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German Pages 320 Year 2018
Daniel Kofahl, Sebastian Schellhaas (Hg.) Kulinarische Ethnologie
Kultur und soziale Praxis
Daniel Kofahl, Sebastian Schellhaas (Hg.)
Kulinarische Ethnologie Beiträge zur Wissenschaft von eigenen, fremden und globalisierten Ernährungskulturen
Dieser Sammelband wurde ermöglicht und gefördert durch: DGSKA – Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie DAfK – Deutsche Akademie für Kulinaristik, www.kulinaristik.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sebastian Schellhaas, Dà La.t, Vietnam, 2013 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3539-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3539-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung | 11
KULINARETHNOLOGISCHE FALLSTUDIEN Fremdes Essen, fremde Gerüche – Vegetarismus und sinnliche Exklusion in Mumbai
Pablo Holwitt | 29 Der Streit um Nudeln – Zur kulturellen Aneignung kommerzieller Nahrungsmittel in den Anden
Antje Baecker | 49 Zur Kulinarik des Emotionalen – Foodways, Grenzen des Verbundenseins und Empathie in Papua-Neuguinea
Anita von Poser | 79 Kulinarische Widersprüche – Japanische Konsumenten und die alltäglichen Herausforderungen im globalen Agri-Food-System
Cornelia Reiher | 103 Geteilte Mahlzeiten? – Überlegungen zur ‚Mediterranean Diet‘ als esskulturelle Inszenierung
Ferdaouss Adda | 125
Die Geburt des Fast Food aus dem Geist der Cuisine Moderne
Markus Kügle | 139 Gastronomical Indians – Indigene Gastronomie als kulturelle Selbstbestimmung in Kanada
Sebastian Schellhaas | 167
KULINARETHNOLOGISCHE FORSCHUNGSFELDER „Und ein Fisch hat ein Recht darauf“ – Zur sozialen Konstruktion von Fisch und deren unternehmerische Konsequenz in der Aquakultur
Tobias Lasner | 209 Über Essen, Essen und Essen – Die kulinarische Multiplizität der westkenianischen Luoküche
Mario Schmidt | 225 Ontologie in der Küche – Kulinarisches Dreieck und Grammatik der Kultur
Thomas Reinhardt | 247 Functional Food – Ernährung als fruchtbares Problem
Daniel Kofahl | 265 Drinking Skills – Ethnopotologische Forschung und Praxis im Museum
Mareile Flitsch, Maike Powroznik, Martina Wernsdörfer | 281
Autorinnen und Autoren | 311
Vorwort
Die Idee, die in diesem Band versammelten Beiträge gemeinsam zu veröffentlichen, kam im Anschluss an eine Reihe von Workshops und Tagungspanels auf, die seit der Gründung der Arbeitsgruppe Kulinarische Ethnologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV)1 im Herbst 2009 stattgefunden haben. Der Großteil der im Rahmen dieser Veranstaltungen gehaltenen Vorträge ist bislang nicht publiziert worden. Führt man sich vor Augen, wie spärlich deutschsprachige Publikationen zu kulinarethnologischen Themen sind, erschien es nur konsequent, die im Zuge der Workshops und Tagungen präsentierten Forschungsarbeiten, Hypothesen und Theorien auch in schriftlicher Form zusammenzutragen und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Erfreulicherweise ließen sich gleich mehrere Teilnehmer vergangener Veranstaltungen dafür gewinnen, ihre Vortragsmanuskripte für eine Veröffentlichung auszuarbeiten. Hinzukommen außerdem noch vier Beiträge, die nicht unmittelbar aus einer der Veranstaltungen der Arbeitsgruppe hervorgehen. So waren etwa Mareile Flitsch, in Zusammenarbeit mit Maike Powroznik und Martina Wernsdörfer, sowie
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Die DGV wurde 1929 als Dachorganisation für Völkerkundler und Ethnologen gegründet. Auf der Mitgliederversammlung am 6.10.2017 wurde die Umbenennung der DGV in Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) beschlossen.
10 | K ULINARISCHE ETHNOLOGIE
Thomas Reinhardt so großzügig, unser Interesse an ihrer Arbeit mit einem Beitragsmanuskript zu erwidern. Die beiden weiteren hinzugekommenen Beiträge von Anita von Poser und Sebastian Schellhaas stammen aus dem Vorstand der Arbeitsgruppe. Insgesamt bringt der Band mit den unterschiedlichen Beiträgen zu eigenen, fremden und globalisierten Ernährungskulturen eine Vielfalt von Perspektive, Methoden und Forschungsinteressen zusammen, von denen einige klassischerweise nicht im Feld der Ethnologie beheimatet sind. Da es sich beim Thema Kochen und Essen bekanntlich um ein vorzügliches Beispiel für ein totales gesellschaftliches Phänomen im Sinne Marcel Mauss’ handelt – also eines in dem „alle Arten von Institutionen gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck“ (Mauss 1990: 17) kommen –, erscheint uns in dieser Hinsicht ein Perspektivenpluralismus als notwendige Bereicherung kulinarethnologischen Arbeitens. Wir sind deshalb davon überzeugt, dass der Facettenreichtum dieser ersten Publikation aus dem Kreis der Arbeitsgruppe der Vielschichtigkeit der Thematik angemessen entgegenkommt und hoffen damit zugleich das Interesse am Feld der Kulinarischen Ethnologie zu fördern. Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen Unterstützern der Arbeitsgruppe sowie den Teilnehmern der vergangenen Veranstaltungen für den regen Austausch und das gemeinsame Interesse an der Etablierung einer Kulinarischen Ethnologie in der deutschsprachigen Forschungslandschaft bedanken. Wir bedanken uns zudem bei der Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) sowie der Deutschen Akademie für Kulinaristik (DAfK) für die Förderung dieses Buchprojekts. Ein weiterer Dank geht an Maiken Laackmann für die Anfertigung der in diesem Buch enthaltenen Grafiken. Daniel Kofahl und Sebastian Schellhaas
Einleitung Pas plus qu’il n’existe de société sans langage, il n’en existe aucune qui, d’une façon ou de l’autre, ne fait pas cuire certains au moins de ses aliments. (LÉVI-STRAUSS 1965)1
Die Geschichte, an die dieser Sammelband anknüpft, beginnt mit Audrey Richards’ kulinarethnologischer Pionierarbeit Hunger and Work in a Savage Tribe (1932). Es ist die Geschichte der Etablierung und Institutionalisierung einer Kulinarischen Ethnologie.2 Im Anschluss an ihre stationäre Feldforschung (1930-1931) im heutigen Sambia gelangt die britische Ethnologin und Schülerin von Bronislaw Malinowski dort zu der Feststellung, dass nicht Sexualität, sondern Ernährung der Fixstern sei, in dessen Licht die Sozialität und Kultur einer Gesellschaft zu sehen sei. Malinowski, der sich in seinem Vorwort zu Richards’ Monografie selbst als Mittäter einer übermäßigen Betonung der Rolle von Sexualität denunziert, verkündet schließlich:
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„Genauso wenig wie eine Gesellschaft ohne Sprache existiert, existiert auch keine, die nicht auf die eine oder andere Art zumindest einige ihrer Lebensmittel zubereitet.“ (Übersetzung der Herausgeber)
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Mit dem Begriff Kulinarische Ethnologie lehnen wir uns an den Titel des vorletzten
Kapitels
im
dritten
Band
von
Claude
Lévi-Strauss’
Mythologiques (1968) an: Petit traité d’ethnologie culinaire (dt. Eine kleine Abhandlung in kulinarischer Ethnologie, Lévi-Strauss 1973: 504-532).
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„In this volume Dr. Richards […] has set out on an entirely new subject: the social and cultural functions of nutritive processes. To my knowledge there is no book upon this problem published by any anthropologist, or for the matter of that by any allied discipline.“ (Richards 1932: ix)
Entsprechend bedauert er sogleich: „It is only now […] that I see, how much I missed in my own observation among the Melanesians.“ (Ebd.: xi)
Zwar hatten bereits Generationen von Ethnologen vor Richards über beispielsweise zeremonielle und rituelle Verwendungen oder religiöse Bedeutungen von bestimmten Nahrungsmitteln in verschieden gesellschaftlichen Zusammenhängen geschrieben. Die alltägliche Ernährung einer Gesellschaft für sich genommen, rückte jedoch erst mit der zunehmenden Teilnahme am alltäglichen Leben im Zuge stationärer Feldforschung in den Fokus ethnologischer Forschung. Meist verenden diese alimentären Aspekte der Feldforschung allerdings in abgewetzten Notizbüchern oder finden sich lediglich als anekdotische Zutat zwischen den Buchdeckeln ethnografischer Monografien wieder. Im besten Fall dienen Kochen, Essen und was dazu gehört als Projektionsfläche anderer soziokultureller Aspekte einer Gesellschaft. Nur in wenigen Fällen jedoch erscheinen spezifische Ernährungskulturen als Forschungsgegenstand sui generis.3 Natürlich gab es und gibt es Aus-
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Marin Trenk hält hierzu fest: „Die kulturspezifischen Foodways wurden in der Ethnologie vor allem thematisiert, wenn sie Aufschluss über andere Aspekte der Kultur versprachen. [...] Demnach interessierte nicht das ‚kulinarische Feld‘ an sich, sondern nur, wozu Essen und Trinken gebraucht werden konnten.“ (Trenk 2009) Im gleichen Ton schrieb auch Sidney Mintz, der „Father of Food Anthropology“ (Roberts 2015), wie ihn die New York Times nach seinem Tod im Dezember 2015 betitelte: „Food was an instrument for the study of other things.“ (Mintz 2005: 3)
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nahmen.4 Für einen gleichberechtigten Platz im Kanon ethnologischer Forschungsfelder (wie der Religions-, Verwandtschafts- oder Wirtschaftsethnologie) hat es für eine Kulinarische Ethnologie im deutschsprachigen Raum bislang dennoch nicht gereicht. Und das obwohl man Claude Lévi-Strauss’ Feststellung, dass es keine Gesellschaft ohne die ein oder andere Art der Nahrungszubereitung gibt, sicher nur schwer von der Hand weisen kann. Nun muss man Lévi-Strauss’ weiterführenden Gedankengang diesbezüglich nicht zwingend folgen. Nichtsdestotrotz lässt sich in Anlehnung an seine Überlegungen zum legendären Le Triangle Culinair (1965) festhalten: Die Ernährungskultur einer Gesellschaft für sich genommen zu erforschen und diese Gesellschaft dabei gleichsam durch ihre Ernährungskultur hindurch zu betrachten, kann Einsichten liefern, die anderenfalls verschleiert bleiben.
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Eine der bekannteren Ausnahmen wurde sogar lange vor Richards’ erster Monografie veröffentlicht: Bereits 1920 publiziert Frank Hamilton Cushing eine Sammlung von zuvor (zwischen 1884-1885) in The Millstone erschienenen Artikeln zur Ernährungskultur der Zuñi unter dem Titel Zuni Breadstuff. Eine andere interessante Ausnahme ist die knapp 300 Seiten umfassende Sammlung von Kwakwaka’wakw Rezepten in Franz Boas’ Ethnology of the Kwakiutl (1921: 305-601). Als weitere Beispiele für frühe kulinarethnologische Arbeiten sind neben den Publikationen von Richards (1932, 1936, 1939) zumindest Simoons (1961), Lévi-Strauss (1965, 1973: 504-532), Douglas (1972, 1979) und als interessanter Sonderling Kuper (1977) zu nennen. Darüber hinaus widmete sich die Zeitschrift Africa: Journal of the International African Institute bereits 1936 in einer Sonderausgabe dem Thema Problems of African Native Diet.
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D IE E TABLIERUNG UND I NSTITUTIONALISIERUNG EINES F ORSCHUNGSFELDES Nun gibt es auf internationaler Ebene bereits seit den späten 1960er Jahren Bestrebungen eine Kulinarische Ethnologie beziehungsweise eine anthropology of food5 in Gestalt von entsprechenden Vereinigungen zu etablieren.6 Einen, wenn man so möchte, tatsächlichen culinary turn erlebt die Ethnologie – oder Teile dessen – allerdings erst seit den 1980er Jahren. Letztlich ist es dieser Zeitraum aus dem einige der einschlägigen Standardtexte und Werke der Kulinarischen Ethnologie stammen.7 Zudem formierte sich 1985 die Association for the Study of
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Zum Zweck der rhetorischen Vereinfachung verwenden wir in dieser Einleitung die Begriffe Kulinarische Ethnologie und anthropology of food synonym. Dabei darf man nicht unerwähnt lassen, dass auch diese englischsprachige Bezeichnung eine Vereinheitlichung einer Reihe von anderen Bezeichnungen (beispielsweise culinary anthropology, food anthropology oder anthropology of food and nutrition) darstellt.
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Ein prominentes Beispiel wäre etwa das International Committee for the Anthropology of Food and Food Habits (ICAFFH), das 1968 im Anschluss an den VIII. International Congress of Anthropological and Ethnological Science (ICAES) der International Union of Anthropological and Ethnological Sciences (IUAES) in Tokyo, gegründet wurde. Das ICAFFH organisierte bereits Anfang der 1970er Jahre zwei Konferenzen in Lund, Schweden (1970), und Helsinki, Finnland (1973). Aus den Panels der ICAFFH im Zuge des darauffolgenden IX. ICAES (1974) in Chicago ging zudem ein von Margaret L. Arnott herausgegebener Sammelband hervor: Gastronomy (1975). Im gleichen Zeitraum, 1974, wurde schließlich auch die bis heute fortbestehende Society for the Anthropology of Food and Nutrition (SAFN, www.foodanthro.com; vormals Council on Nutritional Anthropology, CNA) gegründete.
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Siehe beispielsweise Appadurai (1981, 1986, 1988), Goody (1982), Harris (1985), Mintz (1985) und andere.
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Food and Society (ASFS), die bis heute eines der aktivsten Organe in diesem Bereich in Hinsicht auf Vernetzung und Publikationen darstellt.8 Darüber hinaus erschien kurz darauf, 1986, die erste Ausgabe von einem der einflussreichsten Zeitschriften im Bereich der Kulinarischen Ethnologie: Food and Foodways. Explorations in the History and Culture of Human Nourishment. Das wachsende Interesse an Fragen der Aneignung und Ablehnung von kulturellen Einflüssen im Kontext zunehmender globaler Vernetzung mag ein Grund dafür sein, dass spezifische Ernährungskulturen verstärkt in den Fokus ethnologischer Forschung rückten. Im Anschluss an die zwischenzeitlich etablierten Vereinigungen und Publikationsorgane begann sich dieses gesteigerte Interesse um die Jahrtausendwende in den USA, Großbritannien und Frankreich in der Entstehung von Institutionen, Forschungs- und Studienprogrammen niederzuschlagen, die sich zum Teil explizit kulinarethnologischer Forschung oder aber dem weiter gefassten Feld der Food Studies widmen.9 Ohne an dieser Stelle hinsichtlich der Chronologie und Demographie der Institutionalisierung des kulinarethnologischen Forschungsfeldes ins Detail zu gehen, kann man festhalten: Trotz der wachsenden
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http://www.food-culture.org/.
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Da kulinarethnologische Forschungen einen wesentlichen Bestandteil des umfassenderen Feldes der Food Studies darstellen, gäbe es eine Vielzahl an Institutionen, die genannte werden müssten. Eines der prominenteren Beispiele in den USA wäre etwas das Department of Nutrition, Food Studies, and Public Health an der New York University Steinhardt School of Culture, Education, and Human Development. In Großbritannien gibt es in London an der School of Oriental and African Studies (SOAS) seit 2007 ein Anthropology of Food MA-Programm sowie das SOAS Food Studies Centre (https://soas.ac.uk/foodstudies/). Außerdem gibt es in Frankreich das 2000 in Straßburg gegründete (heute in Tours) European Institute for the History and Cultures of Food (http://iehca.eu/en/home) und in Belgien seit 2003 an der Vrije Univeriteit Brussel die Forschungsgruppe FOST: Social and Cultural Food Studies (http://research.vub.ac.be/food-history).
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akademischen Aufmerksamkeit gegenüber Ernährungskulturen beziehungsweise der Rolle des Kochens und Essens für die Geschichte, Gegenwart und Zukunft menschlicher Gemeinschaften, fristet die Kulinarische Ethnologie an Universitäten im deutschsprachigen Europa nach wie vor ein stiefmütterliches Dasein. Zwar gibt es vereinzelt Dozenten und Professoren, die entsprechende Seminare anbieten oder sogar Schwerpunkte innerhalb ihrer Lehrtätigkeit setzen.10 Allerdings existiert unserer Kenntnis nach bislang lediglich am Institut für Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt ein tatsächlicher Schwerpunkt Kulinarische Ethnologie. Etabliert wurde dieser Schwerpunkt von Prof. Dr. Marin Trenk. So finden in Frankfurt seit 2007 regelmäßig Vorlesungen, Seminare und Projektseminare11 sowie vereinzelt Vorträge zur Kulinarischen Ethnologie in den Kolloquien des Instituts statt. Trenk und das Frankfurter Institut für Ethnologie scheinen damit eine Ausnahme geschaffen und zugleich ein Exempel für zukünftige Entwicklungen statuiert zu haben. Ein wichtiger Bestandteil dieser zukünftigen Entwicklungen besteht in jedem Fall darin, den akademischen Austausch innerhalb der bislang wenig vernetzten deutschsprachigen kulinarethnologischen
10 So wurden etwa in den letzten zehn Jahren an verschiedenen deutschen Universitäten Lehrveranstaltungen zur Kulinarischen Ethnologie angeboten. Einige Beispiele hierfür sind: Einführung in die Ernährungsethnologie an der Universität Heidelberg und Kulinarische Ethnologie an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg jeweils im Wintersemester 2009/2010, Ethnologie der Nahrung an der Universität zu Köln im Wintersemester 2013/2014, Ökologische Ernährungsethnologie an der Universität KasselWitzenhausen im Wintersemester 2014/15 und Kulinarische Ethnologie an der Universität Bayreuth im Sommersemester 2015. 11 Dabei handelt es sich um Veranstaltungen, die von einer ersten Einführung in das Themenfeld, über die Ausarbeitung und praktische Umsetzung eigener (kulinarethnologischer) Forschungsprojekte über vier Semester hinweg bis zur Ausarbeitung der eigenen Forschungsarbeit in einer Abschlussarbeit führen.
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Forschungsgemeinschaft zu fördern. Ein Blick auf die Entwicklung auf internationaler Ebene macht indessen deutlich, dass die Bildung von Vereinigungen, Plattformen12 und Publikationsorganen13 nicht nur zur Formierung eines akademischen Diskurses, sondern schlussendlich zur institutionellen Etablierung kulinarethnologischer Forschung beitragen. Der Aufruf zur Gründung der Arbeitsgruppe Kulinarische Ethnologie (Trenk 2009) im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV)14 sowie die anschließende Gründung und ein erster Workshop der Arbeitsgruppe im Zuge der 33. Jahrestagung der DGV im Oktober 2009 in Frankfurt am Main sind wichtige Schritte entlang dieser Linie. Der nächste Schritt wäre nun, dieses wachsende Netzwerk nach internationalem Vorbild zu festigen – das heißt, Plattformen zu bieten, die Publikation kulinarethnologischer Forschung zu befördern sowie die transdisziplinäre Kooperation mit weiteren Akteuren auf dem Feld der Ernährungskulturwissenschaften auszubauen. Nun ist die Erkenntnis, dass zentralisierende Vernetzungs- und Publikationsorgane eine wichtige Rolle bei der Etablierung eines Forschungsfeldes spielen, alles andere als neu. Das zeigt nicht zuletzt der Aufruf zur Gründung eines „ethnoculinary journal“ von Robert L. Freedman, Wanted: A Journal in Culinary Anthropology (1968), in einer der größten akademischen Zeitschriften im Bereich der Kulturwissenschaften, Current Anthropology, Ende der 1960er Jahre (ebd.: 63). Nichtsdestotrotz, sollte es noch einige Jahre dauern, bis Freedmans Aufruf Gehör fand. Drei der bekannteren Beispiele für Zeitschriften, in denen seit den 1980er Jahren regelmäßig einschlägige Ar-
12 Beispielsweise Webseiten mit zentralisierten Informationen zu Veranstaltungen, Konferenzen, Publikationen, Stellenausschreibungen, Forschungstrends und mehr sowie entsprechende Newsletter und Mailinglisten. 13 Beispielsweise Zeitschriften, Webjournals, Buchreihen, Themenhefte (engl. special issues) oder Ähnliches. 14 Auf der Mitgliederversammlung der DGV am 6.10.2017 wurde die Umbenennung in Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) beschlossen.
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tikel zu kulinarethnologischen Forschungsthemen gesammelt veröffentlich werden, sind das bereits erwähnte Journal Food and Foodways (vierteljährlich, seit 1986) sowie Food, Culture & Society: An International Journal of Multidisciplinary Research (vierteljährlich, 1996 als The Journal for the Study of Food and Society gegründet, herausgegeben von ASFS) und das Webjournal The Anthropology of Food (jährlich, seit 1999, https://aof.revues.org/). Hinzu kommen unzählige Publikationen in Form von Monografien und Artikeln sowie umfassende Sammelbände und Textbücher, die Schlüsseltexte aus verschiedensten Bereichen und Epochen für den Einstieg in das Feld der Kulinarischen Ethnologie allgemein, aber auch in Hinsicht auf theoretische oder regionale Schwerpunkte kulinarethnologischer Forschung zusammenbringen.15 Diesbezüglich vergleichbare akademische Zeitschriften, Standardwerke, Einführungen oder Textbücher aus der deutschsprachigen kulinarethnologischen Forschungsgemeinschaft sucht man jedoch vergebens.16
15 Beispiele in Hinsicht auf diesbezügliche Sammelbände und Textbücher wäre etwas Lenz (1999, in Teilen bereits 1991 als Themenheft in Food and Foodways erschienen), Counihan und Van Esterik ([1997] 2013) und Crowther (2013). Aus dem Feld der Food Studies sind gerade zur methodischen Einführung Belasco (2008) und für einen Überblick über themenspezifische Problemstellungen (beispielsweise Philosophie des Essen, Essen und Gender, Essen und Tourismus, Essen und Rassismus etc.) und entsprechende Literaturliste Albala (2013) zu empfehlen. 16 Am ehesten einem Standartwerk zur generellen Einführung gleichkommen würde sicherlich eine erst kürzlich erschienene Publikation von Marin Trenk: Döner Hawaii. Unser Globalisiertes Essen (2015). Ein anderes, jedoch weniger ethnografisches als theoretisches Beispiel für eine umfassende Auseinandersetzung mit den Grundzügen kulturwissenschaftlicher Nahrungsforschung wäre Eva Barlösius’ Soziologie des Essens. Eine sozialund kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung ([1999] 2011).
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D ER S AMMELBAND
UND DIE
B EITRÄGE
Dieser Sammelband hat nicht zum Ziel, die große Lücke, die in Bezug auf die Kulinarische Ethnologie im deutschsprachigen Raum besteht, im Alleingang zu schließen.17 In den folgenden Kapiteln geht es darum, einen Einblick in das vielschichtige Spektrum und die Diversität der Themenbereiche, Ansätze und Forschungsmethoden zugeben, die in der wachsenden Forschungsgemeinschaft der deutschsprachigen Kulinarischen Ethnologie in und im Umfeld der Arbeitsgruppe diskutiert werden. Wir haben deshalb ganz bewusst davon abgesehen, die einzelnen Beiträge zu einem thematisch kohärenten Ganzen in Form zu pressen. Stattdessen sind die zwölf Kapitel in zwei formale Blöcke gegliedert: Der erste Block, Kulinarethnologische Fallstudien, befasst sich mit Forschungsarbeiten zum urbanen Indien, den peruanischen Anden, Papua-Neuguinea, Japan, dem Mittelmeerraum, professionellen Küchen und dem indigenen Kanada. Der zweite Block, Kulinarische Forschungsfelder, bietet darüber hinaus eine Reihe von Reflexionen zu theoretischen Aspekten der ethnologischen und im weiteren Sinn kulturwissenschaftlichen oder auch musealen Auseinandersetzung mit
17 Man darf auch nicht unerwähnt lassen, dass es auch ohne einführende Standardwerke, Textbücher oder Sammelbände, eine ganze Reihe deutschsprachiger Veröffentlichungen im Bereich der Kulinarischen Ethnologie gegeben hat. Ein wichtiges Beispiel stellte etwa der Aufsatz Lob des einfachen Mahls (1993) des Bayreuther Ethnologen Gerd Spittler dar, der in englischer Übersetzung in Lenz (1999) erschienen ist. Zudem haben in der Volkskunde oder europäische Ethnologie bereits seit Anfang der 1970er Jahre Autoren wie Günter Wiegelmann die Frage nach einem kanonisierten Zugang und entsprechenden Analysewerkzeugen zur „ethnologischen Nahrungsforschung“ gestellt (Wiegelmann 1971). Auch nicht unerwähnt lassen darf man an dieser Stelle Gunther Hirschfelders Arbeiten zur historischen Entwicklung von Ernährungs- und Trinkkulturen. Siehe hierzu Hirschfelder (2001) und Hirschfelder und Trummer (2016).
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spezifischen Ernährungskulturen sowie dem Verhältnis von Essen, Menschen und Gesellschaft im Allgemeinen. Im ersten Beitrag Fremdes Essen, fremde Gerüche. Vegetarismus und sinnliche Exklusion in Mumbai von Pablo Holwitt geht es um das Ineinandergreifen von Essensgerüchen, Bürgerrechten und Distinktionspraktiken entlang der Achse hinduistischer Ernährungstabus im Kontext urbaner Transformationsprozesse in Indien. Während bei Holwitt das Konfliktpotential von Gerüchen im Vordergrund steht, befasst sich Antje Baecker in Der Streit um Nudeln. Zur kulturellen Aneignung kommerzieller Nahrungsmittel in den Anden mit den innergesellschaftlichen Konflikten zwischen Generationen und Gruppen, die der Modernisierung des Alltagslebens in Gestalt kommerzieller Nahrungsmittel auf unterschiedliche Art begegnen. Im darauffolgenden Beitrag Zur Kulinarik des Emotionalen. Foodways, Grenzen des Verbundenseins und Empathie in Papua-Neuguinea widmet sich Anita von Poser ebenfalls einer kulinarethnologischen Perspektive auf innergesellschaftliche Konflikte. Anhand einer detailreichen ethnografischen Fallstudien aus Papua-Neuguinea, zeigt von Poser, wie positive und negative Grenzen des Verbundenseins beziehungsweise gesellschaftliche und familiäre Konflikte kulinarisch markiert, artikuliert und manipuliert werden können. In Ihrem Beitrag Kulinarische Widersprüche. Japanische Konsumenten und die alltäglichen Herausforderungen im globalen AgriFood-System richtet Cornelia Reiher den Blick auf die Rolle hegemonialer Diskurse über den richtigen Lebensmittelkonsum im Zuge von Entscheidungsprozessen japanischer Konsumenten beim Lebensmitteleinkauf. Der Fokus liegt dabei auf dem zunehmenden Spannungsfeld von propagierter oder inszenierter Japanizität von Lebensmitteln und Ernährungskultur auf der einen und der Integration und Abhängigkeit Japans vom globalen Agri-Food-System auf der anderen Seite. Die Frage der Inszenierung beschäftigt auch Ferdaouss Adda. Anhand einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Mediterranen Küche und einem Exkurs zur New Nordic Cuisine wagt Adda in Geteilte Mahlzeiten? Überlegungen zur ‚Mediterranean Diet‘ als esskulturelle Insze-
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nierung einen kritischen Blick auf die Mechanismen der sozialen Konstruktion kulinarischer Etikettierungen. Eine ähnliche Perspektive nimmt auch Markus Kügle in seinem Beitrag Die Geburt des Fast Food aus dem Geist der Cuisine moderne ein, wenn er die Black Boxen der Systemgastronomie und Haute Cuisine durchleuchtet und dort mit Vermengungen und Vermischungen überrascht, wo man Eindeutigkeiten erwartet. Im letzten Abschnitt dieses ersten Blocks zu Kulinarethnologische Fallstudien bleibt Sebastian Schellhaas beim Thema der professionellen Küche. In Gastronomical Indians. Indigene Gastronomie als kulturelle Selbstbestimmung in Kanada skizziert Schellhaas die Grundzüge einer Kulturgeschichte der gastronomischen Professionalisierung indigener Foodways und verweist damit auf die identitätspolitische Bedeutung indigener Gastronomie im siedlerkolonialen Kontext Kanadas. Der zweite Block, Kulinarische Forschungsfelder, beginnt mit einem Beitrag zu den Möglichkeiten einer Soziologie der Fischwirtschaft. In „Und ein Fisch hat ein Recht darauf“. Zur sozialen Konstruktion von Fisch und deren unternehmerische Konsequenz in der Aquakultur richtet Tobias Lasner seinen Blick insbesondere auf die kulturökologischen Perspektiven der Fischwirte auf Fisch und die Auswirkung der damit einhergehenden Sinnzuschreibungen auf die Unternehmung Aquakultur. Im Kontrast mit dem darauffolgenden Beitrag Über Essen, Essen und Essen. Autoethnographisches zur kulinarischen Multiplizität der Luoküche von Mario Schmidt wird der ganze Facettenreichtum kulinarischer Forschungsfelder greifbar. Schmidt analysiert dort die alltägliche Mahlzeit der westkenianischen Luo als zugleich „beschreibbaren Teil, ontologische Voraussetzung und epistemologisches Modell der Wirklichkeit“. Thomas Reinhardt und Daniel Kofahl befassen sich in Ihren Beiträgen mit theoretischen Grundlagen kulinar(ethnolog)ischer Forschung. Reinhardt erläutert in Ontologie in der Küche. Kulinarisches Dreieck und Grammatik der Kultur die Hintergründe eines kulinarethnologischen Klassikers von Claude Lévi-Strauss. Kofahl führt in Functional Food. Ernährung als fruchtbares Problem mittels eines
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formtheoretischen Analysekalküls in eine alimentäre Ethnosoziologie ein, in der Essen und Trinken als basales Letztelement soziokultureller Organisation verstanden wird. Der Sammelband schließt daraufhin mit einem Rückblick auf eine Ausstellung zum Thema Trinkkulturen am Völkerkundemuseum der Universität Zürich (VMZ). Gleich einem Degistif lassen Mareile Flitsch, Maike Powroznik und Martina Wernsdörfer den Band in Drinking Skills. Ethnopotologische Forschung und Praxis im Museum mit einer Einführung in das Feld der Ethnopotologie (lat. potare = trinken) ausklingen. Die Vielfalt der Beiträge, die von klassischen ethnografischen Fallstudien bis zu den Grundagen einer Wissenschaft von eignen, fremden und globalisierten Ernährungskulturen reicht, spiegelt die transdisziplinäre Arbeitsweise der Arbeitsgruppe Kulinarische Ethnologie wieder.18 Schließlich lassen sich das Essen und Trinken sowie die darum gelagerten Prozesse und Phänomene nicht nur als Mauss’sches Totalphänomene, sondern ebenso als multifaktorielle Mehrebenenphänomene beschreiben. So sind es, wie man mit Anlehnung an Georg Simmel (1910) sagen kann, eben nicht nur alle möglichen Individuen und gesellschaftlichen Gruppen, die bei der gemeinsamen Mahlzeit zusammenkommen und sich vergemeinschaften können. Es sind zudem die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen, Forschungsansätze, Methoden und Methodologien, die sich bei der Beobachtung und Beschreibung des Kulinarischen begegnen und gegenseitig fruchtbar ergänzen. Sie helfen einander dabei, dasjenige besser zu verstehen, was den Menschen zwar das Gemeinsamste (Simmel 1910), in vielerlei Hinsicht aber fremd geblieben ist: das Essen und Trinken.
18 Die Kooperation der Arbeitsgruppe beschränkt sich nicht nur auf benachbarte Gesellschafts- und Kulturwissenschaften. So hat beispielsweise der Mainzers Polymerphysikers Thomas Vilgis seine Arbeiten im Zusammenhang mit dem kulinarischen Dreieck von Levi-Strauss (siehe hierzu Vilgis 2012) im Rahmen eines Workshops der Arbeitsgruppe vorgestellt.
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Kulinarethnologische Fallstudien
Fremdes Essen, fremde Gerüche Vegetarismus und sinnliche Exklusion in Mumbai P ABLO H OLWITT 1
E INLEITUNG Essen und speziell Essensgerüche haben eine enorme Bedeutung für Fragen von Bürgerrechten und Praktiken der Distinktion im Kontext umkämpfter Prozesse von Stadttransformation in Indien. Basierend auf Daten, die im Rahmen einer 14-monatigen Feldforschung in Mumbai erhoben wurden, eruiert dieser Beitrag Bedeutungen von Ernährungspraktiken und Essensgerüchen für die Vergabe von Wohnraum in neuen Gebäuden, die aus aktuellen Prozessen von Stadtumbau hervorgehen. Speziell über die Distinktion zwischen vegetarischer oder nichtvegetarischer Ernährungsweise wird der Zugang zu Wohnraum reguliert, was entscheidende Folgen für die Bedingungen der Ausübung des Rechts auf Wohnraum in indischen Städten hat. Anhand dieses empirischen Kontextes arbeitet der Beitrag die in Studien aus dem Feld der Anthropologie der Sinne oft thematisierte Relevanz von (Essens-)Geruch für Konflikte in urbanen Räumen genauer heraus. Er
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Pablo Holwitt, M. A., Institut für Ethnologie der Universität Leipzig, [email protected]
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kommt so Forderungen nach einer Verbindung von Ansätzen der Anthropologie der Sinne und der Anthropologie von Essen nach (Sutton 2010) und unterstreicht die zentrale Rolle des Körpers für das Feld der Kulinarischen Ethnologie. Dieser Beitrag baut auf Studien auf, welche Prozesse von Stadterneuerung als eine sinnliche Reorganisation urbanen Raumes verstehen (Montserrat Degen 2008). Er argumentiert, dass ästhetische Urteile und der Zugang zu Bürgerrechten nicht voneinander abstrahiert werden können, um Konflikte um Gerüche nichtvegetarischen Essens im Kontext von Prozessen der Stadterneuerung in Mumbai zu verstehen. Der Text ist hierzu in drei Abschnitte gegliedert: Zunächst präsentiere ich eine Vignette aus meiner Feldforschung, welche die besondere Bedeutung von Essensgerüchen im Kontext von Stadterneuerung in Mumbai illustriert. Anschließend wird dieses Beispiel im Feld von Studien zu der Bedeutung von Vegetarismus in südasiatischen Gesellschaften, sowie Studien zu sinnlicher Distinktion und olfaktorischen Konflikten in Städten verortet. Hierbei kommt insbesondere einer Unterscheidung zwischen Effekt und Affekt sinnlicher Exklusion Bedeutung zu. Im letzten Abschnitt wird schließlich unter Anwendung des Konzeptes des sensory citizenship (Trnka et al. 2013) die Relevanz ästhetischer Urteile für die Ausübung von Bürgerrechten untersucht.
E SSENSGERÜCHE AUF W OHNRAUM
UND
ANSPRUCH
Die immense Bedeutung von Essensgerüchen für Anspruch auf Wohnraum erlebte ich zum ersten Mal als ich von Bewohnern eines neugebauten Gebäudes im Süden Mumbais zum Abendessen eingeladen wurde. Es wurde tandoori chicken serviert, das von meinen Gastgebern in einem nahegelegenen nichtvegetarischen Restaurant gekauft worden war. Meine Gastgeber gehörten der hinduistischen Kaste der Brahma-
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nen an, die traditionell mit vegetarischen Ernährungsgewohnheiten identifiziert wird.2 Nichtsdestotrotz pflegte diese Familie oft Hühnerund Lammfleischgerichte zu essen. Der Fleischgenuss war einerseits von enormer Vorfreude begleitet, andererseits waren meine Gastgeber sichtlich angespannt. Sie befürchteten, dass der strenge Geruch des Essens von ihren Nachbarn wahrgenommen werden könnte. Die meisten ihrer Nachbarn waren Angehörige der Jain-Religion, welche besonders strenge Ernährungsregeln befolgen und Fleischkonsum kategorisch ablehnen. Nichtvegetarisches Essen war offiziell verboten in diesem Gebäude. Nachdem das Essen in einer Tasche an den Sicherheitsleuten am Eingang vorbeigeschmuggelt worden war, musste es über den Fahrstuhl in die Wohnung gebracht werden. Da sich der Essensgeruch auch danach noch im Fahrstuhl hielt, sprühten meine Gastgeber Parfüm in diesen, um den kontroversen Geruch zu verschleiern. Sie teilten mir mit, dass sie dies jedes Mal tun, wenn sie nichtvegetarisches Essen mit nach Hause bringen, um keine Geruchsspuren zu hinterlassen, die ihren heimlichen Konsum verraten könnten. Es handelte sich um eine vielfach erprobte Praxis, da sie aus Gewohnheit einen Tag am Wochenende für ein nichtvegetarisches Abendessen reserviert hatten. Wenngleich sie im Falle einer Enttarnung nicht mit einem umgehenden Verlust ihrer Wohnung rechneten, fürchteten sie diverse subtilere Exklusionspraktiken, insbesondere die Verweigerung des Essenstauschs durch Nachbarn. Sie teilten mir mit, dass solche Formen sozialer Isolation und Ächtung enorm kränkend wirken und so langfristig ebenfalls einen Wegzug aus dem Gebäude nötig machen könnten. Das Gebäude, in dem die Familie wohnte, war aus einem Redevelopment-Projekt entstanden. Redevelopment bezeichnet den Abriss von Slums und alten Gebäuden im Stadtzentrum Mumbais, die als
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Es gibt allerdings Ausnahmen: Brahmanen in Kashmir, Punjab und Bengal befolgen etwa keine vegetarischen Ernährungsregeln (Roy 2006).
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chawls3 bezeichnet werden, und die anschließende Neuerrichtung von Hochhäusern an selber Stelle (Abb. 1). Die gesetzlichen Rahmenbedingungen von Redevelopment garantieren alten Bewohnern das Recht auf kostenlose neue Wohnungen in den Hochhäusern, allerdings nicht in den als resell bezeichneten, zusätzlich errichteten Luxusapartments, welche ausschließlich an Vegetarier verkauft werden, sondern in qualitativ minderwertigeren, als rehab bezeichneten Wohnbereichen. Diese inoffiziell etablierte Praxis wird damit begründet, dass Gerüche nichtvegetarischen Essens für die besonders kaufkräftige Gemeinschaft der Jains in Mumbai, welche die große Mehrheit der Bewohner der resellBereiche stellt, inakzeptabel seien. Wenngleich die rechtliche Grundlage dieser Exklusivierung von Wohnraum auf Basis von Ernährungsweisen oftmals in Frage gestellt wurde (Bharucha 2002), ist sie dennoch eine geduldete Praxis im Kontext von Redevelopment. Diese Exklusionspraktiken auf Basis von Ernährung und Essensgerüchen haben eine lange Geschichte in indischen Städten. In seiner Studie zur Etablierung von Apartmentwohnungen in der Bombayer4 Nachbarschaft Matunga zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellt der Historiker Nikhil Rao etwa fest, dass in den eng aneinandergrenzenden Apartmentwohnungen die Gerüche nichtvegetarischen Essens zu einem zentralen Streitpunkt zwischen Bewohnergruppen wurden. Angehörige vegetarischer Gemeinschaften weigerten sich, mit Angehörigen nichtvegetarischer Gemeinschaften zusammenzuleben und gründeten eigene Wohngesellschaften (engl. housing societies). Verschiedene Arten der Essenszubereitung wurden so zur entscheidenden Grenzlinie zwischen ethnisch-religiösen Gemeinschaften in der Stadt (Rao 2013a: 182).
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Chawls sind in der Regel zwei- bis dreistöckige Wohnkomplexe, die zur Kolonialzeit in Mumbais Stadtzentrum errichtet wurden, mittlerweile teilweise über 100 Jahre alt sind und mehrheitlich seit mehreren Generationen von denselben Familien bewohnt werden (Adarkar 2011).
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Der Name der Stadt wurde 1995 von Bombay zu Mumbai geändert.
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Abbildung 1: Chawl-Redevelopment in Südmumbai: Im Vordergrund sind die gemeinhin als chawls bezeichneten Mehrparteienwohnhäuser in Mumbais historischer Altstadt zu sehen, im Hintergrund ein aus einem Redevelopment-Projekt entstandenes Hochhaus.
Quelle: Pablo Holwitt
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Hierbei stellt sich die Frage, ob es sich bei der Exklusivierung von Wohnraum für Angehörige vegetarischer Gemeinschaften um eine (illegale) Form von Diskriminierung auf Basis von Religions- und Kastenzugehörigkeit handelt oder um eine (legale) Beschränkung der Bewohnerprofile durch die jeweilige Wohngesellschaft. Gerichtliche Beschlüsse zu dieser Frage sind widersprüchlich: Eine entsprechende Klage vor dem obersten Gericht Indiens scheiterte im Jahr 2005. Das Gericht argumentierte damals, dass Personen, die in eine Wohngesellschaft eintreten, die Regeln der jeweiligen Gesellschaft anzuerkennen hätten (Rao 2013b: 432-433). Dieses Urteil gilt seitdem als Präzedenzfall und hat die Beschränkung von Wohnraum auf Basis der Zugehörigkeit zu ethnisch-religiösen Gemeinschaften praktisch legalisiert (Abb. 2). Abbildung 2: Werbeplakat für ein Wohnungsbauprojekt in Mumbai. Links oben im Bild ist der Schriftzug „Veg only“ erkennbar, welcher verdeutlicht, dass lediglich Vegetarier als Bewohner akzeptiert werden.
Quelle: Sachin Deshpande
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K ASTE , R EINHEIT
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V EGETARISMUS
Es liegt nahe, diese Praktiken als Form von Diskriminierung auf Basis von Kastenzugehörigkeit zu verstehen. Vegetarismus stellt für viele Hindus eine Voraussetzung für die Bewahrung ritueller Reinheit dar und Essgewohnheiten sind oftmals streng reguliert. Speziell Angehörige niederer hinduistischer Kasten und religiöser Minderheiten, wie etwa Muslime und Christen, werden in Indien mit einer nichtvegetarischen Ernährung verbunden, während Angehörige der Jain-Religion und höherer hinduistischer Kasten gemeinhin als Vegetarier gelten (Roy 2006). Wenngleich Praktiken der Transgression dieser Essensregeln an der Tagesordnung sind – wie das zuvor angeführte Beispiel5 aus meiner Feldforschung verdeutlicht – sind Angehörige vegetarischer Gemeinschaften darauf bedacht den Anschein einer strikt vegetarischen Ernährung zu wahren, um die Grundlage ihrer Privilegien nicht zu gefährden und sozialer Ächtung zu entgehen. Besonders Vertreter der niederen hinduistischen Kasten deuten das Verbot von nichtvegetarischem Essen daher als eine Form von Kastendiskriminierung mit anderen Mitteln. Die Exklusion von nichtvegetarischem Essen stellt für sie in erster Linie ein Mittel zur Exklusion von Muslimen und unteren Kasten durch Angehörige höherer Kasten und vegetarischer Gemeinschaften dar; ein Mittel, Kastendiskriminierung zu betreiben, ohne explizit Kaste und Religion zur Grundlage diskriminierender Praktiken zu machen und dadurch Proteste zu provozieren. Auch in anderen Bereichen fühlen sich Angehörige niederer hinduistischer Kasten und religiöser Minderheiten durch die Schaffung rein vegetarischer Räume in indischen Städten zunehmend marginalisiert. So führen etwa in zahlreichen Nachbarschaften Mumbais Vegetariergruppen Kampagnen für die Schließung nichtvegetarischer Restaurants
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Weitere Beispiele von Angehörigen vegetarischer Gemeinschaften, welche regelmäßig offizielle Essensnormen übertreten, finden sich etwa in den Arbeiten von Veronique Benei (2008: 202), Ajay Gandhi (2013: 200) und Parvis Ghassem-Fachandi (2012: 158).
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(Vohra 2004). Ein Verbot von nichtvegetarischem Essen in der Kantine der Redaktion einer bekannten indischen Zeitung im April 2014 löste wütende Proteste von Vertretern der unteren Kasten aus, welche darin eine Form von Diskriminierung auf Basis von Kastenzugehörigkeit sahen (Gorringe und Karthikeyan 2014). Diese Lesart wurde auch von zahlreichen chawl-Bewohnern, mit denen ich sprach, unterstützt. Die meisten chawl-Bewohner gehören nichtvegetarischen Gemeinschaften an und erhalten deshalb keinen Zugang zu den luxuriösen Apartments in den resell-Bereichen neuer Hochhäuser. Sie beklagen eine Dominanz von Angehörigen der JainReligion in der Vergabe von Wohnraum und kritisieren diese Praxis als Trick, um anderen Gemeinschaften den Zugang zu den begehrten neuen Wohnräumen im Stadtzentrum zu verwehren. So erzählte mir etwa ein Junge aus einem chawl empört die Geschichte des aus Maharashtra stammenden Cricket-Stars Sachin Tendulkar, dem aufgrund seiner, aus seinem Nachnamen abgeleiteten nichtvegetarischen Ernährungsgewohnheiten von einem Bauherrn versagt wurde, eine Wohnung in einem neu errichteten Hochhaus zu kaufen. Dieses Gerücht kursierte unter vielen chawl-Bewohnern und galt ihnen als Beweis, dass Gujaratis und Marwaris6 die vornehmlich aus Maharashtra stammenden chawlBewohner mittels der Exklusivierung von Wohngebäuden für Vegetarier aus der ihnen angestammten Nachbarschaft zu vertreiben suchen. Die politische Brisanz dieser Auseinandersetzung wird zudem dadurch verstärkt, dass verschiedene Parteien mit Verweis auf die Exklusion von Nichtvegetariern wiederholt den schleichenden Verfall des kosmopolitischen Charakters der Stadt beklagt und dies als Argument gegen die Kommunalregierung Mumbais eingesetzt haben (Mahamulkar 2014). Zweifellos bietet die Regel zur Exklusion von nichtvegetarischem Essen Angehörigen höherer hinduistischer Kasten und Mitgliedern der
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Die in Südmumbai wohnenden Jains stammen vornehmlich aus den Bundesstaaten Gujarat und Rajasthan. Letztere sind in Mumbai vor allem unter der Bezeichnung Marwaris bekannt.
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Jain-Religion eine Möglichkeit auf eine weniger kontroverse Art und Weise Angehörigen religiöser Minderheiten und niederer Kasten den Zugang zu den begehrtesten Wohnräumen der Megastadt zu verwehren. In der Tat sind nicht Essgewohnheiten das entscheidende Kriterium für den Zugang zu Wohnraum, sondern die Zugehörigkeit zu einer als vegetarisch angesehenen Gemeinschaft. Die Familie, bei der ich eingeladen war, aß regelmäßig nichtvegetarische Gerichte in ihrem resell-Apartment, jedoch auf heimliche Art und Weise. Solange ihre Nachbarn nichts von ihrem Konsum erfuhren, hatten sie keine Konsequenzen zu befürchten, da sie einer als vegetarisch geltenden Kaste angehörten. Der Vater der Familie erzählte mir außerdem, dass er während des Interviews, welches der Bauherr mit interessierten Käufern vor der Errichtung des Gebäudes geführt hatte, von diesem nach seinen Essgewohnheiten gefragt worden war. Der Bauherr machte ihm unmissverständlich klar, dass es nur Vegetariern gestattet sei, Wohnungen in dem Gebäude zu kaufen. Daraufhin hatte der Familienvater ihm als Beweis seiner Zugehörigkeit zur Kaste der Brahmanen seine heilige Schnur7 gezeigt, woraufhin er die Wohnung kaufen durfte. Dieser Fall verdeutlicht, dass Vegetarismus in Indien häufig ein Symbol ist, welches von Angehörigen bestimmter religiöser Gemeinschaften eingesetzt wird, um sich Privilegien zu sichern, welche anderen Gemeinschaften verwehrt werden. Doch handelt es sich bei der Exklusivierung von Wohnraum für Vegetarier ausschließlich um eine bewusst eingesetzte Taktik zur Durchsetzung politischer und wirtschaftlicher Interessen? Dies wäre eine verkürzende Darstellung, die nur einen Teil der sozialen Realität widerspiegeln würde. Stattdessen schlage ich eine Unterscheidung zwischen Effekt und Affekt vor, welche es erlaubt, die soziopolitischen Konsequenzen der Exklusion nichtvegetarischen Essens kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig der affektiven Grundlage die-
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Alle männlichen Brahmanen erhalten im Rahmen eines Initiationsrituals im Kindesalter eine weiße Schnur, welche insbesondere zu rituellen Anlässen über der Schulter getragen wird.
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ser Praxis Rechnung zu tragen. Während die Diskriminierung von Angehörigen religiöser Minderheiten und niederer hinduistischer Kasten einen zentralen Effekt der Exklusion nichtvegetarischen Essens aus neuen Gebäudekomplexen darstellt, sagt dies wenig über den dieser Praxis zugrundeliegenden Affekt aus. Weshalb kommt gerade Essensgerüchen solch eine immense Bedeutung für den Zugang zu Wohnraum und die Konstruktion von Identitäten zu? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich im Folgenden auf Erkenntnisse aus dem Feld der Studien zu sinnlicher Wahrnehmung zurückgreifen. Diese helfen dabei, das komplexe Wechselspiel von Erlebniswelten, sinnlicher Konditionierung und Kategorien des Eigenen und des Fremden zu verstehen.
(E SSENS -)G ERUCH , URBANE R ÄUME
SINNLICHE
E XKLUSION
UND
Viele Bewohner exklusiv vegetarischer Gebäude, die ich traf, schilderten ihre tief verankerte Abscheu gegenüber nichtvegetarischem Essen sehr nachdrücklich. Auch in der Familie meines zu Beginn erwähnten Gastgebers kam es regelmäßig zu Debatten über die sinnliche Präsenz nichtvegetarischen Essens. Die Ehefrau meines Gastgebers war strikte Vegetarierin und tolerierte seine Gewohnheit, nichtvegetarisches Essen zu konsumieren nur widerwillig. Mehrfach erwähnte sie, dass insbesondere der Geruch des regelmäßig nach Hause geschmuggelten Fleisches eine Zumutung für sie sei. Sie weigerte sich, am selben Tisch zu sitzen, wenn ihre Familienmitglieder Fleisch aßen und lehnte es kategorisch ab, dass in ihrer Küche nichtvegetarische Speisen zubereitet wurden. Es sind Beispiele wie dieses, welche es unmöglich machen, den Körper aus Auseinandersetzungen um die Präsenz nichtvegetarischen Essens in Mumbais neuen Gebäuden auszuklammern. Diskriminierende Praktiken gründen oftmals vielmehr in geschmacklich-ästhetischen Degradierungen als in einer bewusst reflektierten und explizit formulierten Ablehnung bestimmter Gruppen und
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Gemeinschaften (Bourdieu 1984). Gerüche spielen hierbei als sehr subtiler und schwer eingrenzbarer sinnlicher Stimulus eine besondere Rolle. Ihre Flüchtigkeit und Intimität macht sie potentiell bedrohlich für die Trennung von Körper und Umwelt (Hyde 2006). Sie durchdringen Dinge, haften sich an und werden so zu einem subtilen Charakteristikum von Orten, Objekten, Personen und Gruppen. Sie verschmelzen buchstäblich mit anderen Entitäten und werden daher oft als ein Bestandteil von selbigen wahrgenommen. So beschreibt der französische Historiker Alain Corbin in seiner klassischen Studie zu Geruchswahrnehmung in europäischen Städten des 19. Jahrhunderts etwa die bourgeoise Abscheu gegenüber den „Gerüchen des Elends“ (Corbin 2005: 189). Corbin zeichnet nach, wie Geruch zunehmend als soziales Stigma wahrgenommen wurde und Praktiken der Desodorisierung sich als eine wichtige Bedingung für soziale Anerkennung etablierten. Gleichzeitig wurden die Körper und Wohnungen der Armen als Quelle strenger Gerüche zunehmend als Gefahr für die öffentliche Ordnung und städtische Hygiene betrachtet. Dies verdeutlicht nicht nur, wie fragil die Unterscheidung zwischen Körper, Umwelt und Geruch ist, sondern auch, dass Gerüche in der Regel selten differenziert bewertet, sondern als entweder gut oder schlecht wahrgenommen werden (Sutton 2010). Diese potentiell bedrohliche Intimität und dichotome Kategorisierung von Gerüchen macht sie besonders bedeutsam für die Konstruktion von Differenz und Grenzziehungen zwischen Gruppen (Classen 1991). Emotionen von Ekel und Abscheu gegenüber bestimmten Essensgerüchen sind eng verbunden mit der Abwertung und Stigmatisierung der mit diesen Gerüchen assoziierten Personen und Gruppen (Durham 2011). Abstrakte soziale Grenzziehungen werden so in der Wahrnehmung von Gerüchen konkret und körperlich erfahrbar. In den enorm dicht bewohnten Lebensräumen von Städten sind Konfrontationen mit fremdartigen und störenden Gerüchen nahezu unvermeidbar (Henshaw 2014). Es ist daher nicht verwunderlich, dass Praktiken der sinnlichen Abwertung auf Basis von Gerüchen besonders in urbanen Räumen bedeutsam werden. Vor allem Migranten werden kulturübergreifend oft mit störenden (Essens-)Gerüchen assoziiert:
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Asiatische Immigranten in New York sind darauf bedacht, die Gerüche traditioneller asiatischer Gerichte in Gegenwart von Amerikanern zu unterdrücken, um nicht als weniger kultiviert zu gelten (Manalansan 2006). Alteingesessene Bewohner in Sydney fühlen sich durch Essensgerüche chinesischer Immigranten belästigt (Wise 2010) und verschiedene Immigrantengruppen in Singapur werden mit Geruchsverschmutzung in Verbindung gebracht (Low 2013). In all diesen Beispielen ist es die Wahrnehmung von Essensgerüchen, welche eine unmittelbare, körperliche Erfahrung von Fremdheit und Ekel hervorruft. Dies verdeutlicht die enge Verbindung von Konflikten um die olfaktorische Präsenz fremden Essens in Städten und grundlegende Machtkämpfe um die Aneignung von städtischem Raum. Insbesondere in dicht bewohnten Metropolen ist eine Auseinandersetzung mit Differenz unumgänglich und stellt eine tägliche Herausforderung für das Zusammenleben zwischen Angehörigen unterschiedlicher Gemeinschaften dar. Jüngere Studien haben zudem gezeigt, dass unterschiedliche sinnliche Dispositionen einen großen Einfluss auf Konflikte um das Recht auf Wohnraum in indischen Städten haben (Ghertner 2012). Minderwertig angesehene Wohnformen werden zunehmend als ästhetische Belästigung erklärt und die mit ihnen assoziierten Gruppen aufgrund ihrer sinnlichen Profile aus der Stadt entfernt. So wurden etwa Initiativen zur Niederreißung von Slums in Delhi wiederholt mit Verweis auf Lärmbelästigung durch die Bewohner dieser Siedlungen gerechtfertigt (Chandola 2012). Lärm fungiert hier – ähnlich wie Geruch im Kontext von Redevelopment in Mumbai – als sinnliche Manifestation tief verankerter ästhetischer Gräben zwischen Angehörigen verschiedener Gemeinschaften und gesellschaftlicher Schichten. Es wäre unzutreffend, den Verweis auf Lärm lediglich als Vorwand zur Entfernung ungewollter Gruppen zu interpretieren und so die Bedeutung sinnlicher Dispositionen für Formen von Ausgrenzung zu ignorieren. Vielmehr ermöglicht die Untersuchung der diesen Ausgrenzungen zugrundeliegenden Affekte ein besseres Verständnis für die soziale Dynamik diskriminierender Praktiken.
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B ÜRGERRECHTE
In der Literatur zu Staatsbürgerschaft (engl. citizenship) sind Auseinandersetzungen um Bürgerrechte zumeist von körperlichen und ästhetischen Aspekten abstrahiert worden (Prokhovnik 2014). Einige jüngere Arbeiten haben jedoch darauf hingewiesen, dass sinnliche Wahrnehmungen sehr wohl politisch signifikant sind und in vielfacher Weise Möglichkeiten zur Ausübung von Bürgerrechten bedingen. So betonen etwa Davide Panagia (2009) und Erica Fretwell (2011) den Einfluss ästhetischer Urteile auf die Art und Weise, wie verschiedene gesellschaftliche Gruppen fundamentale Rechte wahrnehmen können oder nicht. Diese enge Verknüpfung von sinnlicher Wahrnehmung, nationaler Zugehörigkeit und der Wahrnehmung von Bürgerrechten fassen die Anthropologinnen Susanna Trnka, Christine Dureau und Julie Park unter dem Begriff sensory citizenship zusammen (Trnka et al. 2013: 1). Sinnliche Wahrnehmung steht für sie in einer engen Beziehung zu staatsbürgerschaftlicher Zugehörigkeit und sie plädieren für eine Anerkennung der wechselseitigen Durchdringung beider Sphären. Sie weisen insbesondere darauf hin, dass Differenzen zwischen verschiedenen Personengruppen auf einer diskursiv-rechtlichen Ebene oftmals ihre Rechtfertigung aus fundamental körperlich-sinnlichen Distinktionen ziehen und verweisen hierbei auf historische Beispiele der Abwertung von kannibalistischen Maori oder stinkenden lateinamerikanischen Indianern durch koloniale Herrscher (Trnka et al. 2013: 4f.). Diese Sichtweise ermöglicht es, das Zusammenspiel affektiver sinnlicher Veranderung8 und effektiver politisch-rechtlicher Diskriminierung nachzuvollziehen.
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Diese Übersetzung des in der englischsprachigen Fachliteratur gebräuchlichen Begriffs othering übernehme ich von Bierschenk et al. (2013: 25). Der Begriff othering bezeichnet eine übersteigerte Betonung kulturell fremder oder fremdartiger Praktiken und Wertvorstellungen zum Zwecke der Exotisierung und Abwertung der mit diesen Praktiken und Wertvorstellungen assoziierten Personen.
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Die exklusiv vegetarischen Gebäude in Mumbai sind ein anschauliches Beispiel der engen Verknüpfung von sinnlicher Erfahrung und der Wahrnehmung von Bürgerrechten. Der von Vertretern niederer Kasten angebrachte Verweis auf Kastendiskriminierung steht dieser Perspektive keineswegs unvereinbar gegenüber. Nicht zuletzt ist insbesondere die Unterscheidung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kasten eine im Zuge der Sozialisation frühzeitig erlernte, zutiefst körperlich verankerte Praxis, welche sich etwa in so subtilen Handlungen wie der Vermeidung von Berührungen und Blickkontakt äußert (Alex 2008). In ähnlicher Weise ist Ekel vor Gerüchen nichtvegetarischer Speisen häufig die affektive Basis diskriminierender Praktiken gegenüber Personen, die nicht nur mit diesen Gerüchen assoziiert, sondern gewissermaßen mit ihnen identifiziert werden. Diese Verknüpfung von Personengruppen und sinnlichen Profilen wird durch normative Ideologien unterstützt, welche bestimmte Formen sinnlicher Zugehörigkeit naturalisieren (Trnka et al. 2013: 1). So begründet die Idee einer (scheinbar) natürlichen Verbindung zwischen der Zugehörigkeit zu bestimmten Gemeinschaften und (nicht-)vegetarischen Ernährungsgewohnheiten in Indien den Ausschluss von Angehörigen religiöser Minderheiten und niederer Kasten aus exklusiv vegetarischen Gebäuden. Wie das weiter oben erwähnte Beispiel des heimlichen Konsums nichtvegetarischer Speisen im häuslichen Bereich jedoch verdeutlicht, ist die unhinterfragte Annahme einer Verbindung zwischen religiösgemeinschaftlicher Affiliation und geschmacklicher Disposition höchst problematisch. Eine solche sinnlich begründete Praxis der Veranderung stellt das Bindeglied zwischen dem Affekt des Ekels vor nichtvegetarischem Essen und dem Effekt der Exklusion bestimmter gesellschaftlicher Gruppen aus neu errichteten Gebäuden in Mumbai dar. Es ist daher zu kurz gegriffen, die Exklusion von Nichtvegetariern aus Neubauten in indischen Großstädten ausschließlich als politisches Mittel zur Diskriminierung bestimmter Gemeinschaften zu verstehen. Eine solche, funktionalistische Lesart reduziert diese Praxis auf ihren signifikantesten politischen Effekt – die Exklusion von Angehörigen religiöser Minderheiten und niederer Kasten – und nimmt ihre affekti-
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ve, körperlich-sinnliche Grundlage nicht ernst. So wird eine Intentionalität als Basis von sozialen Praktiken angenommen und Essen lediglich als ein Code für Kaste und Religion verstanden. Der tatsächlichen Komplexität des Sachverhaltes wird dies allerdings nicht gerecht. Letztendlich ist der Körper weit mehr als ein simples Werkzeug zur Klassendistinktion. Er kann sich domestizierenden Absichten und kognitiven Entscheidungen widersetzen. Es ist diese Widerspenstigkeit des Körpers, welche Auseinandersetzungen über die Präsenz von nichtvegetarischem Essen in indischen Wohngebäuden ausmacht und welcher ein ausschließlich auf die politisch-diskursive Ebene abzielender Analyseansatz nicht gerecht wird. Das Konzept des sensory citizenship ermöglicht es hingegen, den Körper in Diskussionen über Staatsbürgerschaft und Rechte einzubeziehen. Diese Sichtweise erlaubt es, Affekt und Effekt nicht als einander ausschließende, sondern ergänzende Gesichtspunkte zu verstehen und sowohl die somatischen Grundlagen, als auch die politischen Konsequenzen der Exklusion von Nichtvegetariern zu verstehen. Die Exklusion nichtvegetarischen Essens ist gerade deshalb ein so kontrovers diskutiertes Thema in indischen Städten, weil in dieser Praxis persönliche Interessen, geschmackliche Dispositionen und politische Konsequenzen eng miteinander verwoben sind. Sie lässt sich weder auf eine bewusst eingesetzte politische Taktik, noch auf eine rein persönliche Geschmacksentscheidung reduzieren. Vielmehr verschmelzen in dieser Praxis Politisches und Privates, sowie Ästhetik und Ideologie. In dieser Hinsicht ist die Exklusion von nichtvegetarischem Essen in Mumbai ein Beispiel für die Art und Weise in der sinnliche Erfahrungen und ästhetische Urteile Wirksamkeit für die Gewährung und Verweigerung von Bürgerrechten entfalten können.
F AZIT Besonders in urbanen Kontexten, in denen Angehörige unterschiedlicher Gemeinschaften auf engstem Raum zusammenleben, entfalten
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unvereinbare Sinneswelten ein enormes Konfliktpotenzial. Die sich durch Prozesse von Stadterneuerung vollziehenden, rasanten Transformationen von Lebenswelten in Metropolen führen zu umkämpften Neuaushandlungen von Raum und Repräsentation, wobei Essensgerüche auffällig häufig zu einem Streitpunkt werden. Die Konfrontation mit abstoßenden Essensgerüchen lässt die Präsenz andersartiger Sinneswelten zu einer unmittelbar körperlichen Erfahrung werden und stellt die Toleranz gegenüber fremden Sinnlichkeiten auf die Probe. Gerade in urbanen Räumen tritt daher die enge Verbindung von sinnlich-ästhetischen Dispositionen und dem Zugang zu Bürgerrechten besonders deutlich zutage. Im indischen Kontext sind Ernährungsgewohnheiten untrennbar mit der Konstruktion von Gemeinschaft verbunden. Die Exklusion nichtvegetarischer Speisen bietet somit Angehörigen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ein Instrument, Angehörige religiöser Minderheiten und niederer hinduistischer Kasten von besonders prestigeträchtigen Wohnformen auszuschließen. Nichtsdestotrotz wäre es verkürzend, die Praxis der Exklusion nichtvegetarischer Speisen ausschließlich als bewusst eingesetzte politische Taktik zu verstehen. Stattdessen ermöglicht eine Analyse auf Basis von Erkenntnissen der Sinnesforschung eine adäquatere und umfassendere Sichtweise, die der affektiven Grundlage der Exklusion nichtvegetarischer Sinnlichkeiten gerecht wird, ohne den diskriminierenden Effekt dieser Praxis zu negieren. Das Konzept des sensory citizenship, wie es Trnka et al. (2013) skizzieren, erlaubt es, dieses komplexe Zusammenspiel von Effekt und Affekt zu verstehen und die Relevanz ästhetischer Urteile für die Wahrnehmung von Rechten anzuerkennen. Die alltäglichen Verhandlungen von Essensgerüchen in Mumbais neuen Wohnkomplexen verweisen insofern sowohl auf kulturell spezielle Formen sozialer Stigmatisierung und Ausgrenzung, als auch auf Widersprüche und Herausforderungen kosmopolitischer Lebensrealitäten in Metropolen weltweit. Die hier präsentierte Auseinandersetzung über Essensgerüche in Mumbai verdeutlicht zudem das erkenntnistheoretische Potenzial, wel-
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ches sich aus einer Kombination der Sinnesforschung und der Kulinarischen Ethnologie ergibt. Es sind insbesondere Fragen von Geschmack, die zentrale Bedeutung des Körpers für die Konstruktion sozialer Zugehörigkeit und die kulturelle Bedeutsamkeit von Essen und Essenspraktiken, welche beide Forschungsfelder gleichermaßen berühren und einen Brückenschlag zwischen ihnen sinnvoll erscheinen lassen. Erkenntnisse aus dem Feld der Sinnesforschung erlauben es hierbei, Geschmack nicht auf ein Mittel sozialer Distinktion zu reduzieren, sondern Schmecken als multisensorische, körperliche Erfahrung zu verstehen (Sutton 2010: 211). Diese Aufmerksamkeit gegenüber den oftmals unvorhersehbaren und nicht intendierten Konsequenzen, welche sich in der sinnlichen Erfahrung von Essen ergeben, ist ein zentraler Impuls, welchen die Kulinarische Ethnologie aus der Sinnesforschung aufnehmen kann.
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Der Streit um Nudeln Zur kulturellen Aneignung kommerzieller Nahrungsmittel in den Anden A NTJE B AECKER 1
E INLEITUNG Bis in die 1980er Jahre bildeten in Coporaque, einer in den südlichen, peruanischen Anden im Colca-Tal gelegenen Dorfgemeinschaft, lokal erzeugte Produkte2 die Basis der Ernährung. Mit dem Ausbau der Straße zwischen dem Colca-Tal und Arequipa änderte sich dies.3 Besonders der Konsum industriell hergestellter preiswerter Nahrungsmittel stieg. So werden zum Beispiel Nudeln, welche zuvor nur selten, das
1
Antje Baecker, M. A., Doktorandin am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig, [email protected]
2
Zum Beispiel Gerste, Kartoffeln, Mais und Limabohnen. Letztere werden
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Arequipa ist die zweitgrößte Stadt Perus. Sie liegt circa 165 Kilometer süd-
auch Favabohnen oder Saubohnen genannt. lich vom Colca-Tal entfernt, nahe der Pazifikküste. Eine Fahrt mit dem Bus zwischen beiden Orten dauert circa 3 Stunden. Die Straße wurde ab Beginn der 1970er Jahre gebaut. Siehe hierzu Paulo und Galas (2009: 25).
