pacht für Obstund Dattelbäume in ptolemäischer und römischer Zeit. 117 So in der Rechnungsrolle pBerlin P 13577a-b+pBerlin P 23588a-f aus ptolemäischer Zeit, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 27.121-122, oder den Pachtvertrag pBerlin P 13578 über die landwirtschaftliche Bestellung von 10 Aruren Land vom Tempelgut des Chnum als Gegenleistung für ein Darlehen von 3 Silberlingen (ebenfalls ptolemäisch), siehe Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine,
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Neben dem täglichen Ritualvollzug gehörte zu den Aufgaben der Priester zum Beispiel die Fütterung der heiligen Falken118 : Stimme des Chnum-em-achet vor Haryotes, dem revidierenden Schreiber. O möge Re (des Adressaten) Lebenszeit lang sein lassen! Man hat mir diesen Brief bezüglich der Nahrung des Falken gebracht. Ich habe dem Pastophoren, den du geschickt hast, das Fleisch von 10 Eseln schicken lassen, entsprechend dem, worüber du geschrieben hast. Wenn es hier eine Sache gibt(, die man sich wünscht), so möge man es befehlen, dass du mir davon schreibst! Geschrieben im Jahr 3, 24. Thot. pBerlin P 13547 (demotisch, Ptolemäerzeit)119
Im Folgenden sollen einige mikrohistorische Begebenheiten dargestellt werden, die sich aus den vornehmlich demotischen Quellen aus den beiden Hauptphasen der Textdokumentation, der Perser- (5. Jh. v. Chr.) und der frühen Ptolemäerzeit (3. Jh. v. Chr.), gewinnen lassen. Anders als aus den aramäischen Texten erfahren wir aus diesen indes fast nichts über das Zusammenleben mit der jüdischen Kolonie auf Elephantine120; die einzige AusDPB III, P. 13578. Inwieweit der Brief eines Mannes (pBerlin P 13553, aus der Ptolemäerzeit) an den ersten Propheten Esnebonchis wegen Problemen mit der Verteilung und Verpachtung im Sinne von Tempelland interpretiert werden darf, ist wohl nicht nur deswegen nicht zu entscheiden, weil er noch unpubliziert ist, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 16. Auch die Verortung des Fragmentes pBerlin P 15814 (Tempelarchiv oder privat) ist bislang nicht möglich, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 100. Siehe auch Manning, Land and Power in Ptolemaic Egypt 206. 118 Der Unterhalt der Falken wird auch in dem (noch unpublizierten) Brief pBerlin P 15529 erwähnt, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 57. 119 Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB I, P. 13547; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 326 (Dok. C18). 120 Zu diesen siehe neben dem grundlegenden Werk Bezalel Porten, Archives from Elephantine. The Life of an Ancient Jewish Military Colony, Berkeley u.a. 1968, jetzt Rohrmoser, Götter, Tempel und Kult, sowie den Abschnitt „Die aramäischen Dokumente“ in Vitt-
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nahme scheint ein Brief zu sein, nach dem der Absender von einem Unglück betroffen wurde, für welches er einen Aramäer(?) verantwortlich macht.121 Die demotischen Quellen erwähnen stattdessen häufiger Probleme mit Nubiern, wenngleich erst aus ptolemäischer Zeit.122 6.
Pherendates oder Der Weg zum Lesonis
Aufgrund seiner Lage im äußersten Süden des Landes dauerte es wohl immer geraume Zeit, bis Entwicklungen im und Neuigkeiten aus dem Rest des Landes ihren Weg nach Elephantine fanden. Doch als im Jahr 526 v. Chr.123 die Armeen des Kambyses (II.) Ägypten124 eroberten, blieb auch die Kataraktenregion davon nicht unberührt. Bis vor wenigen Jahren folgte man von Historikerseite mann, Ägypten und die Fremden 84-119, Bob Becking, Die Gottheiten der Juden in Elephantine, in: M. Oeming / K. Schmid, edd., Der eine Gott und die Götter. Polytheismus und Monotheismus im antiken Israel, AThANT 82, Zürich 2003, 203-226, und Karl-Theodor Zauzich, Der ägyptische Name der Juden, in: A. Botta, ed., In the Shadow of Bezalel. Aramaic, Biblical, and Ancient Near Eastern Studies in Honor of Bezalel Porten, Culture and History of the Ancient Near East 60, Leiden u.a. 2013, 409-416. 121 Papyrus Berlin P 23616, bislang unpubliziert, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 138. 122 So z. B. (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) die Papyri Berlin P 13635 (Zauzich, Ägyptische Handschriften II 44), Berlin P 15524 (Zauzich, Ägyptische Handschriften II 54), Berlin P 15528 (Zauzich, Ägyptische Handschriften II 56-57), Berlin P 23552 (Zauzich, Ägyptische Handschriften II 102), Berlin P 23632 (Zauzich, Ägyptische Handschriften II 147-148) und Berlin P 23639 (Zauzich, Ägyptische Handschriften II 151-152), alle unpubliziert. 123 Zur Datierung siehe Quack, Journal of Egyptian History 4 228-246. 124 Zu den historischen Hintergründen siehe Pierre Briant, From Cyrus to Alexander. A History of the Persian Empire, Winona Lake 2002, Heike Sternberg-el-Hotabi, Politische und sozio-ökonomische Strukturen im perserzeitlichen Ägypten: neue Perspektiven, ZÄS 127, 2000, 153-167; Heike Sternberg-el-Hotabi, Die persische Herrschaft in Ägypten, in: Kratz, Religion und Religionskontakte 111-149; Stephen Ruzicka, Trouble in the West. Egypt and the Persian Empire 525-332 BC, Oxford Studies in Early Empires, Oxford 2012, 14-40.
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dem Narrativ antiker griechischer Historiker wie Herodot und anderer, dass Kambyses und seine Truppen eine Spur der Verwüstung hinterließen, die durch den Brief der judäischen Priesterschaft an Bagohi, den Gouverneur von Jerusalem, im Jahr 407 v. Chr. seine Bestätigung zu finden schien, was wiederum durch ein demotisches Graffito, das innerhalb dieses Narratives interpretiert wurde, auf das Trefflichste bestätigt zu werden schien.125 Indes sind auf der Insel selbst keinerlei archäologische Indizien für exzessive persische Zerstörungen zu finden,126 und auch besagtes demotisches Graffito ist inzwischen mit seinen Aussagen in einen anderen Kontext gestellt worden.127 Schlussendlich sind heute auch die historiographischen Darstellungen der persisch-ägyptischen Geschichte davon abgekommen, das herodotsche Narrativ fortzuschreiben.128 Allerdings scheinen neuere Studien wiede125
Siehe Erich Lüddeckens, Das demotische Graffito vom Tempel der Satet auf Elephantine, MDAI.K 27, 1971, 203-206; Ursula KaplonyHeckel, Zum demotischen Baugruben-Graffito vom Satis-Tempel auf Elephantine, mit einem Anhang von Mohammed Maraqten, Neue aramäische Ostraka aus Elephantine, MDAI.K 43, 1987, 155-172 = Kaplony-Heckel, Land und Leute am Nil nach demotischen Inschriften, Papyri und Ostraka, Gesammelte Schriften I, ÄA 71/1, Wiesbaden 2009, 353-367. 126 Siehe Werner Kaiser, Bautätigkeit der Spätzeit an den Tempeln des Neuen Reiches, in: Kaiser et al., MDAI.K 53, 1997, 178-182. 127 Siehe Günter Vittmann, Das demotische Graffito vom Satettempel auf Elephantine, MDAI.K 53, 1997, 263-281. Bresciani hingegen datierte das Graffito in die Zeit Ptolemaios II. und bezog die Bezeichnung Meder auf Artaxerxes III. (341-338 v. Chr.), siehe Edda Bresciani et al., Ancora sull’iscrizione demotica di Elefantina, EVO 26, 2003, 33-39. Auch Quack will unterdessen den Meder wieder auf die (zweite) Perserzeit und Artaxerxes III. beziehen, siehe Joachim Friedrich Quack, Ist der Meder an allem schuld? Zur Frage des realhistorischen Hintergrundes der gräkoägyptischen Literatur, in: A. Jördens / J. F. Quack, edd., Äygpten zwischen innerem Zwist und äußerem Druck. Die Zeit Ptolemaios’ VI. bis VIII. Internationales Symposion Heidelberg 16.-19.9.2007, Wiesbaden 2011, 103–131: 111-116. 128 Siehe Briant, From Cyrus to Alexander, 55-61; Sternberg-elHotabi, ZÄS 127, 153-167; Sternberg-el-Hotabi, in: Kratz, ed., Religion und Religionskontakte 111-149; Ruzicka, Trouble in the West.
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rum das griechische Narrativ zu bevorzugen,129 da argumentiert wird, dass derartige Aktionen sich eher immateriell ausgewirkt hätten.130 In die Zeit der Perserherrschaft in Ägypten lassen sich aus den nach Berlin gekommenen Papyri aus den Grabungen von Rubensohn und Zucker zehn demotische Texte datieren.131 Unter diesen identifizierte der Erstbearbeiter Wilhelm Spiegelberg drei Texte, in denen er den Namen des persischen Satrapen Pherendates (persisch Farandāta, demotisch Prntt) las.132 Die Lesung wurde jedoch hinsichtlich eines Dokumentes (pLoeb I) von George R. Hughes133 korrigiert, so dass dieses aus diesem Kontext auszuscheiden134 und stattdessen der Korrespon129
Leo Depuydt, Murder in Memphis: The Story of Cambyses’ Mortal Wounding of the Apis Bull (ca. 523 B.C.E.), JNES 54, 1994, 119–126; Karl Jansen-Winkeln, Die Quellen zur Eroberung Ägyptens durch Kambyses, in: T. A. Bács (ed.), A Tribute to Excellence. Studies Offered in Honor of Ernő Gaál, Ulrich Luft & László Török, Studia Aegyptiaca XVII, Budapest 2002, 309–319. Der Hintergrund anderer Teile von Herodots Berichten scheint wohl ebenfalls auf ägyptischen Traditionen zu fußen, siehe Joachim Friedrich Quack, Quelques apports récents des etudes démotiques à la comprehension du Livre II d’Hérodote, in: L. Coulon, P. Giovannelli-Jouanna & F. KimmelClauzet (eds.), Hérodote et l’Égypte. Regards croisés sur le livre II de l’Enquête d’Hérodote, Collection de la Maison de l’Orient et de la Mediterranée 51, Série Littéraire et Philosophique 18, Lyon 2013, 63– 88. 130 Jansen-Winkeln, in: Bács (ed.), Tribute to Excellence, 317. 131 Hinzu kommen noch zwei aramäische Texte mit einer demotischen Schreiberangabe (pBerlin P 13444A = TAD D2.25) respektive einem demotischen Palimpsest (pBerlin P 13488 = TAD C3.15). 132 Wilhelm Spiegelberg, Drei demotische Schreiben aus der Korrespondenz des Pherendates, des Satrapen Darius I., mit den Chnumpriestern von Elephantine, SPAW 1928.30, Berlin 1928, 604-622 mit Taf. IV-VI. 133 George R. Hughes, The So-called Pherendates Correspondence, in: H.-J. Thissen / K.-Th. Zauzich, edd., Grammata demotika. Festschrift für Erich Lüddeckens zum 15. Juni 1983, Würzburg 1984, 75-86. 134 Die Zuweisung des pLoeb I ist in der Sekundärliteratur allerdings immer noch anzutreffen, siehe z. B. Hilmar Klinkott, Der Satrap. Ein achaimenidischer Amtsträger und seine Handlungsspielräume, Oikumene – Studien zur antiken Weltgeschichte 1, Frankfurt am Main
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denz mit einem persischen Lokalverwalter namens Prnw (demotisch, persisch Farnavā135 ) zuzuweisen ist. Wie Hughes weiter zeigen konnte, ist der erste unten zitierte Brief des Satrapen eine Übersetzung aus dem Aramäischen. Wie oben erwähnt, steht einem ägyptischen Tempel in der zweiten Hälfte des 1. vorchristlichen Jahrtausends ein oberster Verwalter (Lesonis) vor, den das Kollegium der wab-Priester des jeweiligen Tempels alljährlich zu wählen pflegt. Während der Zeit der Perserherrschaft über Ägypten musste der Satrap, der Statthalter des persischen Königs, die Wahl eines solchen Lesonis-Priesters bestätigen, in späterer Zeit fällt diese Amtsbetätigung in den Zuständigkeitsbereich des Eparchen, des Distriktverwalters. Offenbar haben auch die Priester des Chnumtempels von Elephantine eine Wahl getroffen, doch ohne die notwendige Zustimmung des Satrapen zu erlangen, auf welchen Umstand sie vom Satrapen Pherendates aufmerksam gemacht werden: Pherendates, dem Ägypten unterstellt ist, spricht zu allen Priestern des Chnum, des Herrn von Elephantine: So spricht Pherendates:
2005, 267, oder Marc Rottpeter, Initiatoren und Träger der „Aufstände“ im persischen Ägypten, in: S. Pfeiffer, ed., Ägypten unter fremden Herrschern zwischen persischer Satrapie und römischer Provinz, Oikumene – Studien zur antiken Weltgeschichte 3, Frankfurt am Main 2007, 9-33: 16. Das Berliner Material bietet indes wohl noch einen, allerdings bislang noch unpublizierten Text, in dem Pherendates erwähnt wird (pBerlin P 15631), und zwar in einer Abrechnung über Getreide, das der Satrap von verschiedenen Personen, wohl Chnumpriestern, eingenommen hat, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 75-76. 135 Zur Namensform siehe Rüdiger Schmitt / Günter Vittmann, Iranische Namen in ägyptischer Nebenüberlieferung, Iranisches Personennamenbuch VIII, hrgs. von R. Schmitt et al., SÖAW.PH 842 = Iranische Onomastik 13, Wien 2013, 76-77 (Nr. 45).
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Matthias Müller Es sind da die Wab-Priester, die der Heri-ideb136 mir schon einmal vorgeführt hat mit den Worten: „Man möge sie zu Lesonis(priestern) machen“, obwohl es von den genannten Priestern einen gibt, der davongelaufen war – man befahl ihn suchen –, und es unter ihnen einen gibt, der eines anderen Mannes Diener ist. Solche Leute kann man nicht zum Lesonis machen. Nun, der Wab-Priester, den es sich ziemt, zum Lesonis zu machen – (der) Vornehme, den ich (das Amt des Lesonis) ausüben lassen werde, ohne dass er etwas zerstört hätte, (das ist der,) der ausgewählt werden wird gemäß dem, was Dareios (der) König befohlen hat. So einen kann man zum Lesonis machen. Nun, der Priester, der ausgewählt werden soll, um ihn zum Lesonis zu machen – (nur) einer von dieser Art ist es, der ausgewählt und gebracht werden wird gemäß dem, was König Dareios befohlen hat. Den Wab-Priester, von dem sich herausstellen wird, dass er etwas zerstört hat, oder den, der Diener eines anderes Mannes (ist) – solche Leute lasst nicht vorführen, um sie zum Lesonis zu machen! Nehmt das zur Kenntnis! Satibara kennt diesen Befehl. pBerlin P 13540 (demotisch, Perserzeit; 21. April 492 v. Chr.)137
Nun wird bereits im Mai jenes Jahres ein Mann namens Eschnumpmetis in einem Brief des persischen Festungskommandanten von Syene, Ravaka, als Lesonis angesprochen138 und er erhält im Juni eine Urkunde in Briefform, in dem der Erhalt von Geld durch eine dritte Partei bestätigt wird: Neferibrêm’achet grüßt Es[chnum]pmetis, den [Le]sonis: O möge Re seine (des Adressaten) Lebenszeit lang sein lassen! Du hast mein Herz zufrieden gestellt mit dem Viertel der Gelder, die du dem Inchy(?) überschrieben hast, um sie mir zu geben. Du hast sie mir gegeben. Mein Herz ist damit zufrieden.
136
So nach Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, P. 13536 Anm. 2, ein Verwaltungstitel; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 290, las „der Vorsteher der 1. Phyle“. 137 Spiegelberg, Drei demotische Schreiben 605-611 mit Taf. IV; Hughes, in: Fs. Lüddeckens 75–86: 77-84; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 290-291 (Dok. C1)/ 22011, 291-292 (Dok. C2). 138 In Papyrus Berlin P 23584, unpubliziert, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 119-120.
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Ich werde veranlassen, dass Inchy(?) diesbezüglich Abstand nimmt von dir. Sollte ich nicht dafür sorgen, dass er sich von dir entfernt, werde ich dir 5 (Deben) Silber geben, ohne irgendeinen Prozess auf Erden mit dir zu führen. (folgt Schreiber, Datum und Zeugenliste) pBerlin P 13572 (demotisch, Perserzeit; 7. Juni 492 v. Chr.) 139
Die Chnumpriester von Elephantine informieren den Satrap nachträglich, dass sie im Juli/ August Eschnumpmetis zum Leonis gewählt hätten: „Stimme der Diener“, der Priester des Chnum, des Großen, Herrn von Elephantine, vor Pherendates, dem Ägypten unterstellt ist. Wir machen die Segnungen des Pherendates vor Chnum, dem großen Gott. O möge Chnum seine (des Adressaten) Lebenszeit lang sein lassen! Im Jahr 29 (Dareios’ I.), Monat Pharmuthi, zur Zeit der Nachfolge des Lesonis, setzten wir den Petechnumis, Sohn des Haaibre, als Lesonis ab und ließen ihm Eschnumpmetis, Sohn des Harchebis, folgen. Wir sind darin übereingekommen, [ihn zum] Lesonis zu [machen]. Er wird Opferlieferungen und Brandopfer vor Chnum darbringen lassen. Geschrieben von Nespameter, Sohn des Neshor, dem Vorsteher der (heiligen) Binden, im Jahr 30, 2. Thoth. pBerlin P 13539 (demotisch, Perserzeit; 25. Dezember 492 v. Chr.) 140 139
Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB I; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 292-293 (Dok. C2)/ 22011, 293294 (Dok. C3). 140 Spiegelberg, Drei demotische Schreiben 611-614 mit Taf. V; Hughes, in: Fs. Lüddeckens 84; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 1 1996, 294-295 (Dok. C3)/ 22011, 289-290 (Dok. C1). Zu den in diesem Brief erwähnten Brandopfern im Hinblick auf die Zerstörung des jüdischen Tempels, siehe Rohrmoser, Götter, Tempel und Kult 248-251. Brandopfer spielen im ägyptischen Kult eine wenn auch nicht tägliche, so doch wichtige Rolle, siehe Hermann Kees, Bemerkungen zum Tieropfer der Ägypter und seiner Symbolik, NAWG 1942.2, Göttingen 1942, sowie Arne Eggebrecht, Art. Brandopfer, in: W. Helck / E. Otto, edd., Lexikon der Ägyptologie I, Wiesbaden 1975, 848-850.
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Doch sind die Probleme mit den Priestern auf der Insel wohl nicht neu, denn bereits sechs Jahre früher werden sie wegen fehlenden Kooperation bei der fiskalischen Kontrolle gemahnt und nach Edfu(?)141 zitiert, wie ein anderer Text bezeugt: Chnumibre grüßt die Priester des Chnum von Elephantine, den Lesonis (und) die Tempelschreiber. O möge Neith ihre (der Adressaten) Lebenszeit lang sein lassen! Ich habe euch bereits früher geschrieben, dass mir durch den heri-ideb geschrieben wurde: „Man soll die Priester des Chnum, den Lesonis (und) die Tempelschreiber in das Haus bringen, in dem ich mich aufhalte, innerhalb der zehn Tage ab dem 16. Mechir des Jahres 24 (Dareios’ I.)!“ Bis heute seid ihr nicht nach Edfu(?) in das Haus, in dem der heri-ideb sich aufhält, gekommen. Sobald euch dieser Brief erreicht, kommt zu dem Haus, in dem ich mich aufhalte, indem ihr die schriftliche Revision des Tempels und auch die Abrechnung der Opferstiftung des Chnum für das Jahr 22, das Jahr 23 und das Jahr 24 dabei habt! Und geht zu dem Haus, in dem der heri-ideb ist! Lasst den Termin, über den mir durch den heri-ideb geschrieben wurde, nicht verstreichen! Geschrieben von Petubastis im Jahr 24, 6. Phamenoth. (Chnemibre) grüßt die Priester des Chnum von Elephantine, den Lesonis (und die) Tempelschreiber von Elephantine. pBerlin P 13536 (demotisch, Perserzeit)142
Doch, wie so oft, dokumentieren die Texte eben mehrheitlich die Abweichungen von der Norm, während die üblichen Tätigkeiten seltener verschriftet werden. Möglicherweise diente das Tempelarchiv auch als Aufbewahrungsort für Rechtsurkunden, doch ist aufgrund der mangelhaften Dokumentation nicht zu entscheiden, ob die folgende Schenkungsurkunde über eine Pfründe eines 141
Edfu erscheint zwar auch prominent bereits im Milon-Archiv, gefunden in einem Krug in einem Haus auf Elephantine, doch ist dies das Archiv eines ehemaligen Offiziellen, der aus Edfu fliehen musste und sich in Elephantine in Sicherheit brachte, siehe Clarysse, in: Vandorpe / Clarysse, edd., Edfu, an Egyptian Provincial Capital 1727. 142 Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III.
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Amtes aus dem Tempelarchiv oder einem privaten Archiv stammt: Jahr 12, Mesore, des Königs Dareios. 143 Gesagt hat der „Träger des Re“ Espmetis, Sohn des Bakrenef, seine Mutter ist Renpetnefret, zur Frau Taschereteniah, Tochter des Espmetis, ihre Mutter ist Renpetnefret: Ich habe dir das Drittel meines Anteils des Schiffsschreiberamtes und des Gauschreiberamtes, das mir von meinem Vater her gehört, gegeben. Es gehört Dir. Niemand auf der Welt wird über das Drittel meines Anteils des Schiffsschreiberamtes und des Gauschreiberamtes, das mir von meinem Vater her gehört, verfügen können, außer Dir, angefangen von Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, Herrn, Herrin, jedem Menschen auf der Welt, ich selbst eingeschlossen. Wer wegen dieses Drittels des Schiffsschreiberamtes und des amtes, das mir von meinem Vater her gehört, gegen dich auftreten wird, um es dir mit den Worten „Es gehört nicht dir“ wegzunehmen, angefangen von Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, Herrn, Herrin, jedem Menschen auf der Welt, und auch mir selbst, der wird dir 5 gegossene Silberkite vom Schatzhaus des Ptah geben, ohne mit dir irgendeinen Prozess auf der Welt zu führen. Geschrieben vom Tempelschreiber des Chnum Espmetis, Sohn des Esmin. Espmetis, Sohn des Bakrenef, eigenhändig. pWien D10150 (demotisch, Perserzeit)144
Plus ça change, … Unter den Ptolemäerkönigen145 änderte sich auch für Elephantine manches: Die Südgrenze wurde noch einmal
143
Das entspricht dem Zeitraum vom 24.11.-23.12.510 v. Chr., siehe Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 348 Anm. 1/ 22011, 347 Anm. 1. 144 Wolja Erichsen, Eine demotische Schenkungsurkunde aus der Zeit des Darius, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse, Jahrgang 1962, Nr. 6, 1963, 345-363; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 348-350/ 22011, 347-349 (Dok. C28). 145 Zu den historischen Hintergründen siehe Huß, Ägypten in hellenistischer Zeit.
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bis zum 2. Katarakt nach Süden verschoben,146 wodurch Elephantine/Assuan nicht mehr unmittelbare Grenzorte waren. Unter dem dritten Ptolemäer wurde die Organisation der Priesterschaft durch Einführung einer fünften Phyle verändert.147 Vor Ort selbst dürfte die Bedeutung Assuans als Verwaltungssitz auf Kosten Elephantines weiter gewachsen sein, doch wird auf der Insel die Tempelanlage weiter ausgebaut. Dennoch zeigt sich uns auch mehr als 250 Jahre später, während der Herrschaft des vierten Ptolemäerkönigs, ein ähnliches Bild in der Dokumentation wie für Perser-Zeit: Im Jahr 219 v. Chr. will ein Mann namens Eschnumpmetis, Sohn des Esnebonchis, Lesonis-Priester des Chnum-Tempels werden. Dafür verfasst er unter anderem einen Brief an Herakleides, den Gouverneur des südlichen Ägyptens, mit der Bitte, sich bei der Wahl für ihn stark zu machen: Wenn es dir beliebt, so betreibe meine Angelegenheit vor dem Vorsteher von Theben und sorge dafür, dass man mich für die 20 Silber(deben), wegen derer ich dem Vorsteher von Theben geschrieben hatte, zum Lesonis des Chnum macht! Ihr Zahlungstermin: Jahr 3 Epiphi 1 Silber(deben) 5 Kite Jahr 4 Paophi 1 Silber(deben) Tybi 1 (Silberdeben) Pharmuthi 1 Silber(deben) 5 Kite. Macht (insgesamt) 5 Silber(deben) wiederum. pBerlin P 13543 (demotisch, Ptolemäerzeit, 11. August 219 v. Chr.)148
Der Versuch war offenbar erfolgreich, denn vom 2. April 216 v. Chr. ist ein Brief an ihn als Lesonis adressiert. Man hat an den Vorsteher von Theben geschrieben: „Man möge den Emmer des Gaues von Teschtores 149 entsprechend 146
Huß, Ägypten in hellenistischer Zeit 314. Siehe Pfeiffer, Das Dekret von Kanopos. Die ursprüngliche Anzahl von vier Phylen wird unten im Brief pBerlin P 13549 erwähnt. 148 Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB I; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 311-312/ 22011, 310-311 (Dok. C11). 149 Das ist der südlichste administrative Bezirk Ägyptens. 147
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der Vermessungsquittung, die man im Jahr 5 gebracht hat, in die Speicher einsammeln, bis man weiß, was man zusätzlich zu bringen hat. Und sie sollen ihn (den Emmer) bis zum 21. Monatstag einziehen.“ Möge man den Emmer des Gottesopfers des Chnum wie oben ausgeführt einsammeln. Der Emmer, den das Gottesopfer des Chnum für den Pharao gegeben hat, soll in den Speicher des Pharaos gebracht werden, bis der Vorsteher von Theben kommt. Und man soll diesbezüglich befehlen (?). Zögere nicht einen Augenblick, während Emmer auf der Straße liegt! pBerlin P 15522 (demotisch, Ptolemäerzeit)150
Noch im selben Jahr schickt er einen Priester nach Alexandria, um an der Feier des Sieges bei Raphia teilzunehmen.151 [Eschnumpmetis,] Sohn des Esnebonchis, ist es, der spricht: Wir haben Parates, Sohn des Inaros, der zu den Priestern des Chnum, der Geschwistergötter, der wohltätigen Götter (und) der vaterliebenden Götter gehört, kommen lassen, um mit den Stabsträußen152, die man wegen des Siegesfestes des Pharaos am 10. Pachons vor den Pharao bringen wird, nach Alexandria zu gehen. Wenn es beliebt, dass der Prophet des Horus zu seinen Gunsten schreibt, um ihn mit seinem Pastophoren heraus aus der Festung (Alexandria) gehen zu lassen, ohne ihn behindert (o.
150 Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB I; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 313-314/ 22011, 312-313 (Dok. C12). 151 Siehe auch den Brief pBerlin P 13566, Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, P. 13566, wo es heißt: „Möge der Pastophor kommen, der den Stabstrauß des Vorstehers von Theben am 1. Pachons nehmen soll und den seiner Leute und den Stabstrauß des Propheten des Chnum und seiner Leute und der großen Leute“ (VS 19-24). Sollte es sich tatsächlich auf dasselbe Ereignis beziehen, wäre für die Reise nach Alexandria eine Woche angesetzt. 152 Ein solcher Stabstrauß wurde auch schon zu früheren Zeiten von den Chnumpriestern nach Memphis überbracht, wie ein (noch unpublizierter) Brief (pBerlin P 15620) aus dem vor- oder frühptolemäischen Archiv des Eschnumpmetis, des Sohnes des Psammetichos, zeigt, siehe Zauzich, Ägyptische Handschriften II 69.
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Matthias Müller ä.) zu haben: Das, was man dort befiehlt, möge man dem damit Beauftragten befehlen, mir darüber zu schreiben! pBerlin P 13565 (demotisch, Ptolemäerzeit)153
Im November des Jahres 205 v. Chr. muss er erneut die Bezahlung eines Betrages regeln: An Eschnumpmetis, Sohn des Esnebonchis, den Lesonis des Chnum. Du hast diese Briefe bringen lassen und ich habe diese Angelegenheiten vernommen, wegen derer du geschrieben hast. Du hast wegen dieser 2 Silber(deben) geschrieben: „Tiqi hat mich sie (die 2 Silberdeben) geben lassen.“ Ich habe Tiqi befragt und er hat mir gesagt, du seist der, der ihm diesbezüglich geschrieben hat, um sie (die Geldbeträge) mir zu geben. Was ich (tun) konnte, habe ich getan. Man hat (die 2 Deben) unter den Geldbeträgen registriert, über die du mir geschrieben hast. Man hat an Nechthminis, Sohn des Sochotes, der den Tempel von Elephantine inspiziert, geschrieben. Geschrieben von Belles im Jahr 18, 28. Thot. pBerlin P 15521 (demotisch, Ptolemäerzeit)154
Weitere Dokumente aus der Ptolemäerzeit dokumentieren z.B. die Probleme der Priesterschaft mit der Bauorganisation am Tempel, da man einen Baumeister von einem anderen Ort anfordern muss, da der Tempel selbst offenbar nicht über einen solchen verfügt: Die Wab-Priester berichteten mir: „Wir haben hier zwei Tage Bau(arbeit).“ Wenn der Baumeister Psenpelaias heraufkommen und die zwei Tage Bau(arbeit) machen kann, soll er kommen! Und es soll(?) geschehen, dass er am Tage der Wasserspende hinabkommt, um den Tempel zu reinigen(?).
153
Wilhelm Spiegelberg / Walter Otto, Eine neue Urkunde zu der Siegesfeier des Ptolemaios IV und die Frage der ägyptischen Priestersynoden, SBAW.PPH 1926.2, München 1926, 3-17; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 315-316/ 22011, 314-315 (Dok. C13). 154 Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB I; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 317-318/ 22011, 316-317 (Dok. C14).
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Du hast deswegen(?) geschrieben (an?) Tegemi(?) (und? / Sohn des?) Pachnumis. (… weitere Themen: ein unklarer Streit und eine kleine Silbermenge) pBerlin P 13548 (demotisch, Ptolemäerzeit)155
In einem anderen Brief finden sich Anweisungen eines Mannes namens Eschnumpmetis, wie ein externer Verwalter, der auf Inspektionstour in Elephantine vorbeikommt, zu behandeln sei: Man soll dem Beauftragten des Amyntas, dem Assistenten des (Vorstehers) von Hermopolis156, der nach Süden gekommen ist, um Elephantine (und) Syene zu inspizieren, eine Gans, entspricht einem Zwölftel Kalb(?), entspricht wiederum einer Gans, geben! Verweigert es ihm nicht! Geschrieben von Tjaihepenimu im Jahr 5, 2. Pachons. Ich werde seinen Ersatz nach Süden bringen oder seinen Wert in Geld. Vernachlässigt nichts! pBerlin P 13580 (demotisch, Ptolemäerzeit)157
Dass regelmäßige Inspektionstouren durchgeführt wurden, dokumentiert auch ein anderer Brief, der möglicherweise an den oben erwähnten Lesonis geschrieben wurde, als er diese Position noch nicht bekleidete:158 Stimme des Hartophnachthes, Sohnes des Esnebonchis, vor dem „Träger des Re“ Eschnumpmetis: O möge Re seine (des Adressaten) Lebenszeit lang sein lassen! Der Bäcker (?) Eschnumpmetis hat mir drei Briefe gebracht: einen Brief für Pairdi, Sohn des Bereh; mir selbst hat er zwei (Briefe) gebracht und ich habe sie gelesen. Ich habe alle Dinge gehört, über die du geschrieben hast. Du hast geschrieben wegen derer, die zu Priestern erwählt sind, um im Tempel zu schreiben. Womit du und die diensttuenden Priestern zufrieden sind, damit bin (auch) ich zufrieden.
155
Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III. Ein Ort in Mittelägypten. 157 Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DBP III. 158 Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, P. 13549, 3 Anm. zu (1). 156
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Matthias Müller Du hast geschrieben: „Siehe, es wurde abgerechnet.“ Schreibe (auch) an die Priester (in) den nämlichen Angelegenheiten! Hör damit auf, es als deine alleinige Angelegenheit anzusehen, denn es ist eine Angelegenheit der vier Phylen. Doch Pahetneter, Sohn des Epmetschepsi, ist ein kluger Mann. Er ist jemand, der eine Sache untersuchen kann, um keine Verärgerung(?) bei den Priestern und auch beim Gott zu verursachen. Ich bin mit ihm einverstanden. Aber ich weiß nicht, wer im Herzen der Priester ausgewählt ist. Die Leute hier werden sich hüten, etwas zu tun, was sich nicht schickt. Aber wenn ihr in einer Angelegenheit deswegen schreibt, möge befohlen werden, nicht zuzulassen, dass irgendetwas (dagegen) getan werde, damit er im Tempel, in der Stadt oder wo immer auch sonst untersucht! Und es soll befohlen werden, ihm die Bücher zu geben, die er wünscht, um die Inspektion der Dinge zu machen, die danebengegangen sind. Es sind Dinge, von denen der Gott Nutzen hat. Dann hast du mir wegen Osoroeris geschrieben: „Du hast mit ihm gestritten, indem du mir (gemeint: ihm?) geschrieben hast: Du hütest dich vor niemandem“, da hätte ich (zu) Osoroeris gesagt: „Hüte dich vor dem Gott!“ Dies (wäre ein Wort gewesen,) um ihn nicht zu verletzen. Aber da ich mich vor ihm gehütet habe, war (es) angemessen, sich (auch) vor mir zu hüten. pBerlin P 13549 VS 1–29 (demotisch, Ptolemäerzeit)159
Die Ausführung der Amtspflichten der Priesterschaft scheint aber gelegentlich auch auf unteren Ebenen Anlass zur Missbilligung geboten zu haben, wie der folgende Brief eines Mannes auf der Durchreise160, den er offenbar vor Ort bei den Priestern von Philae ließ und dessen Ko-
159
Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, P. 13549. Der Rest des Briefes enthält Ratschläge hinsichtlich einer Auseinandersetzung des Adressaten mit einem anderen Mann und Ausführungen dazu, dass dem Absender zu Ohren kam, ihm nicht bekannte Leute hätten versucht, ihn beim Adressaten anzuschwärzen. 160 Allerdings wissen wir nicht, in welcher Angelegenheit Harpkolluthos unterwegs war bzw. worin die Angelegenheiten von Syene bestanden.
