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German Pages [345] Year 2018
Neue Phänomenologie
Stefan Volke Steffen Kluck (Hg.)
Körperskandale Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit
VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495813744
.
B
NEUE PHÄNOMENOLOGIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Stefan Volke / Steffen Kluck (Eds.)
Body Scandals On the concept of the felt body Since the »emotional turn« in cultural studies at the beginning of the century, at the latest, Hermann Schmitz’ Phenomenology of the felt body is no longer an insider tip. The number of studies on the subject is virtually unlimited. This book attempts to take stock after almost half a century. It examines, in what way and in which context the categories of selfperception compiled by Schmitz have proven themselves. The texts examine the felt body in its interconnection with topics such as history, culture, person, gender as well as spheres of activity relating to bodily communication and testify that the project begun by Schmitz has been continuously added to and developed on by other sciences, far beyond the field of philosophy. The editors: Stefan Volke, born 1971, degree in German Linguistics, Philosophy and History at the universities of Rostock and Freiburg, PhD at FU Berlin, teacher of philosophy at a Hamburg grammar school. Steffen Kluck, born 1980, degree in Philosophy and German Studies, PhD at Rostock University, research associate since 2006 at the Institute for Philosophy at Rostock University.
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Stefan Volke / Steffen Kluck (Hg.)
Körperskandale Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit Spätestens seit dem »emotional turn« in den Kulturwissenschaften zu Anfang dieses Jahrhunderts ist die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz kein Geheimtipp mehr. Die Zahl der Studien, die sich mit ihr auseinandersetzen, ist heute kaum überschaubar. Der Band versucht nach knapp einem halben Jahrhundert Wirkungsgeschichte eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Er fragt, inwiefern und in welchen Kontexten sich die von Schmitz erarbeiteten Kategorien des eigenleiblichen Spürens bewährt haben. Die Beiträge erörtern die gespürte Leiblichkeit in ihrer Verflechtung mit Sachverhalten wie Geschichte, Kultur, Person, Geschlecht sowie als Aktionsfeld leiblicher Kommunikation und zeugen davon, dass das von Schmitz begonnene Projekt über die Philosophie hinaus auch von anderen Wissenschaften stetig ergänzt und weiterentwickelt wird. Die Herausgeber: Stefan Volke, geb. 1971, Studium der Germanistischen Sprachwissenschaft, Philosophie und Geschichte an den Universitäten Rostock und Freiburg, Promotion an der FU Berlin, Lehrer für Philosophie an einem Hamburger Gymnasium. Steffen Kluck, geb. 1980, Studium der Philosophie und Germanistik, ist seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock.
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Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 27
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Walter Burger Prof. Dr. phil. Michael Großheim Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Hasse Prof. Dr. phil. Hilge Landweer
https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Stefan Volke Steffen Kluck (Hg.)
Körperskandale Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Gefördert durch die Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48857-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81374-4
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Inhalt
Stefan Volke und Steffen Kluck Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
9
kontrovers
Kerstin Andermann Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Undine Eberlein Aspekte leiblicher Intersubjektivität
. . . . . . . . . . .
39
Jens Soentgen Probleme des Schmitz’schen Leibkonzeptes. Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
Gesa Lindemann Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
Thomas Fuchs Die Koextension von Leib und Körper. Von Phantomgliedern, Gummihänden und anderen Rätseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
7 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Inhalt
Ute Gahlings Leib ohne Geschlecht? Postgender aus phänomenologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
II. instruktiv Robert Gugutzer Leiblichkeit und Personalität in der Sportsucht . . . . . . 141 Isabella Marcinski Hunger, Schmerz, Ekel, Frieren: Leib und Körper in der Anorexie . . . . . . . . . . . . . 169 Christian Julmi und Ewald Scherm Burnout als leiblich-atmosphärische Störung . . . . . . . 193 Jan Slaby Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn. Bausteine einer phänomenologischen Gefühlstheorie . . 220 Christian Julmi und Ewald Scherm Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität . . 249
III. historisch Gudula Linck Gespürte Leiblichkeit. Annäherung an China mit Begriffen der Neuen Phänomenologie . . . . . . . . . . 277 Steffen Kammler Die Seele im Spiegel des Leibes . . . . . . . . . . . . . . 290 Hermann Schmitz Der Beitrag des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 331 8 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Stefan Volke und Steffen Kluck
Vorwort
Wie fühlen Sie sich? Ist Ihnen heute schon ein Stein vom Herzen gefallen? Sind sie vor Neugier vielleicht beinahe geplatzt? Mussten Sie schweren Herzens einen Entschluss fassen oder ging Ihnen gar das Herz auf? Obgleich diese Redensarten gemeinhin verstanden werden, erscheinen sie vor dem gängigen Vorstellungsbild des eigenen Körpers absurd. Natürlich droht gefühlsbedingt nichts vom Körper herabzufallen sowie auch niemand befürchten muss, bei starker Neugier tatsächlich zu zerbersten. Die ca. 300 Gramm Gewicht unseres Herzorgans bleiben bei schwankenden Gefühlslagen konstant und eine Herzöffnung ist allenfalls Sache der Gefäßchirurgie. Für ein Denken, das sich am Modell des sicht- und tastbaren Körpers orientiert, gerät diese Verflechtung von wortwörtlicher Absurdität und sinnvollem Sprachgebrauch notwendig zum »Skandal der Metapher« (Strub). 1 Die Redensarten verlieren indes rasch an semantischer Anstößigkeit, wenn ihnen Dimensionen eigenleiblichen Spürens unterlegt werden. 1965 unterbreitete Hermann Schmitz seine Ergebnisse der ersten systematischen Analyse der gespürten Leiblichkeit des Menschen. 2 Eine ganze Reihe von traditionell als Körper- oder Organempfindungen übergangenen bzw. nivellierten Erscheinungen entpuppte sich als Phänomenbezirk mit völlig eigenständiger Dynamik und Räumlichkeit. Die von Schmitz abgeleiteten Kategorien wie Enge, Weite, Spannung, Schwellung etc. ermöglich1
Vgl. Christian Strub: Kalkulierte Absurditäten, Freiburg/München 1991, S. 225. 2 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 1. Teil: Der Leib, Bonn 1965.