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heißt lediglich zu festlichen Anlässen konsumiert wurden, seit den 1990er Jahren zunehmend auch für die Zubereitung von Alltagsmahlzeiten verwendet. Diese Entwicklung wird nicht von allen Bewohnern gleichermaßen begrüßt. Vor allem Personen der mittleren und älteren Generation hinterfragen sie. Sie nehmen den Verzehr nicht-lokaler Nahrungsmittel innerhalb von Alltagsgerichten als Bedrohung ihrer Identität und Gesundheit wahr (Weismantel 1989: 92).4 Dennoch gehören heute gekaufte Nahrungsmittel wie Nudeln im Alltag zu den Grundnahrungsmitteln vieler Haushalte und selbst Kritiker verwenden Nudeln für alltägliche Speisen (Graham 2003: 157). Dieses ambivalente Verhalten der Andenbewohner gegenüber nicht-lokalen Nahrungsmitteln beobachteten auch die amerikanischen Anthropologinnen Mary Weismantel (1989: 85) und Margaret Graham (2003: 151, 157f.). Ihrer Ansicht nach steht es im Zusammenhang mit der veränderten lokalen Ökonomie andiner Haushalte, die heute nicht mehr allein auf der Subsistenzwirtschaft, sondern gleichzeitig auf der Integration in die Marktwirtschaft basiert.5 Die Folge ist, dass der Status von sowohl nicht-lokalen als auch von lokalen Nahrungsmitteln heute nicht mehr klar definierbar ist (Graham 2003: 150f.). Die Zunahme des Gebrauchs gekaufter Nahrungsmittel wie Nudeln ist jedoch nicht allein auf ökonomische oder infrastrukturelle Faktoren zurückzuführen. Auch soziokulturelle Faktoren spielen eine wichtige Rolle, wie Weismantel (2005: 88) und Graham (2003: 150f.) betonen. Nahrung steht in engem Zusammenhang mit Konzeptionen bezüglich der Konstruktion von Körper und Person. Dabei basiert die Ent-
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Siehe auch Fernandez Juarez (1997: 99ff.) und Lopez García (1998: 191f.).
5
In der Provinz Caylloma, in der das Colca-Tal gelegen ist, begann man ab den 1970er Jahren mit der Industrialisierung des Bergbaus und mit Großbauprojekten in Bereichen der Wasserwirtschaft und der Infrastruktur. Beschäftigungsmöglichkeiten innerhalb dieser Sektoren förderten die Involvierung, aber auch die Abhängigkeit der Bevölkerung von der Marktwirtschaft. Siehe dazu Benavides et al. (1994), Delgado und Zwarteveen (2008), Delgado und Vincent (2013).
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scheidung darüber, ob, wann und wie ein Nahrungsmittel konsumiert werden sollte auf Vorstellungen über deren Wirkungsweise auf den Körper. Sowohl nicht-lokale als auch lokale Nahrungsmittel werden in diesem Zusammenhang mit bestimmten sinnlichen Eigenschaften und Kategorien in Verbindung gebracht, die eine unterschiedliche kulturelle Bewertung erfahren (Lopez García 1998: 187, 191). Der Konflikt, den der alltägliche Konsum gekaufter Nahrungsmittel wie Nudeln auslöst, basiert auf der konservativen Vorstellung, dass lediglich lokales Essen und Trinken als dynamische Verbindung zwischen Person und Land fungieren und die materielle Kontinuität des Körpers gewährleisten kann (Skar 1994: 56, 93). Nicht-lokale gekaufte Nahrungsmittel wie Nudeln erfüllen diese Funktion hingegen nicht, da sie nicht auf dem eigenen Land erzeugt wurden und somit als delokalsiert gelten (Graham 2003: 150, Pelto und Pelto 1983: 507). Dennoch hat die kulturelle Wertschätzung fremder Nahrungsmittel und Speisen in den Anden eine lange Tradition. Bereits während der Herrschaft der Inka (13. und 16. Jahrhundert) (Josephy 1992: 162) galt eine hohe Nahrungs- und Geschmacksvielfalt als Zeichen von ökonomischer Sicherheit, sozialem Status und Wohlstand (Murra 1975: 59ff., Cook 2007: 4ff., 20f., 139ff.). Gemäß konservativen Konventionen wird fremden Nahrungsmitteln jedoch weniger die Funktion zugeschrieben, den Körper zu nähren, zu stärken und gesund zu halten. Vielmehr dienen sie als zusätzliche Ergänzung zu den vorhandenen Produkten und der kulinarischen Abwechslung, das heißt der Freude des Körpers beziehungsweise verwendet man sie, um anderen eine kulinarische Freude zu bereiteten, wie Weismantel dies formuliert (Weismantel 1988: 139, 2005: 93).6 Das Streben der Menschen danach, ungekannte Nahrung zu probieren, zu verzehren und zu schmecken, zeigt, dass der Körper selbst den kulturellen Aneignungsprozess fremder Nahrung mitbestimmt.7
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Siehe außerdem Lopez García (1998: 191).
7
Diesen Aspekt menschlichen Verhaltens bezeichnet Claude Fischler als neophilia: „the tendency to explore, the need for change, novelty, variety,“
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Dieser Wunsch nach neuen Dingen und Geschmäckern wirkt sich nach dem deutschen Ethnologen Marin Trenk (2012a: 123) förderlich auf die Übernahme neuer Nahrung aus. Allerdings, so Trenk, gehe die Auswahl und Aneignung sehr selektiv von statten, wobei vor allem diejenigen Nahrungsmittel leichter Akzeptanz fänden, die von sich aus bereits dem lokalen Geschmack ähneln beziehungsweise bestimmten Geschmackspräferenzen entsprechen. Demnach würden insbesondere diejenigen Nahrungsmittel und Speisen kulturell angeeignet, die sich in die bestehende kulinarische Grammatik einfügen lassen (Trenk 2012b: 55, 57). Ähnliches meint auch Ethnologe Hans Peter Hahn, wenn er konstatiert, dass gemeinhin diejenigen Dinge angeeignet werden, die zur jeweiligen Lebenswelt der Akteure passen (Hahn 2011: 16).8 Hahn sowie Fernando Santos-Granero, tätig am Smithsonian Tropical Research Institute-Panama, definieren kulturelle Aneignung als einen innovativen und kreativen Prozess (ebd.: 14, Santos-Granero 2009: 478). Nicht zuletzt werden kulturell fremde Güter angeeignet, indem sie materiell transformiert werden (Hahn 2011: 18). So werden etwa neue, fremde Nahrungsmittel geschmacklich an die vorhandene Küche angepasst.9 Bei der Aneignung ganzer Gerichte werden ungewünschte Zuta-
und hält fest: „[…] needing variety, the omnivore is inclined towards diversification, innovation, exploration and change, which can be vital to its survival […].“ (1988: 277) 8
Die kanadische Sozialanthropologin Marieka Sax, die ihre Feldforschung in den nördlichen peruanischen Anden durchführte, stellt wiederum fest, dass fremde Nahrungsmittel unterschiedlich stark kulturell angeeignet werden. Siehe hierzu Sax (2009: 89 Fn25).
9
Dies geschieht in vielen Fällen mittels der so genannten flavor principles: „These […] flavorings, used daily on almost all cooked stable foods, create the identity of this cuisine. […] Seasoning practices may range from the use of one specific, pervasive flavoring ingredient […] to much more complex and elaborate bonds or combinations of flavoring ingredients. […]. Within cultures that characteristically season their foods, the use of combinations of flavoring ingredients is the most common technique. […]
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ten entweder gar nicht oder in geringerer Menge verwendet oder aber gleich durch vergleichbare bekannte Nahrungsmittel ausgetauscht. Anders gesagt: Neue Nahrung wird kulturell angeeignet, indem sie indigenisiert wird (Trenk 2009: 110, 2012a: 123, 2012b: 51). Indem die Akteure Neues zusammen mit Bekanntem verwenden, schaffen sie gleichzeitig etwas Neues, Eigenes: ein patchwork (Comaroff 1996: 30), weshalb kulturelle Aneignung auch einen kulturellen Wandel herbeiführt (Hahn 2011: 14-22). Interessanterweise wird dabei das transformierte Endprodukt nicht selten dem ursprünglichen Produkt gegenüber als kulturell überlegen betrachtet (ebd.: 18). Da es aber meist nur bestimmte Gruppen oder Akteure sind, die neue Dinge beziehungsweise Nahrungsmittel in die Kultur einführen oder dazu übergehen, bereits bekannte Nahrungsmittel auf eine andere Weise als üblich zu nutzen und ihnen dadurch eine neue Rolle und Wertigkeit zuweisen, sind kulturelle Aneignungsprozesse oft konfliktbehaftet. Letztlich werden diese Veränderungen nicht von allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen befürwortet. Welche Güter beziehungsweise Nahrungsmittel in die Kultur integriert werden, wie mit diesen umgegangen wird, welche neue Bedeutung und welchen Kontexten diese zugewiesen werden, muss daher zwischen den verschiedenen Generationen und Geschlechtern ausgehandelt werden (Hahn 2011: 22, Weismantel 1989: 93, 2005: 85). Der Streit um Nudeln in Coporaque ermöglichst hier konkrete Einsichten in das Phänomen der kulturellen Aneignung, wie es von Autoren wie Trenk und Hahn theoretisiert wird: Es wird deutlich, inwieweit selektiv ausgewählte neue Nahrungsmittel in die Lebenswelt der Akteure passen; wie die Akteure dabei innovativ und kreativ vorgehen,
These distinctive and pervasive flavoring combinations, which we call ‚flavor principles,‘ seem to impact a clear and characteristic identity to the foods of any group.“ (Rozin und Rozin 2005a: 34f.) Siehe außerdem Trenk (2012a: 123f., 2015: 212) und Hamilakis (2013: 83).
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wenn sie fremde Güter und Nahrungsmittel materiell und geschmacklich verändern, indigenisieren und kulturell aufwerten.10
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Nun scheint die Ursache dafür, dass nicht-lokale kommerzielle Nahrungsmittel heute einen ambivalenten Status einnehmen, nicht allein in den veränderten ökonomischen Bedingungen zu liegen. Vielmehr scheint die Tatsache relevant zu sein, dass sie sich weder eindeutig vom traditionellen System kulturspezifischer Kategorien ausschließen, noch widerstandslos eingliedern lassen. Einerseits werden Nudeln zahlreiche negativ konnotierte kulturspezifische sinnliche Eigenschaften zugeschrieben, die sie zu einer für die Identität und Gesundheit bedrohlichen Speise deklarieren. Andererseits verfügen Nudeln über sinnliche kulinarische Eigenschaften, die denen lokaler Grundnahrungsmittel stark ähneln und die den Menschen entsprechend vertraut sind. Nudeln sind hart und trocken wie chuños11, Gerste, Mais, Quinoa oder Limabohnen. Auch in Geschmack und Farbe ähneln Nudeln diesen lokalen Nahrungsmitteln, da sie aufgrund ihres Stärkegehalts sowohl über einen ähnlich mehligen, mild-süßlichen Geschmack als auch über eine vergleichbare weiß-gelbliche Farbe verfügen.12 Allerdings werden diese Ähnlichkeiten nicht offen verbalisiert. Dass diese Ähn-
10 Die folgenden Darstellungen beruhen auf Daten aus eigener Feldforschung in Coporaque (Peru) zwischen Oktober 2007 und Dezember 2008. Bei entsprechenden Zitaten handelt es sich um eigene Übersetzungen aus dem Spanischen. Alle Namen sind verändert. 11 Chuños (qu.) werden aus Kartoffeln hergestellt, indem diese mittels Gefriertrocknung konserviert werden. Dadurch sind sie mehrere Jahre haltbar und lagerfähig. Siehe dazu Sammels (2010: 101ff.). 12 Auch Edita Vera Vokral (1989: 264) erwähnt, dass in der Region um Juliaca am Titicacasee (Südperu) Nudeln gern gegessen werden. Da sie weiß und mehlig sind, werden sie als süß und schmackhaft bewertet.
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lichkeit nichtsdestotrotz wahrgenommen wird, lässt der tatsächliche Umgang mit den Nudeln erahnen. Wenn etwa Nudeln als Substitut für lokale Grundnahrungsmittel verwendet und dieselben mit Familie, Kindheit, Mutterschaft und Weiblichkeit assoziiert werden (Graham 2003: 154ff., Weismantel 2005: 91f.), dann liegt es nahe anzunehmen, dass sich diese Attribute letztlich auch im Umgang mit Nudeln als Substitut reflektieren. Amalia13 (45) erzählt mir: „Meine Kinder essen gern Nudeln. […] Allgemein bevorzugen sie gekaufte Produkte und moderne Speisen. Sie wollen nicht jeden Tag unsere eigenen 14
Produkte essen. Das langweilt sie.“
Dafür, dass die Nachwuchsgeneration Coporaques eine Präferenz für Nudeln hegt, scheinen unter anderen folgende Gründe in Frage zu kommen. Zum einen bilden in Coporaque stärkehaltige Nahrungsmittel, meist in Form von Brei, die erste Nahrung nach der Muttermilch. Den Grund dafür sehe ich in den ähnlichen sinnlichen Eigenschaften von Mutternmilch und stärkehaltiger auf gemahlenem Getreide basierte Nahrung.15 Beide Substanzen besitzen eine weißliche Farbe und einen mild-süßlichen Geschmack.16 Da Nudeln damit dem präferierten Ge-
13 Gespräche mit Amalia und ihren Familienangehörigen führte ich auf den Feldern der Familie während der Arbeit, der gemeinsamen Essenzubereitung sowie morgens und abends in der Küche oder dem Wohnhaus der Familie. 14 Amalia und ihr Mann Lorenzo haben vier Kinder: José (7), Aurelia (14), Valeria (21) und Sara (23). 15 Ich folge hier Janet Carsten (1995: 228), die in Malaysia forschte. Dort werden Muttermilch und Reis als substantielles Kontinuum verstanden. Siehe außerdem Carsten (2011: 22). 16 Auch Graham (2003: 156) bemerkt, dass in den Anden ein Zusammenhang zwischen stärkehaltigen Nahrungsmitteln und Muttermilch hergestellt wird. Die Bewohner der im Altiplano der südlichen peruanischen Anden gelege-
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schmacksspektrum der Kinder entsprechen, finden sie in diesem Kontext häufig Verwendung. Zum anderen werden Nudeln von den Kindern17 als Ausdruck des cariño: der Zuneigung und der Liebe ihrer Eltern gesehen, denn sie sind nicht immer vorrätig und gelten deshalb als eine kulinarische Besonderheit und willkommene Abwechslung. Inwiefern Nudeln für Familie, Mutterschaft und den Beginn des Lebens stehen, zeigt sich insbesondere darin, dass Mütter ihren Schützlingen gerne Spaghetti zum Geburtstag zubereiten; Spaghetti anlässlich staatlicher oder regionaler Jahrestage, die gewissermaßen kollektive Geburtstage darstellen, als Festmahlzeit serviert werden und darin, dass dem Jesuskind am Heiligen Abend neben getrocknetem Mais, Quinoa, Gerste und Reis auch rohe Nudeln als Speiseopfer dargeboten werden. Darüber hinaus identifizieren sich die Frauen in Coporaque mit der von ihnen produzierten Nahrung, indem sie diese selbst verzehren.18 Während sich Frauen der älteren Generationen mit den auf ihren Feldern selbst erzeugten stärkehaltigen Nahrungsmitteln identifizieren, betrachten junge Frauen unter anderem Nudeln als das Produkt ihrer Arbeit, das heißt ihrer geldwirtschaftlichen Tätigkeiten, da sie noch nicht im Besitz der elterlichen Felder sind. Zudem verknüpfen sie mit ihrem Verzehr eine moderne und mestizische Lebensweise, die einen Teil ihrer lokal geprägten Identität bildet (Camacho 2006: 159).
nen Gemeinschaft Ura Ayllu betrachten Oca (Oxalis tuberosa, Knolliger Sauerklee) als ein Muttermilch produzierendes Nahrungsmittel. 17 Als Kind gilt ein Mensch in den Anden, solange er keinen eigenen Haushalt mit einer Person des anderen Geschlechts führt und reproduktiv ist. Der Status des Kindes definiert sich auch über die Fütter-Richtung. Ein Mensch nimmt den Status eines Kindes ein, wenn er von anderen mit Nahrung versorgt wird (Weismantel 1995: 694ff., Canessa 1999: 73ff., Van Vleet 2008: 32, 62ff.). Entsprechend gilt ein Kind nicht als Person (qu. runa). 18 Siehe auch Graham (2003: 156) und Weismantel (2005: 96).
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Abbildung 1: Anlässlich ihres Geburtstages isst eine junge Frau ihr Lieblingsgericht: Tallarines rojos (rote Spaghetti). Die Zutaten dafür erwarb sie im Laden ihrer Tante Fernanda. Verzehrt wurde das Gericht als Festspeise, zu der sie ihre Eltern, Geschwister und mich einlud. Die gekochten Spaghetti (in diesem Fall nicht angeröstet) werden mit einer Soße aus einem aderezo19, geraspelter Möhre und etwas kleingeschnittener Tomate vermengt. Zur Feier des Tages wurde das Ganze noch mit etwas Thunfisch aus der Dose verfeinert.
Quelle: Antje Baecker
19 Das aderezo (auch genannt aji encebollado, dt. Chili mit Zwiebeln) bildet die geschmackliche Basis vieler Gerichte der peruanischen Küche. Es besteht aus angeschwitzten roten Zwiebelwürfeln, Knoblauch, mildem Chili (genannt aji panca) und teilweise auch Tomaten. Zum Anbraten der Zutaten wird heute anstelle des traditionell verwendeten Fetts vom Alpaka oft pflanzliches Speiseöl verwendet. Zudem finden auch diverse Gewürzmischungen wie zum Beipiel aji panca sin picante (dt. Panca-Chili ohne Schärfe) Verwendung (http://emaransac.com/index.php/productos).
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N ICHT - LOKALE UND LOKALE N AHRUNG , G ESUNDHEIT , K ÖRPER UND SINNLICHE ASSOZIATIONEN Insbesondere Mitglieder der mittleren und älteren Generation nehmen die Substituierung lokaler Grundnahrungsmittel durch gekaufte Produkte wie Nudeln als Bedrohung ihrer eigenen Identität und Gesundheit wahr.20 Sie haben ihrer Ansicht nach weder eine nährende noch eine gesundheitsfördernde Wirkung auf den Körper. Grund dafür sind deren sinnlich-kulinarischen und substantiellen Eigenschaften, die als schädlich für den Körper und die Gesundheit erachtet werden (Fernandez Juarez 1997: 119). So meint Wilfredo21 (35): „Normalerweise richtet sich das Essen hier nach der Natur. Nudeln und Reis sind nicht unsere Nahrungsmittel. Aber wir essen sie trotzdem; obwohl sie nicht so gut sind wie unsere lokalen Produkte.“
Pedro22 (38) äußert diesbezüglich:
20 Im Zusammenhang mit der oben erwähnten neophilia stellt Fischler fest, dass der Mensch gleichermaßen dazu tendiert, vorsichtig, misstrauisch und in seinen Ernährungsgewohnheiten konservativ zu sein: „any new, unknown food is a potential danger.“ (1988: 277) Entsprechend bezeichnet er diesen Aspekt menschlichen Verhaltens als neophobia: „prudence, fear of the unknown, resistance to change“ (ebd.). 21 Wilfredo lebt im Nachbarort Yanque. Er hält sich oft in Coporaque auf, da sein Vater hier aufgewachsen ist und hier Felder besitzt, die Wilfredo in seinem Auftrag bewirtschaftet. Die meisten Gespräche, die ich mit Wilfredo führte, fanden auf einem der coporaqueñischen Felder während der Arbeit statt. Dort half ich bei der Zubereitung der Mittagsmahlzeiten oder dem Verteilen von Getränken an die Arbeiter. 22 Gespräche mit Pedro und seiner Frau führte ich auf deren Feldern oder am Abend in der Küche der Familie.
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„Nudel- und Reissuppe kochen wir vor allem für unsere Kinder. Ich persönlich mag sie aber nicht besonders. Solche Gerichte machen nicht satt. Ich bevorzuge eher Produkte, die von hier stammen und die entsprechenden Zubereitungen, 23
wie sara pela
und pata chupe: Eintöpfe mit Alpakafleisch, geschältem Mais
oder geschälter Gerste, mit chuños und Kartoffeln. Mit diesen Gerichten hält man bis 12 Uhr mittags durch. Nudelsuppe gibt es deshalb häufig abends, denn dann essen wir nur etwas Leichtes.“
Und Señora Paloma24 (60) bemerkt: 25
„Die jungen Leute essen heute viel zu viel Nudeln und comida chatarra . Deshalb haben sie keine Kraft, um auf dem Feld zu arbeiten. […] Nudeln mag ich nicht. Sie schmecken mir nicht.“
Auf meine Frage, warum sie ihr nicht schmecken, entgegnet sie, während sie auf den Topf Nudeln zeigt, den ihre Tochter Alina (24) zubereitet hatte:
23 Pela bedeutet geschält. Mais und Gerste werden mit etwas Kalk einige Minuten gekocht. Dadurch löst sich die Schale vom Korn. Nachdem die Schalen entfernt wurden, werden die Körner in der Suppe weitergekocht, bis sie aufplatzen. Dann sind sie gar. Für diesen Eintopf gibt es verschiedene Bezeichnungen. sara pela-Suppe wird auch patasca (bedeutet aufgeplatzt oder zerteilt), caldo de mote, sopa de mote, sopa de mondongo oder nur mondongo genannt. Siehe dazu Ossio (1996: 96) sowie http://cocinaperuana.blogspot.de/2013/02/la-patasca.html. 24 Señora Paloma lernte ich durch Anita kennen. Sie ist Anitas madrina (Wahlverwandte: rituelle Mutter). Beide haben eine enge Arbeitstauschbeziehung, das heißt sie unterstützen sich gegenseitig bei der Bewirtschaftung ihrer Felder oder anderen Arbeiten. Gespräche führte ich mit Señora Paloma meist im Küchengebäude ihres Gehöfts während der Morgenmahlzeit oder der Mittagspausen auf einem ihrer Felder. 25 „Müll-Essen“, ein Synonym für Fast Food.
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„Schau mal, die werden wie Püree.“
Die Ursache für die schlechte Qualität und den geringen Nährwert gekaufter Nahrung sehen viele Bewohner in der auf Masse und Gewinn ausgelegten marktwirtschaftlichen Produktionsweise dieser Erzeugnisse. Ihre Kritik bringen sie vielfach mittels ihres geschmacklichen Urteils zum Ausdruck. So erzählt mir Señora Nelly26 (70), die in der nahegelegenen Provinzhauptstadt Chivay lebt: „Auf dem Markt kaufe ich nie die ganz großen Kartoffeln; die aus Arequipa. Sie schmecken wässrig und sind innen leer/hohl. Sie werden nur so groß, weil man ihnen Hormone gibt.“
Und Fernanda27 (38) aus Coporaque meint: „Bei modernem Essen läuft von der Produktion an alles verkehrt. Man verwendet chemische Düngemittel und Fungizide. Die Chemie verwendet man, um mehr zu produzieren; damit man zum Beispiel viele und große Kartoffeln produziert. Deshalb haben diese Produkte keinen Geschmack.“
26 Señora Nelly stammt aus Canocota, einer Dorfgemeinschaft, die administrativ an Chivay angegliedert ist. Ich lernte sie über eine Freundin aus Arequipa kennen, die mit einer ihrer Töchter befreundet ist. Señora Nelly war die erste Person, die mir dabei behilflich war, mich mit der Region, den Menschen und ihrer Lebensweise vertraut zu machen, indem sie mich an ihrem Leben teilhaben ließ und ich sie bei all ihren alltäglichen Besorgungen und Arbeiten begleiten durfte. 27 Fernanda wohnt in Coporaque. Sie wurde meine comadre (dt. Wahlverwandte). Mit ihr führte ich zahlreiche Gespräche; entweder im Wohnhaus zum Beispiel in der Küche, während gemeinsamer Mahlzeiten mit der Familie, während sie im Ladengeschäft arbeitete, das sie gemeinsam mit ihrem Mann Dominic betreibt, sowie auf dem Feld oder während gemeinsamer Ausflüge.
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Das Verhalten derjenigen, die trotz aller negativen sinnlich-kulinarischen Eigenschaften und Auswirkungen auf den Körper gekaufte Nahrungsmittel wie Nudeln als Basisnahrung verwenden, wird von konservativer Seite daher als absurd und moralisch verwerflich bewertet. Señora Paloma: „Ich verstehe das nicht. Warum soll man denn so viel Geld für Nahrungsmittel ausgeben? Das Geld kann man für andere Dinge nutzen. Man hat genug zu essen von dem, was man anbaut. Von den Sachen, die ich anbaue und die ich ernte, verkaufe ich nur einen Teil. Den anderen Teil esse ich selbst. Ich will meine Ernte selbst essen. Deshalb verkaufe ich nur so viel wie nötig. Ich kaufe mir kaum Nahrungsmittel. […] Es gibt Personen, die verkaufen ihre ganze Ernte, zum Beispiel Kartoffeln, um sich dann von dem Geld wieder Kartoffeln und Mais zu kaufen.“
Grundsätzlich verurteilt wird der Konsum kulturell fremder Nahrung, zu der auch gekaufte Nahrung gehört, nach konservativer Sicht jedoch nicht. Außerhalb alltäglicher Mahlzeiten ist ihr Verzehr legitimiert: zu Feierlichkeiten oder als Snack und Leckerei zwischen Alltagsmahlzeiten. Entscheidend ist, dass ihnen weniger eine nährende als eine wichtige soziale Funktion zugeschrieben wird: Da nicht-lokale, gekaufte Nahrungsmittel ihren Ursprung in der dominanten nationalen Marktökonomie haben, sie im Vergleich zu lokal vorhandenen Nahrungsmitteln schwerer zugänglich sind, nur mittels Geld erworben werden können und dadurch als Luxusnahrung gelten und mit einem gehobenen sozialen Status in Verbindung gebracht werden, fungieren sie als Gabe zur Etablierung und Pflege reziproker Beziehungen innerhalb und zwischen Haushalten. Zudem werden sie überwiegend von dem Geld erworben, das Männer durch Arbeitsmigration und Lohnarbeit erwirtschaftet haben, weshalb sie auch mit Männlichkeit in Verbindung gebracht werden (Weismantel 2005: 93ff., Camacho 2006: 159). Fernandas Aussage verdeutlicht diese herkömmliche soziale Bedeutung, die gekauften Nahrungsmitteln wie Nudeln zugewiesen wird, sehr gut:
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„Die agricultores extencionistas, das heißt diejenigen, die viel Land besitzen, essen Reis und Nudeln eigentlich nur zum Schein; um sich herauszuheben, sagen viele. In Wirklichkeit essen sie aber ihre eigenen Produkte.“
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Nicht-lokale gekaufte Nahrung zu oft, das heißt auch innerhalb von Alltagsmahlzeiten zu konsumieren, wird nicht nur als ein moralisches Vergehen erachtet, sondern wirkt sich nach konservativer Sicht auch negativ auf die Konstitution des Körpers aus (Lopez García 1998: 187ff.) Als zentral für die Gesundheit wird lediglich lokale Nahrung erachtet. Sie gilt als Produzent körperlicher Stärke (span. fuerza) und Lebenskraft (span. ánimu) (Graham 2003: 155). Die Stärke, die diese erzeugt, materialisiert sich als Körperfett, das als fest und qualitativ hochwertig beschrieben wird (Lopez García 1998: 191). Es bildet das Fundament des Körpers einer wahren andinen Person: eines runa (qu. Mensch, Person) (Weismantel 2001: 190, 199f.). Gemäß des dualen andinen Weltbildes basiert Gesundheit auf dem humoralen Gleichgewicht des Körpers. Aufrechterhalten wird dieses über die Ernährung. Nahrungsmittel, die gegensätzlichen humoralen Kategorien zugeordnet werden, das heißt sich in heiße und kalte sowie feuchte und trockene Nahrungsmittel unterteilen, werden zu diesem Zweck in ausgewogener Weise konsumiert. Als Ideal gilt ein zwischen diesen Eigenschaften liegender Zustand, der jedoch nie statisch ist (Bastien 1985: 607f.), wobei ein Überschuss von heiß als weniger schädlich als ein Überschuss von kalt gesehen wird (Vokral 1989: 251). Feuchte, flüssige und heiße Nahrung wie Suppen sowie frisches Fleisch (gemeint ist als kultureigen betrachtetes Alpaka-, Lama- und Schaffleisch), frische Kartoffeln, Mais und Limabohnen, die als feucht gelten und Chili, der als heiß gilt, dienen der Zirkulation des Blutes. Trockene beziehungsweise getrocknete, feste Körner- und Knollenprodukte wie chuños, Mais, Gerste, Quinoa oder auch gefriergetrocknetes Alpaka- und Lama-Fleisch (qu. charki) geben dem Körper wiederum eine feste Struk-
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tur und halten ihn verschlossen. (López García 1998: 191) Bedingt dadurch, dass der Körper als ein durchlässiges materielles Objekt betrachtet wird, können sich die jeweiligen Eigenschaften der verschiedenen Nahrungsmittel und Speisen mit dem Verzehr auf den Körper übertragen (Weismantel 1995: 695). Entsprechend den lokaler Nahrung zugeschriebenen sinnlichen Eigenschaften bringt ihr Konsum einen starken, festen und resistenten Körper hervor (Fernandez Juarez 1997: 99, 118).28 Diese Sichtweise spiegelt sich unter anderem in der Aussage von Fernanda wider: „Ein guter Landwirt kauft keine Nudeln. Er konsumiert seine eigenen Erzeugnisse: Mais, Gerste und Limabohnen. Auch die Rinderzüchter ernähren sich von ihren eigenen Produkten: von Milch und Käse. Das sind starke und wohlschmeckende Produkte. Dadurch, dass die Alten immer Natürliches konsumiert haben, sind sie fast nie krank. Nur an den Augen und solchen Sachen erkranken 29
sie. Manche Alte sind aber nierenkrank. Deshalb trinken sie viel chicha . Unter den Landwirten gibt es Leute, die mehr als 100 Jahre alt sind.“
Ihre hohe Wertschätzung gegenüber lokaler Nahrung bringen konservative Dorfbewohner zum Ausdruck, indem sie diese mit der Geschmackskategorie mishqui30 (dt. süß, wohlschmeckend) identifizieren. Quintessenz einer mishqui-Speise bildet warmer, milder bis süßlicher, mehlig schmeckender Brei aus Gerste, chuño, Mais, Quinoa oder Ähnlichem. Gemäß seiner Bedeutung als wohlschmeckend bezieht sich der Begriff auch auf herzhafte Speisen; in der Regel auf Suppen beziehungsweise Eintöpfe, die kennzeichnend für die andine Küche sind.
28 Siehe außerdem McKee (2003: 136f.) und Weismantel (2001: 191f.). 29 Chicha ist ein vergorenes Getränk mit geringem Alkoholgehalt. Es wird aus stärkehaltigen Nahrungsmitteln wie Mais, Gerste oder Ähnlichem hergestellt. 30 Es gibt verschiedene Schreibweisen. Im Folgenden verwende ich die von Weismantel (1988, 1989, 2005) genutzte. Nach Weismantel bezieht sich der Begriff auf die Eigenschaften „weiblich-gekocht-innen“ (2005: 92).
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Letztlich steht mishqui für die vertraute, zu Hause am heimischen Herd auf traditionelle Weise zubereitete Alltagsnahrung. Sie wird als humoral und geschmacklich ausgewogen beschrieben; das heißt als lauwarm, gleichförmig in der Konsistenz sowie mild im Geschmack. Entsprechend verwendet man den Begriff, möchte man sich lobend über eine Speise und deren Geschmack äußern. Außerdem steht mishqui in engem Zusammenhang mit Weiblichkeit, Mutterschaft, Familienleben und Kindheit. Mishqui-Speisen bestehen nicht nur vorwiegend aus stärkehaltigen Anbauprodukten, die von Frauen gesät, geerntet, getrocknet, geworfelt, geschält, geröstet, gemahlen und zu einer Mahlzeit verarbeitet werden. Auch bilden mishqui-Speisen, in Form von Suppen mit überwiegend kohlenhydrathaltigen Knollen und Körnern, die Hauptnahrung von Frauen und Kindern (Weismantel 2005: 91f., Vokral 1989: 247, 257).
N ICHT - LOKALE ,
GEKAUFTE
N AHRUNG
IST JAYAJ
Nicht-lokale, gekaufte Nahrungsmittel stellen hierzu ein klares Gegenteil dar. Sie werden deshalb der Kategorie jayaj zugeordnet, wobei sich der Begriff aber in erster Linie auf bestimmte Geschmäcker und Geschmackserfahrungen bezieht.31 Als Gegensatz zu mishqui steht jayaj für Würzigkeit und Gewürz. Übersetzt bedeutet der Begriff: scharf, bitter, stark. Jayaj-Speisen können außerdem sauer und salzig oder gar ungenießbar und unangenehm sein.32 Den Inbegriff von jayaj stellt
31 Neben bestimmten Geschmäckern bezieht sich jajay auch auf die Eigenschaften „männlich-roh-außen“ (Weismantel 2005: 92). 32 Siehe außerdem Vokral (1989: 257). Laut Vokral wird der salzige Geschmack als eigenständig betrachtet. Weismantel erwähnt in diesem Zusammenhang, dass Salz sowohl von Männern als auch von Frauen konsumiert wird (1988: 107). Salz kann also der Kategorie mishqui und jayaj zugeordnet werden. Entscheidend für die Zuordnung ist offenbar der Grad der Salzigkeit. Während angenehm gesalzene Speisen als mishqui bezeich-
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uchu (qu.): scharfer roter Chili, dar (Weismantel 2005: 91ff.)33. So gelten llatan, eine scharfe Soße, die separat zu vielen Gerichten gereicht wird und asado de carne, ein scharf-würziges Schmorfleischgericht als jayaj. Ebenso ceviche, ein Salat aus rohen Fischstückchen, die mit Limettensaft, Salz, Pfeffer, Knoblauch, Chili und Korianderblättern mariniert sind. Jayaj ist auch unreifes Obst, das bitter und sauer ist, schlecht gewaschenes und deshalb bitter schmeckendes Quinoa sowie verdorbene und zu stark gesalzene beziehungsweise versalzene Speisen (Johns und Keen 1985: 262f.). Auch rohe Nahrung und solche, die sich zum sofortigen Verzehr eignet, wie etwa Fastfood und Convenience Produkte (Weismantel 2005: 91ff.), bei denen der gesamte Prozess der Produktion und Zubereitung im Verborgenen liegt, gelten als jayaj. Konzeptuell steht jayaj mit anderen Begriffen in Verbindung, die sowohl positiv als auch negativ konnotierte Bewertungen sind und verschiedene Verwendungszwecke zum Ausdruck bringen, wie beispielsweise snack, fastfood, comida de fiesta (dt. Festessen), comida rapida (dt. schnelles Essen), comida chatarra (dt. Müllessen), comida ligera (dt. leichtes Essen), comida para el paladar (dt. Essen für den Geschmack), comida moderna (dt. modernes Essen) oder golosina (dt. Leckerei).34 Zu erwähnen ist hier auch der Begriff wanlla, zu dem Weismantel in Ecuador forschte und der sich ausschließlich auf nichtlokal produzierte und gekaufte Nahrungsmittel, Speisen und Getränke bezieht. In Peru ist dieser Begriff nicht bekannt. Hier werden eher die eben genannten Begriffe verwendet, die gewissermaßen Synonyme von wanlla darstellen (Weismantel 2005: 93, Sax 2009: 88).
net werden, bezeichnet man versalzene Speisen eher als jayaj. Nach Lopez García macht die Prise Salz den Menschen zum Menschen, das heißt zu einem sozialen Wesen. Sie steht für Menschlichkeit, Zivilisation und Kultur. Ein zu viel oder zu wenig hingegen werden mit Wildheit beziehungsweise der Welt der Geister und Toten assoziiert (1998: 195f.). 33 Siehe dazu auch Weismantel (1988: 135ff.). 34 Zu diesen und anderen Konnotationen von jayaj siehe auch Weismantel (2005: 93) und Lopez García (1998: 192).
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Abbildung 2: Eine typische mishqui-Speise und Pedros Leibgericht – wie auch vieler älterer Dorfbewohner – ist sara pela (Mais-Eintopf): Sie besteht aus aderezo, geschälten Maiskörnern, Alpakafleisch, schwarzen chuños, getrockneten Limabohnen, Kartoffelstücken, und Suppengemüse. Abgeschmeckt wird mit Salz, Pfeffer, Piment, mildem Chili sowie frischen Kräutern wie zum Beispiel Frühlingszwiebel, Petersilie, Oregano, hierba buena und huacatay, zwei speziellen Minzsorten.
Quelle: Antje Baecker
Wie die meisten dieser Begriffe anklingen lassen, handelt es sich hierbei nicht um Bestandteile der Alltagsernährung – das heißt um richtige Nahrung, die zugleich als essentiell für die Gesundheit betrachtet wird. Vielmehr werden diesen aus konservativer Sicht zahlreiche negativ konnotierte sinnlich-kulinarische Eigenschaften zugeschrieben, die der Konstitution des Körpers schaden, denn bedingt durch seine Durchlässigkeit, übertragen sich diese mit dem Verzehr auf den Körper. Sie gelten sowohl humoral als auch geschmacklich als unausgewogen. Man sagt, sie seien zu trocken oder zu kalt wie zum Beispiel Brot und Salat; wären zu wässrig, zu würzig, zu scharf oder hätten gar keinen Geschmack, wären zu leicht verderblich, zu reichhaltig oder zu nährstoff-
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arm (Weismantel 1989: 90, 92).35 Daher würden sie kein festes, sondern ein weiches bis flüssiges, minderwertiges Körperfett produzieren, was einer der Hauptgründe für einen schwachen und krankheitsanfälligen Körper sei. Letzteres sei dabei kennzeichnend für den Körper eines Mestizen oder Weißen – kurz: eines misti36 –, der sich hauptsächlich von dieser Nahrung ernähre und infolge schlicht zu schwach sei, richtige Arbeit, das heißt Feldarbeit, zu verrichten (Fernandez Juarez 1997: 119). Vollkommen abgelehnt wird der Verzehr fremder Nahrung wie gesagt nicht. Auch wenn sie nicht als essentiell für das Überleben betrachtet wird, fördert ihr Konsum doch die Nahrungssicherheit, den Wohlstand und die kulinarische Diversität (Graham 2003: 158). Darüber hinaus kommt ihr anstelle eines hohen ernährungsphysiologischen Wertes eine wichtige soziale beziehungsweise sozio-ökonomische Funktion zu: Sie fungiert als Gabe innerhalb sozialer oder ritueller Kontexte. Gerade Familien, die stark landwirtschaftlich tätig sind, sind von anderen ähnlich ausgerichteten Haushalten abhängig. Sie sind auf gegenseitige Hilfe und den Tausch von Arbeit, das heißt auf die Unterstützung konsanguiner und affinaler Verwandter sowie Wahlverwandter angewiesen. Nahrungsgaben dienen in diesem Zusammenhang der Etablierung und Pflege sozialer wie ökonomischer Netzwerke innerhalb und zwischen Haushalten. Im Zuge dessen anderen eine kulinarische Freude zu bereiten, gilt schließlich als Zeichen des Respekts und der Anerkennung einer bestehenden Beziehung (Weismantel 2005: 93ff.). Abschließend ist es noch interessant zu erwähnen, dass jayaj beziehungsweise uchu, also Chili mit Männlichkeit assoziiert wird
35 Zu negativ konnotierten sinnlich-kulinarischen Eigenschaften fremder Nahrung siehe außerdem Vokral (1989:259, 264). Die Autorin macht darauf aufmerksam, dass zwischen kalt, bitter, Nährstoffarmut und Schwerverdaulichkeit ein Zusammenhang hergestellt wird (ebd.: 254, 259, 264). 36 Misti wird als Gegensatz zu Runa gesehen. Siehe dazu Weismantel (2001: XXXVII).
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(Weismantel 2005: 92). Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen, gibt es bezüglich der Gender-Vorschriften aber keine strikte Trennung. Ebenso wie einige Frauen gern Chili essen, gibt es auch Männer, die eine Abneigung gegenüber diesem haben. Gemäß Weismantel wird Chili allerdings eher von Frauen jenseits des gebärfähigen Alters konsumiert.37 Dabei vermeiden es Frauen, diesen roh zu verzehren. Sie bevorzugen ihn in zubereiteter beziehungsweise gekochter Form als Sauce, denn durch den weiblich konnotierten kulinarischen Prozess des Sauce-Machens wird der Chili beziehungsweise jayaj verweiblicht. Jayaj wird durch Kochen zu mishqui (Weismantel 1988: 136f.) und somit als weniger bedrohlich und schädlich, insbesondere für den weiblichen Körper, erachtet.38
K OCHEN
ALS KULTURELLER
ANEIGNUNGSPROZESS
Weismantels Anmerkung, dass männlich konnotierte jayaj-Nahrungsmittel durch Kochen verweiblicht und dadurch für Frauen konsumierbar werden, liefert den Hinweis für die Beantwortung folgender Fragen. Wie werden Nudeln in ein für Alltagsspeisen geeignetes Nahrungsmittel, das heißt in eine mishqui-Speise transformiert? Wie begegnen die Bewohner Coporaques dem Dilemma, welches sich dadurch definiert, dass Gesundheit auf dem Konsum lokaler Nahrung basiert; sie aber gleichzeitig ein gewisses Bestreben haben, ihre Ernährung zu diversifizieren, wobei unbekannte und fremde Nahrung gewisse Bedrohlichkeiten auslöst, da sich diese oft außerhalb des ge-
37 Junge, unverheiratete Frauen konsumieren hingegen laut Weismantel kaum Chili (Weismantel 1988: 136). 38 Bedingt durch die Durchlässigkeit des andinen Körpers wird dieser als sehr verletzlich charakterisiert, wobei der weibliche Körper gegenüber dem männlichen als offener und damit verletzlicher erachtet wird (Larme 1998: 1005, 1009f.).
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wohnten Bereichs der Stofflichkeit, des Geschmacks oder des Geruchs befinden?39 An sich kommen Nudeln einer mishqui-Speise konzeptuell bereits sehr nah.40 Sie sind zwar nicht-lokalen Ursprungs, aber haben einen ähnlichen Geschmack und eine ähnliche substantielle Beschaffenheit wie lokale Grundnahrungsmittel. Zudem sind sie in ungekochtem Zustand gleichermaßen trocken und hart und dadurch lange lagerfähig. Auch wirken sie sättigend, konsumiert man sie in ausreichender Menge
39 Das Dilemma von neophilia und neophobia, dem der Mensch hinsichtlich des Essens gegenüber steht, bezeichnet Fischler als omnivore’s paradox (1988: 277). Fischler schreibt dazu: „[…] man is an omnivore, a condition which implies a fundamental ambivalence. Omnivorousness first implies autonomy, freedom, adaptability […]. But this liberty also implies dependence and a constraint – that of variety […]. These two contradictory characteristics entail equally contradictory consequences; hence the omnivore’s paradox.“ (Ebd.) Er kommt daher abschließend zu der Bestimmung: „The omnivore’s paradox lies in the tension, the oscillation between the two poles of neophobia […] and neophilia […].“ (Ebd.) Siehe hierzu außerdem Hamilakis (2013: 83ff.) sowie Rozin und Rozin (2005a: 34f.). 40 Auch andere Nahrungsmittel nicht-lokaler Herkunft, die zudem aus industrieller Fertigung stammen, werden mit dem Begriff mishqui in Verbindung gebracht, wobei es sich offenbar eher um Substanzen handelt, die als Geschmackgeber dienen, als um solche, die der Sättigung dienen. In Ura Ayllu-Peru (Graham 2003: 157), in Zumbagua-Ecuador (Weismantel 2005: 91) und auch im Colca-Tal gelten Abpackungen zum Würzen von Suppen und andere, bestehend aus Salz, mildem Chili und Glutamat (Monosodium), genannt ajinomoto und aji sin picante (Chili ohne Schärfe), sowie raffinierter Zucker und gekaufte sowie industriell gefertigte süße Speisen und Getränke als mishqui. Indem man diese Würzmittel und Nahrungsmittel als mishqui bezeichnet, hebt man deren Geschmack, der als positiv bewertet wird, hervor. Gleichzeitig tritt ihre Assoziation mit der nichtandinen Welt dadurch in den Hintergrund und findet dieser Aspekt keine weitere Beachtung.
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und sie sind überall erhältlich. Zudem ist ihr Gebrauch mit diversen Vorteilen verknüpft. Auf Grund ihres neutralen Geschmacks sind sie vielfältig einsetzbar und sorgen für kulinarische Abwechslung. Zugleich dient eine Hand voll Nudeln in Gerichten, die vorwiegend aus lokalen Zutaten bestehen, dazu, diese zu strecken (Graham 2003: 157), wodurch Vorräte an selbst produzierten Anbauprodukten, die für bestimmte Feierlichkeiten dringend benötigt werden, geschont werden können. Auch ist ihre Zubereitung äußerst zeitsparend. Darüber hinaus transformieren die Akteure als ungeeignet betrachtete sinnliche Eigenschaften in gewünschte, um ihnen dadurch ihre Bedrohlichkeit zu nehmen (Weismantel 1989: 92). Yannis Hamilakis (2013: 83) bezeichnet diesen Prozess als einen familiarising process. Konkret vollzieht er sich während des Kochens41 und des Verzehrs (Weismantel 1988: 136, 1989: 92)42. Auch in dieser Hinsicht eignen sich Nudeln besonders zur kulturellen Aneignung, denn im Gegensatz zu zahlreichen anderen gekauften Nahrungsmitteln wie Brot, Eiscreme, Torten oder Essen vom Markt müssen diese noch gekocht werden. Dadurch kann auf ihre sinnlich-kulinarischen Eigenschaften Einfluss genommen werden.
41 Und ganz ähnlich schreibt auch Fischler dem Kochen im Zusammenhang mit dem Omnivoren-Dilemma eine wesentliche Bedeutung zu: „A human group’s cuisine can […] be understood as a body of practices, […] one of whose essential functions is precisely to resolve the omnivore’s paradox.“ (Fischler 1988: 278) 42 In The Children Cry for Bread (1989: 92) schildert Weismantel, dass die Bewohner von Zumbagua-Ecuador die sinnlichen Eigenschaften von Brötchen, die als trocken und kalt gelten, zur Frühstücksmahlzeit gemäß eigener Prämissen transformieren. Sie konsumieren diese nicht in ihrem herkömmlichen Zustand, sondern in einem flüssig/feuchten und warmen Zustand: als Brei. Sie werden also in eine mishqui-Speise transformiert. Dazu wird das Brötchen in kleine Stücke zerteilt und in eine Tasse Tee gegeben. Anschließend wird alles miteinander verrührt. Durch diesen Transformationsprozess nimmt man den Brötchen ihre Bedrohlichkeit.
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Während der Zubereitung werden Nudeln mit Hilfe von zum Beispiel Alpakafett oder -fleisch, lokal erzeugtem Gemüse, Kartoffeln und Kräutern in die lokale kulinarische Grammatik eingefügt. Zudem werden Nudeln nicht nur in Wasser gesiedet; man röstet sie auch oft in rohem Zustand, bevor sie der Zubereitung hinzugefügt werden. Durch das Rösten erhalten sie eine mehligere Beschaffenheit, wodurch sie süßer und bekömmlicher werden. Auch ihr humoral kalter Charakter wird während des Röstens transformiert. Sie werden dadurch humoral erhitzt, das heißt sie werden dem gleichen kulinarischen Transformationsprozess unterzogen, wie auch trockene lokale Grundnahrungsmittel.43 Auch dient das Rösten nach Auskunft der Köchinnen dazu, zu verhindern, dass die Nudeln in der Speise zerfallen. Ihnen wird somit eine noch festere und trocknere Konsistenz gegeben. Gleichzeitig wird ihnen der spezifische kulturell geschätzte Röst-Geschmack verliehen, wodurch am Ende die gesamte Speise besser schmeckt. Möglicherweise erhält die Speise dadurch auch einen ausgewogeneren, volleren beziehungsweise runderen Geschmack. Insgesamt erfahren die Nudeln während des gesamten Garprozesses eine kulturelle Aufwertung, denn nach Sicht der Köchinnen werden während dessen all ihre sinnlichkulinarischen Eigenschaften verbessert. Eine andere Variante, Nudeln geschmacklich an die lokale Küche anzupassen, ist die Verwendung von altem Küchenequipment: Tontopf und Lehmherd. Im Gegensatz zu modernen Küchengeräten wie Aluminiumtopf und Propangasherd geben Töpfe aus gebrannter Erde einen sabor a tierra – Geschmack nach Erde beziehungsweise einen erdigen Geschmack (Orlove 1998: 213), während der Rauch des Feuerholzes den Speisen einen rauchigen Geschmack verleiht (Camacho 2006: 166). Letztlich lässt sich mit dieser
43 Vokral (1989: 263) erwähnt, dass Fabriknahrung wie Nudeln als kalt und bitter deklariert werden. Nahrungsmittel, die man als kalt eingestuft, werden als schwer verdaulich wahrgenommen (ebd.: 254).
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Zubereitungsform auch der geschätzte warme Zustand (span. templado) der gekochten Speise länger aufrechterhalten.44 Das Beispiel der kulinarischen Aneignung von Nudeln spiegelt klar die Hybridität der andinen Küche und Kultur wider, wobei das Kochen als das zentrale Moment der Aneignung der fremden Nahrung und deren Integration in die andine Ernährungskultur betrachtet werden kann. Auch erweist sich das Kochen hier als ein wichtiger konfliktlösungsorientierter Aushandlungsprozess, denn aus Nudeln zubereitete Suppen bilden ein Patchwork, das Neues und Altes vereint. Auf diese Weise gelingt es, Alte, Junge, Daheimgebliebene, Zurückgekehrte und Pendelnde an einen Tisch zu bringen und aus einem Topf zu speisen. Indem andine Gemeinschaften manches Neue aufnehmen, einiges Alte hinter sich lassen und wiederum anderen bestehenden Dingen und Werten ein neues Gewand verleihen, reagieren sie auf gesellschaftliche Transformationsprozesse mit verschiedenen Mitteln – wie beispielsweise Rösten oder der Verwendung traditioneller materieller Kultur – sodass sie stattfindenden kulturellen Wandel in gewisser Hinsicht kontrollieren, indem sie Fremdes entmachten und zu Eigenem machen45 und so den Fortbestand ihrer Kultur sichern. Und dennoch: Personen, die gekauften Nahrungsmitteln eher skeptisch gegenüberstehen, betrachten zu Hause gekochte Gerichte, die zum Beispiel Nudeln enthal-
44 Die Zustände heiß, kalt und lauwarm beziehen sich sowohl auf den humoralen Charakter, als auch auf den physikalischen Zustand (Bastien 1985). Tontopf und mit Holz erzeugtes Feuer gelten als heißer als Metalltopf und Feuer vom Gasherd. Es gibt hier einen realen Bezug zur messbaren Temperatur, denn Metalltöpfe kühlen schneller aus, wenn sie nicht mehr hoher Hitze ausgesetzt sind. Tontöpfe hingegen halten das Essen über einen langen Zeitraum warm. Auch gibt die verbleibende Glut eines mit Holz erzeugten Feuers noch über mehrere Stunden Wärme ab. Propangasflaschen werden dagegen nach dem Kochen wieder verschlossen, denn ihre Anschaffung ist kostspielig. Deshalb achtet man auf einen sparsamen Verbrauch. 45 Siehe hierzu Santos-Graneros (2009: 493f.).
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ten, nicht als richtige mishqui-Speise (Weismantel 2005: 95), denn ein Aspekt lässt sich ihrer Ansicht nach nicht verändern: ihre Herkunft. Obwohl Nudeln lokalen Grundnahrungsmittel geschmacklich ähnlich sind und ihnen zusätzlich lokal geschätzte sinnlich-kulinarische Eigenschaften verliehen werden, bewahren viele Coporaqueños ihnen gegenüber eine individuell paradoxe Haltung und führt ihr Verzehr im Alltag zu innergesellschaftlichen Konflikten. Wie sich zeigt, werden neue Nahrungsmittel wie Nudeln keineswegs problemlos angeeignet und indigenisiert. Denn fremde Nahrungsmittel wie Nudeln, deren Verbrauch stark gestiegen ist, nehmen meist einen ambivalenten Status ein, da sich ihr Gebrauch diversifiziert hat, das heißt dieser vielschichtiger, heterogener und damit widersprüchlicher geworden ist.
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Zur Kulinarik des Emotionalen Foodways, Grenzen des Verbundenseins und Empathie in Papua-Neuguinea A NITA VON P OSER 1
E INLEITUNG Als ich M., eine meiner engsten und vertrautesten Gesprächspartnerinnen im Feld, im Jahr 2010 wiedersah und sie nach ihrem Befinden fragte, wirkte sie auf mich traurig und frustriert. Ihre Situation, die von einem gestörten Verhältnis zu ihren Brüdern geprägt war, beschrieb sie mir mit den folgenden Worten: Mi kamap olsem man ... nogat brata husait i laik helpim mi. Em ... mi dispela kain meri ya ... mi mekim rong. Mi ken wokim dispela wok, em i no hevipela 2
samting. Mi gat strong lo katim saksak. Tasol ... i no luk gutpela.
1
Dr. Anita von Poser, Institut für Sozial- und Kulturanthropologie, Freie
2
Die Aussage erhielt ich in Tok Pisin, dem sogenannten Melanesischen Pid-
Universität Berlin, [email protected] gin-Englisch, welches die lingua franca des Landes darstellt und neben der Lokalsprache ebenso wie Englisch, das in der Schule gelehrt wird, zuneh-
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„Ich bin gewissermaßen zu einem Mann geworden ... meine Brüder verwehren mir ihre Hilfe. Es ist ... ich bin eben diese Art von Frau ... ich habe einen Fehler begangen. Ich kann diese Arbeit verrichten, sie ist nicht allzu schwer. Ich bin stark genug, um eine Sagopalme zu fällen. Aber ... so gehört es sich eigentlich nicht.“
Der Beziehung zwischen gegengeschlechtlichen Geschwistern fällt in Daiden, aber auch in anderen Teilen Papua-Neuguineas (Feld 1990: 20-27), in der Tat eine besondere Bedeutung zu, gilt sie doch als die engste soziale und vertrauenswürdigste Nahbeziehung. Ich hatte M. im September 2004 kennengelernt, als meine erste 14-monatige anthropologische Feldforschung in Daiden begann. Daiden liegt in einer ruralen und nach wie vor weitgehend von Subsistenzwirtschaft geprägten Umgebung am unteren Ramu River in der Madang Provinz von PapuaNeuguinea3. Das Mark der Sagopalme (vees) bildet in diesem Teil des Landes das wichtigste stärkehaltige Nahrungsmittel. In Daiden wird es normalerweise auf Basis geschlechterkomplementärer Arbeit (in gegengeschlechtlicher Geschwisterkonstellation oder in ehelicher Partnerschaft) gewonnen: Männer fällen die Palme und zerfasern das Innere. Frauen waschen aus den Fasern schließlich eine stärkehaltige Substanz heraus, die zur Zubereitung verschiedenster Speisen, allen voran Sagopudding (erok), verwendet wird. Das Bearbeiten einer Palme erfordert ein bis mehrere Arbeitstage. Kurz vor meiner Ankunft im Jahr 2004 war M., eine Frau mittleren Alters und Mutter von vier Kindern, gerade Witwe geworden. Als wir uns begegneten, fristete sie ihr Dasein zunehmend unwillig in einer den lokalen Gepflogenheiten zufolge für verwitwete Personen vorgesehe-
mend gesprochen wird. Begriffe aus dem Tok Pisin werden in diesem Beitrag entsprechend markiert, sind jedoch ebenso wie lokalsprachliche Begriffe in Kursivschrift gesetzt. 3
2004-2005 wohnten in Daiden ca. 250 Personen, die sich einer größeren soziolinguistischen Gesellschaft zugehörig fühlen, die in der Gegend als „Bosmun“ bekannt sind.
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nen Seklusionszeit (kosir). Eigentlich, so beklagte sie sich damals bei mir, sei längst die Zeit gekommen, ihr die Rückkehr in den normalen Lebensalltag zu ermöglichen. Wie ich nach und nach erfuhr, verwehrten ihr dies jedoch die Verwandten ihres verstorbenen Mannes, denen die diesbezügliche Entscheidungsmacht oblag, da sie ihr vorwarfen, ihren Mann zu dessen Lebzeiten betrogen zu haben4. In den kommenden Monaten wurde ich Zeugin, wie M. ihrer Isolation eigenständig ein Ende setzte, in dem sie eines Tages Daiden verließ, um mit zwei ihrer vier Kinder bei Verwandten in einem benachbarten Ort Zuflucht zu suchen. Die anderen beiden Kinder ließ sie zurück bei den Eltern ihres verstorbenen Mannes. Im Verlauf wiederholter Feldaufenthalte (2006, 2008, 2010) erhielt ich einen langzeitlichen Einblick in die Schwierigkeiten, mit denen M. konfrontiert war in ihrer von ihrem weiteren sozialen Umfeld zugeschriebenen Rolle als Frau, die sich kulturellen Regeln widersetzt hatte. Ihre eigene Familie hatte sie zwar zunächst aufgenommen und ihr durchaus den Rücken gestärkt. Als M. allerdings erneut ein Kind gebar – der in obiger Aussage erwähnte Fehler bezieht sich auf ein außereheliches Verhältnis M.’s sowie die daraus resultierende Schwangerschaft – erfuhr sie auch durch ihre eigenen Familienangehörigen, insbesondere durch ihre Brüder, eine zunehmende soziale und, wie ich zu zeigen gedenke, emotionale Ausgrenzung. Mit meinem Beitrag schlage ich genau genommen eine psychologisch-anthropologische Lesart vor, die es erlaubt, M.’s Aussage als
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M. befand sich bereits nahezu ein Jahr in Seklusion. In der Tat konnte ich beobachten, wie in anderen Fällen die Seklusion bereits nach einem Monat endete. Diese Zeit ist mit spezifischen sozial-leiblichen Einschränkungen verbunden. Personen in Seklusion ist es untersagt, das eigene Haus zu verlassen und sich an der Nahrungsproduktion zu beteiligen. Ebenso ist es ihnen untersagt, häufiger als einmal am Tag im Ramu zu baden. Nahrungsproduktion ebenso wie das täglich mehrfache Baden im Ramu gelten als lebensspendende und -stärkende Aktivitäten in Daiden. Die Zeit in Seklusion jedoch sollte in einem Zustand jenseits lebensbejahender Aktivitäten verbracht werden.
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Ausdruck einer spezifischen und kulturell eingebetteten Kulinarik des Emotionalen5 zu interpretieren. In einem ersten Schritt plädiere ich für eine konzeptuelle Zusammenschau verschiedener Anthropologien: der anthropology of food, der anthropology of empathy sowie der anthropology of kinship/relatedness. In einem zweiten Schritt untermauere ich meine theoretischen Überlegungen mit weiterem empirisch-ethnographischem Material, um so schließlich die komplexe Verwobenheit spezifischer Foodways mit Vorstellungen über empathische Prozesse und die Grenzen zwischenmenschlichen Verbundenseins in Daiden aufzuzeigen (siehe hierzu von Poser, 2011, 2013, 2017).
Z UR K ULINARIK DES E MOTIONALEN – F OODWAYS , V ERBUNDENSEIN UND E MPATHIE Ein simpler, jedoch wichtiger Tatbestand macht die Auseinandersetzung mit einer Kulinarik des Emotionalen dringend notwendig: „Next to breathing, eating is perhaps the most essential of all human activities, and one with which much of social life is entwined.“ (Mintz und DuBois 2002: 102)
Seit jeher sind Essen, Nahrung und Ernährung zentrale Themen der Anthropologie, die mittels strukturalistischer (Douglas 1966, 1972, Lévi-Strauss [1964] 1969, 1997), symbolischer (Kahn 1986), kognitiver (Pollock 1986, Wassmann 1993) oder auch phänomenologischer Ansätze (Eves 1998) analytisch fassbar gemacht wurden. Foodways, die die kulinarische Anthropologin Carole M. Counihan im weitesten
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Unter Emotion/emotional fasse ich terminologisch das Spektrum gefühlter menschlicher Erfahrungen in ihrer komplexen bio-kulturellen Verfasstheit und prozesshaften Entfaltung. Siehe auch Röttger-Rössler und Markowitsch (2009).
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Sinne als Vorstellungen und Verhaltensweisen definiert, welche mit der Produktion, Distribution und Konsumption von Nahrung verknüpft sind, eignen sich somit in der Tat als ein „effective prism through which to illuminate human life.“ (1998: 1) So wurde die politische Dimension des Kulinarischen auf lokaler (Young 1971) und globaler Ebene (Watson und Caldwell 2005) herausgearbeitet ebenso wie dessen Relevanz für Fragen von Geschlecht (Counihan und Kaplan 1998, Kahn 1986), Sozialisation (Tietjen 1985), Körper (Counihan 1999, Meigs 1984), Erinnerung (Holtzman 2006, Sutton 2001) und kulturelle Grenz- und Differenzmarkierungen (Haines und Sammells 2010) erörtert. Auf Basis meiner empirischen Erfahrungen in Daiden fasse ich unter dem Begriff Foodways auch zwischenmenschliche emotionale Dynamiken, die nahrungsbezogenen Anschauungen, Metaphern und Symboliken, Handlungen und Praktiken inhärent sind beziehungsweise durch diese veräußerlicht werden. Kurzum: Foodways stellen, ebenso wie im lebensweltlichen Kontext der Sabarl in Papua-Neuguinea, bei denen die Anthropologin Debbora Battaglia lebte und forschte, „enactments of emotion“ dar und werden häufig mit prosozialen Emotionen – als „statements of trust und sentiment“ (Battaglia 1990: 56, siehe hierzu auch Alexeyeff 2004, Barlow 2001: 86-91, Eves 1998: 36, Mageo 2011: 76) – assoziiert. Genau genommen definiert in Daiden die Intensität und Regelmäßigkeit geteilter Foodways den Grad sozialen Verbundenseins oder Verwandtseins (engl. relatedness) und weitaus weniger die Blutsverwandtschaft (engl. kinship), die im euroamerikanischen Denken nach wie vor vorherrschend ist. Insofern bietet sich hier eine klare Bezugnahme auf die Arbeiten Janet Carstens (1997, 2000, 2004) an, die ausgehend von David Schneiders A Critique of the Study of Kinship (1984) die sogenannten New Kinship Studies (Alber et al. 2010) mitbegründete, indem sie für ein dynamischeres Verständnis von Verwandt- oder Verbundensein plädierte, um so die Vielfalt von „indigenous idioms of being related“ (Carsten 2000: 4) jenseits hegemonialer Verwandtschaftsdiskurse zu illuminieren. Carsten zeigt auf Grundlage ihrer empirischen Erhebungen in West-Malaysia, dass Mit-
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glieder der dort beheimateten Langkawi „become kin to each other through living and eating together.“ (Carsten 1997: 27) In ähnlicher Weise spricht sich James Leach im Kontext seiner Forschungen an der Rai Coast von Papua-Neuguinea für eine prozessuale Konzeptualisierung zwischenmenschlichen Verbundenseins aus. In Creative Land konstatiert er: „People share substance, and are therefore kin, because they have grown in the same land“ (Leach 2003: 30). Carsten, Leach und andere (zum Beispiel Bamford 2007, 2009) haben zu einer wichtigen Neuerung der älteren und meist auf der Suche nach Strukturen ausgerichteten Verwandtschaftsforschung beigetragen, indem sie dem „agentive, creative aspect of people’s interactions“ (Leach 2003: 23) eine stärkere analytische Aufmerksamkeit geschenkt haben. Was die Kulinarik des Emotionalen im Fall Daidens so besonders macht, ist die Tatsache, dass Foodways im Verständnis meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner untrennbar in Zusammenhang gebracht wurden mit sozial-leiblichem Befinden, moralischen Emotionen und insbesondere empathischem Verstehen. So lernte ich, dass sozial-leibliches Wohlbefinden in Daiden als davon abhängig erachtet wird, ob vertraute Personen sich bemühen, das Befinden ihres jeweiligen Gegenübers empathisch zu ergründen, um idealerweise wohlwollend darauf zu reagieren. Ausgehend von diesem emischen Verständnis (und ganz im Sinne einer Grounded Theory, Glaser und Strauss 1967), erweitere ich daher den Begriff Foodways um eine dezidiert psychologisch-anthropologische Perspektivierung und möchte dazu anregen, das Spektrum an „emotional foodways“ (von Poser 2013: 34, 121-171) systematischeren Untersuchungen zu unterziehen. In der psychologischen Anthropologie (Hollan und Throop 2011, Engelen und Röttger-Rössler 2012, Stodulka 2014) ebenso wie in den ihr verwandten Disziplinen (zum Beispiel Stueber 2006, Assmann und Detmers 2015) werden Phänomene von Empathie erst in jüngerer Zeit systematisch in den Blick genommen6. Empathie lässt sich als der Ver-
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Wie die Anthropologen Douglas W. Hollan und C. Jason Throop (2008) und auch Joel Robbins und Alan Rumsey (2008) bemerken, ist die im Fach
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such beschreiben, die subjektiven Erfahrungen anderer aus einer „quasi-first person perspective“ (Hollan und Throop 2008: 387) heraus verstehen zu wollen. Psychologinnen und Psychologen unterscheiden üblicherweise, so die Kognitionsanthropologin Claudia Strauss (2004: 434), zwischen kognitiver und affektiver Empathie. Während kognitive Empathie den Prozess des Bewusstwerdens der Gedanken und Gefühle anderer bezeichne, impliziere affektive Empathie die emotionalen Reaktionen auf die Gedanken und Gefühle anderer. Ich dagegen bevorzuge den Terminus „emotional reasoning“, den die Bioethikerin Jodi Halpern in ihrem Buch From Detached Concern to Empathy: Humanizing Medical Practice (2001) zur genaueren Bestimmung des Phänomens gewählt hat, da hier unter anderem richtigerweise die Grenzen zwischen Kognition (Geist) und Affekt (Psyche, Körper) konzeptuell aufgebrochen werden. Sie schreibt: „Writers on empathy either base empathy in detached reason or sympathetic immersion. Against these models I describe empathy in terms of a listener using her emotional associations to provide a context for imagining the distinct experiences of another person. Therefore, empathy is a form of emotional reasoning.“ (Halpern 2001: xv)
Empathie lässt sich somit als das Resultat eines konstanten Wechselspiels von affektiven und kognitiven Aspekten begreifen (von Poser 2013: 11), welches sich aus einer Vielzahl von Assoziationen, Imaginationen und Wissensbeständen speist (Hollan 2011, Lohmann 2011). Diese werden ihrerseits sozial-relational generiert, denn die Übernahme einer „quasi-first person perspective“ gelingt aus Sicht des psycho-
eher zögerliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Prozessen empathischen Verstehens auf die von Clifford Geertz geäußerte Kritik (1984) zurückzuführen, wonach Anthropologinnen und Anthropologen lediglich vorgäben, empathische Bande im Feld zu knüpfen, in Wahrheit aber lediglich einer Projektion der eigenen Ideen und Vorstellungen in Bezug auf die Gefühle und Gedanken anderer unterworfen seien.