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pie für die Priester von Elephantine hier vielleicht vorliegt161 , demonstriert: Stimme des Harpkolluthos vor Spotus, Chnumemachet und Osor[oeris], den Priestern des Haroeris: O möge Re ihre (der Adressaten) Lebenszeit lang sein lassen! Am 17. Phamenoth kam ich mit Komoapis, Sohn des Parates, Patus, Sohn des Pachois und Panuphis, Sohn des Komoapis, nach Philae in der Absicht, Ehrerbietung zu erweisen (und) mit euch zusammenzutreffen und man sagte uns: „Sie sind nach Süden ins Nubierland fortgegangen.“ Ist es euch nicht in den Sinn gekommen, dass wir uns mehr als ihr selbst um die Lage sorgen würden, in der ihr seid? Wir haben ja vor Chnum mehr Respekt als ihr! Alles Unbill, das wir auf der Reise erlitten, haben wir deswegen (auf uns) genommen, um unsere Götter heil zu erhalten.162 Wenn dich dieser Brief erreicht, kommt zu eurem Tempel zurück! Euer (Lebens)odem möge heil sein! Hört nicht auf, in der Nacht in das Abaton zu gehen! Lass nicht zu, dass mich der Gott auf (irgend)eine Weise tötet! Ich habe Nepherpres, den Propheten des Chnum, nach dem Wohlbefinden der Tempel gefragt. Es gibt keinerlei Schaden. Am Abend des 15. Tags bin ich nach Syene gelangt und habe die Angelegenheiten von Syene am 16. Tag erledigt. Ich habe nicht gesäumt zu kommen, um mit euch zusammenzutreffen, indem ich mich früh daran gemacht habe, heute nach Philae zu kommen, um mit euch zusammenzutreffen, weil es mir am Herzen lag. Doch ihr haltet uns für Feinde. Unser Herz ist heiler gegenüber dem Gott als eures. Wenn ihr diesen Brief seht, zögert nicht, zu eurem Tempel (zu kommen)! pBerlin P 15527 (demotisch, Ptolemäerzeit; ws. 187 v. Chr.)163
161
Auf dem Verso steht nur „An die Chnumpriester“, was bislang als Kurzform der Adresse und daher als auf die Haroeris-Priester zu beziehen verstanden wurde. 162 Dass dies wohl keine reine Floskel ist, sondern auch die Schiffsreisen auf dem Nil mit gewissen Gefahren verbunden waren, zeigt der Brief pBerlin P 15513, Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, P. 15513. 163 Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB I, P. 15527; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 319-320/ 22011, 318-319 (Dok. C15).
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Es ist vermutet worden, dass die Flucht der Priester nach Nubien mit den Wirren unter Ptolemaios V. zu tun haben könnte, doch scheinen auch sonst die Priester aus dem Gebiet südlich von Elephantine nicht ohne Fehl und Tadel gewesen zu sein, wie der folgende Text demonstriert. Dabei handelt es sich um eine Art Protokoll der Kommunikation eines Gottes mit einem Sterblichen, in der ersterer die Verfehlungen bestimmter Priester benennt. Zu diesen gehört u. a. der exzessive Genuss von Alkohol, wenn es galt, rituell abstinent zu bleiben, oder ungehöriger Lärm im Bereich des Abaton, dessen Regeln spezifisch in einem Dekret festgelegt sind:164 Am 21. Choiak: Es sprach zu mir das (göttliche) Kind, das in Elephantine geboren wurde, nämlich Espmetis, Sohn des Petearensnuphis, als ich mich an den Pforten von Chnum, Satis und Anukis befand und auf das wartete, was sie (die genannten Götter) wollten. „Wer angeklagt wird, den geben sie in meine Hand mit den Worten: ‚Unterziehe ihn einem peinlichen Verhör!’ Ich bin Osiris Espmetis, Sohn des Chnum. Sprich zu Petraa, Sohn des Psenpoeris: ‚Ich habe nicht deinen Namen rufen lassen, den Namen, den dir deine Mutter gab. Man wird deinen Namen Petraa rufen – Petearensnuphis (war) dein (richtiger) Name –, da ich dein Innerstes erkannt habe. Dir ist Reichtum gegeben worden, damit du deinen (wahren) Charakter enthüllst. Du hast den Gott erzürnt. Flehe und jammere nicht im Dromos des Chnum mit den Worten: ‚Ich weiß nicht, was ich getan haben soll!’ Du weißt, was du getan hast. Du hast Wein vom Magazin(?) (an) der Anlegestelle(?) getrunken, als man dem Pharao Osiris Onnophris libierte. Du hast getan, was Abscheu für Isis ist. Du hast Wein in der Nacht getrunken, als die Göttinnen in Trauer waren. Du hast zu deiner Frau gerufen: ‚Tefnut – es gibt keine Göttin, die ihr gleichkommt!’, als die Witwe (d. i. Isis) …165 trug. Du hast die Sänger singen lassen. Du hast dir die Zeit vertrieben. 164
Siehe Hermann Junker, Das Götterdekret über das Abaton, Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Classe 56,4, Wien 1913, 21-24. 165 Unklares Wort.
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Du hast Osiris-Ba (d.h. den Ba des Osiris) aus seinem Schlaf gerissen. Mit den Blemmyern166 zechend hast du den Deckel weggeworfen vom Mischwein des Neujahrs, wobei (du) sprachst: ‚O Hirt, der Abend ist über mich gekommen, während ich feiere(?). Die Zeit der mir obliegenden Libation ist vorübergegangen. [… unklarer Abschnitt …] Er (Chnum) richtete die Aufmerksamkeit Pharaos auf sie, indem sie keinen Anteil(?) haben, nachdem sie auf dich gehört haben. Er setzte die Ausländer auf sie an. Ihre Felder wurden genommen. Ihre Datteln wurden gegessen. Ihre Leute wurden getötet. Sie wussten nicht, zu wem sie klagen sollten. Er warf sie hinaus aus dem Gau, weil sie auf dich hörten. [… weitere Anklagen an eine andere Person …] Ich sagte zu Patous, Sohn des Harpaesis: „Verfasse einen Brief!“ Möge man ihn (den Brief) ihnen bringen! Es gibt keinen Grund, dass man dir Vorwürfe macht. Doch wenn du es ihnen nicht vorliest, wird man dich schuldig befinden. Tag 14, Phamenoth. Gesprochen hat zu mir das (göttliche) Kind, das in Elephantine geboren wurde, Espmetis, Sohn des Petearensnuphis: Ich bezaubere keine Verbrecher, ohne ihn zu belehren. Wer nicht bekennt, was ich sage, [der] verdoppelt seine Strafe. Ich bin Osiris Espmetis, Sohn des [Chnum]. [… weitere Anklagen an eine andere Person …] pDodgson (= pAshmolean 1932-1159; demotisch, Ptolemäerzeit)167
Dass man den Priestern offenbar einiges zutrauen durfte, dokumentiert auch die bislang einzige Orakelanfrage168, die im Konvolut identifiziert wurde: 166
Bezeichnung für unternubische Stämme. Francis Llewellyn Griffith, Papyrus Dodgson, PSBA 31, 1909, 100-109.289-291; Cary J. Martin, The Child Born in Elephantine: Papyrus Dodgson Revisited, EVO 17 (= Acta Demotica. Acts of the Fifth International Conference for Demoticists, Pisa, 4th-8th September 1993), 1994, 199-212; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 339-345/ 22011, 338-344 (Dok. C26). 168 Orakelanfragen, die man zu stellen bittet, werden aber gelegentlich in Briefen erwähnt, e.g. pBerlin P 15647+15803 (Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, P. 15647+15803), in dem ein Mann von der Isis in Philae zu erfahren wünscht, ob es sinnvoller sei, auf 167
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Matthias Müller Wenn es ein Priester ist, der das Geld im Jahr 6 genommen hat, möge mir das Schriftstück gebracht werden! pBerlin P 13584 (demotisch, Ptolemäerzeit)169
Ungeachtet welcher Zeitstufe begegnet uns also in den Texten eine lokale Priesterschaft, die versucht, ihre Partikularinteressen gegen die jeweilige Zentralverwaltung durchzusetzen, indem sie sich der Kontrolle zu entziehen versucht. Aufgrund der Textsorten und dadurch auch der Kontexte sind identitätsstiftende Aussagen kaum anzutreffen, wenn man von Äußerungen wie im Brief des Harpkolluthos hinsichtlich der eigenen Gottesfurcht absieht. Über den eigentlichen Kultvollzug berichten die Texte hingegen (meist) nicht.
Elephantine zu bleiben, als eine Reise zu unternehmen, oder pBerlin P 13562 (Zauzich, Papyri von der Insel Elephantine, DPB III, P. 13562), in welchem jemand darum bittet, das Orakel zu befragen „nach dem Heil des Tempels von Elephantine und den übrigen Dingen“ (VS 1113) respektive „nach meinem Heil, ob ich hier auf Elephantine bleiben soll (RS 18-19). 169 Ursula Kaplony-Heckel, Neue demotische Orakelanfragen, Forschungen und Berichte 14, 1972, 79-90 mit Tafel 9: 81 = KaplonyHeckel, Land und Leute am Nil I 202-214: 204; Martin, in: Porten, Elephantine Papyri, 11996, 338/ 22011, 337 (Dok. C25).
Unter den ägyptischen Priestern auf Elephantine
Abbildung 1: Karte Ägyptens
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Abbildung 2: Plan der Insel mit der gegenüberliegenden Stadt Syene/Assuan
Christl M. Maier
Identität ohne Tempel? Der Diskurs um die Zerstörung Jerusalems im Jeremiabuch
Der Begriff „Identität“ hat zwar derzeit in den Bibelwissenschaften Hochkonjunktur, bleibt aber leider oft theoretisch unterbestimmt und ist, folgt man den Ausführungen Christian Streckers zur Identität im frühen Christentum,1 vieldeutig und unscharf, so dass seine Brauchbarkeit für die Erforschung des frühen Christentums in Frage steht. Auch für den Bereich des Alten Testaments muss leider festgestellt werden, dass Studien, die „Identität“ oder „identity“ im Titel erwähnen, den Begriff oft nicht definieren. Das liegt zunächst an der Komplexität des Phänomens, wie die Definition von Identität durch Jules Gomes in seiner Studie The Sanctuary of Bethel and the Configuration of Israelite Identity zeigt: Gomes definiert „identity“ als „sociological construct by which a community defines itself or is defined by others. A complex configuration of ethnic, cultural, tribal, political, religious, economic, social, historical, literary and psychological factors together unite to forge an identity.“2 Eine gewisse Systematisierung dieser Variablen nimmt Bob Becking vor, der die Identität der Judäer und Judäerinnen von Elephantine mithilfe der Definition des kanadischen 1
Vgl. Christian Strecker, Identität im frühen Christentum? Der Identitätsdiskurs und die neutestamentliche Forschung, in: M. Öhler, ed., Religionsgemeinschaft und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identitätsbildung im Rahmen der Antike, BThS 142, NeukirchenVluyn 2013, 113-167. 2 Jules F. Gomes, The Sanctuary of Bethel and the Configuration of Israelite Identity, BZAW 368, Berlin 2006, 14.
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Christl M. Maier
Politikwissenschaftlers Charles Taylor3 zu beschreiben versucht: Identität ist demnach eine mehrdimensionale Matrix, die sich zusammensetzt aus der Haltung einer Gruppe gegenüber Zeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und Raum (sakraler/profaner Raum), sowie ihrer Selbstbeschreibung hinsichtlich Organisation, Differenzierung, Grenzen und der Konstruktion des „Anderen.4 Wenn auf diese Weise eine Art Gesamtsicht einer Gemeinschaft entwickelt wird, ist festzuhalten, dass diese ständig im Fluss ist, insofern sich die Gesamtsituation schnell durch politische und soziale Veränderungen verschieben kann. Die genannte Matrix muss deshalb eine integrative Dimension besitzen, um verschiedene Teiloder Gruppenidentitäten sowie aktuelle Herausforderungen ihrer selbst integrieren zu können. Da eine solche Gesamtsicht, insofern sie aus historischen Quellen erhoben wird, jedoch auf der Konstruktion der Interpretin bzw. des Interpreten beruht, erscheint es angemessener, von „Identitätskonzept“ statt von „Identität“ zu sprechen. Eine zweite Schwierigkeit der Bestimmung von Identitätskonzepten im Alten Israel besteht darin, dass die verschiedenen alttestamentlichen Schriften vielfältige Perspektiven auf Zeit, Raum und die Bestimmung der eigenen sowie fremder Gruppen liefern. Hinzu kommt, dass innerhalb einer Schrift häufig einander widersprechende Haltungen überliefert sind und die Verbindung der sich darin ausdrückenden Identitätskonzepte zum sozialhistorischen Hintergrund nur hypothetisch zu bestimmen ist. Dieses Nebeneinander von Identitätskonzepten, das teilweise auf diachrone Verschiebungen zurückgeführt werden kann, lässt sich am Jeremiabuch aufzeigen. In der Jeremiaforschung werden im Blick auf die Frage nach Identität die vielfältigen und konkurrierenden Dar3
Vgl. Charles Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989; ders., A Secular Age, Cambridge 2007. 4 Bob Becking, Ezra, Nehemiah, and the Construction of Early Jewish Identity, FAT 80, Tübingen 2011, 129.
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stellungen von Gruppen diskutiert, die sich als aus der Katastrophe geretteter Rest verstehen.5 Zum einen ist das die גָּלוּת י ְהוּדָ הgenannte Gruppe (Jer 24,5; 28,4; 29,22), die unter König Jojachin deportiert wurde und in der Feigenkorbvision in Jer 24 als die guten Feigen dargestellt wird (vgl. 29,16-20). Demgegenüber gelten alle Zurückgebliebenen, einschließlich des Königs Zidkija, als verdorben und dem Untergang geweiht.6 Jer 24 kommt in der Polemik gegen die Jerusalemer Bevölkerung und dem Selbstverständnis der „Guten“ dem Trägerkreis des Ezechielbuches am nächsten. Diese auch als „pro-Gola“-Perspektive bezeichnete Position wird in weiteren Texten wie z.B. Jer 16,14f. par. 23,7f. auf die gesamte babylonische Gola, also alle Gruppen der drei bekannten Deportationen von 597, 586 und 582 v. Chr. (vgl. Jer 52,28-30) ausgedehnt. Sie kommt auch in der Überarbeitung von Jer 4044 zum Ausdruck, die u.a. eine massive Unheilsankündigung an die Ägyptenflüchtlinge einfügt und das Land Juda als völlig entvölkert darstellt.7 Im Widerspruch dazu gibt es Passagen, die das Exil als Strafe Gottes (Jer 5,19; 16,11.13) und damit alle drei Golagruppen als von Gott verstoßene Judäer und Judäerinnen auffassen, mit der Konsequenz, dass die im Land Verbliebenen zu den Trägern des JHWH-Glaubens wer5
Vgl. Christopher R. Seitz, Theology in Conflict. Reactions to the Exile in the Book of Jeremiah, BZAW 176, Berlin 1998; Carolyn J. Sharp, Prophecy and Ideology in Jeremiah. Struggles for Authority in the Deutero-Jeremianic Prose, OTS, London u.a. 2003; Dalit RomShiloni, Group Identities in Jeremiah. Is It the Persian Period Conflict?, in: E. Ben Zvi / D.V. Edelman / F. Polak, edd., A Palimpsest. Rhetoric, Ideology, Stylistics, and Language Relating to Persian Israel, Piscataway 2009, 11-46; dies., Exclusive Inclusivity. Identity Conflicts Between the Exiles and the People Who Remained (6th5th Centuries BCE), LHBOTS 543, New York u.a. 2013. 6 Zur These einer golaorientierten Redaktion des Buches und Jer 24 als deren Programmtext vgl. Karl-Friedrich Pohlmann, Studien zum Jeremiabuch. Ein Beitrag zur Frage nach der Entstehung des Jeremiabuches, FRLANT 118, Göttingen 1978, 19-31 und 191-202. 7 Rom-Shiloni, Exclusive Inclusivity 237-241. Ähnlich Pohlmann, Studien zum Jeremiabuch 30f. 190f.
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den. Zu dieser Perspektive gehört, dass die Überlebenden als „Rest Judas“ bezeichnet werden, den Gott im Land belässt und dessen Bodenrechte als dauerhaft gelten, wie die Grundschicht der Ackerkauferzählung in Jer 32,6-15 betont. Diese landjudäische Position reklamiert für sich, dass Jeremia selbst nach der Zerstörung Jerusalems im Land geblieben sei (Jer 40,1-6) und andere zum Bleiben aufgefordert habe (Jer 42,7-12).8 In keiner dieser beiden Positionen spielen der Tempel oder der Wiederaufbau der Stadt explizit eine Rolle. Es geht vielmehr um die Frage, wer nach dem Untergang Jerusalems die rechtmäßigen Träger der Jeremiatradition sind. Da Identität jeweils auf eine Gruppe bezogen ist, sich im Jeremiabuch aber verschiedene Gruppen einschreiben, die konkurrierende Positionen vertreten, erscheint die Frage nach dem Identitätskonzept des Buches als unlösbar. Weil jede Gruppe beansprucht, im Sinne Jeremias zu argumentieren, ergibt sich auf synchroner Ebene ein mehrfacher Positionswechsel des Propheten, der in poetischen Texten die Hinwendung zu Gott einfordert und den Feind aus dem Norden ankündigt (v.a. in Jer 4-6), während er nach Jer 21,8-10 und 38,2 offen zur Kapitulation gegenüber den Babyloniern aufruft und diese sogar positiv charakterisieren kann. Angesichts dieser Forschungslage und des vieldimensionalen Identitätsbegriffs verzichte ich aus heuristischmethodischen Gründen auf eine eigene Definition von Identität. Stattdessen versuche ich, aufgrund der oben beschriebenen Dynamik im Jeremiabuch Indizien für die Beschreibung des Kultortes Jerusalem als identitätsbestimmendes Merkmal zu erheben und damit die räumliche Dimension des Identitätskonzepts zu erhellen. Vorausgesetzt ist, dass, wie im Alten Orient allgemein üblich, der Tempel der Hauptgottheit in der Hauptstadt ei8
Zu Jeremia als Sprachrohr der im Land Verbliebenen vgl. Sharp, Prophecy and Ideology 52-54; Rom-Shiloni, Exclusive Inclusivity 219. Seitz (Theology in Conflict 282-287) zufolge vertritt die Grundschicht des „Scribal Chronicle“ in Jer 37-43 diese pro-judäische Sicht.
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nes Gebietes konstitutiv für die Identität der Gemeinschaft ist.9 Diese Suche nach Indizien ist jedoch nur möglich, wenn man nicht bereits eine Definition voraussetzt, sondern gewissermaßen induktiv von inhaltlichen Aspekten ausgeht. Im Folgenden sollen drei thematische Perspektiven im Überblick dargestellt werden; zunächst die Charakterisierung Jerusalems als Stadt und Frau (1), dann die Beschreibung des Tempels und seiner Priesterschaft (2) und schließlich die im Buch entwickelte Heilsperspektive auf Stadt und Tempel (3). Dabei sind folgende Leitfragen relevant: 1) Worin und mit welchen Begriffen drückt sich die Bindung zum Kultort aus? 2) Lässt sich nachweisen, dass die Ortsbindung an Jerusalem zum Selbstverständnis bestimmter Autoren oder Redaktoren des Buches beiträgt? 3) Welche Bedeutung wird dem Tempel in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einzelnen Texten und, soweit erkennbar, in der Gesamtperspektive des Buches zugesprochen? Methodisch ist nur die Perspektive des Textes, bzw. diachron zu differenzierender Passagen aus dem Buch zu erschließen, nicht aber, ob eine bestimmte Aussage über den Tempel historisch zutreffend ist. Um diese Lücke ansatzweise zu füllen, soll an ausgewählten Stellen der aus anderen Quellen erhobene sozio-historische Hintergrund erhellt werden. 1.
Jerusalem als Stadt und Frau im Jeremiabuch
In meiner Untersuchung zur Tochter Zion habe ich mich an der Raumtheorie Henri Lefebvres orientiert, um die Traditionsgeschichte der weiblichen Personifikation Jerusalems in den Psalmen und prophetischen Schriften nachzuzeichnen, die Bedeutung Jerusalems als Ort hervorzu9
Vgl. Walter Mayer, Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 587 v. Chr. im Kontext der Praxis von Heiligtumszerstörungen im antiken Vorderen Orient, in: J. Hahn, ed., Zerstörungen des Jerusalemer Tempels, WUNT 147, Tübingen 2002, 1-22: 2.
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heben und zu erklären, warum dieser Ort als Frau personifiziert und als Tochter, Hure, Witwe und Mutter porträtiert wird.10 Die These des Buches ist, dass die weibliche Personifikation der Stadt, die aus der Verbindung mehrerer altorientalischer Vorstellungen entwickelt wurde, eine überzeugende Metapher anbot, um die wechselvolle Geschichte Jerusalems von ca. 850–400 v. Chr. sowohl im Blick auf die Gott-Mensch-Beziehung als auch hinsichtlich der Ortsbindung der Bewohnerschaft auszudrücken:11 In den Rollen der Tochter, Frau und Königin symbolisiert das weibliche Zion eine enge Beziehung zum Gott Israels. Als ehebrecherische Frau und Hure wird sie für ihren eigenen Untergang und die Verletzung ihres Körpers verantwortlich gemacht. Als klagende Mutter und Witwe setzt sie die Verbundenheit der Überlebenden und Exilierten zu ihrem ehemaligen Heimatort ins Bild. Die Vorstellung der Mutter wird in exilischen und nachexilischen Heilsweissagungen aufgegriffen, um die bleibende Verbundenheit Gottes und der Judäer bzw. Judäerinnen mit der Stadt zu betonen. Die Vorstellung von Jerusalem als heiligem Raum basiert auf der Idee, dass Gott sie zum Wohnort erwählt hat; der Tempel in ihrer Mitte signalisiert diese enge Bindung Gottes an die Stadt. Diese sogenannte Zionstheologie bzw. Jerusalemer Kulttradition hat vorexilische Wurzeln und ist insbesondere in den Zionspsalmen (Ps 46, 48, 76) belegt.12 Jerusalem als zentraler Kultort Judas spielte also 10
Vgl. Henri Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1974; engl. Ausgabe: The Production of Space, trans. D. Nicholson-Smith, Malden 1991. 11 Christl M. Maier, Daughter Zion, Mother Zion. Gender, Space, and the Sacred in Ancient Israel, Minneapolis 2008, 216f. Eine deutsche Kurzfassung der These ist publiziert in Christl M. Maier, Die Biographie der heiligen Stadt. Jerusalem im Wandel der alttestamentlichen Überlieferung, EvTh 70, 2010, 164-178. 12 Vgl. Bernd Janowski, Keruben und Zion. Thesen zur Entstehung der Zionstradition, in: D.R. Daniels / U. Glessmer / M. Rösel, edd., Ernten, was man sät: Festschrift für Klaus Koch, Neukirchen-Vluyn 1991, 231-254; Maier, Daughter Zion 30-49.
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für die vorexilische Bevölkerung eine wichtige Rolle. Aufgrund der inschriftlichen und archäologischen Quellen zur babylonischen Oberherrschaft in Palästina geht Oded Lipschits davon aus, dass die Babylonier Stadt und Tempel systematisch zerstörten, weil die judäische Politik auf dem Glauben gründete, die Stadt sei aufgrund des JHWH-Tempels uneinnehmbar, und deshalb immer wieder den Vasallenstatus aufzukündigen versuchte.13 Rainer Albertz verweist auf die Darstellung der national-religiösen Position im Jeremiabuch, die JHWH als Schutzgott des Tempels versteht (Jer 7,4; 28,2-4.11; vgl. 2Kön 19, 32-34). Die klagende Frage „Ist denn JHWH nicht in Zion oder ihr König nicht in ihr?“ (Jer 8,19b) spiegelt erste Zweifel am Glauben an die Uneinnehmbarkeit Zions.14 Das Jeremiabuch fokussiert die Zerstörung Jerusalems, indem es dieses Ende wortreich ankündigt, beschreibt und ausgiebig diskutiert, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte. Die Stadt ist zentraler Schauplatz der geschilderten Ereignisse. Ihre Einwohner werden mehrfach parallel zu den Männern Judas genannt (Jer 11,2; 17,20; 36,31 u.ö.), ihre Gassen parallel zu den Städten Judas (Jer 7,17; 11,6; 33,10; 44,6.17.21; vgl. 11,13). Die Stadt ist im Jeremiabuch aber nicht nur Bühne des Geschehens oder Wohnort, sondern als personifizierte, weibliche Gestalt direkte Adressatin von Schuldaufweis und Unheilsankündigung. 13
Vgl. Oded Lipschits, Judah, Jerusalem and the Temple 586–539 B.C., Transeuphratène 22, 2001, 129-142: 129f. Ähnlich Rainer Albertz, Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 587 v. Chr. Historische Einordnung und religionspolitische Bedeutung, in: J. Hahn, ed., Zerstörungen des Jerusalemer Tempels, WUNT 147, Tübingen 2002, 22-39: 35. Für die Eroberung und Zerstörung Jerusalems liegen allerdings weder babylonische Siegesberichte noch sonstige keilschriftliche Quellen vor, vgl. Mayer, Zerstörung des Jerusalemer Tempels 16. 14 So mit Karl-Friedrich Pohlmann, Religion in der Krise – Krise einer Religion, in: J. Hahn, ed., Zerstörungen des Jerusalemer Tempels, WUNT 147, Tübingen 2002, 40-60: 54f.
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Ein Beispiel für ein möglicherweise authentisches Unheilswort ist Jer 6,1-8. Der Abschnitt ist charakteristisch für den Stil der Kapitel 4-6, insofern er ein Gewirr an Stimmen bietet und dadurch den Eindruck einer dramatischen Szene, eines Gesprächs zwischen verschiedenen Personengruppen, erzeugt: 1
Bringt Euch in Sicherheit, ihr Benjaminiten, aus der Mitte Jerusalems, in Tekoa blast den Schofar und über Bet-Kerem setzt ein Zeichen, denn Unheil blickt herab von Norden und großer Zusammenbruch. 2 Die Liebliche und die Verzärtelte vernichte ich, die Tochter Zion. 3 Zu ihr werden Hirten und ihre Herden eingehen; sie schlagen rings um gegen sie Zelte auf, sie weiden jeder seinen Teil ab. 4 „Heiligt gegen sie (3. fem. sg.) den Krieg, steht auf, lasst uns hinaufsteigen am Mittag!“ „Wehe uns, dass sich der Tag geneigt hat, dass sich ausbreiten die Schatten des Abends.“ 5 „Steht auf und lasst uns hinaufsteigen in der Nacht und ihre Paläste verderben!“ 6 Denn so spricht JHWH Zebaoth: Fällt ihr Gehölz, schüttet gegen Jerusalem eine Sturmrampe auf. Sie ist die Stadt, von der feststeht: alles in ihr ist Bedrückung. 7 Wie eine Zisterne ihre Wasser frisch hält, so hält sie ihre Bosheit frisch. „Gewalttat und Unterdrückung“ hört man in ihr (rufen), Leid und Misshandlung sind mir stets vor Augen. 8 Lass dich zurechtweisen Jerusalem, damit ich mich nicht von dir losreiße, damit ich dich nicht zur Wüste mache, zu einem unbewohnten Land.
Die hier geschilderte Situation ist deutlich eine militärische Bedrohung. Der Feind rückt aus dem Norden heran, denn die Menschen sind schon aus dem nördlich von Jerusalem gelegenen benjaminitischen Gebiet in die Stadt geflohen. Auch die im Süden Jerusalems liegenden Orte Tekoa und Bet-Kerem werden vor dem Herannahen der Feinde gewarnt. Die Sprecher wechseln häufig, es sind Gott (V. 2-3, 8), der Prophet als Mittler der Unheilsworte (V. 6-7), die Angreifer (V. 4a, 5) und die in der Stadt
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Eingeschlossenen (V. 4b). Wer zu Beginn zur Flucht aufruft, ist unklar; es könnte Gott oder der Prophet sein, was inhaltlich dieselbe Konsequenz hat. Der Text verbindet kunstvoll eine räumliche Beschreibung der Stadt mit der weiblichen Personifikation des Raumes, wobei sich mehrere Vorstellungen ineinander schieben: So rufen die Erwähnung einer Sturmrampe und des „Hinaufsteigens“, wohl auf die Mauern, sowie die angstvollen Rufe der Eingeschlossenen einerseits die Vorstellung einer Stadtbelagerung auf.15 Andererseits evoziert V. 3 das Bild umherziehender Kleinviehherden, das insofern bedrohlich ist, als die Hirten ihre Zelte rings um und gegen (hebräisch )עלdie Stadt aufschlagen und so diese einkreisen. Das Abweiden von Grasland durch Hirten wird durch die Identifizierung der Weide mit der Stadt zu einem Unheilsszenario, insofern es die Vorstellung entfaltet, dass der Zugang von den Angreifern kontrolliert und die Stadt von der Versorgung durch das Umland abgeschnitten ist. Beide Szenarien verbindend ergeht in V. 8 die Drohung, Jerusalem könnte zum verwüsteten, unbewohnten Raum werden. Die Metapher der jungen Frau setzt demgegenüber die Schwäche der Stadt gegen die Mehrzahl der männlich vorgestellten Angreifer eindrücklich ins Bild. Die weibliche Personifikation schließt die Vorstellung des Stadtraums ein, insofern ihr Inneres als mit Bedrückung, Bosheit, Leid und Misshandlung angefüllt beschrieben wird. Die enge Verbindung von räumlicher und weiblicher Charakterisierung der Stadt leistet zweierlei. Zum einen führt sie zu einer Emotionalisierung der Szene und der beteiligten Personen, einschließlich Gottes, der zwischen dem Zorn über seine Tochter und seiner Zuwendung zu 15
Ikonographisch ist die Stadtbelagerung in Palastreliefs mehrerer neuassyrischer Herrscher belegt, darunter die Eroberung der Stadt Lachisch, vgl. Hugo Gressmann, Altorientalische Bilder zum Alten Testament, Berlin 21927, Abb. 138.141; James B. Pritchard, The Ancient Near East in Pictures Relating to the Old Testament, Princeton 21969, Abb. 371-374.
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ihr (vgl. V. 8) schwankt. Eigentlich sollte ein Vater seine Tochter vor jeglicher Bedrohung und sexuellen Übergriffen schützen. Dieser Realhintergrund der Vater-TochterMetapher ist vorauszusetzen, wenn das Handeln der Hirten in V. 3 mit der Wendung „ בוא אל אשׁהzu einer Frau eingehen“ umschrieben wird, die sonst den Geschlechtsverkehr eines Mannes mit einer Frau ausdrückt. Zum anderen identifiziert die weibliche Personifikation den Ort mit seinen Bewohnern und Bewohnerinnen und eröffnet so eine Möglichkeit, die Beziehung Gottes zu den von der Belagerung betroffenen Menschen darzustellen. Die Stadt als Ort von Gewalt und Unterdrückung symbolisiert gewissermaßen das Verhalten der Einwohnerschaft als böse und gewaltvoll, inkorporiert also bereits den Schuldaufweis. Diese Art der Darstellung Jerusalems findet sich in Ansätzen bereits in älteren Jesajatexten (z.B. 1,7-9; 10,32; 16,1; 37,22), jedoch ausführlich und drastischer als im Jeremiabuch bei Ezechiel (Ez 4; 16; 23). Sie bewirkt eine Identifikation von Stadt und Bewohnerschaft, die als starke Ortsbindung sowohl der Adressatenschaft als auch der Gottheit aufgefasst werden kann. JHWH wird so zum Stadtgott Jerusalems, metaphorisch als Vater der Tochter Zion und mit der Hurenmetapher als ihr Ehemann charakterisiert. Die Stadt steht gleichzeitig stellvertretend für ihre Bevölkerung. Da Gott und sein Prophet auf literarischer Ebene der Stadt gegenübertreten, sie des Fehlverhaltens bezichtigen und ihre Zerstörung ankündigen, erscheint die Identifikation von Stadt und Volk zunächst als eine Zuschreibung von außen. Sie wäre jedoch rhetorisch unwirksam, wenn sie nicht auf einer realen Ortsbindung der Bevölkerung gründete. Im Blick auf theologische Vorstellungen bildet die Personifikation Jerusalems als Tochter Zion einen Seitenstrang der Zionstheologie, die auf der Vorstellung basiert, dass Jerusalem als Gottes Wohnort ein sicherer Ort ist. Interessant ist jedoch, dass einerseits die Verbindung der Stadt mit dem Tempel in Texten, die Jerusalem personifizieren, nicht explizit thematisiert wird und andererseits
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nur wenige Texte des Jeremiabuches, die vom Tempel und seinem Kult sprechen, Jerusalem als personifizierte Gestalt in den Blick nehmen.16 So dokumentiert die Personifikation eine Ortsbindung der Bevölkerung, die nicht auf Kult und Tempel enggeführt wird. 2.
Die Kritik am Tempel und den Priestern
2.1 Unheilsworte gegen den Tempel Durch die im MT zugefügte Verortung der Tempelrede Jeremias (Jer 7) und ihrer Wiederaufnahme in der Erzählung von Kapitel 26, die den Auftakt zum zweiten Buchteil bildet, erscheint die Ankündigung der Tempelzerstörung im Jeremiabuch als zentral. Eine genauere Analyse der beiden Kapitel zeigt, dass sie erst nach dem Untergang Jerusalems überarbeitet bzw. verfasst wurden, also erklären wollen, warum sich der Glaube an Gottes Bindung an den Tempel als falsch erwiesen hat. Seit Winfried Thiels Studie zur deuteronomistischen Redaktion des Jeremiabuches wird die sog. Tempelrede in Jer 7,1-8,3 als in exilischer Zeit stark überarbeiteter Text angesehen, der in klimaktischer Darstellung gravierende Schuldaufweise und Unheilsszenarien auflistet.17 V. 1-15 zufolge warnt Jeremia davor, den Tempel als sicheren, von Gott geschützten Ort zu verstehen und den Kult als Mittel, angesichts sozialer Verfehlungen Gottes Wohlwollen zu erkaufen. Der Tempel wird als Palast JHWHs (היכל יהוה, V. 4) und als Haus, über dem JHWHs Name ausgerufen wird (בית הזה אשׁר נקרא־שׁמי עליו, V. 10), bezeichnet. Die konkrete Unheilsankündigung lautet in V. 13-15:
16
Zur Ausnahme Jer 11,15 siehe Abschnitt 2. Vgl. Christl Maier, Jeremia als Lehrer der Tora. Soziale Gebote des Deuteronomiums in Fortschreibungen des Jeremiabuches, FRLANT 196, Göttingen 2002, 48. 17
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13
Jetzt aber, weil ihr all diese Taten getan habt, [Spruch JHWHs]18, obwohl ich zu euch redete [unentwegt], ihr aber nicht auf mich hörtet, ich euch rief, ihr aber mir nicht antwortetet, 14 werde ich mit (: diesem) dem Haus, über dem mein Name ausgerufen wird und auf das ihr euch verlasst, und dem Ort, den ich euch und euren Vätern gab, so verfahren, wie ich mit Schilo verfuhr. 15 Und ich werde euch von meinem Angesicht wegschicken, wie ich [all] eure Brüder weggeschickt habe, den ganzen Samen Ephraims.