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Stefan Volke und Steffen Kluck
ten, leiblich gespürtes Befinden nun jenseits esoterischer Spekulation und verstiegener Sentimentalität begrifflich klarer zur Sprache zu bringen. Zugleich wurden Resonanzerfahrungen des Menschen – ob in der sinnlichen Wahrnehmung oder in sozialer Interaktion – deutlicher erkenn- und beschreibbar. Die theoretischen Grundlagen wurden geschaffen, den Menschen in seiner somatischen Existenz nicht nur als tätigen, fungierenden Leib oder schlichten Organismus zu thematisieren, sondern auch seine spürbare leibliche Affizierbarkeit als Homo respondens Ernst nehmen zu können. Mehr als 50 Jahre danach stellen Schmitz’ Unterscheidung von Leib und Körper und die Kategorientafel der Leiblichkeit zweifellos die wirkungsmächtigsten Ergebnisse seines philosophischen Gesamtwerkes dar. 3 Dabei ist von ihm die Erforschung dieses Feldes ursprünglich nur als Vehikel betrieben worden, und zwar für die Auslagerung der Gefühle aus dem Konzept einer mentalen Innenwelt, aus dem Bereich, den man früher als Seele bezeichnete. Im Ergebnis hat er ebenso eine theoretische Neuverortung von Erlebnissen wie Hunger, Schmerz, Angst, Müdigkeit, Juckreiz, Orgasmus und einer Reihe menschlicher Interaktionserfahrungen geleistet. Die Rezeption dieser Forschungsergebnisse vollzog sich allerdings mit erstaunlicher Verzögerung. Noch Mitte der 80er Jahre konstatierten Hartmut und Gernot Böhme verständnislos deren nahezu vollständige Ausblendung. In dem Buch »Das Andere der Vernunft« schreiben sie: »Es wird langsam unerträglich, in welcher Weise die neuerdings entstehende, zumeist poststrukturalistisch tingierte Diskussion über die ›Wiederkehr des Körpers‹ an der wohl einzigen konsistenten Theorie des Leibes, nämlich der von Schmitz, vorbeigehen zu können glaubt.« 4 3
Eine neuere Zusammenfassung ist: Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/München 2009 sowie speziell zur Thematik des Leibes: Hermann Schmitz: Der Leib (Leib), Berlin/Boston 2011; ein umfangreiches Gespräch über zentrale Themen seiner Philosophie findet sich im Internet auf dem YouTube-Kanal »Neue Phänomenologie«. 4 Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft – Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt 1983, S. 499.
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Vorwort
Auch ein Jahrzehnt später werden Schmitz’ Befunde, obgleich sie längst Eingang in Medizin, Psychologie und Architektur gefunden haben, in der diskursanalytisch dominierten Körperdebatte kaum genutzt. Sie gelten als ein »privates Zeugnis von begrenzter Relevanz«. 5 Spätestens seit dem emotional turn in den Kulturwissenschaften zu Anfang dieses Jahrhunderts ist die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz kein Geheimtipp mehr. Die Zahl der Studien, die sich mit ihr auseinandersetzen, ist heute kaum mehr überschaubar. Neben originär philosophischen Untersuchungen regte sie in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Arbeiten auf dem Gebiet der Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Musikwissenschaft, Religionswissenschaft, Sportwissenschaft, Medizin, Pflegewissenschaft, Architektur, Tanzkunde, Sinologie u. v. m. an. Kritik entzündete sich am methodischen Vorgehen. Eine systematische Ausblendung des Einflusses kultureller und sprachlicher Vorprägungen wurde bemängelt. 6 Die Differenz zwischen Eigenem und Fremden würde in diesem Konzept schlichtweg überspielt. 7 Von anderer Seite wertete man die Rede von einem spürbaren »Leib« als zu substantiell, als zu dinghaft und mit für die Theoriebildung gefährlichen Fallstricken. 8 Schmitz hat in entsprechendem Zusammenhang zu diesen Kritikpunkten Stellung bezogen und missverständliche Aussagen präzisiert. 9 Kürzlich ist darüber hinaus in einer Überblicksdarstellung zur Leibphilosophie im 20. Jahrhundert noch einmal der
5
Petra Gehring: »Jargon der Eigenleiblichkeit – Die sogenannte Neue Phänomenologie: ein Erkundungsgang in die ›vollere Realität‹« (Jargon), in: Journal Phänomenologie 8/1997, S. 2–7, hier S. 7. 6 Dieter Mersch: »Leiblicher Logos – Hermann Schmitz’ Philosophie der Betroffenheit« (Schmitz), in: Ingeborg Breuer/Peter Leusch/Dieter Mersch (Hrsg.): Welten im Kopf – Profile der Gegenwartsphilosophie (Deutschland), Darmstadt 1996, S. 195–208, hier S. 199–201 und Gehring: Jargon. 7 Vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt 2000, S. 265 ff. 8 Vgl. Mersch: Schmitz und den Beitrag von Jens Soentgen in diesem Buch. 9 Vgl. u. a. Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999.