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logischen Anthropologen Douglas W. Hollan nur mittels eines „ongoing dialogue“ (2008: 476) zwischen Personen, die Teil des empathischen Aufeinandertreffens sind. Dieser beständige Dialog wiederum steht und fällt mit einer, spezifischen kulturellen Normen unterworfenen Bereitschaft, einander auch die notwendigen „appropriate cues for understanding“ (ebd.: 484) zu liefern. Interessant an den Definitionsvorschlägen von Halpern und Hollan ist, dass hiermit auch der explizite Einbezug einer macht- und handlungskritischen Perspektive möglich wird, wodurch etablierte und oftmals vorschnelle Definitionsversuche von Empathie als einer primär prosozialen Immersion (Sympathie) hinterfragt werden können. In der Tat muss sich der analytische Blick auch auf Situationen richten lassen, in denen Empathie zum Zwecke emotionaler Missachtung und Kränkung anderer eingesetzt wird. In Daiden gibt es spezifische Foodways, die neben emotionaler Nähe und Harmonie auch emotionales Leid verursachen und somit die Grenzen und Brüche zwischenmenschlichen Verbundenseins deutlich aufzeigen. Sie spielen in lokalen empathischen Prozessen somit eine große Rolle. Im Folgenden erläutere ich zunächst die Bedeutsamkeit von Sago, die sich durch vielzählige Vorstellungen meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner bezüglich der Konstituierung sozialleiblichen Wohlbefindens durchzog. Daraufhin erfolgt eine Beschreibung des zentralen moralischen, in der Lokalsprache als ramkandiar bezeichneten Wertes in Daiden, welcher Empathie zu einer moralischen Obligation in verwandtschaftlichen Beziehungen erklärt.
V UMBU RUMBUS : S AGO , SKINSCAPES SOZIAL - LEIBLICHES W OHLBEFINDEN
UND
Immer wieder wurde ich in Daiden darauf hingewiesen, dass das Wachstum des menschlichen Körpers eng mit der Sagopalme verknüpft sei. Insbesondere während der Schwangerschaft etwa wurde auf den ausreichenden Verzehr von erok, Sagopudding, geachtet, den
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Verwandte der werdenden Mutter überbrachten. Der Pudding wird in Töpfen aus lokalem Ton (Abb. 1) angerührt und gilt als die einzig sättigende Zubereitungsform von Sago7. 2010 lag noch ein komplexes, von meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern als traditionell bezeichnetes Nahrungstabu vor, dem ein zentraler moralischer Wert von sozialer Interdependenz und eine besondere „virtue of giving“ (Barker 2008: 54) zugrunde lag: Niemandem war es erlaubt, sich von selbst gepflanztem Sago zu ernähren, was wiederum einen täglich zu beobachtenden Austausch dieses Hauptnahrungsmittels mit anderen und daran geknüpft das Aufrechterhalten eines bestimmten sozialen Equilibriums zur Folge hatte. Abbildung 1: Tontöpfe aus lokaler Produktion (2005)
Quelle: Anita von Poser
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Zu weiteren symbolischen Assoziationen zwischen Sago, Tontöpfen, Sexualität und männlicher und weiblicher Leiblichkeit. Siehe hierzu von Poser (2013: 139-148).
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Dieser Wert kam auch bei der Geburt eines Kindes in der Veräußerlichung einer spezifischen Praktik zum Tragen: Üblicherweise pflanzt ein erwachsenes Mitglied aus der Familie der Mutter oder des Vaters für das Neugeborene einen Palmenschössling, aus dem später ein größerer Bestand an Sagopalmen hervorgeht und der es dem dann herangewachsenen Kind ermöglicht, sich aktiv am Austausch von Sago zu beteiligen. Die Sagopalme benötigt circa 12 bis 15 Jahre, bis sie ihre volle Blüte erreicht und schließlich gefällt werden kann. Ähnlich hat sich bis dahin der kindliche Körper in den eines reifen jugendlichen Körpers transformiert. „Die Sagopalme wächst wie der Körper eines Menschen“, so die Worte eines Gesprächspartners, denn „Sago und Menschen bilden eine Einheit“ (Tok Pisin: Gro bilong saksak em olsem gro bilong man. Tupela em wankain tasol). Zu dem Familienmitglied, das den Schössling einst setzte, besteht üblicherweise ein lebenslanges vertrauensvolles und zugleich respektvolles Verhältnis, das durch soziale und materielle Reziprozität gekennzeichnet ist (Abb. 2). Ein Palmenbestand wird somit zum kulinarischen Sinnbild dieser ebenso wie anderer zwischenmenschlicher Beziehungen. Auch hinsichtlich der spirituellen Komposition gleichen Mensch und Sagopalme einander. Dies geht zumindest auf vormissionarische Vorstellungen zurück, die während meiner Aufenthalte – trotz Bekehrung zum Christentum seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts – nach wie vor von hoher Relevanz waren. Lokalsprachlich wird der Körper vumbu sak genannt. Vumbu bedeutet wörtlich übersetzt krank und sak bedeutet Fleisch. Um gesund und lebendig zu sein, benötigt jeder Körper nyerong, eine lebensspendende Kraft, die den Körper wie ein unsichtbares Gerüst von außen umgibt und die ihn bei Krankheit zeitweise und bei Tod für immer verlässt. Ähnlich besitzen auch Sagopalmen nyerong. Während des Fällens einer Palme muss ein Mann zügig zum oberen Ende der Palme laufen und deren Blätter mit einem Messer streifen, um so den Geist der Sagopalme (veese nyerong) am Fliehen zu hindern. Andernfalls, so wurde mir gesagt, würde die der Palme inhärente Stärke ungenießbar.
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Abbildung 2: Ritualisiertes Mahl als Ausdruck einer besonderen Nahbeziehung zwischen weiblichen Verwandten (2006)
Quelle: Anita von Poser
Aus Beschreibungen zu sozial-leiblichem Wohlbefinden erfuhr ich, dass dem gesunden Körper die Vorstellung zugrunde liegt, eine Vollständigkeit (rumbus) zu besitzen, die sich in Agilität, glänzender Haut und muskulöser Physis zeigt. Ein sogenannter vumbu rumbus (dt. vollständiger Körper) wird mit dem Beginn der körperlichen Arbeit in den Sagosümpfen erreicht. Hier entstehen Körper mit spezifischen skinscapes, die wichtiger Bestandteil lokaler Selbstbilder sind. Der Anthropologe David Howes, der sich mit der kulturell geprägten Dimension der menschlichen Sinne beschäftigt, definiert diese Landschaften auf menschlicher Haut wie folgt: „In many societies the skin of the earth is thought to be replicated in the skins of the individuals who live on it. Just as the landscape may resemble a body, the body may seem like a landscape, with its own hills and valleys and rivers.“ (Howes 2005: 33)
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Das von der Anthropologin Alison Dundon (2005) als „sense of sago“ beschriebene Zugehörigkeitsgefühl, welches der Leiblichkeit (engl. embodiment) von Frauen in Gogodala in der Western Province PapuaNeuguineas eingeschrieben zu sein scheint, trifft in ähnlicher Weise auch im Kontext Daidens zu: Da die Palmscheiden der Sagopalme von spitzen Nadeln übersäht sind, kehrten Frauen und Männer stets mit kleineren oder größeren körperlichen Verletzungen von der gemeinsamen Arbeit in den Sümpfen zurück. Das Auswaschen der Fasern mit den Handoberflächen verlieh den Händen der Frauen eine spezielle Äußerlichkeit, wohingegen dies bei Männern vor allem auf die Handinnenflächen zutraf, da sie die Fasern mit einem speziellen Werkzeug, welches sie in den Händen halten, zerkleinerten. Trotz offensichtlich physischer Anstrengung wurde mir die Gewinnung von Sago als ein Zeichen von Regsamkeit, Lebendigkeit, guter Laune, positiver Geschlechterkomplementarität und allem voran Verbundenheit mit anderen beschrieben. In konfliktiven Situationen brachen Ehe- oder Geschwisterpaare niemals zur gemeinsamen Arbeit in die Sagosümpfe auf. Einzelne Personen schlossen sich dann vorrübergehend anderen Arbeitsteams an.
K ULINARISCHE P RAKTIKEN UND I DIOME DES E MOTIONALEN Anhand einiger kulinarischer Praktiken und Metaphern erläutere ich nun den in Daiden als zentral erachteten moralischen Wert ramkandiar. Das Wort ramka- stammt von ramak und bedeutet Auge, ndiar bezieht sich auf moralisch konformes Verhalten. In übertragenem Sinne zielt der Begriff auf eine spezifische Form von Empathie, die das konstante Beobachten der kulinarischen Handlungen anderer voraussetzt ebenso wie die konstante Bereitschaft, sich der Beobachtung durch andere auszusetzen. Die Alltagsgespräche, die ich mitbekam, kreisten stets um folgende Fragen, wenn es darum ging, die Gedanken und Gefühle dieser oder jener Person einzuschätzen: War eine
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Person bekannt dafür, bereitwillig Sago zu teilen? Brach sie gerne zur Arbeit in den Sümpfen auf? Trug die Haut ihres Körpers die typischen Spuren von der dortigen Arbeit? Auf welche kulinarisch transportierte Weise und in welchem Maß an subjektiver Transparenz brachte sie ihre Gedanken und Gefühle vor den Augen anderer zum Ausdruck? Die Facetten von ramkandiar erschlossen sich mir häufig auch durch lokale Sichtweisen und Interpretationen dessen, was ramkandiar nicht ist. In folgender Aussage etwa deutete N., eine meiner älteren Gesprächspartnerinnen, den gegenseitigen Mangel an ramkandiar in der Beziehung zu ihrem biologischen Bruder an. Gleichzeitig hob sie in diesem Zusammenhang die besondere Beziehung zu ihrem klassifikatorischen Bruder und damit die Wirkmächtigkeit von relatedness hervor: Man ya em brata tru tru bilong mi tasol em i no save tingim mi long kaikai. Em ... em i no brata tru tru bilong mi olsem narapela ya ... tasol em save tingim mi long kaikai olgeta taim na em kamap olsem brata tru tru bilong mi. Olsem na, 8
mi no bisi long narapela. Mi save wari long dispela man tasol . „Der Mann da ist mein richtiger Bruder, doch er hat mich nur selten mit Essen bedacht. Dieser da ... dieser ist nicht mein richtiger Bruder wie der andere...doch er schickt mir regelmäßig Essen und ist daher mein richtiger Bruder geworden. Aus diesem Grund kümmere ich mich nicht mehr um den anderen. Mir liegt nur noch dieser Mann am Herzen.“
Emotionale Intensität, Nähe und Distanz wurden mir gegenüber immer als in enger Verbindung mit spezifischen Foodways stehend erklärt. Beispielsweise wurde der Verlust einer geliebten Person als besonders schmerzhaft empfunden, wenn der Wind kiniri xaame einsetzte, der von etwa Mai bis September weht und die Trockenzeit markiert und normalerweise mit Gefühlen von Euphorie und Aufbruchsstimmung (ngusungu) verbunden ist. Nach den langen Monaten der Regenzeit, in
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Tok Pisin.
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der viele Wege nur schwer begehbar waren, bedeutet diese Zeit eine in vieler Hinsicht zutreffende Befreiung. Für diejenigen aber, die um einen geliebten Menschen trauern, wird kiniri xaame zu einer Zeit intensivierter Trauer und Verlusterfahrung. So übersetzt sich denn kiniri xaame auch wörtlich in den Wind (xaame) der Trauer / körperlichen Taubheit (kiniri). Durch die Foodways, die ich kennen- und verstehen lernte, konnten auch negative Empfindungen externalisiert werden, was „potentially the undoing of systems of descent and alliance“ (Battaglia 1990: 56) nach sich ziehen konnte. Einige diesbezügliche lokale Idiome stelle ich daher konzis vor: Scham und länger währende Streitigkeiten etwa wurden mit dem Bild zerbrochenen Essgeschirrs (xaam mbitit) gefasst. Xaam mbitit setzt sich aus den Worten xaam für Essgeschirr (lokal aus dem Material der Kokosnuss oder Nautilus-Muschel gefertigt) und mbitit für zerbrochen zusammen und steht metaphorisch für soziale Brüche und das Beenden ehemals guter Beziehungen. Soziale Brüche ergaben sich in Daiden meist im Kontext unangebrachten nahrungsbezogenen Verhaltens, wenn einzelne Personen ein sogenanntes ngumu mbakmbak zeigten – ein mit ungenießbar gewordenem Sago (mbakmbak) überzogenes Gesicht (ngum). Ein solches Gesicht, so erfuhr ich, ist der Inbegriff einer selbstbezogenen, faulen, gierigen und geizigen Person, die ihre Gedanken und Gefühle für sich behält, anderen aus dem Weg geht und sich jeglichem sozialem Geschehen entzieht, um alleine im Geheimen zu speisen. Personen, denen das Verhalten ngunguru aam (ngunguru = geheim, aam = speisen) nachgesagt wurde, gerieten schnell in Verdacht, sich des Schadenszaubers zu bedienen, der nach wie vor Glaubensvorstellungen in vielen Teilen des Landes prägt. Damit ein derartiges Verhalten unterbunden wird, sollten Familienangehörige einander daher stets mit offener Kritik und Reflexion in Form eines „transparenten Personseins“ (von Poser 2013: 119) begegnen. Dementsprechend konnte ich beobachten, dass die kulinarische Praktik des Zubereitens und des Verzehrs von Sago eine relativ öffentliche Angelegenheit in Daiden war, die nicht im Inneren eines Hauses,
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sondern stets auf einer offenen und für alle einsehbaren Plattform außerhalb stattfand, in die eine Kochstelle eingelassen war. Auch war es unüblich, ein Familienmitglied zu bitten, nachhause zu kommen, weil dort das Essen wartet. Usus war es vielmehr, dass dem Mitglied eine Portion überbracht wurde. Dabei achtete die nahrungsüberbringende Person stets darauf, den sozial-materiellen Raum für alle gut sichtbar zu durchschreiten. Diese konstante leibliche Bewegung durch den Raum, die sozial-leibliches Wohlbefinden in Daiden wesentlich mitkonstituierte, wurde meiner Gesprächspartnerin M. beispielsweise in einer ungewöhnlich langen Seklusionszeit untersagt. So oft hatte sie mir gegenüber erklärt, dass ihr die Bewegung enorm fehlen würde, aber auch, dass es an der Zeit sei, sich wieder aktiv und für ihr weiteres soziales Umfeld gut erkennbar um ihre Verwandten zu sorgen, um so letztlich zu vermeiden, dass ihr das moralisch konforme Verhalten gemäß ramkandiar abgesprochen werde.
S CHLUSS : „M EINE B RÜDER VERWEHREN MIR H ILFE “ – E INE MÖGLICHE L ESART
IHRE
Mit den obigen Ausführungen zur Kulinarik des Emotionalen in Daiden sollte abschließend eine Kontextualisierung der Situation M.’s möglich sein. Der Tatsache, dass M.’s Brüder ihr die Hilfe bei der Sagogewinnung verwehrten, liegt eine einzigartige kulturelle kulinarische Logik ebenso wie Dynamik zugrunde, die, wie ich argumentiert habe, ohne eine psychologisch-anthropologische Perspektivierung nicht richtig gedeutet werden kann. Die Reaktion der Brüder erfolgte gemäß lokal anerkannter und normativ kulinarischer Regeln: Sie antworteten auf M.’s Fehlverhalten mit einer Unterbrechung der gemeinsamen, sozial-leiblich habitualisierten und vertrauten Foodways und trugen so offenkundig zu dem bereits andauernden und nun intensivierten Unwohlsein ihrer Schwester bei. Gemäß dem Ideal emotionaler Transparenz war das weitere soziale Umfeld darüber informiert. So vieles, das ich als dem privaten Bereich
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zugeordnet hätte, etwa einen innerfamiliären Konflikt, war in Daiden in der Tat eine verhältnismäßig öffentliche Angelegenheit. Auch M. offenbarte wiederholt nicht nur in meinem Beisein, dass es sich für eine Frau nicht gehöre, die Sagopalme zu fällen, obwohl sie rein körperlich dazu in der Lage wäre. Wie ich aus anderen ähnlichen konfliktiven Fällen weiß, in denen positive ebenso wie negative empathische Reaktionen mittels spezifischer Foodways kommuniziert wurden, können hiermit einerseits sehr deutlich die Grenzen des Verbundenseins markiert und artikuliert werden. Andererseits aber liegt in dieser gerade so offenen kritischen Artikulation letztlich auch das empathische Potential für Annäherung und Wiedergutmachung. Sehr häufig wurde ich Zeugin solch öffentlich geäußerter Artikulationen. In manchen Fällen dauerte der Prozess der Annäherung Tage oder Wochen, in anderen Fällen Monate oder auch Jahre. In einigen Fällen galt eine Aussöhnung als ausgeschlossen. Letzteres betraf vor allem die affinalen, das heißt die durch Verheiratung/Verschwägerung zustande gekommenen Beziehungen. Eine solche Beziehung führe ich konzis an, da darin auch das Narrativ der besonderen Nähe zwischen Brüdern und Schwestern enthalten ist. Dies wiederum erlaubt es mir, die Situation von M., der Hauptprotagonistin meines Beitrags, innerhalb eines größeren kulturellen Verständnisrahmens einzuordnen und zu interpretieren. Seit dem Tod seiner Schwester war N., ein nahezu 60-jähriger Mann, mit deren Ehemann P. verstritten, da er diesem die Schuld an ihrem Tod gab und ihm den Einsatz von Schadenszauber unterstellte. Seither gingen die beiden Männer einander aus dem Weg. Die erwachsenen Kinder der beiden Männer hielten jedoch das familiäre Band aufrecht, zumal N. mit S., einer Schwester von P., verheiratet war. Auch S. verspürte größere Loyalität gegenüber ihrem Bruder und brachte ihre Positionierung mittels spezifischer Foodways zum Ausdruck. So überbrachte sie dem Bruder regelmäßig Sago und sorgte dafür, dass ihre Kinder bei der Sagogewinnung im brüderlichen Haushalt regelmäßig mitwirkten. Einerseits brachte S. damit – für alle deutlich sichtbar – zum Ausdruck, dass ihr
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Bruder Teil eines gut funktionierenden sozial-relationalen Geflechts war. Dem lokalen Verständnis nach konnte er daher kaum in Schadenszauberpraktiken involviert sein. Andererseits schuf sie damit aber auch einen sozialen Schutzmechanismus für ihren Ehemann. In Daiden kann die Person, die einen Schadenszaubervorwurf äußert, schnell selbst ins Visier einer solchen Anklage geraten. Daran war S. ebenfalls nicht gelegen und so beugte sie einer potentiellen Anklage vor, in dem sie durch ihre Positionierung zugleich eine Kritik an ihrem Ehemann äußerte. Dies entsprach ebenfalls der lokalen Logik. Denn in Daiden lernte ich, dass Personen in einer im Zusammenspiel von kulinarischen und empathischen Aushandlungsprozessen verankerten Kritik an einzelnen Mitgliedern letztlich die ganze Familie vor Anklagen des Schadenszaubers bewahren. Vor diesem Hintergrund ist auch die Ausgrenzung, die M. durch ihre Brüder erfuhr, letztlich als eine Form des Schutzes zu deuten. In Daiden geraten Personen, die kulturelle Regeln brechen, schneller in Verdacht, sich des Schadenszaubers zu bedienen oder ihre Mitmenschen dazu zu ermutigen. In der temporären Intensivierung von M.’s emotionalem Unwohlsein lag somit auch das Potential einer auf längere Sicht betrachteten Rekonsolidierung. Auch wenn M. in Gesprächen mit mir nicht explizit von der Hoffnung auf Versöhnung mit ihren Brüdern sprach, so konnte ich doch beobachten, wie sie den Brüdern immer wieder Sago überbringen ließ und damit konkrete Schritte der Annäherung unternahm. Personen aus dem sozialen Umfeld der Geschwister äußerten mir gegenüber durchaus offen, dass es früher oder später zu einer Versöhnung kommen werde, da die Brüder letztlich auf die Hilfe jeder ihrer Schwestern angewiesen seien. Darüber hinaus betonten sie auch die Wirkmächtigkeit der bereits während der Sozialisation einsetzenden und daher langjährig geteilten und sozial sowie leiblich zutiefst verinnerlichten Foodways, deren erinnerungs- und emotionsevozierende Kraft sie wie folgt zum Ausdruck brachten: Ol i wokim saksak wantaim, ol i kaikai wantaim9 (dt. Sie haben gemeinsam
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Sago produziert, sie haben gemeinsam gegessen.). Entsprechend lässt sich mit den Worten des Anthropologen David Sutton festhalten: „Food does not simply symbolize social bonds and divisions; it participates in their creation and recreation.“ (2001: 102)
Über den ethnographischen Fall Daidens hinaus, sollte abschließend deutlich geworden sein, dass eine Auseinandersetzung mit der Kulinarik des Emotionalen hier ebenso wie andernorts wichtige Erkenntnisse über Empathie und zwischenmenschliches Verbundensein liefern kann.
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Kulinarische Widersprüche Japanische Konsumenten und die alltäglichen Herausforderungen im globalen Agri-Food-System C ORNELIA R EIHER 1
E INLEITUNG An einem heißen Tag im Juli 2015 besuchte ich einen angenehm klimatisierten, mittelgroßen japanischen Supermarkt im Westen von Tōkyō. Angefangen von Rindfleisch aus Australien über Paprika aus Korea, Knoblauch aus China, Schrimps aus Vietnam und Kaffee aus Kolumbien bis hin zu einer unüberschaubaren Menge verarbeiteter Lebensmittel, für deren Zutaten Herkunftsangaben nicht erforderlich sind, finden Konsumenten dort eine große Auswahl von Lebensmitteln aus aller Welt. Ich begleitete an diesem Tag Fukuda Chie2 beim Einkaufen,
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Prof. Dr. Cornelia Reiher, Freie Universität Berlin, cornelia.reiher@fu-
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Die Namen aller InterviewpartnerInnen sind Pseudonyme. Alle Interviews
berlin.de führte die Autorin in japanischer Sprache. Die Übersetzungen der Interviews und aller anderen japanischsprachigen Quellen wurden von der Autorin angefertigt.
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mit der ich einen Tag verbrachte, um herauszufinden, nach welchen Kriterien sie Entscheidungen beim Lebensmitteleinkauf fällt und inwiefern sie die Erwartungen, die von staatlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren an Konsumenten in Japan gestellt werden, reflektiert und erfüllt beziehungsweise erfüllen möchte. Japanischen Konsumenten stehen zahlreiche Einkaufsorte und -möglichkeiten zur Verfügung: Supermärkte regionaler oder nationaler Einzelhandelsketten, Direktverkaufsstände von Bauern oder Landwirtschaftskooperativen (chokubaijo), das Versandsystem der Konsumgenossenschaften Seikyō, Pal System oder Seikatsu Club, OnlineVersandhäuser für Lebensmittel, Bioläden, konbini3 oder die GourmetEtagen der Kaufhäuser. Die Ernährungsgewohnheiten japanischer Konsumenten nennt die Japanologin Katarzyna J. Cwiertka (2006: 7) multikulturell. Die cultural politics der Globalisierung mit ihren oft widersprüchlichen Zuschreibungen, Grenzziehungen und komplexen Interessen- und Machbeziehungen einer Vielzahl von Akteuren, die sich auf das Alltagsleben jedes Einzelnen auswirkten, so der Medienwissenschaftler Shunya Yoshimi und die Japanologin Tessa MorrisSuzuki (2004), würden im Ernährungsbereich in Japan besonders gut sichtbar. Die Globalisierung von Lebensmittelproduktion und -handel hat seit den 1990er Jahren stark zugenommen. Zwischen 1990 und 2008 hat sich der Wert von Lebensmitteln, die international gehandelt wurden, mehr als verdreifacht (Clapp 2012: 7). In diesem globalisierten Agri-Food-System spielt Japan sowohl als Lebensmittelimporteur als auch als Sitz zahlreicher global agierender Konzerne im Agrar- und Lebensmittelbereich eine wichtige Rolle. Mit einer Lebensmittelselbstversorgungsrate von nur 39% (MAFF 2013) ist Japan in hohem Maße
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Konbini ist die Abkürzung für die japanisierte Version des Wortes Convenience Store und bezeichnet kleine Geschäfte, die 24 Stunden geöffnet haben und ein kleines Sortiment von Alltagsprodukten, Lebensmitteln, Snacks und Dienstleistungen anbieten. In Japan sind konbini weit verbreitet und selbst in ländlichen Regionen flächendeckend vorhanden.
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abhängig von Agrarimporten, insbesondere aus den USA, China und Thailand (FAOSTAT 2014). Gleichzeitig werden in Japan produzierte Lebensmittel und die japanische Küche in Japan von zahlreichen Akteuren als einzigartig und traditionell idealisiert: Bilder von Reisbauern, die in Handarbeit Reissetzlinge pflanzen, dominieren Werbefilme des Landwirtschaftsministeriums oder Werbeplakate für Reis (sieh hierzu zum Beispiel MAFF 2006). Die japanische Küche wird als ästhetisch anspruchsvoll, ausgewogen und gesund dargestellt (MAFF 2005). Im Jahr 2013 wurde washoku, die traditionelle japanische Küche, von der UNESCO als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt4. Dieses romantische Bild steht allerdings in Kontrast zur Realität der japanischen Landwirtschaft. Der Anteil der landwirtschaftlichen Produktion am Bruttoinlandsprodukt beträgt weniger als 1%, über 60% der japanischen Bauern sind über 65 Jahre alt und der Anteil der Vollzeitlandwirte ist unter 20% gesunken (Yamashita 2006: 2f.). Gleichzeitig versprühen japanische Bauern mehr Insektizide auf ihren Feldern als Landwirte in den meisten anderen OECD-Staaten (Walker 2010). Dennoch propagieren Ernährungswissenschaftler und verschiedenste staatliche und nichtstaatliche Organisationen die ,traditionelle japanische Küche‘ als Heilmittel gegen Zivilisationskrankheiten (Kawamura et al. 2015), soziale Probleme und die niedrige japanische Lebensmittelselbstversorgungsrate (MAFF 2005, Food Action Nippon 2016). Ich argumentiere in diesem Beitrag, dass die Konstruktion von Japanizität von Lebensmitteln und Ernährung und die gleichzeitig zu-
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Registriert wurden Praktiken und Werte, die mit den Neujahrsfeiern zusammenhängen. Washoku wurde in der japanischen Bewerbung aber eher nach soziokulturellen Kriterien definiert, nämlich als Praktiken und Werte, die Essen und Ernährung mit sozialen Beziehungen in Verbindung bringen, die Verflechtungen von Umwelt und die Wertschätzung von Natur und Jahreszeiten und von Ritualen und gemeinschaftlichem Leben einbeziehen. In der UNESCO-Bewerbung ging es weniger um das Essen selbst, also um Zutaten, Zubereitungstechniken, Geschmack, Rezepte, Mahlzeitenfolgen oder bestimmte Gerichte (Bestor 2014: 60).
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nehmende Integration Japans in das globale Agri-Food-System miteinander verflochtene Prozesse sind, die sich auf das Alltagshandeln japanischer Konsumenten auswirken. Die zentrale Fragestellung lautet daher: Wie treffen japanische Konsumenten Entscheidungen beim Lebensmitteleinkauf und inwiefern reflektieren sie dabei hegemoniale Diskurse über ,richtigen Lebensmittelkonsum‘? Um diese Frage zu beantworten, verorte ich in diesem Beitrag Japan zunächst im globalen Agri-Food-System und skizziere anschließend die hegemonialen Diskurse über ,richtigen Konsum‘ am Beispiel des Rahmengesetzes zur Ernährungserziehung und der Kampagne chisan chishō (dt. Lokal produzieren, lokal konsumieren!) der japanischen Regierung und der Landwirtschaftskooperativen und die Kampagne Tabeyō! kokusan (dt. Lasst uns einheimische Lebensmittel essen!) der Organisation Food Action Nippon (FAN). Dabei arbeite ich die Erwartungen heraus, die innerhalb dieser Diskurse an die Konsumenten gestellt werden. Im Anschluss analysiere ich das Alltagshandeln japanischer Konsumenten beim Lebensmitteleinkauf, ihr Verständnis von gutem und gesunden Essen und ihre Wahrnehmung der gesellschaftlichen Diskurse darüber, wie sich japanische Konsumenten idealerweise verhalten sollten. Dazu ziehe ich Daten aus einer qualitativen E-Mailbefragung vom Sommer 2011, teilnehmende Beobachtungen und Interviews mit Konsumentinnen aus Tōkyō vom Sommer 2015 sowie weitere Interviews mit Vertretern von Lebensmittelkonzernen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und japanischen Regierungsbehörden heran, die ich 2008, 2012, 2013 und 2015 in verschiedenen Regionen Japans erhoben habe.
J APANS
GLOBALISIERTES
AGRI -F OOD -S YSTEM
Während wissenschaftliche Arbeiten und Mediendiskurse über Japans Agri-Food-System vor allem auf die Probleme der japanischen Landwirtschaft verweisen (Mulgan 2005, Yamashita 2006), wird die große Macht japanischer Agrar- und Lebensmittelkonzerne kaum thematisiert. Auf der Liste der 100 größten Lebensmittelhersteller weltweit
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standen jedoch im Jahr 2015 dreizehn japanische Unternehmen, darunter Morinaga, Meiji, Ajinomoto und Kirin Beer (Rowan 2015). Auch bei den Unternehmen, die Pestizide und Tierfutter herstellen, gehören japanische Unternehmen zu den globalen Top Ten (Berne Declaration 2013: 12). Die japanische Supermarktkette Aeon gehört zu den zehn größten Lebensmitteleinzelhandelsketten weltweit und die Unternehmen Takii und Sakata befinden sich auf der Liste der zehn weltgrößten Saatguthersteller (Berne Declaration 2013: 6, 10, 16). Während die Produktivität der japanischen Landwirtschaft stetig abnimmt, lassen seit etwa zehn Jahren immer mehr japanische Lebensmittelkonzerne im Ausland produzieren, oft für ausländische Märkte, denn die Absätze in Japan sinken. Vertreter der Lebensmittelbranche führen diese Entwicklung auf die Überalterung der japanischen Bevölkerung und den damit zusammenhängenden Bevölkerungsrückgang zurück, so ein Berater und ehemaliger Mitarbeiter eines der größten japanischen Lebensmittelkonzerne (Interview Suzuki Tatsuya, Tōkyō, 2012). Diese duale Struktur des japanischen Agri-Food-Systems – prekäre Bauern und die klein- und mittelständischen Unternehmen, die Lebensmittel verarbeiten auf der einen und einige wenige global agierende und sehr erfolgreiche Lebensmittelkonzerne auf der anderen Seite – wurde jüngst bei der Debatte um Japans Eintritt in das Transpazifische Freihandelsabkommen (Trans-Pacific Partnership, TPP) deutlich. Während die großen Konzerne von einer Liberalisierung der Agrarmärkte der 12 pazifischen Mitgliedsstaaten, einschließlich der Senkung von Importzöllen für einige Agrarprodukte in Japan, profitieren, kämpften die Bauern und die Landwirtschaftslobby vehement, wenn auch erfolglos, gegen die TPP an (Jamitzky 2015). Der TPP-Vertrag wurde im Oktober 2015 verabschiedet. Die japanischen Medien riefen daraufhin – trotz der von Premierminister Abe Shinzō eiligst eingeführten Hilfsprogramme für Bauern – den endgültigen Niedergang der japanischen Landwirtschaft aus (siehe hierzu zum Beispiel Asahi Shinbun 2015). In einem Interview mit Yamada Shōta, Mitarbeiter in einem der großen global agierenden Lebensmittelkonzerne, erklärte dieser mir,
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dass die TPP keine negativen Auswirkungen auf sein Unternehmen haben werde, lediglich die Bauern seien davon betroffen. Als Teil einer vertikal und horizontal organisierten Unternehmensgruppe, die in allen Teilen der Welt in Bereichen wie Chemie, Banken, Versicherungen, Einzelhandel, Rohstoffhandel – darunter auch Agrarprodukte wie Kaffee, Kakao und Weizen – sowie der Verarbeitung von Lebensmitteln tätig ist, würde sein Unternehmen davon profitieren, wenn Japans Importbeschränkungen für Zuckerrohr wegfielen. Importkontingente dienten dem Schutz der Zuckerrohrbauern auf Okinawa im Süden Japans. Deshalb müsse das Unternehmen derzeit einheimischen mit importiertem Zucker mischen. Unter der TPP, so Herr Yamada (Interview, Tōkyō, 2013), ginge das aber nicht mehr, deshalb müsse der einheimische Zucker dann nicht mehr gekauft werden und das Unternehmen könne größere Mengen des preiswerteren ausländischen Zuckers verwenden. Während große Lebensmittelkonzerne die TPP begrüßen, wurde Japans seit den 1980er Jahren schrittweise erfolgte Teilliberalisierung des Agrarmarktes in der japanischen Öffentlichkeit eher negativ wahrgenommen. Die Agrarliberalisierungen werden unter den Stichworten ,ausländischer Druck‘ (gaiatsu) und Bedrohung der japanischen Bauern, Japans ländlicher Räume, der Konsumenten und der Sicherheit japanische Lebensmittel von außen diskutiert (Maclachlan 2002: 188). Das kann auch auf das Betreiben staatlicher Akteure und der Landwirtschaftslobby zurückgeführt werden. Das japanische Landwirtschaftsministerium begann in den frühen 1990er Jahren eine Kampagne, die japanische Konsumenten dazu aufrief, die Selbstversorgungsrate Japans durch den bevorzugten Konsum japanischer Agrarprodukte zu erhöhen, da diese zwar teurer, aber auch sicherer als importierte Lebensmittel seien (Mulgan 2005). Aus Solidarität mit den Bauern sind japanische Konsumenten auch heute noch bereit, hohe Preise für Lebensmittel zu zahlen und den Agrarprotektionismus zu akzeptieren (Naoi und Kume 2011). Und obgleich zahlreiche Lebensmittelskandale von einheimischen Unternehmen verursacht wurden (Kawagishi 2008), halten viele japanische Konsumenten importierte Lebensmittel (trotz
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der nuklearen Katastrophe in Fukushima) prinzipiell für weniger sicher als einheimische Lebensmittel (Reiher 2013). Das gilt insbesondere für Lebensmittel aus China. Für Japan ist China der zweitwichtigste Agrarimporteur (FAOSTAT 2014). Das Agri-Food-System beider Länder ist eng miteinander verflochten. Unternehmen der Lebensmittel verarbeitenden Industrie und Supermarktketten aus Japan beziehen nicht nur Agrarprodukte aus China, sie lagern auch Teile des Verarbeitungsprozesses nach China aus, um Lohnkosten zu sparen (Kawagishi 2008). Wegen wiederholter Lebensmittelskandale um chinesische Importlebensmittel dominiert in Japan aber ein Bild von China als einem Land, in dem übermäßig viele Pestizide verwendet werden und eine dysfunktionale Hygieneinfrastruktur toleriert werde (Reiher 2013). Dabei gestehen selbst Beamte der Food Safety Commission (FSC) zu, dass chinesische Lebensmittel heute viel sicherer und es für die japanische Bevölkerung unmöglich sei, sich ausschließlich von in Japan angebauten Produkten zu ernähren (Interview Nakahara Masayuki, Tōkyō, 2015). Obwohl Japan sich nicht selbst mit Lebensmitteln versorgen kann, stehen zahlreiche Maßnahmen der japanischen Regierung, der Landwirtschaftskooperativen (JA) und ihres Dachverbands (Zennō) unter der Devise, eine möglichst vollständige Selbstversorgung durch den Konsum einheimischer Produkte zu erreichen. Dazu gehören die Kampagnen chisan chishō im Rahmen des Rahmengesetzes zur Ernährungserziehung (shokuiku kihonhō) und Tabeyō! kokusan der Organisation Food Action Nippon (FAN), die zum Konsum regionaler Produkte anregen sollen, die ich im Folgenden vorstellen werde.
D IE V ERANTWORTUNG DER K ONSUMENTEN FÜR J APANS AGRI -F OOD -S YSTEM Im Jahr 2005 wurde in Japan das Rahmengesetz zur Ernährungserziehung (shokuiku kihonhō) verabschiedet, das unter anderem darauf abzielt, eine ausgewogene und gesunde Ernährung der japanischen Be-
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völkerung zu fördern. Die ideale japanische Mahlzeit besteht den Autoren des Gesetzes zufolge aus in Japan produzierten Lebensmitteln – aus Reis, einer Suppe und Beilagen (ichijū issai). Gleichzeitig beklagen die Autoren des Gesetzes aber, dass dieses „ideale Ernährungsmodell“ eigentlich nicht mehr praktiziert werde (MAFF 2005: 1). Neben importierten Lebensmittelrisiken, wie BSE, Vogelgrippe oder Maulund Klauenseuche seien auch die japanischen Konsumenten für die Probleme der japanischen Ernährung verantwortlich (Naikakufu 2006). Ihnen wird ein mangelndes Bewusstsein und Wissen über Ernährung und Landwirtschaft vorgeworfen. Daraus resultiere ein Verlust der traditionellen japanischen Esskultur. Sie kochten zu wenig, gingen lieber auswärts essen oder kauften Fertigmahlzeiten und zu wenige japanische, dafür aber billigere importierte Produkte. Der sinkende Reiskonsum (Sōmushō 2016)5 und steigende Verzehr ,westlicher‘ Nahrung (damit ist überwiegend fetthaltige Nahrung und übermäßiger Fleischkonsum gemeint) führe zu Zivilisationskrankheiten, für die nur eine Rückkehr zu „traditioneller japanischer Kost“ eine Lösung sei (MAFF 2005). Im Rahmengesetz wird daher ein Ernährungsleitfaden vorgestellt, der den Konsum von Reis und anderen regional produzierten Agrarprodukten vorsieht, die dem Klima und den Jahreszeiten in Japan angemessen seien. Dadurch könne auch Japans Lebensmittelselbstversorgungsrate erhöht werden (MAFF 2005: 7-9). Chisan chishō ist deshalb neben dem Ernährungsleitfaden ein wichtiger Pfeiler der Ernährungserziehung, der vor allem der Steigerung der Umsätze japanischer Bauern dienen soll. Ursprünglich eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die Mitte der 1990er Jahre begann, um Konsumenten mit sicheren, schmackhaften und umweltfreundlichen Lebensmitteln zu versorgen, eigneten sich zunächst der Verband der japanischen Landwirtschaftskooperativen (Japan Agriculture Cooperatives, JA), später Kommunalverwaltungen und Anfang der 2000er Jahre auch die japanische Regierung das Konzept an (HirataKimura und Nishiyama 2007), die es 2005 auch im Rahmengesetz zur
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Japan erreicht nur bei Reis eine hundertprozentige Selbstversorgung.
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Ernährungserziehung verankerte (Reiher 2009). Seit chisan chishō Teil staatlicher und kommunaler Förderpläne wurde, wuchs insbesondere in ländlichen Regionen die Zahl der Direktverkaufsstände (chokubaijo) für landwirtschaftliche Produkte. Außerdem wurden Restaurants dazu aufgefordert, lokal produzierte Lebensmittel zu verwenden. Im weiteren Sinne gehören auch Bildungsprojekte zur Kampagne, wie Besuche auf Bauernhöfen (nōgyō taiken), Verkostungen von lokalen Produkten in Schulen und Kindergärten oder Ernteeinsätze bei Bauern in der Umgebung. Abbildung 1: Stand für regionale Produkte in einem CoopSupermarkt in der Präfektur Saga im südlichen Japan
Quelle: Cornelia Reiher, 2012
Chisan chishō basiert auf der Überzeugung, die Qualität lokaler Produkte sei Agrarerzeugnissen aus anderen Regionen überlegen, sicherer und besser für die Gesundheit der Konsumenten und die Umwelt. Während ich Mitte der 2000er Jahre im ländlichen Japan lebte, geriet ich aber über den Wahrheitsgehalt dieser Annahme ins Grübeln, da be-
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nachbarte Bauern sehr häufig große Mengen Pestizide versprühten. Selbst Akteure, die an meinem Wohnort aktiv in die Ernährungserziehung involviert waren, fanden die Verweise auf lokal angebaute Lebensmittel deshalb heuchlerisch und kritisierten die diskursive Verknüpfung des Konsums lokaler Agrarprodukte mit Gesundheit und Lebensmittelsicherheit: „Wenn wir schon auf diese Welle aufspringen wollen, dann sollten wir wenigstens unbehandelte Lebensmittel verkaufen. Es würde mich wirklich freuen, wenn weniger Pestizide verwendet würden. Und wenn das zu unserem Markenzeichen würde, wäre das toll. Ich weiß, dass es in Nishi-Arita [dem Nachbarort] einige Leute gibt, die sich sehr darum bemühen, das zu erreichen.“ (Interview Marukawa Hitomi, Arita, 2008).
Lokal angebaute Produkte sind also keineswegs mit Bio-Produkten gleichzusetzen. In der Kampagne Tabeyō! kokusan der Organisation Food Action Nippon (FAN), wird das besonders deutlich. Das Hauptziel der Kampagne und der Organisation ist es, Japans Lebensmittelselbstversorgungsrate zu erhöhen. Dazu sollen die Konsumenten schlicht mehr japanische Lebensmittel kaufen. FAN wurde vom japanischen Ministerium für Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft (MAFF) gegründet, allerdings wird auf der Homepage nur indirekt auf das Ministerium verwiesen. Auf der Internetseite heißt es, dass jeder Bürger etwas dazu beitragen könne, die Selbstversorgungsrate zu steigern: 1) Saisonale Produkte kaufen, 2) regionale Produkte kaufen, 3) eine ausgewogene japanische Ernährung mit Reis und Gemüse als Hauptbestandteil praktizieren, 4) weniger Lebensmittel wegwerfen und 5) sich über Initiativen zur Steigerung der Selbstversorgungsrate informieren und diese unterstützen. Das sei nötig, um die japanische Landwirtschaft zu erhalten, ohne die sich die Gefahr von Erdrutschen und Überschwemmungen erhöhe, weniger Schutz vor Hitze bestünde und das Grundwasser zurückginge. Diese Gefahren durch den richtigen Konsum abzuwenden, wird zur Aufgabe jedes Einzelnen (Food Action Nippon 2016).
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Für die Kampagne Tabeyō! kokusan hat FAN Partnerunternehmen aus der Lebensmittelbranche dazu aufgefordert, aus einheimischen Lebensmitteln hergestellte Produkte einzureichen, die dann getestet und mit einem FAN-Siegel versehen wurden. Auf der Webseite stellt FAN diese Produkte und dazugehörige Rezepte vor. Beim Anklicken der Produkte wird der Betrachter direkt auf die Internetseite der Hersteller weitergeleitet, darunter zahlreiche große Firmen wie Kirin, Meiji oder Morinaga. Der Beteiligung dieser Lebensmittelkonzerne an dieser Kampagne mutet etwas Zynisches an, verursachen sie durch die Auslagerung landwirtschaftlicher Produktion ins Ausland und die Verwendung importierter Zutaten für die Lebensmittelproduktion auch einen Teil der Probleme der japanischen Landwirtschaft. Als Teil von Tabeyō! kokusan können die Konzerne jedoch ihr Image aufpolieren und durch die Verwendung des FAN-Siegels ihre Gewinne steigern. Im Gespräch mit dem bereits oben zitierten Herrn Yamada (Interview Tōkyō, 2013), zeigte sich, dass ein Problembewusstsein für diese Widersprüche fehlt. Herr Yamada erklärte mir, dass nicht die Unternehmen, sondern die Konsumenten durch ihre Kaufentscheidungen das Handeln seines Konzerns und damit auch das Warenangebot bestimmten. Aus der Perspektive der japanischen Regierung, der Landwirtschaftskooperativen, FAN und der Lebensmittelkonzerne sind es also letztendlich die Konsumenten, die für die Situation des japanischen Agri-Food-Systems verantwortlich sind. Sie könnten durch ihr Einkaufsverhalten sowohl die japanische Landwirtschaft retten als auch das Warenangebot der Lebensmittelkonzerne bestimmen. Dazu sei es wichtig, in Japan angebaute Lebensmittel zu kaufen, um so die japanische Lebensmittelselbstversorgungsrate zu steigern. In den oben genannten Kampagnen, bedienen sich staatliche, zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Akteure deshalb einer Rhetorik, die auf die Verantwortung der Konsumenten gegenüber den japanischen Bauern und dem Erhalt Japans ländlicher Räume und der Natur verweist, um Konsumenten davon zu überzeugen, dass lokal angebaute Produkte gesünder und einfach besser seien. Im folgenden Abschnitt werde ich un-
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tersuchen, inwiefern japanische Konsumenten diesen Erwartungen von Regierung und Landwirtschaftslobby gerecht werden.
D IE K ONSUMENTENPERSPEKTIVE Während deutsche Konsumenten insbesondere in den Großstädten als besonders preissensibel gelten (Zühlsdorff und Spiller 2012), zeigen Untersuchungen für Japan sehr unterschiedliche Ergebnisse zu den Einkaufsgewohnheiten im Lebensmittelbereich. In einer Studie des Amts für die Lebensweise der Bevölkerung (Naikakufu Kokumin Seikatsukyoku 2008) war Frische das wichtigste Auswahlkriterium, gefolgt von Lebensmittelsicherheit und Preis. Auch einer Studie der Politikwissenschaftlerin Etsuko Tamaoki (2012) zufolge achteten Konsumenten viel mehr auf Aspekte, die zum Bereich Lebensmittelsicherheit gezählt werden können, als auf den Preis. Meine eigene qualitative E-Mailumfrage vom Sommer 2011 in drei Regionen Japans (Kyūshū, Kansai, Kantō) ergab, dass für die 64 Befragten, die Herkunft der Lebensmittel das wichtigste Auswahlkriterium ist.6 Von den 35 Befragten, die auf die offene Frage „Nach welchen Kriterien wählen Sie Lebensmittel beim Einkauf aus?“7, „Herkunft der Lebensmittel“ geantwortet hatten, betonten 14, dass sie möglichst in Japan verarbeitete oder angebaute Lebensmittel (kokusan) kaufen möchten. Für 29 Befragte ist die Frische der Lebensmittel wichtig und weitere 28 Personen gaben an, auf Aspekte wie Zusatzstoffe oder Pestizide, die im Zusammenhang mit Lebensmittelsicherheit stehen, zu achten. Der Preis spielt für 22 der 64 Befragten eine Rolle und steht damit an vierter Stelle der wichtigsten Auswahlkriterien.
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Die E-Mail-Umfrage umfasste 21 offene Fragen zum Lebensmitteleinkauf,
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Die Fragen wurden von einigen Befragten mit nur einem Wort, von ande-
Lebensmittelkennzeichnungen und Lebensmittelsicherheit. ren mit längeren Absätzen beantwortet, entsprechend wurden häufig mehrere Kriterien genannt.
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In Frage 12 fragte ich noch einmal gesondert danach, ob die Konsumenten beim Lebensmitteleinkauf auf den Herkunftsort/das Anbaugebiet achten. 57 der 64 Befragten antworteten mit „Ja“. Auf die Frage nach den Gründen dafür, die Herkunft der Lebensmittel beim Einkauf zu berücksichtigen, gaben 23 Befragte an, dass sie aus dem Anbaugebiet auf deren Sicherheit schließen. Sie begründeten das mit der Angst vor Pestiziden, BSE oder genetisch veränderten Organismen und den möglicherweise niedrigeren Standards für Lebensmittelsicherheit in anderen Ländern. Importierte Lebensmittel würden sie daher lieber meiden. Ein zweiter wichtiger Grund ist 15 Befragten zufolge, dass sie Lebensmittel aus ihrer Region und/oder Japan essen möchten. Das begründen die Befragten ebenfalls damit, dass sie Angst vor importierten Lebensmitteln hätten und glaubten, dass regionale Lebensmittel gesünder seien, besser zu ihnen passten sowie frischer und qualitativ hochwertiger seien. Außerdem könne so die einheimische Landwirtschaft bewahrt werden. Umweltaspekte, wie die hohen Energiekosten beim Transport oder die Behandlung von Lebensmitteln zur Haltbarmachung spielten allerdings kaum eine Rolle. In Frage 15 fragte ich danach, ob die Umfrageteilnehmerinnen das Konzept chisan chishō kennen. Das Konzept war 54 der 64 Befragten bekannt, einige der Befragten standen dem Konzept allerdings kritisch gegenüber, weil es nur zu Marketingzwecken genutzt würde, die Bedeutung unklar sei und lediglich der Revitalisierung der Landwirtschaft im ländlichen Japan diene, mit Gesundheit aber nichts zu tun habe. Etwas mehr als die Hälfte der Befragten (34) gab an, auch nach diesem Konzept zu konsumieren oder sich darum zu bemühen (kokoro gakeru). Das gelte insbesondere für Fleisch, Fisch und Gemüse. Offenbar sehen sie den Konsum lokaler Produkte als eine Norm an, an der sie sich orientieren, wenn auch nicht (immer) erfüllen. Diese Umfrageergebnisse suggerieren, dass die Erwartungen von JA, der japanischen Regierung und FAN an die Konsumenten erfüllt werden: Sie achten auf die Herkunft der Lebensmittel, die sie kaufen, weil sie regionale beziehungsweise japanische Produkte bevorzugen, die sie für sicherer halten. Ein großer Teil der Befragten kennt das
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Konzept chisan chishō und handelt danach beziehungsweise bemüht sich, lokale Produkte zu konsumieren. Da die Ergebnisse von Befragungen und die tatsächlichen Einkaufspraktiken aber manchmal stark voneinander abweichen können, bin ich im Sommer 2015 mit einigen Konsumentinnen einkaufen gegangen und verbrachte unter anderem einen Tag mit der eingangs erwähnten Frau Fukuda, die im westlichen Tōkyō lebt. Am Beispiel dieser Konsumentin möchte ich im Folgenden zeigen, wie japanischen Konsumenten der Umgang mit den kulinarischen Widersprüchen und den cultural politics der Globalisierung im Ernährungskontext gelingt. Frau Fukuda ist Mitte 40, Akademikerin, verheiratet und hat keine Kinder. Beide Ehepartner sind voll berufstätig, daher steht ihnen ein überdurchschnittlich hohes Familieneinkommen zur Verfügung. Frau Fukuda baut im kleinen Garten hinter ihrem Haus selbst Gemüse an, backt Brot und ist sowohl ökologisch als auch kulinarisch interessiert. Während der Autofahrt zum Supermarkt erzählte sie, dass sie jeden Abend diverse japanische Gerichte koche. Einen großen Teil der Lebensmittel, die sie benötigt, bestelle sie bei Pal-System, einer Verbraucherkooperative des Seikyō-Netzwerkes. Im Supermarkt kaufe sie Produkte, die dort billiger und schmackhafter seien. Zum Einkaufen fährt sie manchmal auch mit dem Fahrrad in einen Bioladen in der Nähe, aber dort gebe es nicht alles, was sie braucht, und bei den hohen Temperaturen im Sommer verzichte sie häufig ganz auf die Einkäufe dort. Bei Pal-System bestellt sie vor allem Gemüse, Eier und Tiefkühlprodukte wie Fisch und Fleisch, die sie praktisch findet. Beim Einkaufen achte sie auf Lebensmittelkennzeichnungen – bei frischen Produkten auf die Herkunftsangaben, bei verarbeiteten Produkten auf die Inhaltsstoffe. Wir kauften in einem mittelgroßen Supermarkt im Untergeschoss eines Kaufhauses in Bahnhofsnähe ein. Frau Fukuda hatte einen Einkaufszettel vorbereitet und lief, mit dem Zettel in der Hand, zielgerichtet durch den Supermarkt und kaufte Kekse, Milch, Obst und Gemüse (aus Japan, China und Korea), Mehl (zum Brotbacken), Geflügel und Schweinefleisch, Joghurt, Zucker, und Spagetti. Auf die Angaben auf
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der Packung oder die Schilder und Etiketten mit den Herkunftsangaben bei Gemüse und anderen frischen Produkten schaute sie kaum. Nur als Frau Fukuda Fleisch kaufte, sah sie sehr lange verschiedene abgepackte Fleischstücke an, um sich letztendlich für Fleisch aus Japan (kokusan) zu entscheiden. Sie erklärte mir, dass es zwar teurer sei, aber dafür auch appetitlicher aussehe. Zurück zu Hause, befragte ich Frau Fukuda zu ihren Einkaufsentscheidungen und sie betonte noch einmal, dass die Herkunft der Lebensmittel für sie eine wichtige Rolle spiele: „Heute habe ich auch darauf geachtet, dass alles, was ich gekauft habe, ausschließlich in Japan hergestellt wurde. Ich kaufe meistens einheimische Produkte. Obwohl ich das meistens so mache, und ich tatsächlich ein bisschen Bedenken gegenüber Produkten, die von weit weg importiert wurden, habe, ist es nicht so, dass ich überhaupt kein Rindersteak, zum Beispiel aus Australien kaufe. Manchmal kaufe ich das auch. Aber wenn es einheimische Produkte zu angemessenen Preisen gibt, dann kaufe ich lieber diese.“ (Interview Fukuda Chie, Tōkyō, 2015).
Interessanterweise hatte Frau Fukuda aber gar nicht ausschließlich japanische Produkte gekauft, beziehungsweise war das bei den verarbeiteten Produkten auch gar nicht festzustellen. Als ich sie darauf ansprach, lachte sie und sagte, sie habe vor allem an das Fleisch gedacht, dass sie gekauft habe. Aber auch bei den Fleischerzeugnissen, sagte sie, greife sie, wenn die einheimischen Fleischerzeugnisse zu teuer sind, auf importierte Produkte zurück. Die Formulierung angemessener Preis und die Differenzierung nach Produkten fanden sich auch in den Antworten in meiner E-Mail-Umfrage zur Präferenz einheimischer Produkte wieder. Und auch in einer Umfrage der größten japanischen Tageszeitung Asahi Shinbun von 2010, die zwei Jahre nach dem Skandal um mit Pestiziden vergiftete Teigtaschen aus China durchgeführt wurde, zeigt sich, dass die Auswahl einheimischer Produkte vom Preis abhängig ist. Viele Konsumenten kaufen wegen der Preisunterschiede – einheimische Produkte seien oft viermal so teuer wie chinesische Produkte – letztendlich doch chinesische Lebensmittel, fühlten sich
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damit aber nicht wohl (Asahi Shinbun 27.02.2010). Das berichtet auch ein Mitarbeiter der japanischen Food Safety Commission, die für die Bewertung von Lebensmittelrisiken zuständig ist: „Wenn wir die Konsumenten bitten, einen Fragebogen auszufüllen, dann schreiben sie, dass die chinesischen Produkte gefährlich sind, aber wenn sie erst einmal im Supermarkt sind, gibt es nur wenige Menschen, die sie dann tatsächlich nicht kaufen. Das gilt insbesondere für Tiefkühlprodukte, denn es gibt nur wenige, die nicht aus China kommen.“ (Interview Nakahara Masayuki, Tōkyō, 2015)
Dieser Interviewausschnitt zeigt, ebenso wie mein Erlebnis mit Frau Fukuda, dass es einen Unterschied zwischen der Wahrnehmung des eigenen Handelns und dem tatsächlichen Handeln gibt. Einkaufsverhalten ist nicht nur rational, sondern auch von Appetit, Zweckmäßigkeit (convenience), Gewohnheit und Vorlieben geprägt, die mitunter wichtiger sind als die Herkunft der Produkte. Ebenso wie Frau Fukuda achten auch viele Teilnehmer meiner E-Mailumfrage besonders bei bestimmten Produkten auf deren Herkunft. Der Preis spielt ebenfalls eine Rolle, obwohl er in der Umfrage erst als viertwichtigstes Auswahlkriterium genannt wurde. Frau Fukudas Wahrnehmung, sie hätte ausschließlich japanische Produkte gekauft und die von den Umfrageteilnehmern angegebenen Bemühungen, möglichst einheimische Produkte zu kaufen, zeigen aber, dass die andauernden Anstrengungen verschiedener japanischer Akteure, einen hegemonialen Diskurs zu etablieren, der Konsumenten den Konsum einheimischer und regionaler Produkte rät, tatsächlich den Rahmen für das Sprechen über Lebensmittelkonsum vorgeben. Im Sinne von Michel Foucaults (1991) Konzept der Governmentalität haben die japanischen Konsumenten den Imperativ japanische/regionale Lebensmittel zu konsumieren so internalisiert, dass sie vielleicht nicht immer danach handeln, aber selbst davon überzeugt sind, es zu tun. So können japanische Konsumenten mit den Widersprüchen der kulinarischen Globalisierung gut leben.
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Abbildung 2: Die Fleischtheke im Supermarkt, den ich mit Frau Fukuda besuchte
Quelle: Cornelia Reiher, 2015
F AZIT : K ULINARISCHER N ATIONALISMUS UND G LOBALISIERUNG Die Ergebnisse von Befragung und Beobachtung haben gezeigt, dass sich die Wahrnehmung des eigenen Einkaufsverhaltens japanischer Konsumenten und die Anforderungen der japanischen Regierung und der Landwirtschaftsverbände, einheimische Lebensmittel zu konsumieren, decken. Die Konsumenten kennen nicht nur die Erwartungen dieser Akteure, sie befolgen sie wenn möglich und begründen ihr Handeln mit der Rhetorik aus den entsprechenden Kampagnen. Obwohl eine vollständige Versorgung der Bevölkerung Japans mit einheimischen Lebensmitteln nicht möglich ist, wurde der Konsum einheimischer Produkte zu einem Imperativ, der das Sprechen über den Lebensmittelkonsum – wenn auch nicht notwendigerweise das Alltagshandeln – der Konsumenten strukturiert. Der Grund dafür liegt in der Verknüpfung von einheimischen Lebensmitteln mit positiven Eigenschaften (gesund, sicher, wohlschmeckend) und der Dämonisierung importierter
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Lebensmittel als gefährlich. Die Politikwissenschaftlerin Hiroko Takeda (2008: 6-7) nennt dieses Phänomen der Abwertung ausländischer Lebensmittel kulinarischen Nationalismus. Dieser komme relativ harmlos in Alltagshandlungen wie Ernährung und Lebensmittelkonsum daher und sei häufig unbewusst, nichtsdestotrotz aber von staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren bewusst konstruiert. Kulinarischer Nationalismus ist eine von mehreren Strategien, die Konsumenten anwenden, um mit den Unsicherheiten umzugehen, die mit der zunehmenden Distanz von Lebensmittelproduktion und -konsum einhergehen. Für die meisten Konsumenten ist es unmöglich, die Qualität und die Sicherheit von Lebensmitteln zu beurteilen, die in komplexen Warenketten in einem globalen Agri-Food-System produziert werden (Belasco 2008). Um im Alltag handlungsfähig zu bleiben und Entscheidungen beim Lebensmittelkonsum treffen zu können, wird für Konsumenten die Herkunft der Lebensmittel zu einem Auswahlkriterium, das ihnen hilft, diese Komplexität von Lebensmittelproduktion, -handel und -konsum zu reduzieren. Es bietet ihnen Orientierung und schafft Vertrauen (Luhmann 2014: 18), da die Konsumenten selbst keine Kontrolle über die Prozesse haben, die stattfinden, bevor ein Lebensmittel im Supermarktregal liegt. Die japanische Regierung, die Landwirtschaftsverbände und Organisationen wie FAN bieten Konsumenten mit der Unterteilung von Lebensmitteln in einheimisch, importiert und regional leicht handhabbare Auswahlkriterien beim Lebensmitteleinkauf an. Damit entspricht der kulinarische Nationalismus den Mustern der Diskurse über Globalisierung, wie sie in Japan seit den 1990er Jahren geführt werden. Darin sind, laut der Literaturwissenschaftlerin Tomiko Yoda (2000), neonationalistische Argumente über die Gefährdung der japanischen Kultur und Identität und neoliberale Argumente über die Unvermeidbarkeit der ökonomischen Globalisierung eng miteinander verknüpft. Während Unternehmen keine andere Wahl hätten als im Ausland zu produzieren und so ungewollt zum Niedergang lokaler Ökonomien und der Landwirtschaft beitragen, müsse Japan vor dem Verfall gerettet werden, indem die nationale Identität vor der Globali-
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sierung geschützt wird. Ein Nationalismus, der sich vor allem auf kulturelle Aspekte bezieht, soll Widerstand gegen ökonomische Deregulierung und Marktliberalisierung von vornherein aushebeln. Die Bürger seien nicht nur selbst dafür verantwortlich mit diesen neuen Rahmenbedingungen zurechtzukommen, gleichzeitig wird ihnen die Verantwortung für das Wohl der Nation übertragen (Yoda 2000). Das gilt auch für die japanische Esskultur und Landwirtschaft. Indem sie diese Verantwortung annehmen und sich bemühen einheimische Lebensmittel zu kaufen, um damit die japanischen Bauern durch richtigen Lebensmittelkonsum zu retten, durchdringt die Globalisierung ihr Alltagsleben und sie reproduzieren existierende Machtverhältnisse mit. Eine konstruktive Debatte über eine ökologisch verantwortungsvolle japanische Landwirtschaft, die Zukunft Japans ländlicher Räume und die Verantwortung japanischer Lebensmittelkonzerne im globalen Agri-Food-System wird so vorerst nur von einer Minderheit der japanischen Bevölkerung geführt, da die Probleme des japanischen AgriFood-Systems hinter der Dichtomie importiert/einheimisch verborgen bleiben.
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Geteilte Mahlzeiten? Überlegungen zur ‚Mediterranean Diet‘ als esskulturelle Inszenierung F ERDAOUSS A DDA 1
E INLEITUNG „Afrika ist kein Kontinent, sondern ein Konzept, eine transnationale Idee und ihre Inszenierung, die gezielt organisiert ist“ notieren die Ethnologen Brigitta Hauser-Schäublin und Ulrich Braukämper (2002) in ihrem Vorwort zum Sammelband Ethnologie der Globalisierung. Perspektiven kultureller Verflechtungen. Nun mag sich die Leserschaft sicherlich die Frage stellen, was dieses Zitat mit dem Thema meines Aufsatzes zu tun hat.2 Was haben hier Afrika und Mediterranean Diet3 gemein?
1
Dr. Ferdaouss Adda, Ethnologin, [email protected]
2
Der vorliegende Beitrag beruht im Wesentlichen auf meinem Vortrag Mediterrane Esskulturen im Kontext globaler Märkte und lokaler Küchen, den ich im Rahmen des Workshops der AG Kulinarische Ethnologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV, seit Oktober 2017 umbenannt in Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie, DGSKA) Ku-
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Geographisch wird das Mittelmeer von dem afrikanischen, asiatischen und europäischen Kontinent konturiert, ein Meer das Menschen zugleich voneinander trennt und miteinander verbindet. Interessant in der eingangs zitierten Aussage sind die Feststellungen HauserSchäublins und Braukämpers Afrika sei ein Konzept, Afrika sei eine transnationale Idee und deren Inszenierung. Darin und nicht so sehr um die geographische Verortung des Mittelmeeres (die zwar auch eine Rolle spielt, jedoch keine ausschließliche) geht es mir, wenn ich Überlegungen zur verwandten Benennung Mediterranean Diet in den folgenden Zeilen anstelle. Zunächst möchte ich im ersten Abschnitt klären, was vornehmlich öffentlich-medial unter Mediterraner Küche propagiert wird. Es werden mediale Bilder und populäre Vorstellungen betrachtet, die die Mediterrane Küche als ein als gesund konnotiertes homogenes kulinarisches Konzept präsentieren. Eine kurze Einführung in den Gegenstand an sich bieten uns dann, in einem zweiten Schritt, die Definitionen der Begriffe Mediterranean Diet und Intangible Cultural Heritage of Humanity (kurz: Immaterielles Kulturerbe), wie sie 2006 von der UNESCO festgeschrieben wurden. Hierzu sollen auch ein paar Worte zum Hintergrund der Zertifizierung als solche folgen. Schließlich möchte ich den Gegenstand Mediterranean Diet abstrahieren, um in einem Vergleich mit der New Nordic Cuisine die Mechanismen der sozialen Konstruktion der kulinarischen Etikettierungen zu skizzieren.
linarische Widersprüche. Ethnologische Perspektiven auf Ernährungspluralismus an der Universität Kassel am 12. September 2014 gehalten habe. 3
Mediterranean Diet kann ins Deutsche mit mediterraner Küche, mediterranem Speiseplan oder auch mediterraner Ernährung übersetzt werden. Als Immaterielles Kulturerbe der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educationational, Scientific and Cultural Organization; UNESCO) ist es eine Eigenbezeichnung (2016).