Das Ende des Ladeheiligtums in Schilo und die Exilierung des Nordreichs werden in dieser Argumentation zum Präzedenzfall für die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und die Exilierung Judas. Dieser Ankündigung zufolge kann das Unheil nicht mehr abgewendet werden, während V. 5-7 jedoch Möglichkeiten nennen, das Ende zu verhindern: 5
Ja, wenn ihr wirklich eure Wege und eure Taten bessert, wenn ihr wirklich Recht schafft zwischen einem Mann und seinem Nächsten – 6 Fremdling, Waise und Witwe bedrückt nicht und vergießt kein unschuldiges Blut an diesem Ort und lauft nicht anderen Göttern hinterher, euch zum Übel – 7 dann werde ich euch wohnen lassen an diesem Ort, in dem Land, das ich euren Vätern gab, vor langer Zeit für immer.
Diese logische Inkonsistenz zeigt einerseits, dass die Tempelrede literarisch nicht einheitlich ist. Trotz zahlreicher Versuche, die Worte Jeremias herauszufiltern, ist dies bisher nicht zufriedenstellend gelungen. Auch traditionsgeschichtlich betrachtet, verbindet Jer 7,1-15 bereits mehrere, unabhängig voneinander belegte Traditionen. Die Vorstellung, dass der Opferkult angesichts sozialer Vergehen sinnlos sei, begegnet schon in Am 5,21-25 und wird weitgehend als authentische Prophetie des Amos beurteilt.19 Die Vorstellung, dass Jerusalem wegen des Tempels vor Angriffen sicher sei, gehört, wie schon ge18
Eckige Klammern kennzeichnen masoretische Textüberschüsse, spitze Klammern Überschüsse des griechischen Textes. 19 Vgl. Hans-Walter Wolff, Joel und Amos, BK XIV/2, NeukirchenVluyn 31985, 306–309 (mit Ausnahme von V. 22aα.25).
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zeigt, zu den Grundannahmen der vorexilischen Zionstheologie. Die Definition des Tempels als Haus, über dem Gottes Name ausgerufen wird, nimmt die im Deuteronomium zentrale Vorstellung des Wohnens des Gottesnamens im Tempel auf, die v.a. im Zentralisationsgesetz Dtn 12 entfaltet wird und ihre engste Parallele in neuassyrischen Texten der Königsideologie hat.20 Der Vorwurf, Juda würde anderen Gottheiten nachlaufen, ist ein typischer Satz deuteronomistischer Theologie; er ist im Deuteronomistischen Geschichtswerk mehrfach und im Jeremiabuch siebenmal belegt.21 Die konkreten, auf unschuldiges Blut, Fremde, Waise und Witwe bezogenen Forderungen in Jer 7,5b-6a spielen auf spezifische soziale Gebote des Deuteronomiums an und erweisen sich als nachexilischer Zusatz.22 Er hat die Randgruppen der Gesellschaft im Blick und bringt das Argument ein, die Einhaltung dieser sozialen Gebote hätte die Zerstörung des Tempels verhindern können. Rhetorisch betrachtet richten sich diese Verse aber nicht an vorexilische Adressaten, sondern an die Judäer und Judäerinnen zur Zeit des Zweiten Tempels, die die Tora als Maßstab ihres Handelns anerkennen. Die Argumente gegen den Tempel werden somit im Verlauf der Textentwicklung zahlreicher und der Schwerpunkt der Argumentation verschiebt sich mehrfach. Auch die Charakterisierung des Propheten ändert sich: Er wird vom Unheilskünder zum Umkehrprediger und schließlich zum Gesetzeslehrer. Für die Frage der Identität bedeutsam ist die wiederholte Ortsangabe „dieser Ort“ ()המקום הזה, die durch die Zufügungen eine charakteristische Veränderung erfährt.
20
Vgl. Maier, Jeremia 82f. Hermann-Josef Stipp, Deuterojeremianische Konkordanz, ATSAT 63, St. Ottilien 1993, 16f., führt Jer 7,6.9; 11,10; 13,10; 16,11; 25,6; 35,15 und Dtn 6,14; 8,19; 11,28; 13,3; 28,14; Ri 2,12.19; 1Kön 11,10 auf. 22 Vgl. Maier, Jeremia 74-77. 21
7,12a 7,14a 7,20
7,11
7,10
7,6a 7,7a
7,3b
7,1-2
καὶ κατοικιῶ ὑμᾶς ἐν τῷ τόπῳ τούτῳ Vulgata: et habitabo vobiscum in loco isto καὶ αἷμα ἀθῷον μὴ ἐκχέητε ἐν τῷ τόπῳ τούτῳ καὶ κατοικιῶ ὑμᾶς ἐν τῷ τόπῳ τούτῳ … Vulgata: et habitabo vobiscum in loco isto καὶ ἤλθετε καὶ ἔστητε ἐνώπιον ἐμοῦ ἐν τῷ οἴκῳ οὗ ἐπικέκληται τὸ ὄνομά μου ἐπ᾽ αὐτῷ … μὴ σπήλαιον λῃστῶν ὁ οἶκός μου οὗ ἐπικέκληται τὸ ὄνομά μου ἐπ᾽ αὐτῷ ἐκεῖ ἐνώπιον ὑμῶν καὶ ἐγὼ ἰδοὺ ἑώρακα λέγει κύριος ὅτι πορεύθητε εἰς τὸν τόπον μου τὸν ἐν Σηλωμ … καὶ τῷ τόπῳ ᾧ ἔδωκα ὑμῖν καὶ τοῖς πατράσιν ὑμῶν ἰδοὺ ὀργὴ καὶ θυμός μου χεῖται ἐπὶ τὸν τόπον τοῦτον
ἀκούσατε λόγον κυρίου πᾶσα ἡ Ιουδαία
Jer
JerMT
[וּבָאתֶ ם ַו ֲע ַמדְ תֶּ ם ְל ָפנַי ַבּ ַבּי ִת ] ַהזֶּה … שׁ ִמי ָעלָיו ַו ֲא ַמ ְרתֶּ ם ְ שׁר נִ ְק ָרא־ ֶ ֲא [ַה ְמע ַָרת פּ ִָרצִים ָהי ָה ַה ַבּי ִת ] ַהזֶּה ְ שׁר־נִ ְק ָרא־ ֶ ֲא ֵיכם ֑ ֶ שׁ ִמי ָעלָיו ְבּעֵינ גַּם אָנֹכִי ִהנֵּה ָר ִאיתִ י נְ ֻאם־י ְהוָה׃ … שׁילוֹ ִ שׁר ְבּ ֶ כִּי לְכוּ־נָא ֶאל־ ְמקוֹ ִמי ֲא שׁר־נָתַ תִּ י ָלכֶם ְו ַל ֲאבוֹתֵ יכֶם ֶ ְו ַל ָמּקוֹם ֲא ִהנֵּה ַאפִּי ַו ֲח ָמתִ י נִתֶּ כֶת ֶאל־ ַה ָמּקוֹם ַהזֶּה
שׁפְּכוּ ַבּ ָמּקוֹם ַהזֶּה ְ ִוְדָ ם נָ ִקי אַל־תּ … שׁ ַכּנְתִּ י ֶאתְ כֶם ַבּ ָמּקוֹם ַהזֶּה ִ ְו
שׁר ָהי ָה ֶאל־י ְִר ְמי ָהוּ ֵמ ֵאת י ְהוָה לֵאמ ֹר עֲמ ֹד ֶ הַדָּ בָר ֲא ַ ְבּ שּׁם ֶאת־הַדָּ בָר ַהזֶּה ָ ָשׁעַר בֵּית י ְהוָה ְו ָק ָראת וְאָ ַמ ְרתָּ שִׁ ְמעוּ דְ בַר־יְהוָה כָּל־יְהוּדָ ה ַה ָבּ ִאים שׁתַּ חֲוֹת לַיהוָה ְ שּׁע ִָרים ָה ֵאלֶּה ְל ִה ְ ַבּ שׁ ְכּנָה ֶאתְ כֶם ַבּ ָמּקוֹם ַהזֶּה ַ ַו ֲא
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Wie die Tabelle zeigt, hat das Wort „ מקוםStätte, Ort“ in Jer 7 Leitwortcharakter. In Jer 7,3b.7 bezieht es sich auf die Stadt, in der die Adressaten wohnen; in 7,12 auf das Heiligtum in Schilo und in 7,14 wiederum auf das Gebiet Jerusalems, das hier als von Gott gewährter Besitz definiert wird; in 7,20 bezeichnet es Jerusalem und die Städte Judas, die in 7,17 genannt sind; nur in Jer 7,6 bleibt offen, ob als Ort des Blutvergießens das Stadtgebiet oder das Tempelareal gemeint ist. Zunächst bildete Jer 7 eine Rede über den Tempel als das Haus, über dem JHWHs Name ausgerufen wurde. Die Situierung der Rede Jeremias im Tempelvorhof (Jer 7,12aα) fehlt in der griechischen Fassung, ebenso wie die deiktische Partikel „dieses“ in V. 10 und V. 11. Mit anderen Worten: Dass wir heute von der Tempelrede sprechen, ist einer späten, prämasoretischen Bearbeitung zu verdanken, die Jeremias Rede im Tempeltor lokalisiert, wohl auf Grundlage der Erzählung in Jer 26. Durch diese spezifische Situierung zu Beginn der Rede verändert sich jedoch die Bezugsgröße für die Wendung „dieser Ort“ in V. 3 und V. 7. War ursprünglich wohl das Stadtgebiet Jerusalems gemeint, in dem die Adressaten wohnen bleiben können (vgl. 7,3b), so kann sich „dieser Ort“ aufgrund der nachgetragenen Einleitung auch auf das Tempelareal beziehen. Damit erhält המקום הזהeine Unschärfe, die ursprünglich nicht intendiert war. Um die Deutung auszuschließen, dass Menschen im Tempelareal wohnen, bieten Aquila und die Vulgata in beiden Versen „dann will ich mit euch wohnen an diesem Ort“, was im Hebräischen nur eine andere Lesung desselben Konsonantentexts erfordert.23 Steed Davidson deutet die Ambiguität der Verwendung von מקוםin Jer 7 als Vermeidung der direkten Aussage, Gott habe die Zerstörung seines
23
Eine Änderung von Pi‘el zu Qal im Verb und des direkten Objekts ֶאתְ כֶםzur präpositionalen Wendung ִאתְּ כֶם, vgl. den Apparat der BHS zur Stelle.
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Heiligtums selbst verfügt oder diese gar verursacht.24 Ein Argument für diese These ist, dass die Formulierung „wie ich mit Schilo verfuhr“ (V. 14) eine Zerstörung des Heiligtums nur andeutet, nicht ausdrücklich nennt. Durch die explizite Situierung der Rede im Tempeltor werden der Tempel als Schauplatz und Jeremias Wirken an diesem Ort deutlicher herausgestellt. Interessanterweise dient die an sich unspektakuläre Formulierung המקום הזהnicht nur in Kapitel 7, sondern im gesamten Jeremiabuch als eine Art Leitwort, das über die fünf Belege der Tempelrede hinaus weitere 26mal gebraucht wird.25 Dabei zeigt sich, dass die Wendung sowohl in Unheilsankündigungen (Jer 14,13; 16,2.3.9; 22,11; 24,5) als auch in Heilsankündigungen die Nennung Jerusalems (Jer 27,22; 28,4; 29,10; 32,37) oder des Tempels (28,3.6) ersetzt.26 Der Paralleltext zu Jer 7 in Jer 26 erzählt von den Ereignissen nach Jeremias Rede im Tempel, ohne wesentlich Neues zu deren Inhalt beizusteuern. In 26,4-6 wird die Rede Jeremias gegen den Tempel in Form einer bedingten Unheilsankündigung Gottes zusammengefasst: 4
Wenn ihr nicht auf mich hört, indem ihr in meiner Tora (: in meinen Ordnungen) wandelt, die ich euch vorgelegt habe, 5 indem ihr auf die Worte meiner Knechte, der Propheten hört, die ich unentwegt zu euch sende, — ihr aber hörtet nicht — 6 dann verfahre ich mit diesem Haus wie mit Schilo, und diese Stadt mache ich zum Fluchwort für alle Völker der Erde.
24
Steed V. Davidson, Ambivalence and Temple Destruction. Reading the Book of Jeremiah with Homi Bhabha, in: A.R.P. Diamond / L. Stulman, edd., Jeremiah (Dis)placed. New Directions in Writing/ Reading Jeremiah, LHBOTS 529; New York 2011, 162-171: 168f. 25 MT+ in 27,22; 28,3.4, vgl. Stipp, Konkordanz 84f. 26 Weiter verweist המקום הזהauf das Stadtgebiet (Jer 40,2), den Königspalast (22,3), das Tofet, die Opferstätte im Hinnomtal (Jer 19,4[bis].6.7.12) und den Fluchtort in Ägypten (44,29). In Jer 33,10.12 könnte die Stadt oder der Tempel gemeint sein.
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Die Erzählung zeichnet – wie die exilische Fassung der Tempelrede – Jeremia als Umkehrprediger, der hier nicht nur die Besserung von Wegen und Taten fordert, sondern die Einhaltung der Tora. Ist eine generelle Kritik des Propheten am Tempelkult weder aus Jer 7 noch aus 26 abzulesen, so zielen beide Texte auf eine Bestreitung der Zionstheologie, derzufolge der Tempel ein sicherer Ort und Garant der Uneinnehmbarkeit Jerusalems ist. Durch die Verweise auf einzelne Gebote aus dem Deuteronomium wird die Gottesbeziehung nicht mehr auf den Kult, sondern auf die Befolgung der Tora gegründet. Die vorexilische, große Bedeutung des Tempels wird für die exilischen und die nachexilischen Adressaten der Rede und der Erzählung in Jer 26 somit stark eingeschränkt. 2.2
Kritik an Opfern
Über den Tempelkult gibt Jer 7 jenseits der generalisierenden Kritik an der Verehrung Baals und weiterer fremder Gottheiten im Tempel (7,9.30) wenig preis. Die etwas detaillierter geschilderte Verehrung der Himmelskönigin auf den Straßen und Gassen Jerusalems (7,17-18) und die Molek-Opfer im Ben-Hinnomtal (7,31-32) werden zwar nicht im Tempelareal lokalisiert, jedoch in Konkurrenz zum Tempelkult charakterisiert. Soweit ich sehe wird im Jeremiabuch nur an wenigen, teilweise schwer verständlichen Stellen grundsätzliche Kritik an Opfern geübt: Was soll ich denn mit Weihrauch aus Saba und mit köstlichem Gewürzrohr aus fernem Land? Eure Brandopfer gefallen mir nicht, und eure Schlachtopfer sind mir nicht genehm. (Jer 6,20) So spricht JHWH [Zebaoth, der Gott Israels]: Euren Brandopfern fügt eure Schlachtopfer hinzu und esst Fleisch! Denn ich habe euren Vätern nichts gesagt und nichts geboten am Tag, als ich sie aus dem Land Ägypten heraufführte, bezüglich Brand- und Schlachtopfern, sondern dieses Wort habe ich ihnen geboten: „Hört auf meine Stimme, dann werde ich euch Gott sein
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und ihr werdet mir Volk sein, und wandelt auf dem gesamten Weg, den ich euch gebieten werde, damit es euch wohlergehe.“ (Jer 7,21-23) Was will die von mir Geliebte in meinem Haus? Dunkle Pläne führt sie aus! Werden Gelübde und heiliges Fleisch von dir abwenden, dass dies dein Unheil ist? Dann könntest du jubeln! (Jer 11,15)
Alle drei Stellen ironisieren die Darbringung von Opfern und weisen diese als unwirksam bzw. von JHWH verschmäht zurück, am deutlichsten Jer 6,20. Die Forderung des zur Tempelrede gehörenden Verses 7,21, das Fleisch von Brandopfern und Schlachtopfern zu essen, kann nur ironisch verstanden werden, insofern Brandopfer ganz verbrannt werden müssen (Lev 6,1-6) und Schlachtopfer nur teilweise von der Kultgemeinschaft verzehrt werden dürfen (Lev 7,11-21). Hinzu kommt, dass die Wendung „ אכל בשׂרFleisch essen“ auch im Kontext der profanen Schlachtung belegt ist (Dtn 12,15.20). Wenn Opfer unterschiedslos und wie profan geschlachtetes Fleisch konsumiert werden, verlieren sie ihren Sinn. Die Aufforderung steht der ebenfalls polemischen Aussage Hos 8,13 nahe, auch eine Vermehrung der Opfer bewirke nicht JHWHs Wohlgefallen. Eine radikale Absage an jeglichen Versuch, durch Opfer das Unheil abwenden zu können, formuliert der kryptische Vers in Jer 11,15, der die Bevölkerung als weibliche Gestalt personifiziert und damit einmalig Opferkritik und Personifikation Jerusalems verbindet. Die ironische Zuspitzung des Opferwesens in Jer 6,20; 7,21b und 11,15 geht möglicherweise auf Jeremia zurück, insofern sie mit der Opferkritik eines Amos, Hosea und Jesaja übereinstimmt.27 Die Begründung in Jer 7,22f., 27 Es wäre jedoch überzogen zu behaupten, die vorexilische Prophetie sei generell gegen Opfer und jeglichen Kult eingestellt gewesen, wie häufig bei protestantischen Kommentatoren zu lesen ist; vgl. die differenzierende Übersicht von John Barton, The Prophets and the Cult, in: J. Day, ed., Temple and Worship in Biblical Israel. Procee-
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Gott habe beim Exodus keine Opfer gefordert, verstärkt das Argument der vorexilischen Prophetie, Opfer könnten den Gotteskontakt nicht garantieren. In diesem Verweis auf eine ehemals kultlose Gottesbeziehung spiegelt sich jedoch eine nachexilische Perspektive, die der Bearbeitung der Rede zuzuweisen ist und den Opferkult als unwirksam hinsichtlich der Gottesbeziehung versteht. Diese massive Kritik am Jerusalemer Kult negiert seine Bedeutung als Identitätsmarker für Menschen, die nachexilisch noch oder wieder in Juda leben. 2.3
Kritik an den Priestern
Während die Priester in Jer 7 nicht erwähnt sind, treten sie nach Jer 26 als Gegner Jeremias auf, eine Rolle, die ihnen auch in vielen anderen Texten des Buches zugewiesen wird. Insbesondere in den poetischen Texten werden sie zusammen mit den Propheten kritisiert (5,3; 6,1318; 14,18; 23,11.33-40). Ihr Versagen als Führungspersonen wird herausgestellt, während ihr kultischer Dienst am Tempel keine Erwähnung findet. An einigen Stellen werden die Priester neben Propheten, Beamten und Königen (Jer 2,26f; 4,9; 8,1-3; 32,32) für den Untergang Jerusalems verantwortlich erklärt, meist indem sie pauschal der Idolatrie bezichtigt werden: Jer 2,26f. zufolge verehren sie Holz und Stein, gemäß 8,2 Astralgottheiten, wobei die Orte der Verehrung nicht genannt sind. Nur Jer 32,34 formuliert einen konkreteren Vorwurf, demzufolge alle führenden Gruppen und das ganze Volk im „Haus, über dem mein Name ausgerufen wird“ Götzenbilder aufgestellt hätten. Das ist eine harsche, generelle Kritik am Kult, obwohl spezielle Verfehlungen der Priester oder genauere Angaben über die fremden Kulte im Tempel fehlen. Eine, wie Lena-Sophie
dings of the Oxford Old Testament Seminar, LHBOTS 422, London u.a. 2005, 111-122.
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Tiemeyer behauptet,28 überwiegend positive Darstellung der Priesterschaft Jerusalems im Jeremiabuch ist angesichts dieser Stellen nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil, die Priester werden als korrupte und gewissenlose Führungspersonen charakterisiert, die gegen Jeremia opponieren und fremde Kulte fördern. In Gestalt des Priesters Paschhur, der nach Jer 20,1-6 den Propheten aufgrund seiner Verkündigung körperlich züchtigt und über Nacht in eine Art Foltergerät spannen lässt, wird diese Gegnerschaft augenfällig. In der Erzählung über Jeremias Auseinandersetzung mit dem Heilspropheten Hananja (Jer 27-28), die zur Zeit der Regierung Zidkijas spielt, kündigt Hananja an, dass die von Nebukadnezar geraubten Tempelgeräte – auf der Erzählebene wird auf die Ereignisse nach der Kapitulation Jojachins referiert – bald zurückgebracht würden (28,3; vgl. 27,16; 28,6).29 Die Rückgabe erbeuteter Götterstatuen und des Kultinventars ist für das neuassyrische Reich mehrfach belegt und setzte in diesen Fällen die politische Unterwerfung der jeweiligen Stadt oder Menschengruppe unter die assyrische Herrschaft voraus.30 Da von einer JHWH-Statue nirgends explizit die Rede ist, symbolisiert schon die Rückkehr der Geräte die Wiederaufnahme des Kultes. Mithin spiegelt Jer 28, dass eine Gruppe in Juda, als deren Repräsentant Hananja fungiert, am Jerusalemer Tempel als nationalem Kultort festhielt. 28
Lena-Sophie Tiemeyer, The Priests and the Temple Cult in the Book of Jeremiah, in: H.M. Barstad / R.G. Kratz, edd., Prophecy in the Book of Jeremiah, BZAW 388, Berlin u.a. 2009, 233-264: 239f.242. 29 2Kön 24,13 zufolge zerschlägt der babylonische König die Geräte nach Übergabe der Stadt durch Jojachin. Erst nach deren endgültiger Eroberung 587 v. Chr. bringt Nebukadnezar die Tempelgeräte nach Babylonien (2Kön 25,14f.). Die Zusammenschau beider Szenarien ist ein Indiz dafür, dass Jer 28 erst nach der Zerstörung Jerusalems verfasst wurde. 30 Vgl. Angelika Berlejung, Notlösungen – Altorientalische Nachrichten über den Tempelkult in Nachkriegszeiten, in: U. Hübner / E.A. Knauf, edd., Kein Land für sich allein. Studien zum Kulturkontakt in Kanaan, Israel/Palästina und Ebirnâri für Manfred Weippert zum 65. Geburtstag, OBO 186, Freiburg u.a. 2002, 196-230: 219.
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In dieselbe Richtung verweist die Notiz über die 80 Männer, die in Trauerkleidung mit vegetabilen Opfern unterwegs zum Heiligtum sind (Jer 41,5).31 Versucht man die genannten Belege diachron zu differenzieren, so begegnet bereits in Texten, die vor 586 v. Chr. datiert werden können, eine pauschale Kritik am Führungsverhalten der Priester und eine ironisierende Kritik am Opferkult, die diesen als unwirksam für die Sühnung der sozialen Vergehen darstellt. Obwohl sich Jer 7,1-15 als exilisch überarbeitet erweist und authentische Jeremiaworte nicht zweifelsfrei isoliert werden können, ist es sehr wahrscheinlich, dass Jeremia im Zusammenhang mit der Unheilsverheißung gegen Jerusalem auch das Ende des Tempels und die Exilierung der Priesterschaft thematisierte. Als Priestersohn aus dem benjaminitischen Ort Anatot (vgl. Jer 1,1) hat er sich wohl nicht mit der Jerusalemer Priesterschaft solidarisiert. Freilich stand die Kritik am Tempel und seinem Kult auch nicht im Mittelpunkt seiner Ankündigungen. Die Bedeutung des Tempels für den historischen Propheten ist also kaum verlässlich zu erhellen. Hinsichtlich Textumfang und rhetorischem Aufwand tritt sie deutlich 31
Die meisten Kommentare gehen davon aus, dass mit dem „Haus JHWHs“ (Jer 41,5) der zerstörte Jerusalemer Tempel gemeint ist; vgl. Bernhard Duhm, Das Buch Jeremia, KHC 11, Tübingen 1901, 317; Wilhelm Rudolph, Jeremia, HAT 1/12, Tübingen 31968, 252; Gunther Wanke, Jeremia, Teilband 2: Jeremia 26-52, ZBK 20/2, Zürich 2003, 366; William L. Holladay, Jeremiah 2. A Commentary on the Book of the Prophet Jeremiah Chapters 26-52, Minneapolis 1989, 297. Peter R. Ackroyd, Exile and Restoration, Philadelphia 1968, 25. Häufig wird die Notiz zusammen mit Sach 7,1-3 als Beleg für exilische Klagefeiern in Jerusalem ausgewertet, z.B. Albertz, Zerstörung des Jerusalemer Tempels 23, Anm. 2. Anders Blenkinsopp, der aufgrund der nordisraelitischen Herkunft der Männer an das Heiligtum von Bethel denkt, das in der Nähe Mizpas, des Sitzes der babylonischen Verwaltung, lag; vgl. Joseph Blenkinsopp, The Judaean Priesthood during the Neo-Babylonian and Achaemenid Periods. A Hypothetical Reconstruction, CBQ 60, 1998, 25-43: 26. Ihm folgt Ernst Axel Knauf, Wie kann ich singen im fremden Land? Die „babylonische Gefangenschaft“ Israels, BiKi 55, 2000, 132-139: 134.
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hinter die Kritik an Jerusalem als Stadt und Sitz des Königs zurück. In der exilischen Fassung der Jeremiatradition wird die Zerstörung von Stadt und Tempel dann mit dem pauschalen Vorwurf der Fremdgottverehrung und sozialer Vergehen sowie mit dem Versagen der Priester begründet. Der Kult für die Himmelskönigin und die Molek-Opfer im Hinnomtal sowie die Positionierung der Priester als Gegner der Propheten verschärfen diese Kritik. Hinzu kommt der Gedanke, das Unglück hätte verhindert werden können, wenn die Bevölkerung Jerusalems auf Jeremias Warnungen gehört hätte (Jer 7,3-4; 26,4-6). Diese Kritik kann als Selbstkritik der Überlebenden aufgefasst werden, die die faktische Zerstörung des Tempels als Infragestellung ihrer eigenen Identität verstanden, aber an ihrer Gottesbeziehung festhielten, indem sie sich selbst die Schuld gaben und das Exil als göttliche Strafe akzeptierten. 3.
Heil für Tempel, Stadt und Priester
Da Jerusalem im Jeremiabuch eine zentrale Rolle spielt, wäre zu vermuten, dass der Wiederaufbau der Stadt in den Heilsworten beschrieben wird. Diese Heilsperspektive findet sich im Ezechielbuch, das am Ende einen neuen Entwurf für Stadt und Tempel liefert (Ez 40-48). Auch das Jesajabuch überliefert in Jes 40-55 und 60-62 ausführliche Heilsworte für die als Frau personifizierte Stadt. Im Vergleich dazu treten Stadt und Tempel in den Heilsworten des Jeremiabuches auffallend zurück. Das mag zum Teil daran liegen, dass die Heilsperspektive bei Jeremia vom Umfang her insgesamt bescheiden ausfällt – trotz der vollmundigen, aber literarisch späten Ankündigungen eines neuen Bundes (31,31-34) und eines ewigen Davidbundes (31,35-37). Ein weiterer Grund könnte sein, dass die ältesten Heilsorakel, die im sog. Trostbüchlein Jer 30-31 gesammelt sind, an die Menschen gerichtet
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sind, die die Katastrophe überlebt haben und nun ohne Tempel in Juda leben.32 Zwei Abschnitte mit insgesamt acht Versen aus dem Grundbestand des Trostbüchleins adressieren eine anonyme weibliche Gestalt (30,12-17; 31,16-17), die in 30,17 mit der Tochter Zion identifiziert wird.33 Diese kündigen ihr Tröstung und Heilung sowie die Rückkehr ihrer Kinder an, nicht etwa den Wiederaufbau ihrer Mauern wie Jes 54 oder gar die Wiedererrichtung des Tempels. Intakte Tore werden nur in der nachexilischen Sabbatrede (Jer 17,19-27) und in einem Heilswort in Jer 31,38-40 erwähnt, das Jerusalems Wiederaufbau bereits voraussetzt.34 Jer 33,4-13 kündigt ein göttliches Wort „über die Häuser in dieser Stadt und über die Häuser der Könige von Juda“ (V. 4) an. Das Stichwort „Heilung“ (V. 6) und Suffixe der 3. Person feminin Singular verweisen auf die weibliche Personifikation (33,6.9). Tatsächlich aber beschreibt der Abschnitt ausführlich die Zerstörung der Häuser und deren Anfüllen mit Leichen (33,4-5) und fokussiert die vergangene wie zukünftige Situation der Einwohnerschaft,35 sodass die Stadt in den Hintergrund tritt. Diese verhaltene Heilsperspektive zeigt einmal mehr, dass der Wiederaufbau Jerusalems für die exilischen Tradenten des Jeremiabuches offenbar kein vorrangiges Ziel darstellte.
32
Vgl. Christl M. Maier, Prophetic Expectations and Aspirations in Late Babylonian and Early Persian Texts in Jeremiah, Hebrew Bible/ Ancient Israel 3 (2014), 145-165. 33 Obwohl die Aussage „ ציון היאdas ist Zion“ in 30,17b wahrscheinlich eine Glosse darstellt, entspricht das Porträt der weiblichen Adressatin der Beschreibung Zions in Unheilsankündigungen, vgl. 30,13 mit 8,22; 30,14a mit 2,25; 4,3; 22,20-22; 30,14b mit 13,22b. In Jer 31,4-5.21-22 wird die בתולת ישראלadressiert; 31,4f spricht von deren Wiederaufbau (hebr. )בנה, der als Pflanzen von Weingärten auf den Bergen Samariens charakterisiert wird. 34 Vgl. Maier, Jeremia 205-225. 35 Vgl. die pluralischen Suffixe in Jer 33,5b.6b.7-8.
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Eine sozialgeschichtliche Erklärung für diesen Textbefund liefern die neuesten Studien zu Juda in babylonischer und frühpersischer Zeit, die auf der Auswertung archäologischer Funde, Surveys und außerbiblischer Inschriften beruhen. Sie belegen einen signifikanten Rückgang der Bevölkerungszahlen in Jerusalem und seinem südlichen Umland im genannten Zeitraum.36 Allerdings blieben die Siedlungen im Gebiet Benjamins und im Rephaim-Tal südlich Jerusalems intakt,37 so dass die Erzählung von Gedaljas Statthalterschaft (Jer 40,7-41,18) in Mizpa (Tell en-Nasbe)38 als historisch plausible Überlieferung gilt. Die Vorstellung, ganz Juda sei in exilischer Zeit ein leeres, unbevölkertes Land gewesen, erscheint vor diesem Hintergrund als ideologisches Konstrukt der babylonischen Gola, die sich als rechtmäßige Erbin Judas profilieren wollte.39 Allerdings erreichte Jerusalems Bevölkerung selbst nach der Wiederbesiedlung, die aufgrund von Neh 3-6 meist in zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts datiert wird, nur ca. 12% ihres
36
Charles E. Carter, The Emergence of Yehud in the Persian Period: A Social and Demographic Study, JSOT.S 294, Sheffield 1999, 246248; Oded Lipschits, The Fall and Rise of Jerusalem: Judah under Babylonian Rule, Winona Lake 2005, 258-271; John Kessler, Reconstructing Haggai’s Jerusalem: Demographic and Sociological Considerations and the Search for an Adequate Methodological Point of Departure, in: L.L. Grabbe / R.D. Haak, edd., ‘Every City Shall be Forsaken’. Urbanism and Prophecy in Ancient Israel and the Near East, JSOT.S 330, Sheffield 2001, 137-158. Lipschits, Fall and Rise 267-271, zufolge sank die Bevölkerungszahl in Juda durch Krieg und Deportationen um 60% (von ca. 110 000 auf ca. 40 000). 37 Vgl. Oded Lipschits, Shedding New Light on the Dark Years of the „Exilic Period“. New Studies, Further Elucidation, and Some Questions Regarding the Archaeology of the Judah as an „Empty Land“, in: B.E. Kelle / F.R. Ames / J.L. Wright, edd., Interpreting Exile. Displacement and Deportation in Biblical and Modern Contexts, SBLAIL 10, Atlanta 2011, 57-90. 38 Vgl. Lipschits, Fall and Rise 372-374. 39 Zu den archäologischen Forschungen, die diese These zu stützen versuchten, vgl. Lipschits, Shedding New Light 81-84.
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vorexilischen Umfangs; erst in hellenistischer Zeit wurde Jerusalem wieder zu einer bedeutenden Stadt.40 So verwundert es kaum, dass erst in zwei spätnachexilischen Zusätzen Jerusalem als Ziel göttlichen Heilshandelns begegnet. Jer 3,17 kündigt an, die Stadt werde zukünftig „Thron JHWHs“ heißen. Dieser Name und das im Kontext erwähnte Vergessen der Bundeslade signalisieren, dass Jerusalem als Stadt für die Tradenten des Jeremiabuches die Funktion des Tempels übernimmt. Im noch später zugefügten Heilsorakel über den Davidspross Jer 33,14-17, das in der griechischen Buchfassung keine Parallele hat,41 wird die Stadt „JHWH-ist-unsere-Gerechtigkeit“ genannt. Dieser Text zitiert die ältere Ankündigung eines gerechten Königs in Jer 23,5-6,42 modifiziert sie aber auf eigentümliche Weise.43 Während in Jer 23 der neue Name dem angekündigten Herrscher gegeben 40
Vgl. Lipschits, Fall and Rise 267-271. Der gesamte Abschnitt Jer 33,14-26 fehlt in . Er passt vom Umfang her nicht zu den sonstigen prämasoretischen Zusätzen, sondern stellt eine Größe sui generis dar; vgl. Hermann-Josef Stipp, Das masoretische und alexandrinische Sondergut des Jeremiabuches. Textgeschichtlicher Rang, Eigenarten, Triebkräfte, OBO 136, Freiburg u.a. 1994, 134f. Aufgrund seines anthologischen Charakters, der Fortführung später Heilstraditionen und der angekündigten Dyarchie von davidischem König und levitischen Priestern ist er in die beginnende hellenistische Zeit zu datieren. Vgl. Holladay, Jeremiah 2 227-231; Wanke, Jeremia 2 314; Konrad Schmid, Buchgestalten des Jeremiabuches. Untersuchungen zur Redaktions- und Rezeptionsgeschichte von Jer 30-33 im Kontext des Buches, WMANT 72, Neukirchen-Vluyn 1996, 326. 42 Zur vorexilischen Herkunft von Jer 23,5-6 vgl. Raik Heckl, „Jhwh ist unsere Gerechtigkeit“ (Jer 23,5f.). Überlieferungsgeschichtliche Erwägungen zu Jer 21-24, in: R. Lux / E.-J. Waschke, edd., Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie. FS A. Meinhold, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 23, Leipzig 2006, 181-198. 43 Vgl. Schmid, Buchgestalten 56-66; Christine Karrer-Grube, Von der Rezeption zur Redaktion. Eine intertextuelle Analyse von Jeremia 33,14–26, in: C. Karrer-Grube / J. Krispenz / T. Krüger / C. Rose / A. Schellenberg, edd., Sprachen – Bilder – Klänge. Dimensionen der Theologie im Alten Testament und in seinem Umfeld. FS R. Bartelmus, AOAT 359, Münster 2009, 105-121. 41
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wird – er bildet ein Wortspiel auf den Namen Zidkija „meine Gerechtigkeit ist Jah“ – verleiht Jer 33,16 einen ähnlichen Namen der Stadt Jerusalem. In dieser späten Tradition ist eine Ortsbindung an Jerusalem zu erkennen, die den Wiederaufbau der Stadt voraussetzt. Lässt sich die fehlende Heilsperspektive für Jerusalem mit der erst Mitte des fünften Jahrhunderts erfolgten Wiederbesiedlung der Stadt erklären, so ist erstaunlich, dass der Wiederaufbau des Tempels im Jeremiabuch nicht angekündigt, sondern in einigen späten Passagen lediglich vorausgesetzt wird. Das eben erwähnte Heilsorakel enthält in Jer 33,10-11 eine kurze Notiz über den Tempel: 10
So spricht JHWH: An diesem Ort ()במקום־הזה, von dem ihr sagt: „Er ist verwüstet, ist ohne Mensch und Tier!“, in den Städten Judas und in den Gassen Jerusalems, die verwüstet sind, ohne Menschen und ohne Bewohner und ohne Tiere, 11 werden wieder Jubelrufe und Freudenschreie vernommen werden, die Stimme des Bräutigams und die Stimme der Braut, die Stimme derer, die sagen: „Dankt JHWH Zebaoth, denn JHWH ist gut, ewig währt seine Gnade!“, derer, die Dankopfer bringen in das Haus JHWHs. Denn ich wende das Geschick des Landes, es wird sein wie früher, spricht JHWH.