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Stefan Volke und Steffen Kluck
Dialogcharakter und die Offenheit, auf die die Schmitz’sche Konzeption prinzipiell angelegt ist, dargestellt worden. 10 Unabhängig von diesen Kritikpunkten lassen sich im Schmitz’schen Werk durchaus eine Zahl anderer Modifikationen und Erweiterungen beobachten. Sie betreffen z. B. den Umfang des leiblichen Alphabets und die Abhängigkeiten einzelner Kategorien voneinander, weiterhin die Ausdifferenzierungen innerhalb der somatischen Präsenzformen, sprich die Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlichem und sinnlichem Körper, 11 und schließlich auch die Rücknahme von Lösungsansätzen etwa für das klassische psychophysische Problem, der theoretischen Kluft zwischen dem Erleben und seinem physiologischen Parallelvorgang. Generell zeichnet sich für Schmitz bislang keine Erfahrung ab, die es erlaubt, die Wechselwirkungen zwischen der gespürten Leiblichkeit des Menschen und seinem sicht- und tastbaren Körper phänomenologisch hinreichend erschließen zu können. Bei der Freilegung der verdeckten Leibstruktur ist ihm der sicht- und tastbare Körper selbst zum Skandalon geworden. In einem neueren Interview äußert er sich hierzu: »Ich brauche den Leib, um tatsächlich das zu rekonstruieren, was normalerweise in der Seele untergebracht worden ist […] Den Körper brauche ich nicht. Der Körper ist ein Skandal in meinem Menschenbild. Er ist in der Tat da und das ist außerordentlich wichtig. […] Aber den Körper brauche ich nicht, um sozusagen den ganzen Menschen zu haben. Das ist in der Tat etwas Sonderbares; hier wage ich nicht, eine phänomenologische Brücke zu schlagen, weil ich da ins Metaphysische, ins Schlechtmetaphysische gehen würde. Es gibt keine empirische Möglichkeit, dem nachzukommen. Ich sehe zwar an einer Stelle eine Brücke, aber ich weiß nicht, wie sie beschaffen ist.« 12 10
Vgl. dazu den Beitrag von Kerstin Andermann in diesem Buch. Vgl. dazu Hermann Schmitz: Die Liebe, Bonn 1993, S. 140 ff. und Schmitz: Leib, S. 143 f. 12 Hans Werhahn (Hrsg.): Neue Phänomenologie – Hermann Schmitz im Gespräch, Freiburg/München 2011, S. 26 f. Weiter heißt es dort: »Die Brücke, die ich sehe, ist die, wenn man z. B. auf dicht bevölkerten Gehwegen es so leicht 11
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Vorwort
Die in dem vorliegenden Buch versammelten Aufsätze lassen Versuche erkennen, gerade in der Frage des Wechselspiels von Leib und Körper gleichsam Brückenpfeilern zu skizzieren und so das »Skandalöse« theoretisch einzuholen. Anlass für den vorliegenden Sammelband ist der 50. Jahrestag des Erscheinens von Band II des Schmitz’schen »Systems der Philosophie«: Der Leib. 13 Mit der (Wieder-)Veröffentlichung der Aufsätze soll eine Art Zwischenbilanz gezogen werden. Es ist zu schafft, nicht zusammenzustoßen, weil man z. B. am nächsten Mitmenschen vorbeikommt, indem man Arm und Schulter genau so präzise einzieht, dass man im Abstand von einem Millimeter vorbeikommt, sonst würde man ihn anrempeln und das passiert nicht sehr oft. Wie ist man eigentlich davon unterrichtet? Man sieht doch die Schulter nicht. Man sieht den Arm nicht. Man hat keine Ahnung davon, in welchem Abstand zu dem Arm der dem Ärmel des Mitmenschen er sich befindet und trotzdem findet man das. Meine Antwort ist, der Blick nimmt die Bewegungssuggestionen des Anderen, wie er gehen wird, auf, indem er sich daran hängt gewissermaßen […] und überträgt das in das, was ich motorisches Körperschema nenne, […] und dieses motorische Körperschema ist genau wie der Blick organisiert und durch unumkehrbare Richtungen aus der Enge in die Weite und übernimmt diese Information, die der Blick eingefangen hat von dem Gegenstand und überträgt ihn in die entsprechenden Körperbewegungen. Aber da fängt etwas vom Leibe an, der Blick ist rein leiblich, körperlich gibt es den nicht. Und der Blick übernimmt die Initiative und überträgt ihn in die Motorik. Da muss also eigentlich ein Übergang vom Leib zum Körper sein, ein kausaler Übergang, aber phänomenologisch kann ich ihn nicht nachweisen. Ich kann nur sagen, man müsste ihn eigentlich suchen. Aber das, was man dann finden kann, sind nur diese hier irrelevanten physiologischen Tatsachen, die […] von Gehirnforschern untersucht werden. Das sagt aber nicht das Geringste über das Geschehen, das in den Körper hineinwirkt oder auf den Körper hinführt, sondern höchstens vom Geschehen in dem Körper im Bereich der objektiven neutralen Tatsachen und zwar im naturwissenschaftlich reduzierten Körper und das beantwortet also nicht die Fragen, sondern nur, was man über das Gehirn oder sonstige Körperteile naturwissenschaftlich ermitteln kann. Da bleibt ein Rätsel.« 13 Eine Reihe von Beiträgen geht zurück auf die XXIII. Tagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie »Gespürte Leiblichkeit« (2015). Daher möchten die Herausgeber der Gesellschaft für Neue Phänomenologie herzlich für die organisatorische wie finanzielle Unterstützung bei Fertigstellung des vorliegenden Bandes danken. Ebenso geht ein Dank an alle mitwirkenden Autoren, ohne deren Bereitschaft es das Werk nicht gäbe. Schließlich ist zudem die unermüdliche Hilfe durch Klemens Hilliger von Thile unbedingt zu erwähnen, die diesen Band erst möglich gemacht hat.