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B ILDER M EDITERRANER K OST An Bildern von als mediterran bezeichneten Speisen, Zubereitungsarten und Anbauprodukten, wie unter anderem Auberginen, Knoblauch, Paprika, Tomaten, Weintrauben und allen voran Oliven fehlt es nicht; sei es im Alltag, beispielsweise beim Gang in den Supermarkt, wo wir darüber hinaus auch auf industriell hergestellte Lebensmittel mit der Zusatzbezeichnung mediterran oder nach mediterraner Art stoßen, sei es in Form von Rezepten, online auf Blogs und Webseiten gepostet oder in den Bücher- und Zeitschriftengeschäften, wo eine Vielzahl an Mediterrane Küche-Kochbüchern, darunter einige von fernsehprominenten Köchen, auf Auslagen drapiert ist. Informations- und Fachmedien wie Spiegelonline, die Süddeutsche Zeitung, das Deutsche Ärzteblatt oder auch der Fernsehsender 3sat greifen das Thema ebenso auf und heben in Artikeln und Reportagen gesundheitlich einträgliche Aspekte der Mittelmeer-Diät, hervor. Sarah Wiener kombiniert in ihrer mediterranen Küche „frische, gesunde Zutaten auf originelle Weise“ (2006). Alain Ducasse versammelt für sein Kochbuch ein ganzes Experten-Team aus Frankreich, Spanien, Italien, Algerien und Marokko, um einen „Meilenstein der mediterranen Küche“ herauszugeben (2008). Oder aber die Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung, in der Berit Uhlmann die Mittelmeer-Diät unter der Rubrik „Gesundheit“ vorstellt und sie, neben anderen „Diätformen“, als mögliche Methode zur Gewichtsabnahme (in Kombination mit körperlicher Bewegung) präsentiert (2012). Auch, wenn diese Einschätzung als vorrangiges Ziel des Textes (wie der Titel ankündigt) angesehen werden kann, so erfährt die Leserschaft gleichwohl etwas mehr über die so genannte Mittelmeer-Diät. Aufschlussreich ist zum Beispiel, dass man sich damit: „[…] wie die Griechen und Spanier [ernährt]“ und das bedeutet laut Text „Viel Obst und Gemüse, viel Fisch, kaum Butter, dafür viel Olivenöl […]“ zu sich nimmt (Uhlmann 2012). Gleich im nächsten Absatz werden die Kategorien „Griechen“ und „Spanier“ aufgehoben beziehungsweise in eine größere Kategorie aufgelöst – denn nun ist von „Südeuropäern“ die Rede, die: „[…] schließlich ein Leben lang auf
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diese Art“ essen würden. Die Beispiele weit(räumiger) Definitionen für eine Mediterrane Küche ließen sich beliebig fortsetzen: auch Spiegelonline oder das Deutsche Ärzteblatt greifen die Mittelmeer-Diät in ähnlicher Weise wie Uhlmann für die Süddeutsche Zeitung auf, mit dem kleinen Unterschied, dass hier die Mittelmeer-Diät als Vorbeugungsmaßnahme gegen spezifische körperliche Leiden, die konkret genannt werden (unter anderem Diabetes, Schlaganfall), empfohlen wird (Jenß 2014a, 2014b; rme 2013). Die Redaktion des wissenschaftsjournalistischen Magazins nano plakatiert in ihrer Sendung gar, um es hier etwas zugespitzt zu formulieren, die Quelle des ewigen Jungbrunnens sei ein Stück näher gerückt und preist den regelmäßigen Verzehr von mediterraner Kost, insbesondere von Nüssen und Olivenöl, die vermeintlich lebensverlängernd wirken sollen (2014). Dabei verweist die Redaktion des Fernsehsenders 3sat in ihrem Bericht auf die Berechnungen der griechischen Ernährungswissenschaftlerin Antonia Trichopoulou et al. (2005), ohne darauf näher einzugehen, warum ältere Menschen, die einer so genannten „modifizierten [sic!] mediterranen Ernährungsweise“ nachgingen, der Statistik zufolge „gesünder und länger leben“. Folgen wir der genannten Quelle, so zeigt sich hinter den statistischen Korrelationen, eine durchaus konnotative Definition der mediterranen Kost: Im Rahmen der Europäischen Präsumtionsstudie zu Krebs und Ernährungsweise untersuchen Antonia Trichopoulou et al. (2005) die Essgewohnheiten von über 74.000 älteren Menschen in neun europäischen Ländern. Hierfür definieren die Ernährungswissenschaftler eine Skala, die sie als „Skala der Mediterranen Ernährungsweise“ betiteln und auf der die Wissenschaftler das Essverhalten der Studienteilnehmer einordnen. Essgewohnheiten, die vorwiegend Gemüse, Hülsenfrüchte, Früchte, Getreide und Fisch, also Lebensmittel, die als vorteilhaft für die menschliche Gesundheit gelten, werden auf der Skala näher an der „Mediterranen Ernährungsweise“ verortet als Essgewohnheiten, die mehr Milch- und Fleischprodukte einschließen (Trichopoulou et al. 2005). Wohl darum wissend, dass ihre Zuordnung kein Axiom ist, formulieren Trichopoulou et al. ihre Schlussfolgerung im Originalauf-
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satz dann auch vorsichtiger als es die nano-Redaktion in ihrer popwissenschaftlichen Übersetzung tat: „In conclusion, adherence to a diet relying on plant foods and unsaturated lipids and that resembles the Mediterranean diet, may be particularly appropriate for elderly people, who represent a rapidly increasing group in Europe.“ (2005, Hervorhebungen durch die Autorin)
All den aufgezeigten Beispielen liegt bei näherer Betrachtung eine Erzählung zugrunde – die Erzählung einer als „gesunden“, „heilenden“, „lebensverlängernden“, auf „bestimmte Lebensmittel“ beruhenden Ernährungsweise „südeuropäischer Alltagspraxis“. Das damit in Verbindung verwendete Wort „Diät“ rührt aus dem Griechischen diaita (dt. Diätetik) her, bedeutet so viel wie „Lebensart“ und dürfte also mehrdeutige, miteinander verwobene Ebenen umfassen als dies in der medialen Rezeption der Fall ist. In seinem Aufsatz zum Thema Übergewicht4 weist Christoph Klotter darauf hin, dass das Konzept der „Diätetik“5 eine Metamorphose6 erfahren habe (Klotter 2008). Diese Metamorphose wurde vornehmlich durch die naturwissenschaftliche Medizin im 19. Jahrhundert in Gang gesetzt7, die zur heute gängigen Definitionsweise des Diät-Begriffes beitrug. Klotter kommt zu dem Schluss, dass dem Verwandlungsprozess von „Diätetik“ hin zu „Diät“ die Reduktion von Komplexität zugrunde lag (ebd.). Wie anhand unserer genannten Beispiele längst erkannt werden konnte, tendiert die
4
Der vollständige Titel lautet: Der Krieg gegen Übergewicht – warum er ge-
5
Hier bezugnehmend auf Hippokrates und Galēn.
6
Er selbst benutzt diese Bezeichnung nicht; sie scheint mir hier aber folge-
7
Insbesondere durch Normierung und Einführung eines Maßstabs, das All-
führt wird, warum er verloren ist oder wie er beendet werden könnte.
richtig, trifft sie doch den Kern seiner Aussage. gemeingültigkeit haben soll (beispielsweise das BMI) und in dem das Individuum – anders als bei Hippokrates und Galēn der Fall – keine Berücksichtigung findet.
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mediale Rezeption dazu, und das ist hier entscheidend, die Mediterranean Diet auf Gesundheitsaspekte zu reduzieren. Diät wird generell also als medizinisch geregelte und verschriebene Ernährungsweise aufgefasst. Die im Zusammenhang mit Mediterranean Diet oft ins Spiel gebrachte Wertung gesund soll durch den Gebrauch des Terminus „Medizin“ beziehungsweise dessen Adjektivform „medizinisch“ autoritativ untermauert werden. Erst dadurch erhält das Gemeinte also seinen Anspruch auf End- und Allgemeingültigkeit und wird so unausweichlich zum Imperativ, dem Folge zu leisten ist. Anders gesagt: die Bezeichnung von etwas (hier Mediterranean Diet) als medizinisch gesund suggeriert eine Faktenorientiertheit, die hinterfragt werden darf. Dies zumal seit bekannt ist, dass (auch naturwissenschaftliche) Fakten durchaus nicht frei von Subjektivität sind, wie es Hannah Arendt in ihrem Essay über Natur und Geschichte (1957) trefflich geäußert hat: „[...] Es hat sich einmal herausgestellt, daß die Resultate auch der Naturwissenschaften unweigerlich an den sogenannten subjektiven Faktor gebunden bleiben [...] Und es hat sich zweitens erwiesen, daß die Gesetzmäßigkeit natürlicher Abläufe genausowenig eindeutig und die Naturgesetze genausowenig allgemein, das heißt universal gültig sind wie historische Prozesse oder die sogenannten Gesetze der Geschichte. ‚Das wichtigste neue Resultat der Atomphysik ist‘, nach Heisenberg, ‚die Erkenntnis, daß man ganz verschiedene Typen von Naturgesetzen auf ein und denselben physikalischen Vorgang anwenden kann, ohne in Widersprüche zu geraten...‘ [...]“ (Arendt 2015).
Woran liegt es also, dass Mediterranean Diet beinah ausschließlich auf Gesundheitsaspekte begrenzt wird, wo sie doch 2010 Eingang in die Liste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO gefunden hat? Liegt eine Fehlübersetzung von Mediterranean Diet vor? Mit ähnlichen Fragen beschäftigten sich die Ethnologen Isabel González Turmo und François-Xavier Medina in ihrem in der Revue d’ethnoécologie publizierten Aufsatz Défis et responsabilités suite à la déclaration de la diète méditerranéenne comme patrimoine culturel immatériel de l’humanité (Unesco) (2012). Turmo und Medina waren Teil einer in-
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terdisziplinär einberufenen Arbeitsgruppe zur theoretischen Ausarbeitung des Mediterranean Diet-Konzepts. Einberufen wurde diese Arbeitsgruppe von den Administrationen der vier Gründerstaaten: Spanien, Marokko, Italien und Griechenland, die einen transnationalen Antrag auf Ernennung der Mediterranean Diet zum Immateriellen Kulturerbe bei der UNESCO einreichten. Die Autoren Medina und Turmo, die am gesamten Ausarbeitungsprozess bis hin zur Antragseinreichung teilgenommen haben, führen zum einen aus, dass die Mediterranean Diet als komplexe Ernährungskultur (als franz. „système culturel“) von Anfang an weder als Nahrungsmodell (franz. „diète médicale“) gedacht und definiert noch mit der Hervorhebung bestimmter Lebensmittel vorgeschlagen wurde. Ganz im Gegenteil: Nahrungstechniken, -praktiken, -gewohnheiten, -ideen und -werte wurden gezielt in dem Antrag mitgedacht und integriert. Auf dieser Grundlage kritisieren Turmo und Medina zum anderen die mediale Wahrnehmung der Mediterranean Diet als Nahrungsmodell und das seit der Bekanntmachung und Aufnahme der Mediterranean Diet in die Representative List of intangible Cultural Heritage of Humanity der UNESCO. Ihr Appel gilt hauptsächlich den zuständigen Administrationen, die – so wird gemutmaßt – ihrer Rolle als Verantwortliche für die Mediterranean Diet als Immaterielles Kulturerbe nicht gerecht werden wollen, oder aus Unkenntnis heraus es nicht können. Sehen wir uns die Definition der UNESCO zur Mediterranean Diet einmal näher an, so fällt auf, dass die Mediterranean Diet in der Tat primär nicht gesundheitsfördernde Aspekte im Blick hat: „The Mediterranean Diet involves a set of skills, knowledge, rituals, symbols and traditions concerning crops, harvesting, fishing, animal husbandry, conservation, processing, cooking, and particularly the sharing and consumption of food. Eating together is the foundation of the cultural identity and continuity of communities throughout the Mediterranean basin. It is a moment of social exchange and communication, an affirmation and renewal of family, group or community identity. The Mediterranean diet emphasizes values of hospitality, neighbourliness, intercultural dialogue and creativity, and a way of life guided
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by respect for diversity. It plays a vital role in cultural spaces, festivals and celebrations, bringing together people of all ages, conditions and social classes.“ (UNESCO 2016)
Die Beschreibung folgt Kriterien zur Bestimmung Immateriellen Kulturerbes, die von der UNESCO vorgegeben werden. Damit die Aufnahme in die Liste des Immateriellen Kulturerbes gewährleistet werden kann, müssen insgesamt fünf Kriterien erfüllt werden, wie unter anderem die Entsprechung mit Artikel 2 der Konvention des zu anerkennenden Elements als Immaterielles Kulturerbe8 und, um ein weiteres Kriterium zu nennen, dass vom Antragsteller bereits Schutz- und Fördermaßnahmen ausgearbeitet und im Detail vorgelegt werden. Alle fünf Kriterien können auf der UNESCO-Homepage9 nachgelesen werden. Ich möchte im Folgenden auf einige wenige, aber in meinen Augen relevante Aspekte hinweisen, die im Zusammenhang mit dem Immateriellen Kulturerbe, der Mediterranean Diet stehen und nicht uninteressant sind.
M ULTIPLE D EUTUNGSHOHEITEN Kulturerbe wurde in zahlreichen wissenschaftlichen Debatten thematisiert und zu Recht kritisch hinterfragt. Markus Tauschek notiert in dieser Hinsicht, dass immaterieller Kultur ein Ideologem zugrunde liegt. Dieses Ideologem (Vorstellungswert) bestünde darin, dass Kultur durch verschiedenste Faktoren, vornehmlich Globalisierung (=Uniformierung) bedroht sei (Tauschek 2013).
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Für eine Version der Artikel in deutscher Sprache siehe: Linguistic versions of the 2003 Convention (http://www.unesco.org/culture/ich/en/inother-languages-00102).
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http://www.unesco.org/culture/ich/en/directives.
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Diese Bedrohung bedinge Schutzmaßnahmen („need of urgent safeguarding“). Dieser Schutz von immaterieller Kultur wiederum setze ein Idealzustand (also einen authentischen Originalzustand) voraus, das heißt ein mythisches vor der befürchteten globalisierten Uniformierung der Kulturen. Regina Bendix merkt ihrerseits in diesem Zusammenhang an, dass „[…] die Angst vor Verlust […] die Mechanismen der Ehrung und Bewahrung erst hervor[bringen]. Bewahrung beinhaltet aber stets auch Auswahl, nicht alles wird geehrt, manches muss vergessen werden, um das Identifikationspotenzial des Auserwählten zu erhöhen.“ (2007)
Dies führt im Falle der Mediterranean Diet unmittelbar dazu danach zu fragen, welche Akteure am Auswahl- und Bestimmungsprozess teilgenommen haben. Ferner, ob neben geopolitischen, transnationalen/nationalen Wirtschaftsinteressen (zum Beispiel Exporte, Agrarindustrie, Tourismus) und privilegierten Gruppen, unter anderem auch lokale Gruppen, Netzwerke und Interessen vertreten waren und als Entscheider agierten und interagieren durften. Es führt also automatisch auch zu der Frage, welche Akteure nicht teilgenommen haben, welche Aspekte nicht aufgenommen wurden und zu der Nachfrage: Aus welchen Gründen? Antworten darauf können an dieser Stelle leider nicht gegeben werden, da die Ernennung der UNESCO im Zertifizierungsprozess hier nicht ausreichend transparent ist. Es kann allerdings gemutmaßt werden, dass die Varietät und Komplexität von kulinarischen Kulturen weit höher ist als es die sozial konstruierte Dachbezeichnung Mediterranean Diet tatsächlich zulässt. Gerade aufgrund der Unmöglichkeit die Vielfalt zu homogenisieren, bleibt auch die fixierte Definition der UNESCO „The Mediterranean Diet involves a set of skills, knowledge, rituals, symbols and traditions concerning crops, harvesting, fishing […]“ (2016, Hervorhebungen durch die Autorin) unspezifisch. Es entsteht der Eindruck eines kulinarischen Widerspruchs. Der kulinarische Widerspruch besteht hier in dem Versuch der UNESCO, Vielfalt unter
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einem Konzept zu vereinheitlichen, ohne sie aufzuheben. Damit diese Dialektik gelingt, bedient man sich des Kunstgriffes, die Vielfalt anzuerkennen ohne sie zu erläutern oder näher zu bestimmen. Noch deutlicher werden meine Überlegungen zu der esskulturellen Inszenierung der Mediterranean Diet, wenn ich einen kurzen Brückenschlag zu einem anderen kulinarischen Konzept wage, das meines Erachtens auf ähnlichen Mechanismen, wenn auch geographisch anderes gelagert, beruht: The New Nordic Cuisine. Das Konzept der New Nordic Cuisine wurde 2005 von einer Gruppe skandinavischer Köche entwickelt (Heppenstall 2016). Die Gruppe entwickelte eine Liste von Zielen, die diesem Konzept zugrunde lag. Ähnlich wie die Mediterranean Diet umfasste dieses Konzept einen großen geographischen Raum mit einer Vielzahl lokaler Küchen, der kulinarisch unter einer Etikettierung vereinigt werden sollte. Die Ziele bleiben in ihrer Formulierung stets nicht greifbar, abstrakt, wie Einfachheit und guter Geschmack sowie gesundheitsfördernd. Der Ethnologe Mark Emil Tholstrup Hermansen kommt zu dem Schluss, dass: „The Nordic terroir and its role in New Nordic Cuisine can be seen as an instrument to (re)create the national expression of the landscape that has been ‚lost‘ to industrialisation and modernisation. The Nordic terroir in this way becomes an expression of the sentiments that bind together the imagined community that is the Nordic folk.“ (2012)
Vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, erneut danach zu fragen, was die Etikettierung Mediterranean Diet subsumiert. Verbirgt sich dahinter etwa eine imagined community wie im Falle der New Nordic Cuisine? Oder geht es ausschließlich um ökonomische Aspekte und Vermarktungsstrategien? Eine einfache und einzig gültige Antwort hierauf geben zu wollen, schiene mehr als abwegig und wurde mit diesem Beitrag, in dem vielleicht mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden, auch nicht intendiert. Zum Abschluss nur so viel von Vassos Argyrou, der es zur Konstruktion des Mediterranen, wie ich meine, auf den Punkt brachte:
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„The real issue is not what appears to be right and wrong at any given point in time, but rather who decides on what is right and what is wrong, good and evil, and why.“ (Argyrou 2001: 26)
L ITERATUR Arendt, Hannah (1957): Natur und Geschichte. (http://gellhardt.de/ arendt_bluecher/2_Natur_u_Geschichte.pdf) Aufgerufen am 02.05. 2017. Arendt, Hannah ([1968] 2015): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Herausgegeben von Ursula Ludz. Berlin: Piper Verlag. Argyrou, Vassos (2001): The Mediterranean? Need One Ask or Reply? In: Ina-Maria Greverus, Regina Römhild und Gisela Welz (Hrsg.): The Mediterraneans. Reworking the Past, Shaping the Present, Considering the Future. Reihe: Anthropological Journal on European Cultures. Bd. 10. Berlin u. a.: LIT Verlag. Bendix, Regina (2007): Kulturelles Erbe zwischen Wirtschaft und Politik. Ein Ausblick. In: Dorothee Hemme, Markus Tauschek und Regina Bendix (Hrsg.): Prädikat „HERITAGE“. Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen. Studien zur Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie. Band 1, S. 337-356. Berlin u. a.: LIT Verlag. Ducasse, Alain (2008): Grand Livre de Cuisine. Die Mediterrane Küche. Stuttgart: Matthaes. Espeitx Bernat, Elena und Juanjo Cáceres Nevot (Hrsg.) (2011): Sabores culturales. Ensayos sobre alimentación y cultura. Barcelona: Ed. Montesinos. Gonzáles Turmo, Isabel und François-Xavier Medina (2012): Défis et responsabilités suite à la déclaration de la diète méditerranéenne comme patrimoine culturel immatériel de l’humanité (unesco). Revue d’ ethnoécologie 2. (DOI: 10.4000/ethnoecologie.957) Aufgerufen am 16.05.2016.
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Die Geburt des Fast Food aus dem Geist der Cuisine Moderne M ARKUS K ÜGLE 1
E INLEITUNG Sterneköche kreieren für McDonald’s den Burger der Woche.2 Ob und inwiefern dies einen Widerspruch darstellt, wird im Folgenden geklärt. Im gegenwärtigen Verständnis von zeitgenössischer Ernährung prallen hier laut dem deutschen Physiker Thomas Vilgis, welcher sich die Erforschung der Molekulargastronomie zur Aufgabe gemacht hat, Welten, ja „Parallelwelten“ (Vilgis 2013: 91), aufeinander. Denn es scheinen sich auf dem ersten Blick die Sterneköche als Vertreter einer anerkannten, gehobenen Form des Kochens und McDonald’s als der
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Dr. des. Markus Kügle, seit Oktober 2016 Akademischer Mitarbeiter und Leiter des Medienzentrums an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, [email protected]
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2016 war es zum Beispiel der Big Beef Raclette von Ein-Sterne-Koch Christian Henze, doch hatte bereits 2011 der italienische Drei-Sterne-Koch Gualtiero Marchesi Burger für die McDonald’s-Restaurants seines Landes kredenzt und im selben Jahr in Deutschland der Ein-Sterne-Koch Alfons Schubeck.
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weltweit erfolgreichste Fast-Food-Konzern in punkto kulinarischer Qualität diametral gegenüberzustehen. Die Sterne des Guide Michelin oder die Hauben des Gault-Millau stehen allgemein für die Kunst, die hohe Kunst des Kochens, während Fast Food als Synonym für Massenware und damit pejorativ für Massenabfertigung, für schnöden Kommerz steht. Ausdifferenzierungen solcherart kursieren gleichwohl in alltäglichen wie wissenschaftlichen Diskursen. Dabei steht insbesondere McDonald’s hier in Europa in der Kritik. Einfluss und Wirken dieses Fast-Food-Konzerns wird zumeist negativ konnotiert, also mit einer menschenverachtenden Firmenpolitik, 3 sowie daraus resultierend mit ungesundem bis gesundheitsgefährdendem Essen4 assoziiert. Der britische Soziologe Stephen Mennell konstatierte darum: „Mehrere Ideen, die von Vertretern der Frankfurter Schule mit Bezug auf Kunst und Kultur geäußert wurden, lassen Parallelen mit Einzelerscheinungen der modernen Entwicklung in Kochkunst und Esskultur sichtbar werden, die des Nachdenkens wert sind.“ (Mennell 1988: 402)
Auf Vokabeln wie Verblendungszusammenhang und Betrug an den Massen kommt er dabei in Zusammenhang mit dem System des Fast Foods konkret zu sprechen (ebd.: 402ff.). Die Haute Cuisine hingegen stehe für qualitativ hochwertige Nahrungsmittel, welche in Sachen Kochhandwerk hochprofessionell und zudem mit künstlerischer Ambition zubereitet werden. Allgemeiner Konsens herrscht wohl darüber, dass im Bereich Fast Foods das Essen schon aufgrund der Massenproduktion in jeder Hinsicht billig und somit für die breite Masse, während es im Bereich der Haute Cuisine als in jeder Hinsicht teuer und damit ausschließlich für eine bestimmte Klientel gestaltet wäre. So ge-
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Spätestens seit Wallraffs Buch ganz Ganz unten aus dem Jahre 1985, welches ein Jahr später verfilmt wurde: Ganz unten (Regie: Jörg Gfrörer, D 1986).
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Spätestens seit der Dokumentation Super Size Me (Regie: Morgan Spurlock, USA 2004).
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sehen liegen hier zwei Arten von Gastronomien vor, welche offenbar in Bezug auf ihre Ausrichtung wie ihre – vermeintlichen – Ideale nicht zusammenkommen können. Trotzdem oder vielleicht sogar gerade deswegen hat sich nun eine Mischung dieser beiden Gastronomien ergeben. Und niemand scheint daran vehement Anstoß zu nehmen, weder aus dem Bereich der Restaurantkritik, noch aus dem der Ernährungssoziologie oder Gastrosophie. Der US-amerikanische Physiker, Multimillionär und Hobbykoch Nathan Myhrvold beispielsweise entwickelte in seiner privaten Molekularküche5 das Rezept für den „ultimativen Cheeseburger“ (Myhrvold 2011: 124). Erklärt werden kann dies adäquat mit dem französischen Philosophen Bruno Latour. Denn ähnlich wie es sich zurzeit bei der Vermengung von Kochkunst und Systemgastronomiekommerz verhält, läge ihm zufolge das Hybridisieren scheinbar unüberwindbarer Gegensätze in der Praxis schon seit Beginn der Moderne vor. Ein Vermengen solcherart wurde Latour zufolge seit dem Ende des Ancien Régime6 sichtbar (Latour 2008: 50)
5
Bei Molekularküche handelt es sich grob um einen Begriff des Kochens mit Instrumenten und Erzeugnissen aus dem Bereich der naturwissenschaftlichen Labore. So werden beispielsweise Nahrungsmittel gefriergetrocknet, Fleisch im Vakuum (sous vide) oder mit Flüssigstickstoff unter Niedrigtemperaturen gegart. Ferner bezeichnet es einen Kochstil, mit welchem bevorzugt der spanische Drei-Sterne-Koch Ferran Adrià verbunden wird. Dieser entwickelte ab 1993 in seinem Restaurant Elbulli an der Costa Brava unter Verwendung von Lebensmittelzusatzstoffen (unter anderem das Verdickungsmittel Xanthan) neue Konsistenzen von Speisen (beispielsweise das Espuma). Mittlerweile plädieren die Molekularköche jedoch für andere Bezeichnungen (Avantgarde-Küche, Experimentalküche, Modernist Cuisine etc.).
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Anciem Régime bezeichnet in Frankreich die absolutistische Herrschaftszeit der Bourbonen (1589-1793). Dieses bisweilen nostalgisch verklärte Zeitalter endete mit der Französischen Revolution.
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und hat sich seit der Französischen Revolution sukzessive potenziert.7 So stellte Latour fest, dass Natur und Kultur sich praktisch gesehen beständig überlagern und Hybride, Kollektive oder Netze bilden, während diesbezüglich in theoretischer Hinsicht klare Trennungen und Ausdifferenzierungen erfolgen. Gleich in welcher Disziplin Beschreibungen ergehen, egal ob sozial oder diskursiv, stets wird auf Asymmetrien rekurriert. Stets wird sich auf verschobene Grenzen, welche real zwischen Natur und Kultur zwar so nicht existent sind, aber dennoch im Diskurs darüber eingeschoben werden und erhalten bleiben sollen, bezogen. Ein derartiges Unterfangen geht selbstverständlich nicht ohne zusätzlichen Aufwand vonstatten, weswegen in theoretischer Hinsicht Reinigungsarbeit betrieben werden müsse. Diese Aufgabe komme dabei dezidiert der „modernen Verfassung“ (Latour 2008: 43) zu. „Wenn die moderne Verfassung eine Trennung erfindet zwischen der wissenschaftlichen Macht – damit beauftragt, die Objekte zu präsentieren – und der politischen Macht – damit beauftragt, die Subjekte zu präsentieren –, sollten wir daraus nicht den Schluß ziehen, daß nunmehr die Subjekte sich von den Dingen entfernen.“ (Ebd.)
Bei dem Komplex Kunst und Kommerz, so die Überlegung in diesem Artikel, verhält es sich in punkto Reinigungsarbeit ähnlich. Hier wie dort können de facto, beziehungsweise in natura keine fein säuberlich gezogenen Trennlinien (mehr) festgestellt werden. Sie müssen lediglich im Diskurs und diversen Zuschreibungspraktiken darüber als erfunden angesehen werden. Ebenso wie wir nicht den Schluss daraus ziehen sollten, dass sich Subjekte von den Objekten entfernen, sollten wir des Weiteren nicht annehmen, dass sich Kunst prinzipiell vom Kommerz entfernt – und umgekehrt. Kurzum: Kunstwerke gleich welcher Art können kommerziell durchaus erfolgreich sein. Kommerzielle
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Hierbei handelt es sich ebenso um einen Zeitraum, in welchem die Restaurantkultur ihren Anfang nahm, was in diesem Artikel nicht als bloße Koinzidenz betrachtet wird.
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Produkte können ebenso einen künstlerischen Wert besitzen. Nichtsdestotrotz erfolgt unbeirrbar ein Festhalten an der Dichotomie von Kunst und Kommerz – gleich in welchem Bereich, ob es sich um Malerei, Musik, Literatur, Kino oder eben Gastronomie handelt. Vor allem die Gastronomie lebt maßgeblich von solchen Ausdifferenzierungen, so gebe es eben Höhere und – ausgehend davon – Niedere Küchen. In den einen werden kulinarische Kunstwerke erschaffen, in den anderen Massenwaren. Als maßgeblich dafür verantwortlich, solche Grenzen stets auf Neue zu ziehen und aufrecht zu erhalten müssen insbesondere die Restaurantkritiker gesehen werden.8
L ATOURS UNHALTBARE T RENNUNGEN B LACK B OXES
UND
Im Jahre 1991 veröffentlichte Bruno Latour sein bislang bekanntestes Werk Nous n’avons jamais été modernes. Essai d'anthropologie symétrique (dt. Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie). Darin problematisierte er den Tatbestand, dass wie auch immer geartete Grenzen und Trennungen zwar de facto nicht mehr bestehen würden, jedoch unbeirrbar an ihnen festgehalten werde. Gemeint sind dabei Dichotomien von Objekt und Subjekt sowie Natur und Kultur. Prägnanteste Beispiele hierfür stellen ihm zufolge das Ozonloch und Aids dar. Handelt es sich doch gerade bei diesen Phänomenen um
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Gleich ob es sich nun um Testesser im Auftrag des Guide Michelin, GaultMillau oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung handelt, wofür in Deutschland exemplarisch Wolfram Siebeck, Jörg Zipprick und Jürgen Dollase zu nennen wären. Doch auch in diversen Fernsehformaten wird eine Restaurantkritik solcherart, sowie das Propagieren eines guten und richtigen Ernährungsideals betrieben. Von Jamie Oliver und Tim Mälzer, bis hin zu Christian Rach oder Nelson Müller.
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die gesellschaftlich wirkmächtigsten der letzten Jahrzehnte. Das AidsVirus forciert seit 1981, im Jahr als es im Sinne einer Krankheit offiziell anerkannt wurde, tiefgreifende Veränderungen in Wissen-, Wirtwie Gesellschaften, das Ozonloch seit 1995 (Latour 2008: 8ff.). Gerade bei diesen handelt es sich um sowohl reale, soziale wie auch diskursive Totalphänomene.9 In diesem Sinne wird hier nun auch die Gastronomie begriffen. Verantwortlich für das rigide Festhalten an Trennungen in der Theorie, welche in der Praxis nicht bestünden wäre Latour zufolge das Verfahren des blackboxing. Mittels dieser Art von Reinigungsarbeit werden die Hybride als solche verborgen. Qua blackboxing wird der Übersetzungsprozess, der bei der Umverteilung von Handlung vonstattengeht, unsichtbar gemacht. Black Boxes definiert Latour darum wie folgt: „Mit diesem Ausdruck aus der Wissenschaftssoziologie ist das Unsichtbarmachen wissenschaftlicher und technischer Arbeit durch ihren eigenen Erfolg gemeint. Wenn eine Maschine reibungslos läuft, wenn eine Tatsache feststeht, braucht nur noch auf Input und Output geachtet zu werden, nicht mehr auf ihre interne Komplexität.“ (Latour 2002: 373)
Gerade technische Artefakte verbergen im Falle ihres erfolgreichen Funktionierens ihre interne Komplexität (Latour 2002: 373), beispielsweise durch benutzerfreundliche Interfaces vor den Augen der Nutzer. Hybride erscheinen dadurch meist als einfache, in sich geschlossene Objekte mit klaren Grenzen – erst durch eine Störung wird
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Der Begriff Totalphänomen ist vom sozialen Totalphänomen (un fait social total) des Soziologen Marcel Mauss übernommen. Es bezeichnet Phänomene bei welchen „alle Arten von Institutionen gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck [kommen]: religiöse, rechtliche und moralische [...]; ökonomische [...]; ganz zu schweigen von den ästhetischen Phänomenen“ (Mauss 1968: 17). Beispielsweise bei der Ernährung ist dies der Fall.
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das zugrundeliegende Akteur-Netzwerk retrospektiv sichtbar.10 Hierdurch begründet sich Latours Interesse für das Scheitern technischer Innovationen11, wobei er nicht von einer gegebenen Effizienz und Funktionalität von Technik ausgeht, sondern die Frage stellt, „ob und wie Technik effektiv und funktional gemacht wird. Somit rückt die Technik als etwas, das in spezifischen Situationen produziert, adaptiert und benutzt wird, in den Blick.“ (Wieser 2012: 68)
Um Verschleierungsmechanismen solcherart aufzudecken empfiehlt es sich ihm zufolge, die Erzeugungsprozesse (in the making) anstatt fertiger Artefakte (ready made) zu untersuchen (Schulz-Schaefer 2008: 146). Im Sinne des bekannten Mottos der A.N.T. („Follow the actors!“) werden von einem beliebigen Startpunkt aus diese Operations- und Handlungsketten, die „Assoziationen und Relationen, durch welche Dinge und Praktiken miteinander verbunden werden“ verfolgt (Wieser 2012: 109). Dabei besteht kein Anspruch, das gesamte AkteurNetzwerk zu erfassen, fokussiert werden stattdessen die einzelnen Akteure, deren Wirkung auf andere Akteure und somit die Umverteilung von Handlung. Ein solches Unsichtbarmachen liegt nun dezidiert in der gehobenen Gastronomie vor. Während sich die Küche eines Fast-FoodFranchise auf den ersten Blick offen und einsehbar gestaltet, sind diese Produktionsstätten in Sternerestaurants und exquisiten Hotels dem Blick der Gäste enthoben. Primär deshalb verfügt die gehobene Gastronomie über eine Ehrfurcht gebietende Aura. Das Fast-FoodRestaurant scheint different hierzu zwar übersichtlicher, doch liegt hier ebenso der Tatbestand eines blackboxings vor. Wir können den Leuten zwar beim Arbeiten zusehen, doch die strukturgebenden Maßnahmen ihrer Tätigkeiten bleiben verborgen. Für Latour ist dies jedoch auch ein
10 Latour bringt hier das Beispiel eines defekten Tageslichtprojektors, dessen Dysfunktionalität erst die zahlreichen individuellen Einzelbestandteile hervorbringt (Latour 2006: 491). 11 Beispielsweise das U-Bahn-Projekt Aramis in Paris (Latour 1996).
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„Paradox: je erfolgreicher Wissenschaft und Technik sind, desto undurchsichtiger und dunkler werden sie“ (Latour 2002: 373). Die Darstellung wird dementsprechend „dem Verfahren des ‚Blackboxing‘ unterzogen“ (ebd.: 223). Allerdings dürfe das Blackboxing nicht als pejorativer Begriff verstanden werden: „Eine Black Box enthält, was nicht länger beachtet werden muss – jene Dinge, deren Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind“ (Belliger und Krieger 2006: 43). Denn „[j]e mehr Elemente man in Black Boxes platzieren kann – Denkweisen, Angewohnheiten, Kräfte, Objekte –, desto größer sind die Konstruktionen, die man aufstellen kann.“ (Callon und Latour 2006: 83)
Deshalb drängt sich der Terminus einer Blackbox beim Vermitteln komplexer Phänomene geradezu auf. Umgekehrt bedeutet dies allerdings, dass wenn die Black Boxes geöffnet werden, die darin oder dahinter liegenden Hybride eine Offenlegung erfahren. Kurzum: dann lösen sich die Dichotomien auf. In diesem Fall soll es sich dabei um die Trennungen von (Koch-)Kunst und (Fast-Food-)Kommerz handeln, was als gleichbedeutend angesehen wird mit der Trennung von distinktem/differenziertem Geschmack und der Befriedigung von Bedürfnissen, also letztlich von Subjekt und Ding, beziehungsweise Kultur und Natur.
B LACKBOXING F AST F OOD Bei der McDonald’s Corporation handelt es sich um die kommerziell erfolgreichste Fast-Food-Kette der Welt. Sie besteht seit 1940 und hat seit den 1970er Jahren weltweit expandiert. Dabei erfolgte das Fußfassen auf dem europäischen Markt nicht reibungslos. Seit dem vierten Dezember 1971 steht das McDonald’s-Franchise auf deutschem Boden – begonnen hat dies in Obergiesing, München. Die Eröffnung der ersten westdeutschen – nach Amsterdam der zweiten europäischen – Fi-
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liale forcierte hierzulande nämlich nicht nur Annahme an breiter Front und vorbehaltslosen Beifall, sondern auch vehemente Proteste und Angriffe in den, beziehungsweise durch die Medien. Als maßgeblich verantwortlich für Letzteres müssen Enthüllungsjournalist12 Günter Wallraff und der Dokumentarfilmemacher Peter Heller genannt werden. Wallraff hatte Anfang der 1980er Jahre unter anderem undercover in einer westdeutschen McDonald’s-Filiale recherchiert und dabei seiner Meinung nach stichhaltige Beweise für eine menschenverachtende Firmenpolitik gefunden (lange Arbeitszeiten, körperliche Schwerstarbeit, Niedriglöhne, mangelnde Hygiene). Heller indes wies dem FastFood-Riesen in seinem Film Dschungelburger. Hackfleischordnung international (Regie: Peter Heller, D 1985) einen moralisch zweifelhaften Handel mit Rindfleisch aus Costa Rica nach, wofür der Konzern indirekt für das Roden der Regenwälder mitverantwortlich gemacht wurde. In Das Brot des Siegers oder Die Schlacht um die Mägen der Welt (Regie: Peter Heller, D 1988) wurde das weltweite Wirken (in ökonomischen, ökologischen und politischen Dimensionen) der Schnellimbisskonzerne eher satirisch, dabei nicht weniger anklagend behandelt. In Frankreich hingegen formierte sich ab 1999 unter dem Landwirt José Bové eine Protestbewegung gegen McDonald’s, aus welcher das Schimpf- wie Schlagwort „malbouffe“ hervorging (Barlösius 2011: 235ff., Lemke 2012: 104). McDonald’s steht hier also im Sinne eines Paradebeispiels für all die negativen Auswüchse des Schnellimbisses, des erschwinglichen Essens für alle, beziehungsweise der Betrieb wird größtenteils auf diese Weise dargestellt. McDonald’s ist somit auch ein Sinnbild für US-amerikanischen Imperialismus, Kapitalismus, für eine unmenschliche Firmenpolitik, sowie für ungesunde
12 Medienwissenschaftlich, beziehungsweise dezidiert dokumentarfilmtheoretisch betrachtet müssen seine Methoden der Wahrheitssuche und damit auch die Ergebnisse seiner Recherchen höchst kritisch, weil potentiell wirklichkeitsverfälschend betrachtet werden. Denn er legt sein Verfahren nicht reflexiv offen und präsentiert nur – seiner Argumentation nach – aussagekräftige Detailaufnahmen der jeweiligen Recherche.
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bis gesundheitsgefährdende Produkte (ähnlich wie der Betrieb CocaCola, dessen Erzeugnisse natürlich auch im Sortiment des HamburgerMenüs mit inbegriffen sind) geworden. Die Kritik an McDonald’s im Besonderen, sowie am Fast Food im Allgemeinen ist bis in die Jetztzeit nicht abgeebbt. Hierfür exemplarisch angeführt werden kann das dokumentierte Selbstexperiment13 von Morgan Spurlock, welcher sich 2004 vorgeblich 30 Tage lang allein von Produkten dieser Kette ernährte und dabei laut eigener Aussage diverse gesundheitliche Schäden (Übergewicht, Herz- und Leberprobleme, Impotenz, Depressionen) davontrug oder hierzulande die Ergebnisse der WDR-Reportagereihe ARD Markencheck, in welcher am 16. Januar 2012 natürlich als Erstes der besagte Fast-Food-Riese gecheckt und für schlecht befunden wurde.14 Bereits im Jahre 1983 formulierte der US-amerikanische Soziologe George Ritzer seine These zur McDonaldisierung der Gesellschaft. Ihm ging es vorrangig darum, das allgemeine Konzept des Fast Foods anhand des Paradebeispiels McDonald’s zu beschreiben und im weiteren Verlauf seiner Argumentation nachzuweisen, wie sich diese strukturellen Vorgaben auf das zeitgenössische gesellschaftliche Leben ausgewirkt haben. „Rationalization, with McDonald’s as the paradigm case, is occurring throughout America, and, increasingly, other societies. In virtually every sector of society more and more emphasis is placed on efficiency, predictability, calculability, replacement of human by nonhuman technology, and control over uncertainty.“ (Ritzer 1983: 107)
13 Super Size Me (Regie: Morgan Spurlock, USA 2004). 14 Die Kategorien waren „Geschmack“, „Verführung“, „Bekömmlichkeit“ und „Fairness“. Der Geschmack wurde als „enttäuschend“, die Bekömmlichkeit als „gering“, die Fairness als „unzureichend“ deklariert. Einzig die „Verführung“, also die Werbestrategien erhielten eine positive Bewertung („raffiniert“).
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Hinter dem Konzept des Fast Foods stehe somit ein klares Diktat von Effizienz, aus welchem ebenso der Aufbau der Küchentechnologien hervorging. Ein organisatorisches Prinzip, welches sich aus Kalkulationen und Rezepturen ergibt, welche wiederum dezidierte Handlung(sanweisung)en hervorbringt. Ein Automatisieren der Arbeiter also: „McDonald’s does not yet have robots to serve us food, but it does have teenagers whose ability to act autonomously is almost completely eliminated by techniques, procedures, routines, and machines.“ (Ritzer 1983: 106)
Der Beginn dieser Nahrungsmittelindustrialisierung und die Entstehung der ersten Fast-Food -Restaurants kann in den 1930er Jahren ausgemacht werden. Dabei war das, was das Food in den Restaurants dieser Zeit im wahrsten Sinne fast machte zunächst die Rollschuhe des Servicepersonals. Sie dienten dem Zweck, der hungrigen Kundschaft eine flotte Bedienung oder Abfertigung gewährleisten zu können. Um das Tempo noch ein wenig mehr zu steigern, forcierten im Jahre 1937 die Brüder Richard und Maurice McDonald schließlich rigorose Rationalisierungsmaßnahmen, die sie erstmals in ihrem Drive-In in San Bernardino durchsetzten (Brüsemeister 2000: 277). Sie kündigten dabei nicht nur aus Gründen der Gewinnmaximierung dem gesamten Servicepersonal und rüsteten auf Selbstbedienung um. Sie (re-)systematisierten und automatisierten zugleich den gesamten Küchenablauf. Der deutsche Soziologe Brüsemeister fasste dies wie folgt: „Um Durcheinander zu vermeiden, boten sie eine sehr begrenzte Speisekarte an, verzichteten auf persönliche Bedienung sowie zeitaufwendige Zubereitung. Einfache Gerichte ermöglichten einfache Tätigkeitsprofile für den ,Griller‘, ,Shaker‘ und ,Frittierer‘. Ein Betriebsbuch hielt in allen Einzelheiten fest, wie Milchshakes zu zapfen, Kartoffeln zu frittieren und Hamburger zu grillen sind.“ (Brüsemeister 2000: 277)
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Die so eingesparten Personal- und Produktionskosten wirkten sich allerdings höchst positiv auf den Verkaufspreis der Waren aus, welcher ein „Buy’em by the bag“ (Iken 2010) radikal forcierte. Ein derartiges „Speedie Service System“ (ebd.) zur Massenverköstigung, wurde ab dem Jahr 1961, nach der Übernahme von McDonald’s durch Ray Kroc für alle Filialen der rasch expandierenden Kette verbindlich. Im Jahr 2000 zog Brüsemeister hierzu folgendes Fazit: „Noch heute sind in einer McDonald’s-Filiale alle Zutaten genauestens bemessen. Die Frikadelle für den Burger wiegt 45 Gramm, hat 9,8 cm Durchmesser, das Brötchen 8,9 cm. Der Fettgehalt der Frikadelle muß 19% betragen, sonst würde sie beim Braten zu sehr schrumpfen und konnte nicht mehr über den Rand des Brötchens hinausragen, um die Illusion von Größe zu vermitteln. Ein wachshaltiges Papier zwischen den Fleischscheiben ermöglicht, dass diese problemlos auf den Grill gleiten. Und Kassiererinnen tippen dank Computerkassen auf Symbole für die Gerichte, statt die Preise mühsam einzeln einzugehen.“ (Brüsemeister 2000: 278)
Durch eine solche Auf- und Unterteilung der Arbeitsprozesse zur Herstellung eines Menüs in separate Handlungseinheiten, ergab sich nun die Möglichkeit, dass beispielsweise die Arbeit an einem BigMäc in Gänze und Serie auch von ungelernten Händen ausgeführt werden konnte. Denn solange sich ein beliebiger (und damit auch beliebig austauschbarer) Angestellter streng an die durchkalkulierten Vorgaben hielt, führte dies dank der küchentechnischen Vorgaben der Gebrüder McDonald, der bis hinter das Komma berechneten Rezepturen, zum gewünschten standardisierten Ergebnis – immer wieder und wieder. Die organisatorische Konzeption des gesamten Ablaufs gestaltete sich also dermaßen „gründlich, daß [sic!] auch der trotteligste Griller keine Chance findet, irgendetwas falsch zu machen“ (Anonym 1984: 185), wie es hierzu im Jahre 1984 in einem Artikel von Der Spiegel bezeichnet wurde. „Summer und Lichtsignale melden Toast- und Grillzeiten, Sensoren in den Frittiergeräten regeln den Grad der Bräunung und Knusprigkeit.“ (Ebd.) Ein solcher Blick fürs kleinste, unteilbare Detail
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des Arbeitsablaufes, beim Entwickeln der Rezepte und Angaben, beim Schreiben des Betriebshandbuches steht somit für die enorme Breitenwirkung des Fast-Food-Betriebes. Doch wirkte sich diese Strukturierung darüber hinaus auch auf die Architektur der jeweiligen Filiale aus: „Insgesamt ist die Zubereitung der Speisen, die Inneneinrichtung und die Bedienungsmannschaft darauf eingerichtet, eine große Zahl von Kunden schnell durch das Restaurant zu schleusen. Kurze Zeiten bei der Zubereitung und dem Verzehr der Speisen werden als Maßzahlen des Erfolgs gerechnet, und der basiert auf einer extrem berechnenden Organisation.“ (Brüsemeister 2000: 278)
Das Erfolgsrezept der Massenverköstigung besteht demzufolge aus Organisation, separierten Arbeitsschritten und ein Arbeitsumfeld, welches derart genormte Handlungseinheiten unterstützt, beziehungsweise bestmöglich den Raum (räumliche Anordnung) dafür bereitstellt. Allerdings kam ein so geartetes Konzept, welches Rationalisierung, Effizienz und Kalkulierbarkeit anstrebte bereits rund 37 Jahre früher im Bereich der Haute Cuisine, also noch weit vor der Ära der Nouvelle Cuisine15 auf.
15 Nouvelle Cuisine bezeichnet nun gemeinhin einen neuen gastronomischen Stil ab den 1970er Jahren (die Bezeichnung kam zwar schon im 18. Jahrhundert auf, allerdings in Bezug auf eine andere, für die Argumentation dieses Artikels unerhebliche Weise des Kochens). Als Begriff und letztendlich ebenso als Bewegung forciert, neu-installiert und initiiert wurde die Nouvelle Cuisine durch Henri Gault, Christian Millau und André Gayot. Diese drei Restaurantkritiker beschrieben jene leichte Küche, welche maßgeblich auf Michel Guérard zurückzuführen ist, erstmals im Jahre 1973 mittels äußerst symbolträchtig ausformulierter 10 Gebote in ihrer Zeitschrift Le Nouveau Guide (aus welcher sodann der Gault-Millau hervorgehen sollte). Grundlegend geht es dabei um vereinfachte Formen der Zubereitungen (nicht unbedingt in punkto handwerklichen Könnens, sondern mehr unter dem Diktum eines frischen, zeitnahen Fertigstellen des Gerichts), sowie um Rücksichtnahme beim Kochen, was gesundheitliche
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Haute Cuisine bezeichnet in erster Linie die gehobene Küche Frankreichs. Sie firmiert in verschiedensten Diskursen als das Highlight von Kochkultur und stellt einen weltweit verbindlichen Bezugspunkt für die Kochkunst dar.16 Mit speziellen Betrachtungsweisen des Zubereitens und Servierens von Nahrung auf höchstem Niveau beschäftigten sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer kunsttheoretischen Warte aus der Historiker Carl Friedrich von Rumohr mit seiner Publikation Geist der Kochkunst von Joseph König (1822), der selbsternannte Gastrosoph Jean Anthelme Brillat-Savarin mit seiner 1826 erschienenen Physiologie du goût, ou méditations de gastronomie transcendante (1826) und der Mediziner Gustav Blumröder in seinen Vorlesungen über die Eßkunst (1838, unter dem Pseudonym Antonius Anthus veröffentlicht). Die Intention dieser drei Autoren war ein geis-
(schonende Garmethoden der Zutaten) und ökologische (Fokus auf regionale Produkte) Belange angeht. Der größte Unterschied zur Haute Cuisine besteht dabei in der erhöhten Bekömmlichkeit, respektive Verdaulichkeit der Gerichte. So wird hierbei allgemein mehr Augenmerk auf verschiedenste Gemüsesorten pro Gericht gelegt und speziell auf sanftere Formen der Zubereitung, welche nunmehr verstärkt den Eigengeschmack der verwendeten Produkte erhalten sollen – Dämpfen statt Anbraten, Einkochen und Backen, sowie eine erhöhte Hinwendung zur Rohkost. Erste Ideen und Ansätze hierfür lassen sich zwar bereits bei Escoffier in der Cuisine Moderne finden, jedoch wurde dieses Prinzip erstmals im großen Stil ab den 1970ern durchgesetzt und dementsprechend prestigeträchtig verkauft – von den Köchen der ausgerufenen Nouvelle Cuisine, wie von ihren Kritikern. 16 Selbst Vertreter der Molekularküche aus Spanien oder jene der New Nordic Cuisine stellen sich in die glorreiche Tradition der Cuisine Moderne, sie schreiben sich auf die Fahnen, ein solches Ideal des Kochhand- bis Kunstwerkes fortzuschreiben.
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teswissenschaftliches Aufwerten des Gegenstandes der Ernährung, indem speziell das Erkennen und Genießen hochwertig(zubereitet)er Speisen propagiert wurde. Rumohr, Brillat-Savarin und Blumröder hatten damals also schon Reinigungsarbeit betrieben und gehobenes von niederem Kochen geschieden. Daraus hervorgehend wurde das Erkennen von gutem Geschmack und Kochkultur schließlich zu einer besonderen Herausforderung, aus welcher schließlich die Gastronomiekritik als solche hervorging. Erst jene situierte, konstatierte und konstituierte die Haute Cuisine. Dieser Begriff etikettiert somit nun ein weit verzweigtes Netzwerk von gastronomischen Einrichtungen, Institutionen der Restaurantkritik und Gourmands.17 Im Grunde verweist der Begriff der Haute Cuisine allerdings auf eine Art beziehungsweise ein Ideal der Zubereitung oder vielmehr Zurichtung von Nahrungsmitteln, wie es sich grob auf die Entstehung und Weiterentwicklung des professionellen Kochens im Zeitraum vom Anfang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende der 1960er Jahre zurückführen lässt. Damit ist Haute Cuisine demnach am ehesten als Bezeichnung für eine bestimmte Epoche in der europäischen Küchengeschichte zu verstehen. Bis ins 19. Jahrhundert existierte nämlich eine Restaurant-Kultur noch nicht. Eine solche begann grob ab der Französischen Revolution (1789 bis 1799), als nämlich die Köche bei Hofe – mit einem Mal arbeitslos geworden – dazu übergingen, ihr Glück in der freien Marktwirtschaft zu suchen und demzufolge die „ersten Restaurants“ (Barlösius 2011: 157) eröffneten. „Zwar wurden in allen Küchen Vorstellungen von Esslust und -genuss entwickelt, aber nur in Frankreich, genauer in Paris zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wurde eine Küche etabliert, die vorgab, sich nur an Genusssteigerung zu orientieren und ihr alle anderen Zwecke wie Repräsentation und Traditionsbildung unterzuordnen.“ (Barlösius 2011: 156)
17 Siehe hierzu Barlösius (2011: 156ff.) und Mennell (1985: 134ff).
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Dieser Zeitraum von rund 170 Jahren lässt sich zwecks besserer Übersicht in die Grande Cuisine (auch bekannt als Cuisine classique) und Cuisine Moderne unterteilen, welche jeweils durch Errungenschaften prominenter Küchenchefs charakterisiert sind. So wird die Grand Cuisine vornehmlich mit der medialen Persona und dem Wirken von Marie-Antoine Carême (1784-1833) im Zeitalter des Ancien Régime identifiziert (Mennell 1985: 144-156) – die Cuisine Moderne der Belle Époque (1884-1913) hingegen mit Auguste Escoffier (ebd. S. 157162). Die wesentliche Neuerung von Escoffier bestand darin die Techniken der Grande Cuisine der Hektik und der Betriebsamkeit der Moderne anzupassen. Da Escoffier letztlich der Tradition der klassischen Grande Cuisine verpflichtet bleibt, deren Rezepte adaptierte, archivierte und den damals aktuellen Gegebenheiten anpasste, markierte die Cuisine Moderne zwar keinen wirklichen Bruch, jedoch mindestens eine entscheidende Zäsur in der europäischen Geschichte des professionellen Kochens. In welcher Hinsicht dies konstatiert werden kann, wird im weiteren Verlauf ausgeführt.
B LACKBOXING E SCOFFIER – T HE F IRST M ASTER C HEF Die mediale Persona Auguste Escoffiers (1846-1935) gilt gemeinhin als Ausgangs- wie Bezugspunkt für jene Bewegung, welche als Cuisine Moderne bekannt wurde. Der Kult um sein Wirken wie Schaffen in der Gastronomie wird über jene Ära der Nouvelle Cuisine bis hinein in die Zeiten der Molekularküche zelebriert. Er sei Nathan Myhrvold et al. zufolge „the king of chefs and the chef of kings“ (Myhrvold et al. 2011: 20). Ebenso wenig hielt sich der Sternekoch Michel Roux mit Lob zurück. Dieser argumentierte, dass Escoffier nicht weniger als The First Master Chef gewesen sei18, schließlich habe
18 The First Master Chef: Michel Roux on Escoffier (BBC 4, 2012).
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er mit seiner Küchenorganisation das Kochen auf hohem Niveau für eine große Anzahl von Gästen überhaupt erst möglich gemacht. Und wenn hierzulande der Fernsehkoch, beziehungsweise Restauranttester Christian Rach über das Innovative der von Ferran Adrià entwickelten Molekularküche sinniert, bedient er sich dabei einer Historie der gehobenen Gastronomie, an deren Anfang Escoffier steht: „Wenn man mal 100 Jahre Revue passieren lässt – es gab in Frankreich Escoffier, ein Verschlanker und Entschlacker. Es gab Bocuse, ein leichter Erneuerer. [...] Alle haben sie etwas getan, aber nichts wirklich Neues. Das wirklich Neue kommt aus Nordspanien, von Adrià.“ (Rach 2009: 57)
Im Jahre 1903 veröffentlichte Auguste Escoffier seinen Le guide culinaire (dt. Kochkunstführer). Im Vorwort hierzu präzisierte er die Idee, wie auch die Umstände seines Kochstils: „Kochkunst hängt in ihrer Entwicklung vom psychologischen Stand der Gesellschaft ab und folgt notwendigerweise den von ihr empfangenen Impulsen“ (Escoffier, zitiert nach Schraemli 1991: 35), lautet die Hauptthese.19 Was jenen Stand der Gesellschaft angeht, hat Escoffier einen scharfen beinahe soziologischen Blick bewiesen: „Dort aber, wo ein reges Geschäftsleben herrscht und die Nöte des Alltags den Menschen zu stark in Anspruch nehmen, wird dieser, im Drange der Geschäfte den Freuden der Tafel nur einen recht beschränkten Platz einräumen können. Dem vielbeschäftigten Menschen erscheint selbst die Notwendigkeit, sich zu ernähren, häufig genug lästig und hinderlich. Er betrachtet die Zeit, die er bei Tisch verbringen muß [sic!], als eine verlorene und verlangt daher gebieterisch, recht schnell bedient zu werden.“ (Escoffier 1993: VII.)
19 Kochkunst ist dabei schlecht ins Deutsche übersetzt, im Original heißt es schlicht cuisine. Indes wurde Kunst im 18. Jahrhundert mehr als technisches Können, denn als handwerkliches Geschick verstanden (Nordmann 2008: 22ff.).
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Ganz ähnlich findet man in Georgs Simmels 1910 erschienen Soziologie der Mahlzeit die Feststellung, dass es beim Essen weniger um „die Speise als Materie“ (Simmel 1910: 1) als vielmehr um die „Form ihrer Konsumierung“ (ebd.) gehe. Zudem wäre es „völlig deplaciert“ im „Essen individuell“ sein zu wollen (ebd.). Auf einen Nenner gebracht dürfte Simmel zufolge die Tischgesellschaft nicht mit zusätzlichen Sinneseindrücken belastet werden. Auch hierzu findet man entsprechende Aussagen bei Escoffier: „So bedauernswert ein solcher Standpunkt nicht nur im Interesse der Kochkunst, sondern auch im Hinblick auf die Gesundheit des Gastes ist, so liegt es doch nicht in unserer Macht, hier Einhalt zu gebieten. Wir können aber die Folgen dieser oberflächlichen Behandlung des Essens durch Vervollkommnung der von uns gebotenen Gerichte zu mildern versuchen.“ (Escoffier, zit. nach Schraemli 1991: 35)
Für den König der Köche schien ein Ausweg aus dieser Misere ein Kochen nach der Devise Faites simple! darstellen zu können. Eine solch einfachere Handhabung begann für Escoffier schon mit der Separierung in einzelne Arbeitsschritte (der Köche wie auch Service-Kräfte): „[D]ie Garnituren und auch die Saucen [sollen] gesondert gereicht werden. Hierdurch wird das Anrichten vereinfacht und die Speisen kommen heißer, sauberer und schneller auf den Tisch.“ (Escoffier 1993: VIII.)
Doch auch die Gerichte selbst haben eine Simplifikation zu erfahren. Von komplizierten Garnituren hielt Escoffier per se nichts, das Herstellen und Anrichten dieser kostete zu viel Zeit. Und was die Speisen aus seiner Küche anging, konstatierte er wie folgt: „Konsequenterweise werden wir Schritt für Schritt leichtere Gerichte und einfachere, kleinere Menüs vorschlagen“ (ebd.). Auf diese Weise wurde es ihm und seiner Brigade sodann möglich, einerseits der Hektik seines Zeitalters begegnen zu können und andererseits sowohl für Qualität als auch für
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Quantität bürgen zu können. Surtout fait simples, um dementsprechend im großen Stil zu produzieren, zu distribuieren und zu konsumieren.
B LACKBOXING H AUTE C UISINE – DIE R EZEPTUREN Zwar werden Kochbücher und -rezepte beinahe seit Anbeginn der Schriftkultur verfasst, doch es bestand lange Zeit ein differentes Verständnis vom Rezept, wie wir es heute kennen. Eines mit genauen Maßangaben war bis weit hinein ins 19. Jahrhundert schlichtweg nicht existent. Mengenangaben, präzise Details zur Zubereitung, ferner konkrete Anweisungen bezüglich Zeit und Temperatur beim Garungsprozess fehlten. Wenn Eva Barlösius Sinn und Idee des Kochrezepts dahingehend ausmacht, „[…] dass die Speise immer wieder wie das erste Mal schmeckt, obwohl sie stets eine andere ist“ (Barlösius 2011: 86) und darin die Möglichkeit einer Konstitution von Geschmack sieht, kam eine solche erst mit einem verbindlichen Kochrezept auf. In Escoffiers Guide culinaire hingegen waren alle Rezepte bis auf Gramm und Milliliter genau. Zwar richteten sich die knapp gehaltenen Arbeitsanleitungen lediglich an ausgebildete Köche, doch war es nicht im Sinne Escoffiers, ein Kochbuch für die breite Masse zu schreiben. Ihm ging es um ein Betriebshandbuch für die Küchen der Grand Hôtels. In diesem Sinne hatte er die Gerichte der Grande Cuisine, deren Rezepte bis dahin lediglich als Zutatenlisten ohne präzise Mengenangaben verschriftlicht waren, nicht nur archiviert, sondern neu oder erstmalig vermessen und so auf eine verbindliche, reproduzierbare Weise in den Kochdiskurs des 20. Jahrhunderts eingespeist. Die Rezeptur garantierte somit, dass das gewünschte Endprodukt in Sachen Qualität und Geschmack beliebig oft wiederholbar, beziehungsweise herstellbar sei. Gewährleistet wurde dies durch exakte Angaben in Liter, Deziliter, Milliliter, Kilo, Gramm, Prise, Esslöffel und – mittlerweile veraltet – Pfund, Msp. (Messerspitze) und Tasse. In erster Linie aufgrund dieser Innovation galt der Guide culinaire schon bald als Arbeitsgrundlage
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für einen jeden Koch. Gleich wie viele Personen sich für das Dinner angemeldet hatten, dank der exakten Austarierung der Zutatenmengen konnte das Grundrezept für jede beliebige Speisenmenge hoch- oder umgerechnet werden. Und ein jeder Gast erhielt das gleiche Essen, was Qualität und Geschmack anging. Diese Prinzipien sind sodann in die Lehrbücher für den Ausbildungsberuf Koch eingegangen (Grüner et al. 2007: 94).
K LEINER E XKURS : G RAND H ÔTELS Im Jahr 1884 öffnete César Ritz in Monte Carlo die Pforten zu seinem ersten Groß-Projekt, welches schlicht den Namen Grand Hôtel trug – mit Escoffier als Küchenchef. Bei Grand Hôtels handelt es sich einerseits im 19. Jahrhundert um einen „new buidling type“ (Denby 1998: 7). Erstmals wurden für das Eröffnen eines Hotels keine bestehenden Gebäude umgebaut, sondern von Grund auf am Reißbrett eines Architekten entworfen. Dadurch konnte von Anfang an in vollkommen anderen (Größen)Dimensionen gedacht werden. Diese neue Herangehensweise im Hotelier-Wesen kam aus den Vereinigten Staaten. So gehörte das „Tremont House in Bosten“ (ebd. 34) mit 170 Suiten zu den ersten wirklichen Grand Hôtels20. Andererseits sollte nicht nur eine möglichst große Anzahl von Gästen bewirtet werden, dies sollte auch auf höchstem Niveau geschehen. Für Qualität in der Küche konnte Escoffier dadurch garantieren, dass er bereits in Monte Carlo die Form des Service, des Servierens und Auftragens verändert hatte. Er favorisierte den Service à la russe (James 2002: 119). Hierbei werden die Speisen eines Menü-Gangs einzeln und in Reihenfolge aufgetragen – different zum damals in Europa gebräuchlichen Service à la française, bei welchen (mit einem Büffet vergleichbar) alle Speisen mit einem Mal zu Tisch gebracht wurden. Mit dieser im Grunde simplen Ausdif-
20 Zuvor hatte es in New York schon das City Hotel gegeben, jedoch nur mit 73 Zimmern (ebd.: 33).
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ferenzierung – es mussten nicht mehr alle Speisen auf einmal gekocht und fertig sein, sondern die Menüs konnten in einzelnen Arbeitsschritten produziert werden – war der erste Schritt hin zu einer Küchenorganisation gemacht, welche sowohl Qualität (der Speisen) als auch Quantität (ein Menü für mehr als hundert Personen) gewährleisten konnte. Die Einführung des Service à la russe erwies sich in Monte Carlo als Erfolgsmodell, womit schließlich die Hochphase der Grand Hôtels eingeläutet wurde und Caesar Ritz sowie Escoffier sich ihren Weg in die Geschichtsbücher bahnten. „Escoffier spent much of his career outside France, working with Cesar Ritz to create the Savoy Hotel in London and later The Ritz hotels.“ (Myhrvold et al. 2011: 20) Kreieren muss hier als wörtlich verstanden werden. Denn Escoffier bot sich die einzigartige Möglichkeit, den Architekten der neugebauten Hotels seine Ansprüche hinsichtlich dem Aufbau und der Lage der Küchenräume zu diktieren. Den Zenit erreichten Ritz und Escoffier schließlich mit dem Carlton Hotel in London – „in der Nachbarschaft des Buckingham Palace“ (Berger 2015: 11). Dort leitete Escoffier schließlich eine „sechzig Mann starke Brigade und perfektionierte die Organisation der modernen Küche.“ (Ebd.: 10) Das Carlton – seinerzeit das größte Grand Hôtel weltweit – wurde am 18. Juli 1899 eröffnet (Batzner 2012: 73) und „hier wickelte sich nun fast ein Menschenleben lang sozusagen die Weltgeschichte der Kochkunst ab“ (Schraemli 1991: 31). Allerdings stellten die Bestellungen von einzelnen Gerichten in noch nie zuvor da gewesenen Dimensionen eine enorme Anforderung an Escoffiers Küche dar: „eine Brigade von 60 Personen unter Escoffiers Führung, die 500 Gedecke für ein einziges Dîner bewältigen“ (Batzner 2012: 73) musste, vermerkt hierzu Martin Batzner. Verlangt wurde also von den gastronomischen Küchen, ein Gericht in Serie herstellen zu können, ohne dass bei dieser Quantität die Qualität leidet. Der Schlüssel hierfür ist in der Organisation der Küchen zu suchen: „One of Escoffier’s most enduring contributions to cuisine was organizing brigades of chefs to cook for large banquets. His system for managing both kitch-
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en and service staff has been the foundation of kitchen organization for the past century.“ (Myhrvold et al. 2011: 20)
B LACKBOXING H AUTE C UISINE – DIE B RIGADE DE CUISINE Die Praxis der Massenverköstigung hatte Escoffier in sieben Jahren Militärdienst und deutscher Kriegsgefangenschaft lernen müssen (Schraemli 1991: 30). Vermutlich ist dies auch der Hintergrund, vor dem man die von ihm geprägte Bezeichnung des Küchenteams als Brigade sehen muss (Bellon 2012: 47, Zipprick 2013: 159, Berger 2015: 8). Abgesehen von dieser Umstrukturierung veränderte Escoffier auch die räumliche Einteilung seiner Küche. Galt bis dato im Geschäft des à la carte, dass, wenn der Gast aus der Speisekarte ein Gericht ausgewählt hatte, dieses von einem Koch zubereitet wurde, so wurden nun klare Trennlinien gezogen. Die Küche(nbrigade) und damit auch das Gericht erfuhren hierarchische wie räumliche Aufteilungen in einzelne Posten (James 2002: 131). Diese Hauptposten wären nun: Chef de Saucier – Saucenkoch, Chef de Entremétier – Beilagenkoch, Chef de Gardemanger – Koch der Kalten Küche (Vorspeisen, Salate, in kleineren Betrieben auch die Desserts).21 Eine solche Einteilung gehört nun-
21 Keine Aufführung findet hierbei der Sous Chef, da der stellvertretende Küchenchef als solcher keinen eigenen Posten bekleidet. Aber meistens kocht er auf dem Posten des Sauciers, wenn der Chef de Cuisine die Bestellungen annonciert. In (Grand)Hotelküchen kommen noch weitere Ausdifferenzierungen hinzu wie zum Beispiel Potager (Suppenkoch), Poissionnier (Fischkoch), Rôtisseur (Bratenkoch), Grillardin (Grillkoch), Légumier (Gemüsekoch), Cocottier (Eierkoch), Tourier (Teigkoch), Hors d’œuvrier (Vorspeisenkoch), Boucher (Küchenmetzger), Pâtissier (Küchenkonditor), Confiseur (Süßspeisenkoch), Glacier (Eiskoch), Boulanger (Küchenbäcker). (Grüner et al. 2007: 95-96)
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mehr fest zum Ausbildungsberuf Koch und wird in einschlägigen Lehrbüchern – wie dem Jungen Koch bis heute vermittelt (Grüner et al. 2007: 95-96). Bei einem durchschnittlichen Hauptgang, der aus einer Hauptkomponente (Fleisch oder Fisch) nebst Sauce, einer Sättigungsbeilage und bis zu drei Gemüsebeilagen besteht, sind nach dem Postensystem von Escoffier drei bis fünf Köche beteiligt.22 Dieses Aufgliedern des Arbeitsaufwands in mehrere Etappen gewährleistet eine höhere Effizienz. Jeder Chef de Partie (Postenkoch) konzentrierte sich jeweils auf (s)eine Komponente des Gerichts. Die beteiligten Postenchefs arbeiten zeitgleich an der Fertigstellung ihrer Gerichte, was die Dauer bis zur Fertigstellung eines Gerichts maßgeblich verkürzte. Strukturiert und angewiesen werden sie dabei vom Chef de Cuisine, der im Küchenbetrieb nicht mehr selbst kocht, sondern die Bestellungen der Gäste annonciert und dahingehend für eine gute Infrastruktur der Kochvorgänge sorgt, dass er die bestellten Gerichte einzeln abruft, Zeitlimits setzt und Abläufe zwischen den Posten koordiniert. Derart angeordnet, durch Arbeitsteilung und Spezialisierung, konnte Escoffier die Produktivität der Küche rapide erhöhen. Allerdings wirkte sich dieses Postensystem nicht nur auf die Verteilung der Köche im Raum, sondern auch auf die Ausrichtung des Selbigen aus. In der Hauptküche23 waren die Arbeitsplätze von Saucier und Entremetier am Küchenblock gegeneinander positioniert, sodass sie einerseits unabhängig voneinander ihre Komponenten für das jeweilige Gericht zubereiten konnten, andererseits von beiden Seiten an den Küchenpass (die Ausgabetheke) herankommen konnten. Auf den Pass hin war die gesamte Hauptküche ausgerichtet. Dieser stellte die Arbeitsfläche für das Anrichten der Teller (je nach Serviceart) dar.