Die hier genannte Vorstellung vom verwüsteten Land weist diesen Abschnitt als Text der Golagruppe aus, die sich nach ihrer Rückkehr mit Hilfe des Mythos vom leeren Land als dessen rechtmäßiger Besitzer darstellen möchte. Allerdings bleibt unklar, ob sich במקום־הזהauf ganz Juda bezieht, was zur Erwähnung der Städte Judas und der Gassen Jerusalems in V. 10 passen würde, oder ob die Wendung das in V. 11 genannte Gotteshaus meint.44 Der Abschnitt kündigt eine Wiederaufnahme des normalen Lebens an, worauf die Jubelrufe anlässlich 44 Eine ähnliche Doppeldeutigkeit von במקום־הזהfindet sich in Hag 2,9; durch den Textüberschuss in , der auf den Tempel verweist, wird sie vereindeutigt; vgl. John Kessler, The Book of Haggai. Prophecy and Society in Early Persian Period, VT.S 91, Leiden 2002, 159.
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einer Hochzeit verweisen, die auf Unheilsaussagen in Jer 16,9; 25,10 anspielen. Er setzt die Existenz des Zweiten Tempels voraus, nimmt verschiedene Wendungen der Jeremiaüberlieferung auf und enthält einen Lobpreis Gottes, der enge Parallelen in nachexilischen Psalmen hat.45 Aufgrund dieser Themenmischung und der Tatsache, dass die Verse zu einer zweiten göttlichen Antwort auf Jeremias Gebet in 32,16-25 gehören, das seinerseits die Ackerkauferzählung kommentiert,46 sind sie als nachexilische Erweiterung einzuschätzen. Ein weiteres Heilswort aus dem Trostbüchlein Jer 31,1014 kündigt an, dass Gott die zerstreute Herde Israels sammeln werde, die dann auf die Höhe Zions herbeiströmen und sich an Korn, Most, Öl, jungen Schafen und Widdern – den wichtigsten Produkten palästinischer Landwirtschaft – laben werde. Der Abschnitt weist eine deutliche Zionsorientierung auf. An seinem Ende ist eine Verheißung für die Priester hinzugefügt, die deren Recht auf einen Anteil an den Opfern unterstreicht: Die Kehle der Priester will ich (MT: mit Fett laben / : groß und betrunken machen), und mein Volk soll sich an meinen Wohltaten sättigen [Spruch JHWHs]. (Jer 31,14)
Der griechische Text weist hier einen interessanten Überschuss auf: Er bezeichnet die Priester genauer als Söhne Levis. Die ähnliche Spezifizierung „levitische Priester“ findet sich innerhalb des weiteren Kontexts in zwei Heilsorakeln, die den Fortbestand dieser Priestergruppe ankündigen. Beide Verse gehören zu dem bereits genannten Abschnitt 33,14-26, der in der griechischen Fassung vollständig fehlt und somit zu den jüngsten Nachträgen im Buch zählt.47 45
Vgl. הודו את־יהוה צבאות כי־טוב יהוה כי־לעולם חסדוin Jer 33,11b mit Ps 106,1; 107,1; 118,1.29; 136,1.2.26. 46 Vgl. zu dieser Interpretation Wanke, Jeremia 2 311-313; Schmid, Buchgestalten 98-99. 47 Siehe Anm. 41.
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Den levitischen Priestern ( )ולכהנים הלויםaber wird es nie an einem Mann fehlen, der vor mir steht und alle Tage Brandopfer darbringt, Speiseopfer verbrennt und Schlachtopfer opfert. (Jer 33,18) 19
Da erging das Wort JHWHs an Jeremia: So spricht JHWH: (Nur) wenn ihr meinen Bund mit dem Tag und meinen Bund mit der Nacht brecht, so dass Tag und Nacht nicht zu ihrer Zeit eintreten, 21 kann auch mein Bund mit meinem Knecht David gebrochen werden, so dass er keinen Sohn hätte, der auf seinem Thron König wäre – und auch mit den levitischen Priestern, die mir dienen. 22 So unzählbar das Heer des Himmels und so unmessbar der Sand des Meeres ist, so zahlreich mache ich die Nachkommenschaft meines Knechtes David – und die Leviten, die mir dienen. (Jer 33,19-22) 20
Die hier zutage tretenden Vorstellungen finden sich sonst nur in Texten der späten persischen und hellenistischen Zeit. Die Doppelspitze aus Leviten und davidischem König wird noch in Sach 12,12-13 und Sir 45,15.23-26 entfaltet.48 Die levitischen Priester spielen in der Chronik und in Esra/Nehemia eine Rolle (1Chr 9,2; 2Chr 5,5; Esr 10,5; Neh 10,29.35). Von einem Bund Gottes mit den levitischen Priestern spricht sonst nur noch Maleachi (Mal 1,6-2,9; 3,1-5). Die Betonung der levitischen Abstammung der Priester zeigt, dass es hier nicht um eine Fortsetzung der vorexilischen zadokitischen Priesterschaft geht, sondern um einen ewigen Bund Gottes mit dem Stamm Levi. Mit anderen Worten: hier hat sich eine Gruppe in das Jeremiabuch punktuell eingeschrieben, um den eigenen Anspruch am längst wieder erbauten Zweiten Tempel zu legitimieren. Indem sie sich als Adressaten jeremianischer Heilsworte ausweisen, legitimieren sie ihre Identität als Gruppe, die am wieder erbauten Tempel Dienst tut. Durch die Betonung „levitisch“ grenzen sie sich von der zadokitischen Priesterschaft sowie gegen das generelle Verdikt gegen die Priester in der Jeremiatradition ab.
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Vgl. auch die Deutung der beiden Ölbäume in der Vision Sach 4 als zwei Gesalbte (4,10-14).
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Zusammenfassung und Ausblick
Dieser notwendigerweise gedrängte Einblick in die verschiedenen Traditionen des Jeremiabuches zeigt, dass es durch fortlaufende Kommentierung stark erweitert wurde. Im Blick auf die eingangs formulierten Leitfragen lässt sich das Material folgendermaßen ordnen: (1) Für das Jeremiabuch zentral ist die theologische Verarbeitung der Zerstörung Jerusalems. Mittels der weiblichen Personifizierung der Stadt wird bereits in den frühesten Texten die enge Beziehung Gottes zu diesem Ort und seiner Einwohnerschaft ausgedrückt. Im Vordergrund steht die Vater-Tochter-Metapher und eine Kritik an den sozialen und politischen Verhältnissen der Zeit. Der Tempel spielt insofern eine Rolle, als seine Existenz die Präsenz Gottes symbolisiert. Der Tempelkult galt vorexilisch als identitätsstiftend für die Bevölkerung Jerusalems und Judas, insofern sich darin das spezifische Verhältnis Gottes zu seinem Volk abbildet. Bereits in den ältesten Schichten des Buches jedoch wird der Tempelkult ebenso kritisch hinterfragt wie das Führungsverhalten der Priester, was sich somit als Infragestellung der Identität verstehen lässt. In der Gesamtperspektive des Buches erscheint die Zerstörung von Stadt und Tempel unausweichlich. (2) Die exilische Ausarbeitung der Worte über Kult und Tempel zu einer argumentierenden Rede (Jer 7) und die exilische Erzählung über die Todesdrohung gegen den Propheten nach dieser Rede (Jer 26) begründen die Absage an den Tempel mit Fremdgottverehrung inner- und außerhalb des Tempels. Auch die Auseinandersetzung um die mögliche Rückkehr der Tempelgeräte in Jer 27-28 unterstreicht die Bedeutung des Kults. (3) In der exilischen Generalabrechnung mit dem Tempel, seinem Kult und seiner Priesterschaft lässt sich jedoch auch der Versuch erkennen, die Beziehung zwischen Gott und Volk jenseits des Kultes neu zu fassen. Der Hinweis, das Hören auf Jeremias Worte würde die Zerstörung des Tempels verhindern (Jer 7,3; 26,4-6) zielt
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in diese Richtung. Die in die Tempelrede nachexilisch eingeschriebene Orientierung an der Tora (Jer 7,5-8) und am Sabbat (Jer 17,19-24) sowie die Vorstellung, Gott habe beim Exodus keine Opfer geboten (Jer 7,21-23), verstärken diese Argumentation mit Verweis auf den außerhalb des Kultes erkennbaren Gotteswillen. Ist offensichtlich, dass eine solche Neuorientierung bis zum Wiederaufbau des Tempels Ende des 6. Jahrhunderts faktisch nötig war, so erstaunt umso mehr, dass nachexilische Texte im Buch keine erneute Tempelorientierung spiegeln. Stattdessen erhält Jerusalem neue Namen, die eine Ortsbindung der Tradenten spiegeln und die Heilsbedeutung der Stadt in Abgrenzung zu Tempel und Königtum betonen. Mit seinem Entwurf des neuen Tempels, der zentraler und größer als die Stadt ist, nimmt das Ezechielbuch eine konträre Position ein. (4) Der Textbefund zur Rolle der Priester im Jeremiabuch ist hingegen erstaunlich. Die Jerusalemer Priester erscheinen in (fast) allen Schichten des Buches als Gegner Jeremias; ihr Versagen als Führungspersonal wird deutlich ausgesprochen. Dennoch hat sich in hellenistischer Zeit eine Gruppe levitischer Priester punktuell in das Buch eingeschrieben, die den wahren Propheten wieder für eine tempelorientierte Position in Anspruch nimmt, um ihre Stellung am zweiten Tempel zu legitimieren. (5) Diese verschiedenen Stimmen im Jeremiabuch lassen sich schwerlich auf einen Nenner bringen und sind daher als eine Art Diskurs um die Frage nach der Bedeutung des Tempels für die Identität der Judäerinnen und Judäer zu verstehen. Die Jeremiatradition fokussiert den Untergang von Stadt und Tempel und damit den Verlust eines identitätsstiftenden Konzepts der Gottesbeziehung, die in der Jerusalemer Kulttradition formuliert worden war. Für die erhoffte Zukunft jedoch spielen Tempel und Kult nicht die entscheidende Rolle, sondern Gottes bleibende Zuwendung zu denen, die die Katastrophe überlebt haben und die danach im Land oder im Exil leben. Die nachexilischen Bearbeiter der Jeremiatradition orientieren sich an der Tora als Identitätsmarker und als integrativen Maß-
Identität ohne Tempel?
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stab für eine lebendige Gottesbeziehung. Die Tora wird deshalb zu einem integrativen Maßstab, weil sie sowohl in der nachexilischen Provinz Jehud als auch in der Diaspora identitätsstiftend wirkt. Obwohl die durch das Befolgen der Tora bestimmte Gottesbeziehung ohne einen festen Ort und ohne Tempel auskommt, bleiben Jerusalem und der wiedererbaute Tempel für die in Jehud lebenden Judäerinnen und Judäer Bezugspunkt ihrer religiösen Tradition. Diese nachexilische Tempelorientierung aber hat sich nicht im Jeremiabuch, sondern in Ezechiel, der Deuterojesaja-Tradition und der Chronik niedergeschlagen.
Max Küchler
Reale, literarische und ikonographische Tempel der Juden, Römer und Christen in Jerusalem als Monumente behaupteter, verlorener und neu zu schaffender Identität
Der Blickwinkel „Kultort und Identität“ verlangt, die Geschichte der Stadt Jerusalem und ihres Kultortes nicht nur als sich wiederholende Abfolge von Aufbau, Zerstörung und Wiederaufbau zu beschreiben, wie dies meist in den Geschichtsbüchern der Fall ist, sondern diesen geschichtlichen Ablauf als Prozess der Zerstörung und Verdrängung von Identität, des Verlusts und der Wiederbelebung von Identität, ja auch des Kampfes um und der Schaffung, Pflege und Überhöhung von Identität zu verstehen. Identität ist eine sehr starke Kategorie der heutigen Zeit geworden, die weit über den individuellen Bereich hinaus geht und in der politischen und religiösen Welt eine äußerst wichtige Rolle spielt, wie ein Blick auf die aktuelle Weltlage deutlich macht. Um schnell zum Thema zu kommen: Die Geschichte Jerusalems spiegelt auf besonders intensive Art die Prozesse der Zerstörung, des Verlusts und der Wiedergewinnung, der Pflege und der Überhöhung von Identität(en) wider, weil die verschiedenen, sich im Lauf der Geschichte ablösenden Kulturen und Religionen nicht einfach vergangene Sachverhalte sind, an die man sich gerne oder ungerne oder gar nicht mehr erinnert, sondern weil diese – mindestens drei von ihnen: die israelitisch-jüdische, die christliche und die muslimische – noch unvermindert gegenwärtig sind. Ein globaler Blick auf den Berg der Heiligtümer von Jeru-
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Max Küchler
salem macht dies überdeutlich und weist – in Anbetracht der heutigen politischen Entwicklungen im Vorderen Orient – gleichzeitig deren Aktualität auf: Die Moschee und der Felsendom der Kalifen prangen seit über 1300 Jahren auf jener gewaltigen Esplanade, die vorher die Christen und Römer über ein halbes Jahrtausend lang als Zeugen ihrer Macht verwildern ließen, die nochmals zuvor ein Jahrtausend lang durch die Tempel der Juden und Israeliten geheiligt war, denen zuallererst der Kult der Kanaanäer von Uruschalim wesentliche Elemente vermittelt hatte. Muezzinrufe, Glockengeläut und Schofarklang bilden auch heute noch die dreifach monotheistische Melodie dieser Stadt, das Waffengeklirr der Legio Decima Fretensis geht leider als Misston in der heutigen Politik weiter, während der grundlegende Bass der polytheistischen Kanaanäer nur noch als Hintergrundrauschen vernommen werden kann … obwohl mit ihnen doch alles begann. Der folgende Durchgang durch die Geschichte des Jerusalemer Heiligtums in hellenistisch-römischer Zeit unter dem Aspekt der Identität stützt sich auf die literarischen, archäologischen, ikonographischen, epigraphischen und numismatischen Dokumente, in denen die Realitäten der Geschichte sich spiegeln und die den Besitz und Verlust von Identität und die Sehnsucht danach auf unterschiedliche Art bezeugen.1 Dabei kann 1
Dazu sei global für alle näheren Quellenangaben verwiesen auf: Max Küchler, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt, Orte und Landschaften der Bibel IV/2, Göttingen 2007; 22014. Voraus gingen: Jerusalem. Texte – Bilder – Steine. Im Namen von Mitgliedern und Freunden des Biblischen Instituts der Universität Freiburg/Schweiz herausgegeben von M. Küchler und Chr. Uehlinger zum 100. Geburtstag von Hildi+Othmar Keel-Leu, NTOA 6, Freiburg/Schweiz u.a. 1987, darin besonders: Le plus ancien guide Juif de Jérusalem/ Der älteste jüdische Jerusalem-Führer (Library of the University of Cambridge. T.-S. Fragments (arabic) 53. Dr. Hirschfeld Selection No. 2). Facsimilé et transcription, Traduction française, Commentaire (français) de J. Braslavi, Faksimile und Transkription, Deutsche Übersetzung, (Französischer) Kommentar von J. Braslavi [in Zusammenarbeit mit S.-J. Alobaidi und Y. Gold-
Reale, literarische und ikonographische Tempel in Jerusalem
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der Tempel real existierend sein, er kann aber auch – wie oft im Lauf der Jahrhunderte – abwesend und nur als schmerzhafter Verlust oder sehnsüchtig erwartete Zukunft gegenwärtig sein. 1.
Die Kanaanäer: Auslöschung und heimlicher Weitergang ihrer Identität
Mit den Kanaanäern ist jene erste, mindestens ein Jahrtausend dauernde Epoche angesprochen, die für die Geman], 37–81; Ein jüdischer Jerusalem-Führer aus der Kairoer-Geniza (UCL, T.-S. Arabic Box 53, f.2), Teil I: Der Text und sein Kontext: Bulletin der SGJF 1, 1992, 10-25; Moschee und Kalifenpaläste Jerusalems nach den Aphrodito-Papyri: ZDPV 107, 1991, 120-143; Die „Probatische“ und Betesda mit den fünf stoai (Joh 5,2); in: A. Kessler/ Th. Ricklin / G. Wurst, edd., Peregrina Curiositas. Eine Reise durch den Orbis Antiquus zu Ehren von Dirk Van Damme, NTOA 27, Freiburg/Schweiz u.a. 1994, 127-154; Der zweite und die dritten Tempel von Jerusalem. Oder: Heiligste Institutionen im Zentrum und am Rand, in: M. Küchler / P. Reinl, edd., Randfiguren in der Mitte, Luzern u.a. 2003, 205-222; Meine Augen haben ihr Heil gesehen (fast Lk 2,30). Das Mariengrab im Kedrontal als Ausdruck des christlichen Paradoxes vom Glauben aus dem Sehen des Abwesenden, in: D. Böhler / I. Himbaza / Ph. Hugo, edd., L’Ecrit et l’Esprit, FS A. Schenker, OBO 214, Freiburg/Schweiz u.a. 2005, 160-182; Die hellenistischrömischen Felsgräber im Kedrontal. Priesterlich-aristokratische Grabpracht im Angesicht des Zweiten Tempels, in: M. Küchler / K. M. Schmidt, edd., Texte – Fakten – Artefakte. Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung, NTOA 58, Freiburg/Schweiz u.a. 2006, 103-141; Heil ergehen in Jerusalem, in: J. Pichler / Chr. Heil, edd., Heilungen und Wunder. Theologische, historische und medizinische Zugänge, FS P. Trummer, Darmstadt 2007, 162-187; „Niemand verändert deinen heiligen Ort …“. Zum antik-jüdischen Hintergrund der ersten Stanza von Ode Salomo 4, in: P. Allen / M. Franzmann / R. Strelan, edd., „I Sowed Fruits into Hearts“ (Odes Sol. 17:13), FS M. Lattke, Early Christian Studies 12, Strathfield, Australien 2007, 107-115; Amphorenstempel in Jerusalem. Ein übersehener Bildträger im Palästina der hellenistischen Zeit, in: S. Bickel / S. Schroer / Chr. Uehlinger, edd., Bilder als Quellen – Images as Sources. Studies on Ancient Near Eastern Artefacts and the Bible Inspired by the Work of Othmar Keel, OBO-Sonderband, Freiburg/Schweiz u.a. 2007, 329-348.
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schichte Jerusalems grundkonstitutiv ist und damit eigentlich einen unaufhebbaren Teil der kulturellen und religiösen Identität dieser Stadt darstellt. 1.1
Die Auslöschung der Identität der Kanaanäer
Die Kultur und Religion der Kanaanäer von Uruschalim wurde jedoch in der Tradition Israels trotz und vielleicht gerade wegen ihrer starken Anziehungskraft so vollständig wie möglich auszulöschen versucht. Der Fluch Noachs in Gen 9,25–27 über „Cham, den Vater Kanaans“ bringt dies deutlich zum Ausdruck: „Verflucht sei Kanaan, der Sklave der Sklaven sei er seinen Brüdern! Gepriesen sei JHWH, der Gott Sems, und Kanaan sei sein Sklave! Weiten Raum gebe Gott Japhet, er wohne in den Zelten Sems, und Kanaan sei sein Sklave!“
Die Vernichtung der Identität der Kanaanäer ist in diesem Fluchspruch als tiefste Versklavung ausgesprochen, wie der Ausdruck „Knecht der Knechte“ (ʿeved ʿavadim) in Vers 25 besagt, da die Identität des Sklaven ja nur in seinem Bezug zum Herrn besteht, der über sein Leben und seinen Tod entscheiden kann. Doch die historische Wirklichkeit war gnädiger als dieser Fluchspruch von hoher theologischer Warte. 1.2
Die versteckte Präsenz und der heimliche Weitergang der kanaanäischen Kultur
Ich möchte dies an einem archäologischen, ikonographischen, architektonischen und institutionellen Sachverhalt kurz aufweisen: Das kanaanäische Uruschalim hat Israel einerseits eine mächtige und fast uneinnehmbare Stadtanlage hinterlassen, wie die bekannten Rekonstruktionen der Ausgrabungen von Ronny Reich und Eli Shukron zeigen, andererseits und darüber hinaus
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haben die Kanaanäer aber auch ganz wesentliche kulturelle, religiöse und institutionelle Impulse an Israel vermittelt. In diesem Sinn lebten die Kanaanäer in Israel inkognito – eben in der Form des „Dienstes“, d.h. einer Sklavenidentität – weiter. Es brauchte schon die moderne Exegese und Archäologie, um die Kanaanäer wieder aus dem Fluch der Auslöschung hervorzuholen und ihnen ein Stück ihrer Identität zurückzuerstatten, auch wenn dies nur noch im nachträglichen Aufweis geschehen kann, dass die kanaanäische Kultur einen wesentlichen Bestandteil der israelitischen kulturellen Identität darstellte. 1.2.1 Die archäologisch erhobene städtebauliche Größe der Kanaanäer Wenn man heute die so genannte „Davidsstadt“ auf dem Südosthügel, südlich des Haram besucht, findet man eigentlich gar nichts von David und Salomo. Auf der Suche nach den Ursprüngen der Stadt steigt man vielmehr durch den Warren-Tunnel unter den beiden alten Stadtmauern, der kanaanäischen und der israelitischen, den Ostabhang des Südosthügels hinab, bis man – am senkrecht abfallenden, erst eisenzeitlichen WarrenSchacht vorbei – zum riesigen Wasserbecken und zur Gichon-Quelle kommt, die mit Türmen aus sozusagen zyklopischen Steinblöcken auf das massivste geschützt sind. Man steht dann in einem Festungs- und Wasserwerk der kanaanäischen Bewohner und Herrscher über Uruschalim. Wer solche Befestigungswerke bauen konnte, besaß nicht nur großes technisches Know-how und die entsprechenden finanziellen Mittel, er brachte damit auch zum Ausdruck, dass die Stadt reich und mächtig war und begehrlichen Angriffen von außen zu widerstehen hatte. Die Kanaanäer haben dieses große Werk getan, David hat es – sicher gewaltsam – übernommen und zu einem Teil seiner „Davidsstadt“ gemacht.2 Die Ausgrabungen lassen 2
Selbst wer Eilat Mazar's gewagter Annahme, den Palast Davids entdeckt zu haben, zustimmt, kann in der archäologischen Wirklich-
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die einstige städtebaulichen Leistung der militärisch zwar bezwungenen Kanaanäer aus dem Dunkel heraustreten und ihre einstige Macht erkennen. 1.2.2 Die ikonographisch erwiesene Kultur der Kanaanäer Othmar Keel hat in seiner „Geschichte Jerusalems“ vor allem anhand der Kleinfunde und deren Ikonographie unübersehbar deutlich gemacht, dass es eine religiöse Kultur der Kanaanäer in Uruschalim gab, lange bevor die Israeliten da waren.3 Diese religiöse Welt bezeugen jetzt auch die über 100 Siegel, die neuerdings in den Ausgrabungen südlich des Haram, auf dem Ofel und in der Davidsstadt (durch Ronny Reich, Eli Shukron und Eilat Mazar) gefunden wurden und im nächsten Band des Korpus der Stempelsiegel von O. Keel erstmals publiziert werden. Diese Welt war nach dem Zeugnis der Siegel sowohl vom vorderasiatischen Kult des Wettergottes wie vom ägyptischen Kult des Sonnengottes bestimmt. Die dominante weibliche Gottheit war die Muttergöttin Cheba, die der Aschirat von Ugarit entspricht. Schalim war als Gott der Abenddämmerung innerhalb des kanaanäischen Pantheons eine lokale Option, die sich in der Namengebung Uru-Schalim(um), „Gründung Schalims“ spiegelt. El selbst, der Vater von Schalim, spielte offensichtlich in Uruschalim keine zentrale Rolle, wurde aber
keit (unter dem Gitterboden des Eingangsareals zum DavidsstadtRundgang) nur einen kümmerlichen und keineswegs evidenten archäologischen Steinbefund vorfinden. – Das Ruinenfeld am Ostabhang und der durchaus erstaunliche, geschwungene Hiskija-Tunnel im Untergrund des Südosthügels sind zwar durchaus als Leistungen der spätisraelitischen Zeit zu beachten, sie gehören aber nicht zum Ursprung sondern zum späteren Ausbau der Stadt. 3 Othmar Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus, Orte und Landschaften der Bibel IV/1, Göttingen 2007. Eine sehr kondensierte Kurzfassung dazu ist unter dem Titel: Jerusalem und der eine Gott, Göttingen 2011, veröffentlicht worden.
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zusammen mit Zedek und Schamasch mit dem dominanten Sonnenkult verbunden.4 1.2.3 Der architektonische Einfluss der Kanaanäer auf den Tempel O. Keel hat damit auch den Sachverhalt stark machen können, dass der im kanaanäischen Tempel von Uruschalim zelebrierte Sonnenkult den mobilen JHWH-Kult der israelitischen Dorf- und Stammeskultur wesentlich umgeprägt hat. Die Ausrichtung des Tempels nach Osten, die auch bei den beiden Nachfolgebauten des Serubbabel und des Herodes beibehalten wurde, ist doch wirklich auffällig, da der Zugang der Menschen nur von den anderen Himmelsrichtungen her möglich war. Offensichtlich war bei der Planung des Tempels ein kultisches Element mitbestimmend, das mit dem Aufgang der Sonne im Osten verbunden war. Dies lässt sich auch im so genannten „Tempelweihspruch“ (1Kön 8,12f || 3 Reg 8,53a) entdecken: „Der SONNE im Himmel hat JHWH zur Kenntnis gegeben: ‚Um im Dunkeln zu hausen, baue er (SALOMO) mein Haus, ein erhabenes Haus für SICH, um zu hausen in Neuheit!’“
Danach hat also Schemesch/ἥλιος, die Sonne(ngottheit), im Himmel ihren Platz, JHWH jedoch haust im geheimnisvollen Dunkel (des Heiligtums) und Salomo prangt in seinem neuen Palast. In diesem exegetisch zugegeben sehr schwierigen Spruch JHWH’s wird jedenfalls ausgesagt, dass neben dem neuen Palast des Salomo ein Tempel stand, der dem Kult des verborgenen Gottes Israels galt, der aber insgesamt nach der Sonne im Himmel ausgerichtet war.
4
Auf vielen Seiten nachzulesen: ebd. I, §§ 125-142. 331-343.
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1.2.4 Die kanaanäische Prägung der administrativen und militärischen Institutionen Jerusalems Aus der aufmerksamen Lektüre der David- und Salomotexte ergibt sich deutlich, dass die administrativen und militärischen Institutionen der kanaanäischen Stadtkultur die spontanen, zivilen und militärischen Entscheidungsorgane der Israeliten fast vollständig überformt, wenn nicht eigentlich ersetzt haben. Dies kann hier nicht in der exegetischen Detailanalyse aufgewiesen werden. Insgesamt möchte ich mit O. Keel festhalten: „David nahm zwar als Judäer vor rund 3000 Jahren in Jerusalem Residenz. Die Erben seiner Macht aber waren nicht seine judäischen Landsleute, sondern Salomo“, dessen Mutter ja die Kanaanäerin Batseba war und „dessen wichtigste Parteigänger alteingesessene Jerusalemer Stadtbewohner waren, also Mitglieder jener Volksgruppe, die die alttestamentliche Überlieferung … später unter dem Namen Kanaanäer als Kontrastgruppe und Negativfolie zum wahren Israel hinstellt“.5 – Es war deshalb anachronistisch, im Jahr 2000 das 3000-jährige Bestehen Jerusalems zu feiern. Damit wurden, einmal mehr, die mindestens 1000 Jahre der Kultur der Kanaanäer unsichtbar gemacht, anstatt sie als fundamentalen Sockel der darauf sich türmenden Kulturen der Israeliten, Juden, Christen und Muslime zu würdigen. Die Kanaanäer sind die unterste Lage jener „vertikalen Ökumene“, die Jerusalem in seiner Identitäts- und Baugeschichte darstellt … und es ist stets gefährlich, die Basis zu vergessen, zu leugnen oder gar zu verfluchen, um die eigene Identität zu wahren und zu stärken. 2.
SALOMOS TEMPEL – Der „Archetyp“ als Symbol israelitisch-jüdischer Identität
Die Eroberungskriege verhinderten es nach der Bibel, dass David mit seinen blutbefleckten Händen einen Tem5
Ebenda I, § 222.
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pel für den Gott Israels bauen konnte. Er rüstete deshalb nur alles her und sein von einer kanaanäischen Mutter stammender Sohn Salomo baute dann jenen Tempel, der den Archetyp – wie Herodes sagen wird – aller weiteren realen, idealen und versuchten Tempelbauten darstellt. Es ist hier nicht der Ort, diesen eher bescheidenen Langhaustempel zu beschreiben. Es sei, dem Thema gemäß, nur auf zwei Sachverhalte hingewiesen, in denen einerseits die Verdrängung identitätsfremder Elemente und andererseits die Stärkung und Verfestigung der eigenen religiösen Identität sichtbar sind. 2.1
Die Verdrängung der kanaanäischen Identitätsmerkmale
Schon ein schneller Blick in die biblischen Tempelbeschreibungen macht die kanaanäischen Elemente im israelitischen Tempel und Kult deutlich erkennbar. Dies dokumentiert nicht nur die Ostung, dies zeigt sich auch in der Ausstattung des Tempels. Da zur Zeit Salomos noch kein Bilderverbot bestand, war die reiche ornamentale Ausgestaltung des Tempels mit floralen und tierischen Motiven und das Vorhandensein von allerlei Kultgeräten eine Selbstverständlichkeit. Der Tempel spiegelte danach nicht nur die Heftigkeit und Ausschließlichkeit JHWHs wider, sondern auch die Heiterkeit des die Welt beherrschenden, Gerechtigkeit und Recht schaffenden Sonnengottes und die Vitalität der kanaanäischen Fruchtbarkeitskulte. Wahrscheinlich gehörten deshalb die in den Baunotizen der Königs- und Chronikbücher genannten Kultgegenstände wie die weibliche Aschera, die eherne Schlange, die Pferde und der Sonnenwagen zur ursprünglichen religiösen Ausstattung des interreligiös dimensionierten Tempels Salomos. Dieser ermöglichte von seiner Ausstattung her so viele unterschiedliche Verehrungsformen, dass es jeweils davon abhing, wie stark der Gott Israels mit anderen Elementen in Verbindung gesehen werden durfte, ohne dass dessen Identität und Ausschließlichkeit gefährdet erschien. Es zeigt sich hier das
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seltsame Spiel der Gratwanderung von Übernahme und Ablehnung, auf welcher sich eine entsprechende Identität bildet, behauptet und bewährt. Die biblischen, so genannten deuteronomistischen und chronistischen Autoren haben diese kultischen Gerätschaften grundsätzlich verworfen. Nach ihnen wurden sie von gottlosen Königen wie Manasse (2Kön 21,4-7; 23,12) eingeführt, während die frommen Könige wie Hiskija (2Kön 18,4) oder Joschija (2Kön 22f) durch Reinigungsaktionen den Tempel jeweils wieder zu jener reinen JHWH-Verehrung zurückführten, die sich im 8. und 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung schließlich durchsetzte. Im purifizierten JHWH-Tempel sollte und konnte man den kanaanäischen Urgrund schließlich nicht mehr erkennen. Aber es brauchte immerhin Jahrhunderte, bis die Verdrängung der kanaanäischen Elemente im Tempelbereich vollbracht war. Aus der heutigen Sicht und angesichts heutiger kulturzerstörerischer Eiferer – man denke stellvertretend an die Bücherverbrennungen aller Jahrhunderte, an die von den Taliban 2001 zerstörten Buddha-Statuen im afghanischen Bamiyan und die wütenden Museumszerstörungen durch den selbsternannten ‚Islamischen Staat’ – ist dies ein radikales Verdrängungsgeschehen, das die kanaanäisch inspirierten, bildlich-ornamentalen Elemente nicht mehr dulden konnte, weil sie die klare Identität des Tempels als des ausschließlichen Kultortes für JHWH zu verdunkeln drohten. 2.2
Die Verstärkungen der israelitischen Identitätsmerkmale
In den biblischen Geschichtswerken zeigt sich bei der Beschreibung der beiden zentralen Bauten der Stadt, dem Tempel und dem Palast, ein Prozess der stets anwachsende Wichtigkeit des Tempels. 2.2.1 Die architektonische Priorisierung des Tempels Der salomonische Tempel war nach seiner Ausdehnung und Bauzeit gemäß den ältesten Beschreibungen in 1Kön
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6 und 7 kaum mehr als die königliche Palastkapelle. Die Baudaten der biblischen Texte zeigen folgendes Bild: Tempel: Palast:
30x10x15 m (L/B/H) 100x50x30 m
Bauzeit: 7 Jahre Bauzeit: 13 Jahre
Der Palast hatte also im Vergleich zum Tempel ursprünglich mehr als die dreifache Länge, die fünffache Breite, die doppelte Höhe und beanspruchte eine fast doppelt lange Bauzeit. Der Palast war somit das dominante Bauwerk auf der Anhöhe der erweiterten Davidsstadt – was die meisten Darstellungen der Stadtanlage graphisch nicht umsetzen. In der nach-exilischen Geschichtsschreibung hingegen ist der israelitische Königspalast nur noch in schwachen Konturen zu erkennen, während der Tempel sich als eigenständige Größe in voller Pracht entfaltet. Dies entsprach natürlich der neuen historischen und kulturellen Konstellation im nach-exilischen Jerusalem. Während unter der Herrschaft der israelitischen Könige der Palast als politischer Entscheidungsort im Zentrum des Stadtgefüges stand und in seinem Schatten ein nur halb so großes Heiligtum bestand, wurde der Tempel unter der alleinigen Herrschaft der Hohepriester, also in der ersten nach-exilischen Zeit, als es kein Königtum in Israel mehr gab, in seiner Bedeutung als einziger religiöser und politischer Entscheidungsort mächtig, ja übermächtig. Einen Königspalast konnte es in dieser Stadt natürlich überhaupt nicht mehr geben. Der Tempel als alleinige Größe war die adäquate Darstellung der Identität eines königslosen Priesterstaates. 2.2.2 Die theologisch-prophetische Überhöhung von Tempel und Stadt Zu seiner eigentlichen theologischen Größe kam der salomonische Tempel paradoxerweise erst durch seine Zerstörung. In den enthusiastischen, aus Distanz zur realen, 587/586 v. Chr. samt ihrem Heiligtum zerstörten Stadt gesprochenen Reden des Deuterojesaja (Jes 40-55) wird Jerusalem zum ersten Mal als ʿir ha-qodesch, „Stadt des
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Heiligtums“, „Stadt der Heiligkeit“, oder „heilige Stadt“ angesprochen. Das Heiligtum beginnt also, den Namen der Stadt zu überprägen und der Stadt selbst den Charakter der Heiligkeit zu geben. Diese Erhöhung der schon in den Psalmen hoch besungenen Stadt in den Bereich der Heiligkeit findet sich in der weiteren jüdischen Literatur und Ikonographie: bei Nehemia (11,1.18), der damit die Rückkehrer zur Niederlassung in Jerusalem bewegen will, in der apokalyptischen Literatur (Dan 9,24: 70Wochen-Vision), auch in den Qumrantexten (ʿir ha-miqdasch) und im Evangelium des Matthäus (4,5; 27,53). Die Münzen der beiden jüdischen Aufstände gegen Rom (66-70 und 132-135) werden diesen Ausdruck wieder als Propagandaslogan tragen und er wird als Bestandteil der muslimisch-arabischen Namengebung al-Quds und in der Pilgersprache bis heute von Juden, Christen und Muslimen gebraucht. Eine ganz andere Art, die Abwesenheit des Tempels zu kompensieren und damit die Identität der Stadt und des Volkes auch in der Not der Zerstörung zu sichern, ist der so genannte Tempel-Entwurf des Ezechiel (Ez 40-48), der von einem quadratischen Tempelbezirk (Ez 40,16-20) mit je drei Toren auf jeder Seite und einem zentralen Tempel träumt (Ez 48,31-34). In diesen Tempel wird in der Zukunft der kabod Adonai, der ja den Tempel und Jerusalem gegen Osten verlassen hat, wieder einziehen und endgültig zum Zentrum seines geläuterten Volkes werden.6 Die Vertiefung in die Sphäre der Heiligkeit wie auch die Erhöhung in die absolute Zukunft sind zwei Weisen, die mit dem Tempel aufs innigste verbundene Identität des auserwählten Volkes auch in einer Gegenwart zu schützen und zu festigen, in welcher der Fixpunkt dieser Iden6
Der Mischnatraktat Middot wird im 2./3. Jh. n. Chr., also nach der zweiten Zerstörung des Tempels und der Stadt, diese Maßangaben und zum Teil die Tore wieder aufnehmen und damit – vermischt mit anderen, realeren Sachen – auch das Wunschdenken vom vollkommenen Tempel der Zukunft.