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Stefan Volke und Steffen Kluck
fragen, in welchen Kontexten sich die von Schmitz erarbeiteten Kategorien des eigenleiblichen Spürens bewährt haben. Sind bei ihm nicht erwähnte »leibliche« Erlebnisse auf der Basis seines Konzeptes einsichtiger geworden? Es wird zudem überprüft, inwieweit Schmitz’ begrifflicher Ansatz für die Erläuterung neuerer Therapieformen und experimentell erzeugter Effekte im Bereich somatischer Selbstwahrnehmung aufschlussreich ist. Die Beiträge legten eine thematische Dreiteilung nahe. Unter dem Stichwort »kontrovers« sind Aufsätze versammelt, die Problemstellen und notwendige Erweiterungen des Konzepts der gespürten Leiblichkeit diskutieren. Unter der Rubrik »instruktiv« finden sich neuere konkrete Anwendungen, in denen Sachverhalte mittels der Schmitz’schen Begriffe erhellt werden. Da die letzten drei Aufsätze eine geschichtliche Perspektive auf das Leibkonzept verbindet, sind sie unter dem Stichwort »historisch« gruppiert. Die Beiträge dieses Sammelbandes zeugen davon, dass auch von anderer Seite das von Schmitz begonnene Projekt stetig ergänzt und weiterentwickelt wird. Es wäre ein nicht geringer Ertrag, wenn mit Hilfe dieses Buches Problemfelder und Fragen der gespürten Leiblichkeit für die weitere Forschungsarbeit deutlichere Kontur gewonnen haben. Hamburg/Rostock im Januar 2017
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I. kontrovers
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Kerstin Andermann
Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis 1
1.
Einleitung
Die »Neue Phänomenologie« von Hermann Schmitz bietet eine Theorie der Leiblichkeit im engeren Sinne. Sie bemüht sich um eine begriffliche Bestimmung leiblicher Erfahrung, die sich dem phänomenalen Charakter des Erlebens anpasst, ohne ihren Gegenstand durch unhinterfragte Konstitutionsbedingungen zu reduzieren. Sie will der Hintergründigkeit und der Verborgenheit dessen, was wir in Abgrenzung vom Körperlichen als das Leibliche bezeichnen, durch präzise begriffliche Erschließung Evidenz verleihen und es in seiner Geltung für den menschlichen Lebenszusammenhang hervorheben. Kaum ein anderer Begriff nimmt in der Philosophie von Hermann Schmitz eine so zentrale Stellung ein wie der des Leibes, und dementsprechend besteht die hervorzuhebende Leistung der Neuen Phänomenologie besonders in der Grundlegung und »Durchmusterung des Gegenstandsgebiets« 2 der Leiblichkeit und der Bereitstellung eines systematischen Begriffsrepertoires zur adäquaten und differenzierten Beschreibung leiblicher Phänomene. Der Begriff der Leiblichkeit bildet eine Scharnierstelle für weitere systematische Teilbereiche der Neuen Phänomenologie und er stellt die Basis aller weiteren 1
Dieser Beitrag ist eine dem vorliegenden Sammelband angepasste Version eines früheren Artikels: Kerstin Andermann: »Hermann Schmitz – Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis«, in: Emmanuel Alloa/Thomas Bedorf/Christian Grüny/Tobias N. Klaas (Hrsg.): Leiblichkeit – Begriff, Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen 2012, S. 130–145. 2 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie (Unerschöpflicher Gegenstand), Bonn 1990, S. 115.