22 In größeren Umfang einer Brigade wird Fleisch oder Fisch getrennt von der Sauce und die Sättigungsbeilage getrennt von den Gemüsebeilagen behandelt. 23 Die Kalte Küchen, die Cuisine de Gardemanger oder die Cuisine de Pâtissier sind separiert.
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F AZIT Sofern sich also Fast Food und Cuisine Moderne auch sein mögen, oder vielmehr so strikt gewisse Grenzen zwischen ihnen gezogen werden, in grundlegenden, technisch-organisatorischen Punkten sind sie symmetrisch. Die generelle implizit abwertende Haltung gegenüber Fast Food (Kommerz) einerseits und die geradezu überbewertende Haltung gegenüber der Haute Cuisine (Kunst) andererseits, unterschlägt die Tatsache, dass beide Gastronomien auf gleichen oder zumindest ähnlichen Grundprinzipien beruhen, die vor allem die physische und soziale Organisation der Küche betreffen. Die Kunst in der Kochkunst hat dabei allerdings wenig mit dem Begriff zu tun, den wir aktuell von ihr haben. Der Journalist Michael Allmaier pointiert deshalb die gegenseitige Bedingung von Kunst und Kommerz in der Gastronomie wie folgt: „Eine Künstlernatur würde verzweifeln über der ewigen Wiederholung. Es genügt ja nicht, ein atemberaubendes Gericht zu kreieren. Man muss auch dafür sorgen, dass es x-tausendfach in gleicher Güte die Gäste erreicht. Und andere finden, denen man es beibringen kann. Denn wer nie aus der Küche kommt, macht sich niemals einen Namen.“ (Allmaier 2008)
Ein System muss(te) demzufolge etabliert werden, welches im besten Fall so gut funktioniert, dass der Chef de cuisine gar nicht einmal mehr anwesend zu sein braucht.24 Erst dann kann er beispielsweise die Gäste begrüßen oder wie etwa Escoffier der Sopranistin Nellie Melba das 1899 von ihm nach ihr benannte Dessert Pêche Melba im Carlton
24 Insbesondere Paul Bocuse hat dies später in besonderer Weise kultiviert. Er befand sich im Grunde nur noch bei seinen Gästen und auf die Frage, wer denn die Gerichte zubereite, wenn er nicht in der Küche wäre, soll er immer schlagfertig geantwortet haben: „Derselbe, der kocht, wenn ich da bin!“, was zu einem im Feuilleton oft und gern verwendeten Zitat wurde, zuletzt auch von Rach aufgegriffen. (Rach 2009: 58)
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höchstpersönlich servieren. Durch das Gewährleisten einer solchen küchen-technischen Reproduzierbarkeit entstand Anfang des 20. Jahrhunderts eine Hochkultur der Ernährung. Das dabei zugrundeliegende gastronomische System wurde ab den 1930er in US-amerikanischen Drive-Ins lediglich geringfügig verändert adaptiert, weswegen auch das Fast Food als geboren aus dem Geist der Cuisine Moderne angesehen werden muss. Aus diesem Grund und dieser Sicht wäre das Auseinanderhalten von Cuisine Moderne und Fast Food, somit auch das daraus hervorgehende pejorative Urteil gegenüber dem Fast Food von Grund auf falsch.
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Gastronomical Indians Indigene Gastronomie als kulturelle Selbstbestimmung in Kanada S EBASTIAN S CHELLHAAS 1
E INLEITUNG 2 Don’t Panic…We Have Bannock! – Mit diesem Slogan wirbt das Kekuli Cafe in Westbank, British Columbia. Kekuli (sȀístkn in Nlaka’pamuctsin, der Sprache der Angehörigen der Nlaka’pamux Na-
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Sebastian Schellhaas, M. A., ist Doktorand und Stipendiat im DFG geförderten Graduiertenkolleg Wert und Äquivalent, Goethe-Universität Frankfurt, [email protected]
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Dieses Kapitel beruht auf einem Forschungsprojekt zu indigenen Gastronomien in Kanada, für das ich zwischen Sommer 2013 und Winter 2016 wiederholt Feldforschungen in den kanadischen Bundesstaaten British Columbia und Alberta unternommen habe. Die vielen Begegnungen, Gespräche und Erlebnisse mit Freunden, Köchen, Gastronomen, Künstlern, Aktivisten und Akademikern im Zuge dieser Reisen bilden die Grundlage der folgenden Darstellung. Ich bedanke mich bei allen, die mit mir ihre Geschichten und ihr Wissen geteilt haben.
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tion, zu denen sich auch die Eigentümerin des Cafés zählt3) benennt eine Hausbauart, die im Deutschen als Gruben- oder Erdhaus bezeichnet wird. Bis zum Kontakt mit Europäern waren diese unterirdischen Kekuli auf der Hochebene des Interior Plateau British Columbias weitverbreitet. Ungeachtet seines Namens befindet sich das 2009 eröffnete Kekuli Cafe jedoch nicht in einem historischen Grubenhaus, sondern in einem für ein zeitgenössisches nordamerikanisches Gewerbegebiet üblichen Gebäude. (Abb. 1) Wie der Slogan besagt, gibt es dort bannock – das heißt gebackene oder frittierte (in dem Fall auch frybread genannte) Teigfladen aus Weizenmehl, Salz, Zucker, Mehl, Backpulver und Wasser. Gelegentlich kommen auch Milch, Schmalz oder Pflanzenöle dazu. Die Konsistenz variiert von klassischen, eher brüchigen scones bis hin zu ungarischem lángos ähnlichen Fladen. Neben den
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Das Territorium der Nlaka’pamux Nation (früher bekannt als Thompson) erstreckt sich über das Interior Plateau im Südosten des heutigen British Columbia sowie den nördlichen Teil des amerikanischen Bundesstaats Washington. Zwar zählt das Nlaka’pamuctsin ethno-linguistisch zur SalishSprachfamilie, als sogenannte Binnen-Salish (Interior Salish) unterscheiden sich die Nlaka’pamux First Nations kulturell jedoch erheblich von den sprachverwandten Küsten-Salish (Coast Salish). Aufgrund ihres Territoriums im Gebiet des Thompson River wurden sie in der Vergangenheit auch als „Thompson Indians“ bezeichnet. „Nlaka’pamux“ ist hingegen eine Eigenbezeichnung. Da der siedlerkoloniale Kontext Kanadas hinsichtlich der Bezeichnung für diejenigen Menschen, deren Vorfahren diese Landschaften lange vor der Ankunft der Europäer bewohnt haben – das heißt First Nations (umfasst status- und non-status Indians), Métis und Inuit –, nach besonderer Sensibilität verlangt, werde ich im Folgenden (wann immer möglich) Eigenbezeichnungen verwenden. Für kollektive Aussagen verwende ich den Begriff „indigen“ analog der Verwendung von „französisch“ oder „deutsch“ in „französischer Wein“ und „deutsches Bier“. Zum Thema Terminologie in Kanada siehe Linc Keslers Aboriginal Identity and Terminology und Chelsea Vowels Indigenous Writes. A Guide to First Nations, Métis, and Inuit Issues in Canada (2016: 7-22).
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gängigen Kaffeespezialitäten, Softdrinks, Smoothies aus indigenen saskatoon berries und dem nordamerikanischen Frühstücksklassiker, bestehend aus Eiern mit Speck und Bratkartoffeln, umfasst die Speisekarte des Kekuli Cafes ein breites Angebot von bannock mit bunten, süßen Glasuren4 wie Saskatoon Cream, Cinnamon Sugar, Sum’oreo, Caramel Apple Spice, Ogopogo, Cream Cheese Skor, Maple Glazed und Maple Wal sowie herzhafte Eggs-Bannodict, Indian tacos, diverse Bannock-Burger, Bannock-wichs wie auch Salate und Suppen – letztere natürlich mit bannock als Beilage. Obschon das eine oder andere auch andernorts angeboten wird, ist das Kekuli Aboriginal Foods Inc. – wie das Unternehmen offiziell gemeldet ist – kein gewöhnlicher gastronomischer Betrieb, sondern ein „First Nations owned […] original Bannock restaurant with a modern contemporary twist, First Nations style!“5 Wäre das nicht aufgrund der Marginalität indigener Foodways und Gastronomie6 in Kanada bereits bemerkenswert genug, schreibt das Kekuli Cafe seit seiner Eröffnung eine beispiellose Erfolgsgeschichte: Nach der ersten Filiale 2009 eröffnete fünf Jahre später eine Dependance im 100 km entfernten Merritt. Weitere zwei Jahre später
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Im Folgenden verwendete Eigennamen sind der offiziellen Homepage ent-
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http://www.kekulicafe.com/
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Vor dem Hintergrund der heuristischen Unterscheidung von übergeordne-
nommen. http://www.kekulicafe.com/.
ten Ernährungskulturen und deren gastronomischer Professionalisierung werde ich im Folgenden zwischen indigenen Foodways und indigener Gastronomie differenzieren: Foodways bezeichnet den gesamten Kulturkomplex der Ernährung einer Gruppe, Gesellschaft oder Kultur. Das heißt alle Produkte, Techniken und Objekte materieller Kultur sowie Handlungen und Vorstellungen, die mit der Produktion, Redistribution, Konsumption und auch Reflexion von und über Ernährung verknüpft sind. Den Begriff der indigenen Gastronomie reserviere ich für die diversen Formen gastronomischer Professionalisierung indigener Foodways.
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stand der nächste bahnbrechende Schritt an: Kekuli Cafe wurde zur Franchisemarke.7 Abbildung 1: Kekuli Cafe in Westbank, British Columbia, Februar 2015
Quelle: Sebastian Schellhaas
Als Beispiel für den wachsenden Wirtschaftssektor indigener Gastronomie verkörpert das Kekuli Cafe nicht nur rezente Prozesse ökonomischer Selbstermächtigung der marginalisierten indigenen Bevölkerung in Kanada. Die Spezialisierung auf das ikonische Produkt beziehungsweise den gemeinsamen Nenner der teils grundverschiedenen indigenen Foodways im weitläufigen und vielseitigen Gebiet des heutigen Kanada – nämlich bannock – stellt zugleich, so die Annahme, einen Akt kultureller Selbstbestimmung dar. Entscheidend ist dabei, dass bannock schottischen Ursprungs ist. Als solches steht es in engem Zusammenhang mit der von Enteignung, Vertreibung und erzwungener Assimilierung geprägten kolonialen Realität, durch die die indigene
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http://www.kekulicafe.com/dont-panic-we-are-ready-to-franchise/
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Bevölkerung in Kanada nach wie vor mit gravierenden sozioökonomischen, soziokulturellen und ökologischen Konsequenzen konfrontiert ist. In Gestalt des damit einhergehenden Verlusts von Ernährungssicherheit und -Souveränität schlägt sich diese prekäre Situation darüber hinaus im gesundheitlichen Zustand eines Großteile der indigenen Bevölkerung nieder. Die kanadische Journalistin Zoe Tennant bringt dieses Spannungsfeld kolonialer Realität und indigener Lebenswelt in Breaking Bread. Bannock’s Contentious Place in Aboriginal Cuisine auf den Punkt: „to talk about food is to talk about land, and bannock occupies a conflicted territory.“ (2016: 62) Die These des vorliegenden Beitrags ist nun, dass der Slogan: Don’t Panic…We Have Bannock! als Prädikat für ein „First Nations style“ Restaurant einen selbstbewussten Umgang mit der eigenen Identität zum Ausdruck bringt, der kolonialen, essentialisierenden und rassistischen Ressentiments im Umgang mit der indigenen Bevölkerung in Kanada Widerstand leistet. Um sich der Thematik anzunähern, ist der Beitrag in vier Abschnitte gegliedert: Im ersten Abschnitt werde ich zunächst die koloniale Vergangenheit und deren Folgen für die indigenen Lebenswelten an der kanadischen Nordwestküste im Gebiet des heutigen British Columbia skizzieren. Im Zentrum dieser Darstellung wird die Idee der kolonialen Blindheit gegenüber der Komplexität indigener Lebenswelten stehen. Auch wenn die Diskussion der Transformation indigener Foodways in Kanada nach einer überregionalen Studie verlangt, ermöglicht der hier bemühte regionale Fokus, diesen Prozessen ein konkretes Gesicht zu geben. Der darauffolgende zweite Abschnitt gibt einen Einblick in eine unmittelbar verknüpfte, überregionale Thematik, die in siedlerkolonialen Kontexten unter dem Begriff der identity politics bekannt ist. Am Beispiel der Arbeiten von Paige Raibmon und Shepard Krech III wird deutlich werden, inwiefern sich Formen jener kolonialen Blindheit im Kampf um kulturelle Selbstbestimmung in Nordamerika tradiert haben. Der dritte Abschnitt widmet sich schließlich dem Prozess der gastronomischen Professionalisierung indigener Foodways und erzählt die noch junge Geschichte indigener Gastronomie in Kanada. Die Selbstgewissheit indigener Köche und
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Gastronomen im Umgang mit scheinbaren kulinarischen Widersprüchen, wie etwa dem schottischen Ursprung eines indigenen Identitätsmarkers, gibt im letzten Abschnitt den Blick auf mögliche Formen kultureller Selbstbestimmung in Kanada frei. Ziel dabei ist es, ausgehend von jener gastronomischen Professionalisierung indigener Foodways, einen kulinar- beziehungsweise gastroethnologischen Beitrag zur Diskussion von Ethnizität, Rassismus und (De)Kolonialisierung indigener Foodways im weiten Feld der Food Studies zu leisten.8
I NDIGENE L EBENSWELTEN IM K ONTEXT KOLONIALER B LINDHEIT Vor der Ankunft der ersten Europäer an der kanadischen Nordwestküste im späten 18. Jahrhundert beruhten die Foodways in der Region auf dem, was der pazifische Ozean, die Flüsse und Seen sowie die Flora und Fauna der dichten gemäßigten Regenwälder zu bieten hatten. Neben allerlei Beeren, Blattgemüsen und Knollengewächsen sowie Wild und Geflügel spielten die vielen verschiedenen Fischarten, große wie kleine Meeressäuger und diverse Meeresfrüchte eine wichtige Rolle für die Ernährung. Reger Handel entlang der Küste sowie zwischen an den Küsten und im Inland lebenden Gruppen sorgte für weitere Vielfalt auf dem lokalen Speiseplan.9
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Für einen Überblick über die relevanten Themen dieser Diskussion und eine Einführung in die entsprechende Literatur, siehe Williams-Forson und Walker (2013).
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Um eine konkrete Vorstellung von der kulinarischen Grammatik der indigenen Foodways an der Nordwestküste vor dem Kontakt mit Europäern zu bekommen, siehe die detailreichen Darstellungen in John Jewitts White Slave of the Nootka (1987) sowie Aldona Jonaitis’ Smoked Fish and Fermented Oil. Taste and Smell among Kwakwaka’wakw (2006) und Schellhaas (2015).
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Die natürliche Fülle und scheinbar grenzenlose Verfügbarkeit der diversen Nahrungsquellen führte zu der folgenreichen Annahme, dass es sich bei der indigenen Bevölkerung der Nordwestküste um JägerSammler-Gesellschaften handelte. Deur et al. fassen hierzu treffend zusammen: „Beginning with the journals of James Cook, and reiterated in report after report into modern times, Northwest Coast peoples were depicted as the primitive and indolent beneficiaries of an abundant environment, with little incentive to modify the landscape.“ (Deur et al. 2013: 30)
Demnach hätten die Bewohner der Nordwestküste vor dem Kontakt mit Europäern weder Nutztiere (nicht zu Land und auch nicht zu Wasser) domestiziert noch irgendeine Form des Ackerbaus oder andere Arten der Kultivierung pflanzlicher Nahrungsmittel betrieben. Diese Charakterisierung als Jäger und Sammler wurde nicht zuletzt durch die duale soziale Morphologie10 der inidgenen Lebensweise unterstützt. So hatten beispielsweise die Mowachaht-Muchalaht First Nations, die sich zur Gruppe der Nuu-chah-nulth auf Vancouver Island zählen, Sommerund Wintersiedlungen: Den Sommer über siedelten sie in Yuquot an der Mündung des Nootka Sound an der Westküste von Vancouver Island. Mit dem Einbrechen des Winters zogen sie sich dem Wasser folgend in das klimatisch gemäßigtere Inland zurück nach Tahsis.11
10 Siehe hierzu Marcel Mauss Darstellung in Über den Jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaft. Eine Studie zur Sozialen Morphologie ([1950] 1974). 11 Der Brite John Jewitt gibt in White Slave of the Nootka ([1815] 1987) Einblicke in die Unterschiede des Alltagslebens in den Sommer- und Wintersiedlungen. Jewitt lebte Anfang des 19. Jahrhunderts für zwei Jahre (18031805) bei den Mowachaht-Muchalaht First Nations. Sein später veröffentlichtes Tagebuch aus dieser Zeit ist einer der wenigen detaillierten Zeitzeugenberichte von Europäern, die in der Epoche des Erstkontakts an der Nordwestküste über einen längeren Zeitraum in indigenen Gemeinschaften
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Obschon diese duale Morphologie der indigenen Lebensweise und letztlich auch die Fruchtbarkeit der Region sowie das reichhaltige Angebot an essbarer Flora und Fauna nicht zu leugnen sind, weiß man heute, dass die pauschale Charakterisierung der indigenen Bevölkerung in British Columbia als Jäger und Sammler irreführend ist. Unabhängig von der Tatsache, dass Jagen und Sammeln ohne Frage zentrale Bestandteile des kulturellen Lebens wie auch des nackten Überlebens darstellten, hatte diese Charakterisierung fatale Konsequenzen: „The designation of the peoples of the Northwest Coast as ‚noncultivators,‘ […] [has] had many profound implications for these peoples. This designation has undercut land claims and territorial resource sites.“ (Deur und Turner 2005: 336)
Der kanadische Historiker Coll Thrush spricht in diesem Zusammenhang von einer „lens of cultivation“ (Thrush 2011: 4), durch die die Neuankömmlinge Land und Leute der pazifischen Nordwestküste gesehen hätten. Thrush beschreibt damit den Wahrnehmungshorizont der Neuankömmlinge, der durch das alttestamentarisch begründete Motiv des dominium terrae12, die Sozialisation in der europäischen Agrarevolution sowie das Klima der politischen Philosophie des 17. und 18.
gelebt haben. Sein Bericht gibt eine Vorstellung davon, wie die indigenen Lebenswelten an der Nordwestküste ausgesehen haben könnten, bevor der Einfluss europäischer beziehungsweise euroamerikanischer Siedler das Leben dort für immer verändern sollte. 12 Der theologische Begriff des dominium terrae (dt. Herrschaft über die Erde) geht auf eine Stelle im ersten Buch Genesis im Alten Testament zurück, an der Gott dem (christlichen) Menschen den Auftrag gibt, sich die Erde untertan zu machen beziehungsweise vollständig in Besitz zu nehmen: „Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.“ (Genesis 1,28)
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Jahrhunderts in Europa geprägt war. Man sei demnach davon ausgegangen, dass erst Agrarwirtschaft betreibende Gesellschaften sich die Natur durch Bearbeitung zu eigen machen würden.13 Jäger und Sammler hingegen würden sich an den Früchten ihrer Umwelt lediglich bedienen. Während die einen also die Natur zur anthropogenen Kulturlandschaft transformieren und zivilisieren, belässt das Verhalten der anderen die Natur im ursprünglichen Zustand der ungezähmten Wildnis einer terra nullius (dt. Niemandsland). Und eben das war es, was die europäischen Betrachter in den fremden Landschaften der kanadischen Pazifikküste sahen: Niemandsland. John Rickman, der mit Kapitän James Cook am Ende des 18. Jahrhunderts die Nordwestküste erreichte, berichtete etwa: „We saw no plantations which exhibited the least trace of knowledge in the cultivation of the earth; all seemed to remain in a pure state of nature.“ (Zitiert nach Thrush 2011: 6)
Für die Neuankömmlinge und späteren Kolonialisten war das ein klares Zeichnen: Wenn die Landschaft nicht bearbeitet, also naturbelassen war, dann handelte es sich um Niemandsland, das folglich frei zur Aneignung durch Bearbeitung und Kultivierung war. Indessen war die Landschaft streng genommen nicht nur frei. Gemäß des dominium terrae-Motives wird Aneignung durch Bearbeitung – und somit schließlich Kolonialisierung – vielmehr zur christlichen Pflicht. Faktisch widersprach diese antizipative Geografie (Harley 1992: 532) je-
13 Am bekanntesten in diesem Zusammenhang ist sicher eine Formulierungen des englischen Philosophen John Locke. In seinem einflussreichen Werk Zwei Abhandlungen über die Regierung ([1790] 1977) bestimmt er das Verhältnis von Gemeingut (Natur), Arbeit und Besitz: „Soviel Land ein Mensch bepflügt, bepflanzt, bebaut, kultiviert und soviel er von dem Ertrag verwerten kann, soviel ist sein Eigentum. Durch seine Arbeit hebt er es gleichsam vom Gemeingut ab.“ (II § 32, Locke 1977: 219)
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doch den Tatsachen, weshalb zeitgenössische Untersuchungen auch von einer kolonialen Blindheit sprechen.14 Jüngere Publikationen von Deur (2002a, 2002b) Deur und Turner (2005), Thrush (2011), Turner (2005, 2014) und anderen zeichnen ein komplexeres und konsistenteres Bild: Die indigene Bevölkerung im Gebiet des heutigen British Columbia hatte (und hat nach wie vor) ein außerordentliches Wissen von der Umwelt, die sie und ihre Vorfahren seit Tausenden von Jahren umgibt und versorgt. Über Generationen hinweg entwickelten sie ausgeklügelte Techniken zum Jagen, Fischen und Fallenstellen sowie ausgesprochene Fertigkeiten im Managen von natürlichen pflanzlichen und tierischen Nahrungsmittelressourcen. Deur und Turner identifizieren in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe von Beispielen indigenen Ressourcenmanagements als tatsächliche Kultivierungstechniken – das heißt als „practices to modify plant communities and animal populations in order to secure and promote the growth and productivity as well as quality of culturally important foods.“ (Deur und Turner 2005: 332)
Da diese Kultivierungstechniken ebenso komplex und vielseitig sind wie die entsprechenden Pflanzen und Tiere zahlreich und all dies je nach Gruppe und Region stark variiert, kann ich an dieser Stelle nicht ins Detail gehen.15 Stattdessen folge ich Deur und Turners Diskussion von q’waq’wala7owkw. Dabei handelt es sich um einen Begriff aus dem Kwak’wala16, der ein Konzept beschreibt, das unter der indigenen Bevölkerung entlang der Küste weit verbreitet ist und mit „keeping it
14 Siehe hierzu Fee (2009), Harris (2002), Tennant (2016) und Thrush (2011). 15 Für weiterführende Informationen bezüglich vegetativer Vielfalt der kanadischen Nordwestküste siehe Turner (1995, 1997, 2014). 16 Kwak’wala ist die Sprache der Kwakwaka’wakw (wörtlich „die, die Kwak’wala sprechen“). Ihr Territorium umfasst die nördlichen Regionen Vancouver Islands sowie die umliegenden Inseln und Teile des benachbarten Festlandes.
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living“ (Turner 2005: 148) übersetzt wird.17 Auch wenn diese Übersetzung direkte Assoziationen hinsichtlich einer nachhaltigen, stets ressourcenschonenden, naturverbundenen Lebensweise weckt, geht es mir nicht darum, das Bild des ecological indian (Krech 1999) zu evozieren. Wie sich weiter unten zeigen wird, ist dieser Stereotyp ein weiteres Produkt kolonialer Blindheit gegenüber der komplexen Vielschichtigkeit indigener Lebenswelten. Ganz ähnlich der Charakterisierung als Jäger und Sammler spiegeln sich im Bild des ecological Indian nichtindigene Konzepte, Antizipationen und romantisierende Nostalgie statt der tatsächlichen Realität indigener Lebenswelten. So betonen etwa auch Deur und Turner, dass, obgleich keeping it living zunächst auf ein nachhaltiges Verhältnis von Mensch-Umwelt-Interaktion referiert, diesbezügliche Techniken nicht nur natürliche Ressourcen und damit menschliche Ressourcennutzer am Leben halten. Sie heben vielmehr hervor: „Resource production was required not only to meet the daily needs of Northwest Coast peoples but, in addition, the social, political, and economic structures of these peoples were vitally dependent upon the display and redistribution of wealth acquired through surplus resource harvesting.“ (Deur und Turner 2005: 11, Hervorhebungen durch den Autor)18
Der entscheidende Punkt ist: Deur und Turner machen damit deutlich, dass in indigenen Lebenswelten an der kanadischen NordwestPazifikküste Land, Ernährung und Kultur – beziehungsweise indigene
17 In Deur und Turner (2005) befassen sich die einzelnen Beiträge mit den diversen regionsspezifischen Ausprägungen indigenen Ressourcenmanagements sowie deren jeweiliger kultureller Einbettung in British Columbia. 18 Mit „display and redistribution of wealth“ beziehen sich Deur und Turner auch auf die vieldiskutierten Potlatch-Feste. Zum Thema Potlatch, dessen Geschichte und Rolle innerhalb indigener Lebenswelten an der Nordwestküste, siehe beispielhaft Bracken (1997), Drucker und Heizer (1967) und Kammler (2009).
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Territorien und Ressourcen, physische, psychische und spirituelle Gesundheit und schließlich kulturelle Identität – untrennbar miteinander verknüpft sind. Vor dem Hintergrund dieses Ineinandergreifens von Land, Ernährung und Kultur in indigenen Lebenswelten lässt sich bereits erahnen, welche fatalen Folgen die koloniale Blindheit und der daraus resultierende Siedlerkolonialismus haben sollten.19 Zwar gibt es verschiedene Treaties (Völkerrechtliche Verträge) zwischen (pseudo-)souveränen20 indigenen Gruppen und der kanadischen Regierung, doch unterliegt letztlich alles, was auf dem Gebiet und mit der Landmasse geschieht, die heute den Namen Kanada trägt, der kanadischen föderalen Politik und Gerichtsbarkeit.21 Selbst die Nutzung von Reservationsland, das den indigenen Gruppen zunächst von der britischen Monarchie im Zuge der Königlichen Proklamation von 1763 und später vom kanadischen Parlament durch den Indian Act von 1876, zur alleinigen Nutzung zugesprochen wurde, ist davon nicht ausgeschlossen.22 Diese
19 Obschon es sich im Folgenden (auch) um einen historischen Rückblick handelt, verwende ich in diesem Zusammenhang das Präsens, um die fortwährende Offenheit und ungebrochene Brisanz dieser Prozesse zu betonen. 20 Ich spreche hier von „(pseudo-)souverän“, da es sich in diesem Fall nicht um Souveränität sui generis handelt. Sowohl die Kriterien dafür, was als politische wie territoriale indigene souveräne Einheit gilt, als auch Rechte, die diese Souveränität beinhaltet, bestehen nicht aus sich heraus, sondern werden letztlich durch die kanadische föderale Gesetzgebung bestimmt und nur durch sie garantiert. 21 Für eine detaillierte Darlegung dieser Problematik am Beispiel von British Columbia siehe die Arbeiten von Cole Harris, Making Native Space. Colonialism, Resistance, and Reserves in British Columbia (2003), und Paul Tennant, Aboriginal Peoples and Politics. The Indian Land Question in British Columbia (1990). 22 Entsprechend ist im Indian Act festgehalten: „Reserves are held by Her Majesty for the use and benefit of the respective bands for which they were set apart, […] and to the terms of any treaty or surrender, the Governor in
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Einflussnahme auf die Nutzung und den Erhalt von indigenem Land und Ressourcen in Verbindung mit industrieller Ausbeutung und Verschmutzung der Umwelt bedingen tiefgreifende Transformationsprozesse, die nicht nur die geografische und soziokulturelle Basis indigener Lebenswelten betreffen. Der damit verknüpfte Verlust von Ernährungssicherheit und -souveränität birgt überdies gesundheitliche Konsequenzen. Die Einführung neuer Lebensmittel und Küchentechniken in die alltägliche Ernährung verschärft diese Situation zusätzlich dadurch, dass die entstehenden Lücken im alimentären System der indigenen Bevölkerung durch diätisch fragwürdige Substitute geschlossen werden. So ist es in diesem Zusammenhang auch nicht verwunderlich, dass für die Mehrheit der indigenen Bevölkerung in British Columbia und anderen Teilen Kanadas Fast Food und industrielle Fertigprodukte einen wesentlichen Teil der alltäglichen Ernährung darstellen. Längst verdrängen Tiefkühltruhen, Kühlschränke, Fritteusen und Mikrowellen den Großteil der historischen Zubereitungs- und Präservierungstechniken sowie die dazugehörigen Objekte materieller Kultur aus indigenen Haushalten.23 Zusammenfassend kann gesagt werden: Aus einer gewürz- und kohlenhydratarmen, auf tierischen Proteinen und wilden pflanzlichen Nahrungsmitteln beruhenden Ernährung wird eine auf Kohlenhydrate konzentrierte, gewürz-, zucker- und salzlastige Frittier- und Anbratküche, in der verzehrfertige Lebensmittel an die Stelle von frischen oder präservierten Lebensmittelen treten. Berüchtigt sind in diesem Zusammenhang vor allem die five gifts of the white man: Salz, Zucker, Mehl, Milch und Schmalz. Tennant schreibt hierzu: „Settlers plowed over gardens of rice root and silverweed. Access to Indigenous hunting and fishing sites was blocked. Grocery foods and governmentissued rations of bacon, salt, sugar, flour, baking soda, and lard displaced foods
Council may determine whether any purpose for which lands in a reserve are used or are to be used is for the use and benefit of the band.“ (Indian Act, Abschnitt 18 [1], Hervorhebungen durch den Autor) 23 Siehe hierzu Schellhaas (2015).
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from the land. And the ‚five gifts of the white man‘ became a part of daily life.“ (Tennant 2016: 63)24
Abgesehen von ihrer jeweiligen Verwendung in verschiedenen Zusammenhängen lassen sich die five gifts zu einem Gericht vereinigen, das für diese kulinarischen Transformationsprozesse ikonisch ist – und das ist bannock. In den Ernährungswissenschaften wird diese Form von – ganze Lebenswelten umfassenden – kulinarischen Transformationsprozessen als nutrition transition bezeichnet.25 Ausgehend vom Ineinandergreifen demografischer, diätischer und soziokultureller Veränderungen, rückt das Konzept epidemiologische Aspekte in den Vordergrund. Entsprechend spricht die kanadische Ernährungsökologin Harriet Kuhnlein in Bezug auf indigene Gesellschaften in kolonialen Kontexten explizit von „diseases of the so called western diet and lifestyle“ und fasst zusammen: „[…] Obesity and diabetes, the cardiovascular diseases, cancer, infant morbidity and mortality in higher frequencies, alcoholism, loss of teeth and clear eyesight, and rampant infections are all part of this diet and health picture that has emerged for Indigenous peoples in the last 100 years.“ (Kuhnlein 1993: 259)
Ohne hier angemessen auf die tiefen und verzweigten historischen, soziokulturellen und sozialpolitischen Wurzeln der nutrition transition in British Columbia und anderen Teilen Kanadas eingehen zu können, muss man festhalten, dass die widrigen Bedingungen, denen die indi-
24 Für einen umfassenden Überblick über die soziokulturellen und soziopolitischen Ursachen und Folgen dieses kulinarischen Transformationsprozesses im indigenen Kanada, siehe Kanadistin Margery Fees Stories of Traditional Aboriginal Food, Territory, and Health (2009). 25 Der Begriff der nutrition transition wurde maßgeblich durch den amerikanischen Ernährungswissenschaftler Barry M. Popkin geprägt. Siehe hierzu insbesondere Nutritional Patterns and Transitions (1993).
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gene Bevölkerung aufgrund von räumlicher Verdrängung und gesellschaftlicher Marginalisierung ausgesetzt ist, durch aktive politische wie passive gesellschaftliche Prozesse kultureller Assimilierung in die kanadische, nicht-indigene Mehrheitsgesellschaft weiter prekarisiert werden. Während in der Vergangenheit die Weitergabe von indigenem Wissen sowie physischen und spirituellen kulturellem Erbe explizit geblockt wurde26, haben sich subtilere Formen kolonialer Hegemonie bis in die Gegenwart erhalten. Letzteres betrifft vor allem den föderalen Umgang mit Statusrechten – genauer gesagt, mit dem Ermessensrahmen, wer als indigen gilt und entsprechende Rechte zugesprochen bekommt.27 Im Entscheidungsprozess über politische Zugehörigkeit anhand kultureller Identität wird die allgegenwärtige Problematik des asymmetrischen Verhältnisses von kultureller Fremd- und Selbstbestimmung, dem indigene Gruppen im siedlerkolonialen Kontext Kanadas ausgesetzt sind, in aller Klarheit deutlich. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, stellt diese sogenannte Identitätspolitik (engl. identity politics) einen Ausdruck der Kontinuität jener kolonialen Blindheit dar, die sich bis in die Gegenwart erhalten hat.
26 Es gibt unzählige Aspekte, die hier genannt werden müssten: Exzessive Missionierung; das Residential School System und der damit verknüpfte Verlust indigener Sprachen und das Untergraben familialer Generationenbeziehungen; das Verbot der oben erwähnten Potlatch-Feste und vieles mehr, das alles zusammen in Duncan Campbell Scott’s (Leiter des Department of Indian Affairs von 1913-1932) berüchtigter Agenda „to get rid of the Indian Problem“ kumuliert. Zur Assimilierungspolitik unter Scott siehe außerdem The Potlatch Papers. A Colonial Case History des kanadischen Kulturwissenschaftlers Christopher Bracken (1997: 202-208). 27 Eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang spielt der bereits erwähnte Indian Act. Darin werden nicht nur die grundlegenden Kriterien zur Bestimmung von status oder eben non-status Indians, sondern ebenfalls die mit diesem Status verknüpften Rechte festgelegt. Siehe hierzu Vowel (2016, insbesondere das Kapitel Got Status?, 25-35).
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AUTHENTIC I NDIANS = E COLOGICAL I NDIANS In Authentic Indians. Episodes of Encounter from the LateNinetheenth-Century Northwest Coast (2005) benennt die kanadische Anthropologin Paige Raibmon den Kern der identitätspolitischen Problematik: „White society continues to station authenticity as the gatekeeper of Aboriginal people’s right to things like commercial fisheries, land, and casinos.“ (Raibmon 2005: 206, Hervorhebungen durch den Autor)
Raibmon zeigt, dass nicht nur die Meinung der nicht-indigenen Öffentlichkeit in Bezug auf indigene Lebenswelten im Gebiet der Pazifikküste (und letztlich weiten Teilen) Kanadas durch ein spezifisches Verständnis von „authentic Indianness“ (ebd.: 206) geprägt sind. Selbst juristische und behördliche Entscheidungsprozesse hinsichtlich indigener Landrechte und politischer Souveränität sind stark durch entsprechende Vorstellungen kultureller Authentizität beeinflusst. Hierfür maßgebend ist die Binarität einer ganzen Reihe von Unterscheidungsmerkmalen („cultural markers“, ebd.: 8; Abb. 2), auf denen das (nichtindigene) Verständnis von authentic Indianness fußt: „Indians [...] were traditional, uncivilized, cultural, impoverished, feminine, static, part of nature and of the past. Whites, on the other hand, were modern, civilized, political, prosperous, masculine, dynamic, part of society and of the future. [...] Non-Aboriginal people of all sorts set these traits in binary mortar, treating them as mutually exclusive and non-interchangeable.“ (Raibmon 2005: 7, Hervorhebungen durch den Autor)
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Abbildung 2: Binaries of Authenticity:Visualisierung der binären Unterscheidungsmerkmale nach Paige Raibmon
Quelle: In Anlehnung an Raibmon (2005: 7)
Letztlich sind es nicht die pejorativen Konnotationen der Merkmale authentischer Indigenität, die hier im Vordergrund stehen. Es ist stattdessen die Statik, der in dieser Binarität zum Ausdruck kommenden Entweder-Oder-Denkweise, mit der diese antithetischen, sich wechselseitig ausschließenden, nicht-permutablen Merkmale in Verhältnis zueinander gesetzt werden, und in der sich der Kern dieser identitätspolitischen Problematik manifestiert. Raibmon spricht hierbei von einer ein-Tropfen-Regel:
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„Binary understanding of cultural markers could work in a manner akin to the ‚one drop‘ racial rule, whereby Anglo-Americans deemed black any individual with even ‚one drop‘ of African blood.“ (Raibmon 2005: 8)
Trifft demnach auch nur ein einziges Merkmal, das nicht mit Indigenität assoziiert ist, zu, wäre damit indigene Authentizität und alles, was daraus folgen würde, ausgeschlossen. Interessanterweise gibt es einen kulinarisch konnotierten Begriff, der sich als Redewendung bezüglich entsprechender Prüfverfahren in Kanada etabliert hat: der sogenannte „Pizza Test“ (ebd.: 9, außerdem Tennant 1990: 15). Ganz im Sinn der ein-Tropfen-Regel fasst die kanadische Anthropologin Dara Culhane das Konzept des Pizza Tests zusammen: „It refers to the cross examination themes used by Crown counsel in Aboriginal rights cases where they question Aboriginal witnesses about their involvement in wage labour, use of ‚western technology,‘ and consumption of ‚white food‘ like Kentucky Fried Chicken, Pizza and MacDonald’s burgers. The implication [...] is that this is evidence of assimilation.“ (1994: 193, FN 2)
Raibmon und Culhane zeigen also in aller Konkretheit auf, wie sich Formen kolonialer Blindheit in Gestalt eindimensionaler Vorstellungen von Indigenität im Sinne des Projizierens einer – im negativen wie im positiven Sinn – idealisierten homogenen und unterkomplexen Vergangenheit auf die Gegenwart als Grundlage alltäglicher rassistischer Ressentiments gegenüber der indigenen Bevölkerung in Kanada und anderen Teilen Nordamerikas etabliert und erhalten haben.28 Das wohl prominenteste Beispiel in dieser Hinsicht ist der bereits erwähnte Stereotyp des ecological Indian. Zusammengefasst ist damit die weitverbreitete Vorstellung gemeint, dass die indigene Bevölkerung Nordame-
28 In Ghosts and Shadows. The Reduction of North American Natives (1994) erläutert der kanadische Soziologe Jean-Jacques Simard ausführlich, wie sich diese Vorstellungen – Simard spricht von Reduktion – dennoch in (sozial)politischen Fakten niederschlagen.
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rikas bis zum Kontakt mit der Alten Welt im völligen Einklang mit ihrer Umwelt gelebt und entsprechend keinen ökologischen Fußabdruck hinterlassen hätte. Erst durch den Kontakt mit der Alten Welt hätte das Ökosystem Nordamerikas angefangen, sich zu verändern – und mit ihm die Lebensweise der indigenen Bevölkerung. Der Historiker Alfred W. Crosby, der wegen seines 1972 erschienenen The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492 eine zentrale Figur für die Wahrnehmung der soziokulturellen und ökologischen Konsequenzen des Kontakts von Alter und Neuen Welt ist, spricht diesbezüglich von der weitverbreiteten Annahme eines „American Big Bang“ (Crosby 2002: 715). Wörtlich genommen würde dies bedeuten, dass sowohl das Ökosystem als auch die indigenen Lebenswelten vor diesem amerikanischen Urknall kontinuierlich, homogen und statisch gewesen seien. Eine Annahme die Crosby aufgrund ihrer Ahistorizität und dem augenscheinlichen Eurozentrismus grundsätzlich ablehnt. Im Einklang mit Crosbys Kritik am amerikanischen Urknall demontiert der amerikanische Anthropologe Shepard Krech III in seinem provokanten und kontrovers diskutierten The Ecological Indian. Myth and History (1999) den Prototyp heutiger Ökologen und Naturschützer im stereotypen Bild jenes geschichtslosen ecological Indian.29 Ausgehend von einer kurzen Biografie dieses Stereotyps – von seinen Wurzeln in der Zivilisationskritik seit Beginn der Neuzeit bis hin zu zeitgenössischen Öko-Bewegungen – belegt Krech anhand einer Reihe von umfassenden Fallbeispielen, dass die eindimensionale Vorstellung des
29 Die lautstarke Kontroverse im Anschluss an die Veröffentlichung von Krech (1999) führte zu einem Buchsymposium, das 2002 am American Heritage Center der University of Wyoming stattfand. In dem Sammelband, der daraus hervorging, befindet sich ein Kapitel von Krech, Beyond the Ecological Indian, in dem Krech anhand einer zitatreichen Auseinandersetzung mit den Reaktionen auf sein Buch dessen zentrale Thesen rekapituliert. Siehe hierzu Native Americans and the Environment: Perspectives on the Ecological Indian (2007) herausgegeben von Michael E. Harkin und David R. Lewis.
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von Grund auf naturverbundenen, stets genügsam und nachhaltig handelnden ecological Indian der komplexen Vielschichtigkeit, Diversität und inhärenten Widersprüchlichkeit indigener Lebenswelten nicht gerecht werden kann: „My most general conclusion is that the rhetoric implicit in the image of the Ecological Indian masks differing and complex realities.“ (Krech 2007: 3, Hervorhebungen durch den Autor)
Anhand archäologischer Funde erläutert Krech beispielsweise das Ausmaß, in dem indigene Gruppen mehr Tiere erlegten, als sie zum Leben brauchten oder überhaupt nur verarbeiten konnten, wenn etwa ganze Bisonherden am Head-Smashed-In Buffalo Jump ins Verderben getrieben, jedoch nur ein Bruchteil der erlegten Beute verarbeitet und der Rest verrotten gelassen wurde (Krech 1999: 123-149). Ein anderes Beispiel ist die indigene Beteiligung am Pelzhandel und die Rolle, die indigene Pelzjäger bei der fast vollständigen Ausrottung ganzer Tierarten wie beispielsweise des Biebers gespielt haben (ebd.: 173-209). Allerdings geht es Krech nicht darum, zu beweisen, dass die indigenen Bewohner Nordamerikas doch keine ökologischen Heiligen, sondern letztlich genauso schlimm wie alle anderen waren. Er zeigt stattdessen auf, inwiefern der Stereotyp des ecologiocal Indian ein Produkt eurozentristischer Selbstkritik und des Versuchs ist, mit der Erfahrung fremder Lebenswelten umzugehen: „From the moment they encountered the native people of North America and represented them in texts, prints, paintings, sculptures, performances – in all conceivable media – Europeans classified them in order to make them sensible. They made unfamiliar American Indians familiar by using customary taxonomic categories, but in the process often reduced them simplistically to one of two stereotypes or images [...].“ (Krech 1999: 16, Hervorhebungen durch den Autor)
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Für die indigenen Gesellschaften stellt diese, wenn auch romantisierende Idealisierung indigener Lebenswelten, ein zweischneidiges Schwert dar: Indem tatsächliche und spekulative Elemente prähistorischer indigener Lebenswelten mittels nicht-indigener customary taxonomic categories zu einem indigenen Ethos synthetisiert und zugleich zum universalen moralischen Standard erhoben werden, entfaltet dies zunächst ein gewisses kulturelles Kapital. Tatsächlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass dieser Stereotyp von indigener Seite her gern bemüht wird – vor allem, wenn es um den Kontrast moderner und traditioneller Lebensweisen geht.30 Vor dem Hintergrund der ein-Tropfen-Regel fällt dieser Standard aber unweigerlich auf seine angeblichen, indigenen Urheber zurück. Etwa, wenn indigene Pelzjäger als von westlichen Werten korrumpiert und gleichwohl assimiliert verurteilt werden. Gleiches gilt für Reaktionen auf indigene Gruppen, die ihre Souveränität nutzen, um auf ihren Territorien Kasinos zu errichten oder entgeltlich atomaren und anderen Abfall zu deponieren. Ein rezentes Beispiel stellen die heftigen öffentlichen (auch internationalen) Reaktion auf die (einmalige) Wiederbelebung des Walfangs der Kwih-dich-chuh-ahtx (auch bekannt als Makah) kurz vor der Jahrtausendwende dar.31 Ihre Motive, nämlich durch die Wiederbelebung ei-
30 Dies trifft im Tourismusbereich und im Speziellen auf Ökotourismus zu. 31 Die Kwih-dich-chuh-ahtx sind ethnolinguistisch mit den Nuu-chah-nulth an der Westküste Vancouver Islands verwandt. Ihr Territorium erstreckt sich über den Nordwesten der Olympischen Halbinseln im amerikanischen Bundesstaat Washington. Ausgehend von diesem exponierten Standpunkt, an dessen nördlichster Spitze sich der Pazifische Ozean und die Ströme der Juan-de-Fuca-Straße (der Meerenge, die Vancouver Island von den USA trennt) treffen, stechen die Kwih-dich-chuh-ahtx seit Jahrhunderten in See, um Fische, vorbeiziehende Wale und andere Meeressäuger zu jagen. Nach der letzten Jagd 1926 stoppten die Kwih-dich-chuh-ahtx den Walfang aus verschiedenen Gründen. Die Kontroverse, die sich um die Wiederaufnahme dieser Tradition in den späten 1990er Jahren entwickelte, wird von Deur in The Hunt for Identity: On the Contested Targets of Makah Whaling (2000)
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nes seit jeher zentralen Bestandteils des kulturellen Selbstverständnisses der Kwih-dich-chuh-ahtx die soziokulturelle Kohäsion innerhalb der Gemeinschaft zu stärken, wurden vehement in Zweifel gezogen. Zur Begründung dieser Zweifel und teils offenen Anfeindungen beriefen sich die Kritiker nicht nur auf die Verwendung moderner Technik im Zuge dieser Unternehmung, sondern auch auf die moderne Lebensweise zeitgenössischer Kwih-dich-chuh-ahtx. Überhaupt wurde die Idee, Wale zu jagen, als Beweis ihrer Assimilation gesehen, womit zugleich ihre indigene Sonderstellung und das Recht, Robben und Wale zu jagen, in Frage gestellt wurden: Authentische (ecological) Indians – so die Annahme – würden gar nicht erst auf die Idee kommen, sondern die Natur, also auch Wale, schützen. Wie im Falle von Raibmons authentic Indianness untergräbt der Stereotyp des ecological Indian die Möglichkeit kultureller Selbstbestimmung und damit die Freiheit, widersprüchlich und paradox zu sein. Man könnte gar von der Aneignung oder auch der intellektuellen Domestizierung (Feest 1994: 313) indigener Identität sprechen. Entsprechend schreibt Daniel Deffenbaugh in einem Essay zu Krech (1999): „The notion of the ecological Indian […] is little more than one more form of Euro-American imperialism, putting natives in a place where they can be silenced and manipulated under the pretense of being celebrated and revered.“ (Deffenbaugh 2000: 483, Hervorhebungen durch den Autor)
Wie nachhaltig das Kuckucksei des ecological Indian die Wahrnehmung indigener Lebenswelten beeinflusst, wird an Kimberly Tallbears32 Besprechung von Krech (1999) deutlich. Sie diskutiert dort Krechs Thesen primär anhand einer ausgiebigen Kritik an deren Re-
eingehend wiedergegeben und diskutiert. Siehe hierzu außerdem Raibmon (2005: 1-14, 198-208). 32 Tallbear (Sisseton-Wahpeton Oyate und Cheyenne & Arapaho Tribes) ist Professorin für Native Studies an der University Alberta.
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zeption und stellt dabei in Bezug auf eine Reihe von indigenen Rezensionen fest: „[...] [the] response to this book indicates the extent to which we Indians have assumed Judeo-Christian ideals of morality: There is good and there is evil. People are truthtellers or they are liars. Morality is absolute; it is never ambiguous, not flexible, and it does not change over time.“ (Tallbear 2000: 3)33
Es sind diese Binaritäten und die Statik ihres Verhältnisses; kurzum, die absolute, eindeutige, nicht flexible und kontinuierliche Moral, wie sie dem Bild der indigenen Bevölkerung in Kanada und anderen Teilen Nordamerikas eingeschrieben wird, gegen die sich Bestrebungen kultureller Selbstbestimmung richten. Dabei geht es darum, den Kreislauf von: der Marginalisierung der indigenen Bevölkerung, der dadurch beförderten Invisibilität im öffentlichen Raum und der Tradition kolonialer Blindheit, die in Form einer statischen Entweder-Oder-Denkweise wiederum Triebfeder jener Marginalisierung ist, zu durchbrechen. Sichtbarkeit und Zugänglichkeit spielen hierbei entscheidende Rollen. Ähnlich Krechs Anschlag auf die Blackbox indigener Identität im Bild des ecological Indian, konfrontiert die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit indigener Alltagskultur jene koloniale Blindheit – beziehungsweise die Erwartungshaltungen, in denen sich das diesbezügliche EntwederOder-Denken reflektiert – am Ende mit sich selbst. Ein anschauliches Beispiel dieser Art des Widerstandes geben indigene Gastronomen und Köche wie Andrew George Jr. (Wet’suwet’en Nation aus Smithers, British Columbia) und andere, indem sie mittels gastronomischer Professionalisierung die Weichen stellen, um (über kurz oder lang) indi-
33 Es ist darüber hinaus vielsagend, dass Tallbear diese Aussage unter anderem explizit gegen Vine Deloria Jr.s Kritik richtet. Schließlich bestand ein wesentlicher Teil von Delorias Wirken als indigener Intellektueller und Aktivist darin, gegen die Indianer-Bilder der weißen Siedlergesellschaft anzukämpfen.
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gene Foodways zum festen Bestandteil des öffentlichen Raums in British Columbia und anderen Teilen Kanadas werden zu lassen.
I NDIGENE G ASTRONOMIE Bereits 1974 eröffnet in Downtown Vancouver das erste indigene Restaurant: das Muckamuck (Chinook Jargon für „Essen“). Das Muckamuck war nicht nur das erste, sondern bis zu seiner Schließung 1981 zugleich das einzige indigene Restaurant in Vancouver beziehungsweise British Columbia – vermutlich sogar in ganz Kanada. Das Gleiche gilt für dessen Nachfolger, das Quillicum Native Restaurant (1986-1993/4) und das Liliget Feast House (1995-2007), die beide im selben Gebäude wie zuvor das Muckamuck, 1724 Davie Street, untergebracht waren. Der Abriss des gesamten Gebäudekomplexes im Jahr 2008 besiegelte vorerst das Ende der Ära indigener Gastronomie in Downtown Vancouver. Pünktlich zu den olympischen Winterspielen 2010 eröffnete dann das Salmon n’ Bannock34, 1128 W Broadway, um das Erbe der drei Vorgänger anzutreten. Insgesamt hat sich in den etwas über 40 Jahren seit der Eröffnung des Muckamuck viel getan: Verteilt über ganz Kanada nimmt die Zahl gastronomischer Betriebe – Catering Firmen, Food Trucks, Cafés und Restaurants –, die Indigenous owned sind und mindestens ein Indigenous inspired menu anbieten, stetig zu. Zudem werden indigene Köche zu internationalen renommierten Cook-Tanks wie Cook it Raw eingeladen35, veröffentlichen preisgekrönte Kochbücher36 und treten in nati-
34 http://www.salmonandbannock.net/ 35 Als Vertreter der indigenen Bevölkerung in Alberta nahm Shane Chartrand (Enoch Cree Nation und Métis aus Red Deer, Alberta) 2015 an Cook it Raw Alberta. The Shaping of a New Culinary Frontier teil. Siehe hiezu Salminen (2015). 36 Bei den 2007 Gourmand World Cookbook Awards bekamen Dolly (Watts) McRea (Gitksan First Nation aus Kitwanga, British Columbia) und ihre
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onalen Kochshows wie Chopped Canada und Top Chef Canada auf.37 Der wichtigste Markstein der Entwicklung indigener Gastronomie in Kanada ist allerdings die Teilnahme des Canadian Native Haute Cuisine Teams bei der Internationalen Kochkunst-Ausstellung (IKA) 1992 in Frankfurt am Main.38 Dabei ist nicht nur die Tatsache bemerkenswert, dass das Team als erste Vertreter indigener Gesellschaften in der über hundertjährigen Geschichte der IKA teilgenommen und darüber hinaus elf Medaillen gewonnen hat – davon zwei Bronze, zwei Silber und sieben Gold. Vielmehr muss man betonen, dass das Ziel der Unternehmung kein einfaches Going for Gold! war. Die Agenda des Teams und der Organisatoren, Medina Foods Inc. und Oudeheemin Foods, war nicht weniger, als mit dem Schritt auf die internationale Bühne der IKA und der damit verbundenen Aufmerksamkeit gegen die Marginalisierung indigener Lebenswelten in Kanada – und anderen Teilen der Welt – anzukämpfen. Ein zentraler Bestandteil und wichtiger Schritt auf dem Weg der Demarginalisierung war, durch die Teilnahme den Nährboden für eine Entwicklung zu gestalten, an deren Ende Ausbildungschancen für kommende Generationen und somit öko-
Tochter Annie Watts die Auszeichnung „Best Local Cuisine Book“ für ihr Kochbuch Where People Feast. An Indigenous Peoples Cookbook (2007) verliehen. Das Kochbuch geht aus ihrer Zeit als Inhaberinnen und Betreiberinnen des Liliget Feast House hervor. 37 Nachdem Rich Francis (Tetlit Gwich’in und Tuscarora Nations) es 2014 bis in das Finale der Fernsehsendung Top Chef Canada schaffte, trat auch Chartrand 2015 bei der zweiten Staffel von Chopped Canada an. Beide Formate wurden vom Spartensender Foodnetwork Canada produziert. 38 Unter den unzähligen regionalen, nationalen und internationalen Wettbewerben für professionelle Köche rund um den Globus nimmt die IKA einen besonderen Platz ein. Als einziger der vier größten und prestigeträchtigsten Wettbewerbe (die anderen drei sind der Bocuse d’Or in Frankreich, Food and Hotel Asia Culinary Challenge in Singapur und der Culinary World Cup in Luxemburg) kann die IKA auf eine über hundertjährige Geschichte seit ihrer Gründung 1900 in Frankfurt am Main zurückblicken.
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nomisches Wachstum beziehungsweise ökonomische Selbstermächtigung innerhalb indigener Gruppen stehen sollte.39 Oder, wie es in einer offiziellen Pressemitteilung der Organisatoren heißt: „To help bring Native cuisine and culture to the world and help establish a profitable and professional industry for Canada’s Native People.“40
Zurück in der Heimat war diese Mission längst nicht beendet. Im Gegenteil, aus den Trainingseinheiten des Teams ging ein überarbeitetes Curriculum für ein sechswöchiges Schulungsprogramm hervor, das im Zeitraum von 1995-1997 zweimal im Jahr im Hotel and Hospitality College in Montreal stattfand.41 Es war damals Andrew George Jr., der als Teammitglied die Leitung des Schulungsprogramms übernahm und der auch heute noch, fünfundzwanzig Jahre später, der Mission des Teams treu bleibt. So arbeitet Andrew heute für die Industry Training Authority (ITA) in Chilliwack, British Columbia, wo er als Ausbildungsbetreuer (engl. apprenticeship advisor) indigenen Jugendlichen dabei hilft, einen Ausbildungsplatz zu finden und ihre Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Bei einem gemeinsamen Essen im Februar 2015 brachte er sowohl seine persönliche Mission als auch die Hintergründe und die bis heute erzielten Erfolge seit der Teilnahme des Teams auf den Punkt: „Overall it is the promotion of the concept of professional cooking, and introducing that to the Aboriginal culture so that Aboriginal communities can benefit from that. […] What we actually did was we fought for our right for education. It was more than a competition. It was a statement. […] ’Cause right up to
39 Für mehr Informationen zur Teilnahme des Canadian Native Haute Cuisine Teams bei der IKA 1992 und dessen Bedeutung für die Kulturgeschichte indigener Gastronomie und Foodways, siehe Schellhaas (2018). 40 Pressemitteilung, Medina Foods Inc. und Oudeheemin Foods. Privatarchiv, Andrew George Jr. 41 Information aus persönlichem Gespräch mit Andrew George Jr.
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about 1960 Aboriginal people weren’t even allowed in a lot of restaurants. So, even me going to school in 1983-1984 at the Vancouver Vocational Institute, I was one of maybe half a dozen Aboriginal cooks in that whole school. But now when I go to that school there are Aboriginal cooks everywhere. So I think over all that process is working.“ (Hervorhebungen durch den Autor)
Entscheidend ist, dass dieser Prozess gastronomischer Professionalisierung indigener Foodways ein ganzes Netzwerk von Lieferanten, Produzenten, Köchen und Konsumenten umfasst, in dem jene Catering Firmen, Food Trucks, Cafés und Restaurant lediglich Knotenpunkte markieren. In Hinblick auf ökonomische Selbstermächtigung ist deshalb ausschlaggebend, dass indigene gastronomische Betriebe mit indigenen Menüs zwangsläufig die Nachfrage nach indigenen Produkten erhöhen, was wiederum indigene Produzenten erfordert, die diese Nachfrage bedienen. Der Bedarf an indigenen Produkten geht indes Hand in Hand mit dem Bedarf an profunden Kenntnissen indigener Foodways – das heißt Wissen über entsprechende Ressourcen und deren Management sowie Zubereitungs- und Präservierungstechniken – und fördert somit den Erhalt wie auch die Wiederbelebung indigenen kulinarischen Kulturerbes vonseiten der Produzenten wie auch vonseiten der Köche und Gastronomen. Indem indigene Gastronomen und Köche darüber hinaus mit Wissen, Produkten und Techniken konfrontiert werden, die nicht zum bisherigen gastronomischen Standard zählen, entsteht eine kreative Reibung, die als Grundlage oder Anregung für neue Kreationen oder gastronomische Konzepte dienen kann. Dadurch, dass die beteiligten Akteure auf diese Weise althergebrachte kulinarische Aspekte indigener Lebenswelten aufs Neue kennenlernen und aus der Disposition ihrer gegenwärtigen professionellen, soziokulturellen und natürlichen Umwelt reflektieren und ausleben, ermöglicht die gastronomische Professionalisierung indigener Foodways in British Columbia und anderen Teilen Kanadas das unmittelbare Ineinander-
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greifen ökonomischer Selbstermächtigung, kultureller Revitalisierung und letztlich kultureller Selbstbestimmung.42 In Hinsicht auf die Demarginalisierung indigener Lebenswelten ist hierbei entscheidend, dass ein wachsendes Netzwerk indigener Gastronomie über kurz oder lang eine kritische Masse erreicht, die jenen autopoietischen Kreislauf von Marginalisierung, Invisibilität und Denktradition unterläuft. Offizielle Zahlen oder andere Informationen darüber, wie viele indigene gastronomische Betriebe und Produzenten es tatsächlich gibt, existieren allerdings ebenso wenig – oder sind mir bislang nicht bekannt –, wie es in Kanada weder einen offiziellen noch einen inoffiziellen Verband indigener Köche und Gastronomen gibt.43 Ausgehend von meinen Recherchen und Gesprächen mit kanadischen Kollegen, indigenen Köchen und Gastronomen lässt sich vermuten, dass es über ganz Kanada verteilt derzeit etwas über zwei Dutzend (öffentliche) indigene gastronomische Betriebe gibt.44 Das Spektrum
42 Es liegt zudem auf der Hand, dass dieses Ineinandergreifen Möglichkeiten bietet, jene epidemiologischen Effekte der nutrition transition an ihren Wurzeln, und nicht nur symptombezogen, zu bekämpfen. 43 In den USA ist dies anders: Dort gibt es nicht nur die von Nephi Craig (Koch, White Mountain Apache und Navajo) geründete Native American Culinary Association (NACA), sondern auch ein eigenes – unregelmäßig erscheinendes – Magazin, Native Foodways (www.nativefoodways.org/). 44 Bei dieser Zahl sind weder Indigenous owned Lodges mit indigenen Köchen aber klassischen Menüs noch semiprofessionelle Cateringfirmen, die ihre Dienste ausschließlich für feierliche Anlässe und Veranstaltungen innerhalb indigener Gemeinschaften zur Verfügung stellen, berücksichtigt. Das Gleiche gilt für indigene Produzenten, Firmen oder Kooperativen, die verschiedenste indigene Produkte anbieten. Die Angebotspalette umfasst Rohprodukte wie indigene Beerensorten, Pilze, Farnsprossen, Knollengewächse und Algen sowie Lachs, Fischrogen und Wild, aber auch verarbeitete Lebensmittel wie beispielsweise Kaffee, Wein, Tee, Energieriegel, getrocknetes Fleisch, Marmelade, Gelee, knusprige Tomahawk Chips und sogar verzehrfertige Bannock in a Box.
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reicht dabei von Street Food bis zum High End Fine Dining Restaurant, wobei es keinen Unterschied macht, ob die Spezialität des Hauses ein bannock-dog mit Chili-con-Carne-Sour-Cream-Cheddar-SalsaKoriander-Topping und eine Coca-Cola im Stehen oder ein aufwendig angerichtetes Elch-Ossobuco mit wildem Spargel und einem Glas weißen Hee-Hee-Tel-Kin Cuvée der Indigenous World Winery in entspannter Restaurantatmosphäre ist – mindestens ein gemeinsamer Nenner bleibt: bannock ist obligatorischer und wichtiger Bestandteil der Karte, wenn nicht gar beinahe jedes einzelnen Gerichts. Das ist nicht weiter verwunderlich, bedenkt man, was für eine zentrale Rolle diese meist knusprig frittierte Köstlichkeit im indigene Nordamerika einnimmt. Nichtsdestotrotz bleibt bannock in seiner Rolle als gemeinsamer Nenner im Wesentlichen janusköpfig, verkörpert es doch wie kaum etwas anderes die five gifts of the white man sowie die damit verknüpfte koloniale Realität in Kanada und anderen Teilen des indigenen Nordamerika. Anders gesagt: Würde man nach einem Konvergenzpunkt der schicksalhaften Verzahnung von Enteignung, Vertreibung, kulinarischer Transformationsprozesse, nutrition transition, Assimilierungspolitik und schließlich (sozio-)kultureller Regression fragen, käme man der Antwort bereits mit einem einzigen Wort recht nah: bannock. Innerhalb der indigenen Bevölkerung wird dieses kritische Verhältnis von bannock und indigenen Lebenswelten in verschiedenen Zusammenhängen, vom Stand-Up-Comedian bis zum radikalen Dekolonialisierungsaktivisten, thematisiert, diskutiert und neu verhandelt. Entscheidend ist jedoch, dass sich von indigener Seite her und unabhängig davon, ob bannock vom indigenen Speiseplan verbannt oder wie im Falle des Kekuli Cafe in den Mittelpunkt gerückt wird, im Grunde alle einig sind: bannock ist – im Guten wie im Schlechten – fester Bestandteil der Geschichte und des Selbstverständnisses eines Großteils der indigenen Bevölkerung im heutigen Kanada.
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G ASTRONOMICAL I NDIANS „When Aboriginal people today assert […] identities that are at once ‚Aboriginal‘ and ‚modern,‘ many non-Aboriginal people still reply with invocations of static categories of authentic Indianness.“ (Raibmon 2005: 206)
Außerhalb indigener Gruppen wissen die Wenigsten von der schicksalhaften Geschichte, die diese Bevölkerungsgruppe und bannock vereint.45 Kulturelle Außenseiter reagieren deshalb bei der ersten Begegnung mit Bannock im Kontext indigener Gastronomie und Lebenswelten in erster Linie verwundert, kommt der (frittierte) Weizenmehlfladen doch nicht so Indigenous daher, wie das, was man gemeinhin als Indigenous foods erwartet oder meint, erwarten zu können. Noch eklatanter ist die Verwunderung bei Indian tacos (Abb. 3), die wie pemmican46 oder three sisters soup47 zweifelsohne zu den iko-
45 Die Oji-Cree Künstlerin KC Adams thematisiert die Verknüpfung von bannock und dessen konstitutiven Elementen (five gifts) mit den soziokulturellen und epidemischen Konsequenzen der Enteignung und Vertreibung von indigenen Territorien im siedlerkolonialen Kontext Kanadas in einer ihrer Arbeiten: Im Rahmen ihres Installationsprojekts The Gift that Keeps on Giving befüllte Adams ungebrannte Lehmtöpfe mit jeweils einem der five gifts. Im Zentrum der Installation stand der Effekt, den die verschiedenen Substanzen (Mehl, Milch, Schmalz, Salz und Zucker) auf die ungebrannten Lehmtöpfe als „metaphor for our bodies“ (Adams zitiert nach Tennant 2016: 63) hatten. Die Zeichen des unaufhaltbaren Verfalls der Töpfe reflektieren dabei die Erosion indigener Lebenswelten im Zuge der Kolonialisierung Nordamerikas und heben die Rolle hervor, die Ernährungssicherheit und -souveränität in diesem Zusammenhang spielen. 46 Der Begriff pemmican leitet sich von dem Cree-Wort pimîhkân und dessen Wortstamm pimî für „Fett“ ab. Pemmican bezeichnet eine Mischung aus getrocknetem Fleisch, Fett und oftmals getrockneten Beeren oder Dörrobst, die im indigenen Nordamerika weitverbreitet war. Aufgrund seiner Nahrhaftigkeit bei gleichzeitiger langer Haltbarkeit und einem verhältnismäßig
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nischen Gerichten des indigenen Nordamerika gehören. Indian tacos bestehen im Wesentlichen aus frittiertem bannock garniert mit Chili con Carne, geschreddertem Eisbergsalat, geriebenem Cheddar Käse, saurer Sahne und Salsa Sauce. Wann immer ich im Zuge von Vorträgen oder Gesprächen – mit Europäern oder nicht-indigenen Kanadiern – Indian tacos ins Spiel gebracht habe, waren die Reaktionen erstaunlich einseitig: Wie kann diese Mischung aus verschiedensten Einflüssen ein indigenes Produkt beziehungsweise gar ein Marker indigener Identität sein? Als Begründungen für diese Skepzis reichte den meisten ein Verweis auf die Herkunft und eine – mehr oder weniger korrekte – historische Verortung dieser Einflüsse, um anschließend vor dem Hintergrund der ein-Tropfen-Regel das Ergebnis ihrer Bestimmung mit ihren Vorstellungen von historischen Ernährungsweisen der indigenen Bevölkerung zu kontrastieren. Was sich in dieser Reaktion manifestiert, ist ein neuer Stereotyp kolonialer Blindheit: der gastronomical Indian. Im Gegensatz zu einer fremdbestimmten romantisierenden Idealisierung manifestiert sich da-
geringem Gewicht, war es als Proviant auf langen Reise nicht nur bei der indigenen Bevölkerung beliebt. Die kanadische Ernährungshistorikerin Dorothy Duncan beschreibt etwa die Rolle, die pemmican als Handelsobjekt zwischen indigenen und nicht-indigenen Akteuren im Pelzhandel und schließlich bei der kolonialen Erschließung des kanadischen Westens über den Landweg gespielt hat (Duncan 2011: 49-50). In Form einer ganzen Produktreihe – vom Energieriegel bis hin zur Tanka Trail-Mischung aus Dörrfleisch, Moosbeeren (Cranberries), Nüssen und Samen – der indigenen Marke Tanka Bar (Oglala Lakota, Pine Ridge Reservation in South Dakota, www.tankabar.com) erlangt pemmican heute neue Popularität. 47 Als die Drei Schwestern (engl. three sisters) wird die, in verschiedenen Regionen Nord- und Mesoamerikas verbreitete, agrarwirtschaftliche Anbaumethode bezeichnet, bei der Kürbis-, Mais- und Bohnengewächse in Mischkultur angepflanzt werden. Dementsprechend bezeichnet three sisters soup eine Suppe oder einen Eintopf, der aus dieser Mischung zubereitet wird.