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tität, der Tempel, nur noch in der Erinnerung der Alten und in den Projektionen der Jungen existierte. Es ist wichtig, sich immer wieder bewusst zu werden, aus welcher Not der Zerstörung diese Prädikationen geboren wurden. Sie sind sozusagen Proklamationen der hohen Würde der Stadt im Zustand ihrer tiefsten Erniedrigung und sollten nicht im Sinne einer ideologia gloriae verwendet werden! 3.
Serubbabels Tempel – Das beweinenswerte Nachbild des Archetyps
Der Bau des Zweiten Tempels war ein langwieriges Unternehmen. Aus den Büchern Esra und Nehemia und aus den prophetischen Texten von Haggai, Sacharja und Maleachi ist zu entnehmen, welch weiter Weg von der großartigen Vision Ezechiels zu einem real existierenden Tempel(chen) zu gehen war. Es bedurfte des prophetischen Feuers der drei ‚kleinen Propheten’, um das Volk und die Verantwortlichen aus der Lethargie des Verlusts herauszuholen. Diese drei Partisanen der Erneuerung Jerusalems forderten nicht nur vehement den Wiederaufbau des Tempels als religiöses Zentrum, ihr Idealbild war ein Jerusalem, das von JHWH wie von einer „feurigen Mauer“ (Sach 2,9) umgeben ist. Diese feurige Schutzmauer ist eine starke Metapher für jene neue Identität der Nachexilszeit, die durch Abschottung von allen fremden Einflüssen zu schaffen war. Entsprechend wurden identitätsbildende Maßnahmen getroffen: Die Reinigung der Gemeinde durch den Ausschluss der ‚Unheiligen’, die Entlassung der fremden Frauen und Kinder und die „Vernichtung der Feinde“, besonders aber die Versammlung des Volkes um den neu eingesetzten und gekrönten Hohepriester und den Wiederaufbau des salomonischen Tempels. Dazu wurde nach dem babylonischen Exil (538 v. Chr.) als erstes der Brandopferaltar „auf seinen alten Fundamenten“ (Esr 3,3; hebr.), oder „an seiner früheren Stätte“
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(LXX) wieder errichtet. So konnte der (seit Achaz) theologisch so notwendige Opfergottesdienst am alten, von Gott einst bestimmten heiligen Ort sofort wieder vollzogen werden. „Aber der Tempel JHWHs war noch nicht fundamentiert (jussad)“. 3.1 Ein beweintes Nachbild des salomonischen Tempels Erst Jahre später „legten die Bauleute die Fundamente (jissedu) des Tempels JHWHs“ (Esr 3,10a). Bei dieser Grundsteinlegung für das Tempelhaus geschah etwas Eigenartiges, das in unserem Kontext bezeichnend ist. Der feierlichen Zeremonie der „Festlegung der Fundamente“ unterlag trotz all der jubelnden Anwesenheit der Geistlichkeit und des „ganzen Volkes“ eine Trauermelodie. In Esr 3,10b-13 ist dies treffend beschrieben: „Die Priester standen, in Byssus gekleidet, mit den Trompeten da, die Leviten, die Söhne Asaphs, aber mit Cymbeln, um JHWH nach der Anordnung Davids, des Königs von Israel, Lob zu singen. Sie stimmten JHWH ein Lob- und Danklied an: ‚Denn er ist gut, denn ewig währet seine Gnade über Israel’ (also Ps 100 oder 136). Das ganze Volk erhob ein lautes Jubelrufen beim Lobgesang auf JHWH wegen der Fundamentierung (husad) des Hauses JHWHs.“
Bis dahin ist alles Jubel und Trubel beim Klerus und beim Volk. Doch dann folgt in V. 12 die erstaunliche Beschreibung eines besonders aufmerksamen Beobachters: „Viele alte Leute von den Priestern, Leviten und Familienhäuptern, die mit ihren Augen den ersten Tempel mit seinen Fundamenten (hechal ha-rischon bi-sodo) gesehen hatten, – weinten laut auf.“
Dieses „laute Weinen“ der Alten, das sich mit dem „lauten Jubelrufen“ der anderen vermischte und deshalb von
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den „Leuten“ nicht wahrgenommen wurde (Esr 3,13), wird offensichtlich durch die Diskrepanz der neuen Tempelanlage zum salomonischen Tempel der vorexilischen Zeit hervorgerufen. Der Vergleich, den diese Alten noch machen konnten, weil sie den salomonischen Tempel vor dem Exil noch selbst gesehen hatten, brachte sie zum Weinen. Die Realität, in der sie lebten, blieb für sie so weit hinter dem gesehenen Tempel zurück, dass ihnen das Klatschen und Jubeln verging und nur noch die Trauergeste des Weines blieb. Mit diesem offensichtlich beweinenswerten Nachbild mussten die Juden der achämenidischen und hellenistischen Zeit nicht nur Palästinas, sondern auch der Diaspora leben. Aber sie machten wiederum ihr Bestes daraus: 3.2
Ein überhöhter märchenhafter und einzigartiger Ort des Heils
Kontrapunktisch zur mageren Wirklichkeit geschieht in der frühjüdischen Literatur eine architektonischmärchenhafte Ausgestaltung des Tempels: Der Palästiner Eupolemos beschreibt um 160 v. Chr. den Tempel Salomos als architektonisches Wunder, das von einem 20 m höheren Kettenwerk und von einem mit 400 ehernen Schellen versehenen Netz überragt wurde, wodurch jegliche Verschmutzung durch die Vögel verhindert werden sollte. Aus ägyptischer Distanz beschreibt in der 2. Hälfte des 2. Jh. v. Chr. Pseudo-Hekataios (I.) den Tempel als „ziemlich genau in der Mitte der Stadt liegendes“, großes, von einer Mauer umgebenes Gebäude mit einem Altar aus rohen Findlingen und vielen Leuchtern (Fragment 1), während der Aristeas-Brief (um 120 v. Chr.) versucht, Jerusalems Schönheit, die Würde des Tempels und die Großartigkeit des jüdischen Kultes vor einem hellenistischen Publikum darzustellen, indem er einen von drei Ringmauern umschlossenen Tempel auf der Spitze des die Stadt Jerusalem tragenden Bergs beschreibt, der mit wunderbaren Wasserinstallationen stets rein gehalten werden konnte (Arist 83-99).
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Wie schon in der Exilszeit geschieht aber vor allem ein gewaltiger Ausbau des theologischen Gehaltes des Tempelberges und des Tempelhauses. Der Ort wird mit zahlreichen ihm ursprünglich fremden Inhalten geradezu überschüttet. Ich zähle nur fünf Traditionen auf, die in der außerkanonischen Literatur des hellenistisch-römischen Judentums auftauchen und später in der rabbinischen Literatur vielfach variiert vorliegen: – Der Tempelberg wird zum Berg, dessen heiliger Fels den Schlussstein der Schöpfung, den ʾeven schetijah, bildet, der also den Ausbruch des Chaos verhindert und die Weltordnung garantiert. Ein Fels hatte bis dahin für die Wahl des Tempelplatzes nirgends eine Rolle gespielt, stets war es einfach der die Stadt dominierende höchste Punkt. Jetzt bewahrt der Tempel die Welt vor dem Chaos. – Der Tempel über dem Schlussstein der Schöpfung wurde dadurch zum „Nabel der Welt“ (erstmals: Jubiläenbuch 8,12), um den sich in immer weiteren Ringen die andere Weltwirklichkeit legt. Diese topographische Zentralität bezeichnet den Tempel als jenes Zentrum der Welt, an dem sich das Schicksal der gesamten Menschengeschichte entscheiden wird: „Wie der Nabel in der Mitte des Mannes, so ist das Land Israel in der Mitte der Welt ... und so ist auch Jerusalem in der Mitte des Landes Israel und das Heiligtum in der Mitte Jerusalems, der Tempel in der Mitte des Heiligtums, die Lade in der Mitte des Tempels und der Schetijah-Stein vor der Lade, denn von ihm aus wurde die Welt gegründet.“7
– Der Tempelberg zieht Paradiestraditionen an sich, so dass von ihm aus einst die Ströme des Paradieses flossen und in der Endzeit wieder fließen werden. – Der Tempelberg wird zum Berg, auf dem Noach nach der Sintflut sein das Wohlwollen Gottes mit der Welt bewirkendes, „lieblich duftendes“ Opfer (Gen 8,21) dar7
Midrasch Tanchuma Buber, Qedoschim 10.
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brachte. Der Bund Gottes mit der ganzen Erde, den Menschen und der Natur wurde also an diesem Ort geschlossen, was ihm eine durchaus universale Heilsdimension verleiht. – Der Tempelberg wird zum höchst bedeutsamen Berg Moria, wo Abraham zum Beweis seines Gehorsams und stellvertretend für alle Söhne Abrahams seinen Sohn zu opfern bereit war und damit dem Berg die Würde der Bereitschaft zum höchsten Hingabeopfer verlieh. 3.3
Die reale Konkurrenz von zwei weiteren jüdischen Tempeln und von neuen, großartigeren Entwürfen
Die historische Wirklichkeit des judäischen Judentums in nach-exilischer Zeit war jedoch so anders, dass man verstehen kann, weshalb Jerusalem und sein Tempel auf literarische Art mit all diesen architektonischen und theologischen Ornamenten ausgestattet wurde. Die Einzigartigkeit des Tempels von Jerusalem wurde zudem in dieser Zeit auf eine ganz neue, nämlich innerjüdische Art, grundsätzlich in Frage, ja auf die Zerreißprobe gestellt. Es gab im antiken Judentum dieser Zeit zwei weitere jüdische Tempel, die beide unter der Leitung eines Hohepriesters aus der einzig legitimen zadokidischen Linie standen: Einen auf dem Garizim der Samaritaner und einen im ägyptischen Leontopolis unter den Nachfolgern der Oniaden. Dass zwischen diesen drei Heiligtümern nur feindliche Beziehungen herrschen konnten, ist verstehbar, da jedes das andere grundsätzlich in seiner Legitimation in Frage stellte und somit das eine für das andere zum Identitätsproblem wurde. So wie die Samaritaner versuchten, den (nachexilischen) Tempelbau der Judäer zu hintertreiben, so benutzten die Judäer ihrerseits die erste Gelegenheit, um den Garizim-Tempel (107 v. Chr.) zu zerstören … den Rest besorgten die Römer in der zweiten Hälfte des 1. Jh. n. Chr., indem sie zuerst Jerusalem (70 n. Chr.), dann Leontopolis (71 n. Chr.) zerstörten. Die jeweilige Zerstörung – sowohl durch die Juden wie durch
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die Römer – zeigt deutlich, dass darin die Vernichtung der religiösen Identität des anderen vollzogen wurde. Der kleine Jerusalemer Tempel drohte aber noch von einer weiteren Konkurrenz überrollt zu werden. Während in den kontestatären essenischen Kreisen der real existierende Tempel – wohl wegen der Kalenderfrage – nur bestreikt wurde, wie Josephus festhält, wurden in den sadduzäischen und prophetischen Kreisen Jerusalems ganz neue Projekte vom Tempel und vom neuen Jerusalem entworfen, in welchen die Erbärmlichkeit der Gegenwart mit dem Rekurs in die Vergangenheit oder mit dem Ausblick in die Zukunft großartig übertroffen wurde. Ich übergehe die vielen hymnischen Texte, die den Zion auf überhöhte Weise zeichnen, und erwähne nur die zwei prominentesten Tempeltexte unter den Funden in Qumran: Die Tempelrolle von Qumran (1Q 19 und 20), die wohl zu Beginn des 2. Jh. v. Chr. aufgrund älterer Teiltraditionen entstand, versteht sich als göttliche „Weisung“ (torah) zur Erschaffung eines neuen Tempels, der als grandiose Retrojektion eines heiligen Tempelbereiches für das gesamte Zwölfstämmevolk nach der Landnahme beschrieben wird.8 Legt man das Retrojekt auf die damalige, hasmonäische Stadtanlage, so reicht der Tempelbereich vom Ölberg bis an die westliche Stadtmauer. Die Tempelrolle machte damit den ganzen Stadtbereich zur heiligen und reinen „Kultstadt“ unter strikter priesterlicher Kontrolle. Sie diente der zadokidischen Elite in Jerusalem in vormakkabäischer Zeit sozusagen als Vorlage für einen nach ihrer Chronologie notwendigen Neubau des salomonischen Tempels. Ich sehe in diesem Text, der nur in zwei Exemplaren bezeugt ist, einen elitären Versuch, den zukünftigen (also dritten) Tempel in der Anfangszeit der 12 Stämme zu verankern 8
Nach Johann Maier, Die „Tempelrolle“ vom Toten Meer und das „Neue Jerusalem“. 11Q 19 und 11Q 20; 1Q 32, 2Q 24, 4Q 554-555, 5Q 15 und 11Q 18. Übersetzung und Erläuterung. Mit Grundrissen der Tempelhofanlage und Skizzen zur Stadtplanung, UTB 829, München 3 1997, 63f.
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und so dem geplagten Volk vor der makkabäischen Befreiung in einer neuen, die realen Bedingungen der Hügelstadt Jerusalem überspielenden Neuschöpfung ein ganzheitliches, identitätsstiftendes Heiligtum vor Augen zu stellen. Dieses war ganz von priesterlichen Vorstellungen geprägt und wollte eine überragende kultische Identität und Einzigartigkeit Jerusalems schaffen. Eine andere Perspektive zeigen die Fragmente des Qumrantextes mit dem (modernen) Namen Das Neue Jerusalem (1Q 32; 2Q 24; 4Q 454-455; 5Q 15; 11Q 18). Da wird in einer eschatologischen Utopie – nahe verwandt mit der Tempelvision bei Ezechiel – die übergroße Jerusalem-Stadt mit einem dezentralen Tempel von einem Deute-Engel beschrieben. Der fragmentarische Zustand lässt keine großen Spekulationen zu, aber mindestens eines ist klar und festzuhalten: Auch da wird dem gegenwärtigen, beweinenswerten Tempel ein neuer entgegengesetzt, der den Entwurf des Ezechiel größenmäßig bei weitem übersteigt (aber hinter der Tempelrolle zurückbleibt) und mit der Betonung der „Herrlichkeit“ und der Angabe von Baumaterialien wie Lapislazuli, gediegenem Gold und Ebenholz schon an „die heilige Stadt, das neue Jerusalem“ in Offb 21f erinnert. 3.4
Der Tempel in der numismatischen Propaganda der Hasmonäer
Es ist ein erstaunliches numismatisches Phänomen, dass die hasmonäischen Herrscher sich auf ihren Münzen fast ausschließlich mit den Symbolen der Macht der damaligen Seleukiden darstellten: Jehonatan/Alexander Jannai, der größte unter den Hasmonäern, prägte den Stern und das Diadem auf seine unzähligen Münztypen9. Auch wenn er es – gut jüdisch – vermied, sein Porträt anzubringen, und sich auf der einen Seite selbst nur in paläohebräischen Lettern zwischen den Strahlen mit dem 9 David Hendin, Guide to Biblical Coins, New York 52010, 199f, Nr. 1150-1153.
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hebräischen Namen und seinem Titel Jehonatan hamelek propagierte, so übernahm und dokumentierte er mit diesen Motiven doch offensichtlich die genau gleiche Herrscherideologie wie die eben heftig bekämpften Seleukiden, die sich mit dem Stern über ihrem Kopf und dem Diadem um ihren Kopf darstellen ließen. Sein griechischer Name Alexandros auf der anderen Seite bekräftigt diese Charakterisierung. Nur beim letzten hasmonäischen König Mattitja/Antigonus tauchen zwei typisch jüdische Motive auf, die zudem mit dem Tempel zutiefst verbunden waren: Die Menora und der Schaubrottisch.10 Bedenkt man, dass zur gleichen Zeit (40-37 v. Chr.) Herodes der Große daran ist, sein von den Römern zugesprochenes Königtum militärisch durchzusetzen, kann man nicht anders als im Gebrauch dieser tempelorientierten Symbolik einen Versuch sehen, die national-religiösen Kräfte zu mobilisieren, um gegen Herodes stark zu sein und gleichzeitig die hasmonäische Königs- und Hohepriesterdynastie zu sichern. Ich sehe darin ein Bestreben, die identitätsstiftende Kraft des Tempels in den Dienst der Propaganda zu stellen, um nationale Kräfte gegen die Bedrohung von außen zu mobilisieren. Es war jedoch nicht mehr die gute Zeit für ein solches Unternehmen: Die ersten Hasmonäer schufen einst ihr Reich in der historischen Nische, die in Palästina wegen der Beschäftigung der Seleukiden mit den Römern entstand, und konnten so ihre religiöse Identität mit der Neueinweihung des Tempels und ihre nationale Identität mit der Eroberung der Akra in recht kurzer Zeit realisieren. Zur Zeit des Mattitja sind die Römer jedoch daran, in langsamen Zügen ihr Schachspiel der Macht in Palästina zu vollenden und mittels der herodischen KlientelDynastie in Palästina dominant zu werden. Anhand der Tempelsymbolik dagegen anzugehen, war ein völlig hoffnungsloser und unrealistischer Versuch, die religiöse Identität und historische Wichtigkeit zu bewahren. Herodes der Große hat zu dieser Zeit den Helm (oder die 10
Ebd. 216, Nr. 1168.
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Dioskuren-Mütze), die Siegespalmetten und den Stern auf seine Siegermünzen der Jahre 40 oder 37 v. Chr. gesetzt und damit gezeigt, welche Stunde geschlagen hatte. Von diesem Zeitpunkt an waren die Hohepriesterwürde und der Tempelbetrieb völlig unter der Kontrolle des großen Freundes der Römer. 4.
Der Tempel Herodes des Großen – Der bestaunte Archetypus redivivus
Die sich anbahnende Dominanz Roms in Palästina war ein wesentlicher Grund, weshalb ein neuer Tempel weder durch die priesterlichen Kreise noch durch die prophetisch-apokalyptischen Utopisten in Angriff genommen werden konnte. Herodes der Große hatte allein die Macht und die Mittel und auch ein Interesse, in einem irdischen Bauwerk etwas von den großartigen Dimensionen der Utopisten zu realisieren und so den verschiedensten Kreisen der Juden ein neues Objekt ihrer national-religiösen Identität zu geben … ohne auch – sonst wäre er nicht Herodes der Große – seine eigene Größe zur vergessen. 4.1 Das schönste, bestaunte Bauwerk der Welt Diese Tempelanlage muss auf die damaligen Menschen einen großartigen Eindruck gemacht und als erstes den Ausdruck des Staunens ausgelöst haben. Schon die Jünger Jesu, diese Pilger aus der Provinz, staunten über die „gewaltigen Steine“ des Tempels (Mk 13,2 parr). Josephus spricht immer wieder von einem Bau, der jede Erwartung oder Vorstellung übertraf. In Bell 5,222-224 schildert er ihn im feurigen Glanz seiner Goldplatten, der den „nach Jerusalem kommenden Fremden“ blendet „wie eine schneebedeckte Bergkuppe“ und mit seinen Steinblöcken von 20x2,5x6 m zutiefst beeindruckte. Josephus machte es wie jeder gute Cicerone heute, der die Besucher auf den Ölberg führt und dort überraschend – denn auch er wählt den richtigen Einfall des Sonnenlichts –
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dem staunenden Publikum die ganze Pracht des Haram ausbreitet. Lassen wir Josephus die rhetorischen Übertreibungen, er schreibt ja bezeichnenderweise zu einer Zeit, als diese Pracht schon über 30 Jahre der völligen Zerstörung im Jahre 70 anheimgefallen war. Das Paradies beschreibt man eben stets nur in seiner verlorenen Schönheit! Das Staunen geht auch in der rabbinischen Literatur weiter, die Herodes nicht speziell liebt. Mehrfach findet sich die Aussage: „Wer den Bau des Herodes nicht gesehen hat, hat nie ein prachtvolles Gebäude gesehen“ (z.B. bSukka 51a). Da der Herodesbau tatsächlich eine der schönsten Tempelanlagen der damaligen Zeit war, war Staunen die adäquate, erwartete, ja geforderte Haltung, nicht mehr die des Weinens über den verlorenen Archetypen wie zu Zeiten Esras. Nur einer hat bei diesem Anblick offenbar trotzdem geweint. Nach Lk 19,41-44 war diese Pracht für Jesus nur ein schönes Stück des baldigen Untergangs der Stadt, und er weinte am Ölberg im Angesicht des Tempels und der Stadt. In diesem Propheten hatte die Ausrichtung auf das Eschaton das Staunen an der gegenwärtigen religiösen Pracht längst zerbrochen. Der Tempel stellte für Jesus kein zentrales Identitätsmerkmal mehr dar. Wie die Johannesoffenbarung in ihren starken Bildern überdeutlich machen wird, kommt im Eschaton das alle Schönheit übertreffende himmlische Jerusalem aus Glas und Kristallen ohne Tempel aus. Die unmittelbare Gottespräsenz wird dann den Tempel als Gebäude der Vermittlung (über die Priester) zu Gott hin unnötig machen. Doch da sind wir schon voll in der christlichen Zeit, wo in einer christologischen Weiterführung der jesuanischen Perspektive nicht mehr ein Tempel, sondern eine Person die identitätsstiftende Größe darstellen wird. 4.2
Die Rückbindung an den Archetypen – und dessen Übertreffung
Kehren wir zu Herodes und zur für uns wichtigeren Frage zurück, wie der neue Bauherr mit fraglicher jüdischer
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Herkunft die delikate Situation, die ein von ihm gebauter neuer Tempelbau schaffen musste, in den Griff bekam. Flavius Josephus, dem ich eine gut getroffene Schilderung der herodischen Absichten zutraue, erzählt in den Antiquitates Iudaicae 15,380 (vgl. Bell 1,401) Folgendes: „Im 18. Jahr seiner Regierung (= 20/19 v. Chr.) nahm Herodes … noch ein schwieriges Werk in Angriff. Er ging nämlich daran, den Tempel GOTTES in weit größerem Umfang und viel höher zu errichten; denn er glaubte, dieses Werk müsse herrlicher sein als alles, was er bisher zustande gebracht hatte, und er würde SICH dadurch ein dauerndes Andenken sichern“.
Die Komparative „größer“, „höher“ besagen die Überbietung der Dimensionen des voraus gehenden „Tempels Gottes“, während das „herrlicher“ die Überbietung der Pracht aller sonstigen herodischen Bauten ausdrückt. Die Pracht hat die obige Schilderung des Josephus schon ins Mythologische erhöht, für die Ausweitung der Dimensionen bis zu einer monumentalen Plattform von 141 500 m2 musste Herodes das Berg- und Talgelände der Hügelstadt fast gewalttätig seiner Megalomanie unterwerfen. Herodes begründete nach Josephus diese Monumentalität, indem er auf die vorausgehenden Phasen zurückgreift, von denen für das Volk offensichtlich nur der Bau Salomos identitätsstiftenden Wert hatte. In einer Rede an das Volk habe Herodes nämlich angegeben, dass die Heimkehrer aus dem babylonischen Exil „nicht die Gelegenheit hatten, den ersten Archetypen ihrer Gottesfurcht“, d.h. den salomonischen Tempel, „wieder bis zur ursprünglichen Höhe aufzuführen“ (Ant 15,386). Das erinnert an jene „alten Leute“, die bei der Grundsteinlegung des Zweiten Tempels in Erinnerung an Salomos Prachtbau geweint haben. Herodes wollte deshalb keineswegs den beweinten nachexilischen Tempel Serubbabels etwas aufpolieren. Sein Ziel war es, dem „ersten Archetypen“ gleichzukommen, weshalb die großartige Einweihungszeremonie (9/8 v. Chr.) mit dem Ausdruck: „Neu-Gründung“ (ἀνάκτισις) versehen wurde. In diesem Sinn hat er dem jüdischen Volk wieder jenen Bau zurückgebracht, an
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dem ein wesentliches Stück jüdischer Identität hing und dessen Neuerrichtung – endlich – ohne Tränen gefeiert werden konnte. 4.3
Ein Bau unter Wahrung der jüdischen Identität …
Ein solcher Rückgriff in die ideale Zeit ungefährdeter Identität durch Herodes weckte jedoch bei den jüdischen Zeitgenossen bezeichnende Ängste. Es wurde befürchtet, dass bei den Bauarbeiten der heiligste Ort der Gottesgegenwart durch Betreten und Beschauen profaniert würde. Diese Angst entkräftete Herodes, indem er 1000 Priester als „Baumeister und Bauhandwerker“ ausbilden ließ (Ant 15,390) und ihnen den Bau des eigentlichen Tempelhauses übertrug. Herodes selbst besorgte „nur den Aufbau der Säulenhallen und der äußeren Einfriedungen“ (Ant 15,420). Und um die Geheimnishaftigkeit und Heiligkeit des Ortes der Gottesgegenwart zu garantieren, wurde dieser – so erzählt die Mischna Edujot 8,6 – während der Bauarbeiten mit speziellen Vorkehrungen abgegrenzt: „R. Eliezer sagte: Ich habe gehört, dass man beim Bau des Tempels (hechal) Vorhänge für den Tempel und Vorhänge für die Vorhöfe (ʿazarot) machte. Und man baute [die Umfassungsmauern] des Tempels außerhalb [der Vorhänge], die Vorhöfe aber innerhalb [der Vorhänge].“
Beide Maßnahmen machten deutlich, dass Herodes keineswegs eine Usurpation der Hohenpriesterwürde anstrebte. Er und die Juden wussten ja sehr gut, dass die Kumulation von Königs- und Priesterwürde auf die gleiche Person, wie dies in der Geschichte des antiken Judentums nur in der Dynastie der Hasmonäer zustande kam, zu unvermeidlichen und tödlichen Auseinandersetzungen führte. Dies alles hätte nicht nur die identitätsstiftende Funktion des Tempels zerstört, sie hätte den neuen Bau auch den kult- und priesterorientierten Kreisen wie den Sadduzäern und Essenern unannehmbar gemacht, deren
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utopischen Entwürfen (Ezechiel, Tempelrolle, Neues Jerusalem) ein großartiger Neubau ja sehr entsprach. 4.4
… und ein Stadtzentrum zum dauernden Andenken des Herodes
Herodes war aber schlau genug, mit dem Tempelbau auch eigenen Zwecken zu dienen. Er stellte den Tempelbau als einen „Akt der Frömmigkeit“ dar, „durch welchen er Gott das ihm geschenkte Königtum vergelten könne“ (Ant 15,387) und verband mit der Neu-Gründung des Tempels den Jahrestag seines Regierungsantrittes. Und zudem verwirklichte er mit dem Tempel, der allen jüdischen Erfordernissen nachkam, – ohne dies zu verkünden – sein neues, modernes Konzept eines hellenistisch inspirierten Stadtzentrums. Das zeigte erst die architektonische Verwirklichung: Eine riesige Plattform, mit Plätzen, öffentlichen Gebäuden – und auch einem Tempel! Der herodische Tempel ist meines Erachtens ein Paradebeispiel, wie Tradition und Innovation so miteinander verbunden werden konnten, dass zwar eine neue Stadt und ein neuer Tempel entstanden, die Neuheit aber gerade dem erwünschten und erinnerten Archetypen des Tempels so entsprach, dass der alte Traum der Juden von Salomos Tempel erfüllt wurde und in Jerusalem endlich wieder das identitätsstiftende, weil Kontinuität schaffende alte Heiligtum stand. Gleichzeitig hatte sich der Hellenist und Römer Herodes mitten im Gehügel Jerusalems eine großzügige Stadtanlage hellenistisch-römischer Prägung, nämlich seine jüdische Königsstadt, erbaut. Den Königspalast allerdings, den hatte er wohlweislich am sicheren, dem Meer zugewandten Westrand der Stadt angesiedelt! 5.
Die Zerstörung von Tempel und Stadt durch die Römer als Auslöschung der jüdischen Identität
Wir wissen, dass nur wenige Jahre nach Abschluss der Bauarbeiten die Zerstörung über Stadt und Tempel her-
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einbrach. Ob die Zerstörung des Tempels nun in der Absicht des römischen Feldherrn Titus lag oder nicht (es gibt beide Traditionen), der Tempel samt den Vorhöfen und den Hallen wurde jedenfalls am 10. Ab (Juli/ Aug.) des Jahres 70 n. Chr. von der römischen Armee eingeäschert (Bell 6,281ff). Seitdem gibt es in Jerusalem keinen jüdischen Tempel mehr. Die Judaea CaptaMünzen verkündeten dieses Ereignis in Gold, Silber und Bronze im ganzen damaligen Imperium der Römer, auf Griechisch und Latein und oft mit der vielfach variierten Darstellung der trauernden Dame Judaea.11 Nach dem 2. Jüdischen Krieg wurde zudem, wie ebenfalls die Münzen zeigen, die alte Stadt dem Erdboden gleichgemacht und umgepflügt, um alle Erinnerungen zu begraben; zudem wurde das Gelände neu vermessen, um die Colonia Aelia Capitolina nach den römischen Prinzipien des Städtebaus zu gestalten.12 Die klare Absicht der Römer bestand in der totalen Auslöschung der Bauten, der Erinnerungen und damit der jüdischen Identität. In der römischen Perspektive war für die weitere Weltzeit kein Jerusalem mehr vorgesehen. Jupiter im Tempel Hadrians war an die Stelle des jüdischen Gottes getreten, der – wie ja auch Flavius Josephus denkt – die Rolle der Weltherrschaft an die Römer abgegeben hat. Das Forum, das im nordwestlichen Winkel der beiden Hauptstraßen lag, ersetzte den Tempelplatz als neues Stadtzentrum. Dieser blieb eine riesige, verwüstete Fläche und stellte so der Welt gleichermaßen den Sieg der Römer und die Auslöschung der Juden zur Schau. Die städtebauliche Unsinnigkeit, kostbarsten Bauplatz mit riesigen Zisternen an hervorragender Stelle Jahrhunderte lang dem Verfall anheim zu geben, war eine Konsequenz der römischen Machtdemonstration. Eusebius von Cäsarea (um 320) beschreibt dies triumphierend wie folgt:
11
Ebd. 419-456, Nr. 1446-1602. Jaʿakov Meshorer, The Coinage of Aelia Capitolina, Jerusalem 1989, 70-73, Nr. 1f. 10f. 18f. 12
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„Die Römer bearbeiten ihn (den Tempelplatz) wie den Rest der Gegend und wir haben ihn selbst gepflügt und besät gesehen ... Die Bewohner der Stadt beziehen Materialien von ihm für ihre privaten, gemeinsamen und öffentlichen Bauten. So bietet sich den Augen das betrübliche Schauspiel, dass aus dem Tempel – sogar aus dessen einst unbetretbaren und heiligen Teilen – Steine bezogen werden für Götzenheiligtümer und zur Ausrüstung von öffentlichen Schauplätzen“ (Demonstratio Evangelica 8,3).
Man schaffte also mit den Trümmern des jüdischen Tempelhauses, ja selbst des Allerheiligsten, neue Identitätsbauten: Tempel und öffentliche Gebäude. Drastischer könnte man die Zerstörung von Identität zugunsten der neuen, nun rein römischen Kultur nicht vollziehen. 6.
Die Schaffung der christlichen Identität auf Kosten der jüdischen
Der von den Römern begonnene Prozess der Auslöschung der jüdischen Identität ging nahtlos in die christliche Phase über. Die Verwahrlosung des ehemals heiligsten Ortes der Welt war ein wichtiger Punkt auch in der christlichen Jerusalem-Theologie und dann natürlich auch der sich entwickelnden christlichen Pilgerpraxis. 6.1 Die Bewahrheitung der jesuanischen Prophetie Die neuen großartigen Heiligtümer der Christen, im Westen die Auferstehungs-Basilika und auf dem Ölberg die Eleona-Basilika, waren die neuen Orte des Heils, die so angelegt waren, dass man von ihnen auf die Verwüstung des jüdischen Tempelplatzes blicken konnte. Nach Kyrill von Jerusalem stellte der zum Acker verkommene und als Steinlieferant ausgebeutete Tempelplatz einen weiteren anschaulichen Beweis dar, dass die Juden die Stunde ihrer Heimsuchung nicht erkannt hätten und ihr Tempel zur Strafe zerstört worden sei:
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„Jesaja, der vor fast 1000 Jahren lebte, schaute den Sion gleich einem Zelt. Noch stand damals die Stadt, mit Plätzen geschmückt und mit Würde bekleidet. Gleichwohl sagt er: ‚Sion wird wie ein Acker gepflügt werden’ (= Micha 3,12 = Jer 26,18). Was sich jetzt, in unserer Zeit, erfüllt hat, hatte er vorausgesagt. Achte auf die Genauigkeit der Aussage: ‚Verlassen wird die Tochter Sions sein wie eine Hütte im Weinberge und wie eine Laube im Gurkenfeld’ (= Jes 1,8). Und wirklich ist jetzt die Stätte voller Gurken!“ (Katechesen 16,18).