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Kerstin Andermann
Bestimmungen der menschlichen Existenzweise dar. Leiblichkeit wird nicht nur als Fundament der Erfahrung entfalteter Gegenwart und zur Bestimmung von Gefühlen, Bewusstsein und Personalität einbezogen, sondern auch in ihrer zentralen Rolle für die Kultursysteme (Kunst, Recht, Moral, Religion, Politik) untersucht, die den lebensweltlichen Gesamtzusammenhang bilden. Umgekehrt wird die Dimension der Leiblichkeit aber auch philosophiehistorisch in den Blick genommen, um die ontologischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und die philosophiegeschichtlichen Umschlagpunkte erkennbar zu machen, von denen ihre Bestimmung abhängt und die zur Leibvergessenheit weiter Bereiche des philosophischen Denkens geführt haben. 2.
Leiblichkeit in der Neuen Phänomenologie
Die Notwendigkeit einer Rehabilitierung der leiblichen Erfahrung ergibt sich für Schmitz aus einem Paradigmenwechsel, der sich nicht erst im neuzeitlichen Denken (und längst nicht allein, wie oft behauptet, in der hierarchischen Negation des Körpers bei Descartes), sondern bereits in der vorchristlichen Philosophie bei Demokrit und Platon ereignet habe. Dieser Paradigmenwechsel zeichnet sich für Schmitz durch eine Abschließung des Erlebens in die privaten Innenwelten des Einzelnen und eine projizierende Abspaltung des unmittelbar Gegebenen aus, die im Platonismus ihren Ausgang genommen habe. Mit der Beschneidung der Außenwelt um mannigfaltige Qualitäten gehe das Zurücktreten derselben in eine innere Sphäre unbestimmter Erfahrung einher. Die Aufspaltung des Menschen in eine Seele und einen Körper und die Gliederung der Erfahrung nach dualistischem Muster führe zudem dazu, dass leibliche Regungen nicht ganzheitlich zuzuordnen sind und sich der Bestimmung von der einen wie von der anderen Seite her entziehen. Die introjektionistische Reduzierung der Fülle unwillkürlicher Lebenserfahrung ist aber auch verbunden mit einer Orientierung der Möglichkeitsbedingungen von Wahrnehmung an ontologischen Kategorisierungen (wie sie z. B. mit der aristotelischen Ka18 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis
tegorienlehre und ihrer Auszeichnung der Substanz vor der Relation vorliegen), die die Evidenz diffus-bedeutsamer, mannigfaltiger und unbestimmter Qualitäten ihrerseits konterkarieren. Als Grundlagentheorie und in ihrer Funktion der Abbildung verharrender Strukturen des Seins trägt die Ontologie eine besondere Verantwortung dafür, das Gegebene nicht an reduzierenden Leitbildern zu orientieren und es nicht durch metaphysische Voraussetzungen zu verzerren. Zwar betont Schmitz diese Verantwortung der Ontologie, gleichwohl aber kommt auch er nicht umhin, mit seiner Bestimmung des Gegebenen neue ontologische Leitbilder einzuführen – wenn auch unter ganz anderen kategorialen Vorzeichen. Durch die historische Erschließung und systematische Durchdringung der philosophiegeschichtlichen Umschlagpunkte, die zur Verdrängung der Leiblichkeit und des affektiven Betroffenseins, zur Verkürzung des Raumverständnisses, zur Verkennung der Gefühle in ihrer leiblich vermittelten Atmosphärenhaftigkeit und zur Aufspaltung der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen in messbare Einzelwerte geführt haben, können die Möglichkeitsbedingungen einer anderen Bestimmung und damit einhergehend einer anderen Erfahrung des Gegebenen ausgelotet werden. Die Phänomenologie der Leiblichkeit wurde im Rahmen seines umfangreichen Systems der Philosophie seit 1964 und nach Abschluss des Systems ab 1980 in zahlreichen Einzelstudien dargelegt, unter denen sich auch eine kritische Revision des Systems findet. 3 Mit dem Systembegriff verbindet Schmitz nicht den Anspruch, die Unendlichkeit philosophischer Probleme in einem System erschöpfend zu behandeln. Er betont im Gegenteil vielmehr die notwendige Pluralität der Systeme und kennzeichnet es als die primäre Aufgabe seiner Philosophie, die Stellung des Menschen in seiner Umgebung durch eine systematische, schrittweise Prüfung der Bedingungen zu erhellen, die zur reduzierenden Vergegenständlichung seiner Gegenwart geführt haben. Der Systemcharakter seines philosophischen Hauptwerks geht auf den me3
Vgl. Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart (Spielraum), Bonn 1999, S. 181–273.