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rin ein globaler Skeptizismus gegenüber der Echtheit, Originalität oder Authentizität indigener beziehungsweise kulturspezifischer Gastronomie. Nicht zuletzt erscheint indigene Gastronomie beziehungsweise der gastronomical Indian selbst geradezu als Oxymoron. In dem Sinne, dass hier zwei Sphären – Kommodifizierung (Gastronomie) und soziale Gemeinschaft (Indigenität) – vermischt werden, die gemeinhin als antithetisch und sich wechselseitig ausschließend verstanden werden. Der wesentliche Unterschied zum ecological Indian besteht demnach darin, dass der gastronomical Indian von vornherein auf der anderen Seite der Authentizitätsgleichung verortet wird. In Exotic Appetites. Ruminations of a Food Adventurer (2003) macht die amerikanische Philosophin Lisa Heldke die hier waltenden identitätspolitischen Kräfte dingfest: „When outsiders insist that a cuisine must abide by certain (outsider-chosen) rules in order to be authentic, authenticity works in the service of colonialism.“ (Heldke 2003: 194, Hervorhebungen durch den Autor)
Sichtbarkeit beziehungsweise Präsenz alleine reicht folglich nicht aus, um jenen autopoietischen Kreislauf kolonialer Fremdbestimmung zu durchbrechen. Es ist vielmehr die Frage, wie dieses Etwas sichtbar gemacht wird. Ich habe eingangs die These ausgestellt, dass indigene Gastronomie einen selbstbewussten Umgang mit der eigenen Identität zum Ausdruck bringt, der kolonialen, essentialisierenden und rassistischen Ressentiments im Umgang mit der indigenen Bevölkerung in Kanada Widerstand leistet. Ich behaupte nun, dass der Schlüssel dazu in der Art und Weise liegt, wie indigene Köche und Gastronomen dem Stereotyp des gastronomical Indian begegnen. Ähnlich wie Krech mit seiner Kritik am ecological Indian seine Leser mit einer unglaublichen Fülle an akribisch recherchierten Fakten zwingt, in Widersprüchen zu denken, schaffen indigene Köche und Gastronomen mit indigener Gastronomie die Möglichkeit, eine breite Öffentlichkeit mit der oft paradoxen Komplexität indigener Lebenswelten zu konfrontieren. Mit Gerichten wie Indian tacos, bannock bison burger, eggs-bannodict
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oder der an Dunkin Donuts erinnernden Auslage voller bunt glasierter bannock bricht beispielsweise das Kekuli Cafe ganz offen mit ahistorischen und idealisierenden Erwartungen hinsichtlich dessen, was ein „First Nations style“ Restaurant ist – oder eben nicht ist. Der entscheidende Punkt ist, dass diese Form des Widerstandes – oder auch der Dekolonialisierung – nicht darin besteht, Zugang von außen zu blockieren48 oder durch sukzessive Bereinigung indigener Foodways eine Vorstellung der Vergangenheit als normative Blaupause auf die Gegenwart zu projizieren, sondern darin, kulturimmanente Diversität, Widersprüchlichkeit und Irreduzibilität offen zur Schau zu tragen. Abbildung 3: Indian tacos. Links: Werbeplakat, Kekuli Cafe, Merrit, British Columbia, Februar 2015. Rechts: Indian Taco, Thunderbird Café, Whistler, British Columbia, Dezember 2013.
Quelle: Sebastian Schellhaas
Wie bereits angesprochen, gibt es durchaus indigene Kritik daran, wie sich die indigenen Foodways seit dem Kontakt mit der Alten Welt ver48 Ich möchte mit dieser Aussage in keinem Fall die Rechtmäßigkeit der Exklusion einer nicht-indigenen Öffentlichkeit von bestimmten Bereichen indigener Kultur in Frage stellen.
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ändert haben.49 Doch man muss klar sagen: Unter dem Banner der Dekolonialisierung indigener Ernährung („Decolonizing diet!“) und Lebensweise die Gegenwart mit einer primär anhand nicht-indigener Begriffe gefassten Vorstellung der Vergangenheit zu kontrastieren, macht nichts anderes, als die Komplexität sowohl historischer als auch zeitgenössischer Lebenswelten zu simplifizieren und damit die Identitätspolitik kolonialer Hegemonie zu tradieren. Trotz vermeintlich guter Absichten, sind diese Kritiker – und wären auch indigene Köche, die etwa nur streng nach Franz Boas’ Sammlung von historischen Kwakwak’awakw Rezepten50 kochten –, wie es Raibmon treffend ausdrückt: „collaborators in a binary framework that defined Indian authenticity in relation to its antithesis.“ (Raibmon 2005: 7) Indigene Köche und Gastronomen, die sich dem Vorwurf des gastronomical Indian aussetzen, sind hingegen keine Kollaborateure; sie spielen nicht Indianer im Sinne der authentic Indianness – und das aus gutem Grund. Für den Großteil jener Köche und Gastronomen ist das, was kulinarische Dekolonialisten als authentic Indianness im Sinn haben – etwa die ausschließliche Verwendung von Produkten und Techniken aus der Zeit vor dem amerikanischen Urknall –, ebenso fremd wie für die Mehrheit ihrer indigenen Kundschaft. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ein Großteil der indigenen Bevölkerung im heutigen Kanada diesen Anforderungen im alltäglichen Leben selbst nur schwer gerecht werden könnte – oder auch nur gerecht werden möchte. Letzten Endes würde diese Form subtraktiver Dekolonialisierung im Umkehrschluss bedeuten, dass sie – indigene Köche, Gastronomen und Konsumenten – sich damit selbst als (scheinbar) entfremdet von ihrer eigentlichen Identität/Indigenität erfahren müssten. Natürlich ist des-
49 Ein interessantes Beispiel wäre die erwähnte Oji-Cree Künstlerin KC Adams. Ein Großteil ihrer Arbeiten bezieht sich auf das Verhältnis von Ernährung und Kolonialismus. Konsequenterweise versucht Adams einer möglichst ursprünglichen Ernährungsweise treu zu bleiben und meidet deshalb alle in Nordamerika nicht-indigenen Nahrungsmittel. 50 Siehe Boas (1921: 305-601).
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halb nicht ausgeschlossen, dass auch Gerichte wie geräucherter Seelöwe, windgetrockneter Lachs, fermentierter Fischrogen (sogenannter Indian cheese) und andere selten gewordene indigene Nahrungsmittel und Gerichte auf der (dann häufig informellen) Speisekarte auftauchen. Nichtsdestotrotz reflektieren die Menüs von Betrieben wie beispielsweise dem Kekuli Cafe die Erfahrungen indigener Konsumenten aus der eigenen Lebenswelt. Die Frage, ob etwas authentisches Indigenous food ist oder nicht, kommt dabei gar nicht erst auf den Tisch. Die Frage, ob der jeweilige Indian taco, bannock-dog oder die neuste Zuckerglasur gut schmeckt oder nicht, hingegen sehr wohl.
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Kulinarethnologische Forschungsfelder
„Und ein Fisch hat ein Recht darauf“ Zur sozialen Konstruktion von Fisch und deren unternehmerische Konsequenz in der Aquakultur T OBIAS L ASNER 1
E INLEITUNG Die Fischereiforschung ist bislang durch eine vor allem naturwissenschaftliche Hegemonie geprägt. In ihren Institutionen sind Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler seltene, wenngleich, so zeigt mir meine eigene Erfahrung, höchst willkommene Gäste. Warum gibt es dieses Ungleichgewicht? Besteht doch die Fischwirtschaft nicht nur aus Fischen, sondern auch aus Fischenden. Der Vorrang der Naturwissenschaft in der Fischerei erklärt sich zum einen historisch. So betitelte der Generalsekretär Weigelt die 1893 veröffentlichten Zirkulare des Deutschen Fischerei-Vereins als Zeitschrift für Fischerei und deren Hilfswissenschaften und verstand unter „Hilfswissenschaften“ vornehmlich die Biologie und Hydrologie, wie ein Blick in das Inhaltsverzeichnis verrät. Immerhin findet der Leser am Rande auch volkswirt-
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Dr. Tobias Lasner, Thünen-Institut für Fischereiökologie, Hamburg. [email protected]
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schaftliche und juristische Fragen behandelt. Zum anderen leitet sich die ungleiche Präsenz der Disziplinen im Kern aus drei strukturellen Barrieren ab, mit denen sich Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler in der Fischereiforschung konfrontiert sehen (Symes und Hoefnagel 2010): i) die der Fischereiforschung inhärente Epistemologie des Positivismus und Objektivismus; ii) die oft fehlende Institutionalisierung von Gesellschafts- und Kulturwissenschaften in der Fischereiforschung und die damit einhergehenden schwach ausgeprägten Netzwerke (sowie mangelnde finanzielle Ausstattung); iii) das Paradigma der Fischereipolitik, das alle Kräfte auf eine messbare Kontrolle des Verbrauchs und der Reproduktion von Fischpopulationen2 bindet. Umgekehrt haben aber auch gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Disziplinen bisher nur vereinzelt Interesse am Feld der Fischwirtschaft gezeigt. Am ehesten ist der Ethnologie noch ein hohes Interesse an der Kulturpraktik Fischerei zuzuschreiben. So untersuchte Johannes Harumi Wilhelm die japanische Küstenfischerei in Hinblick auf das lokale Fischereimanagement (2010) und Diana Altner studierte die Fischereikultur in Tibet (2009), um nur zwei deutschsprachige Beispiele
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Tatsächlich beschäftigt sich die Fischereiforschung nicht ausschließlich mit Fischen und deren Habitate, sondern mit der Vielzahl aquatischer Organismen, die neben Fisch allgemeinhin in Krebstiere, Muscheln, Algen und Säugetiere unterteilt werden. Der Einfachheit halber wird im Folgenden stellvertretend von „Fisch“ die Rede sein.
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zu nennen. Die Soziologie und die Volkskunde halten sich hier hingegen eher bedeckt.3 Das ist bedauerlich, hat doch gerade die deutsche Soziologie und Volkskunde eine lange Tradition in der Betrachtung maritimer und aquatisch-ruraler Lebenswelten (Sowa et al. 2014). Ferdinand Tönnies kann mit seiner Studie über den Werftarbeiterstreik 1896/97 in Hamburg dabei als Pionier einer Soziologie angesehen werden, die sich dem Maritimen annähert (Fechner 2010). Andere Klassiker des Faches wie Norbert Elias studierten maritime Professionen (Elias 1950), deren gesellschaftsanalytische Betrachtung sich unter anderem in industriesoziologischen Arbeiten der 1970er Jahre fortschrieb (zum Beispiel Abendroth et al. 1979 zu den Arbeitsverhältnissen in bremischen Häfen). Von 1985-1992 gab es an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel kurzzeitig sogar eine eigens eingerichtete Arbeitsstelle Maritime Soziologie (Prahl und Schack 1992). Diese Eckpunkte einer deutschen maritimen Soziologie waren Höhepunkte und zugleich Ausnahmen. Im Dezember 2015 gab eine Ausschreibung der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel für eine Professur für Sozialwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Soziale Dynamik in Küsten- und Meeresgebieten“ Grund zur Hoffnung auf eine Institutionalisierung des Forschungsfeldes in Deutschland.4 Bezeichnenderweise wurde das Berufungsverfahren von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät durchgeführt und die Professur sollte auf Zeit, also befristet sein. Beide Umstände verdeutlichen geradezu exemplarisch die noch unsichere Disposition der (deutschen) Erforschung von sozialen Lebenswelten, die von einer aquatischen Umwelt geprägt sind. International kann dagegen schon seit der Jahrtausendwende ein Trend zur Etablierung gesellschafts- und kulturwissenschaftlicher Ansätze in der Fischereiforschung beobachtet werden (Reed et al. 2013,
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Mir sind in der Tat nur zwei neuere Arbeiten bekannt: eine arbeitswissenschaftliche Betrachtung des deutschen Hochseefischers (Kube 2013) und eine wirtschaftssoziologische Abhandlung zur Aquakultur (Lasner 2013).
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Annonciert unter anderem im Stellenmarkt der ZEIT am 29. Oktober 2015.
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Urquhart et al. 2013). Aktuell erfreuen sich besonders Fragen der Genderforschung im angelsächsischen Raum großer Aufmerksamkeit (Neis et al. 2013). Als langfristig etabliert kann jedoch allein die Disziplin der Ökonomie angesehen werden, die es mit ihrer vor 25 Jahren gegründeten European Association of Fisheries Economists in Europa schaffte, eine Nische institutionell zu besetzen. Kultur- und Gesellschaftswissenschaftler haben in den USA, das traditionell weniger tiefe Fächergrenzen reproduziert als es in der deutschen Wissenschaft üblich ist, vereinzelt ihre interdisziplinäre Einbettung in die dortigen Fischereiinstitutionen vorangetrieben (Abbott-Jamieson and Clay 2010), müssen sich aber gänzlich betrachtet immer noch als „small fish in a big pond“ (Gilden 2008) fühlen. Für Soziologen wirkt es befremdlich, dass der Mensch als soziales Wesen in einem Feld, das so deutlich von seiner Zivilisierung beeinflusst wird, verhältnismäßig wenig Beachtung als Forschungssubjekt erfährt. Die Erkundung von Akteursperspektiven in der Fischwirtschaft am Schnittpunkt von Ökologie und Gesellschaft scheint geradezu berufen für die Anwendung und Weiterentwicklung von agrar-, wirtschaftsund umwelt-soziologischen Ansätzen. Das Verstehen der Referenzsysteme von Interessensgruppen wiederum liefert wichtige Informationen darüber, wie es politisch gelingen könnte, ein nachhaltiges und sozial akzeptiertes Fischereimanagement zu entwerfen sowie Nutzungskonflikte auszugleichen.5 Auf der Grundlage eines empirischen Beispiels möchte mein Beitrag deshalb die Möglichkeiten einer Soziologie der Fischwirtschaft skizzieren. Dabei stehen die folgenden Zeilen im Zusammenhang mit dem Vortrag Heute essen wir Fisch! Aber welchen? Die gesellschaftlich differenzierte Wahrnehmung eines Lebensmittels, den ich auf dem DGV-Workshop Kulinarische Widersprüche 2014 in Witzenhausen
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Die Fischereiforschung versteht sich als angewandte Forschung, so dass die Ableitung von Handlungsempfehlungen für die Praxis fester Bestandteil des Forschungsprogrammes ist. Ein Umstand der für manche Soziologen aus der Grundlagenforschung gewöhnungsbedürftig sein dürfte.
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gehalten habe.6 Es handelt sich jedoch nicht um eine Zusammenfassung des Vortrages, der an sich wiederum nur einen Überblick zu unterschiedlichen Studien sozialwissenschaftlicher Provenienz in der Fischwirtschaft gab. Eine Zusammenfassung der Zusammenfassung würde nicht mehr viel Inhalt übriglassen und dem Anliegen einer Soziologie, das scheinbar Banale in seiner sozialen Komplexität aufzubrechen, widerstreben. Vielmehr greift mein Beitrag einen wirtschaftssoziologischen Unterpunkt des Vortrages heraus, um ihn mit dem nötigen Raum angemessen zu vertiefen: die Perspektive der Fischwirte7 auf Fisch und die Auswirkung der damit einhergehenden Sinnzuschreibungen auf die Unternehmung Aquakultur.
P RODUKT , L EBEWESEN , R ESSOURCE – DIE R EALITÄTSVORSTELLUNGEN VON F ISCH Jährlich werden knapp 170 Millionen Tonnen an Fisch und Meeresfrüchten in den Ozeanen, den Seen und Flüssen der Welt gefangen oder in Teichen, Fließkanälen, Netzgehegen und geschlossenen Aquakulturanlagen gezüchtet. Gut 56 Millionen Menschen arbeiten in der Fischwirtschaft, sind unmittelbar am Fang oder der (Auf-)Zucht von aquatischen Organismen beteiligt und bestreiten direkt ihren Lebensunterhalt aus der Fischerei oder Aquakultur (FAO 2016). Hinzu kommt eine nicht abschätzbare Anzahl an Zulieferbetrieben wie Netzmachern,
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Kulinarische Widersprüche Workshop der Arbeitsgruppe Kulinarische Ethnologie der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV, seit Oktober 2017 umbenannt in Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie, DGSKA), 11. und 12. September 2014, Universität Kassel, Witzenhausen.
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Äquivalent zum Landwirt bezeichnet Fischwirt einen Beruf, dessen wesentlicher Inhalt darin besteht, aquatische Lebensmittel in Kultur zu erzeugen oder wildlebende zu fangen.
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Futtermittelproduzenten, Maschinenherstellern, Werften und Abnehmern wie Verarbeitern und Händlern, die alle zur Wertschöpfungskette des Produktes Fisch zu zählen sind. Die Zahlen verdeutlichen das sozialstrukturelle und volkswirtschaftliche Gewicht der Fischwirtschaft. Deutschland ist im Vergleich dazu als Erzeugerland eher zu vernachlässigen: circa 1.500 Fischereifahrzeuge und circa 6.000 Aquakulturbetriebe stellten 2014 zusammen ein Aufkommen von 244.000 Tonnen Fischereierzeugnissen zur Verfügung (FIZ 2016). Der überwiegende Teil der 2,13 Millionen Tonnen an Fisch und Meeresfrüchten, die dann in Deutschland verzehrt werden, wird in der Konsequenz importiert. So ist Deutschland keine gewichtige Erzeuger-, wohl aber eine Verbrauchsnation. Der unbedarfte Beobachter findet sich daher auch am ehesten in seiner Rolle als Verbraucher in einem Supermarkt wieder. Hier sieht er sich mit einer großen Auswahl an Fischereiprodukten konfrontiert: Fisch aus Wildfang oder Zucht, aus Salz- oder Süßwasser, aus nachhaltiger, konventioneller oder ökologischer Erzeugung, aus der Region oder Übersee, tiefgekühlt, mariniert oder frisch, filetiert oder ganz. Fisch ist ein Produkt – genauer, es ist ein Produkt der Lebensmittelherstellung mit allerlei zugeschriebenen Eigenschaften wie gesundheitsfördernd oder natürlich wirkend. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gesellschaftswissenschaftliche Arbeiten hierzulande zuvorderst die Rolle der Verbraucher und deren Zuschreibungen von (nachgefragten) Eigenschaften an das Produkt Fisch untersuchen (Feucht und Zander 2015, Korn und Jansen 2014, Lasner et al. 2010). Regelmäßig gelangen die Autoren der Studien hier zu dem Schluss, dass Konsumenten in Angesicht der oben beschriebenen Vielfalt überfordert sind. Die Facetten der Produktsegmentierung ignorierend werden eher bekannte Kategorien aus der Landwirtschaft abgeleitet und auf die Fischwirtschaft übertragen (Feucht und Zander 2015). So ist zumindest eine analog grobe Unterscheidung möglich, zum Beispiel zwischen ökologisch naturnaher und konventionell industrialisierter Aquakultur, wobei letzteres häufig negativ, ersteres positiv konnotiert ist.
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Die Kennzeichnung eines Fischproduktes als ökologisch oder konventionell, ob durch die Hersteller und/oder Auditoren des Herstellungsprozesses, ist dabei alles andere als willkürlich. Kennzeichnungen folgen sorgfältig und langwierig ausgehandelten Regeln, die teils in Gesetzen kodifiziert worden sind.8 Ausgangspunkt dieser Kodifizierungen von Fischprodukten ist die Erzeugungsperspektive, also die Frage nach dem „Wie etwas hergestellt wird“. Die Erzeugungsperspektive betrachtet nicht das Ergebnis der Herstellung, das Produkt, sondern rückt den Prozess der Herstellung in den Fokus. Unabhängig davon, von wem der Aushandlungsprozess initiiert worden ist, sind es letztlich Fischwirte, die sie annehmen und in ihren Herstellungspraktiken umsetzen.9 Zwischen 2010 und 2011 habe ich in Deutschland problemzentrierte Interviews mit zwanzig Fischwirten, die innovative oder konventionelle Aquakulturpraktiken anwenden, geführt. Darunter waren Vertreter der ersten Generation der ökologischen Aquakultur und Fischwirte, die als erste ihrer Gemeinschaft in eine Hightech-Fischzucht mit geschlossenem Wasserkreislauf investierten. Die Interviewten hatten ihre Unternehmungen zwischen 1966 und 2008 begründet. Beide Praktiken, obwohl als technisch ausgereift angesehen, waren zum Zeitpunkt meiner Studie noch nicht sehr weit verbreitet und stellten Pionierarbeiten in der deutschen Fischwirtschaft dar. Ziel der Studie war die Klärung der Frage, warum einige Fischwirte Innovationen, die als umweltgerecht gelten, übernahmen und andere nicht (Lasner 2014, 2013).
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Siehe hierzu die EU Verordnung (EG) Nr. 834/2007 zur Kennzeichnung
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Während in Österreich die Initiative zur Kennzeichnung von ökologischen
von ökologischen Erzeugnissen. Fischen von den Fischwirten initiiert worden ist, ging der Prozess in Deutschland maßgeblich von Anbauverbänden des ökologischen Landbaus aus.
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Mit Hilfe des Grounded Theory Ansatzes nach Glaser und Strauss (2008)10 wollte ich verstehen, wie als umweltgerecht gekennzeichnete Unternehmensgründungen – fachsprachlich Ecopreneurship – in der Aquakultur entstehen und ablaufen. Eine ganze Gemengelage von Einflussfaktoren von unternehmerischen Motiven; die soziale An- oder Aberkennung innerhalb der Familie, unter Kollegen und der Dorfgemeinschaft; der Anschlussfähigkeit der Innovation an das bereits Vorhandene; oder die Identität als Fischwirt kam während der Interviews zu Tage. Es waren tatsächlich nicht ausschließlich und auch nur selten rein betriebswirtschaftliche Argumentationen, die von den Interviewten als Referenz für ihr Handeln, die eine oder andere Aquakulturtechnik zu praktizieren, in den Interviews angeboten wurden. Dass wirtschaftliche Akteure nicht ausschließlich von ökonomischen Motiven in ihrem unternehmerischen Handeln getrieben werden, ist in der Fischereiforschung bekannt (van Putten et al. 2013, Kennedy 1987). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die Realitätsvorstellungen von Fisch, die die Fischwirte in ihren Erzählungen darlegen. Sie rahmen ihr unternehmerisches Handeln mit ökologisch-ökonomischen Diskursen, in denen Fisch mal als Lebewesen; mal als Ressource begriffen wird. „Die Kreatur, die wir essen, hat ein Recht darauf, Wetter, Jahreszeiten, Witterung zu kennen. Hat ein Recht darauf, im Dreck zu wühlen, wenn es denn will, wie ein Schwein. Und ein Fisch hat ein Recht darauf, im Schlamm zu gründeln11, wenn er Karpfen ist, sich am Reethalm zu scheuern oder eine Vielfalt von Nahrung zu suchen, die ihm mit Sicherheit besser schmeckt als irgendwie
10 Die Grounded Theorie bezeichnet Forschungsstrategien, deren Ziel die Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie mit Hilfe qualitativer Datenerhebungs- und Analysemethoden ist. 11 Gründeln bezeichnet die Art der Nahrungssuche bei Karpfenartigen. Sie suchen mit ihrem Maul den Gewässerboden nach Nahrung ab und wirbeln dabei Sediment auf.
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Fertigfuttermittel. Und ethisch betrachtet ist das so für mich, du bist das, was du isst.“ (Öko-Fischwirt Christian Altmeyer12)
Gerade die interviewten Öko-Fischwirte konstruieren ein spezifisches Mensch-Natur-Verhältnis, in dem einem Fisch ein Eigenwert als Lebewesen zugesprochen wird. Es ist eine biozentrische Perspektive. Dem Lebewesen wird ein Anspruch zugeschrieben, aus vorhandenen Optionen freiwillig wählen zu können. Die positive Wertung des Anspruches, die in dem Interviewauszug anklingt, wird zum Schluss moralisiert („du bist, was du isst“). Der Anspruch auf Wahlfreiheit, freie Entfaltung des Lebens bleibt dabei in der ökologischen Teichwirtschaft für die Interviewten nicht allein auf Fische beschränkt. Vielmehr bezieht sich der Anspruch wechselseitig auf das ganze Mensch-NaturVerhältnis innerhalb der ökologischen Aquakultur. „Hier dürfen auch Blumen wachsen, es wird nicht gemäht, obwohl es Zeit ist. Also, ich mähe die Verkehrswege, wo man sich ständig bewegt, die mähe ich regelmäßig wie jeder andere auch, ja.“ (Öko-Fischwirt Dominik Althaus)
Die aufgezeigten Orte des wo-Blumen-wachsen-dürfen und wo-keineBlumen-wachsen-dürfen markieren selbstgesetzte Grenzen einer Zurückhaltung zugunsten der freien Entfaltung von Lebensansprüchen. Öko-Fischwirte setzen sich während des Produktionsprozesses mit Optionen des Zurverfügungstellens und des Nichtofferierens freier Entfaltung auseinander. Die letztliche Entscheidung über die Grenzziehung wird in der biozentrischen Perspektive teilweise als Konflikt zwischen dem der Natur zugeschriebenen Anspruch auf freie Entfaltung und dem der Fischwirtschaft zugeschriebenen Anspruch auf Eingriff in die Produktionsmodalitäten wahrgenommen.
12 Aus Gründen des Datenschutzes wurden in der Studie die tatsächlichen Namen durch Pseudonyme ersetzt.
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„Es macht mehr Arbeit irgendwie, ist nicht so technisierbar, man darf […] keinen Sauerstoff oder Belüftung einsetzen, kann nicht so intensiv produzieren. Die Vorteile sind eher für die Umwelt, weniger für den Fischwirt selber.“ (Öko-Fischwirt Lukas Aumeister)
Es kommt zu Zielkonflikten. Ökologieorientierte Entscheidungen gehen zu Lasten von ökonomieorientierten Handlungen, Zurückhaltung zu Lasten von produktionstechnischen Eingriffen und umgekehrt. Bei diesem Konflikt stellt sich für Öko-Fischwirte weniger die Frage, ob überhaupt in die Natur eingegriffen werden darf. Die Aquakultur ist per se durch eine Nutzung der Natur determiniert und dies wird in den Erzählungen der Fischwirte auch nie in Frage gestellt. Vielmehr setzen sich Öko-Fischwirte mit der Frage auseinander, wie menschliche Eingriffe in die Natur beziehungsweise eine Zurückhaltung gegenüber der Natur zu gestalten sei. Es gilt fortwährend einen Ausgleich zwischen der von ihnen als konträr empfundenen Ökologie- und Ökonomieorientierung auszuhandeln. Es gilt die Haltung eines Lebewesens mit Erzeugung eines Produktes zu harmonisieren. Für Fischwirte, die aus einer Perspektive des Ressourcenmanagements argumentieren, besteht dagegen kein Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie. „D.h., die [wildlebenden] Fischressourcen können sich vernünftig erholen, [die Kreislauftechnik] ist eine ressourcenschonende Art und Weise der Fischproduktion. Deswegen sagen wir mittlerweile, dass wir uns zunehmend von dieser Art und Weise der, der Hochseefischerei einfach absolut distanzieren […] Das ist eben der große Vorteil der Sache. Man ist der Umwelt als solches nicht ausgeliefert. […] Man kann das Medium [Wasser] im Kreislaufsystem so steuern, dass man immer gleiche Bedingungen hat, optimale, um optimale Wachstumsraten bei den Fischen auch zu erzielen.“ (Fischwirt Hannes Binder)
Während wir es weiter oben noch mit dem Fisch als Lebewesen zu tun haben, führt der Fischwirt Hannes Binder hier die stärker wirtschaftlich geprägte Bezeichnung „Fischressource“ ein. Der Ressourcenbegriff
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umfasst in dem gewählten Zitat zwei Bezüge: Zum einen bezieht er sich auf das Wasser als den begrenzenden Produktionsfaktor in der Fischzucht, von dem bei wechselwarmen Organismen – wie den Fischen – auch die Stoffwechsel- und damit die Mastleistung abhängt („optimale Wachstumsraten“). Es ist eine klar produktionstechnische, wirtschaftliche Referenz. Zum anderen gibt es einen ökologieorientierten Verweis, der hier eingeflochten wird. Es ist der angerissene Diskurs über die Wechselbeziehung von Fischereianlandungen und Aquakulturproduktion. In der aufgeführten Lesart entlaste die künstliche Aufzucht von Fischen in der Aquakultur an Land den von der Hochseefischerei ausgeübten Fischereidruck auf wildlebende Arten in den Meeren. Unterschiedliche Fischarten werden als eine Ressource zusammengefasst. Das ist sowohl biologisch als auch ökonomisch beachtenswert. Biologisch werden Fische gemeinhin nicht nur streng in verschiedene Fischarten mit jeweils spezifischen Habitatsansprüchen unterteilt. Vielmehr wird auch zwischen Populationen derselben Art unterschieden, da es oft ungleich um ihren Bestand steht.13 Wirtschaftlich ist wiederum verbreitet, zwischen verschiedenen Marktsegmenten für Fisch zu differenzieren. So können Lachsartige unterschiedliche Nachfragen wie beispielsweise nach „Portionsfischen“ oder nach „Filet“ bedienen, ohne miteinander zu konkurrieren (Nielsen et al. 2007). Anders gedacht, stellt ein Filet, dass aus einem aus einer Aquakultur stammenden Europäischen Wels gewonnen wurde, nicht automatisch ein Substitut für ein pazifisches Wildlachsfilet dar. Erst vor diesem Hintergrund offenbart sich die Konstruktion einer Zusammenfassung aller Fische als eine Ressource, die Herr Binder bemüht. Die eigene Aquakulturtechnik wird dadurch in den Kontext der globalen Fischwirtschaft eingebettet. Aus dieser verallgemeinernden Perspektive tritt der („ressourcenschonende“) umweltfreundliche Charakter der Aquakultur hervor, der mit ökonomischen Motiven wie einer Rationalisierung der Herstellungsprozesse und einer Produktionssteigerung („op-
13 Siehe hierzu http://fischbestaende.portal-fischerei.de/.
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timale Wachstumsraten“) harmonisiert wird. Auffällig ist zudem die Bedeutung des produktiven Wachstums in der Fischwirtsperspektive, die sich auch in der Definition zur Aquakultur der Europäischen Union findet: „‚Aquakultur‘ [ist] die Aufzucht oder Haltung von Wasserorganismen mit entsprechenden Techniken mit dem Ziel der Produktionssteigerung über das unter natürlichen Bedingungen mögliche Maß hinaus“ (EU-Verordnung (EG) Nr. 1198/2006). Die Handlungsprämisse eines produktionssteigernden Eingriffs ist mit der EU-Definition institutionalisiert und kollektiv abgesichert.
S CHLUSSBEMERKUNG Wenn mein Beitrag auch nur ein kurzer Ausflug in das Feld der Fischwirtschaft ist, so stellt sich doch die längerfristige Frage, was bleibt von einer soziologischen Betrachtung von Fischwirtsperspektiven? Vielleicht bleibt der Hinweis auf große Debatten, die auf gesellschaftlich legitimierte Lebensentwürfe – und in diesem agrarwirtschaftlichen Kontext – auf legitimierte Formen der Lebensmittelproduktion zielen. Es sind Debatten, die sich zunehmend durch eine Ökologisierung des Sprachgebrauchs auszeichnen und sich in den aufgeführten Referenzstrukturen der Fischwirte widerspiegeln. Einige Diskurse kreisen dabei um gesellschaftliche Widersprüche, den Schutz der Natur einerseits (Fisch als biozentrisches Lebewesen); ihre Nutzung für wirtschaftliches Wachstum (Fisch als zu managende Ressource) und zur Bedürfnisbefriedigung (Fisch als Produkt) andererseits. Andere Erörterungen versuchen wiederum, erst gar keine Dualismen entstehen zu lassen, sondern Produktion und Naturschutz zumindest sprachlich zu harmonisieren. Bezogen auf unser Fischwirtsbeispiel handelt es sich bei der Ökologisierung der Sprache um eine Spielart der, wie Niklas Luhmann es einmal bezeichnete, moralischen Kommunikation (2008). Kennzeichnend für eine moralische Kommunikation ist, dass ihre Inhalte mit sozialer An- oder Aberkennung einhergehen. Die interviewten Fischwirte legitimieren ihre recht unterschiedlichen Aquakul-
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turpraktiken jeweils ökologisch. Sie demonstrierten damit die „geltende Meinung des Guten“ (Luhmann 2008: 113). Ihre moralische Kommunikation, und das ist das beachtenswerte, schlägt sich in einer Operationalisierung des konstruierten Ökologischen nieder: extensiv bewirtschaftete Öko-Teiche oder intensiv betriebene HightechAquakulturen. So mündet die Wahrnehmung des Fisches letztlich in der Gründung beziehungsweise der Ausgestaltung einer Aquakulturunternehmung und schafft Realitäten. Soziale Realitäten wiederum sind klassischer Gegenstand einer Soziologie, die das Werden und Wirken von menschlichen Wirklichkeiten verstehen und erklären will.
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Über Essen, Essen und Essen Die kulinarische Multiplizität der westkenianischen Luoküche M ARIO S CHMIDT 1 L’homme
n’est
pas
une
espèce
religieuse, mais une espèce culinaire. (HAUDRICOURT 1995: 33)2
E INLEITUNG Meine Beschäftigung mit den Essgewohnheiten der westkenianischen Luo3 begann als Sebastian Schellhaas und ich im Februar 2009 zum
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Dr. Mario Schmidt, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities, Universität zu Köln, [email protected]
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„Der Mensch ist kein religiöses, sondern ein kulinarisches Wesen.“ (Übersetzung von Mario Schmidt)
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Siehe die klassischen Ethnographien von Parker Shipton (2007) und Paul Wenzel Geissler und Ruth Jane Prince (2010).
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ersten Mal gemeinsam nach Kaleko reisten,4 einem Marktort zwischen den kenianischen Provinzstädten Kisumu und Kisii. Unser Ziel war es, Daten für unsere Magisterarbeiten zum Thema Transformationsprozesse der westkenianischen Luoküche zu erheben. Geprägt von den in den Seminaren von Prof. Dr. Marin Trenk gelehrten, klassisch kulinarethnologischen Analysen ging es uns zunächst darum, festzustellen, wer wo was mit wem und aus welchen Gründen isst (siehe Douglas 1972, Goody 1982, Richards 1939). Im Anschluss an ethnologische Untersuchungen zu Globalisierungsprozessen (siehe Lentz 1999, Trenk 2015, Watson 1997) galt es außerdem, Gründe dafür auszumachen, warum bestimmte, global zirkulierende Nahrungsmittel in Kaleko angeeignet werden, während die Einführung anderer dezidiert abgelehnt wird. Entsprechend dieser theoretischen Vorprägung versuchten Sebastian und ich vor Ort, die Struktur der Luoküche zu erfassen. Wir waren uns recht schnell einig, dass sie ein exemplarisches Beispiel für das Core-Fringe-Legume Modell (CFLM) darstellt, das seit den 1980er Jahren von Sidney Mintz, einem der Pioniere kulinar-ethnologischer Forschung, entwickelt wurde (Mintz 1992). Wie in den von Mintz untersuchten, Ackerbau betreibenden Gesellschaften steht auch in Kaleko eine kohlehydrathaltige Speise im Zentrum der alltäglichen, idealerweise sowohl mittags wie abends eingenommenen Mahlzeit: kuon, ein fester Brei aus verschiedenen Getreidesorten (core), der zusammen mit verschiedenen Beilagen (fringes), dek5 genannt und verantwortlich für Geschmack und Abwechslung, verzehrt wird. Da es uns primär um die Analyse von Transformationsprozessen ging, rekonstruierten wir anhand von Informantenaussagen, wie die typische Mahlzeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgesehen hatte. Dabei wurde deutlich, dass sich die Zubereitungsweise der Beilagen während der letzten einhundert Jahre fundamental verändert hatte. Anstatt Fisch (rech), Fleisch (ring’o), lokale Blattgemüsearten (alot), Insekten (ang’wen) und vieles
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Personen- sowie Ortsnamen wurden anonymisiert.
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Begriffe in der lokalen Sprache, Dholuo, sind kursiv gesetzt.
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mehr in Milch (chak) zu kochen, brät man Nahrungsmittel heutzutage bevorzugt in Öl (mo) an – zumeist zusätzlich mit Zwiebeln (otunge), Tomaten (nyanya) und einer kenianischen Gewürzmischung namens Royco. In Bezug auf den core konnten wir hingegen lediglich eine Substitution der verwendeten Rohstoffe feststellen.6 Wurde im vorkolonialen Kaleko ausschließlich Sorghum (bel) und Fingerhirse (kal) zur Herstellung des kuon verwendet, führten koloniale wie postkoloniale Propagandamaßnahmen7 gekoppelt mit weiteren soziokulturellen Fak-
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Es lässt sich allerdings auch eine fundamentale Veränderung in Bezug auf die als dek verwendeten Lebensmittel beobachten. Diese kann am besten als eine Bewegung weg von gesammelten (choko) hin zu gekauften Lebensmitteln (ng’iewo) beschrieben werden. Lokale Blattgemüsesorten (alot), saisonal vorhandene Pilze (obwolo) und Insekten sowie gejagte Wildtiere (unter anderem Hasen) finden sich im Laufe des 20. Jahrhunderts immer seltener auf westkenianischen Tellern; gekauftes Fleisch, die Blätter der großflächig angebauten Kohlart sukuma wiki und Weißkohl (kabich) hingegen immer häufiger.
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Koloniale Dokumente aus den Kenya National Archives, Nairobi, zeigen, dass bereits in den Jahren um 1910 versucht wurde, Jokaleko von den diätischen und agrarwirtschaftlichen Qualitäten des Mais zu überzeugen, indem man koloniale Beamte Maiskörner umsonst verteilen ließ. Siehe, zum Beispiel, den Annual Report for the District of South Kavirondo 1915: „[…] but though I sent out to the Luo locations and I informed them that I was prepared to do the same with them [Maiskörner verteilen, M.S.], not one single person came in for seed; a perfect example of the utter indifference these people show to any agricultural enterprise.“ (Kenya National Archives, DC/KSI/1/2) Nach anfänglichen Schwierigkeiten setzte sich Mais schlussendlich durch und ersetzte Sorghum und Hirse fast vollständig. Die Geschichte des Wandels von Hirse und Sorghum zu Mais ließe sich dabei hervorragend als ein Austausch von Nahrungssicherheit gegen Arbeitsersparnis erzählen. Während Hirse zwar deutlich wetterresistenter ist, bedarf das Unkrautjäten, das Pflücken und Mahlen der Körner deutlich mehr Arbeitsaufwand. Zudem sind sowohl der Sorghum als auch die Hirse
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toren dazu, dass ein Großteil der Einwohner Kalekos heute Mais (bando) beziehungsweise noch häufiger Mais-Hirse-Kassava Mischungen bevorzugt.8 Während also in Bezug auf die fringes der Luoküche eine substantielle Veränderung zu beobachten ist, unterscheidet sich der heutige kaum von dem in kolonialen Dokumenten des frühen 20. Jahrhunderts beschriebenen core. Alternative Kohlehydratquellen wie Toastbrot (mkate), Reis (mchele) oder aus Weizenmehl hergestellte Fladenbrote (chapat) gelten weiterhin als inadäquater Ersatz und somit nicht als richtiges Essen. (Abb. 1) Sebastian und ich postulierten im Anschluss an diese Beobachtungen entlang der Argumentationslinie klassischer ethnologischer Analysen, dass Jokaleko (dt. Einwohner Kalekos, Sg. jakaleko) ihren core nicht ersetzen können, da er zentrale Eckpfeiler der Luokultur symbolisiert und reproduzierend stützt. So strukturiert und festigt der Anbau von kuon-Getreide, beispielsweise, traditionelle Geschlechterverhältnisse, und die Versorgung des Gehöfts mit denjenigen Lebensmitteln, die für die alltägliche Zubereitung von kuon notwendig sind, gilt als Index der Tüchtigkeit eines jeden homestead heads (wuon dala).9 Um es in der Sprache der Luo (Dholuo) zusammenzufassen: Cham en chamo (dt. Getreide ist Essen). Unsere klassisch kulinar-ethnologische Analyse lässt sich also am besten als eine Antwort auf folgenden Fragen lesen: Welche Gegenstände werden als essbar wahrgenommen? Aus welchen Gründen können bestimmte
Leckerbissen für einige einheimische Vögel, was zur Folge hat, dass man die Felder dauerhaft überwachen muss. 8
Auch wenn es einen Trend in der kenianischen Mittelklasse gibt, Hirse aufgrund gesundheitsfördernder Effekte als Getreide der Wahl eines jeden gebildeten Kenianers zu präsentieren, was unter anderem zur Folge hat, dass kuon bel in einigen Restaurants Nairobis als Delikatesse angepriesen wird, gilt sie heute in Kaleko noch immer eher als Arme Leute Essen und unmodern. Zudem kratze ein ausschließlich aus ihr zubereiteter kuon unangenehm im Hals.
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Siehe hierzu ausführlich Schellhaas und Schmidt (2012).
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Nahrungsmittel durch andere ersetzt werden? Warum wird die Aneignung anderer Nahrungsmittel abgelehnt? Letzten Endes stellt unsere Analyse damit nichts Anderes dar als eine mit Hilfe des CFLM durchgeführte, wissenschaftliche Ausarbeitung eines ethnographischen Statements: „Ohne kuon ist es kein Essen!“ (Schellhaas und Schmidt 2012) Abbildung 1: Typische Luomahlzeit mit kuon (aus Maismehl) und dek (Blattgemüse und Fleisch)
Quelle: Mario Schmidt
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Mit einigem Abstand und ein knappes Jahr nachdem wir unser Projekt mit Abgabe unserer Magisterarbeiten 2010 vorläufig abgeschlossen hatten, begann sich bei der erneuten Lektüre unserer eigenen Arbeiten ein sonderbares Unbehagen auszubreiten. Das sollte Kulinarische Ethnologie sein? Eine Analyse der repräsentationalen, dadurch durch und
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durch semiotischen Beziehungen kulinarischer Phänomene mit grundlegenderen sozialen und kulturellen Strukturen? Würde dies das Kulinarische nicht zu einer bloßen Hilfskategorie reduzieren?10 Unsere Zweifel wurden durch die intensive Beschäftigung mit einigen überraschenden ethnographischen Aussagen noch verstärkt. So bezeichnen Jokaleko nicht nur einzelne Gegenstände, die wir als Essen bezeichnen, nicht als Essen (zum Beispiel Schokoriegel oder Pizza), sie sprechen in bestimmten Situationen auch davon, dass man andere Menschen, Wahlstimmen und Geld essen kann. Hier schien unsere klassisch kulinar-ethnologische Analyse an ihre Grenze zu stoßen, denn trotz unserer gesteigerten Sensibilisierung für alternative Essgewohnheiten gelang es uns nicht, Jokaleko auszumachen, die genüsslich an einem Geldschein knabberten. (Schmidt 2017a) Was also tun? Konfrontiert mit Aussagen wie chamo pesa (dt. Geld essen; Shipton 1989), chamo kura (dt. Wahlstimmen essen) oder chamo luwo (dt. Land essen), versuchten wir zunächst, diese Formulierungen mit dem vermeintlich transkulturell gültigen Verständnis von Essen als den individuellen Körper nährende Aktivität in Einklang zu bringen. Hieraus folgerten wir, dass es sich bei Aussagen wie wachamo luwo (dt. wir erben [essen] das Land), um Metaphern handelt. Der Begriff essen wäre in diesem Fall also von seiner semantisch korrekten Verwendung metaphorisch auf die Ebene des sozialen Körpers verschoben worden. Ein Merkmal metaphorischer Verschiebungen ist jedoch, dass aus ihnen in der Regel keine faktischen Konsequenzen folgen. Mit anderen Worten: nicht alle Inferenzen, die bei einer korrekten nicht-metaphorischen Verwendung erlaubt sind, behalten bei metaphorischem Gebrauch ihre Gültigkeit. Nur weil ich metaphorisch behaupte, dass der soziale Körper etwas isst, folgt daraus, zum Beispiel, nicht notwendigerweise, dass er Verdauungsprobleme bekommen kann. Doch genau dies geschieht in Kaleko. Isst jemand Geld, kann dies Auswirkungen auf den Gesundheitszustand von anderen Menschen haben, mit
10 Zum kategorialen Primat der Nahrung bei Marcel Mauss siehe Schmidt (2015b).
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denen er nur über eine verwandtschaftliche Beziehung vernetzt zu sein scheint. So kann das moralische Fehlverhalten einer Person die Infektion einer anderen Person mit chira nach sich ziehen; einer Krankheit, die sich vor allem durch die Unfähigkeit auszeichnet, Nahrung verdauen zu können. Nach nächtelangen Diskussionen über diese ethnographischen Beobachtungen kamen Sebastian und ich schließlich zu dem Schluss, dass es ethnographisch unredlich ist, weiterhin von angemessener Übersetzung oder Verständnis des Fremden zu reden, wenn dadurch, zum Beispiel, die häufig kommunizierte und ausagierte Überzeugung, dass das Essen von Geld Auswirkungen auf den Gesundheitszustand eines Verwandten haben kann, als kontrafaktisch oder irrational gelten muss. Abbildung 2: Sebastian und Mario in einem Restaurant in Kaleko (März 2009)
Quelle: Mario Schmidt
Denkbar unzufrieden mit diesem Umstand entschieden wir aus politischen wie epistemologischen Gründen nicht länger dem Komfort einer
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metaphorischen Interpretation anheimzufallen. Denn gerade die Diagnose, der Indigene übertrage ein Phänomen aus einem dem Ethnographen bekannten in einen semantisch eigentlich unpassenden Bereich, lässt ersteren häufig leicht stumpfsinnig oder gar primitiv erscheinen und erspart letzterem jegliche fundamentale Begriffsarbeit (Holbraad 2012). Anstatt also anzunehmen, dass unser Verständnis von Essen als den individuellen Körper nährende Aktivität in Kaleko nur metaphorisch verschoben wird, versuchten wir, die vermeintlichen Metaphern als Tatsachenberichte und damit Geld, Wahlstimmen, Land und Menschen als faktisch essbar zu begreifen. Die Frage war jedoch: Was soll es heißen, Geld essen zu können? Unsere Konzepte schienen diesen Aussagen einfach nicht gerecht werden zu können und wir mussten einsehen, dass wir uns mit dem Anspruch, sie ernst zu nehmen, schlicht den Boden unter den Füßen weggezogen hatten. Um den Aussagen und den mit ihnen verknüpften Phänomenen aus unserer Feldforschungserfahrung in Westkenia gerecht werden zu können, mussten wir zurück zu diesen ethnographischen Erfahrungen gehen und unsere eigenen Annahmen über Körper, Essen und Geld ausklammern. Als schwerwiegendste und folgenreichste Vorannahme hatte sich also die konstitutive Grundannahme kulinarischer Ethnologie selbst erwiesen, nämlich die stillschweigend akzeptierte Hypothese, dass Essen kulturübergreifend die Aufnahme von Nahrungsmitteln bezeichnet. Wir mussten nun also einen Weg in die kulinarische Sphäre finden, der konträr zu unserem bereits eingeschlagenen Weg stand. Uns blieb also nichts Anderes übrig als das Esshafte am Essen zu vergessen, das heißt aufzuhören, uns als kulinarische Ethnologen zu verstehen. Wir mussten raus und rein in das Kulinarische, und das zur gleichen Zeit. Anders ausgedrückt: wir mussten von der Ethnologie des Essens (Essen-1) zur Ethnologie des chamo (Essen-2) wechseln. Es ist an dieser Stelle sinnvoll, noch einmal die Ergebnisse unserer Essen-1-Untersuchung zusammenzufassen: Der Dholuo Begriff für „essen“ (chamo) bezeichnet nur solche Formen der Nahrungsaufnahme, die soziokulturell relevant und anerkannt sind, das heißt solche während derer kuon in Kombination mit dek zu sich genommen wird.
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Chamo und „essen“ beziehen sich also nicht auf den gleichen Teilbereich des potentiell Essbaren: Während chamo Schokoriegel ausschließt, schließt „essen“ für viele Westeuropäer saure Milch (chak mawach), Speisebrei (ujuri) und Blut (remo) aus. Wie oben bereits erwähnt, bezeichnet chamo jedoch ebenso Handlungen, die die ökonomische (chamo pesa, dt. Geld essen) oder politische (chamo kura, dt. Wahlstimmen essen) Sphäre betreffen. Sebastian und ich haben im Anschluss an diese ethnographischen Beobachtungen versucht, die Sozialität der Luo sowohl von einer sich durch Austauschprozesse konstituierenden Sozialität, wie sie in der ethnografischen Literatur zu Melanesien beschrieben wird (Strathern 1988), wie auch von einer Sozialität, die sich durch die Kontrolle von Substanzflüssen zwischen Körpern vollzieht, wie man sie etwa in der Literatur zum Amazonasgebiet wiederfindet (Gow 1989), abzugrenzen. Als Fundament unserer Essen-2 Konzeption kristallisierte sich in der Folge die These heraus, dass sich Sozialität in Westkenia durch die Annahme einer primordialen, substantiellen Einheit (riwruok) zwischen Menschen auszeichnet, die nicht als einzelne Körper miteinander verbunden werden müssen, sondern immer schon als Teile eines logisch prioritären Körpers existieren, innerhalb dessen Flüsse von Essbarem kontrolliert werden. Diese Analyse trägt der Tatsache Rechnung, dass Jokaleko nicht nur in unserem Sinne Nahrhaftes als essbar konzeptualisieren, sondern unter anderem auch Geld, Land, Frauen und Wahlstimmen, die ebenfalls innerhalb eines Körpers intra-aktioniert und nicht zwischen Körpern trans-aktioniert werden. Den logisch prioritären Körper bezeichnen wir als gastro-logischen Körper und die in ihm stattfindenden Prozesse verstehen wir, analog zur Nahrungsaufnahme des biologischen Individuums, das isst, indem es sich selbst füttert, als simultanes Essen und Füttern (= chamo = Essen-2, siehe ausführlich Schellhaas und Schmidt 2015). Nach einigen Überlegungen hatten wir also einen recht stabilen konzeptuellen Rahmen ausgearbeitet, in dem solche Aussagen wie wachamo luwo wörtlich genommen Sinn ergeben und konnten so einige ethnographische Situationen neu interpretieren. Anstatt,
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zum Beispiel, die weit verbreitete Überzeugung, das Zerbrechen eines kuon beim Servieren sei Zeichen für den nahenden Tod eines Angehörigen, weiterhin als irrationalen Magieglauben zu verstehen, konnten wir sie nun als korrekten Schluss lesen. Das Zerbrechen des kuon ist keineswegs ein divinatorisches Omen, sondern entspringt einer Unordnung (nyuandruok) des gastro-logischen Körpers, die die eigentliche Ursache des Todes des Familienmitglieds ist. Unsere Essen-2-Perspektive hat zudem einige interessante konzeptuelle Konsequenzen, die ich an dieser Stelle aufgrund Platzmangels jedoch nur auflisten und nicht argumentativ begründen kann. So ist es beispielsweise in Kaleko eine große Herausforderung, Handlungen zu rechtfertigen, in denen die Einheit mit anderen vernachlässigt, oder wie man sagen könnte, eingeklammert wird. Außerdem führt eine gastrologische Konzeption sozialer Beziehungen dazu, dass Geld, Essen und Wahlstimmen in bestimmten Situationen miteinander gleichgesetzt werden können. Jokaleko sehen es dementsprechend vollkommen zu Recht als moralisch unproblematisch an, wenn Politiker Wähler kaufen oder Geld als Geschenk weitergegeben wird. In Kaleko, so könnte man sagen, existieren keine Tauschsphären (Bohannan 1955). Eine weitere, und die für das folgende Argument wichtigste, Besonderheit ist, dass die einzelnen Teile des Körpers in Bezug auf ihre Eigenschaften skaleninvariant sind. Dies zeigt sich darin, dass sich alle Teile in bestimmten Situation als ganzer sozialer Körper verstehen oder sich gar durch den Prozess der Kappung von dem Rest als alleiniger gastro-logischer Körper neu formieren können; so, zum Beispiel, bei Abspaltungsprozessen im Bereich politischer Parteienbildung. Dies hat seinen Grund letztlich auch darin, dass Jokaleko die Größe ihres gastro-logischen Körpers aufgrund der phänomenalen Ununterscheidbarkeit zwischen einem gastro-logischen Körper aus zwei biologischen Körpern (dende, Sg. del) und zwei gastro-logischen Körpern (chuny) nicht abschließend definieren können (Schmidt 2017b). Es gibt nur Indizien, die andeuten, dass man eins (kaachiel, riwruok) mit dem Anderen ist. Diese Indizien entsprechen dem, was Ethnologen klassischerweise als Kultur bezeichnet haben. So sind Jokaleko davon überzeugt, dass Mutter und Kind,
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Verwandte der patrilinearen Abstammungslinie sowie großzügige Europäer Teile des eigenen Körpers (chuny) sind. Letztlich ist der gastrologische Körper jedoch an jeder Perforationslinie stetig von Spaltung bedroht (Schmidt 2014).11 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Jokaleko zwar absolut sicher sind, dass sie als Teil eines gastro-logischen Körpers existieren, jedoch verbleiben sie zwangsläufig im Unklaren über dessen Grenze.12 Obwohl man nicht weiß, wie groß der gastro-logische Körper ist, weiß man genau wie er funktioniert und wie er sich reproduziert, nämlich durch die simultane Einnahme und Weitergabe, das heißt die Intraaktion von Nahrung.
E SSEN -3 – D IE S TRUKTUR DER L UOMAHLZEIT AUS DER S ICHT EINES L UOETHNOGRAPHEN Man kann sich im Anschluss an diese konzeptuelle Achterbahnfahrt raus aus der kulinarischen Ethnologie (Essen-1) und rein in die Ethnologie des chamo (Essen-2) fragen, was es hieße, als Essen-2- oder chamo-Ethnologe die Nahrungsaufnahme der Luo zu untersuchen und
11 Selbst nicht mehr vermittelbare Vater-Sohn Konflikte sind – trotz der immensen Bedeutung der Patrilinearität – in Kaleko keine Seltenheit. 12 Auch über die Krankheit, die im Falle des „Essens von Geld“ (chamo pesa) auftritt (chira), wird in verschiedenen Situationen scharf diskutiert. Die Symptome von chira ähneln stark denen von Aids, was es ermöglicht, sie immer auch an ein biologisches Verständnis des individuellen Körpers rückzubinden. Es ist an dieser Stelle nichtsdestotrotz wichtig, festzuhalten, dass ein punktuell in Kraft tretendes biologisches Verständnis des individuellen Körpers keineswegs in einem ausschließenden Verhältnis zur Annahme eines gastro-logischen Körpers stehen muss. So kann es Situationen geben, in denen man davon ausgeht, dass ein einzelner biologischer Körper der gesamte gastro-logische Körper ist.
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so die konzeptuelle Verwirrung auf die Spitze treiben. Eine derartige Herangehensweise entspricht der Einnahme der Perspektive eines Doppelspions. Ähnlich wie ein solcher, zum Beispiel, behauptet, Spion der Amerikaner zu sein und verdeckt in Russland zu ermitteln, obwohl er Spion Russlands ist, möchte ich nun so tun als sei ich Luoethnograph (das heißt nicht Ethnograph der Luo, sondern Luo, der Luo ethnographisch untersucht), obwohl ich doch einen Bereich analysiere, der nur aus der Perspektive eines Nicht-Luo Ethnographen Sinn ergibt: den des Essen-1. Der Zugang zum Essen-1 soll sich also aus der Perspektive des chamo vollziehen anstatt wie bislang der Zugang zum chamo über die Perspektive des Essen-1. Dieser Versuch eines ethnographischen Transvestitentums führt zugleich zu einem Wechsel auf eine dritte Ebene, die des Essen-3 (oder Essen-2+1).13 Ich bewege mich nun also von Essen-2 über einen Umweg zurück zu Essen-1, um so schließlich bei Essen-3 zu enden. Betrachtet man die Luomahlzeit vor dem Hintergrund der mereologischen Struktur sozialer Beziehungen – das heißt mit Bezug auf die Simultanität von Anerkennung und Infragestellung der Differenz zwischen den Teilen des gastro-logischen Körpers, die zugleich als Teile einer größeren Ganzheit sowie als potentiell autonome Ganzheiten verstanden werden –, stellt man fest, dass das kuon-dek-Muster eine mereologisch spezifische Instanziierung des core-fringe-Musters darstellt, nämlich eine, in der die geschmacklichen Kontraste der Bestandteile des core zugunsten eines Einheitsgeschmacks vollkommen aufgehoben und die Geschmackskontraste der Bestandteile des fringe bewusst aufrechterhalten, gar betont werden. Ich möchte dies an einem typischen Luo-Gericht verdeutlichen: kuon anang’a gi aliya.
13 Ich halte diese Form der epistemologischen Parallaxe für die ethnologische Methode par excellence, da sie den Alteritätscharakter des ethnographischen Untersuchungsgegenstands ernst nimmt ohne ihn zu naturalisieren und dadurch die Methode der Ethnologie politisch angreifbar zu machen (Schmidt 2015a).
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Kuon anang’a besteht aus Fingerhirse-, Sorghum-, Mais- und Kassavamehl, die in einer Mischung aus heißem Wasser und Milch zu einem Brei geformt werden. Die interne Zusammensetzung des kuon anang’a ist jedoch durch eine rein phänomenale Annäherung an das Endprodukt für einen Europäer zunächst nicht erschließbar. Der kuon erscheint als eine einfarbige bräunlich-grau-rote Masse, deren haptische Struktur ebenso langweilig ist wie der visuelle Eindruck. Auch nach dem ersten Hineinbeißen gelingt es nicht, die interne Struktur zu rekonstruieren. Es ist ein eintöniger, für viele europäische Gaumen langweiliger Geschmack. Doch genau diese Eintönigkeit ist Ziel des Kochs: finden Jokaleko im kuon einzelne Getreideklumpen, die sich durch den Zubereitungsprozess nicht komplett aufgelöst haben, ist dies Resultat einer zu schnellen oder unkontrollierten Zubereitung.14 Der eintönige Geschmack ist demnach gewolltes Ergebnis einer absichtlich durchgeführten Kontrastreduktion, Ziel einer bewussten Homogenisierung des Geschmacks. Auch wenn geschulte Esser die Anteile der verschiedenen Getreide relativ exakt bestimmen können, heben sich die Geschmäcker doch in einem einzelnen, stimmigen Geschmack auf (Spittler 1993).
14 Es erscheint als eine amüsante Anekdote, aber es dürfte doch kein Zufall sein, dass Jokaleko von mir mitgebrachtes Brot dann als gelungen empfanden, wenn keine Körner mehr zu schmecken waren. Die Vorliebe für Toastbrot dürfte ihren Ursprung also nicht allein in dessen Süße haben, sondern eben auch in seiner haptischen Eintönigkeit gründen (auch wenn diese Kontrastreduktion bei Toastbrot nicht geschmacklich, sondern rein haptisch ist und durch die Aufhebung der Differenz zwischen einzelnen Getreidekörnern erreicht wird). Zweifelsohne ähnelt die Mereologie des Brotes weitaus mehr der des kuon als derjenigen von Kartoffeln oder Reis. Letztere sind zwar geschmacklich eintönig, entspringen aber keiner Kontrastreduktion. Das in Perfektion und erbarmungslos durchgeführte Verkochen von Reis zu einem weißlich glänzenden Klumpen dürfte ebenfalls diesem Wunsch nach Kontrastreduktion entspringen.
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Aliya bezeichnet in dünne Scheiben geschnittenes, luftgetrocknetes Rindfleisch (ring’o), das in Öl, Zwiebeln und Tomaten angebraten wird. Häufig wird anschließend ein lokales Blattgemüse, zumeist dek – ein Homophon des Wortes für Beilage allgemein – manchmal aber auch die geschmacklich intensivere Blattgemüsesorte mito, hinzugefügt. Diese Mischung wird anschließend in saurer Milch aufgekocht, um so nicht nur den Geschmack zu intensivieren, sondern die Beilage zugleich zu konservieren. Während die meisten Europäer kuon als geschmacklos empfinden, zeichnet sich aliya durch eine intensive Mischung verschiedenster Geschmacksextreme aus, die von den meisten europäischen Durchschnittsessern als ekelhaft wahrgenommen wird: der intensive Geschmack des getrockneten Fleisches, die saure Milch und das nach Kuhstall schmeckende mito gehen keine ausgeglichene Balance miteinander ein, sondern bleiben einander stark entgegengesetzt. Das gleiche trifft auf andere Beilagen zu: gegrillte Eingeweide (matumbo), die in Speisebrei (ujuri) getunkt werden oder in saurer Milch gekochter Fisch, den man komplett mit den intensiv salzigen Rogen (tong‘ rech) verspeist. Diese Beilagen sind kuon anang‘a in Bezug auf die in ihnen ausagierten Teil-Ganze Verhältnisse demnach radikal entgegengesetzt. Während kuon von Nicht-Luo häufig als einheitlicher, geschmacksneutraler Klumpen wahrgenommen wird, erscheint die Beilage als geschmacklich überfrachtet, als misslungener Versuch, sich gegenseitig abstoßende Geschmacksnuancen zu vereinen.15
15 Ein Faktor, der diese Erfahrung sicherlich verschärft, ist die Tatsache, dass jeder, der die Kultur- und Körpertechnik des mit den Händen Essens nicht beherrscht, daran scheitern muss, die Kombination der Bestandteile kuon und dek regelkonform zu vollziehen, was jedoch die Grundlage dafür darstellt, die Luomahlzeit in ihrer intendierten Form genießen zu können. Sauber und präzise mit den Händen zu essen, das heißt unter anderem auch die Mengenverhältnisse zwischen kuon und dek angemessen zu regulieren, ist eine Fähigkeit, die weitaus schwieriger zu erlernen ist, als man gemeinhin annimmt.
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Aus der Perspektive eines Jakaleko ist es hingegen die Vereinigung von kuon und dek im Essensvorgang selbst, die die Grundlage für ein gelungenes Geschmackserlebnis darstellt, während dessen der kuon als Hintergrund für die Geschmacksentfaltung des dek fungiert. Dies hat zur Folge, dass unterschiedliche dek unterschiedlich komponierter Hintergründe bedürfen und umgekehrt. So wird, im Falle des Kochs auf prospektive, im Falle des Essers auf retrospektive Weise, die kulinarische Leinwand zunächst mit dem kuon grundiert, woraufhin dann die sich stark kontrastierenden Aromen und Geschmacksnuancen des dek hinzugefügt werden. Fisch in saurer Milch schmeckt besser mit kuon bel; die mit Zwiebeln und Tomaten angebratenen Blätter einer Bohnenart (boo) können hingegen durchaus mit einem kuon aus sifted maize meal16 kombiniert werden. Dabei geht es jedoch nicht allein um eine Verbesserung des Geschmackserlebnisses: eine korrekte Kombination vereinfacht es dem Esser, die interne Zusammensetzung des kuon, das heißt die Anteile der verwendeten Getreidesorten, präzise zu ermitteln. Man könnte also sagen, dass sich die absichtlich nicht aufgehobene Multiplizität des dek, die essbar wird (ich erinnere an dieser Stelle daran, dass dek ohne kuon als nicht essbar gilt), und die absichtlich aufgehobene Multiplizität des kuon, deren Zusammensetzung durch den Vereinigungsprozess von dek und kuon erfahrbar wird, bei jeder gelungenen Mahlzeit gegenseitig erhellen. Nur wer dek zu sich nimmt, kann die versteckte Multiplizität des kuon wirklich erfassen, und nur wer kuon isst, kann die offene Multiplizität des dek genießen. Formal lassen sich die Geschmackserlebnisse eines geübten und eines nicht geübten Essers folgendermaßen darstellen: (Abb. 3)
16 Hierbei handelt es sich um Maismehl, bei dessen Herstellung die Ballaststoffe aus der Schale des Maiskorns vollkommen entfernt werden. Dies hat zur Folge, dass das Mehl einerseits sehr fein, andererseits sehr weiß wird.