Kyrill von Jerusalem hat in seinen Katechesen seinen Zuhörern jeweils an Ort und Stelle aufgezeigt, dass die christlichen Heiligtümer nicht nur an der Stelle, sondern anstelle der einstigen jüdischen Heiligtümer und Paläste standen. Man ging als christlicher Jerusalempilger nicht auf den Platz des ehemaligen Tempels – das taten nach dem Pilger von Bordeaux nur die Juden einmal im Jahr, um am erbärmlichen lapis pertusus zu trauern –, als Christ ging man auf den Ölberg, um von dort aus die Bewahrheitung der jesuanischen Prophetie zu sehen: „Kein Stein wird auf dem anderen bleiben“! Dies ist nicht nur eine Verdrängung der religiösen jüdischen Wirklichkeit, dies ist vielmehr eine von der heiligen Schrift beglaubigte, damit gottgewollte definitive Reduktion des Tempels zum Ackerland, wobei gerade das Definitive dieses Zustandes den eigentlich theologischen Wert ausmachte und den Pilgern die Gewissheit verschaffte, dass das Heil nun für immer auf die Christen hinübergegangen ist. 6.2
Die Übernahme der jüdischen Tempeltraditionen zur Schaffung der christlichen Identität
Die Christen Jerusalems lebten zwar durchaus in einem Erinnerungskontinuum, das sie mit den Juden und der Bibel Israels verband. Mit der jüdischen Bibel in der Hand wandelten sie Aelia Capitolina wieder in ein biblisch konnotiertes Jerusalem zurück und versahen die militärische, römische Topographie auch mit alttestamentlichen Namen und Traditionen. Jerusalem bekam
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aber insgesamt ein christlich weiterentwickeltes städtisches Gesicht, das von neutestamentlichen Namen und Traditionen geprägt war. In der aus einigen prophetischen Texten des Alten Testaments gespeisten, heilsgeschichtlichen Geschichtsinterpretationen der Christen wird ersichtlich, dass die wichtigsten Inhalte der israelitischjüdischen Tempelinterpretation in überhöhter – biblisch gesprochen: erfüllter – Weise auf das zentrale christliche Heiligtum, die Anastasis und Golgota, übertragen wurde. Diese Übertragung sei an vier theologischen Aussagen in aller Kürze verdeutlicht: Die Vorstellung von Jerusalem als Mitte oder Nabel der Welt wird in die Auferstehungskirche verlegt, wo er heute in der griechisch-orthodoxen Mittelkirche steht. Die Christen haben dazu Ps 74,12 (= 73,12Vulg) zu Hilfe genommen, wo es heißt, dass „Gott … inmitten der Welt (be-qêrêv ha-ʿareṣ / in medio terrae) Heil bewirkt hat“, was für Christen nur Golgota und das Grab Jesu bezeichnen kann. – Die Wiedergutmachung der Schuld Adams kommt dadurch zum Ausdruck, dass unter der Stelle auf dem Golgotafelsen, wo das Kreuz stand, die Adamskapelle eingerichtet wurde. Dass das Blut Jesu, des neuen Adam, über den Schädel des ersten Adam floss, ist die narrative, imaginative und pilgertechnisch gelungene Darstellung des hohen theologischen Gedankens von der Rettung der ganzen, in Adam dem Tod verfallenen Menschheit durch Jesu Tod am Kreuz. – Das Sohnesopfer, das Abraham auf dem Berg Moria, also auf dem Tempelberg, zu vollbringen bereit war, hat in Jesus am gekreuzigten Sohn Gottes seine absolute Erfüllung und Universalisierung erfahren. – Schließlich, und damit verbunden: Die Opfer im Tempel, deren Wichtigkeit seit der Errichtung des Opferaltars unter Achas anwuchs und zur eigentlichen Funktion der Versöhnung Gottes mit dem sündigen Volk gedieh, sind durch das als Opfer gedeutete Sterben Jesu am Kreuz ein für alle Male überholt und unnötig geworden (vgl. Röm 3,21-26), was der zerstörte Tempel täglich sichtbar demonstriert.
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Der Tempelbereich war damit seiner wesentlichen theologischen Gehalte beraubt. Die Jerusalem-Vignette auf dem Madaba-Mosaik (um 600) zeigt diesen Sachverhalt bildlich auf frappante Weise: Wo ist da die riesige Esplanade des Tempelplatzes? Sie ist zum bedeutungslosen Plätzchen geworden, das außerhalb des Stadtgefüges liegt, welches völlig von den beiden Prachtstraßen und vielen christliche Kirchen geprägt ist. Ausblick: Erst die Muslime werden die Verhältnisse wieder grundsätzlich verändern und dem jüdischen Tempelberg eine erstaunliche Renaissance ermöglichen. Nach fast 700-jähriger, von den Römern und den Christen gepflegter Auslöschung jeglicher positiven Identitätsmöglichkeit für die Juden – der bis anhin erlaubte Trauerbesuch hatte ja zum Zweck, den Juden den Verlust der Identität erlebbar zu gestalten! – wurde der heilige Berg erstmals wieder in seiner alten Qualität als Ort biblisch-israelitischer und jüdischer Gottesverehrung positiv wahrgenommen. Dies wird dann beim Bau des Felsendoms unter Kalif Abd al-Malik in den 80er und 90er-Jahren des 7. Jh. erst recht deutlich. Die Qubbat al-Sachra, die zum Zentrum des ganzen Haram wurde, war zu Beginn fast ausschließlich von israelitisch-jüdischen Traditionen geprägt, wie zeitgenössische Texte, die architektonische Gestaltung der Fläche und einige Bildelemente des Baues deutlich machen. Andreas Kaplony, Klaus Bieberstein und Benjamin Z. Kedar haben in aller Deutlichkeit herausgestellt, dass im Felsendom ursprünglich der Tempel Salomos/Suleimans wieder realisiert wurde und – füge ich hinzu – in ihm somit der Dritte Tempel auf unerwartete Weise realisiert war. Die weitere Entwicklung hat diese anfängliche Traditionsbelegung allerdings fast völlig verdrängt, da die Tradition von der nächtlichen Entrückung Mohammeds von Mekka nach Jerusalem (arabisch al-Israʾ, wörtlich „der Auszug“) nach Sure 17,1 und von seiner Himmelsreise (arabisch al-Miʿradsch, wörtlich „die Leiter“) nach Sure 17,93f; 53,1-12; 81,23 absolut dominant wurden.
7. Jüdische Versuche der Wiedererrichtung eines dritten Tempels als unverzichtbares Identifikationsmonument Während dieser ganzen Zeit versuchten die Juden grundsätzlich bei jeder historischen Gelegenheit, die sich bot, wiederum einen Tempel in Jerusalem zu errichten. Es gibt seit dem ersten Drittel des 2. Jh. n. Chr. zahlreiche
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Versuche jüdischer Gruppen, den Tempel als das eigentlich unaufgebbare Merkmal ihrer Identität aus der Mystik, der Liturgie und der eschatologischen Spekulation in die reale Geschichte zurückzuholen. Ich führe nur drei unterschiedliche historische Gelegenheiten an und springe dann in die Gegenwart, in welcher sich gerade in unseren Tagen die alte Tendenz zur Wiedererrichtung eines Dritten Tempels wiederum gefährlich zeigt. a) Schimeon ben Kosiba oder Bar Kochba propagierte im 2. jüdischen Krieg (132-135) den Bau eines neuen Tempels als das eigentliche Ziel des Aufstandes, indem er auf den silbernen Kriegsmünzen aller vier Jahre die Tempelfront mit der Bundeslade im Innern und – ab dem zweiten Kriegsjahr – mit dem messianisch aufgeladenen Stern auf der Vorderseite anbrachte und auf der Rückseite zuerst die Erlösung (geʿullah), dann – ab dem zweiten Kriegsjahr – die Freiheit (charut) Zions verkündete.13 Anhand der Stempelverbindungen, die im Corpus von Leo Mildenberg vermerkt sind,14 kann man die Entwicklung der Kriegsideologie des Schimeon bar Kosiba sehr genau verfolgen. Ich habe dies in einem Beitrag in der Festschrift zum 70. Geburtstag von Gerd Theißen ausführlich demonstriert.15 Daraus sei hier nur ein besonders bezeichnendes Detail herausgehoben: Da alle Münzen des zweiten jüdischen Krieges Überprägungen von römischen Münzen sind, stellen sie ein frappierendes Zeugnis dafür dar, wie Bar Kochba in seiner Münzprägung den Feind ikonographisch vernich13
Hendin, Guide 384, Nr. 1373; 389f, Nr. 1387f; 395f, Nr. 14111415. 14 Leo Mildenberg, The Coinage of the Bar Kokhba War, ed. by P. Erhart Mottahedeh, Typos, Monographien zur antiken Numismatik 6, Aarau u.a. 1984. 15 Max Küchler, Jesus von Nazaret und Schimeʿon ben Kosiba. Zwei „Könige der Juden“ und ihre Sterne in Texten und auf Münzen, in: P. v. Gemünden / D. Horrell / M. Küchler, edd., Jesus – Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft, FS 70* G. Theißen, NTOA 100, Göttingen 2013, 306334.
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tete und dessen Geld zur eigenen Propaganda benutzte. Dies zeigen besonders einige Münzen mit dem jüdischen Feststrauß und den Etrogim, unter denen noch das Porträt des römischen Kaisers Vespasian deutlich ersichtlich ist.16 Die Münze stellt den verzweifelten Versuch des Revolutionärs dar, die Identität des Kaisers auszulöschen, indem ihm die religiösen Symbole des Sukkotfestes, Lulav und Ertrog, sprichwörtlich aufs Haupt geschlagen wurden. Doch Hadrian blieb der Gewinner, sein Heer machte diesem irren militärischen Unternehmen – zwar unter großen Verlusten – ein grausiges Ende. Wie wir schon gesehen haben, war in der Folge sein Jupitertempel auf dem westlich liegenden, neuen Forum die dominante Größe, während der verwüs-tete und zerfallende ehemalige Tempelplatz, vielleicht mit zwei kaiserlichen Reiterstatuen versehen, und der Antonia Fels-Stumpf die absolute Macht der Römer über die Stadt demonstrierten. b) Als zweites sei das Bauprojekt Kaiser Julians des Abtrünnigen angeführt. Im Zuge der Aufwertung der paganen und jüdischen Kultur und Religion hatte dieser Kaiser 362 n. Chr. alle Materialien beschaffen lassen, um bei seiner vermeintlich siegreichen Rückkehr aus dem Krieg gegen die Perser den unterdessen wieder errichteten „Tempel des höchsten Gottes“ der Juden einzuweihen. Wie er in seinem Briefe 89(a) formuliert, wollte er damit Jesus von Nazaret, der die völlige Zerstörung des Tempels vorhergesagt habe, Lügen strafen. Der Neubau des Tempels begann mit der Räumung des Platzes, indem die Jahrhunderte lang ausgebeuteten, noch sichtbaren Trümmer des herodischen Tempels, also die negativ bestimmten Identitätsmerkmale der Juden in Jerusalem, weggeräumt wurden. In diesen bautechnisch notwendigen Vorbereitungsarbeiten, die übrigens von den jüdischen Instanzen im Heiligen Land gar nicht geschätzt wurden, sah der Zeitgenosse Kyrill, der Bischof 16
The Abraham Bromberg Collection of Jewish Coins, Part II, Zürich u.a. 1992, 46 Abb. 411; farbig und vergrößert reproduziert auf der hinteren Deckelseite.
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von Jerusalem, jedoch die Prophezeiung von Mk 13,2: „kein Stein wird auf dem andern bleiben“ als erfüllt an. Dieses Fanal für den Beginn der schlimmen Zeit des Antichrists und somit den Ausbruch der Endzeit (vgl. Katechesen 15,15) setzte die Stadt in apokalyptische Aufregung! Doch am 27. Mai 363 n. Chr. machten nach Kyrill und vielen weiteren antiken Autoren offenbar ein Erdbeben und eine Feuersbrunst dem ganzen Vorhaben – und damit auch dem apokalyptischen Spuk – ein Ende. Es zeigt sich in diesem erstaunlichen Ereignis jedoch sehr deutlich, wie bedeutsam der verödete Tempelplatz für das Selbstverständnis der Christen Jerusalems war. Die noch bestehenden Trümmer verzögerten sozusagen das Ende der Welt, in der sich die Christen gerade anschickten, unter „allen Völkern“ und bis „zur Vollendung des Äons“ (Mt 28,20) präsent zu werden. c) Werfen wir zum Abschluss noch einen Blick auf das signifikante Geschick der Juden Jerusalems in der frühislamischen Zeit. Die Juden durften sich damals in ihrem ersten jüdischen Viertel nahe beim Tempel niederlassen und nach einigen arabischen und jüdischen Texten war es einigen Juden zu Beginn gestattet, den Haram zu betreten und gewisse Dienste zu verrichten. Voller Erwartung verbanden die apokalyptisch gestimmten Jerusalemer Juden mit der religiösen Aufwertung ihres Tempelberges einmal mehr ihre stets wachen messianischen Hoffnungen. Im zeitgenössischen apokalyptischen Text „An jenem Tag“ (aus der Kairoer Geniza) heißt es: „Israel wird von all seinen Sünden befreit und wird nicht mehr vom Haus des Gebets ferngehalten werden“. Und in den noch unter Omar verfassten „Geheimnissen des Rabbi Schimeon bar Jochai“ wird prophezeit, dass Omar „ein mächtiger Herrscher und ein Freund Israels sein wird. Er wird ihre und des Tempels Wunden wieder heilen, den Berg Morija reinigen und zur Gänze planieren lassen und Israel aufrufen, dort eine Stätte der Anbetung auf dem Grundstein (der Welt) zu errichten“. Zu ihrer großen Enttäuschung wurde den Juden jedoch in der Folge der Zugang zum Haram stets restriktiver ge-
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staltet und schließlich verboten. Es blieb ihnen schließlich nur eine Ersatzhandlung, nämlich das Umschreiten der Mauern des Haram. Der Madrich Jeruschalajim, der älteste jüdische Jerusalemführer (aus der Geniza von Kairo), beschreibt diesen traurigen Trampelpfad der Juden des 10. Jh. Dieser Text, den ich im Anhang 3 des Jerusalembandes in deutscher Sprache erstmals vorgestellt habe, ist ein ergreifendes Zeugnis dafür, wie die jüdischen Pilger auf ihrem Weg um die Süd- und Westmauer des Harams und auf den Ölberg ihre alten biblischen und rabbinischen Traditionen wachriefen, auf die Mauern und in die Torinnenräume projizierten und sehnsüchtig mit dem mehrfach wiederholten Ruf versahen, dass „der Zion doch schnell getröstet werde“! Der erhoffte „Trost Israels“, auf den schon der greise Simeon im Tempel gewartet hat (Lk 2,25), war in dieser Zeit die einzige Möglichkeit, die jüdische Identität mit dem Tempel zusammenzuhalten. 8.
Neueste Projekte eines jüdischen Dritten Tempels und eine Gegen-Utopie
Dieser Wunsch nach der Tröstung Zions wurde in jüngster Zeit auf verschiedene Weise zu Projekten konkretisiert, die vielfach sichtbar sind. In jüdischen Geschäften Jerusalems und im Internet werden Projekte vorgestellt, die vom Bau eines virtuellen Tempels mit virtuellen Opfern (unter Kontobelastung) über einen Kubus (nach Ezechiel) oberhalb des Tempelberges bis zu einem neuen Tempelgebäude nördlich oder südlich des Felsendomes, ja anstelle des Felsendomes reichen. Die „Gläubigen des Dritten Tempels“ sehen aufgrund ihrer fundamentalistischen Interpretation der Bibel – wieder einmal – den Zeitpunkt gekommen, den noch nie realisierten Tempelentwurf Ezechiels (Ez 40-48) in historische Tat umzusetzen. Seit einigen Jahren werden im Institut du Temple in Jerusalem Repliken der Kultgegenstände hergestellt, so dass der Kult – wenn der Messias kommt – sofort wieder
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nach den rabbinischen Vorschriften vollzogen werden kann. Dass vorfabrizierte Betonelemente für das Tempelhaus tatsächlich existieren, ist zwar ein nicht verifizierbares Gerücht, doch prangt der siebenarmige Leuchter des Tempels (Menorah) schon gegenüber der Westmauer und der rekonstruierte Brandopferaltar erfuhr am 22. Dez. 2014, der siebten Chanukka-Nacht, seine Inauguration. Zahlreiche jüdische Traktate beschreiben anhand mittelalterlicher und späterer rabbinischer Traditionen die genauen topographischen und kultischen Details des zukünftigen Dritten Tempels und dessen Kulthandlungen. Der spekulative archäologische Beitrag von A.S. Kaufman,17 der in der Qubbat al-Arwah auf der inneren Plattform nordwestlich des Felsendomes den „Gründungsstein“ gefunden zu haben meint, leistet dabei den Dienst des wissenschaftlichen Feigenblattes. Am Freitag, dem 28. Febr. 2014, war in der doch sehr behutsamen NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG in zwei Beiträgen die ganze Seite 7 diesem Problem gewidmet: Der Titel „Brandstifter am Mittelpunkt der Welt“ formuliert dramatisch einige Gedanken, die ich im Vorausgehenden ohne Dramatik vorgetragen habe. Dass im zweiten Artikel die „muslimische und palästinische Identität“ angesprochen wird, trifft genau den Punkt, von dem dieser Vortrag handelt: Es geht beiden, Juden und Muslimen, um ihre Identität, die zutiefst mit ihrem Heiligtum in Jerusalem verbunden ist. Jehuda Glick, der frühere Direktor des Institut du Temple, beteuert zwar, dass er lediglich wolle, „dass der Tempelberg ein Ort werde, an dem alle Völker beten dürften“. Er rechnet aber damit, dass es erneut einen Krieg geben werde … „und wir werden uns verteidigen“! Die Lösung des Konflikts kann und darf jedoch nicht mehr in der Auslöschung der einen oder anderen um ihre Identität kämpfenden Gruppe gesehen werden, wie dies 17
A.S. Kaufman, Where the Ancient Temple of Jerusalem Stood. Extant „Foundation Stone” for the Ark of the Covenant is Identified, Biblical Archaeology Review 9/2, 1983, 40-59.
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die Radikalen auf beiden Seiten propagieren. Muslime und Juden können in ihren eigenen Traditionen genug Argumente finden, ihre religiöse Identität nicht durch exkludierende und damit tödliche Maßnahmen zu realisieren, sondern in der Anerkennung der gemeinsamen und je spezifischen Traditionen eine ökumenisch durchwirkte Identität zu schaffen, die ohne Zerstörungen auskommt und religiösen Frieden schafft. Ich möchte der letztlich kriegstreiberischen, exklusiven Beanspruchung des Identitätsbaus ein Bild entgegenstellen, das aus der jüdischen Jerusalem-Tradition kommt. In einer Illustration einer Pesach-Haggada aus dem Jahr 1665 ist eine ganz andere Haltung bezeugt (s. die Abb.): Wir sehen da eine zwar ummauerte Stadt, aber die Tore stehen weit offen. Links unten kommt der Messias auf dem Esel (Sach 9,9) angeritten und Elias verkündet vorausgehend mit dem Schofar dessen Ankunft. Rundherum kommen Menschen aller Nationen, wie ihre unterschiedlichen Kopfbedeckungen zeigen, zwischen den Bergen hervor und streben der zentralen und offenen Stadt Jerusalem zu. In deren Mitte steht der Tempel, dieses eschatologische Zentrum der Welt, in der Gestalt – man schaue und staune – in der Gestalt des Felsendoms! Das Bild offenbart eine erstaunliche Offenheit, der es möglich ist, jüdische und muslimische Traditionen mit dem prophetischen Bild von der Völkerwallfahrt zu verbinden. Das ist ökumenische jüdische Eschatologie … und zugleich eine Aufforderung, mit den bestehenden Gebäuden eine gemeinsame Stätte der Gottesverehrung zu schaffen, an welcher jeder und jede nicht mehr um seine Identität zu fürchten braucht.
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Pesach-Haggada (Venedig, 1655): Die ummauerte Stadt Jeruschalem mit offenen Toren und dem Felsendom als Ziel der eschatologischen Völkerwallfahrt. Links unten kommt der Messias auf dem Esel (aus Sach 9,9) angeritten und Elias verkündet ihn mit dem Schofar (Z. Vilnay, The Holy Land in Old Prints and Maps, Jerusalem 1965 (2. ed.), 80, Nr. 51).
Günter Stemberger
Die Bedeutung des Jerusalemer Tempels für die Identität des rabbinischen Judentums
In der biblischen Tradition hat der Jerusalemer Tempel als zentraler und einziger Kultort höchste Bedeutung für die Religion Israels und danach auch des gesamten Judentums des Zweiten Tempels. Er ist der Ort, an dem sich theoretisch alle Juden dreimal im Jahr zu den Wallfahrtsfesten versammeln sollen, um die Gegenwart Gottes zu erfahren und sich nicht nur als Volks-, sondern auch als Kultgemeinschaft zu erleben. Wie zentral der Tempel war, sieht man besonders in der Darstellung des Jüdischen Kriegs gegen Rom durch Josephus,1 aber auch im Neuen Testament, wonach Jesus selbst wiederholt im Tempel auftritt. Besonders bei Lukas ist der Tempel äußerst wichtig, beginnend mit der Ankündigung der Geburt des Täufers (Lk 1,5-25) über die Darstellung Jesu im Tempel und seinen Besuch des Tempels als Zwölfjähriger (Lk 2,21-46) bis zur Tempelreinigung (Lk 19,45-48) und dem Abschluss des Evangeliums mit den Jüngern im Tempel (24,53), dann aber auch in der Apostelgeschichte, wonach der Tempel auch für die junge Gemeinde der an Jesus Glaubenden noch immer zentral bleibt (Apg 2,46; 3; 21,26-22,21); einzig die Stephanusrede stellt die Bedeutung des Tempels in Frage (Apg 7,47-50). Die Stephanus zugeschriebene Sicht ist in der Zeit vor 70 v.a. für die jüdische Diaspora charakteristisch, aus deren Literatur wir zwar auch positive Aussagen zum Tempel 1 Helmut Schwier, Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdischrömischen Krieg (66-74 n. Chr.), NTOA 11, Freiburg/Schweiz, 1989.
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und seiner Bedeutung für das ganze Judentum kennen, die aber mehrheitlich eine Religiosität vertrat, die ohne den Tempel auszukommen gelernt hatte.2 Das entsprach ja auch der eigenen Lebenswelt, in der man zwar mit der Tempelsteuer zum Unterhalt des Tempelkults beitrug, jedoch kaum jemand selbst die Gelegenheit hatte, zumindest einmal nach Jerusalem zu pilgern und dort den Kult am Tempel mitzuerleben. Mit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 sollte das dann zunehmend die allgemeine jüdische Erfahrung auch im Land Israel werden, als spätestens mit dem Bar Kokhba-Aufstand und der Gründung der Aelia Capitolina Juden nicht einmal mehr die Ruinen des Tempels besuchen, geschweige denn auf seinen Wiederaufbau hoffen durften. 1.
Reaktionen der Rabbinen auf die Zerstörung des Tempels
Im Vierten Esrabuch und in 2Baruch, zwei Ende des 1. Jhs. entstandenen Apokalypsen, ist die Zerstörung des Tempels und die Trauer um ihn das zentrale Thema. Die Hoffnung auf seine baldige Wiedererrichtung muss in gewissen Kreisen des Volkes sehr stark gewesen sein; das erklärt den Ausbruch des Bar Kokhba-Aufstandes (132-135/6) und seine breite Unterstützung in Judäa, vereinzelt sogar durch Rabbinen wie Aqiva. Die Wiedererrichtung des Tempels war sein Ziel, wie die im Aufstand geprägten Münzen mit der Tempelfassade und der Nennung eines Eleazar ha-Kohen, der wohl das Amt des 2 Siehe Daniel Schwartz, Temple or City: What did Hellenistic Jews See in Jerusalem?, in: M. Poorthuis / Ch. Safrai, edd., The Centrality of Jerusalem. Historical Perspectives, Kampen 1996, 114-127; Noah Hacham, Sanctity and the Attitude Towards the Temple in Hellenistic Judaism, in: D.R. Schwartz / Z. Weiss, edd., Was 70 CE a Watershed in Jewish History? On Jews and Judaism before and after the Destruction of the Second Temple, AJEC 78, Leiden 2012, 155-179; Michael Tuval, Doing without the Temple. Paradigms in Judaic Literature of the Diaspora, ibid. 181-239.
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Hohepriesters übernehmen sollte, bezeugen. Um so erstaunlicher ist es, dass die frühen rabbinischen Schriften, Mischna, Tosefta und halakhische Midraschim, dieses Thema fast völlig übergehen. Die Mischna erwähnt die Zerstörung des Tempels explizit nur im Zusammenhang mit seither eingetretenen rituellen Veränderungen, so dreimal stereotyp in mRH 4,1-4: „Nachdem der Tempel zerstört wurde, verordnete Rabban Jochanan ben Zakkai…“. Inhaltlich geht es dabei um eher kleine Details (das Blasen des Schofar, den Feststrauß zu Laubhütten, die Bezeugung des Neumonds). Dass man die Früchte des vierten Jahres eines Baums (Lev 19,2324) nicht nach Jerusalem bringen, sondern überall auslösen dürfe, gilt nach R. Jose erst seit Zerstörung des Tempels; doch „wann immer der Tempel wieder erbaut würde, soll der frühere Zustand wieder hergestellt werden“ (mMSh 5,2). In diesen und wenigen anderen Stellen ist die Zerstörung des Tempels gleichsam ein Zeitpunkt, ab dem gewisse Dinge sich geändert haben. Trauer über den Verlust des Tempels klingt hier nirgends an. Hoffnung auf den Wiederaufbau des Tempels wird nur selten geäußert: „Möge (der Tempel) schnell (wieder) erbaut werden, in unseren Tagen“ (mTam 7,3; mTaan 4,8). Diese in der Liturgie verbreitete Formel ist wohl erst sekundär am Ende des Traktats eingefügt worden. Das gilt auch für die etwas breitere Gebetsformel am Ende des Traktats Pesachim. Etwas später (Tosefta, halakhische Midraschim) fragt man vereinzelt, welche Verfehlung und Sünde zur Zerstörung des Tempels geführt habe, doch auch dieses Thema wird erst ab dem palästinischen Talmud breiter behandelt. Auffällig ist zudem, dass die Mischna Scheidungsurkunden für ungültig erklärt, wenn diese nach einer unüblichen Ära datiert werden, wozu ausdrücklich eine Datierung „ab Errichtung des Tempels und ab Zerstörung des Tempels“ gezählt wird (mGit 8,5). Zwar zitiert der Seder Olam Rabba nach Aufzählung der einzelnen Herrschaften über Israel (Persien, Griechenland, Hasmonäer, Haus des Herodes) R. Jose (Mitte 2. Jh.):
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„Von da an komm und rechne nach Zerstörung des Tempels“. Tatsächlich aber findet sich rabbinisch eine solche Zeitrechnung erst in ganz späten Schriften, während sie im nichtrabbinischen Judentum schon früher mehrfach belegt ist (Grabsteine von Zoar am Südostufer des Toten Meers von der Mitte des 4. bis in das späte 6. Jahrhundert; Türsturz der Synagoge von Nabratein in Obergaliläa, datiert auf das Jahr 494 ab Zerstörung des Tempels, d.h. 562 oder 564 n. Chr.). Zwar schließt der 9. Av als Trauertag im Gedenken an die Zerstörung des Tempels (und andere nationale Katastrophen) neben dem Ersten auch den Zweiten Tempel ein, doch lehnen die Rabbinen mit der Zerstörung des Tempels begründete Bußpraktiken ab: „Es sagte R. Jischma’el: Von dem Tag an, da der Tempel zerstört wurde, wäre es vernünftig, kein Fleisch mehr zu essen und keinen Wein mehr zu trinken. Doch ordnet kein Gerichtshof der Gemeinschaft etwas an, das sie nicht aushalten könnte“ (tSota 15,10). In der Fortsetzung wird erwähnt, dass es nach der Zerstörung viele gab, die kein Fleisch aßen und keinen Wein tranken, da beides im Tempel geopfert wurde. R. Jehoschua hielt ihnen vor, dass sie mit dieser Begründung auch kein Brot essen und kein Wasser trinken dürften: „Zu viel zu trauern ist unmöglich und gar nicht zu trauern ist auch unmöglich. Doch so sagten die Weisen: Wenn einer sein Haus verputzt, lässt er eine kleine Stelle in Erinnerung an Jerusalem frei, bereitet er ein Festmahl, lässt er ein wenig in Erinnerung an Jerusalem weg, trägt eine Frau ihren Schmuck, lässt sie ein wenig in Erinnerung an Jerusalem weg“ (tSota 15,11-12). Auch hier haben wir es mit dem Ende eines Traktats zu tun, den man gerne auch später noch ergänzt. In der palästinischen Tradition wird dieser Text nie aufgenommen, wohl aber leicht variiert in bBB 60b überliefert. Zu beachten ist auch, dass dergleichen symbolische Akte „in Erinnerung an Jerusalem“ gesetzt werden, nicht „in Erinnerung an den Tempel“. Anders als gewisse Kreise im damaligen Judentum Palästinas scheinen sich die Rabbinen mit der Zerstörung
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des Tempels schnell abgefunden zu haben; für ihre jüdische Identität scheint er keine besondere Rolle zu spielen. Sie bemühen sich, öffentliche Trauer über die Zerstörung so weit als möglich in Grenzen zu halten. Die Position, die sie in der jüdischen Gesellschaft anstreben, ist ohne Tempel und die darin gegebene Dominanz der Priester leichter zu erreichen. So können sie auch schnell Ersatz für ohne Tempel nicht mehr mögliche biblisch vorgeschriebene Handlungen finden. So lesen wir schon in Sifra Emor Pereq 13: „Jeder, der Nachlese, Vergessenes, Ackerrand und Armenzehnt abgibt, dem rechnet man es an, als ob der Tempel stünde und er in ihm Opfer darbrächte. Und jeder, der nicht Nachlese, Vergessenes, Ackerrand und Armenzehnt abgibt, dem rechnet man es an, als ob der Tempel stünde und er in ihm nicht Opfer darbrächte“. Die biblisch vorgesehenen Abgaben für die Armen ersetzen Kult und Opfer. Ein etwas späterer Text, die Pesiqta de-Rav Kahana, nennt dann als Ersatz für den Tempel und die Darbringung der Opfer das Studium der entsprechenden Texte in der Tora: „R. Acha im Namen des R. Chanina bar Pappa: Israel soll nicht sagen, in der Vergangenheit haben wir Opfer dargebracht und uns mit ihnen befasst; jetzt aber, da wir keine Opfer mehr darbringen, wozu sollen wir uns da damit befassen? Es sagte ihnen der Heilige, gepriesen sei er: Wenn ihr euch mit ihnen befasst, ist es, als ob ihr sie darbrächtet… Samuel sagt: ‚Wenn sie sich all dessen schämen, was sie getan haben, dann mach ihnen die Gestalt des Tempels bekannt, seine Einrichtung, seine Ausgänge und Eingänge und seine ganze Gestalt‘ (Ez 43,11). Aber gibt es denn jetzt eine Gestalt des Tempels?! Vielmehr sagte ihnen der Heilige: Wenn ihr euch damit befasst, ist es, als ob ihr ihn erbautet“ (PesK 6,3).
Im babylonischen Talmud ist der vollgültige Ersatz des Tempels durch ein Leben nach rabbinischem Ideal dann voll ausformuliert worden. „Das Studium der Tora ist wichtiger als der Bau des Tempels. Denn solange Baruch ben Neria lebte, verließ ihn Esra nicht und zog nicht hinauf“ (von Babel nach Jerusalem, um sich an der Wieder-
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errichtung des Tempels zu beteiligen: bMeg 16b). „Das Studium der Tora ist bedeutender als das Darbringen der Tamidopfer“ (bMeg 3b und öfter). Die ausführlichsten Aussagen zu diesem Thema finden sich in bMen 110a: Den Schülern der Gelehrten, die sich an jedem Ort mit der Tora befassen, rechnet Gott es an, als ob sie vor ihm räucherten und opferten. Wenn sie sich in der Nacht mit der Tora befassen, rechnet Gott es an, als ob sie sich mit dem Tempeldienst befassten. „Jeder, der sich mit der Tora befasst, ist als ob er ein Brandopfer, Speiseopfer, Sündopfer und Schuldopfer darbrächte… er braucht weder Brandopfer noch Speiseopfer, weder Sündopfer noch Schuldopfer… Jeder, der sich mit der Tora des Sündopfers befasst, ist als ob er ein Sündopfer darbrächte, und jeder der sich mit der Tora des Schuldopfers befasst, ist als ob er ein Schuldopfer darbrächte“. Das Studium der Tora, besonders der Gesetze über die Opfer, ist nicht nur ein schwacher Ersatz für die Opfer im Tempel; wer studiert, braucht keine Opfer mehr.3 2.
Die Bedeutung des Tempels in frühen rabbinischen Texten
Der vorausgehende Abschnitt vermittelt den Eindruck, dass der Tempel für die Identität der Rabbinen wenig bedeutet und der Tempel höchstens der Hintergrund ist, von dem sich das rabbinische Projekt eines rein auf das Studium der Tora ausgerichteten Judentums abhebt. So richtig das in sich ist, gibt es nur einen Teil der rabbinischen Ideologie wieder. Zu erklären bleibt, wie bei dieser Einstellung dennoch große Teile der Mischna und der Tosefta, dann aber auch der Midraschim und vor allem 3 Zur ganzen Thematik vgl. Günter Stemberger, Reaktionen auf die Tempelzerstörung in der rabbinischen Literatur, in: ders., Judaica Minora 2, TSAJ 138, Tübingen 2010, 625-653; Jacob Neusner, How Important Was the Destruction of the Second Temple in the Formation of Rabbinic Judaism?, Lanham, Maryland, 2006.