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Kerstin Andermann
thodischen Anspruch einer schrittweisen Überwindung reduktionistischer, introjektionistischer und psychologistischer Paradigmen zurück und zielt auf die Herauslösung der Phänomene aus ihrer Umklammerung durch die Begriffe dieser Tradition. Mit dem Begriff des Systems ist die systematisch und historisch ausgerichtete Durcharbeitung der philosophischen Probleme gekennzeichnet, die den Lebenszusammenhang des Menschen bestimmen. »Eine unerläßliche Voraussetzung für ergiebige Bearbeitung der phänomenologischen Aufgabe, mit Begriffen in die faktische Lebenserfahrung hineinzuleuchten, ist der Durchbruch durch die Kruste der zu hoch und zu künstlich angelegten Abstraktionsbasis der dominanten europäischen Intellektualkultur.« 4
Den Mittelpunkt dieses kritisch-aufklärerischen Unternehmens bildet die Leiblichkeit als Basis der menschlichen Seinsweise. In Abgrenzung von der Klassifikation des Erlebens entlang der Sinnesleistungen wird das eigenleibliche Spüren als ein Vorgang gekennzeichnet, dessen begriffliche und kategoriale Fassung eine Neuorientierung erfordert. Die Notwendigkeit, Begriffe zu finden, die sich von denen der (natur-)wissenschaftlichen Bestimmung des Körpers unterscheiden, weist dabei auf einen qualitativen Unterschied von Leib und Körper hin, dessen Bestimmung sich aufdrängt, trotzdem der sicht- und tastbare Körper und der spürbare Leib engstens ineinander verschränkt sind. Vorangestellt wird eine Definition dessen, was der Leib im Unterschied zum Körper und unter der Voraussetzung einer Infragestellung der Seele ist. »Wenn ich vom Leib spreche, denke ich nicht an den menschlichen oder tierischen Körper, den man besichtigen und betasten kann, sondern an das, was man in dessen Gegend von sich spürt, ohne über ein »Sinnesorgan« wie Auge oder Hand zu verfügen, das man zum Zweck dieses Spürens willkürlich einsetzen könnte.« 5
4
Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? (Was ist Neue Phänomenologie), Rostock 2003, S. 375. 5 Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 115.
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Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis
Im Zentrum der Schmitz’schen Leibdefinition steht das Vermögen einer spezifischen (Selbst-)wahrnehmung des Subjekts und seiner affektiven Betroffenheit. Schmitz unterscheidet zwischen einem Körper, der von seinen Organen, seiner Sinnesordnung und dem Erleben bestimmt ist, das sich über die Sinnesleistungen vermittelt, und einem Leib, der sich von den sinnlichen Vermögen abhebt, von vitalen Regungen bestimmt ist und im eigenleiblichen Spüren erfahrbar wird. Zwar ist das leibliche Erleben nicht durchgängig von der Erfahrung des Körpers abzugrenzen, doch gleichwohl ist es seiner Struktur nach scharf von einer gliedernden Schematisierung zu trennen, die durch das Wissen vom Körper und seine visuelle Wahrnehmung vorgegeben sind. Eigenleibliches Spüren – des Herzens und der inneren Organe, der Muskeln, des in den Adern pulsierenden Blutes, der konzentrischen Schmerzpunkte eines verspannten Nackens, des Ein- und Ausatmens – ist ein »Innesein des eigenen Leibes« 6, ohne die Zuhilfenahme der Sinnesleistungen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens und der damit verbundenen fünfgliedrigen Klassifizierung des Wahrnehmbaren. 3.
Die Räumlichkeit des Leibes und seine unbestimmte Gliederung
Die räumliche Verfasstheit des Leiblichen ist für Schmitz ein wesentliches Merkmal seiner Abgrenzung vom Körper. Er bestimmt diese Räumlichkeit als flächenlos und prädimensional, aber örtlich abgehoben und ihrem phänomenalen Volumen nach dem Hören vergleichbar. Während der Körper von einer klaren und flächigen Grenze nach außen gekennzeichnet ist, wird das Leibliche eher als eine voluminöse Ausdehnung erlebt, die im relationalen System von Lage- und Abstandsverhältnissen nur vage auszumachen ist: »Relativ heißt […] ein Ort, wenn er durch räumliche Orientierung bestimmt ist, d. h. durch ein System von Lage- und Abstandsbezie6
Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 1. Teil: Der Leib (System II/1), Bonn 1965, S. 54.
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Kerstin Andermann
hungen, wodurch mehrere Orte einander wechselseitig identifizierbar werden lassen. Absolut heißt ein Ort dagegen, wenn er unabhängig von räumlicher Orientierung bestimmt oder identifizierbar ist.« 7
Die örtliche Relativität kann als Normalfall räumlicher Orientierung gelten und bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erklärung. Die absolute Örtlichkeit hingegen wird von Schmitz insbesondere an Phänomenen leiblicher Regung nachgewiesen: Überwältigende Angst und starker Schmerz gelten als zwei der äußersten Erfahrungsweisen absoluter Örtlichkeit, wobei in jedem leiblichen Befinden ein absoluter Ort gegeben ist. 8 In ihnen scheitert der Drang, sich vom eigenen Ort zu entfernen und Gegenwart wird insistierend als unumgängliche Anwesenheit am eigenen Ort erfahren. Auch die Erfahrung von Enge kann in besonderer Weise als leiblich ausgewiesen werden, insofern sie mit einer Erfahrung absoluter Örtlichkeit einhergeht und das heißt mit einem absoluten Ort zusammenfällt. Das Erleben von Weite hingegen begreift Schmitz als von sich aus ortlos, aber der Enge in dialogischer Struktur verhaftet gegenüberstehend und aufgrund dieser reversiblen Verschränkung ebenfalls als leibliches Phänomen anzusehen. Die räumliche Bestimmung der Leiblichkeit ist also im engeren Sinne einer absoluten Örtlichkeit und in einem weiteren Sinne mit Blick auf die Korrelate dieser Örtlichkeit zu verstehen. Die erste, im zweiten Band des Systems von 1965 gegebene Definition des Leiblichen nimmt ihren Ausgang von der Untersuchung der Räumlichkeit: »Leiblich ist das, dessen Örtlichkeit absolut ist. Körperlich ist das, dessen Örtlichkeit relativ ist.« 9 Während die Gleichzeitigkeit des Erlebens leiblicher und körperlicher Dimensionen sich auch ihrer räumlichen Definition nach nicht widerspricht, vielmehr sogar bedingt, wird das gleichzeitige Vorhandensein seelischer und körperlich-leiblicher Phänomene ausgeschlossen und die Frage nach dem Seelischen zum Ausgangspunkt der Kritik des Introjektionismus gemacht. Zur Unterschei7