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Abbildung 3: Kuon (a) und dek (b) aus der Perspektive eines Essers ohne (links) bzw. mit (rechts) kulinarischem Wissen
Quelle: Mario Schmidt
Setzt man diese strukturellen Beobachtungen mit der beschriebenen Sozialitätskonzeption, in der Teile des sozialen Körpers simultan als in einem größeren Ganzen aufgehoben und potentiell als dieses Ganze selbst verstanden werden, in Verbindung, wird deutlich, dass die kuondek Mahlzeit genau diese beiden formalen Momente im Vorgang des Essens selbst miteinander versöhnt. Jokaleko formen aus einem kuonStück einen kleinen Ball, drücken in ihn eine Delle (otunje) und nehmen damit den fringe auf. Aufgehobenheit der Teile im einheitlichen Ganzen (kuon) und Differenz der Teile (dek) werden vereint, um auf diese Weise das erkenntnistheoretische Problem der Ungewissheit über die Größe des gastro-logischen Körpers praxeologisch zu vermitteln. Die Sichtbarkeit der Verhältnisse zwischen den Teilen wird mit ihrer Undifferenzierbarkeit in Einklang gebracht. Anders gesprochen kann man sagen, dass zwischen sozialem und kulinarischem Wissen formale Ähnlichkeiten bestehen: Ebenso wie kulturelles Wissen es LuoÄltesten (jodongo) ermöglicht, die Ausdehnung des gastro-logischen Körpers zu ermessen, erlaubt es die passende Beilage (dek) dem geschulten Esser, die verdeckte Multiplizität des kuon einzuschätzen und ebenso wie ein spezifischer kuon Bedingung dafür ist, die Kontraste des dek zu genießen, ist eine genaue Kenntnis des gastro-logischen
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Körpers notwendig, um einschätzen zu können, bis zu welchem Grad potentiell als anti-sozial oder egoistisch wahrnehmbare Handlungen von der Gruppe toleriert werden. Die dem kuon-dek Modell (KDM) entsprechenden Mahlzeiten sind aus der Perspektive des Essen-3 also keineswegs Elemente der Menge aller Mahlzeiten, die unter das CFLM fallen, wie von Sebastian und mir in unserer Essen-1-Forschung angenommen. Im Gegensatz hierzu ist es das KDM selbst, das die Bedingungen bestimmt, vor deren Hintergrund andere Mahlzeiten mit dem Luokonzept von Essen (chamo) abgeglichen werden. Dies hat zur Folge, dass ein indisches Curry oder eine Pizza, die zwar formal dem CFLM, aber aufgrund ihrer spezifischen Multiplizität keineswegs dem KDM entsprechen, nicht, eine westafrikanische Fufu-Fisch Mahlzeit hingegen schon, als Essen (chamo) wahrgenommen wird. Das indische Curry hat weder eine dem kuon vergleichbare aufgehobene Multiplizität des core, der core ist einfach Reis, noch ist der fringe eine Kombination einander autonom verbleibender Geschmacksextreme, vielmehr gehen die einzelnen Gewürze eine Mischung ein, werden eben zum Curry, einer kulinarischen Holophrase. Komparative Untersuchungen der Nahrungsgewohnheiten ackerbautreibender Gesellschaften sollten demnach versuchen, spezifischere Formen des CFLM, zum Beispiel eben das KDM, als Ausgangsbasis zu nehmen (contra Schellhaas und Schmidt 2012).
E SSEN ALS W IRKLICHKEIT (E SSEN -1), S EINSBEDINGUNG (E SSEN -2) UND W ISSENSMODELL (E SSEN -3) Essen ist in Kaleko also nicht nur, in Form von Essen, beschreibbarer Teil der Wirklichkeit (Essen-1)17, sondern auch, in Form von chamo,
17 Selbstverständlich steht der Modus des Essen-1 auch jenen Jokaleko zur Verfügung, die durch Erziehungsmaßnahmen, Massenmedien (Radio, Zeit-
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Grundlage der in Kaleko vorherrschenden gastro-logischen Sozialitätsform (Essen-2), und, in Form von kuon und dek, zugleich Modell und symbolische Lösung für einige Probleme dieser Sozialitätsform (Essen-3). Durch den Essensvorgang verschaffen sich Jokaleko im Modus Essen-3 ein Stück weit Gewissheit über die im realen Leben so problematische Koexistenz von Differenz und Einheit und können so die Unsicherheit über die Größe des gastro-logischen Körpers, wenngleich lediglich artifiziell und symbolisch, ertragbar machen. Das kuon-dekEssen wird so zum Zeichen des Menschseins, zum Zeichen der Wirklichkeitskontrolle und -stabilisierung.18 Eine Konsequenz hiervon ist, dass die Werkzeuge, mit denen diese Kontrolle ausagiert wird, nämlich kuon und dek, als elementare und notwendige Bestandteile jeder Wirklichkeit vorausgesetzt werden. Es muss sie geben, wenn es Menschen geben soll, die nicht schon von vornherein der Wirklichkeit gegenüber auf verlorenem Posten stehen. Es ist also keineswegs ein amüsantes Belächeln, sondern dramatisches Unverständnis und elementare Sorge, die sich in Aussagen wie der Folgenden manifestieren: „Es gibt keinen kuon in Deutschland? Wie könnt ihr überleben?“ Kuon und dek sind demnach, zusammenfassend gesagt, zugleich beschreibbarer Teil, ontologische Voraussetzung und epistemologisches Modell der Wirklichkeit. In diesem Sinne sind kuon und dek Essen-1, Essen-2 und Essen-3.
schriften,
Internet,
Fernsehen
etc.)
oder
anderweitig
mit
einem
Verständnis von Essen als den biologischen Körper nährende Aktivität in Verbindung gekommen sind, das heißt letztlich fast allen Jokaleko. 18 Es ist daher alles andere als Zufall, dass indische Gerichte wie Biryani, die dem kuon-dek Modell stark widersprechen, in sozialen Momenten serviert werden, in denen die Kontrolle über die soziale Wirklichkeit abgegeben wird, das heißt vorwiegend während liminaler Rituale (zum Beispiel auf Beerdigungen und Hochzeiten).
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Ontologie in der Küche Kulinarisches Dreieck und Grammatik der Kultur1 T HOMAS R EINHARDT 2
E INLEITUNG Als die Alliierten sich 1944 durch die Normandie kämpften, fielen den vorrückenden Truppen mehrere lokale Käsefabriken zum Opfer. Zu unerträglich war den Soldaten aus Übersee der „Leichengeruch“, der den Gebäuden entströmte (Lévi-Strauss 1976: 512). Und geradezu unvorstellbar war es amerikanischen Nasen, dass an diesen Orten der Verwesung Nahrungsmittel heranreifen sollten. Nun ist es ein Allgemeinplatz, dass man nicht nur auf individueller Ebene über Geschmack nicht streiten kann, sondern dass das mindestens ebenso sehr auch für den Bereich der Kultur gilt. Wo die einen sich vor vergorener Milch ekeln, graust es anderen vor rohem Fleisch oder Fisch. Tiere und
1
Der Text stellt die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Aufsatzes dar, der zuerst 2013 erschienen ist (Reinhardt 2013). Ich danke den Herausgebern von Journal Culinaire, Martin Wurzer-Berger und Thomas Vilgis, für die Erlaubnis zum Wiederabdruck von Teilen des Textes.
2
Prof. Dr. Thomas Reinhardt, Institut für Ethnologie, LMU München, [email protected]
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Pflanzen, die hier als Delikatessen zählen, gelten anderswo als ungenießbar und umgekehrt. Von den als angemessen betrachteten Zubereitungsarten, die hier fast Rohes auf den Teller bringen, da alle Zutaten zu einer zähen Masse verkochen und dort mit ungewohnten Texturen experimentieren sowie den diversen Kombinationsmöglichkeiten (süßsauer, heiß-kalt, etc.) ganz zu schweigen. Der Mensch ist, was er isst,3 heißt es nicht umsonst – und allzu gerne werden nationale Küchen als sicht- und schmeckbarer Ausdruck kultureller Identitäten gelesen. Grund genug also, sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht mit Fragen des Kochens und des Essens zu beschäftigen. Mitte der 1960er Jahre hat Claude Lévi-Strauss (1908-2009) genau das getan. Seine Leitfrage lautete dabei, ob der Mensch bei der Wahl seiner Nahrungsmittel und Zubereitungsarten tatsächlich so frei ist, wie es die scheinbar unendliche Vielfalt ethnischer und individueller Küchen suggeriert. Können wir, mit anderen Worten, essen, was wir wollen und wie wir es wollen? Oder gibt es unter der oberflächlichen Fülle von Gerichten eine letztlich überschaubare Anzahl ordnender Strukturmerkmale, die unsere Wahlmöglichkeiten beschränken? Lässt sich womöglich so etwas wie eine Grammatik des Kochens formulieren, die für den Bereich der Küche leistet, was Phonologie und Grammatik für die Sprache leisten? Und wäre es dann – wiederum wie bei der Sprache – vielleicht auch gerade die grundsätzliche Arbitrarität und Konventionalität des (kulinarischen) Zeichens, die seine Stabilität garantiert?
3
Bei dem Aphorismus handelt es sich übrigens keineswegs um ein bloßes Spiel mit Homonymen. Stattdessen verdichtet Ludwig Feuerbach in der Formel ein komplexes metaphysisch-gastrosophisches Programm, das Biologie und Kultur in einer materialistischen Perspektive zusammenfasst. Siehe hierzu Lemke (2004) und Ingensiep (2007).
O NTOLOGIE IN
D AS I NTELLIGIBLE
UND DAS
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S ENSIBLE
Le Triangle culinaire (1965) heißt der Text, in dem Lévi-Strauss verschiedene Nahrungszustände und Zubereitungsarten untersucht und an den Ecken des titelgebenden „kulinarischen Dreiecks“ anordnet. Die Versuchung ist groß, den Aufsatz als einen Text über das Kochen zu lesen. Tatsächlich wird das Thema darin auch behandelt. Jüngst hat etwa Thomas Vilgis im Journal culinaire eine naturwissenschaftlich inspirierte Fortschreibung des Textes vorgenommen und diese Inhaltsdimension weiterentwickelt und präzisiert (Vilgis 2013). Die dem Text zugrundeliegende Intention reicht aber weit über den Versuch einer Klassifizierung verschiedener Arten des Umgangs mit Lebensmitteln hinaus. Lévi-Strauss sieht vielmehr in den Codierungen und Zuordnungen der Nahrung und ihrer Zubereitung grundsätzliche Fragen des Verhältnisses Natur/Kultur verhandelt. Er greift dabei Probleme auf, die die Philosophie spätestens seit Platon beschäftigen. Dieser hatte in seiner Politeia eine folgenschwere Unterscheidung zwischen Erscheinung und Form vorgenommen. Erstere mit unseren Sinnen wahrnehmbar, letztere allein im Reich der Ideen angesiedelt. Wahre Erkenntnis (griech. episteme) kann für Platon allein in der Welt der Ideen bestehen. Das sinnlich Erfahrbare hingegen (das also, was die armen Gefangenen des Höhlengleichnisses als Schatten an der Wand wahrnehmen und die Glaubensvorstellungen, die sie auf Basis ihrer Beobachtungen entwickeln) führt allenfalls zu Meinungen (griech. doxa). Während nun die episteme notwendig wahr sind, können die doxa sowohl wahr als auch falsch sein. Sie erlauben uns die Bewältigung des Alltags, ihre Angemessenheit orientiert sich jedoch ausschließlich an pragmatischen Kriterien und nicht am Kriterium einer transzendentalen Wahrheit (Platon 1991: 514a-518b). Bei Kant begegnet uns die gleiche Unterscheidung im Begriffspaar intelligibel/sensibel, beziehungsweise der Differenzierung zwischen den Dingen an sich und ihren Erscheinungen, zwischen Noumenai (dem Gedachten) und Phainomena (Phänomenen). Anders als Platon aber verabschiedet sich Kant mit seiner „kopernikanischen Wende“
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von der Vorstellung eines verstandesmäßigen Zugriffs auf die Dinge an sich und definiert objektive Erkenntnis als Ergebnis eines Denk- oder Wahrnehmungsaktes, der das zu erkennende Objekt überhaupt erst konstituiert (Kant 1904: 145). Nicht unsere Erkenntnis soll sich also nach den Gegenständen richten, sondern umgekehrt die Gegenstände nach unserer Erkenntnis (ebd.: 11f.). Der Zugang zur Welt der Dinge an sich ist dem Menschen dabei am Ende verwehrt. Kants Noumenai bleiben bestenfalls „Grenzbegriffe“ (Eisler 1904), die genau jenen Bereich reiner Erkenntnis markieren, der über die sinnliche Wahrnehmung nicht erreicht werden kann. „Da wir aber keine von unseren Verstandesbegriffen darauf anwenden können, so bleibt diese Vorstellung doch für uns leer und dient zu nichts, als die Grenzen unserer sinnlichen Erkenntniß zu bezeichnen und einen Raum übrig zu lassen, den wir weder durch mögliche Erfahrung, noch durch den reinen Verstand ausfüllen können.“ (Kant 1904: 231)
Wie findet sich dieser Gedanke bei Lévi-Strauss wieder? Lévi-Strauss selbst hat seine theoretische Position in Anlehnung an eine Kritik seiner Arbeit durch Paul Ricoeur (1963: 24) mehrfach als „Kantianismus ohne transzendentales Subjekt“ bezeichnet (1971: 25; 1973: 117). Die Formulierung wirkt auf den ersten Blick verstörend. Seit Kant sind wir daran gewöhnt, jede Erkenntnis von einem „ich denke“ begleitet aufzufassen. Tatsächlich aber gibt es gute Gründe, die zentrale Rolle des Subjekts bei der Schaffung von Bedeutung gerade nicht unhinterfragt als Apriori zu setzen. In einem Vortrag über den Platz der japanischen Kultur in der Welt beschreibt Lévi-Strauss Ende der 1980er Jahr die Idee des Subjekts im östlichen Denken als „zentripetal“ (Lévi-Strauss 2012: 47). Das Subjekt wird also keineswegs (wie manche westliche Interpreten behaupten) pauschal verneint, es wird lediglich von der Ursache aller Erkenntnis zu deren Resultat (ebd.). Dem Sensiblen kommt dabei weiterhin die Rolle eines Vermittlers von Sinn zu, zugleich aber ist es auch konstitutiv für das wahrnehmende Subjekt selbst. Mit Cassirer ließe sich hier von „symbolischer Prägnanz“ sprechen, von einer
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Transparenz des Sinnlichen auf einen unanschaulichen Sinnkomplex (Cassirer 2004: 260) – oder eben von der gleichermaßen strukturierten wie strukturierenden Qualität der Struktur (structura structurata und structura structurans). Über diesen Kunstgriff gelingt es Lévi-Strauss in seiner Analyse südamerikanischer Mythen unter kulinarischen Aspekten nicht nur, eine gemeinsame Struktur vermeintlich disparater Oberflächenphänomene zu isolieren, en passant bewerkstelligt er dabei auch noch eine Versöhnung der unterschiedlichen Programme von Phänomenologie und Strukturalismus.
B ASTLER UND I NGENIEURE : D IE W ISSENSCHAFT VOM K ONKRETEN Lévi-Strauss hat sich seit Beginn der 1960er Jahre mit der Frage beschäftigt, wie der Mensch seine Umwelt kognitiv fasst. Unterteilen und Klassifizieren beschreibt er dabei als „erkenntnistheoretische Doppelfigur“ (Reinhardt 2011: 34), der sich der Mensch nicht entziehen kann. Im westlichen Denken konstatiert Lévi-Strauss dabei etwa im 17. Jahrhundert einen entscheidenden Bruch. Standen die Wissenschaften vorher im Zeichen der sinnlichen Qualitäten ihrer Gegenstände, rückten nun zunehmend objektive Faktoren wie die Stellung in einem taxonomischen System, die elektrische Leitfähigkeit oder das spezifische Gewicht in den Fokus. Zur Beschreibung dieser unterschiedlichen Näherungsweisen ergänzt Lévi-Strauss das kantsche Begriffspaar intelligibel/sensibel schon bald um den erheblich griffigeren Gegensatz zwischen Bastler (franz. bricoleur) und Ingenieur (Lévi-Strauss 1977: 29ff.). Anders als der Ingenieur, der Arbeitsmittel mit Blick auf ein konkretes Ziel entwirft, bedient sich der Bastler dabei der Dinge, die gerade zur Hand sind. Die Metapher lässt sich mühelos auf den Bereich der Küche übertragen: hier wäre der Ingenieur ein Koch, der ein Gericht von Grund auf konstruiert, um Tellerarrangements von möglichst hoher Komplexität zu erzeugen. Die Gerichte entstehen dabei gleichsam
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am Reißbrett. Die zu verwendenden Zutaten werden mit Blick auf die vordefinierten Ziele ausgewählt. Der Bastler hingegen nimmt, was gerade da ist. Saisonales Gemüse, Reste vom Vortag, Fisch, der gerade günstig im Angebot ist. Die auf diese Weise komponierten Gerichte brauchen denen des Ingenieurs an Komplexität und kombinatorischer Offenheit nicht notwendig nachstehen (auch wenn sie es – wie Jack Goody [1982: 98f., 105] in seiner kritischen Weiterentwicklung von Lévi-Strauss’ Ausführungen zur Kulinarik feststellt – de facto oft tun). Entscheidend ist vielmehr, dass beim Ingenieur der Weg vom Abstrakten zum Konkreten verläuft, beim Bastler verbleibt er innerhalb des Konkreten. Herausragende Eigenschaft des bastlerischen Denkens ist für Lévi-Strauss deshalb in erster Linie, „sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist, und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muss es sich ihrer bedienen, an welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat nichts Anderes zur Hand.“ (Lévi-Strauss 1977: 26)
Im Ergebnis steht durchaus Wissenschaft – jedoch keine der abstrakten Kategorien und Ideen, wie beim Ingenieur, sondern eine Wissenschaft vom Konkreten, oder aufs Kochen übertragen: eine Art kreativer Resteküche. Während der Ingenieur der Küche überlegt: Was brauche ich, um eine bestimmte kulinarische Wirkung zu erzielen?, fragt der Bastler: Was habe ich zum Kochen da? Der Vorteil einer solchen Wissenschaft des Konkreten liegt vor allem in ihrer Prägnanz. Tatsächlich zeigt der Blick auf die Klassifikationssysteme nicht-westlicher Gesellschaften, dass die zur Klassifizierung gewählten kategorialen Einheiten sich zu einem erheblichen Teil ihrer Anschaulichkeit zu verdanken scheinen. So konnte Lévi-Strauss bereits einige Jahre vor seiner Hinwendung zu Problemen der Mythologie am Beispiel des Totemismus zeigen, dass es bei der Auswahl von Totems keineswegs in erster Linie darum geht, innere Bezüge zwischen Totemgruppe und Totem herzustellen. Stattdessen werden dabei gesellschaftliche Verhältnisse im Tier- und Pflanzenreich abgebildet.
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In unserer Gesellschaft lässt sich das bei der Praxis der Gruppenbildung in Kindergärten gut beobachten. Es ist nicht nötig, die Kurzsichtigen in die Maulwurfgruppe zu stecken, Kinder mit großen Ohren zu den Hasen und die mit Masern zu den Marienkäfern. Die Einteilung kann willkürlich erfolgen, solange am Ende nur alle wissen, ob sie gehen oder bleiben sollen, wenn es heißt, „alle Häschen zum Spielplatz!“ Zurückgewandt auf den Totemismus, heißt das: die natürlichen Gattungen werden nicht gewählt, „weil sie ‚gut zu essen‘ sind, sondern weil sie ‚gut zu denken‘ sind.“ (Lévi-Strauss 1965: 116) Den Gedanken wird Lévi-Strauss in den Folgejahren intensiv weiterverfolgen. Das gesamte Projekt der vierbändigen Mythologiques stellt letztlich den Versuch dar, Projektionen abstrakter Vorstellungen auf konkret fassbare Gegenstände zu identifizieren und nachzuzeichnen. Schlecht zu denken wäre dabei beispielsweise der Gegensatz Natur/Kultur. Zu abstrakt die Kategorien, zu wenig greifbar, erzähltechnisch eine einzige Katastrophe. Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma besteht nun darin, die Kategorien über konkrete erzählerische Inhalte zu vermitteln, Inhalte, die eben „gut zu denken“ sind. Und als solche Inhalte wiederum bieten sich nicht zuletzt Nahrungsmittel und Zubereitungsarten an. Wie das konkret aussehen kann, spielt Lévi-Strauss im kulinarischen Dreieck durch. Er setzt darin drei verschiedene Zustände von Nahrung (roh, gekocht, verfault) in Beziehung zu drei Zubereitungsarten (Braten, Räuchern, Sieden) und zwei Medien der Transformation (Luft, Wasser). Dabei wird der Gegensatz zwischen Natur und Kultur auf verschiedenen Ebenen thematisiert, ohne dass er sich aber ein für allemal festschreiben ließe (Lévi-Strauss 1976: 525).
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Abbildung 1: Roh, gekocht, verfault: Nahrungszustände im kulinarischen Dreieck
Quelle: In Anlehnung an Lévi-Strauss (1976: 525)
Alle Eckpunkte des Dreiecks stellen dabei bereits Kulturalisierungen dar. Dass etwas roh ist, bedeutet also keineswegs, dass es sich einem präkulturellen oder natürlichen Bereich zuordnen ließe. Von Natur aus ist der Mensch bekanntlich auf keine bestimmte Nahrung festgelegt, sondern ein Allesfresser. Dieser omnivoren Grunddisposition werden jedoch in allen Gesellschaften mehr oder weniger rigide Beschränkungen auferlegt. Hunde und Katzen beispielsweise, Ratten, Meerschweinchen, Kanarienvögel und andere Menschen gelten (ungeachtet ihres Nährwerts) in vielen Gesellschaften als nicht essbar. Diese Beschränkungen folgen offensichtlich keinerlei natürlicher Notwendigkeit, sondern bilden bereits das Ergebnis kultureller Übereinkünfte. Lévi-Strauss selbst spricht denn auch in diesem Zusammenhang lediglich davon, dass der rohe Zustand einen „nicht ausgeprägten Pol“ bilde, der sich kontrastieren lasse zu den beiden „stark ausgeprägten“ Polen des Gekochten und Verfaulten (Lévi-Strauss 1976: 511). Um entscheiden zu können, ob ein Lebensmittel roh ist, genügt es entsprechend nicht, seinen Aggregatzustand zu betrachten, wichtig ist vielmehr, ob es kulturell codiert (franz. marqué) und verarbeitet (franz. élaboré) ist oder nicht. Wenn bei den drei Grundpositionen des Dreiecks der Gegensatz Natur/Kultur thematisiert wird, dann in der Unter-
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scheidung zwischen gekochter und verfaulter (beziehungsweise fermentierter) Nahrung. Hier findet sich der rohe Zustand transformiert durch entweder einen natürlichen Prozess (über das Zusammenspiel von Mikroorganismen und Zeit) oder einen kulturellen (Kochen). In beiden Fällen handelt es sich – ungeachtet des Komplexitätsgrads der involvierten Prozesse – um bewusst herbeigeführte Veränderungen (Reinhardt 2009: 51f.). Niemand wird bestreiten wollen, dass die Herstellung von Käse deutlich komplexer ist, als nur ein rohes Nahrungsmittel (die Milch) dem Wirken von Bakterien auszusetzen. Von der Auswahl der Bakterien über die Lagerung und das Festlegen der Reifedauer bis zur Bestimmung des richtigen Reifegrades haben wir es mit einer Vielzahl kultureller Akte zu tun. Die Natur, deren Wirken Lévi-Strauss hier beschreibt, ist also keine von Kultur unabhängige. Es ist vielmehr eine Abfolge natürlicher Prozesse innerhalb eines vom Menschen abgesteckten (kulturellen) Rahmens. Gleichwohl ist es zweifellos sinnvoll, die Ermöglichung natürlicher Transformationen terminologisch zu unterscheiden von Transformationen, die eher technischer Natur sind. Es kann nicht genug betont werden, dass Lévi-Strauss mit roh, gekocht und verfault nicht konkrete Zubereitungsarten von Nahrung meint, sondern sehr allgemein Positionierungen entlang einer Achse unverändert/verändert. Auf welchem Weg die jeweilige Position erreicht wird, ist auf dieser Ebene des kulinarischen Dreiecks unerheblich. Der Ausdruck gekocht bedeutet entsprechend nicht zwangsläufig eine „durch Temperatur- oder Säureeinwirkung strukturell veränderte Materie“ (Vilgis 2013: 112). Es bezeichnet lediglich die bewusste Umwandlung von roher Nahrung (franz. non élaboré) in verarbeitete (franz. élaboré) über den Einsatz kultureller Mittel. Salat beispielsweise wäre in dieser Sicht als gekocht zu bezeichnen, da er eine Reihe von Verfeinerungsverfahren durchläuft, bevor er auf dem Tisch landet (Putzen, Schneiden, Vermischen, Anmachen, etc.). Nicht zuletzt die Namenspraxis bei den zugehörigen Dressings (French, Italian, American, etc.) mag als zusätzliches Indiz für die starke Kulturalisierung dienen, die das Lebensmittel erfährt, bevor es verspeist wird.
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Z UBEREITUNGSARTEN : B RATEN , S IEDEN , R ÄUCHERN In analoger Weise verfährt Lévi-Strauss nun mit drei Zubereitungsarten, die er an die Pole seines Grunddreiecks arrangiert: Braten, Räuchern und Sieden. Wieder ignoriert er die etablierten Bedeutungen der Begriffe und baut sie von vier grundlegenden Unterscheidungen her neu auf. Diese Unterscheidungen betreffen die Mittel und technologischen Voraussetzungen der Zubereitung, den Abstand zwischen Hitzequelle und Speise sowie schließlich das Ergebnis der Transformation. Über diesen kleinen Merkmalskatalog lassen sich die drei genannten Zubereitungsarten systematisch voneinander trennen. So erfordert beispielsweise das Lévi-Strauss’sche Braten weit geringere technologische Voraussetzungen als das Räuchern oder Sieden. Beim Braten wird das Nahrungsmittel direkt mit der Hitzequelle in Kontakt gebracht. Konsequent zu Ende gedacht, brauchte es nicht einmal einen Stock, um das Bratgut in die Flamme zu halten. Man könnte es ebenso gut einfach für eine Weile ins Feuer werfen oder es mit heißer Asche bedecken. Es ist offensichtlich, dass dieses Braten wenig mit dem zu tun hat, was in Kochbüchern unter dem Stichwort verzeichnet ist. Eher entspricht es dem, was man konventionell als Backen, Grillen oder Flambieren bezeichnen würde. Verwirrend ist überdies, dass das Braten im kulinarischen Dreieck dem Rohen zugeordnet ist. Mit dem Molekularzustand nach der Zubereitung lässt sich das augenscheinlich nicht begründen. Die molekulare Struktur nach der Verarbeitung interessiert Lévi-Strauss aber auch gar nicht. Entscheidend für ihn ist vielmehr, was beim Braten nicht erforderlich ist. Es braucht keinen Abstand zwischen Flamme und Speise, es braucht weder Wasser noch Öl, es braucht kein Gefäß und keinen Räucherrost. Weitere Unterschiede zum Sieden und Räuchern bestehen im Grad der Durchgarung und in der Ökonomie der Zubereitungsart. Eine gleichmäßige Garung lässt sich beim Braten kaum erreichen. Ein Mythos der Wyandot-Indianer betont genau diesen Punkt:
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„Der Schöpfer ließ Feuer emporlodern und befahl dem ersten Menschen, ein Stück Fleisch auf einen Stock zu spießen und es zu braten. Doch der Mann war so unwissend, daß er es so lange im Feuer ließ, bis es auf einer Seite verkohlt war, während die andere roh blieb.“ (Lévi-Strauss 1976: 516)
Auch eine elaboriertere Brattechnik ändert nichts daran, dass das Braten stets mit einem gewissen Maß an Zerstörung des Bratguts einhergeht. Wegen der ihr innewohnenden Tendenz zur Verschwendung nennt Lévi-Strauss das Braten auch „aristokratisch“ – im Gegensatz zum sparsamen und „plebejischen“ Sieden oder Räuchern (LéviStrauss 1976: 519). Das Räuchern unterscheidet sich vom Braten oder Sieden einerseits durch die Distanz, die zwischen Hitzequelle und Speise gebracht werden muss, andererseits durch die große Widerstandsfähigkeit gegen Fäulnis, die das Endprodukt des Räucherprozesses auszeichnet. Dies ist auch der Grund, weshalb Lévi-Strauss in seinem kulinarischen Dreieck das Räuchern dem Kochen zuordnet. Die mikrobiologischen Prozesse, die für das Verfaulen (Fermentieren) charakteristisch sind und dieses tendenziell stärker in Richtung Natur rücken, werden durch das Räuchern nahezu zum Stillstand gebracht. Vom Sieden lässt sich das Räuchern darüber hinaus durch den Umgang mit den Mitteln der Nahrungszubereitung abgrenzen. Während die zum Sieden benutzten Töpfe in der Regel sorgsam gepflegt und bewahrt werden, wird der zum Räuchern genutzte Rost in zahlreichen Gesellschaften unmittelbar nach dem Gebrauch zerstört, damit sich das Tier nicht rächt und seinerseits den Jäger räuchert (LéviStrauss 1976: 522). Hier lässt sich eine erstaunlich symmetrische Beziehung erkennen zwischen dem Umgang mit der Nahrung einerseits und dem Umgang mit dem Kochgeschirr andererseits. Die Dauerhaftigkeit des Ergebnisses geht nämlich, wie es scheint, einher mit der die Zerstörung der Mittel und umgekehrt. Das Sieden als letzte Zubereitungsart schließlich unterscheidet sich vom Braten und Räuchern durch die Notwendigkeit eines zusätzlichen Mediums (Wasser). Um die semantische Nähe zum Verfaulen zu ver-
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...
Sparsamkeit
Kochgerät
Haltbarkeit
Endprodukt
Haltbarkeit
Nähe
Dauer
Durchgarung
deutlichen, verweist Lévi-Strauss auf Eintopfgerichte wie den französischen pot-pourri (wörtlich: verfaulter Topf) oder die spanische olla podrida (dto.), die beide im Namen die Erinnerung an die mikrobiologischen Prozesse bewahren, die den Gerichten ihren spezifischen Geschmack verleihen. Das Gesagte lässt sich systematisch in einer Tabelle zusammenführen, wobei für eine eindeutige Unterscheidung zwischen Braten, Räuchern und Sieden bereits die ersten drei Spalten völlig ausreichen. Die Tabelle kann aber nach Belieben um weitere Kriterien nach rechts erweitert werden (Reinhardt 2008: 57):
Braten
+
-
-
+/-
+/-
-
...
Sieden
+
-
+
+/-
+
+
...
Räuchern
-
+
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+
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Das Verfahren ist epistemologisch nicht ganz unproblematisch, denn die Kategorien, die die Unterteilung vorgeben, entstammen dem Französischen, und es wäre zweifellos übertrieben optimistisch zu glauben, sie fänden exakte Entsprechungen in den Sprachen der Gesellschaften, deren Mythen Lévi-Strauss analysiert (Goody 1982: 216ff.). Dies gilt umso mehr, als Lévi-Strauss selbst die französischen Ausdrücke oft und gerne bis an die Grenzen ihrer Semantik strapaziert. Die Ergebnisse sind entsprechend mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten. Dennoch treten bei der konsequenten Anwendung der Transformationsmatrix eine ganze Reihe von auffälligen Beziehungsmustern zutage.
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DER
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N ATUR UND K ULTUR : WECHSELNDE G RENZVERLÄUFE Eingepasst in das kulinarische Dreieck ermöglicht die Differenzierung nach Zubereitungsarten unterschiedliche Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur. Abhängig davon, welche Merkmale man zur Grundlage seiner Unterscheidung macht, kann die Grenze parallel zu jeder Seite des Grunddreiecks verlaufen. So findet sich mit Blick auf Durchgarung Geräuchertes und Gesottenes auf der Seite der Kultur, Gebratenes auf der der Natur. Hinsichtlich der Mittel wären Gebratenes und Geräuchertes der Natur zuzuordnen, Gesottenes der Kultur. Und in Bezug auf die Haltbarkeit gegen Fäulnis das Geräucherte der Kultur, Gesottenes und Gebratenes der Natur: Durchgarung
Mittel
Haltbarkeit
Braten
Natur
Natur
Natur
Räuchern
Kultur
Natur
Kultur
Sieden
Kultur
Kultur
Natur
Mit anderen Worten: Jeder der drei Eckpunkte des kulinarischen Dreiecks kann zu den beiden anderen auf eine Weise in eine differentielle Beziehung gebracht werden, die es deutlich von diesen abgrenzt. Entsprechend lässt sich das ursprüngliche kulinarische Dreieck erweitern (Reinhardt 2008: 58):
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Abbildung 2: Kulinarisches Dreieck nach Claude Lévi-Strauss
Quelle: In Anlehnung an Reinhardt (2008: 51)
Das so modifizierte Dreieck kann man durchaus als zutreffende graphische Darstellung der Zubereitungsarten bezeichnen. In erster Linie deshalb, weil sich nach Verabschiedung der alltagssprachlichen Semantik der Begriffe auch Techniken wie das Sous-Vide-Garen oder das Kalträuchern mühelos einpassen lassen. Es eröffnet aber darüber hinaus einen weiten Frageraum, der sich anhand der Kategorien des Dreiecks abstecken lässt. So wäre beispielsweise zu fragen, was in einer bestimmten Gesellschaft als roh, gekocht oder verfault gilt. Welche Nahrungsmittel können mit welchen anderen zu welchem Anlass kombiniert werden? (Zum Beispiel zählte im alten Frankreich das Gebratene eher zur „Exo-Küche“, die man Gästen vorsetzte, während die Familie mit dem Suppenhuhn vorliebnahm [Lévi-Strauss 1976: 517]). Welche Speisen sind eher männlich konnotiert, welche weiblich? In welcher Reihenfolge sind die Bestandteile eines Menüs aufzutragen und welche Abfolge von Zuständen lässt sich dabei beobachten? Lassen sich womöglich auf Basis einer kulinarischen Systematik und ihres
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DER
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Widerhalls in Mythen und Erzählungen Schlussfolgerungen auf das Weltbild der betroffenen Gesellschaft ziehen?4
K OCHEN
ALS ONTOLOGISCHE
P RAXIS
Philippe Descola, Schüler von Lévi-Strauss und dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Anthropologie am Collège de France, hat vor einigen Jahren einen großangelegten Versuch unternommen, das Verhältnis zwischen Menschen und Nichtmenschen zu systematisieren und dabei anhand zweier Merkmale und ihrer Kombinationsmöglichkeiten vier grundlegende Ontologien identifiziert (Descola 2011). Die beiden Achsen, um die sich die diese Ontologien gruppieren nennt er Physikalität und Interiorität. Menschen und Nichtmenschen können sich dabei zunächst auf physikalischer Ebene ähneln oder unterscheiden. Die westliche Moderne geht davon aus, dass Mensch und Natur letztlich über die gleiche physio-physikalische Basis verfügen: Sauerstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Calzium, etc. Andere Gesellschaften hingegen sehen hier fundamentale Unterschiede. Das gleiche gilt auf der Ebene der Interiorität oder Intentionalität. Hier gibt es Gesellschaften, die beides menschlichen wie nicht-menschlichen Kollektiven zugestehen; in unserer Gesellschaft hingegen gilt Intentionalität als exklusiv menschliches Merkmal. Die Systematisierung förderte erstaunliche Korrespondenzen zutage. So konnte Descola zeigen, dass über die von ihm beschriebenen Ontologien nicht nur theoretisch der Grundgegensatz Kultur/Natur verhandelt wird, sondern sie darüber hinaus eine Vielzahl empirisch beobachtbarer Praxen nach sich ziehen. Wenn also die Indianer Guayanas, wie Lévi-Strauss schreibt, den Räucherrost sofort nach Gebrauch zerstören müssen (Lévi-Strauss 1976: 522), dann mag sich das oberflächlich einem Wunsch nach Symmetrie verdanken. Auf einer tiefer liegenden Strukturebene aber
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Zu Mythologie und Kulinarik als semiotische Praxen siehe einführend Schahadat (2012).
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lässt es sich auch als Ausdruck eines ontologischen Perspektivismus lesen, innerhalb dessen sich beliebige Kollektive selbst als Menschen sehen und den anderen Akteuren ihrer natürlichen Umwelt Rollen als Tiere (Beute) oder Geister (räuberische Tiere) zuweisen. Der Mensch ist hier Mensch nur im Verständnis anderer Menschen. Wilden Tieren hingegen erscheint er als Tier (Beute), seinen Beutetieren als Räuber (Geist) (Descola 2011: 211). Die Beziehung zwischen Menschen und Nichtmenschen können in solchen Systemen in Termini der Verwandtschaft ausgedrückt werden, aber auch über ihre wechselseitigen kulinarischen Verschränkungen. Lévi-Strauss’ kulinarisches Dreieck erklärt hier auf den ersten Blick wenig. Weder beantwortet es die Frage, wer wo wen oder was warum isst und auf welche Weise die Nahrung zubereitet wird, noch löst es den Gegensatz Natur/Kultur in verbindlicher und allgemeingültiger Weise auf. Das will es aber auch gar nicht. Es will vielmehr zeigen, dass unter der scheinbaren Willkür kultureller Praktiken Strukturgesetze wirken, die es uns gerade nicht erlauben, nach Belieben a durch b und b durch c zu ersetzen (Lévi-Strauss 1971: 23). Es will zeigen, dass sowohl auf der Ebene der Selektion (was gilt als essbar?) als auch auf der der Produktion (Zubereitungsarten/Zustände) eine verborgene Ordnung waltet, die die empirisch beobachtbare Oberflächenpraxis reguliert. Ziel der doppelten Dreiteilung des kulinarischen Dreiecks ist damit am Ende die Schaffung eines Instrumentariums zur Analyse von Kultur. Denn wenn der Mensch Nahrung auswählt und zubereitet, tut er mehr als einfach nur Kochen, was ihm gerade in den Sinn kommt. Wir sind weit weniger frei in der Wahl unserer Zutaten und Mittel, als es uns scheinen mag. Nahrungszubereitung nämlich – das ist die wichtigste Lehre aus Lévi-Strauss’ Überlegungen zum kulinarischen Dreieck – ist mehr als nur ein willkürliches Zusammenwerfen von Zutaten, an deren Ende eine Suppe, ein Sauerbraten, frittierte Heuschrecken oder ein Trüffelpesto stehen. Es ist auch mehr als eine Tätigkeit, als deren Begleiterscheinung man die olfaktorische Marke einer Käsefabrik in der Normandie als wohlriechend oder miasmatisch empfindet. Es
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DER
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ist ein symbolischer Akt, und sein Ergebnis lautet Kultur. Ob die dabei vorgenommenen Kategorisierungen am Ende für sich in Anspruch nehmen können, mehr als nur kulturspezifische Unterteilungen zu sein, spielt dabei keine Rolle. Auf jeden Fall sind sie das, was Lévi-Strauss als Proprium der ontologischen Fassung der Welt ausgemacht hat: gut zu denken.
L ITERATUR Cassirer, Ernst (2004): Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie. In: Ders.: Aufsätze und kleine Schriften, 1927-1931. ECW 17. Hamburg: Meiner, S. 253-282. Descola, Philipp (2011): Jenseits von Natur und Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Eisler, Rudolf (1904): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Berlin: Mittler. Goody, Jack (1982): Cooking, Cuisine and Class. A Study in Comparative Sociology. Cambridge: Cambridge University Press. Hanson, Neil (1999): The Custom of the Sea. New York: Wiley & Sons. Ingensiep, Hans Werner (2007): „Der Mensch ist, was er isst“. Natur und Kultur der Ernährung aus anthropologischer Sicht. In: Unikate: Berichte aus Forschung und Lehre, Heft 30/2007: Essen im Blick. Ein interdisziplinärer Streifzug, S. 52-59. Kant, Immanuel (1904): Kritik der reinen Vernunft. Werke Bd. 3. Berlin: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Lemke, Harald (2004): Feuerbachs Stammtischthese oder Zum Ursprung des Satzes: „Der Mensch ist, was er isst“. In: Aufklärung und Kritik 1/2004, S. 117-140. Lévi-Strauss, Claude ([1962] 1965): Das Ende des Totemismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Lévi-Strauss, Claude (1965): Le Triangle Culinaire. In: L’Arc 26, S. 19-29.
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Functional Food Ernährung als fruchtbares Problem D ANIEL K OFAHL 1
E INLEITUNG Functional Food ist als Hinweis darauf zu verstehen, dass Essen und Trinken mittels einer funktionalistischen Methodologie rekonstruiert werden soll. Es geht um die Frage: Welche Funktion erfüllt Ernährung als kultur- und sozialwissenschaftlich interessantes Phänomen, unter Berücksichtigung der Daten, welche die Naturwissenschaften zur Verfügung stellen, aber auch jenen, die als indigenous knowledge in den Alltagskulturen nichtwissenschaftlicher Zusammenhänge erzeugt und verhandelt werden. Aus ethnosoziologischer Perspektive wird – wenn man sich die Forschungen und Theorien zu dieser Frage anschaut – in der Regel dazu geneigt, Ernährung als Stellvertretung für etwas Anderes zu beobachten. Ernährung dient der Distinktion, der Identitätskonstruktion, der ökonomischen Reproduktion und so weiter und so fort. Das ist alles nicht nur nicht falsch, sondern sogar richtig. Aber die hier getätig-
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Dr. Daniel Kofahl, Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur – APEK (APEK-Consult.de), [email protected]
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ten Überlegungen beschäftigen sich mit der Frage nach dem basalen ethnosoziologischen Letztelement, sozusagen des kulturellen Telos von Ernährung.
1. K ONSISTENTE W IDERSPRÜCHE INKONSISTENTER E RNÄHRUNG Die Gegenwartsgesellschaft kann man als globalisierte Weltgesellschaft beschreiben. Die Ernährung ist in dieser Weltgesellschaft bei allen Bestrebungen, Standardisierungen zu etablieren, von Diversifizierung, von Hybriden und auch von Widersprüchen gekennzeichnet. Nimmt man die Weltgesellschaft als Ausgangspunkt, sieht man nicht nur diverse Regionalküchen oder Verzehrriten in unterschiedlichsten Ausformungen, sondern auch unterschiedlichste Ernährungskulturprogramme, mit deren Axiomen gekoppelt Ernährung sich organisiert. Je nach Kulturprogrammaxiom entfaltet sich Ernährung primär an Gesundheit, an Wohlgeschmack, an Religiosität und weiterem mehr ausgerichtet. Diese Ernährungskulturprogramme können in sich selbst stimmig konzipiert sein. Aber was mit der Inanspruchnahme eines bestimmten Ernährungskulturprogramms (Gesundheitsprävention, sublimer Wohlgeschmack, sittliche Religiosität etc.), das dann auch hier und da beinhart durchgehalten wird, in sich sinnhaft und widerspruchsfrei sein kann, gerät, sobald es in Kontakt mit einem anderen Ernährungskulturprogramm kommt, allzu bald in die Bredouille der Widersprüche, wenn man bemerken muss, dass das Gesündeste leider selten das Leckerste und das Leckerste selten das religiös Sittlichste ist und so weiter und so fort.2
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Da dankt man es der in der katholischen Kirche institutionalisierten Mischung aus moralischer Elastizität, intellektuellem Witz und weltfremder Weltzugewandtheit, wenn sie es einem dank der Institution der Beichte ermöglicht, zumindest den Widerspruch von Genuss und Sittlichkeit prak-
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Schaut man sich die einzelnen Ernährungskulturprogramme genauer an, dann findet man dasselbe Prinzip der konsistenten Widersprüche selbstverständlich auch dort und zwar wieder binnendifferenziert und komplex. Ernährung in der Kopplung, mit einer Gesundheitsfunktion geht auseinander in Vollwert-, Vollkorn-, Paleo-Diäten, medizinischreduktionistische Ernährung und so weiter. Die am Wohlgeschmack sich orientierende Ernährung wiederum differenziert sich in Programme der Haute Cuisine, der Nouvelle Cuisine, Slow Food, Fast Food etc. aus. Und dass so manches Mal versucht worden ist, aufgrund widersprüchlicher religiöser Sittlichkeitsprogramme einen breiten Konsens in der Sache – und zwar auch in der Sache der Speiseordnung – dadurch zu finden, dass man die Köpfe Andersgläubiger einfach einschlägt, ist seit alters her bekannt. Einen globalen Konsens herzustellen, ist bislang nie gelungen. Im Gegenteil. Der Dissens ist mit der angestiegenen Komplexität sogar konstitutiv für die Weltgesellschaft geworden. Und er ist, wenngleich für manch einen furchtbar, vor allem fruchtbar. In einer Ernährungskultur der Ernährungskulturen und vor allem einer Ernährungskultur des Ernährungskulturkulturkontakts, sind die Vergleichs- und Differenzierungsmöglichkeiten perpetuiert worden, und damit auch die Möglichkeiten neue Identitäten zu erzeugen.3 Wie kann man nun jedoch, obwohl es sich um einen Pluralismus von Kulturen und unzählbar viele, höchst unterschiedliche Elemente in diesen Kulturen handelt, analytisch davon ausgehen, dass man es bei all dem was die Ernährungsethnosoziologie interessiert, all den Phänomenen, die man hierbei mit dem Terminus Ernährung bezeichnet, und die ja stets nicht nur aus einem molekularisierten Ding bestehen,
tisch händelbar zu machen. Der Protestant, so könnte man mit Weber sagen, muss sich dann leider auf den Standpunkt der Leistungsoptimierung durch Ernährung zurückziehen, um eine hierarchische Anordnung in eine an sich heterarchische Realität zu bekommen. 3
Was allerdings die (fruchtbare) Zerstörung von Identitäten ebenfalls nicht ausschließt.
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sondern die – tautologisch verstärkend gesagt – komplexe Komplexe darstellen, davon ausgehen, dass es sich trotzdem bei all dem um Gleiches, wenngleich verschiedenes Gleiches handelt? Wie kann man zu der Erkenntnis gelangen, dass es lohnt, all dies sinnvoll unter eine Prämisse zu packen und davon ausgehen, dass es sich lohnt, die Ungleichheiten zu vergleichen? Also: wie geht es sinnvoll vonstatten, dass wir Äpfel mit Birnen vergleichen? Beziehungsweise einerseits das Verspeisen der Knochen von Verstorbenen, wie es von den Yanomami im Amazonas praktiziert wird (Herzog-Schröder 2005), und andererseits das rituelle Trinken von Kaffee etwa vor einer akademischen Workshop-Unit.
2. D ER F ORMKALKÜL UND DIE F ORM DER E RNÄHRUNG Die Form der Ernährung: Der methodologische Vorschlag auf diese Situation zu reagieren lautet, einen kybernetisch-paradoxen Telos4
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Das Letztelement, der Kern der Ernährung, soll hier nicht als ein absolutes, eindimensionales Axiom verstanden werden, aus dem sich dann alles Weitere an Praxis und Denken irgendwie konsequent monologisch ableiten ließe. Der Kern selbst, der hier formtheoretisch dargestellt wird, ist in sich eine nicht-ausschließliche, mehrwertige Unterscheidung: das Essbare ist, ganz tautologisch, das Essbare und dieses bestimmt sich durch die Bestimmung des Nicht-Essbaren – und umgekehrt. Dazu kommt das Faktum des Unterscheidens selbst. Die Unterscheidung selber ist ebenfalls ein (fallweise mehrwertiger) Wert. Es ergibt und zeigt sich eine lebendige Prozesshaftigkeit – durch den Vollzug ganz empirischer Operationen der Form der Ernährung im Weltgeschehen. Im Zeitverlauf existiert so eine dynamische Kommunikation der Ernährung, die immer wieder an sich selbst anschließt, sich selbst bestätigt oder modifiziert, und sich in einer ökologischen, nicht-kontrollierbaren Umwelt weiterentwickelt.
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(Baecker 2014) der Ernährung zu beobachten und als folgende Form zu beschreiben (Kofahl 2014): Abbildung 1: Die Form der Ernährung
Quelle: Eigene Darstellung (Kofahl 2014)
Bei dieser Gleichung handelt es sich um einen Formkalkül, der als Funktionsoperator fungiert. Er stellt in der Semantik qualitativer Mathematik eine radikale Form der Komplexitätsreduktion der kulinarischen Weltkomplexität dar. Und er ist deswegen praktikabel und methodologisch brauchbar – vielleicht sogar nötig –, weil mit ihm im Anschluss die Komplexität der ernährungswissenschaftlichen Weltbeobachtung auf eine universalistische, aber keineswegs totalitäre, Weise gesteigert werden kann. 2.1 Formtheorie – Zum technisch-logischen Aufbau des Formkalküls Der Formkalkül ist zunächst der Ausdruck einer differenztheoretischen Perspektive auf die Welt (Spencer-Brown 1997; Baecker 2007). Das heißt, jedes Phänomen in der Welt erhält und erfährt seine Identität nur über die Differenz zu anderen Phänomenen in der Welt, mindestens in Differenz zum Rest der Welt. (Abb. 2)
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Abbildung 2: Der basale Kalkül besteht aus zwei Linien und dann auch aus zwei Seiten. Der basale Kalkül differenziert mittels eines Haken A von Nicht-A (Ā). Der basale Kalkül ist hier umschlossen von einem re-entry-Haken.
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Baecker (2007)
Die eine Linie verläuft vertikal und stellt eine Unterscheidung da. Sie unterscheidet die Seite A von der Seite Nicht-A (Ā). Die andere Linie ist horizontal und stellt eine Bezeichnung dar. Sie bestimmt, auf welche der beiden Seiten Bezug genommen wird. In diesem Fall auf A. Unterscheidung und Bezeichnung werden in einer einzigen Operation vollzogen, das drückt der Kalkül durch seine Darstellungsart auch aus: er ist also ein Operator, der zwei synchrone Operationen in einem Vollzug anzeigt. Die Bezeichnung selbst kann wechseln. Es kann also auch Nicht-A bezeichnet werden, aber dafür ist eine neue Operation nötig und damit eine weitere Zeiteinheit. Zentral ist für die differenztheoretische Methodologie, dass A stets über die Negation von Nicht-A definiert ist.5
5
Ein ernährungsfremdes Beispiel: Was der Mensch ist, ist nicht aus sich selbst heraus klar. Was dem Menschen als Eigenschaften zugeschrieben wird – und was ihn dann auszeichnet –, das kann erst in der Differenz zu anderen Phänomenen beobachtet werden. So macht es einen Unterschied, ob man den Menschen von den Göttern unterscheidet – dann ist er fehlbar und sterblich –, von den Tieren – dann ist er auf einmal vernunftbegabt, oder vernunftgeplagt, je nachdem – oder ob man ihn von Maschinen unterscheidet – dann zeigt er vielleicht Gefühle oder ist lebendig (Baecker 2007: 62).
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Den binär, aber paradox codierten Kern, kann man um Kontexte erweitern. Deshalb kann drumherum ein re-entry-Haken gezogen werden, der auf den Wiedereintritt der Unterscheidung in sich selbst hinweist. Kybernetisch wird der Kalkül dadurch, dass er Resultate hervorbringt, auf die dann wieder nach eigenen Kriterien selbstreferentiell reagiert wird. Der Kalkül ist zwar in sich geschlossen, aber er ist nicht autark. Er befindet sich in einer Umwelt beziehungsweise in einer Mitwelt, von der er sich zwar abgrenzt, für deren Irritationen er aber, nach eigenen Maßstäben, fremdreferentiell sensibel ist. 2.2 Die Form der Ernährung Der Kern der Form der Ernährung, ihre spezifische Differenz, ist die Unterscheidung von essbar und nicht-essbar. Die Gesellschaft organisiert mit Hilfe dieser Differenz, was als essbar gilt und was als nichtessbar eingeordnet wird. Dabei sind die Ergebnisse keineswegs ahistorisch oder akontigent und auch nicht kausal auf Materialität rückgebunden. Was einst als essbar galt, kann heute als nicht-essbar bezeichnet werden und morgen schon wieder eine Premiumkost sein. Wichtig für die Analyse ist, dass was als essbar gilt, immer im Lichte der Unterscheidung zu dem, was als nicht-essbar gilt, beobachtet werden muss. Wo es nichts gibt, was nicht irgendwie nicht-essbar wäre, oder wo es nichts mehr gibt was essbar ist, gibt es auch kein soziokulturelles Phänomen von Ernährung, sondern höchstens noch höchste Not oder keine soziokulturell relevante Existenz mehr. Zieht man nun den re-entry-Haken um die Differenz, lässt das Essbare also beispielsweise auf Seiten des Nicht-Essbaren wiedereintreten, so kann man sich damit den Phänomenen von Ernährungstabus oder von Diät- und Kostregimen nähern. Etwas, das aus diversen Gründen anderweitig durchaus als verzehrbar gelten kann oder konnte – Schweinefleisch, XXL-Fast-Food-Menüs, Blutsuppe und so weiter – wird aus, von der Ethnosoziologie zu rekonstruierenden Gründen, vom Speiseplan verbannt.
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Lässt man dagegen das Nicht-Essbare auf der Seite des Essbaren wiedereintreten (re-entry), so erlangt man eine Einsicht in die Konstruktion von Phänomenen wie pathologische Essstörungen oder in das lustvolle Durchbrechen von Normen und Regeln. Verzehrt werden kann prinzipiell alles: von Insekten, über die Knochen von Toten, Wachskerzen, Gammelfleischdöner und so weiter und so fort. Der Ausspruch „die Dosis macht das Gift“ gilt hier nur programmatisch begrenzt, denn es gibt kein totalitaristisches Naturgesetz, das Ernährung nicht auch gesundheitliche Schäden oder gar den Tod nach sich ziehen dürfte.6 Geht man von den differenztheoretischen Überlegungen aus dem Werk von Bronislaw Malinowskis „wissenschaftlicher Theorie der Kultur“ aus, die hier, wie alles an methodologischem Rüstzeug, eklektizistisch in Anspruch genommen werden soll, so lässt sich damit eine Unterteilung vornehmen, zwischen anthropologisch-universalistischen Grundbedürfnissen einerseits und den auf multiple Art und Weise hochgradig kontingenten Kulturreaktionen zu den jeweiligen Grundbedürfnissen andererseits (Malinowski 1949). Setzt man bei dieser Differenzierung an, so erzeugt und berücksichtigt man einen biosozialökologischen Komplex, in dem die Beobachtung und Beschreibung des organischen Körpers für die Ernährung(skultur), und die Kommunikation über sie, von einer besonderen funktionalen Grundsätzlichkeit ist.7
6
Wunderbar künstlerisch herausgearbeitet in dem Film Das große Fressen
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Die sozial- und kulturwissenschaftliche Berücksichtigung des Organismus,
von Marco Ferreri von 1973. des „Körpers“ beziehungsweise des „Leibs“ geht, wie Schroer feststellt, übrigens zumeist mit einer Öffnung der Disziplingrenzen zu anderen Disziplinen einher (2005: 12). Um eine genuine ethnosoziologische Ernährungswissenschaft zu plausibilisieren, dürfte es somit zweckdienlich sein, nicht nur die Binnengrenzen der Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern auch diejenigen zur Naturwissenschaft zu überqueren, wenn es nicht gar gleich Sinn macht, sie ganz einzureißen. „Das Entscheidende ist, daß die Gesellschaft dem Organismus Grenzen setzt – wie der Organismus der Ge-
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Die Ernährungskulturwissenschaft, zu der diejenige mit einer starken ethnosoziologischen Perspektive, neben vielen anderen mit anderem Fokus, dazu gezählt werden kann, bezieht sich dann wiederholt immer wieder auf das unbestritten soziokulturelle Konstrukt beziehungsweise die soziokulturellen Konstrukte der organischen Körper. Dabei handelt es sich um eine Systemreferenz, die von anderen Systemreferenzen, etwa dem Sozialen, also der Gesellschaft, oder den individuellen Psychen, unterschieden werden kann und als mit spezifischen Eigenlogiken ausgestattet beobachtet werden muss. Es wird gestoffwechselt, transpiriert, verdaut und so weiter. Auch die ethnosoziologische Ernährungskulturwissenschaft kann dann nicht darum herumkommen, etwas zum anthropologischen Grundbedürfnis des Stoffwechsels zu sagen. Allerdings nur so, wie dieses soziokulturell konstruiert wird, um sich anschließend beziehungsweise fortführend der Kulturreaktion auf dieses Grundbedürfnis, dem Ernährungswesen, hinwenden zu können (Malinowski 1949). Fraglos beschäftigen sich ernährungsethnosoziologische Perspektiven nicht primär mit den bio-chemisch-physikalischen Variablen und Modellen von Körpern und Stoffwechseln. In einer binnendifferenzierten, spezialisierten Wissenschaftslandschaft bleiben solche Beobachtungen immer mehr oder weniger dilettantisch. Aber ein professionalisierter Dilettantismus ist in diesem Falle immer noch professioneller als hilflose Ignoranz. Denn das bislang empirisch nicht falsifizierte Faktum, dass man zwar nicht genau weiß, was Menschen sind, dass sie aber auf jeden Fall – zumindest temporär – in fester ökologischer Kopplung mit organischen Körpern in Erscheinung treten, ist gegenwärtig schwerlich überzeugend zu negieren.
sellschaft.“ (Luckmann 1980: 193f., zitiert nach Schroer 2005: 18) Doch wie bekommt man einen „somatic turn“ hin, ohne den „cultural turn“ aufzugeben und ohne sich in einen „natural turn“ zu verlieren (Schroer 2005: 23)?
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Das Soziale, wozu auch das ethnologisch interessante Kulturelle8 gehört, ist freilich keineswegs aus Menschen aufgebaut – die Gesellschaft oder eine Kultur besitzt nicht eine abzählbare Anzahl von Füßen oder sie putzt sich nicht jeden Morgen x-Mal die Zähne und dann mal mehr oder weniger oft. Die Gesellschaft reproduziert sich nicht aus Menschen, sondern aus sozialen Operationen, genauer gesagt aus Kommunikationsoperationen (Luhmann 1987; Baecker 2007; Karafillidis 2010). Sie ist das Geflecht, das Netzwerk des Miteinanderin-Beziehung-tretens, des Zwischen-Menschlichen-9Kontakts. Aber soziale Operationen können sich nur in einer Umwelt beziehungsweise einer Mitwelt reproduzieren, mit der sie einen ökologischen Komplex (KEIN System10) bilden. Und zu diesem ökologischen Komplex gehören auch organische Körper, die zu dem etwas diffusen Phänomen der Menschen gerechnet werden (Luhmann 2005). Und bislang scheint es ein starkes Abhängigkeits- und evolutionäres Beeinflussungsverhältnis von organischen, anthropomorphen Körpern und sozialen Operationen, also Gesellschaft und auch Kultur, zu geben.
8
Hierbei handelt es sich um das Kulturelle und das Fremde, wobei die Methodologien der Ethnosoziologie es ermöglichen, auch das vermeintlich kulturell Bekannte fremd werden zu lassen. Diese professionalisiere Befremdung schafft den distanzierten Blick, der für die Forschung mindestens so wichtig ist, wie die Teilnahme (Stichwort Teilnehmende Beobachtung) oder gar Teilhabe am Erforschten.
9
Es steht hier menschlich, aber dies ist eigentlich bloß dem Wortspiel geschuldet. Man muss inzwischen eigentlich davon ausgehen, dass es auch andere Akteure, jenseits dem Menschen gibt, die durch ihr In-Beziehungtreten zwischen sich, eine Art Sozialität schaffen. Hierbei kann es sich um Tiere, Maschinen, Dinge, Ideen und mehr handeln.
10 Es gibt in der theoretischen Literatur ziemlich überzeugende Ausführungen, die definieren, was ein System ist und was nicht (siehe hierzu exemplarisch. Luhmann 1987 oder Baecker 2002). Um eine Inflation des Systembegriffs zu vermeiden, macht es Sinn, sich an diesen Definitionen zu orientieren, um Systeme und Nicht-Systeme zu identifizieren.
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Beide existieren in einer ökologischen Ko-Evolution. Und die Gesellschaft ist zwingend auf Irritationen von psychischen Systemen, also individuellen Psychen angewiesen, und Psychen treten nun einmal nicht ohne ihre organischen Körper auf das Parkett. 2.3 Gesellschaftskörper Man muss noch einmal kurz genauer auf die Körper zu sprechen kommen, um daran zu zeigen, dass der, für eine Beobachtungsform einer Ethnosoziologie der Ernährung letztlich relevanteste Kontext derjenige der Gesellschaft und ihrer Kultur der Kulturen und des Kulturkontakts ist. Ausgehend davon, dass ernährungsethnosoziologische Operationen beobachten, wie anderswo innerhalb der Gesellschaft über verkörperlichte Vorgänge kommuniziert wird,11 fällt es auf, dass organische Körper dabei als etwas beobachtet werden, das eine Reihe von Instabilitäten aufweisen kann. Körper gelten in vielerlei Hinsicht als störanfällig (krankheitsgefährdet), oder schlimmer noch, als sterblich. Neben Krankheiten, die Körper aufweisen, ist es unter anderem das Bedürfnis nach Nahrung, also Hunger und Durst, das wiederkehrend, ja noch viel mehr regelmäßig, auftritt. Dieses Bedürfnis des Organismus evoziert zweierlei, das für die ernährungsethnosoziologische Perspektive interessant ist. Zum einen führte es dazu, dass ganz besondere Ausprägungen von Sozialität, des Sozialen, ganz besondere Gesellschaft beziehungsweise, mit speziellem Bezug auf die historische Perspektive, Gesellschaften und mit ihr Kultur beziehungsweise Kulturen entstehen. Es kommt zu Sammel- und Jagdassoziationen und – und dies ist wirklich eine hochgradig produktive Katastrophe gewesen – zur Neolithischen Revoluti-
11 Die ethnosoziologischen Beobachtungen von Körpern sind schließlich auch ganz spezifische Kommunikation in der Gesellschaft, mit einer spezifischen Kulturtradition der ethnosoziologischen Wissenschaft, die ihre Beobachtungsphänomene auf eine ihnen eigene Art konstruieren.
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on. Synchron entstehen Agrar- und damit auch Tischgemeinschaften. Es entstehen ernährungsspezifische kommunikative Koordinationen, bei denen es unter anderem darum geht, die Ernährungssicherheit, Lebensmittelsicherheit und darauf folgend das Ernährungsverhalten mit Hilfe sozialer Operationen zu organisieren (Barlösius 2011, Hirschfelder 2001). Dass sich menschliche Organismen ernähren, scheint bislang zweifellos zwingend erforderlich, wie sie dies tut, ist jedoch keineswegs genetisch oder sonst irgendwie präformiert. Der menschliche Organismus ist vielmehr weitestgehend omnivor angelegt, dazu kommen die beschriebenen Möglichkeiten menschlicher Ernährung, sich unabhängig vom Überleben, Gründe zum Verzehr von Dingen zu geben. Somit ist das Ernährungswesen, welches sich um diesen polykontexturalen Pluralismus der Verzehrpraktiken herausgebildet hat, abhängig von soziokulturellen Konditionierungen unterschiedlichster Herkunft und Ausprägung, dem verfügbaren Angebot an Lebensmitteln und Speisen sowie ihrer Limitierung und, in weitaus geringerem Ausmaß, von individuellen Präferenzen der Essenden (Kofahl 2010). Zum anderen führt die Anfälligkeit der Körper für Hunger und Durst darüber hinaus dazu, dass die einmal entstandene, immer differenzierter und komplexer werdende Sozialität, die Gesellschaft, dadurch permanent der Gefahr ausgesetzt ist, dass es zu einer destruktiven Störung ihres zunehmend elaborierteren Organisationsablaufs kommt.12 Je komplexer die Gesellschaft entwickelt ist, gerade weil sie das Ernährungsproblem fruchtbar thematisiert, desto eher wird sie durch
12 Dieses einerseits-andererseits verweist darauf, dass sich nicht sagen lässt „zuerst war die Ernährungsorganisation, dann die Gesellschaft“ oder umgekehrt, sondern beides konditioniert sich gegenseitig. Erst wenn die Ernährungssicherheit gewährleistet ist sowie die Distinktionspraktiken des Kulinarischen gegeben sind, können die Formen des sozialen Zusammenlebens entstehen, welche die Voraussetzung für die Ernährungssicherheit und solche diffizile Unterscheidungs- und Identitätsspiele sind.
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Hunger, wie durch eine besonders lästige Krankheit, empfindlich gestört. Aber desto eher wird sie auch die Gefahr des Hungers in Risiken transformiert haben und zudem eine binnendifferenzierte Kultur herausgebildet haben, die das Problem der Ernährung als fruchtbares Problem zur Reproduktion nutzt. Das heißt, es muss nicht zwingend die Liebe sein, die durch Ernährung ausgedrückt wird. Ebenso drückt sich die Ernährung, in der Form der Liebe aus, oder im Recht, oder der Politik und so weiter. Ernährung ist nichts Vor- oder Nachgeordnetes, sondern sie ist einer der Hauptwidersprüche von Sozialität überhaupt und lässt sich mithin nicht verdrängen, sondern kehrt allzeit überall, wenngleich oftmals in transformierter, gekoppelter Art, wieder. Da in zahlreichen gesellschaftlichen Kontexten, erst recht in der hochmodernen Gegenwartsgesellschaft, lebensbedrohender, existentieller Hunger immer mehr in den Hintergrund rückt und vielmehr aus Appetit gegessen wird (Mennell 1988), kommt es zu temporären, operativen Kopplungen der Form der Ernährung mit anderen Formen13 der Gesellschaft, die sich, wie der Weltzustand überhaupt, in dieser Darstellung im unmarked state der Form der Ernährung befinden. Eine prominente binnendifferenzierte Unterscheidung ist die des Kulinarischen, welche die Differenz von wohlschmeckend und nichtwohlschmeckend organisiert (Kofahl 2010). Das heißt, statt auf Quantität oder Stoffwechselgesichtspunkte achten zu müssen, wird der Speiseplan stärker (oder primär) nach qualitativen gustatorischen Gesichtspunkten zusammengestellt.
S CHLUSSBEMERKUNG Eine soziale Form beobachtet und beschreibt Ereignisse durch das Prozessieren von spezifischen Unterscheidungen. Mittels der Unterscheidung von essbar versus nicht-essbar arbeitet die Gesellschaft an dem fruchtbaren Problem, die Welt in Bezug auf Ernährung zu thematisie-
13 Eben Liebe, Recht, Politik, Wirtschaft etc.
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ren. Die Gesellschaft entwickelt beständig programmatische Ernährungskulturen, die Schemata anbieten, wie Entscheidungen bezüglich Ernährung und damit Ernährung an sich gelingen beziehungsweise wie Ernährung scheitern kann. Ob Linsen oder Schokoeier essbar sind, liegt nicht in den Produkten selbst begründet und auch nicht im menschlichen Organismus, sondern in den Wechselwirkungen und Interdependenzen, die sich im programmatischen Geflecht der Ernährungskulturen entwickeln. Deren Identität speist sich selbst aus einer paradoxen Differenz, die es in der Ernährungsethnosoziologie zu beobachten und zu beschreiben gilt. Dies sollte methodologisch vonstatten gehen, das heißt, empirisch und theoretisch zugleich. Konkret muss es dann darum gehen sich anzuschauen, wie die jeweilige Identität einer Ernährungskultur von anderen Beobachtern in der Gesellschaft beobachtet, beschrieben wird. Also unterwelchen Rückgriffen auf welche Sensibilitäten für welche Irritationen und Störungen diese Identität entfaltet wird. Und dies wird sodann von in einem größeren ethnosoziologischen Bezugskontext eingeordnet.14
L ITERATUR Baecker, Dirk (2002): Wozu Systeme? Berlin: Kulturverlag Kadmos. Baecker, Dirk (2007): Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
14 Es gibt einen rationalistischen Bias, vielleicht sogar einen cartesianischen Bug, in der neuzeitlichen Epistemologie: „Descartes motto was I think, therefore I am - not I eat, drink, sleep and have sex, therefor I am. The human subject was to be found not in the body, but in the mind.“ (Corrigan 1997: 147, zitiert nach Schroer 2005: 12) Eine Wende bedeutet nicht, eine Renaturalisierung der Gesellschaftswissenschaften, sondern eine Perspektivenverschiebung dahingehend, sich anzuschauen, wie sich Soziales und Kulturelles in Körperlichkeiten beziehungsweise Leiblichkeiten (re-)produziert.