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des babylonischen Talmud sich so ausführlich mit Tempel und Opferkult befassen. In der Mischna ist die gesamte fünfte Ordnung, Qodashim, „Heiliges“, mit Ausnahme eines einzigen Traktats (Chullin, „Profanes“ Schlachten) voll dem Opferkult im Tempel gewidmet; die zweite Ordnung, Moʿed, „Festzeiten“, befasst sich v.a. in den Traktaten zu den Wallfahrtsfesten, aber auch sonst, ebenfalls weithin mit dem Tempel und den darin stattfindenden Feiern. Aber auch die erste Ordnung, Zeraʿim, „Saaten“, ist in den Traktaten zu den Abgaben vom Ertrag des Bodens in Israel, so etwa in den Traktaten Bikkurim, „Erstlingsfrüchte“, und Terumot, „Priesterhebe“, auf den Tempel ausgerichtet. Dasselbe gilt in der vierten Ordnung, Nashim, „Frauen“, vom Traktat Sota, dem Ordal der des Ehebruchs Verdächtigen, und in der letzten Ordnung Toharot, „Reinheiten“, vom Traktat Para, der (roten) „Kuh“, aber auch von vielen sonstigen Reinheitsvorschriften, die zu einem großen Teil v.a. beim Besuch des Tempels und der Teilhabe an Opfern von Bedeutung sind. Alles zusammen genommen, bezieht sich mehr als die Hälfte der Mischna direkt oder indirekt auf den Tempel und seinen Kult. Der palästinische Talmud hat die beiden letzten Ordnungen der Mischna, Opfer- und Reinheitsvorschriften, nicht kommentiert – nach üblicher Erklärung deshalb, weil diese Regeln in einer Zeit ohne Tempel keine praktische Bedeutung mehr hatten. Doch der babylonische Talmud widmet sich ausführlich der fünften Ordnung mit den Opfervorschriften, gewöhnlich damit erklärt, dass das Studium der Opfertexte in einer tempellosen Zeit den Vollzug des Kults vollwertig ersetzt. Doch erklärt das wirklich diese Dominanz des Tempels und seines Kults in der Mischna, die eineinhalb Jahrhunderte nach Untergang des Tempels ihre endgültige Gestalt erhielt? In den ersten Jahrzehnten nach 70, in den Anfängen des Rabbinats, könnte man noch erwarten, dass auch die Rabbinen mit einer baldigen Erneuerung des Tempelkults rechneten und daher seine Einzelheiten systematisch festhielten. In der letzten Phase der Mischna-
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redaktion aber konnte eine solche Erwartung wohl nur noch eine ferne Zukunft oder gar erst die messianische Zeit betreffen. Für die Gegenwart relevanter war sicher das Bemühen der frühen rabbinischen Bewegung, möglichst viele religiös interessierte Kreise in ihr Programm einer Erneuerung des Judentums in einer Zeit ohne Tempel einzubinden, und dazu gehörten nun einmal auch die Priester. Einige von ihnen stießen zur rabbinischen Bewegung, ganz prominent etwa R. Tarfon oder R. Eleazar ben Azarja, dem später eine Abstammung von Esra nachgesagt wird, vielleicht auch R. Jischmael. So bemühte sich die Mischna, an den biblisch vorgeschriebenen Abgaben für die Priester auch nach Untergang des Tempels festzuhalten, besonders wenn diese das rabbinische Ideal des Torastudiums übernahmen. Insgesamt geht es natürlich vor allem auch darum, die Tora als ganze im Rahmen der Möglichkeiten als Grundtext des täglichen Lebens zu verwirklichen. Aber auch damit trifft man nicht das Ganze; der Umgang der Rabbinen mit der biblischen Tradition und dem Gedächtnis des Tempels ist vielschichtiger. Besonders auffällig ist dies im Traktat Middot, „Maße“ (des Tempels). Der Traktat beschreibt den Tempel in seiner gesamten Anlage, mit seinen Höfen und Bauten und gibt jeweils genaue Maße an. Die Darstellung entspricht weder der biblischen Beschreibung des salomonischen Tempels noch der idealen Tempelschilderung von Ez 40-43, aber auch nicht dem herodianischen Tempel, der ausführlich bei Josephus geschildert wird und teilweise noch am erhaltenen Bestand des Tempelbergs überprüft werden kann. Manchmal vermutet man, im Traktat Middot sei der vorherodianische Tempel gezeichnet, was auf ein entsprechendes Alter des Textes oder zumindest seines Grundbestandes schließen ließe. Doch ist wohl eher eine idealisierende Rekonstruktion anzunehmen, die biblisch inspiriert ist (die Maße des Tempelplatzes von 500 mal
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500 Ellen in mMid 2,1 stammen z.B. aus Ez 42,15-20),4 aber sich auch am herodianischen Tempel orientiert und verschiedene historische Erinnerungen einbaut, so etwa in der mehrfachen Nennung des Nikanortores (mMid 1,4; 2,3.6; das in 2,3 erwähnte Wunder, das mit diesem Tor geschah, wird in tYom 2,4 geschildert: demnach wurden die Tore von Nikanor auf einem Schiff aus Alexandrien gebracht. In einem Seesturm warf man sie über Bord, doch wurden sie wunderbarerweise in Jaffa an den Strand gespült).5 Was in dieser Darstellung des Tempels aber besonders auffällt, ist die in keinem früheren Text gebotene Angabe zur Quaderkammer im Vorhof, hinter der sich die Kammer des Hohenpriesters befand: „Die Quaderkammer, dort saß der große Sanhedrin Israels und beurteilte die Priesterschaft“, ob ein Priester makellos war und im Tempel dienen durfte oder nicht. Demnach wäre eine nichtpriesterliche Einrichtung, in der Mischna auch als „großer Gerichtshof“ bezeichnet und als Vorläuferinstitution zum Rabbinat verstanden, direkt im Tempel untergebracht und dort als Kontrollinstanz über das Priestertum tätig gewesen, die allein entschied, ob jemand als Priester amten durfte oder nicht. Dass der hier vorgetragene Anspruch keinerlei Entsprechung in der Wirklichkeit hatte, versteht sich von selbst; er gehört zum Selbstverständnis der Rabbinen, die sich als Torakenner befugt sehen, auch den Kult im Tempel nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, auch wenn die Priester nach biblischen Normen die Ausführenden bleiben.6 4
Dazu siehe Yaron Z. Eliav, God's Mountain. The Temple Mount in Time, Place, and Memory, Baltimore, Md., 2005, 212-220. 5 Damit ist ein 1902 auf dem Skopusberg in Jerusalem entdecktes Ossuar mit griechischer Inschrift zu verbinden: „Ossuar des Nikanor aus Alexandrien, der die Tore gemacht hat“ (H. Cotton u.a., edd., Corpus Inscriptionum Iudaeae/ Palaestinae. Bd. 1. Jerusalem, Teil 1.1, Berlin 2010, 140-142 (Nr. 98). 6 Naftali S. Cohn, The Memory of the Temple and the Making of the Rabbis, Divinations. Rereading Late Ancient Religion, Philadelphia 2013, 97-99.
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Damit ist die Vorstellung, dass die Mischna eine verlässliche Quelle für den historischen Ablauf des Tempelkults sein könne, erschüttert, auch wenn sich noch so viele Details in den Schilderungen der Mischna finden, die plausibel die Vergangenheit wiedergeben. Man muss hier prinzipiell unterscheiden, welche Details der rabbinischen Darstellung durch Quellen aus der Zeit des Zweiten Tempels gestützt werden und welche Details aus biblischer Tradition, genauer aus der Auslegung biblischer Texte abgeleitet sind. Natürlich können auch biblisch abgeleitete Abläufe schon in der Zeit vor 70 die reale Praxis bestimmt haben und können hier keine absoluten Aussagen getroffen werden, doch ist hier immer Vorsicht geboten. Umso mehr gilt dies überall, wo eindeutig rabbinische Interessen anachronistisch in den Ablauf des Tempelkults eingetragen werden. Wie sehr auch plausibel wirkende detailreiche Beschreibungen der Mischna weithin fiktive Konstruktionen sind, haben in den letzten Jahren verschiedene Autoren herausgearbeitet. Wichtig ist hier die Analyse des Traktats Sota mit dem Ritual der des Ehebruchs verdächtigen Frau durch Ishay Rosen-Zvi. Zwar hat der Text von Num 5 schon in der Zeit des Zweiten Tempels verschiedenste Auslegungen und Assoziationen angeregt; vielleicht wurde das Ordal auch in der einen oder anderen Form tatsächlich manchmal durchgeführt. Doch so, wie es in der Mischna beschrieben wird, ist es nicht mehr die Untersuchung einer verdächtigen Frau, sondern ein gewalttätiges Strafritual gegenüber einer Ehebrecherin, in Details aus prophetischen Texten abgeleitet, primär jedoch eine von rabbinischen Wertvorstellungen und Vorurteilen geprägte Warnung vor den Gefahren, die jeder Frau innewohnen. So erarbeitet Rosen-Zvi „the ideological-theoretical construction of the Mishnaic ritual, which was formed in the house of study as a punitive ritual instead of a divine ordeal“.7 Auch für das Ritual des Versöh7
Ishay Rosen-Zvi, The Mishnaic Sotah Ritual. Temple, Gender and Midrash, JSJS 160, Leiden 2012, 237 (expliziter der Titel der hebräi-
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nungstages lässt sich deutlich zeigen, wie viele Details von den Rabbinen kreativ gestaltet wurden und keinen Rückhalt in realen Erinnerungen und von Priestern in der rabbinischen Bewegung überlieferten Familientraditionen haben. Unter vielen anderen Details sei auch hier die Rolle genannt, die der Text den „Ältesten des Gerichtshofes“ zuschreibt, unter deren Aufsicht der Hohepriester sieben Tage lang auf die Liturgie vorbereitet wird und zum Schluss, ehe er an die Ältesten der Priesterschaft übergeben wird, noch schwören muss, dass er nicht von den erhaltenen Belehrungen abweichen werde (mYom 1).8 Ähnliches lässt sich für die meisten anderen Tempeltexte der Mischna feststellen, auch wenn hier im Detail noch viel Arbeit zu leisten ist. Besonders interessant sind hier die in der Mischna zahlreichen Erzählungen, in denen bestimmte Rituale in ihrem Ablauf geschildert werden und die vielfach mit verschiedenen Begründungen bis heute zumindest in wesentlichen Punkten als historisch ernst zu nehmende Schilderungen gelten, die in die Zeit des Tempels zurückreichen. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Schilderung der Darbringung der Erstlingsfrüchte im Tempel, wobei sogar König Agrippa selbst seinen Korb auf der Schulter trägt (mBik 3,2-8).9 Manche argumentieren mit dem ständigen Tempuswechsel in dieser Schilderung, die zum Teil auch präsentisch geboten wird, als ob der Autor sich gleichsam als Augenzeuge schen Ausgabe, Jerusalem 2008: Ha-ṭeḳes she-lo hayah… The Rite that was not). 8 Daniel Stökl Ben Ezra, The Impact of Yom Kippur on Early Christianity. The Day of Atonement from Second Temple Judaism to the Fifth Century, WUNT 163, Tübingen 2003; Günter Stemberger, Yom Kippur in Mishnah Yoma, in: Th. Hieke / T. Nicklas, edd., The Day of Atonement. Its Interpretations in Early Jewish and Christian Traditions, Themes in Biblical Narrative 15, Leiden 2012, 121-137. 9 Siehe z.B. Louis Ginzberg, The Mishnah Tamid, Journal of Jewish Lore and Philosophy 1, 1919, Nachdr. New York 1969, 33-44.197209.265-295. Dazu eine gründliche Kritik: Jacob Neusner, Dating a Mishnah Tractate. The Case of Tamid, in: M. Wohlgelernter, ed., History, Religion, and Spiritual Democracy. Essays in Honor of J.L. Blau, New York 1980, 97-113.
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vergegenwärtigt, was er selbst gesehen hat. Doch ist das Präsens in rituellen Texten gewöhnlich nicht Hinweis auf die Gegenwart des Geschehens, sondern drückt die Norm aus, wie etwas zu geschehen hat; Agrippa ist hier nicht die historische Person, sondern Beispiel eines frommen Königs, nichts mehr.10 Naftali Cohen, der die Ritualerzählungen der Mischna systematisch untersucht hat,11 sieht in ihnen den Anspruch der Rabbinen ausgedrückt, zu wissen, wie Rituale in der Zeit des Tempels tatsächlich abgelaufen sind und immer schon unter Aufsicht und Kontrolle der Ältesten bzw. des Gerichtshofes ausgeübt wurden, wie schon zur Tempelbeschreibung im Traktat Middot oder der Liturgie von Yom Kippur betont wurde, wie man es aber auch im Ritus von der Roten Kuh (Num 19) sehen kann, wo die Ältesten nicht nur den Ablauf beaufsichtigen, sondern Jochanan ben Zakkai persönlich den amtierenden Priester verunreinigt und gleich ein Tauchbad nehmen lässt, so dass er gegen seine Überzeugung in einem Zustand nicht vollkommener Reinheit die Verbrennung der Kuh und die Zubereitung der Asche vornehmen muss (mPara 3,7-8).12 In diesen und anderen Texten unterbrechen immer wieder namentlich angeführte Rabbinen den Ablauf der Erzählung, indem sie kleine Details des Erzählten korrigieren. Damit unterstreichen sie aber nur die wesentliche Richtigkeit des Erzählten, auch wenn Kleinigkeiten nicht einheitlich erinnert werden: Die Geschichtlichkeit der großen Linien wirkt so umso überzeugender, darin sind sich ja Erzähler und Kommentator einig. Damit wird aber auch die Rolle der Vorläufer der Rabbinen in der Zeit des Tempels abgesichert und werden die Rabbinen als die in allen Fragen des Rituals auch für die eigene Gegenwart einzig Zuständigen legitimiert. 10 Günter Stemberger, Rabbinic Sources for Historical Study, in: ders., Judaica Minora 2 (wie Anm. 3), 216–230: 325-237. 11 Siehe Anm. 5. 12 Dazu Günter Stemberger, Pharisäer Sadduzäer Essener. Fragen – Fakten – Hintergründe, Stuttgart 2013, 43-44.50.
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So plausibel die Argumentation von Cohen auch weithin ist, bleibt die Frage, wen ein solcher Anspruch der Rabbinen wirklich beeindrucken konnte. Der Tempel existiert nicht mehr und ist auch nicht so schnell wieder zu erwarten; in allen rituellen Fragen der eigenen Zeit haben die Rabbinen noch lange keinen wirklichen Einfluss auf die breitere jüdische Bevölkerung, auch nicht auf den Synagogengottesdienst, wie weit auch immer die Einrichtung der Synagoge in der Zeit der Mischna schon verbreitet gewesen sein mag. Zum Zeitpunkt ihrer Redaktion war die Mischna eine gruppenspezifische Schrift, die erst lange Zeit später Einfluss auf das jüdische Leben außerhalb der kleinen Rabbinenkreise nehmen konnte. Bis es so weit war, konnten auch alle Aussagen über den Tempel und sein Ritual höchstens Teil der eigenen Selbstvergewisserung der Gruppe bleiben. Als Ausdruck von (anfangs eher utopischen) Machtansprüchen waren es natürlich „politische“ Aussagen, auch wenn sie nur langfristig Wirkung erzielen konnten. Doch fragt sich nochmals: Warum ist es gerade der Tempel, dem so viele Bemühungen gelten, wenn man ihn eigentlich ablösen will? Warum schildert man so viele Tempelrituale so, als ob sie noch existierten, als ob sich auch durch die Katastrophe von 70 in Wirklichkeit nichts geändert hätte? Vereinfacht gesagt, hängt alles an der rabbinischen Konzeption der Tora. Man sieht sie als das ewig gültige unveränderbare Wort Gottes. Damit gilt auch alles, was in ihr zu Kult und Tempel gesagt wird, weiterhin, nicht einfach als etwas, was einmal möglich war und wieder irgendeinmal möglich und wirklich sein wird, sondern etwas, was auch in eigener Zeit die eigentliche Wirklichkeit beschreibt, auch wenn man sie nun in einer höheren, geistigen Form erlebt. Auch wenn das so erst später explizit formuliert wird, gilt doch für die Rabbinen von Anfang an, dass das Studium der Tora den materiellen Kult und Tempel nicht nur vollwertig ersetzt, sondern ihn sogar übersteigt, die letztlich allein mögliche Form der Begegnung mit dem Wort Gottes in der Tora ist. Natürlich kennen und schätzen auch die Rabbinen die
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Vielfalt materieller Ausdrucksformen eines Lebens nach der Tora und regeln sie bis ins Detail. Zugleich aber können sie vom rein materiellen Tempelkult Abstand finden, weil ihn das Studium des Kults vollkommener ausprägt, während der reale Kult immer nur unvollkommene Annäherung an das von der Tora Verlangte sein kann. Das führt zum Paradox, dass für die frühen Rabbinen Tempel und Kult zwar als Text weiterhin höchste Bedeutung in ihrer Konstruktion einer idealen Wirklichkeit behalten, zugleich aber als irdische Realität in den Hintergrund zurückweichen und unbedeutend werden. 3.
Synagoge und Tempel
Weil der Tempel, materiell gesehen, der Vergangenheit angehört, achten die Rabbinen darauf, dass er nicht auf Umwegen über die Synagoge in die Gegenwart hereingeholt wird. In ihrer Betonung des Torastudiums betrachten die Rabbinen die Synagoge prinzipiell als weniger wichtig als das Lehrhaus und das gemeinsame Studium und nehmen noch relativ lange kaum am Leben der Synagoge und deren Leitung teil. Dennoch halten die Mischna und spätere rabbinische Texte Regeln fest, wie man den Gottesdienst in der Synagoge haben möchte, was die wesentlichen Gebete und v.a. die geregelte Lesung der Tora betrifft. Dabei akzeptiert man auch, dass manche früher dem Tempel vorbehaltene Bräuche wie der Priestersegen nunmehr auch in der Synagoge übernommen werden (mMeg 4,3-7), und gesteht den Priestern „um des Friedens willen“ zu, dass sie vorrangig zur Lesung der Tora aufgerufen werden (mGit 5,8). Nach biblischem Vorbild betont man die Gebetsrichtung nach Jerusalem und zum Tempel (mBer 4,5; tBer 3,14-16 zitiert dafür 1Kön 8,44; 2Chron 6,34.38) und entsprechend sind auch die meisten bisher ausgegrabenen Synagogen Palästinas (ab spätem 3. Jh.) nach Jerusalem ausgerichtet. Die Rabbinen haben sich in diesem Punkt wohl einfach an die alte Tradition gehalten, die auch außerrabbinisch die Norm geblieben
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ist. Die Begründung der Gebetszeiten mit ihrer Entsprechung zu den Opfern im Tempel (tBer 3,1-3) schließt zwar an Tempeltraditionen an, zeigt aber doch zugleich, dass die Gebete die Opfer im Tempel irgendwie ersetzen. Im babylonischen Talmud betont man verstärkt die Distanz zum vergangenen Tempel. Man bemüht sich, keine Abbilder von Tempelgeräten in der eigenen Zeit zuzulassen und verbietet „einen Tisch entsprechend dem Tisch (für die Schaubrote), einen Leuchter entsprechend dem Leuchter (im Tempel)“ (bRH 24a und öfter). Der Text beruft sich auf tannaitische Tradition, doch in palästinischen Texten ist nichts dergleichen belegt. Das gilt auch von einer Rav Samuel bar R. Isaak zugeschriebenen Aussage, die den Ausdruck „kleines Heiligtum“ (miqdash meʿat Ez 11,16) auf die Synagogen und Lehrhäuser bezieht (bMeg 29a). Damit wird auch der Synagoge eine gewisse Heiligkeit zugestanden, aber bewusst gemeinsam mit dem Lehrhaus, das ebenso gleichsam am späten Abglanz der einstigen unvergleichlichen Herrlichkeit des Tempels teilhat. Ganz anders als diese eher distanzierte Übernahme von Tempeltraditionen in die eigene Zeit durch die Rabbinen wirkt, was man den in Israel ausgegrabenen Synagogen aus dem späten 3. bis zum frühen 7. Jh. entnehmen kann. In zahlreichen Inschriften ab dem 4. Jh. wird die Synagoge als „heiliger Ort“ bezeichnet (aram. atra qedisha bzw. griech. ἅγιος τόπος).13 Siebenarmige Leuchter (dreidimensional und nicht bloß im Bild), deren Verwendung bRH 24a ablehnt, wurden in den Ausgrabungen der Synagogen von Hammat Tiberias A, Eschtemoa, Susija und Maon gefunden. Der Raumplan der Synagogen im Basilikastil, der dem zeitgleicher christlicher Kirchen entspricht, erinnert in seiner Gliederung, beginnend mit dem gewöhnlich ummauerten Innenhof mit Brunnen, von dem 13 Steven Fine, This Holy Place. On the Sanctity of the Synagogue during the Greco-Roman Period, Christianity and Judaism in Antiquity Series 11, Notre Dame, Ind. 1997.
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ein Narthex in den eigentlichen Synagogenraum führt, von dem vorne der Bereich für den Toraschrein durch Schranken abgetrennt ist, an die nach Heiligkeit abgestuften Bereiche im Tempel von den Vorhöfen hinein bis zum Allerheiligsten. Bedeutsam ist aber vor allem die Wahl der Themen, die auf den Fußbodenmosaiken dargestellt werden (auch diese eine Konzession der Rabbinen an die Praxis der Synagoge, die sie nicht verhindern konnten, wie man in yAZ 3,3,42d liest: „In den Tagen des R. Jochanan fing man an, die Wände zu bemalen, und er hinderte sie nicht“. Eine Handschrift aus der Geniza fährt fort: „In den Tagen des R. Abun begann man, Mosaiken mit Bildern zu dekorieren, und er hinderte sie nicht“). Fast allgemein findet man im Bereich der Apsis den Toraschrein dargestellt, meist in Form einer Tempelfassade und oft nicht oder kaum unterscheidbar von Darstellungen der Bundeslade, die sich im Allerheiligsten des salomonischen Tempels befand, flankiert von Kultsymbolen wie der Menora, Weihrauchschaufeln, Schofar usw. Der Bezug zum Tempel ist hier ganz deutlich.14 Diesen unterstreicht noch die Darstellung der Opferung Isaaks (Gen 22) in den Synagogen von Bet Alfa (6. Jh.) und, nur sehr fragmentarisch erhalten, Sepphoris (frühes 5. Jh.; in der Synagoge von Dura Europos am Eufrat, 3. Jh., ist diese Szene direkt beim Toraschrein dargestellt). Wie schon in Gen 22,14 angedeutet und dann ausführlich in rabbinischer Tradition entwickelt, ist die Opferung Isaaks am Ort des späteren Tempels zu lokalisieren und begründet die Wirksamkeit des Opferdienstes im Tempel. Noch deutlicher wird dieser Bezug zum Tempel in Sepphoris, wo links von der großenteils zerstörten Szene mit Abraham und Isaak am Altar der Baum 14 Dazu siehe u.a. Rina Talgam, The Representation of the Temple and Jerusalem in Jewish and Christian Houses of Prayer in the Holy Land in Late Antiquity, in: N.B. Dohrmann / A.Y. Reed, edd., Jews, Christians, and the Roman Empire. The Poetics of Power in Late Antiquity, Philadelphia 2013, 222-248.
Bedeutung des Tempels für die Identität des rabbin. Judentums
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zu sehen ist, an den der Widder angebunden ist, der dann an Stelle von Isaak geopfert werden soll. Unter ihm sieht man zwei Paar Schuhe, ein großes und ein kleines, offenbar die Schuhe, die Abraham und Isaak ausgezogen haben, bevor sie die Opferstätte betraten, entsprechend Ex 3,5 zu Mose am Dornbusch: „Leg deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“. Indem dies in der Synagoge dargestellt ist, wird auch diese als heiliger Boden gekennzeichnet. Verstärkt wird der Tempelbezug der Synagoge von Sepphoris zusätzlich durch die hier erstmals belegte Szene der Amtseinsetzung Aarons als Priester. In einem Bildstreifen ist in der Mitte ein Altar aus Steinquadern zu sehen (vgl. Ex 20,25; Dtn 27,5f; mMid 3,1-4); rechts davon auf einer Säule ein halbkugelförmiges Wasserbecken, offensichtlich das Ex 30,18f genannte Becken für die Waschungen Aarons und seiner Söhne. Links vom Altar stand einmal Aaron; erhalten ist nur der linke Saum seines Kleides, unten mit einer kleinen Glocke versehen (vgl. Ex 28,33-35), mit der hebräischen Beischrift „Aaron“. Neben ihm sieht man ein Lamm, der hebräischen Beschriftung nach (Ex 29,39.41) eines der beiden täglich zu opfernden Lämmer; das zweite ist im Bildstreifen darunter (ebenfalls mit Beschriftung) zu sehen. Im Mittelfeld des unteren Bildstreifens sieht man einen runden Tisch, auf ihm die zwölf Schaubrote und darüber zwei Gefäße, offenbar für den darauf zu verteilenden Weihrauch (Lev 24,6-7). Die runde Form des Tisches entspricht zwar nicht den biblischen Angaben, hat jedoch eine Parallele auf dem Mosaikfußboden der samaritanischen Synagoge von el-Khirbe (4. Jh.). Im rechten Feld des Bildstreifens ist ein Korb mit den Erstlingsfrüchten, Trauben, Granatäpfel und Feigen, dargestellt; an beiden Seiten hängt je ein Vogel herunter (vgl. mBik 3,5 und yBik 3,4,65d).15 Insgesamt ruft dieses Mosaik wie kein 15 Ausführlicher dazu Günter Stemberger, Biblische Darstellungen auf Mosaikfußböden spätantiker Synagogen, in: ders., Judaica Minora 1, TSAJ 133, Tübingen 2010, 281–301: 287-296.
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anderes den Tempeldienst und seine Grundlage in der Opferung Isaaks in Erinnerung, und will damit wohl auch die Kontinuität zwischen dem einstigen Tempelkult und dem Gottesdienst der Synagoge ausdrücken.16 Dass dies gerade in Sepphoris so ausführlich dargestellt wird, mag wohl auch mit der massiven Präsenz von Priesterfamilien in dieser Stadt zusammenhängen. Auf den im Mosaik erhaltenen Stifterinschriften sind auch ein Isaak ha-Kohen und ein Reuven ha-Levi genannt. Dass Priesterfamilien in manchen Synagogen bedeutenden Einfluss hatten und dadurch auch Tempeltraditionen in die Synagoge gelangt sind, legt auch die Entwicklung der Liturgie nahe, die durchaus nicht immer dem Geschmack der Rabbinen entsprach, wie das etwa die immer häufigere Verwendung der Qedusha (basierend auf dem Trishagion von Jes 6,3) zeigt, wie aber auch das Vordringen der liturgischen Dichtung nahelegt, unter deren bekanntesten frühen Vertretern Priester hervorragen. Besonders zu nennen sind hier die Avodot des Jose ben Jose (6. Jh.) und vieler späterer Autoren, die den Vollzug des Kultes (avoda) durch den Hohenpriester am Versöhnungstag in liebevollem Detail schildern und so den einstigen Opferkult im Wort überhöht in die Gegenwart der Synagoge hinübertragen. Hier wird der Tempel und sein Kult Teil der eigenen Gegenwart.
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Auf dem nur sehr fragmentarisch erhaltenen Mosaikfußboden der in den Jahren 2007-2009 ausgegrabenen Synagoge von Khirbet Wadi Hamam etwas oberhalb des Westufers des Sees Genesaret (vom Ausgräber Uzi Leibner Ende 3. oder frühes 4. Jh. datiert) sieht man auch eine Szene, in der mehrere Arbeiter an der Errichtung eines Gebäudes arbeiten. Uzi Leibner / Shulamit Miller, A Figural Mosaic in the Synagogue at Khirbet Wadi Hamam (Lower Galilee), JRA 23, 2010, 238-64, schlagen vor, gestützt auf eine nahe Parallele in der wenig späteren Quedlinburger Itala, hier den Bau des salomonischen Tempels zu sehen. Sollte diese Deutung stimmen, wäre das die früheste Darstellung dieser Szene in einer Synagoge; doch im Nebeneinander mit verschiedenen anderen biblischen Szenen auf demselben Mosaik ist das Thema des Tempels nur eines von mehreren Motiven und nicht annähernd so dominant, wie das in Sepphoris der Fall ist.
Bedeutung des Tempels für die Identität des rabbin. Judentums
4.
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Tempel und jüdische Identität
Wenn man die hier vorgetragenen Beobachtungen zusammenfassen will, gibt es ganz klar keinen einheitlichen Zugang zum Tempel und seiner bleibenden Bedeutung im Judentum der rabbinischen Zeit. Rabbinische Texte und die erhaltenen Synagogen zeigen deutlich sehr unterschiedliche Zugänge, zwei Grundtypen, zwischen denen es natürlich die verschiedensten gleitenden Übergänge gibt. Die Rabbinen haben ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Tempel. Einerseits werden der Tempel und sein Kult in der Mischna und in anderen frühen Texten so geschildert, als ob er noch immer existierte; andererseits aber wird diese Schilderung so sehr nach rabbinischen Interessen umgeprägt, dass der historische Tempel viel von seiner Bedeutung verliert. Er ist höchstens ein Modell der Vergangenheit, dass in der Zeit der Rabbinen vergeistigt und damit auf eine höhere Ebene gehoben wird; die Rabbinen sind die Erben des Tempels, indem sie in allen Bereichen einen höherwertigen Ersatz für diesen anbieten können. Zwar sprechen spätere rabbinische Texte immer unbefangener vom zerstörten Tempel und fügen die Tradenten v.a. im babylonischen Talmud vermehrt den stereotypen Wunsch ein: „Er möge schnell wiedererbaut werden, in unseren Tagen“.17 In Wirklichkeit aber ist es ähnlich der Aussage einzelner Rabbinen über den Messias: „Er möge kommen, doch ich will ihn nicht sehen“ (bSan 98b). Als Kaiser Julian 362 den Wiederaufbau des Tempels erlaubte – ein Projekt, das mit Julians Tod im Juni 363 schon wieder beendet war, hielten sich die Rabbinen anders als breite Kreise der jüdischen Bevölkerung, auch der Diaspora, vornehm zurück und die rabbinischen Texte erwähnen diese Episode höchstens in 17
So z.B. bBer 58a; bSuk 41a; bTaan 4b.17a.b.; 26b; bRH 30a; bBM 28b; bTam 33b. Als liturgische Formel wird der Satz oft von Kopisten eingefügt, wo der Text vom Tempel spricht, und ist nur in Teilen der Textüberlieferung belegt.
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Anspielung (so verstehen manche BerR 64,10). Wenn der Tempel und sein Kult für die Rabbinen identitätsstiftend war, dann in dessen Überhöhung und Überwindung hin zu einer Religion, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden und nicht durch blutige Opfer bestimmt war, sondern die ohne Begrenzung durch Ort und Zeit allein von der ständigen Begegnung mit dem Wort Gottes lebte. Völlig anders verhalten sich Schichten des Judentums, die uns in den Synagogen Palästinas und deren Dekoration begegnen. Hier wird der Tempel, der einst den meisten nur über seine Beschreibung gegenwärtig und in seinem innersten Bereich nur den Priestern bzw. gar nur dem Hohenpriester einmal im Jahr zugänglich war, nunmehr gleichsam Besitz aller. Der siebenarmige Leuchter des Tempels, den vor 70 kaum jemand gesehen hatte, wird zusammen mit anderen Kultgegenständen wie dem Schofar das umfassende Zeichen jüdischer Identität: „the temple, with its associations of priestly-mediated worship, was a central component of collective Jewish identity – even as contested – whether experienced or imagined before 70 or experienced as imagined after 70. However, the manner in which it was so encountered changed radically and dramatically, beginning faintly in the mid-third century and accelerating a century thereafter, with the intersecting visualizations of templerelated words (whether narrative, legal, or liturgical) and images in performative ways that would help define Judaism and aspects of Jewish identity for centuries, if not millennia, to come”.18 18
Steven D. Fraade, The Temple as a Marker of Jewish Identity Before and After 70 CE: The Role of the Holy Vessels in Rabbinic Memory and Imagination, in: L.I. Levine / D.R. Schwartz, edd., Jewish Identities in Antiquity. Studies in Memory of Menahem Stern, TSAJ 130, Tübingen 2009, 237-265, Zitat 264f.; Nachdr. in: Steven D. Fraade, Legal Fictions. Studies of Law and Narrative in the Discursive World of Ancient Jewish Sectarians and Sages, JSJS 147, Leiden 2011, 523-554: 554. In diese Entwicklung gehören auch die talmudischen Aussagen über die nach Rom gebrachten Geräte des Tempels, die einzelne Rabbinen dort gesehen haben wollen (so bYom 57a; bSuk
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Für die breitere jüdische Bevölkerung blieb eine reine Spiritualisierung doch irgendwie ungenügend. Ein konkreter Ort, der – den Tempel ersetzend – privilegierter Ort der Begegnung mit Gott sein konnte, wo immer sich Juden in Gebet und Schriftlesung fanden, blieb zusammen mit sichtbaren Symbolen des einstigen Tempels noch immer wirkmächtiges Zeichen, an dem man sich anhalten konnte, um sich der eigenen Identität zu vergewissern. In ihrem Bemühen, ihre Ideale der jüdischen Gemeinschaft zu vermitteln, sind in Spätantike und Mittelalter die Rabbinen auch in diesem Punkt den Gemeinden weithin entgegen gekommen.
5a). Dazu Steven Fine, “When I Went to Rome… There I Saw the Menorah”: The Jerusalem Temple Implements in Rabbinic Memory, History, and Myth, in: ders., Art, History and the Historiography of Judaism in Roman Antiquity, The Brill Reference Library of Judaism 34, Leiden 2013, 63-86.
Enno Edzard Popkes
Jesu Haltung zum Tempel und die frühchristliche Tempelmetaphorik
1. Einleitung Der erste und zweite Jerusalemer Tempel und die damit verbundenen Tempelkultformen waren ein zentrales Identitätsmerkmal jüdischer Religiosität, welches unterschiedliche Identitätskonzepte inspirieren konnte1. Zur Zeit des Wirkens Jesu und der Entstehung der Jesusbewegung bzw. des frühen Christentums gab es jedoch verschiedene jüdische Gruppierungen, für welche die zeitgenössischen Verhältnisse im Tempelkult inakzeptabel waren bzw. für die der Jerusalemer Tempel keine identitätsstiftende Bedeutung mehr hatte. Besonders deutlich zeigt sich dies z. B. bei der essenischen Bewegung, die wohl in der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts aufgrund von Konflikten um das Amt des Hohenpriesters als ein Protest- bzw. Oppositionsbündnis entstanden ist2. Entsprechend distanzierte sich die essenische Bewegung von den aus ihrer Perspektive illegitimen 1 Zur generellen Einführung vgl. Helmut Schwier, Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66-74 n. Chr.), Göttingen 1989, passim; Erwin Reidinger, Die Tempelanlage in Jerusalem von Salomo bis Herodes aus der Sicht der Bautechnischen Archäologie, in: BZ 114/115, 2002, 89-150; Theodor A. Busink, Der Tempel von Jerusalem. Von Salomo bis Herodes – eine archäologisch-historische Studie unter Berücksichtigung des westsemitischen Tempelbaus, Bd. 1, Leiden 1970; Bd. 2, Leiden 1980; Wolfgang Zwickel, Der salomonische Tempel, Kulturgeschichte der Antiken Welt 83, Mainz 1999. 2 Vgl. Peter Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, UTB 3366, Tübingen 22010, 67f.