Schmitz: System II/1, S. 6. Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 2. Teil: Der Leib im Spiegel der Kunst (System II/2), Bonn 1966, S. 11 ff. 9 Schmitz: System II/1, S. 6. 8
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Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis
dung von Leib und Körper schreibt Schmitz im ersten Band des Systems: »Der reine Leib ist bloß absolut-örtlich und gar nicht relativ örtlich bestimmt; er kommt bei den panischen Zuständen von Angst, Schmerz und Wollust vor, wenn die räumliche Orientierung verloren gegangen ist. Der reine Körper ist bloß relativ-örtlich und gar nicht absolut-örtlich bestimmt; er bildet das Objekt der naturwissenschaftlichen Beschäftigung von Anatomie, Physiologie und exakt messender Medizin mit dem menschlichen Körper. In der Mitte zwischen Beiden steht der körperliche Leib, der sowohl absolut-örtlich als auch relativ-örtlich ist: das Gewoge verschwommener Inseln, die ebenso je für sich einen relativen und einen absoluten Ort haben, wie sie durch einen absoluten Ort zur Einheit des Leibes im Ganzen zusammen gehalten werden.« 10
Während hier noch eine mögliche Trennung des reinen Körpers vom reinen Leib angenommen wird, hält Schmitz in seiner Revision des Systems von 1999 fest, dass die Unterscheidung eines reinen Leibes vom körperlichen Leib »zwar begrifflich ausreichend präzise, praktisch aber wenig ergiebig« 11 ist. Die Erfahrung des Leiblichen ist also im Wesentlichen nicht von seiner relativen Örtlichkeit im Koordinatensystem körperlicher Raumerfahrung her zu verstehen, sondern hebt sich als situative Gegenwart vom durch Lage- und Abstandsverhältnisse gegliederten Körper ab. Schmitz präzisiert die Bestimmung der Leiblichkeit weiter durch ihre Charakterisierung als unteilbar ausgedehnt und ihre Unterscheidung von teilbar ausgedehnten Phänomenen des Körperlichen. In der absoluten Örtlichkeit des Leiblichen wird die Gesamtheit dessen integriert, was wir im erfahrbaren Raum des Körpers vernehmen. Ist diese Ausdehnung als Gesamtheit gestört, so ist die Einheit des Leibes in der Selbstwahrnehmung gestört. Schmitz charakterisiert die ganzheitliche leibliche Wahrnehmung als ein leibliches Befinden vom Typ einer Gesamtstimmung oder eines Körpergefühls, das nicht weiter aufzuspalten ist, wenngleich es insgesamt doch von einer Verschwommenheit partieller Regun10 11
Schmitz: System II/1, S. 54. Schmitz: Spielraum, S. 199.
23 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Kerstin Andermann
gen bestimmt ist. Die leiblichen Regungen werden weiter unterschieden in teilheitliche Regungen, wie Kitzel oder Herzklopfen und ganzheitliche leibliche Regungen, die eher wie eine umfassende Gestimmtheit auftreten (wobei die ganzheitliche leibliche Wahrnehmung eben auch von der Dominanz einzelner, z. B. schmerzender, Leibesinseln bestimmt sein kann). Was für eine Phänomenalität des Körperlichen mit dieser Bestimmung von Leiblichkeit gemeint ist, zeigt sich im bewussten Nachvollzug. »Versuche man aber nur einmal, an sich so stetig ›hinunterzuspüren‹, wie man an sich hinuntersehen und hinuntertasten kann, aber ohne sich auf Augen und Hände oder die durch früheres Besehen und Betasten erworbenen Vorstellungsbilder zu verlassen! Man wird gleich merken, daß das nicht geht. Statt stetigen Zusammenhangs begegnet dem Spürenden ein Gewoge verschwommener Inseln in größerer oder geringerer Zahl, dünnerer oder dichterer Verteilung. Sie befinden sich in beständiger, gewöhnlich fast unbemerkter Wandlung, ermangeln des scharfen Umrisses und der beharrlichen Lagerung. Man kann das Experiment auch an einzelnen Gliedern ausführen, z. B. am Fuß. Optische und taktile Wahrnehmung liefern die bekannte Gliederung zwischen Hacke und Zehen. Für das eigenleibliche Spüren pflegt dagegen die gestalthafte Einheit des Fußes zu fehlen.« 12
Die »Inselhaftigkeit« des Leiblichen wird in dieser Darstellung besonders deutlich und in ihrer Bestimmung als ein »Gewoge verschwommener Inseln« 13 auf den Punkt gebracht. Eine weitere wichtige Unterscheidung der begrifflichen Durchgliederung der Leiblichkeit und des leiblichen Raumes, wie Schmitz sie vornimmt, ist die des motorischen und des perzeptiven Körperschemas. Das motorische Körperschema ist ein habitualisiertes Vermögen der orientierenden leiblichen Richtungnahme und ein intuitives Wissen von der Anordnung der Körperteile und der empfundenen »Leibesinseln«. Als System der Orientierung in der Körpergegend unterscheidet es sich vom perzeptiven Körperschema nicht nur dadurch, dass seine Funktionsweise unwillkürlich und vorreflexiv bleibt, sondern auch durch 12 13
Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 119. Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 119.