F UNCTIONAL F OOD | 279
Baecker, Dirk (2014): Neurosoziologie. Berlin: Suhrkamp. Barlösius, Eva (2011): Soziologie des Essens. Weinheim: Juventa. Herzog-Schröder, Gabriele (2005): Essen und gegessen werden. Die Yanomani des amazonischen Tieflandes. In: Franz Theo Gottwald und Lothar Kolmer (Hrsg.): Speiserituale. Essen, Trinken, Sakralität. Stuttgart: S. Hirzel, S. 91-108. Hirschfelder, Gunther (2001): Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt am Main: Campus. Karafillidis, Athanasios (2010): Soziale Formen. Fortführung eines soziologischen Programms. Bielefeld: transcript. Kofahl, Daniel (2010): Geschmacksfrage. Zur sozialen Konstruktion des Kulinarischen. Berlin: Kulturverlag Kadmos. Kofahl, Daniel (2014): Die Komplexität der Ernährung in der Gegenwartsgesellschaft. Kassel: Kassel University Press. Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2005): Die Soziologie und der Mensch. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Wiesbaden: VS Verlag. S. 252-261. Malinowski, Bronislaw ([1941] 1949): Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur. In: Ders.: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 45-170. Mennell, Stephen (1988): Die Kultivierung des Appetits. Die Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag. Schroer, Markus (2005): Einleitung. Zur Soziologie des Körpers. In: Ders. (Hrsg.): Soziologie des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7-47. Spencer-Brown, George (1997): Laws of Forms. Gesetze der Form. Leipzig: Bohmeier Verlag.
Drinking Skills Ethnopotologische Forschung und Praxis im Museum M AREILE F LITSCH , M AIKE P OWROZNIK , M ARTINA W ERNSDÖRFER 1
E INLEITUNG : E THNOPOTOLOGIE
IM
M USEUM
„Eine Geschichte der Oinologie oder Potologie würde es zeigen können, dass der Mensch in der unbewussten Pflege eines halb physischen halb geistigen Genusses an dieselben Gesetze gebunden ist, wie in der Befriedigung der höchsten Bedürfnisse seines strebenden Geistes.“ (Gervinus [1836] 1839: 166)
In seiner 1836 erschienenen Geschichte der Zechkunst machte der deutsche Historiker Georg Gottfried Gervinus (1805-1871) unter anderem Gepflogenheiten des Weingenusses und Trinkgedichte aus dem Orient und China zum Gegenstand seiner Betrachtung. Er wies darauf
1
Prof. Dr. Mareile Flitsch, Dr. Maike Powroznik, Dr. Martina Wernsdörfer, Völkerkundemuseum der Universität Zürich VMZ, [email protected], [email protected], [email protected]. Die Autorinnen danken dem wissenschaftlichen Team des VMZ sehr herzlich für Anmerkungen und Kommentare.
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hin, dass eine systematische Beschäftigung mit der Konstruktion von Trinkkultur aufgrund der universellen kulturellen, sozialen und religiösen Belegung des Trinkens und der Getränke Rückschlüsse auf materielle, sozial-ökonomische und weltanschauliche Ausrichtungen von menschlichen Gemeinschaften zulässt. Mit unserem Forschungs- und Ausstellungsprojekt drinking skills griffen wir sein eingangs zitiertes Anliegen nach einer Erforschung der ,Potologie‘ (lat. potare = trinken) auf und verorten uns damit in der Ethnopotologie. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gerieten potologische Themen in den Blick einer Ethnologie, die sich für das Trinken als Bestandteil von Bedeutungssystemen (Douglas 1987) über Alkoholismus (Heath 2000) bis hin zu Trinkkulturen (Castelain 1989, De Garine 2001, Obadia 2004) interessierte. Heute liegt aus diesem – auch als anthropology of drinks and drinking oder anthropologie du boire bezeichneten – Forschungsfeld umfangreiche Fachliteratur vor. Der Stand der Forschung wurde verschiedentlich, zuletzt im Annual Review of Anthropology (Dietler 2006), zusammengefasst. Innerhalb der Ethnopotologie legten wir mit unserem Projekt den Fokus auf technische, soziale und sprachliche Fertigkeiten, auf weltanschaulich-religiöse Vorstellungen und auf verinnerlichtes Körperwissen – skills (Ingold 2000), derer es für die Bereitstellung und den angemessenen Konsum von Getränken bedarf. Im Juni 2014 eröffneten wir am Völkerkundemuseum der Universität Zürich (VMZ) die Ausstellung Trinkkultur – Kultgetränk / Drinking Skills, in der wir ethnopotologische Fragestellungen mit dem Blick auf das Wissen und Können von Menschen durch Artefakte, einschließlich Bild, Ton und Sprache, vermittelten. Die Grundidee war, einen ausgewählten Bestand unserer Sammlungen so zu erschließen, dass Besuchende neben Informationen über Objekte und Sachzusammenhänge auch Einblick in die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Objekten erhielten. Jede Trinkkultur bildet sich in materieller Kultur ab, ob in Techniken und Werkzeugen zur Herstellung von Getränken oder aber in Trinkgefäßen aller Art. Mithin sind die Trinkkulturobjekte in ethnographischen Sammlungen wahre Puzzleteile, in deren Verbindung grö-
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ßere Zusammenhänge sichtbar werden. Da zudem die Getränke, denen sie sich zuordnen lassen, bis heute weiter getrunken und fast alle nach wie vor auch mit mehr oder weniger herkömmlichen Techniken hergestellt werden, lassen sich lange existierende Formen von lokalem Spezialwissen, das sich entlang der jeweiligen Wirtschafts- und Sozialgeschichte entwickelte, nachvollziehen: Wissen über Handgriffe, Arbeitsschritte, Arbeitsteilung, Zutaten und Mengen, Geräte und Werkzeuge; Wissen auch um den materiellen Zustand, die Konsistenz, die Gärung, um Fermentierungstechniken oder Geschmacksvarianten. In den Objekten finden sich Bezüge auf soziale Ordnungen, die eng mit der Herstellung und dem Genuss von Getränken, mit Regeln des Konsums, mit Gastfreundschaft und gemeinsamem Trinken – dem Gebrauch von Getränken als soziale Schmiermittel (Brown und Van Bolt 1980: 170) – verbunden sind. Manche der erkundeten Getränke verändern gar die Wahrnehmung und machen Konsumenten für andere Bereiche menschlicher Sinneseindrücke bereit, befördern Poesie, Musik und Philosophie. An den materiellen Objekten einer Trinkkultur lässt sich Gesellschaft nachvollziehen, und dies gerade dort, wo sich Menschen um ein Hauptgetränk herum organisieren, das eine Schlüsselrolle in ihrem Verständnis von Menschsein einnimmt.
D AS F ORSCHUNGSFELD E THNOPOTOLOGIE EINER SKILL -P ERSPEKTIVE
UNTER
Der französischen Ethnologin Claudine Fabre-Vassas verdanken wir die Formulierung eines Prinzips, das sich für die Kontextualisierung der Trinkkulturobjekte unserer Sammlung als richtungweisend erwies. Ausgehend von ihrer Feststellung, dass ganze Gesellschaften wie auch kleine Gruppen dazu tendieren, die Gesamtheit ihrer sozio-kulturellen Praktiken rund um ein Hauptgetränk zu organisieren (Fabre-Vassas 1989: 5), formulierten wir die Unterscheidung von mono- und multipotionischen Gesellschaften – das heißt solche, in denen ein Hauptge-
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tränk und solche, in denen verschiedene Getränke soziale Orientierung ermöglichen. Die Komplexität der Verwobenheit von Material, Materialität und Technik, Gesellschaft und weltanschaulicher Ausrichtung im Trinken, in der Produktion sowie im Konsum von Getränken bedeutet offenbar, dass wenigstens die überschaubaren Gesellschaften (engl. small-scale societies, Eriksen 2010: 2) das sensible Aushandeln von Ausdruck im Getränk über eine spezielle, sozial konstruierte Flüssigkeit und ihre angemessene Bereitstellung bevorzugen. Es stellt sich nun die Frage, was eigentlich skill bedeutet. Wir stützen uns mit Blick auf einen ethnologischen skill-Begriff hier – wiewohl die Debatte um eine Definition des Begriffs inzwischen sehr viel komplexer ist – der Überschaubarkeit halber auf den viel zitierten französischen Ethnologen François Sigaut. Er unterschied Wissen und skill: „[…] skills are not, or not simply, forms of knowledge. They cannot exist apart from permanent practice. They cannot be written down – at least not all of them – or transmitted by speech, as in classroom teaching. They owe their existence to the constant renewal in the course of practical action, […] the production of skills is inseparable from the production of material goods, and, consequently, the way societies organize themselves to produce – the Marxists’ ‚mode of production‘ – depends as much on the skills as on the goods to be produced. […] The problem, then, is to elucidate the relationship between the social units and the skills produced in them.“ (Sigaut 1994: 446-447)
Bringt man Produktion und Konsum betreffs Trinkkulturen nun mit der Frage der damit verbundenen skills der Akteure in einer Gruppe oder Gesellschaft zusammen, derer es bedarf, um adäquat zu produzieren und zu konsumieren, so begibt man sich mitten hinein in Fragen von Wissenserwerb und Wissenstradierung, von Ressourcenplanung, Vorratshaltung und Herstellung, von alltagsstrategischem Handeln, der Bewirtung von Gästen, der Erwartungen dieser an Gastgeber wie auch der Selbstpositionierung im Moment des Trinkens. Sichtbar werden solche drinking skills etwa im Trinken von Palmwein. Je nach Lokali-
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tät, vorhandenen Palmenarten, Status der Trinkenden und Art des Trinkanlasses, werden spezifische Sorten von Palmwein bereitgestellt und aus dazu passenden Gefäßen getrunken. Der Gebrauch der Gefäße und das Trinken werden mittels angemessener Körpersprache und Rhetorik zelebriert und gesellschaftliche Prozesse und Ordnungen als Trinkkultur sichtbar gemacht. Was Reisende mitunter als umständliche Rituale des Bewirtens beschrieben haben, stellt sich so betrachtet als Erlebnisberichte und Beobachtungen aus und über Trinkkulturen heraus. Geht man mit Tim Ingold (2000) davon aus, dass Menschen sich in ihren Alltagswelten bewusst fühlend, wahrnehmend und strategisch am Material handelnd bewegen, und geht man weiter davon aus, dass sie drinking skills erlernen, ausüben und in der Ausübung wiederum immer weiter verfeinern und tradieren, dann ist man mitten in der Ethnopotologie angelangt. Diese sollte imstande sein, materielle Kultur, deren soziale Inszenierung wie auch die Repräsentation des sie betreffenden Wissens in Sprache, Terminologie und Text, in einer Zeit und Gemeinschaft zu erschließen. Eine solche skill-Perspektive lohnt sich in jedem Fall, um historische Phänomene wie Kolonialismus und Alkohol, Zeitphänomene des kulturellen Beharrens wie auch des Wandels, des Einsatzes beziehungsweise der Rolle von – meist alkoholischen – Getränken in Zeiten sozial-ökonomischer Transformation neu zu betrachten. Dies führt auch zu Themen wie Prohibitions- beziehungsweise Abstinenzbewegungen, transnationaler Handel, die Konstruktion von Ehrencodices über Alkoholkonsum2, Ethnozid und Alkoholismus, oder aber zu Fragen des Re-Etablierens von Gemeinschaft über den wiederhergestellten Zugang zu einem vorgängig etablierten Hauptgetränk mit Blick auf kompetente Akteure.
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Besonders beeindruckend und richtungweisend auch im Hinblick auf drinking skills sind bis heute in diesem Zusammenhang die Studien von Jean-Pierre Castelain (zusammengefasst in Castelain 1989) über die Rolle von Alkohol bei insularen Gemeinschaften in der französischen Bretagne.
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Aus einer skill-Perspektive betrachtet, lassen sich die vielen Informationen, welche die Literatur über Trinkkultur bietet, sowie Objekte, Trinklieder, soziale Gepflogenheiten und Ordnungen bis hin zu deren Repräsentation in Medien und deren Wissenstradierung in lokalen Trinkkulturen, zu Ethnographien menschlichen Handelns verdichten. Die folgenden Ausführungen über das Forschungs- und Ausstellungsprojekt am VMZ veranschaulichen den hohen kulturellen Stellenwert des Trinkens in ganz unterschiedlichen Gesellschaften. Das Museum wird dabei als eigener wissenschaftlicher Erkenntnisraum verstanden, in dem ethnologische Forschung ausgehend vom Objekt, spezifische Forschungsperspektiven, museale Textgenres wie auch diverse Vermittlungstechniken und Dialoge mit verschiedenen Akteuren zusammenwirken und wissenschaftliche Erkenntnisse generieren.3
D AS Z ÜRCHER AUSSTELLUNGSPROJEKT T RINKKULTUR – K ULTGETRÄNK „So faszinierend und kulturhistorisch bedeutsam sie sein mögen: Gärprozesse und Getränke haben im Museumsdepot nichts zu suchen. Deshalb ist auch in diesem Ausstellungsbereich, der mit ,ReisbierȀ überschrieben ist, kein Reisbier zu sehen (und schon gar nicht zu kosten); zu sehen sind Gefässe, die einst, bevor sie in unsere Sammlung gelangten, Reisbiere enthielten. Das sieht man ihnen nicht an. Dinge entstehen und bestehen nicht im leeren Raum: Sie werden benötigt, gemacht und benutzt, erworben und verschenkt, bedacht, kommentiert oder literarisch verwandelt. Der greifbare Gegenstand ist eingebunden in ein Geflecht von Sprache, von Stimmen. Diesen gilt es zu lauschen, auch lesend, sucht man zu verstehen, was die Getränke und Gefäße ihren Schöpfern wirklich bedeuten.“ (Einführungstext Reisbier, Thomas Kaiser 2014)
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In Anlehnung an Nicholas Thomas’ Beitrag Museum as Method (2010); siehe auch Thomas (2016: 65-137).
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Ein Museum verwahrt keine Getränke, wohl aber Gegenstände, mit deren Hilfe Getränke hergestellt, getrunken, gereicht, aufbewahrt und transportiert wurden. Geleitet vom Bemühen um ein Verständnis der Fertigkeiten von Angehörigen verschiedener Trinkkulturen, begab sich das Team des VMZ auf eine Forschung in die eigene Sammlung. Es zeigte sich rasch: Trinkgefäße stechen aus den Alltagsobjekten der Gesellschaften, welche in unserer Sammlung abgebildet sind, klar hervor, und alle regionalen Bestände ließen anhand der Objekte auf lokal unterschiedliche Hauptgetränke schließen. Die einzelnen Sammlungen hielten ausreichend Gerätschaften bereit, um die jeweilige Trinkkultur materiell, technisch und in ihrer historischen Entwicklung, gelegentlich sogar als mise en place-Ensemble rekonstruieren zu können. Die für die Ausstellung ausgewählten Getränke Sauermilch, Palmwein, Maniokbier, Kawa, Tee und Reisbier wiesen eine große und hierzulande meist unbekannte Vielschichtigkeit auf.4 Als Einstieg wählten wir deshalb ein gängiges Getränk, die Schweizer Alpenmilch. An diesem Beispiel verdeutlichten wir grundlegende Zusammenhänge einer Trinkkultur und führten eine wissenschaftliche Sortierung – Technik, Soziales, Weltanschauung – ein, die im Wesentlichen auf den Ethnologen André Leroi-Gourhan (1980) zurückgeht: Melkgeräusche wiesen auf technische Aspekte der Gewinnung von Milch hin. Spielzeugkühe, an denen Kinder in der Schweiz bis heute ein Kuh-Wissen erwerben, und hölzerne Tesseln als Vertragsobjekte, die Rechte und Pflichten zwischen den Bauern und der Alpgenossenschaft regelten, verdeutlichten Aspekte der sozialen Organisation rund um das Getränk. Und der gesungene Alpsegen hob die weltanschaulich-religiöse Ver-
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Die im folgenden skizzierten Themenkomplexe werden in der Begleitpublikation zur Ausstellung (Flitsch [Hrsg.] 2014) in Einzelbeiträgen im Detail besprochen: Sutter, Schweizer Alpenmilch; Flitsch/Kaufmann/von Niederhäusern, Palmwein; Powroznik/Duin/Duin, Maniokbier; Isler/ Haslwanter/Zierhofer, Kawa; Gagliardi/Laely/Schwere, Afrikanische Sauermilch; Wernsdörfer, Tee; Kaiser, Reisbier.
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wurzelung der alpinen Milchkultur hervor (Flitsch [Hrsg.] 2014: 2657). Aufgrund der enormen Komplexität der einzelnen Trinkkulturen, wurde in jedem der sechs Ausstellungsbereiche ein Schwerpunkt gesetzt, der auf eine Besonderheit hinwies: Im Bereich Palmwein wurden vor allem Kletter- und Schnitttechniken hervorgehoben. Das ,MelkenȀ der Palmen, also die Gewinnung des Palmsafts in meist großer Höhe, konnte dank moderner Videotechnik erstmals auch aus der Nähe mitverfolgt werden (ebd.: 158-199). Maniokbier wurde als ein Hauptgetränk indigener Gesellschaften im tropischen Südamerika vorgestellt. Es entfaltet seine wichtigste Wirkung vor allem im gemeinsamen Genuss unter Gleichgestellten und schafft so den Rahmen für soziale Begegnungen (ebd.: 96-129). Ein weiterer Teil der Ausstellung widmete sich Kawa, das in Ozeanien genossen wird. Anders als beim Maniokbier, lässt sich an einer Kawa-Trinkrunde die gesellschaftliche Hierarchie der Anwesenden ablesen. Mit der Ausrichtung der großen KawaSchale zum Gastgeber hin ist die Rangfolge für alle sichtbar markiert. Insofern spielt auch Kawa eine bedeutende soziale Rolle und repräsentiert die lokale gesellschaftliche Ordnung (ebd.: 130-157). Ähnliches gilt für die subsaharischen Sauermilchkulturen, deren gesellschaftliche Gefüge in der Milchproduktion und im Milchkonsum sichtbar werden. Im Unterschied zur schweizerischen Milchkühlkultur, nutzen die Rinder haltenden Gesellschaften südlich der Sahara die Wärme, um ihre Milch als Sauermilch oder Butter haltbar zu machen (ebd.: 58-95).5 In einem weiteren Bereich begegneten sich zwei asiatische TeeTrinkkulturen, der tibetische Buttertee und der japanische Matchatee, unter einem historischen Bogen. Thematisiert wurden insbesondere die Mobilität der Trinkenden, mithin auch das Teebereiten und Teetrinken
5
Aus diesem Ausstellungsteil ist das Folgeprojekt einer Museumskooperation zwischen dem Uganda National Museum in Kampala, dem Igongo Cultural Institute in Mbarara, Westuganda, und dem VMZ erwachsen: Points of Views – A Museum Cooperation between Switzerland and Uganda, das in drei teils gemeinsam kuratierte Ausstellungen münden wird.
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unterwegs, sowie das Wissen um die dafür erforderlichen Gerätschaften und Trinkgefäße, um deren bedachte Bereitstellung und Handhabe (ebd.: 200-237). Neben dem Tee in den unterschiedlichsten Variationen, ist das Reisbier eines der wesentlichen Getränke Asiens. Oft ist dem materiellen Objekt die Fülle der damit verbundenen Assoziationen und Aktivitäten seiner Hersteller nicht anzusehen. Am Beispiel von schmucklosen und für den schnellen Gebrauch hergestellten Trinkbechern der nordost-indischen Naga wurden diese Assoziationen mittels Liedtexten und Liedaufnahmen vermittelt, die so den buchstäblichen Ausklang der Ausstellung bildeten (ebd.: 238-272). Zu sehen waren in der Ausstellung neben den historischen Objekten auch zeitaktuelle Fotos, Filme und Filmclips. Ebenso schloss jeder Ausstellungsabschnitt mit Getränkesubstanzen in ihrer modernen Form ab, etwa mit Palmwein in der Flasche, industriell pulverisierten Kawawurzeln, Instantbeuteln mit getrocknetem Butterteekonzentrat oder Sauermilch im Tetra Pak aus dem Kühlregal, wodurch ein Bogen zur Gegenwart geschlagen wurde. Ein Medienguide diente als Recherchetool, und eine von Studierenden konzipierte KostBar bot interessierten Besuchern Gelegenheit, außerhalb der Ausstellung Gesehenes mit Degustieren zu verbinden. Im Anschluss an diese konzeptionelle Zusammenschau wird nun die Beschäftigung mit konkreten empirischen Inhalten an drei aus der Ausstellung ausgewählten emblematischen Getränken – Palmwein und Maniokbier (zwei alkoholische Getränke, bei denen das Fermentierungswissen eine zentrale Rolle spielt) sowie Buttertee (das nicht alkoholische Hauptgetränk der Gesellschaften in den hochgelegenen Regionen des Himalaya, an dem sich Gemeinschaft in alter und neuer Form ablesen lässt) – vertieft. Dabei werden bewusst Schwerpunkte gesetzt, um Besonderheiten der jeweiligen Trinkkultur sichtbar zu machen.6
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Die Abschnitte zu Palmwein, Maniokbier und Buttertee stützen sich auf die ausführlichen ethnopotologischen Darstellungen in der Publikation zur Ausstellung (Flitsch [Hrsg.] 2014: 158-199, 96-129, 200-237).
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P ALMWEIN : Ü BER B EZÜGE ZWISCHEN P RODUKTION UND K ONSUM EINES P HLOEMSAFTES Im Standard-Nachschlagewerk für Palmengewächse, Genera Palmarum (Dransfield 2008), werden 2600 Arten aus den Tropen und Subtropen aufgezählt. Von diesen daumengroßen bis etliche Meter hochwachsenden Arten werden nur einige hundert genutzt, um aus ihrem Siebröhren- oder Phloemsaft Sirup zu kochen, Palmzucker zu gewinnen, Palmschnaps zu brennen oder Palmwein zu fermentieren. Die Bandbreite der Nutzung ist lokal unterschiedlich, wenig dokumentiert und kaum erforscht. Geleitet von Fragen nach Palmenwissen und dessen Tradieren/Erlernen, nach dem Besitz von Palmen und dem Handel mit Palmsaft oder -wein, nach dem sozialen Status und der Identität der Palmsaftzapfer und deren Widerspiegelung in ihrer materiellen Kultur, nach Arbeitsteilung, Kletter- und Zapftechniken sowie Werkzeugen, nach Fermentierungswissen, der Bedeutung von Alkohol in der jeweiligen Gesellschaft insgesamt und Palmwein im Speziellen, oder nach industriell hergestelltem Palmwein, lässt sich das Bild eigentlicher Palmweinkulturen konturieren. Gleich fächern sich die tropischsubtropischen Regionen in Palmweinkulturen auf, die sich kaleidoskopähnlich zu immer neuen Produzenten- und Konsumentengemeinschaften zusammenfügen. Gut erforscht sind die Palmweinkulturen Süd- und Südostasiens sowie Afrikas.
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Abbildung 1: Szenen aus dem Daumenkino ‚Palmwein‘
Quelle: Gezeichnet von Daniel Müller 2014.
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Einige sozial-technische Herausforderungen stellen sich allen Palmweinkulturen. Darin liegt der Kern der erforderlichen und entwickelten skills7. Für die Vorbereitung und Bereitstellung des Getränks sind Palmenpflege und Saftgewinnung, Fermentation oder das Unterbinden derselben unter tropischen Temperaturbedingungen, gegebenenfalls durch Haltbarkeit diktierte Zeitregimes, Techniken zur Verlängerung der Haltbarkeit und natürlich die soziale Konstruktion von Palmwein selbst von großer Bedeutung: Wer stellt für wen welche Qualität von Palmwein her, wem steht aus Gründen von Status, Gastrecht oder anderen Faktoren welche Qualität von Palmwein zu? Soziale Qualitäten von Palmwein werden etwa in den äquatorialen Waldregionen Afrikas definiert, wo die Ehre des Mannes unter anderem an seine Kunst der Palmweingewinnung in seinem eigenen Palmenhain geknüpft ist und sich darstellt in seinem statusgemäß kostbaren Trinkgefäß (zum Beispiel den berühmten Doppelbechern der Suku) mit dem dazugehörigen Habitus des speziellen Nutzens dieses Gefäßes im Moment des Trinkens (Bourgeois 1978: 76). In Indien begegnet uns eine Palmweinkultur bei der Kaste der Palmsaftzapfer, Nadar (von den Historikern Robert L. Hardgrave [1969] und Dennis Templeman [1996] meisterhaft beschrieben), deren Männer mit wenig Mitteln und kargem, bedacht gewähltem Werkzeug körperlich geübt und geschickt ihrer Arbeit nachgehen. Sie zapfen den Palmsaft für wenig Lohn im Dienst von Palmenbesitzern oder als Pächter von Palmen. Den mit natürlich vorkommenden Hefen oder Fermenten vergorenen Saft bieten sie unmittelbar nach dem Ernten als Wein für einen geringen Betrag am Wegesrand in kurzlebigen, aus Blättern gefalteten Trinkgefäßen feil. Oder sie liefern den Palmwein als billigen, oft dann schon stark vergorenen Alkohol an Palmweinkneipen am Straßenrand, die bei den Wohlanständigen Naserümpfen und bei Prohibitionisten immer wieder starke Ablehnung hervorrufen.
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Die skills der Palmsaftzapfer sind übrigens noch nicht annähernd erschöpfend erforscht. Schon die Klettertechniken wären eine eigene Monographie wert.
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Wie nebensächlich und doch den gesamten Alltag durchdringend wird Palmwein in Sumatra, in prägnant gestalteten, zylinderförmigen Behältnissen aus Bambus verwahrt und transportiert, aus einem Loch im Gefäß in hohem Bogen zielgenau in den Mund gegossen und prägt so den Habitus des Trinkens. Beeindruckend ist auch das Beispiel der von dem australischen Wirtschaftsethnologen James Fox in seinem Buch und Film Harvest of the Palm (1977) beschriebenen Bewohnern und behänden Palmenkletterern der indonesischen Insel Roti, die in dem Ruf stehen, sich als einzige Gemeinschaft der Welt ausschließlich von einer Flüssigkeit, nämlich Palmsirup zu ernähren. Hier geht es in der Tat um eine bislang in der Literatur kaum wahrgenommene Innovation. Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass das unmittelbare Verkochen des Saftes zu Sirup und Palmzucker hier zum einen die Fermentierung verhindert. Zum anderen wird der so durch Sterilisierung haltbargemachte Phloemsaft transportabel und kann darüber hinaus jederzeit nach Bedarf und sozialem Anlass unter Hinzufügung von Hefe zur Herstellung von Palmwein oder gar zum Brennen von hochprozentigem Alkohol verwendet werden. Die ethnologische Beschäftigung mit Palmweinkulturen schließt Strategien und Techniken in allen Produktionsschritten mit ein. Die Techniken sind eng mit der jeweiligen Gesellschaft, ihren technischen und sozialen Möglichkeiten und längerfristigen Zielen, aber auch mit verfügbarer Expertise verbunden. Geradezu simpel erscheint das Zapfen an kleineren Palmen, zum Beispiel in Myanmar. Hier wird der Saft mittels eines einfachen Anschnitts und des Herunterbiegens des Blütenstandes in einen Auffangbehälter hinein gewonnen. An hohen Palmen dagegen werden die Schnittstellen sorgfältig mit einem scharfen Messer angelegt, wird die Spatha zeit- und kraftökonomisch gezielt vorbereitet. All dies muss an Palmen erlernt und tradiert werden, die man saisonal nutzt, die man auf diesen Nutzen hin pflegen und kennen muss und bisweilen sogar mit Nutztieren wie Bienen teilt. Wenn ethnopotologisch Interessierte dann die kommentierten Übersetzungen der Aufzeichnungen von Uli Kozok (2000) lesen, die dokumentieren, wie bei den Toba Batak auf Sumatra der Palmsaftzapfer in seelischen
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Notlagen am Fuß einer Palme dem Palmengeist – gedacht als der Geist einer Frau, die sich in einer Notlage für ihre Brüder opferte und zur Palme wurde – in einem Klagelied sein Schicksal beweint, wird klar: Das Palmenwissen der Tropenregionen bietet für die Ethnopotologie noch viel Raum für interessante Forschungen. Dabei sollten die oft von Frauen bewirtschafteten und durch den Zugang zu Kühlschränken beförderten Palmwein-Verkaufsstände und die darin gepflegten Kneipenkulturen nicht vergessen werden. So wie in Indien findet man sie auch an der afrikanischen Westküste, wo pasteurisierter Palmwein in Flaschen zur Begleitung samtweicher Palmweinmusik genossen wird. Noch ganz unerforscht scheint die – offenbar mit sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen verbundene – moderne Plantagengewinnung von Palmwein zum Beispiel in Sri Lanka oder den Philippinen zu sein. Nicht erforscht wurde bisher auch das rezente Phänomen industriell hergestellten und in Flaschen vertriebenen Palmweins mit wohlklingenden Markennamen wie La belle Africaine oder Mekong Palm Sparkling. Dieses geht offenbar auf eine neu entwickelte Technik des Pasteurisierens von Palmwein zurück. Hier finden sich Ansatzpunkte für Forschungen zur aktuell stattfindenden Transformation der Palmweinkulturen der Welt. Industriell haltbar gemachte Palmweine erleichtern, in ausländischen Lebensmittelläden hierzulande wie überall im Westen erhältlich, jenen Migranten in der Diaspora das Leben, denen Palmwein als soul drink ihrer Heimat nicht fehlen darf. Sie erübrigen das individuelle Hantieren mit Hefe, Palmzucker, Glasflasche und Luftballon. Hiermit verweisen wir nebenbei auch auf das Phänomen, dass, wie wir im Verlauf unserer Forschungen feststellen durften, Angehörige von Trinkkulturen in den Herkunftsländern wie in der Diaspora die Produktion oder aber den Konsum von Getränken immer wieder im Netz inszenieren. Sie stellen auf YouTube und anderen Internetportalen die skills, derer es bedarf, um etwa Palmwein zeitgemäß korrekt herzustellen und zu konsumieren, vor und halten damit Migranten und Herkunftsgesellschaften auf dem Laufenden über Tricks und Tipps oder Neuerungen aller Art.
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Viele Themen sind in der ethnologischen Erforschung von Palmweinkulturen bis heute offen. So wäre es zum Beispiel an der Zeit, angesichts von Palmensterben, industrieller Palmweinproduktion, beschleunigter Transformation des Alltags, Vertreter von verschiedenen Palmweinkulturen an einer Konferenz zusammen zu bringen, zum Austausch über die Pflege und Kultivierung von Palmen, über Strategien zum Erhalt gefährdeter Pflanzungen, über technische Weichenstellungen wie die Einführung des Kühlschranks und deren Folgen sowie über ihre Ideen von einer Zukunft ihres Palmenwissens.
M ANIOKBIER : E IN L EBENSELIXIER UND S PEICHEL
DANK
G IFT
Maniokbier, das bereits seit dem ersten Kontakt mit Europäern in Schrift und Illustration dokumentierte Hauptgetränk Amazoniens (etwa Staden 1557) – einer weitläufigen Region mit mehr als 200 indigenen Gesellschaften8, erwies sich im Zuge der Vorbereitungen für die Ausstellung in vielen Fragen als unzureichend erforscht. Zunächst offenbart die Literatur ein geradezu stereotypes Narrativ über Maniokbier. Einerseits berichten so gut wie alle Reisenden in den vergangenen 500 Jahren von Maniokbier und dass sie dieses meist auch zu trinken angehalten waren. Andererseits erschöpfen sich ihre Berichte in der allgemeinen Beschreibung der Herstellung des Bieres durch Einspeichelung, in dessen Aussehen und in dem meist als unangenehm empfundenen Geschmack sowie in der Allgegenwärtigkeit und dem ausgiebigen Bierkonsum durch die Einheimischen (etwa Caspar 1952). Nicht selten werden Erkrankungen während der Reise auf den Genuss von Maniokbier zurückgeführt. Nur wenige ethnologische Publikationen des 20. Jahrhunderts gehen dem Maniokbier tiefer auf den Grund.
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Bis auf sehr wenige Ausnahmen wie etwa jene im Alto Xingu, erkennen sich die Indigenen im Amazonasgebiet im Trinken von Maniokbier.
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Abbildung 2: Szenen aus dem Daumenkino ‚Maniokbier‘
Quelle: Gezeichnet von Daniel Müller 2014.
Maniok ist zunächst einmal das Grundnahrungsmittel im Amazonasgebiet schlechthin. Wie andernorts auch zu beobachten – man denke etwa an Mais, Reis oder Hirse – wird hier ein stärkehaltiges Grundnahrungsmittel zu einem Getränk verarbeitet. Dabei ist die Maniokbierproduktion zum einen neben dem Rösten oder Trocknen eine Form des Haltbarmachens von Maniok. Dieser muss innerhalb von zwölf Stunden nach der Ernte zu einem Nahrungsprodukt verarbeitet werden, da er ansonsten nicht mehr genießbar ist. Zum anderen wird das Bier als eine Genussvariante zu geröstetem Maniokmehl und Maniokfladen verstanden und trägt zur Abwechslung in der täglichen Kost bei. Auch wenn der Prozess der Bewirtschaftung des Maniokgartens bis hin zur Bierherstellung, welcher den Frauen obliegt, mit viel Arbeit verbunden ist, so sind dies doch auch wesentliche Bereiche, in denen gerade die Frauen ihre technischen und sozialen Fertigkeiten entfalten können. Ein auf umfassendem Pflanzenwissen basierender, sortenreicher Maniokgarten liefert eine sichere Ernte und ermöglicht den erforderlichen und angestrebten Spielraum für die Herstellung von unterschiedlichen Maniokbieren (Brown und Van Bolt 1980, Rival 2007). Die Herstellung und mancherorts auch das Ausschenken des Bieres liegen ausschließlich in den Händen der Frauen (etwa Descola 2011). Die Männer wiederum sind darauf angewiesen und erwarten, dass diese jederzeit möglichst gutes Bier in genügenden Mengen zur Verfügung stellen, das sie gemeinsam mit anderen trinken können (etwa Killick 2009). Die oftmals mit besonderer technischer Sorgfalt und in Bezugnahme auf Maniok und Bier betreffende mythische Topoi und Vorstellungen hergestellten Biertöpfe und Trinkschalen sind der mate-
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rielle Ausdruck der gewichtigen Rolle des Maniokbiers (belegt etwa bei Illius 1987, Whitten 1976; siehe auch Brown und Van Bolt 1980, Duin 2012, Schoepf 1998). Darin, dass sich bei diesem amazonischen Getränk so viel Bedeutsames – Grundnahrung, technische skills, gender, Gastfreundschaft, Kosmologie und sogar ein Körpersaft – mischt, scheint genau sein Wert zu liegen: Das Trinken von Maniokbier macht den Trinkenden zu einem Teil seiner Gesellschaft. Die Ethnologen Michael F. Brown und Margaret L. Van Bolt beschrieben Maniokbier als „social lubricant“ (1980: 170) und wiesen damit auf seine herausragende soziale Bedeutung hin. Doch was genau macht die Substanz dieses Bieres zu einem sozialen Schmiermittel? Die Maniokbierproduktion ist die Kür der Maniokverarbeitung, denn sie bedingt den Vorgang der Fermentation, die unsichtbare Verwandlung einer Grundsubstanz, die schließlich zu schäumendem Bier mit einer Art eigenem Leben erweckt wird (Bianchi 1982; siehe auch Katz 2012). Die Fermentation durch Einspeichelung – das heißt hier die Umwandlung der im Maniok enthaltenen Stärke in Zucker, der für den Gärprozess benötigt wird, mittels der Enzyme im Speichel durch Kauen des Manioks – ist eine der drei bekannten Fermentationstechniken weltweit (Bücheler 1934: 32). Die Variationsmöglichkeiten in der Wahl der verfügbaren Zutaten, im Geschmack und in der Konsistenz, scheinen dabei schier unendlich. Für den feinen Unterschied sorgt dabei zudem die Wirkweise der unterschiedlichen Zusammensetzung des Speichels einer Herstellerin, der in ihrer individuellen körperlichen Fähigkeit, Stärke aufzuschließen und in Zucker umzuwandeln, begründet ist. Auch dies beeinflusst die Qualität, den Alkoholgehalt und den Geschmack des Bieres. Der soziale Status einer Frau misst sich also nicht zuletzt an ihren komplexen Kompetenzen in der Bierherstellung. Dass dabei ihr Bier auch die Begegnung zwischen den Trinkenden beeinflussen und sich so auf den sozialen Status des Ehemannes wie auch auf ihre Beziehung untereinander auswirken kann, steht außer Frage. Und natürlich bietet all dies der Bierherstellerin auch ein ganzes Repertoire an Möglichkeiten, den Alkoholgehalt eines Bieres und damit die körperlichen Folgen des Biergenusses zu beeinflussen. Vom
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Maniokbier wird erwartet, wie etwa der Ethnologe Renzo S. Duin (2009), der seit bald 20 Jahren mit und bei den Wayana in Suriname forscht, bemerkte, dass es eine bestimmte Wirkung in der Begegnung der Trinkenden entfaltet. Es soll sie in einen geselligen Zustand versetzen, damit eine gewünschte soziale Transaktion – etwa Verhandlung, Tausch, Initiation – gelingen möge. Ein übermäßiger Alkoholrausch wird dabei als nicht zielführend angesehen und ist deshalb auch nicht erwünscht, ebenso wenig wie die Schwächung des Körpers – im Gegenteil: Maniokbier soll den Körper stärken, arbeits- und entschlussfähig werden lassen (etwa Uzendoski 2004). Und hier kommt am Ende, ohne dass die Trinkenden sich dessen vermutlich bewusst sind, wiederum dem Speichel-Austausch eine zentrale Rolle zu: Die Technik der Ensalivation bewirkt offenbar auch, dass sich ganze Gesellschaften gegen bestimmte Krankheiten gleich mit immunisieren.9 Es dürfte zu einem wesentlichen Teil dem Kontakt mit Europäern geschuldet sein, dass das Einspeicheln heute auch unter den Indigenen als primitiv angesehen wird.10 Ihre Entscheidung, auf den Zusatz des mit den Europäern vor Ort verfügbar gewordenen Zuckers umzusteigen, hat jedoch schwerwiegende Folgen wie Karies und Diabetes und führt zu einer Schwächung des Körpers. Angebotenes Bier abzulehnen ist, so berichten Ethnologen, der schlimmste Verstoß gegen die Regeln amazonischer Gastfreundschaft. Bei großen Festen kamen und kommen Mitglieder unterschiedlicher Gemeinschaften oft von weither zusammen und sie bringen ihre eigenen Maniokbiere zum allgemeinen Genuss mit (Duin 2012). In jedem
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Dies ist eine Erkenntnis, die wir einer Besuchergruppe von Biochemikern verdanken.
10 Diese Haltung gegenüber den verschiedensten Alltagstechniken jenseits der westlichen Industrienationen findet sich zum Teil bis heute. Wir ermöglichten den Museumsbesuchern aus diesem Grund die Durchführung eines einfachen chemischen Speicheltests, um die positive Wirkweise ihrer eigenen Körperflüssigkeit zu erleben sowie einen möglichen Ekel vor dem Spucken und die Perspektive auf die Anderen als ,Primitive‘ zu überwinden.
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Fall sind die Anwesenden angehalten zu trinken. Sie müssen sich dabei vertrauensvoll darauf verlassen können, dass die Biere fachgerecht entgiftet wurden. Die Giftigkeit der meisten Maniokarten ist ein Thema, das seltsamerweise in seiner Konsequenz in der Fachliteratur wenig mitgedacht wird. Wenn westlichen Reisenden schon bei der Vorstellung, eine eingespeichelte, mit Wasser angerührte Substanz zu trinken, übel wurde und wird, so bedenken sie kaum, dass die Maniokpflanze zunächst einmal vor allem eines ist: tödlich giftig. Maniok enthält, in unterschiedlichen Konzentrationen, cyanogene Glucoside, aus denen Blausäure freigesetzt werden kann. Erfolgt die Entgiftung nicht sachgerecht, reichen die Folgen von starker Übelkeit bis hin zum Tod. Diese eine Dimension – die Handhabe giftiger Stoffe (siehe auch Soentgen und Hilbert 2012), das akkurate respektive im Negativfall nicht akkurate Entgiften, die Bedeutung von Vertrauen im Griff zu dem von einer fremden Frau hergestellten Bier oder der in der Gastlichkeit besonders zentrale Aspekt des Biertausches – eröffnet viele neue Fragestellungen.
B UTTERTEE : V OM MANUELLEN T EEMISCHZYLINDER ÜBER DEN ELEKTRISCHEN M IXER ZUM INDUSTRIELLEN I NSTANTBEUTEL Ein Blick in die Regale von Supermärkten etwa in Lhasa, der Hauptstadt des Autonomen Gebiets Tibet, macht deutlich: Der tibetische Buttertee, ein Gemisch aus Teesud, Salz, Butter und/oder Milch wird heutzutage nicht mehr nur im herkömmlichen Arbeitsgerät, einem einseitig geschlossenen röhrenförmigen Holzzylinder, durch das Auf- und Abbewegen eines Stößels hergestellt. Im Angebot stehen ebenso elektrische oder batteriebetriebene Mixer der Marke Yak Brand und mit pulverförmigem Butterteekonzentrat gefüllte Beutel in Multipackungen, duftend beschriftet mit the flavour of instant aus einheimischer Produktion. Angesichts dessen drängt sich die Frage nach den Zusammenhängen zwischen diesem modernen Nebeneinander von Waren und
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sozial-ökonomischen Transformationsprozessen innerhalb der tibetischen Gesellschaft einerseits, sowie nach Auswirkungen von arbeitserleichternden zeitsparenden Erfindungen wie Mixer oder Instantbeutel auf skills innerhalb der Buttertee-Trinkkultur andererseits auf. Abbildung 3: Szenen aus dem Daumenkino ‚Buttertee‘
Quelle: Gezeichnet von Daniel Müller 2014.
Der tibetische Buttertee besitzt auf Grund seines hohen Anteils an tierischem Fett und mineralhaltigem Salz ausgeprägte ernährende Eigenschaften und wird, auch deshalb, bis heute täglich in großen Mengen konsumiert. Er war und ist das Hauptgetränk der Bewohner des tibetischen Hochlandes und der umliegenden Himalayaregionen, deren Lebensstil bis in die jüngere Vergangenheit, in abgelegenen Regionen bis heute, durch Mobilität gekennzeichnet war. Namensgebend für dieses Mischgetränk sind in westlichen Sprachen seine hauptsächlichen Zutaten: Tee und Butter.11 Letztere wird bevorzugt aus der Milch von domestizierten Yaks gewonnen, die durch das Buttern haltbarer gemacht wird und in dieser festen Form überdies leichter zu transportieren ist. Die großen, oft abrupten Temperaturschwankungen im Hochland führen jedoch relativ rasch zu einer chemischen Veränderung des Butterfetts. Ohne Kühltechnik wirkt sich diese alsbald in einer Minderung des Geschmacks aus, welcher dann häufig als ranzig empfunden wird.
11 Auf Deutsch wird der bö-cha (tibetischer Tee) oder cha suba (gestampfter Tee) Buttertee genannt, auf Englisch butter tea und auf Französisch thé au beurre.
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Instantbeutel mit pulverisiertem Butterteekonzentrat scheinen hier eine in ihrer Bedeutung noch kaum erforschte Alternative darzustellen. Bis ins 21. Jahrhundert hinein wurden die Zutaten des Buttertees ausschließlich im erwähnten Mischzylinder zum trinkfertigen Getränk vermengt (zur Herstellung siehe Richtsfeld 2013: 48-53). Von diesem Kerngerät der Buttertee-Herstellung existieren bis heute zwei in Größe und Gewicht unterschiedliche Versionen: die Normalversion für den Gebrauch zu Hause und eine kleinere, leichtere Ausführung für den Gebrauch unterwegs – Ausdruck einer nomadisch geprägten mobilen Gesellschaft. Die Tätigkeit des Mischens oder Stampfens mit dem Stößel, die im häuslichen Alltag gewöhnlich der Frau, in den Klöstern den Novizen oblag, ist eine relativ zeitaufwendige, strenge körperliche Arbeit. Sie erfordert nicht nur Körpererfahrung, ein Gefühl für den Stampfrhythmus und Geschicklichkeit im Umgang mit dem Arbeitsgerät, sondern ebenso Wissen um Mengen, Proportionen und Geschmacksvorlieben, Kenntnis über das organische Verhalten der Zutaten zueinander und ein verinnerlichtes Bewusstsein für den richtigen Zeitpunkt des Abgießens der Brühe in die Teekanne. Während der Teebereitung gesungene Arbeitslieder halfen, den Rhythmus bei- und die Zeit einzuhalten. Da deren Inhalte häufig überlieferten Erzählungen entnommen sind und Passagen rund um den Buttertee enthalten, wurde in und mit ihnen auch kulturelles Wissen transportiert und damit ein zentrales Element von Trinkkulturen überhaupt. Solche die körperliche Leistung unterstützende Lieder erübrigen sich, wenn die Zutaten im Mixer per Knopfdruck zum Tee vermengt werden oder wenn dieser gar als Instantpulver, das nur noch mit heißem Wasser übergossen werden muss, verfügbar ist. Beide Errungenschaften sind mit Gewinn und Verlust verbunden. Sie führen einerseits zu einer Vereinfachung des familiären Alltags. Indem der Mixer mithin die Arbeit des Menschen übernimmt, wird der Körper entlastet. Gleichzeitig jedoch wandelt sich das einstige Handwerk der ButterteeHerstellung mit seinen aufeinander abgestimmten Handlungen und Bewegungen zu einem automatisierten, von der Maschine gesteuerten Funktionsablauf. Und dadurch, dass das Instantpulver, in dem bereits
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alle Ingredienzien des Buttertees enthalten sind, in wenigen Minuten als Getränk bereitsteht, wird nicht nur Zeit, sondern auch Wissen eingespart, denn für das Anrühren des Konzentrats in der Schale sind keine Kenntnisse betreffend Mengen und Proportionen mehr erforderlich. Es ist klar: Technische wie industrielle Innovationen bringen Veränderungen mit sich, und sie sind ihrerseits Ausdruck und Produkt von Veränderungen (siehe Dickersen et al. 2008). Automatische Mixer sind ohne elektrische Infrastruktur oder elektrotechnisches Zubehör wie Batterien nicht funktionstauglich, und für die Produktion von Instantpulver braucht es eine etablierte Lebensmittelindustrie mit speziellen Verfahrenstechniken. Beide benötigen überdies Vertriebskanäle und ein Abnehmerpublikum, damit sich die Herstellung lohnt. Im tibetischen Hochland waren die Voraussetzungen für diese Erzeugnisse einer technischen Moderne bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein nicht gegeben. Erst Maßnahmen im Kontext der staatlichen chinesischen Entwicklungspolitik, wie der Ausbau von Verkehrswegen und urbaner Infrastruktur, die Elektrifizierung der dichter besiedelten Regionen des weitläufigen Gebiets und die Errichtung von Industriebetrieben, schufen die dafür notwendige Grundlage. Und erst Verschiebungen in der Gesellschaft, eine sich abzeichnende Tendenz zu Urbanisierung und Teil-Sesshaftigkeit etwa, ließen eine Zielgruppe für Mixer und Instantpulver entstehen. Insbesondere Mixer, die eine Stromquelle benötigen, sind für die Buttertee-Herstellung unterwegs nicht geeignet. Und weder ihr im Vergleich zum Mischzylinder geringes Fassungsvermögen noch das in kleine Portionen abgepackte Instantpulver sind für größere Gruppen von Teetrinkenden, wie sie sich in der Vergangenheit zum Beispiel in den großen Klöstern täglich zusammenfanden, von praktischem Nutzen. Die Präsenz dieser Gegenstände in Ladenregalen ist demnach auch Zeichen und Folge sozialer Umschichtungen und neuer Bedürfnisse. Bedient werden kleine cluster oder individuelle Kunden, die eher sesshaft sind, an Orten mit elektrischer Versorgung leben und keine großen Mengen Buttertee herstellen. Skills, wie sie einst für die Bereitung des Buttertees unerlässlich waren, treten heute zurück hinter die
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sich im alltäglichen Trinken schwach abbildende säkulare Moderne. Und der Wunsch nach Teilhabe an dieser äußert sich offenbar im Erwerb und Konsum von Produkten, welche den Alltag transformieren und die körperliche Hausarbeit der Frauen allmählich freisetzen. In welchen Bereichen diese sozial anders genutzt wird, dies wäre ein weiteres spannendes Forschungsfeld der Ethnologie.
Z WISCHEN E THNOPOTOLOGIE , G ETRÄNKEHANDHABE UND V ERMITTLUNG – EIN F AZIT In vielen Gesellschaften scheint eine Unterscheidung zwischen ,sozialenȀ Getränken und ,DurstlöschernȀ wie beispielsweise Wasser gängig.12 Insgesamt wissen wir allerdings über Körperkonzepte, mithin Vorstellungen von Wirkweisen von Getränken, noch erstaunlich wenig. Kaum erforscht ist auch, dass in vielen Gesellschaften Kolonialismus, Globalisierung und Modernisierung lange Geschichten von Trink- und Getränkekulturen geschrieben haben, oder dass in mobilen Gesellschaften und Lebensstilen im Trinken gelegentlich gar Innovationsgeschichten sichtbar werden. Dass heutige Zeitgenossen überall auf der Welt mit Teebeuteln, Instantpulver, Stabmixern und vielem mehr das Trinken im Alltag gestalten, scheint die ethnologische Forschung bislang ebenfalls wenig zu interessieren. Das Museumsprojekt Trinkkultur – Kultgetränk / Drinking Skills bemühte sich, basierend auf einer Grundlagenforschung an der eigenen Sammlung, hier einen wissenschaftlich fundierten Beitrag mit praxisorientierter Ausrichtung zu leisten. Es veranschaulichte den hohen kul-
12 Mareile Flitsch hat im Zusammenhang mit dem Workshop Chase and Game am VMZ im September 2014 im Vortrag The Water Puzzle – Hunter Gatherers’ Drinking Skills die Erforschung der Frage der kulturellen Belegung von Wasser als Getränk begonnen.
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turellen Stellenwert von Getränken und des Trinkens in ganz unterschiedlichen Gesellschaften. Durch die genaue Betrachtung einzelner Trinkkulturen und der mit ihnen verbundenen Wissenswelten konnte sichtbar gemacht werden, wie vielfältig Menschen ihr Wissen und Können – ihre Körper und ihre skills – beim und für das Trinken einsetzen, wie erfinderisch sie mit Herausforderungen etwa von Umweltbedingungen oder globalen Entwicklungen umgehen, wie gekonnt und effizient sie die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen, wie geschickt sie die Getränke handhaben, wie rhetorisch eloquent sie Sprache einsetzen, um darüber zu sinnieren, und wie bewusst sie Neuerungen annehmen oder auch ablehnen. Das von Martina Wernsdörfer formulierte Phänomen einer sich „im alltäglichen Trinken schwach abbildenden säkularen Moderne“ hat nicht zuletzt auch unseren Blick für den sich offenbar ständig selbst erneuernden Wert unserer Sammlungen geschärft. Die im Rahmen der Ausstellung eingerichtete KostBar bot den Besuchern übrigens die Gelegenheit, alle sieben Getränke der Ausstellung in originaler Zubereitung zu degustieren und herauszufinden, ob etwa Palmwein im Glas „‚Kirchenfenster‘ bildet, wie man sie von gewissen klassischen Weinen her kennt“ (Flitsch [Hrsg.] 2014: 159); ob Maniokbier tatsächlich „braunes Zeug“ ist, „höchst unappetitlich“, wie Theodor Koch-Grünberg einst behauptete (1909: 65), oder eine Nuance von „Butter, Rahm, Kartoffelstampf, Zesten, Limettenabrieb und Melasse“ (Flitsch [Hrsg.] 2014: 97) besitzt; und ob Buttertee wirklich ranzig schmeckt oder wie „frischer Ricotta und weisse Mandeln“ (ebd.: 201).13 Abgesehen von sensorischen Fragen des Geschmacks von Maniokbier, der richtigen Trinktemperatur von Buttertee oder des einem Gast angemessenen Gärstadiums von Palmwein, beschäftigte uns auch die Frage der Vermittlung von Herstellungstechniken, mit denen wir uns
13 Die neuzeitlichen Charakterisierungen stammen von zwei professionellen Sommeliers, die sich darauf einließen, ihre geübten Gaumen am Geschmack ungewohnter Getränke zu erproben.
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bei der Zubereitung der Getränke für die KostBar selbst zu befassen hatten. Insbesondere die Technik der Einspeichelung zur Herstellung von Maniokbier, ein Forschungsfeld, das in der Ethnologie noch kaum erschlossen zu sein scheint, eröffnete interessante Erfahrungen. Ein von der Chemikerin Sabine L. Flitsch von der Universität Manchester entwickelter Speicheltest bot interessierten Besuchern einmalig Gelegenheit, den eigenen Speichel auf seine Enzyme zu testen und zu schauen, wie viel Zucker über das Kauen von Maniok individuell produziert werden kann. Die Probanden nahmen die Hürde des Tests mit Humor, oft hörten wir die Bemerkung zum Partner oder zur Partnerin, „Tja, ich bin offenbar süßer als Du“. Dass sie anschließend eher zu einer Verkostung von Maniokbier und damit zur Überschreitung einer kulturellen Grenze bereit waren, werteten wir als Vermittlungserfolg. Schließlich verdichtete der Illustrator Daniel Müller die Kernideen der sieben Trinkkultur-Komplexe der Ausstellung – so etwa die Klettertechnik zur Gewinnung von Palmwein (Abb. 1), das Fermentieren von Maniokbier durch Einspeichelung (Abb. 2), oder das Mischen des Buttertees aus Tee, Salz und Butter (Abb. 3) – in Daumenkinos. Diesen sind die Illustrationen zu diesem Beitrag entnommen. Die Daumenkinos erlaubten es den Besuchern, sich die in der Ausstellung präsentierten Trinkkulturen zu Hause spielerisch erneut zu vergegenwärtigen und die gewonnenen Erkenntnisse weiterzutragen.
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Autorinnen und Autoren
Adda, Ferdaouss, ist Ethnologin mit Forschungs- und Lehrschwerpunkten im Bereich Ernährungskultur, Museums- und Ausstellungsethnologie, Organisationsethnologie, Oralität sowie Migration. Regionale Forschungsschwerpunkte: unter anderem Nord- und Westafrika. Sie ist außerdem Mitbegründerin des Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur (APEK, www.apek-consult.de/). Baecker, Antje, ist Doktorandin am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig, wo sie zu Ernährung und Geschmack im Zusammenhang mit Körper- und Personenkonzeptionen in den peruanischen Anden promoviert. Vertraut mit der peruanischen Ernährungskultur und Küche ist sie durch mehrere langfristige Forschungsaufenthalte in Peru in den Jahren 1999-2000 und 2007-2008. Als gelernte Köchin bringt sie einen engen Praxisbezug in ihre wissenschaftliche Arbeit ein. Neben ihrer Promotion ist sie derzeit Tutorin für das museumsethnologische Modul Museum on the Couch am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig tätig. Auf der Grundlage ihres Interesses an die Verknüpfung von Geschmäckern und Düften beteiligte sie sich zuletzt an der Sonderausstellung Grassi invites# 2: dazwischen /in/ between (2016) des Grassimuseum in Leipzig mit der Installation Heimatdüfte. Flitsch, Mareile, ist Sinologin und Ethnologin. Sie studierte in Münster, Paris, Shenyang (VR China) und Berlin Sinologie und Ethno-
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logie. 1990 promovierte sie mit Der Ginsengkomplex in den Erzähltraditionen des Jiliner Changbai-Gebirges (1994), 2000 habilitierte sie sich mit Der Kang. Eine Studie zur materiellen Alltagskultur bäuerlicher Gehöfte in der Manjurei (2004). Mareile Flitsch leitete mehrere Forschungsprojekte, darunter Die materielle Kultur der Bauern Liaonings (Frei Universität Berlin, VW), Haus und Hof in der Manjurei (Frei Universität Berlin, DFG) und Geschichte und Ethnologie der Alltagstechniken Chinas (Technische Universität Berlin, VW). Seit 2008 hat sie einen Lehrstuhl für Ethnologie am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaften (ISEK) an der Universität Zürich und leitet das Völkerkundemuseum der Universität (VMZ). Fachlich ist Mareile Flitsch auf Technikethnologie (anthropology of skilled practice) und Ethnologie Chinas/Ostasiens spezialisiert. Aktuell forscht sie zu den Themen Körpertechniken, skills in migration, über Alltagstechniken von Frauen sowie über das Handwerk der Seladon-Porzellanmeister in Longquan, VR China. Holwitt, Pablo, ist Doktorand am Institut für Ethnologie der Universität Leipzig unter der Betreuung von Prof. Ursula Rao und Mitglied der Graduate School Global and Area Studies an der Universität Leipzig. In seinem Dissertationsprojekt untersucht er aktuelle Prozesse von Stadtumbau in Mumbai am Beispiel von chawl-redevelopment und damit verbundene neue räumliche Praktiken des Zusammenlebens und Veränderungen von Lebenswelten. Für dieses Projekt absolvierte er Feldforschungsaufenthalte in Mumbai in Kooperation mit der Universität Mumbai und dem Tata Institute of Social Sciences. Zuvor hatte er im Jahr 2011 ein Magisterstudium in den Fächern Ethnologie und Geschichte an der Universität Münster abgeschlossen. Seine Hauptforschungsinteressen umfassen die Themen Migration und Globalisierung, Stadtanthropologie und Anthropologie sinnlicher Wahrnehmung, sein regionaler Schwerpunkt liegt auf Südasien. Kofahl, Daniel, ist Ernährungssoziologe und Ernährungskulturwissenschaftler. Er leitet das Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur
A UTORINNEN
UND
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(APEK). Nach der Promotion über Die Komplexität der Ernährung in der Gegenwartsgesellschaf lehrte und forschte er an verschiedenen Universitäten. Derzeit ist er unter anderem Dozent an der Universität Wien und für die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), ist aber mit Themen rund um Ernährungskultur auch für Einrichtungen der freien Wirtschaft und gesellschaftliche Institutionen tätig. Seit Oktober 2013 ist er Sprecher der Arbeitsgruppe Kulinarische Ethnologie der Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA). Daniel Kofahl ist ausgebildeter und zertifizierter Multiplikator der Menschenrechtsorganisation FoodFirst Informations- und AktionsNetzwerks (FIAN). Weiterführende Informationen unter https://www. apek-consult.de/team/drdaniel-kofahl/. Kügle, Markus, ist seit Oktober 2016 Akademischer Mitarbeiter und Leiter des Medienzentrums an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Von 2014 bis 2016 war er Lecturer am Institut für Sprach-, Medien- und Musikwissenschaft der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn, in der Abteilung Medienwissenschaft. Im Jahre 2017 promovierte er am Institut für Medienwissenschaft der PhilippsUniversität Marburg mit seiner Arbeit zur Dokumentarisierung von Ernährung. In aller Kürze geht es dabei um die Frage, wie eine Kritik an Produkten der Lebensmittelindustrie bereits in den Bewegtbildern von dokumentarischen Formen vermittelt werden kann. Lasner, Tobias, Fischwirt und Soziologe, studierte an der PhilippsUniversität in Marburg Soziologie, Geschichte und Literatur. Selbst in einer Fischerfamilie im Landkreis Cuxhaven aufgewachsen, begab er sich nach dem Studium in die Lehre zum Seenfischer am Großen Plöner See in Schleswig-Holstein. Seitdem lassen ihn soziale und wirtschaftliche Fragen zum Forschungsfeld Fischerei und Fischzucht nicht mehr los. Am Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften der Universität Kassel in Witzenhausen promovierte Lasner zu ökologischen Neuerungen und Unternehmertum in der Aquakultur. Seine Promotion
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wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung gefördert und unter dem Titel Ecopreneurship in der Aquakultur – Die Übernahme umweltgerechter Innovationen im oekom Verlag 2013 veröffentlicht. Heute arbeitet Tobias Lasner als Sozialwissenschaftler am Thünen-Institut für Fischereiökologie in Hamburg/Bremerhaven. Seine zahlreichen Veröffentlichungen rücken immer wieder die Wirtschaftlichkeit des Sektors, die Krisen und die damit einhergehenden sozialen Anpassungsstrategien seiner Akteure in den Mittelpunkt seines Interesses. Er ist außerdem Mitbegründer des Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur (APEK, www.apek-consult.de/). Powroznik, Maike, ist Ethnologin. Sie studierte an der PhilippsUniversität Marburg Ethnologie und Kunstgeschichte. 2011 promovierte sie mit Ethnologie der flüchtigen Begegnung am Beispiel von Motorradtourismus und Gastfreundschaft in der Türkei (2012). Als Tutorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin sammelte sie museumsethnologische Erfahrung in der Völkerkundlichen Sammlung, Marburg. Ähnlich wie in Zürich ist dort das Lehren und Lernen an der Sammlung in das akademische Curriculum integriert. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin für die Amerika Sammlung am Völkerkundemuseum der Universität Zürich (VMZ). Fachlich ist sie auf Objekt-zentrierte Forschung mit dem Schwerpunkt auf Technikethnologie (anthropology of skilled practice) ausgerichtet. Aktuell forscht sie im Rahmen eines Ausstellungsprojektes an der Objektsammlung der Saamaka Maroons aus Suriname, die Heinrich Harrer 1966 dort zusammengetragen hat. Reiher, Cornelia, studierte Japanologie, Politikwissenschaft und Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und Berlin. Von 2004-2006 arbeitete sie als Koordinatorin für internationale Beziehungen in Arita (Präfektur Saga) in Japan. 2012 promovierte sie in Leipzig mit einer Arbeit zu lokalen Identitäten und ländlicher Revitalisierung in Japan. Von 2011 bis 2014 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft und Japanologie an der Martin-
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Luther-Universität Halle-Wittenberg tätig. Seit 2014 ist sie Juniorprofessorin für die Gesellschaft Japans an der Freien Universität Berlin. Cornelia Reiher forscht an der Schnittstelle von Food Studies und Science and Technology Studies. Ihr Interesse gilt insbesondere Japans Agrar- und Ernährungssystem, Japans ländlichen Räumen und Globalisierungsprozessen. Sie publizierte unter anderem zu Japans ländlichen Räumen und Lebensmittelsicherheit und ist Mitherausgeberin (mit Dr. Sarah Ruth Sippel) des Sammelbandes (2015) Umkämpftes Essen. Produktion, Handel und Konsum von Lebensmitteln in globalen Kontexten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weiterfühende informationen unter http://www.geas.fu-berlin.de/people/faculty/reiher.html. Reinhardt, Thomas, hat in Frankfurt und Basel Ethnologie, Germanistik und Romanistik studiert. Nach beruflichen Stationen in Frankfurt, Paderborn, Köln, New York, Paris und Nancy arbeitet er heute als Professor für Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Grenzgebiet von Ethnologie und Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte und Medienwissenschaft. Derzeit beschäftigt er sich mit der Bedeutung morphologischer Ansätze in der Geschichte der Ethnologie und Fragen der Phänomenologie und Epistemologie von Schatten. Monographien: Jenseits der Schrift (2000), Geschichte des Afrozentrismus (2007), Claude Lévi-Strauss zur Einführung (2008). (vollständige Publikationsliste: http://www.ethnologie.uni-muenchen.de). Schellhaas, Sebastian, studierte Ethnologie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt. Im Anschluss an seinen Studienabschluss kuratierte er die Veranstaltungsreihe The World in a Spoon (Oktober 2011-Juni 2012) am Weltkulturen Museum in Frankfurt am Main und editierte anschließend die Publikation Die Welt im Löffel. Kochen – Kunst – Kultur (Kerber 2012). Seit 2013 ist er Stipendiat am Graduiertenkolleg Wert und Äquivalent der Goethe-Universität, wo er derzeit an einer Dissertation zur indigenen Gastronomie in Kanada ar-
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beitet. Neben seiner akademischen Tätigkeit gehört er zum Kollektiv der Frankfurter Freitagsküche (freitagskueche.de). Schmidt, Mario, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Research Lab Transformations of Life der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities, Universität zu Köln. Seit 2010 forscht er in Westkenia unter anderem zum Wandel der Ernährungsgewohnheiten und zur kulturellen Einordnung von Geld. Weitere Schwerpunkte sind die Geschichte der französischen Ethnologie und Theorien der Gabe. von Poser, Anita, wurde 2009 im Fach Ethnologie an der Universität Heidelberg promoviert. 2010/2011 war sie Postdoctoral Fellow des Max Planck International Research Network on Aging mit institutioneller Verortung am Max Planck Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale. Seit 2011 lehrt sie am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin. Seit 2014 ist sie Fellow des Jungen ZiF am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Seit 2015 leitet sie ein anthropologischpsychiatrisches Teilprojekt im Sonderforschungsbereich 1171 Affective Societies und ist Mitherausgeberin der Schriftenreihe EmotionsKulturen / EmotionCultures (transcript). 2016 war sie zudem Fellow der Second UBIAS Intercontinental Academia on Human Dignity (Israel Institute for Advanced Studies, Hebrew University, Jerusalem / ZiF, Universität Bielefeld). Ihre theoretischen Interessen liegen im Bereich der Psychologischen Anthropologie. Zu ihren Publikationen zählen unter anderem Foodways and Empathy. Relatedness in a Ramu River Society, Papua New Guinea (2013, Berghahn) oder Care as Process (2017, Journal of Ethics and Social Welfare). Wernsdörfer, Martina, ist Sinologin. Sie studierte an der Universität Zürich (UZH), der Chenggong-Universität Tainan, Taiwan, und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 2006 promovierte sie zum Thema Experiment Tibet: Felder und Akteure auf dem Schachbrett der Bildung 1951-2003 (2008). Als Lehrbeauftragte (UZH), Projektmitar-
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beiterin (Autonomes Gebiet Tibet und Museum der Kulturen Basel), Übersetzerin Chinesisch-Deutsch (Abegg-Stiftung, Riggisberg) und Ausstellungsführerin (Museum Rietberg, Zürich) setzte sie sich mit Museumsethnologie und Vermittlung in Theorie und Praxis auseinander. Seit 2011 ist Martina Wernsdörfer Kuratorin für Süd-, Zentralund Ostasien am Völkerkundemuseum der Universität Zürich (VMZ). Fachlich ist sie auf materielle und immaterielle Kultur, Kunst- und Religionsethnologie sowie Textilien ausgerichtet. Aktuell forscht sie in Anlehnung an Nicholas Thomas’ Objekt-basierte Herangehensweise Museum as Method an den beiden im VMZ bewahrten TibetSammlungen von Heinrich Harrer und Peter Aufschnaiter.
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 À (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 À (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 À (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)
Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 À (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)
Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 À (DE), 978-3-8376-1709-2
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 À (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 À (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0
Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 À (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 À (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de