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religiösen Autoritäten, die nun u. a. auch die Kultpraxis im Jerusalemer Tempel kontrollieren konnten3. Auch das Wirken des Täufers Johannes kann als eine kritische Infragestellung der etablierten Jerusalemer Autoritäten und des Tempelkultes verstanden werden, insofern die von ihm gespendete Taufe zur Vergebung der Sünden offensichtlich ohne deren Legitimation auskommt4. Letzteres gilt auch für den prominentesten Schüler des Täufers, nämlich für Jesus von Nazareth. Auch die Mitglieder der von Jesus inspirierten innerjüdischen Erneuerungsbewegung, die sich später Christen nannten bzw. so benannt wurden, konnten schließlich hochreflektierte tempelmetaphorische Identitätskonzepte entwickeln, ohne auf einen konkreten Bezug zum Jerusalemer Tempel angewiesen zu sein. Um diese Aspekte frühchristlicher Identitätsbildungsprozesse erläutern zu können, soll im Folgenden zunächst thematisiert werden, in welcher Weise in den Evangelientraditionen die Haltung Jesu zum Jerusalemer Tempel bzw. zum Tempelkult dargestellt wird (2). Daraufhin wird skizziert, in welcher Weise die frühen Nachfolger 3
Dieses Phänomen dokumentieren eindrücklich die Veränderungen, welche die Beschreibungen der theologischen Bedeutung des Tempels im Psalter erfahren. Insbesondere die Differenzen, die sich in der Komposition der Psalmenrolle 11QPsa gegenüber dem vierten und fünften Buch des kanonischen Psalters beobachten lassen, lassen erkennen, dass die Teilnahme am Kult im Jerusalemer Tempel relativiert wird, während die Bedeutung der Anbetung und der Psalmenrezitation akzentuiert wird. Ausführlich hierzu vgl. Armin Lange, Handbuch der Textfunde vom Toten Meer, Bd. 1: Die Handschriften biblischer Bücher von Qumran und den anderen Fundorten, Tübingen 2009, 373f.; Ulrich Dahmen, Psalmen- und Psalterrezeption im Frühjudentum. Rekonstruktion, Textbestand und Pragmatik der Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran, STDJ 49, Leiden 2003, 3f. 4 Ausführlich hierzu vgl. Gerd Theißen, Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Johannes dem Täufer und Jesus, in: ders. / A. Merz, edd., Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, FRLANT 202, Göttingen 2003, 229-253; Michael Tilly, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten. Die synoptische Täuferüberlieferung und das jüdische Prophetenbild zur Zeit des Täufers, BWANT 137, Stuttgart u. a. 1994, passim.
Jesu Haltung zum Tempel
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Jesu sich diesbezüglich verhalten konnten (3). Vor diesem Hintergrund sollen die Entstehungshintergründe und Konzepte frühchristlicher Tempelmetaphorik erläutert werden (4.). 2.
Jesu Haltung zum Jerusalemer Tempel und Tempelkult
Für die Erörterung der Frage, welche Haltung Jesus zum Jerusalemer Tempel und dem zeitgenössischen Tempelkult vertrat, sind vor allem vier Traditionskomplexe von Bedeutung, nämlich die sogenannte Tempelaktion (Mk 12,15-17; Mt 21,12f.; Lk 19,45f.; Joh 2,14-16), das (vermeintliche) Tempelwort (Mk 14,57f.; 15,29f.; Mt 26,60f.; 27,39f.; Joh 2,19f.; Apg 6,14f.; EvThom 71), die Tempelprophetie (Mk 13,1f.; Mt 24,1f.; Lk 21,5) und die Traditionen über den Tempel als Ort der Lehrtätigkeit Jesu (Mk 11,27; Lk 19,47; 20,1f.; Mt 21,23 und v. a. Joh 7,14f.5). Auch wenn diese Traditionen in einem inhaltlich-sachlichen Verhältnis zueinander stehen, sind sie bereits jeweils für sich genommen eine crux interpretum. Die Fragen, die diese Traditionen aufwerfen, sind zwar brisant und theologisch in hohem Maße relevant, können jedoch nur sehr schwer angemessen beantwortet werden. Alle Traditionen stimmen darin überein, dass Jesus nach seiner Ankunft in Jerusalem zeitnahe den Tempel aufgesucht und den Vollzug gängiger Opferriten zu stören versucht hat. Divergenzen bestehen diesbezüglich nur in Bezug auf die chronologische Verortung dieses Gesche-
5
Generell zu Diskussionen zur Haltung Jesu zum Tempel vgl. Jostein Ådna, Jesu Stellung zum Tempel. Die Tempelaktion und das Tempelwort Jesu als Ausdruck seiner messianischen Sendung, WUNT II/119, Tübingen 2000; Kurt Paesler, Das Tempelwort Jesu: Die Tradition von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament, FRLANT 184, Göttingen 1999; Gerd Theißen, Die Tempelweissagung Jesu. Prophetie im Spannungsfeld von Stadt und Land, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 2 1983, 142-159.
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hens6. Ebenso wird in allen Traditionen hervorgehoben, dass diese Aktion nicht eine prinzipielle Infragestellung des Tempels bzw. des Tempelkultes ausdrücken soll, sondern eine Infragestellung der aktuellen Verhältnisse und Einstellungen zu denselben (vgl. die im Rekurs auf Jes 56,7 formulierte These der synoptischen Darstellungen, dass der Tempel von seiner ursprünglichen Bedeutung entfremdet wurde). Stattdessen ist gerade der Tempelbereich ein bevorzugter Ort für die Lehrtätigkeit Jesu. Neben diesen verhältnismäßig einheitlichen Erzähltraditionen stellen sich jedoch eine Vielzahl von Fragen. Eine zentrale Frage ist z. B., ob die Aussage Jesu, dass er den vorhandenen Tempel zerstören und neu errichten wolle bzw. könne, lediglich als eine Verleumdung und falsche Unterstellung zu verstehen ist (so Mk 14,57f.; 15,29f.; Mt 26,60f.; 27,39f.; partiell auch Apg 6,14f., aber ohne die Perspektive einer Wiederauferrichtung) oder ob sie tatsächlich einen direkten bzw. indirekten Anhalt am Wirken Jesu hat (so z. B. Joh 2,19-22, demzufolge erst nach Jesu Tod verstanden werden konnte, dass Jesus von seiner eigenen Hinrichtung und Auferstehung gesprochen haben soll, bzw. EvThom 71, wo nur von der Zerstörung eines Hauses bzw. Tempels die Rede ist7). Ebenso ist unklar, wie sich die Aussagen über eine vermeintlich von Jesus durchgeführte Zerstörung des Tempels zu der Tempelprophetie verhält, welche die Zerstörung des Tempels mit den angekündigten apokalyptischen Ereignissen ver6
Dass die johanneische Erzählung im Kontrast zur synoptischen Tradition die Tempelaktion bereits zu Beginn der Tätigkeit Jesu verortet, kann als Konsequenz christologischer Aussageintentionen gedeutet werden und ist historisch kaum valide. Vgl. Johanna Rahner, „Er aber sprach vom Tempel seines Leibes“. Jesus von Nazaret als Ort der Offenbarung Gottes im vierten Evangelium, BBB 117, Bodenheim 1998, passim; Udo Schnelle, Die Tempelreinigung und die Christologie des Johannesevangeliums, in: NTS 42, 1996, 359-373. 7 Zum Verhältnis dieser Traditionen vgl. Enno E. Popkes, ,Jesus als der neue Tempel Gottes‘ (Joh 2,19), in: R. Zimmermann u.a., edd., Kompendium der Gleichnisse Jesu: eine Einführung in ihre Erforschung und Kommentierung aller frühchristlichen Gleichnisse, Gütersloh 2007, 715-722.
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bindet (Mk 13,1f.; Mt 24,1f.; Lk 21,5) und welche dieses Geschehen nicht als eine von Jesus initiierte Zerstörung zur Sprache bringt8. Letzteres geht wiederum mit der Frage einher, inwiefern die Tempelprophetie auf Jesu Wirken selbst zurück zu führen ist bzw. inwieweit es sich bei ihr um ein vaticinium ex eventu handelt, bei der die Ereignisse des jüdischen Aufstands gegen das Imperium Romanum in eine Rede Jesu zurückprojiziert werden. Auch wenn diese nur in Ansätzen zur Geltung gebrachten Fragenkomplexe im Rahmen der vorliegenden Studie nicht angemessen aufgearbeitet werden können, so kann ein Sachverhalt festgehalten werden, der für die vorliegende Fragestellung von hoher Relevanz ist. Auch für die Nachfolger Jesu bzw. für die frühsten christlichen Gemeinschaftsbildungen blieb der Jerusalemer Tempel und Tempelkult ein wichtiger Bezugspunkt. 3.
Die Haltung der frühesten Christen zum Jerusalemer Tempel und Tempelkult
Wie bereits erwähnt spielen im Kontext der neutestamentlichen Schriften Aussagen über den Jerusalemer Tempel außerhalb der Evangelientraditionen und der Apostelgeschichte nur eine geringe Rolle. Dies kann einerseits daran liegen, dass viele theologische Schulbildungen bzw. die von ihnen verfassten Texte nicht in Judäa geschweige denn Jerusalem entstanden sind und somit keine räumliche Nähe zum Tempel hatten. Andererseits existieren kaum Informationen geschweige denn schriftliche Zeugnisse von frühchristlichen Gruppierungen, für die eine regelmäßige Pilgerreise zum Tempel vor 8
Zur Frage des Verhältnisses von jesuanischen und historiographischen Traditionen in Mk 13 vgl. Eve-Marie Becker, Das MarkusEvangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006, 92f.; Albert L. A. Hogeterp, Expectations of the End: A Comparative Traditio-Historical Study of Eschatological, Apocalyptic and Messianic Ideas in the Dead Sea Scrolls and the New Testament, STJD 83, Leiden u.a. 2009, 400f.
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dessen Zerstörung während des ersten jüdischen Aufstands gegen das Imperium Romanum konstitutiv waren9. Vor allem jedoch sind viele neutestamentliche Zeugnisse in einer Zeit entstanden, in welcher der zweite Tempel in Folge des ersten jüdischen Aufstands gegen das Imperium Romanum bereits zerstört war. Diese sukzessive Marginalisierung der Bedeutung des Jerusalemer Tempels spiegelt sich eindrücklich in den entsprechenden Erzählungen des lukanischen Geschichtswerks. Dessen Autor, den ich mit der altkirchlichen Tradition Lukas nenne, hebt hervor, dass die Gemeinschaft der Nachfolger Jesu sich regelmäßig im Tempel traf. Entsprechend kann in diesem Zusammenhang der Tempel auch als ein Ort dargestellt werden, wo jene Mitglieder der innerjüdischen Erneuerungsbewegung, die sich später Christen nannten, durch Heilungen und Predigten ihre neuen Glaubensüberzeugungen propagierten (vgl. u. a. Apg 3,1-26 etc.). Selbst Paulus besucht bei seinem letzten Aufenthalt in Jerusalem den Tempel, nachdem er von dem Herrenbruder Jakobus instruiert wurde, die Einhaltung eines Gelübdes von Mitgliedern der Jerusalemer Gemeinde zu observieren (Apg 21,23f.). Auch diese Instruktionen setzen eine prinzipiell positive Haltung zum Tempel voraus10. Je stärker jedoch in der Apostelgeschichte die Spannungen zwischen den Nachfolgern Jesu und den Vertretern der etablierten religiösen Autoritäten akzentuiert werden, desto mehr tritt die Bedeutung des Jerusalemer Tempels in den Hintergrund. Im Zuge solcher sukzessiven Distanzierungen kommt es hingegen zur Ausbildung eigenständiger Hausgemeindestrukturen11. Dabei lassen sich zu9
Zu diesem Phänomen vgl. Oliver Dyma, Die Wallfahrt zum zweiten Tempel. Untersuchungen zur Entwicklung der Wallfahrtsfeste in vorhasmonäischer Zeit, FAT II/40, Tübingen 2009, 1-8. 10 Zu diesen Instruktionen vgl. Jacob Jervell, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen (17. Aufl., 1. Aufl. dieser Auslegung) 1998, 526f. 11 Zu diesen Entwicklungen vgl. Peter Wick, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen
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weilen Ansätze einer subtilen theologischen Auseinandersetzung mit diesen Distanzierungsprozessen beobachten. Das vielleicht eindrücklichste Beispiel hierfür begegnet in der Rede, die Lukas Stephanus unmittelbar vor dessen Hinrichtung halten lässt. Im Höhepunkt dieser Rede hebt der lukanische Stephanus hervor, dass Salomo dem Gott seiner Väter einen Tempel gebaut hat. In Rekurs auf Jes 66,1 konstatiert Stephanus jedoch, dass die Gegenwart Gottes nicht auf menschliche Bauwerke beschränkt werden kann. Dieses Motiv begegnet in einem völlig anderen erzählerischen Zusammenhang ein weiteres Mal, nämlich in der Areopagrede, die Lukas seinem Protagonisten Paulus in Athen in den Mund legt (Apg 17,22-31)12. In diesem Zusammenhang hebt der lukanische Paulus hervor, dass der Schöpfer der vorfindlichen Welt nicht in Tempeln wohnen würde, die von Menschen errichtet worden sind (Apg 17,24)13. Auch wenn diese These in Bezug auf die Frage der Gegenwart Gottes der zuvor erwähnten These des Stephanus entspricht, unterscheiden sie sich in Bezug auf das jeweils angesprochene Heiligtum. Während die Aussage im Rahmen der Areopagrede alle von Menschenhand errichteten Heiligtümer anspricht, bezieht sich der lukanische Stephanus konkret auf das Zentrum jüdischer Religiosität in Jerusalem. Dass hierbei eine subtile Kritik einer Tempeltheologie mitschwingt, wird deutlicher erkennbar, wenn man bedenkt, wie in der textinternen Erzähldramaturgie daraufhin die Verurteilung des Stephanus begründet wird. In diesem Zusammenhang platziert Lukas nämlich jenen brisanten Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit, BWANT 150, Stuttgart u. a. 2000, 52. 12 Zu der komplexen Fragestellung, inwieweit der Aufenthalt und die Rede des Paulus in Athen auf historische Gegebenheiten zurückgehen könnte, vgl. Vitor H. Schell, Die Areopagrede des Paulus und Reden bei Josephus. Eine vergleichende Studie zu Apg 17 und dem historiographischen Werk des Josephus, WUNT II/419, Tübingen 2016, passim. 13 Zur zentralen Bedeutung dieser These für die Aussageintention der Areopagrede vgl. Jervell, Apostelgeschichte 446f.
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Vorwurf, der in den markinischen und matthäischen Erzählungen von dem Prozess gegen Jesus erhoben wurde, den Vorwurf, dass Jesus den jüdischen Tempel zerstören wollte. Diese Tradition lässt Lukas in seinen Erzählungen von dem Prozess gegen Jesus schlicht aus. Dass er dieselbe gleichwohl kennt, lässt die Erzählung von der Verurteilung des Stephanus erkennen (Apg 6,14)14. Ebenso wie in den synoptischen Erzählungen von dem Prozess gegen Jesus wird auch in diesem Erzählzusammenhang eine Aussage von vermeintlich falschen Zeugen vorgebracht. Sie hätten von Stephanus gehört, dass Jesus ,diese Stätte‘ zerstören und die mosaischen Ordnungen verändern werde. Angesichts dessen stellt sich die Frage, in welcher Weise auch tempelmetaphorische Konzeptionen, die sich in verschiedenen frühchristlichen Traditionsbildungen beobachten lassen, entsprechende Identitätsbildungsprozesse widerspiegeln. 4.
Tempelmetaphorische Konzeptionen im frühen Christentum
Bereits zu Beginn der nachfolgenden Ausführungen zu tempelmetaphorischen Konzeptionen im frühen Christentum soll auf einen eigentümlichen Sachverhalt hingewiesen werden. Terminologisch betrachtet könnte man den Eindruck gewinnen, dass frühchristliche Reflektionen über die theologische Bedeutung des Jerusalemer Tempels und Konzepte einer frühchristlichen Tempelmetaphorik in einem engen Verhältnis zueinander stehen. Dies stimmt jedoch nur in einem eingeschränkten Maße. Die tempelmetaphorischen Konzeptionen frühchristlicher 14 Zu diesen Bezügen vgl. Michael Wolter, Die Proömien des lukanischen Doppelwerks (Lk 1,1-4 und Apg 1,1-2), in: J. Frey / C. Rothschild / J. Schröter, edd., Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, BZNW 162, Berlin u.a. 2009, 476-494: 482.
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Schulbildungen sind nicht nur in Auseinandersetzungen mit dem zeitgenössischen Jerusalemer Tempelkult entstanden. Sie basieren zu einem wesentlichen Teil auf traditionsgeschichtlichen Vorgaben, die bereits in wesentlich älteren Entwicklungsstadien alttestamentlich-frühjüdischer Theologie vorlagen. Bei diesen Traditionen geht es freilich nicht nur um die Frage einer theologischen Deutung eines Tempels bzw. eines heiligen Areals, sondern v. a. um Reflektionen über die Frage der Gegenwart Gottes, die sich v. a. im Kontext der sogenannten Schechina-Vorstellungen beobachten lassen15. An der Entwicklungsgeschichte der Schechina-Vorstellungen lässt sich ablesen, wie alttestamentlich-frühjüdische Traditionsbildungen fähig waren, religionsgeschichtliche Neuorientierungen bzw. geschichtliche Ereignisse zu verarbeiten und traditionelle Glaubensvorstellungen zu modifizieren (v. a. in Folge der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels). Auch eine Beschreibung der frühchristlichen Theologiegeschichte entbehrt wesentlicher Aspekte, wenn man die Aneignung dieses Erbes alttestamentlich-frühjüdischen Denkens nicht angemessen zur Geltung bringt. Da der Begriff ,Schechina‘ als Nominalbildung erst in frührabbinischen Zeugnissen belegt ist16, müssen die Begriffe ,Schechina-Vorstellungen‘ bzw. ,Schechina-Theologie‘ als metasprachlichen Termini verstanden werden, die nur indirekt aus biblischen Texten abgeleitet werden 15
Im Folgenden orientiere ich mich im Wesentlichen an meinen entsprechenden Ausführungen in der Studie Enno E. Popkes, Vollendete Gottesgegenwart – Anmerkungen zu den frühjüdischen Traditionshintergründen von Apk 21,1-5, in: J. Frey / F. Tóth, edd., Die Johannesapokalypse. Kontexte, Konzepte und Rezeption, WUNT 287, Tübingen 2012, 235-257. 16 Zur Begriffsgeschichte vgl. Arnold M. Goldberg, Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekhinah in der frühen rabbinischen Literatur, StJud 5, Berlin 1969, 439f.; Clemens Thoma, Art. Schekhina, in: J.J. Petuchowski / C. Thoma, edd., Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung, Freiburg u.a. 1989, 352-356; Friedrich Niewöhner, Art. Schechina, HWP 8 (1992), 1226-1230.
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können. Gleichwohl können dieselben als eine zentrale Größe biblischer Traditionsbildungen verstanden werden. Im weiteren Sinne werden hiermit Vorstellungen von der Einwohnung bzw. Gegenwart Gottes oder einer göttlichen Entität an einem bestimmten kultischen Ort bzw. in einer menschlichen Gemeinschaft gekennzeichnet17. Im engeren Sinne handelt es sich um jene Konzepte, in denen dieses Geschehen mit dem hebräischen Begriffsfeld ( שכןschāḳan) bzw. dem griechischen Äquivalent σκηνοῦν (skenoun) zur Sprache gebracht wird18. Bereits auf der Ebene der alttestamentlichen Traditionsbildungen lassen sich verschiedene Entwicklungsstadien dieser Vorstellungen beobachten, an denen sich unterschiedliche Reflexionen der theologischen Bedeutung des Jerusalemer Tempels und des Motivs der Einwohnung Gottes beobachten lassen. In den biblischen Traditionsbildungen begegnen unterschiedliche Varianten von Schechinavorstellungen, die partiell aufeinander aufbauen bzw. einander modifizieren. Inhaltlich-sachlich betrachtet können zwei Hauptkategorien von SchechinaVorstellungen unterschieden werden. Räumlich strukturierte Schechina-Vorstellungen liegen dort vor, wo von der (zeitlich begrenzt bzw. kontinuierlich gedachten) Einwohnung bzw. Gegenwart Gottes in einem kultisch qualifizierten Bereich gesprochen wird (z. B. im Jerusalemer Tempel [1Kön 8,12f.], auf dem Zion [Jes 8,18] bzw. dem ,Zelt der Begegnung‘ [Ex 40,17.34-38]). Per17 Als göttliche Entitäten sind z. B. im Zusammenhang der frühjüdischen Weisheitstheologie v. a. die personifizierte Sophia bzw. im Kontext der johanneischen Christologie der Gottessohn zu verstehen (vgl. Sir 24 bzw. Joh 1,14). 18 Der Terminus kann sowohl ein zeitlich begrenztes Lagern bzw. Zelten, ein dauerndes Wohnen, als auch den Akt des sich Niederlassens bezeichnen (vgl. Manfred Görg, Art. שכן, in: ThWAT 7 (1993], 1337-1348; Alexander R. Hulst, Art. שכן, in: 5THAT 2 [1995], 904909; Bernd Janowski, Art. Shekhina I, 4RGG 7 [2004], 1274f.). Entsprechend zum phonetisch nahe stehenden griechischen Äquivalent σκηνοῦν k.t.l. vgl. Wilhelm Michaelis, Art. σκηνοῦν, in: ThWNT 7 (1964), 386-388; Jan-A. Bühner, Art. σκηνοῦν, in: EWNT 3 (1983), 603f.
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sonal strukturierte Schechina-Vorstellungen bezeichnen demgegenüber bestimmte Menschen bzw. Menschengruppen als Ort der Gegenwart Gottes (z. B. das Motiv der Einwohnung Gottes in seinem erwählten Volk [Ez 43,7-9; Ex 25,8; 29,42-46]). Schechina-Vorstellungen waren jedoch nicht nur für jüdische Identitätsfindungsprozesse von Relevanz, sondern auch für die Entwicklungsgeschichte der frühchristlichen Theologie. Implizite Bezüge zu dem skizzierten Erbe jüdischer Glaubensvorstellungen können bei vielen neutestamentlichen Texten erkannt werden. Besonders deutlich treten dieselben bei jenen Autoren zu Tage, die offensichtlich selbst eine jüdische Sozialisation durchlebt haben. Dies soll im Folgenden an den entsprechenden Zügen der paulinischen Briefe, des Johannesevangeliums und der Johannesapokalypse erläutert werden. In 1Kor 3,16; 6,19 konfrontiert Paulus seine Adressaten in der Gemeinde zu Korinth mit der Aussage, dass sie ein Tempel Gottes sind, in dem der Geist Gottes wohnt. In diesem Zusammenhang wird freilich nicht erläutert, wie Paulus zu dieser Überzeugung kommt. Anders verhält es sich hingegen mit einer vergleichbaren These, die Paulus in 2Kor 6,16 formuliert und dabei auf das Motiv Ez 37,27 rekurriert, welches von einer sich erneuernden Einwohnung Gottes in seinem Volk handelt, die zu einer „bleibenden Anwesenheit Gottes“19 führt (vgl. Ez 37,25-28, besonders V 27a: „Bei ihnen wird meine Wohnung sein …“ [MT: ;והיה משכני יהםעלLXX: καὶ ἔσται ἡ κατασκήνωσίς μου ἐν αὐτοῖς]). Dabei gilt es zu beachten, dass die Tradition auch von einer Gotteserkenntnis nichtjüdischer Ethnien spricht, was wiederum der paulinischen Heidenmission impliziert entspricht (vgl. Ez 37,28). Gleichwohl werden die skizzierten Aspekte im Kontext der paulinischen Briefe nicht weiter entfaltet. Eine bemerkenswerte Aufnahme findet dieses Motiv jedoch 19 So Heike Braun, Geschichte des Gottesvolkes und christliche Identität. Eine kanonisch-intertextuelle Studie der Stephanus-Rede Apg 6,1-83, WUNT II/279, Tübingen 2010, 401.
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im deuteropaulinischen Epheserbrief. Der Autor dieses Briefes entfaltet die paulinische Tempelmetaphorik, indem er die Einheit der christlichen Gemeinde aus Juden und Nicht-Juden als den kontinuierlich wachsenden Tempel Gottes bezeichnet, der als Wohnstätte Gottes zu verstehen sei (vgl. Eph 2,19-22)20. Ein weiterer Autor, welcher mit den angesprochenen tempelmetaphorischen Traditionen arbeitet, ist der Verfasser des Johannesevangeliums. Dies gilt implizit bereits für jene Facetten der johanneischen Christologie, welche die Gestalt Jesu vor dem Hintergrund des Motivs der personifizierten Weisheit deuten, die bereits vor der Schöpfung der Welt bei Gott weilte (vgl. v. a. die Kernthese des Johannesprologs Joh 1,14, die als eine Klimax der Entwicklungsgeschichte der frühchristlichen Christologie verstanden werden kann: „Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns …. [καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡμῖν])21. Andererseits begegnen im Johannesevangelium 20 Dabei gilt es zu beachten, dass dieses Motiv die finale Aussage der Texteinheit Eph 2,11-22 bildet, in welcher ein, wenn nicht gar das zentrale Anliegen des Epheserbriefs zu Tage tritt. Gleichwohl findet diese bemerkenswerte Aufnahme der paulinischen Tempelmetaphorik im weiteren Spektrum der deuteropaulinischen Traditionsbildungen keine Analogie. Lediglich das Motiv des wachsenden Hauses Gottes in 1Tim 3,14 kann als eine Anspielung auf diesen Traditionshintergrund verstanden werden, dessen jüdische Provenienz jedoch im Kontrast zu Eph 2,19-22 nahezu verblasst. Vgl. hierzu Rainer Schwindt, Das Weltbild des Epheserbriefes. Eine religionsgeschichtlich-exegetische Studie, WUNT 148, Tübingen 2002, 453f. 21 Vgl. Martin Hengel, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, Tübingen 1975, 114: „Die Logoschristologie des johanneischen Prologs rund 50 Jahre nach Paulus ist ... der konsequente Schlusspunkt jener Verschmelzung des präexistenten Gottessohnes mit der traditionellen Weisheit, wobei freilich der stets von der mythologischen Spekulation bedrohte Begriff der ,Sophia‘ dem klaren ,Logos‘, dem Wort Gottes, weichen musste.“ Im Gegensatz zu früheren Entwicklungsphasen der Johannesforschung ist in der jüngeren Forschungsdiskussion weitgehend akzeptiert, dass die Komposition und inhaltlich-sachliche Gestaltung des Johannesprologs grundlegend an frühjüdisch-weisheitlichen Traditionen orientiert ist und dass dabei den entsprechenden
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eine Vielzahl expliziter tempelmetaphorischer Motive. Der vierte Evangelist verortet wesentliche Dialoge des johanneischen Jesus im Areal des Jerusalemer Tempels (vgl. v. a. Joh 7-10). Die Eigentümlichkeit dieses Phänomens tritt zu Tage, wenn man sich die johanneische Gestaltung des Tempelwortes Jesu vergegenwärtigt, die sich von allen sonstigen frühchristlichen Varianten dieser Tradition markant unterscheidet. Für die vorliegende Fragestellung ist ein Aspekt von besonderer Relevanz, an dem die johanneische Vermittlung von historiographischen Details und christologischen bzw. hermeneutischen Aussageintentionen besonders deutlich zu Tage tritt. Auf der textinternen Gesprächsebene endet die Kontroverse zwischen Jesus und seinen jüdischen Gesprächspartnern nämlich mit Joh 2,20. Die ,sogenannten‘ Juden halten Jesus in Form einer rhetorischen Frage vor, wie unrealistisch sein Anspruch sei, den in sechsvierzig Jahren erbauten Tempel in drei Tagen errichten zu können22. Schechina-Vorstellungen eine besondere Bedeutung zugestanden wird. Zu entsprechenden Diskussionsbeiträgen neutestamentlicher Provenienz vgl. u. a. Klaus Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. B. u.a. 2000, 174f.; Michael Theobald, Im Anfang war das Wort. Textlinguistische Studien zum Johannesprolog, SBS 106, Stuttgart 1983, 102f.; Otfried Hofius, Struktur und Gedankengang des Logos-Hymnus Joh 1,1-18, in: ders. / H.-Ch. Kammler, Johannesstudien, WUNT 88, Tübingen 1996, 1-23; Ulrich B. Müller, Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus, SBS 140, 1990, 40f.; Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 88f.; zu alttestamentlichen Diskussionsbeiträgen vgl. u. a. Bernd Janowski, „Ich will in eurer Mitte wohnen“. Struktur und Genese der exilischen Schekina-Theologie, in: ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1993, 119147: 145f.; Hartmut Gese, Der Johannesprolog, in: ders., Zur biblischen Theologie, Tübingen 31989, 152-201; Martin Leuenberger, Die personifizierte Weisheit vorweltlichen Ursprungs von Hiob 28 bis Joh 1. Ein traditionsgeschichtlicher Strang zwischen den Testamenten, in: ZAW 120, 2008, 366-386: 385f. 22 Diese Zeitangaben beziehen sich offensichtlich auf die herodianischen Renovierungs- und Vergrößerungsarbeiten. Vgl. Martin Hengel/
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Auf dieser Erzählebene befinden wir uns also noch in einer Kommunikation, die prinzipiell den synoptischen Korrespondenztexten entspricht. Das Tempelwort Jesu wird nämlich jeweils auf den Jerusalemer Tempel bezogen. Hierbei handelt es sich somit um ein Beispiel für das im vierten Evangelium oft zu beobachtende Phänomen einer hermeneutischen Horizontverschmelzung23, in der die nachösterliche Retrospektive der johanneischen Gemeinde und die Stilisierung der vorösterlichen Tätigkeit Jesu ineinander projiziert werden. In der Gestalt des irdischen Jesus ist zugleich der Erhöhte präsent, in den ihn begleitenden, textinternen Jüngern die nachösterliche, textexterne Gemeinde24. Entsprechend erklärt Joh 2,21 das Tempelwort Jesu jedoch als Missverständnis. In Form eines für die narrative Gestalt des Johannesevangeliums typischen Erzählerkommentars wird nämlich hervorgehoben, dass Jesus überhaupt gar nicht von dem Jerusalemer Tempel gesprochen habe, sondern von dem Tempel seines Leibes. V 22 führt die johanneische Relativierung dieses Phänomens Anna Maria Schwemer, Jesus und das Judentum, Bd.1, Geschichte des frühen Christentums 1, Tübingen 2007, 58f. 23 Vgl. entfaltet von Takashi Onuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium. Ein Beitrag zur Frage nach der theologischen und pragmatischen Funktion des johanneischen ,Dualismus‘, WMANT 56, Neukirchen-Vluyn 1984, 34f. 24 Dies korrespondiert dem von Udo Schnelle, Ein neuer Blick. Tendenzen gegenwärtiger Johannesforschung, BThZ 16, 1999, 21-40: 28f., treffend charakterisierten Selbstanspruch des Johannesevangeliums, das Christusgeschehen im Sinne einer „geistgewirkten nachösterlichen Anamnese (vgl. Joh 2,17.22; 12,26; 13,7; 20,9)“ zu reflektieren. Zum Verhältnis des Phänomens der hermeneutischen Horizontverschmelzung zur konsequent nachösterlichen Perspektive des Johannesevangeliums vgl. Christina Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84, Tübingen 1996, 27f. Für HoegenRohls, Johannes 308, erweist sich das vierte Evangelium als „eine ,Konzeption im Rückblick‘ ... , die auf nachösterlicher Einsicht basiert, sich dessen bewusst ist und beabsichtigt, die nachösterliche Erkenntnis als hermeneutischen Ausgangspunkt ihrer theologischen Deutung transparent zu machen.“
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fort, insofern nun konstatiert wird, dass die Jünger Jesu sich nach dessen Tod an jenes Wort Jesu erinnert hätten (ἐμνήσθησαν οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ ὅτι τοῦτο ἔλεγεν). Jesus selbst verkörpert somit den neuen Tempel Gottes. Die skizzierte Kernaussage der johanneischen Gestaltung der Tempelaktion entspricht auch der Aussageintention des sogenannten Lebenswasserwortes Joh 7,37f., welches auf Ez 47,1-12 rekurriert, also auf die Vision eines von Gott neu errichteten Tempels25. Während Ez 47,1-12 zufolge von jenem Heiligtum ein Wasserstrom ausgeht, der allen Lebewesen Leben und Heilung schenken wird, stilisiert Joh 7,39 Jesus als das neue Heiligtum Gottes, von dem der Strom des Lebens bzw. der Heilige Geist ausgehen soll. Während die Tempelmetaphorik des Johannesevangeliums somit vor allem christologisch orientiert ist, begegnet ein sachlich vergleichbares Motiv in der Abschlussvision der Johannesapokalypse (Apk 21/22). In diesem Zusammenhang wird hervorgehoben, dass sich die vollendete Gegenwart Gottes u. a. darin auswirkt, dass im Himmlischen Jerusalem kein Tempel mehr existiert. Stattdessen werden nun Gott und das Lamm als der Tempel bezeichnet (vgl. Apk 21,22)26. Sachlich steht dieses Motiv der Prädikation Jesu als Tempel im Johannesevangelium sehr nahe, auch wenn die Frage eines historisch-genetischen Zusammenhangs zwischen beiden Werken damit nicht eindeutig bestimmt werden kann27. 25 Zur Stellung und Funktion dieses Motivs im Gesamtzusammenhang des sogenannten „Verfassungsentwurf des Ezechiel“ vgl. Thilo A. Rudnig, Heilig und profan. Redaktionskritische Studien zu Ez 40-48, BZNW 287, Berlin u.a. 2000, 167f. 26 Ausführlich zu diesem Motiv vgl. Common L.P. Chan, Die Metapher des Lamms in der Johannesapokalypse. Eine sprach- und sozialgeschichtliche Studie, NTOA/StUNT 99, Göttingen 2016, 215f. 27 Zu den Grundproblemen der Frage eines historisch-genetischen Zusammenhangs zwischen beiden Werken vgl. Jörg Frey, Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften des Corpus Johanneum, in: M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch, mit einem Beitrag zur Apokalypse von J. Frey, WUNT 67, Tübingen 1993, 326-429.
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Es zeigt sich aber auch hier, wie kreativ frühchristliche Gemeinde- und Schulbildungen tempelmetaphorische Traditionen aufnehmen und in der Ausbildung eigenständiger Identitätskonzepte nutzen konnten.
Die Autorin und die Autoren des Bandes
Martina Böhm ist Professorin für Biblische Exegese und Frühjüdische Religionsgeschichte an der Universität Hamburg (D) Max Küchler ist emeritierter Professor für Neues Testament und Biblische Umwelt an der Universität Freiburg (CH) Christl M. Maier ist Professorin für Altes Testament an der Philipps-Universität Marburg (D) Matthias Müller ist Lehrbeauftragter für Ägyptologie an der Universität Basel (CH) Enno Edzard Popkes ist Professor für Geschichte und Archäologie des frühen Christentums an der Christian-Albrechts-Universität Kiel (D) Jörg Rüpke ist Professor für Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Erfurt (D) Günter Stemberger ist emeritierter Professor für Judaistik an der Universität Wien (A)