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Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis
die Unumkehrbarkeit seiner Richtungen. Im Gegensatz zu den umkehrbaren Verbindungen des perzeptiven Körperschemas, ist die Richtungnahme im motorischen Körperschema nicht als ein System von Lagen und Abständen rekonstruierbar. Das Zusammenspiel der Glieder des Körpers und die Einbeziehung der Umgebung und der umgebenden Dinge in die richtungsräumliche Orientierung verlaufen im motorischen Körperschema ohne eine phänomenal erfahrene Reaktionszeit. Verdeutlicht wird dies z. B. anhand des routinierten Autofahrers, der nicht nur motorisch mit dem umgebenden Vehikel zu einer leiblichen Bewegungseinheit verschmilzt, sondern auch in der leiblichen Richtungnahme durch den Blick ohne Reaktionszeit koagieren kann. In diesem Sinne muss das motorische Körperschema als ein eigengesetzliches Vermögen der Leiblichkeit begriffen werden, das tendenziell gerade im Moment seiner bewussten Ausübung zum Erliegen kommt. Auch für den routinierten Autofahrer wäre es zu spät, wenn er angesichts eines plötzlich die Straße kreuzenden Fußgängers erst nachdenken müsste, ob und wie er seinen Fuß auf die Bremse zu setzen hat. Das perzeptive Körperschema zeichnet sich im Unterschied zum motorischen durch die Übernahme objektiver Dimensionen und standardisierter Vorstellungen in die leibliche Orientierung aus. Es ist ein objektives, reflektiertes Vorstellungsbild des Körpers, das die leibliche Orientierung gleichsam überschreibt und in das sich die verschwommene Leiblichkeit wie in ein Formular einfügt. Im perzeptiven Körperschema beansprucht eine schematische Ordnung des Körpers ihre Geltung, die sich von der unbestimmten und intuitiv vollzogenen Ordnung des Leibes trennen lässt. Schmitz sieht die Reduktion des Körpers auf eine Trägersubstanz bestimmter Merkmale und ein gegliedertes Spektrum funktional geordneter Zonen als eine »nützliche und bei vernünftigem Gebrauch segensreiche Fiktion der Naturwissenschaft und Technik« 14 an. Er macht aber gleichzeitig eben deutlich, dass dieser Körper nicht mit dem phänomenal reicheren Körper, den die Untersuchung der Leiblichkeit zu erschließen hat, verwechselt wer14
Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 117.
25 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Kerstin Andermann
den darf. Eine wesentliche Motivation des Bemühens um eine klare phänomenologische Begriffssprache besteht daher in der Abgrenzung von den Naturwissenschaften und der Sicherung phänomenologischer Erkenntnisse gegen die Konkurrenz exakt messender Wissenschaften. Schmitz bemüht sich um eine Definition des Leiblichen und des phänomenalen leiblichen Erlebens, die es erlaubt, über subjektive leibliche Tatsachen zu sprechen, ohne diese im Dualismus von Innen und Außen aus den Augen zu verlieren. Aus diesen Gründen ist die Frage nach der Möglichkeit des Sprechens in der Perspektive der Ersten Person so zentral für die Phänomenologie der Leiblichkeit. 4.
Die Dynamik des Leibes und seine antagonistische Organisation
Mit der Bestimmung der Räumlichkeit des Leibes ist bisher nur eine Dimension der umfassenden begrifflichen Rekonstruktion der Leiblichkeit bei Hermann Schmitz angesprochen. Wesentlich für die Analyse leiblicher Erfahrung ist aber vor allem die Dynamik des Leiblichen bzw. die dynamische Verfasstheit der leiblichen Regungen. Wie Schmitz zeigt, kann diese Dynamik als ein strukturiertes System schematisierend erfasst werden. Seinen Grundzügen nach wird das leibliche Geschehen als ein Wechselspiel von Enge und Weite beschrieben und in diesen Grundzügen liegt die Lebendigkeit der körperlich-leiblichen Seinsweise. Die antagonistischen Tendenzen der Engung und der Weitung bestimmen das leibliche Erleben und machen den vitalen Antrieb des Subjekts aus. Als ihrer phänomenalen Qualität nach verbunden mit der Dynamik von Engung und Weitung werden die Dimensionen der Spannung und der Schwellung im leiblichen Erleben beschrieben, die den Spielraum der leiblichen Dynamik in wechselnder Gewichtung beider Richtungen ausfüllen. Das Dahinleben im leiblichen Rhythmus von Engung und Weitung (sowie, korrelierend dazu Spannung und Schwellung) ist für Schmitz der Normalzustand des Lebens in entfalteter Gegenwart. Für die Bestimmung von Subjektivität ist allerdings gerade die Unter26 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis
brechung dieses Dahinlebens relevant, die sich als primitive Gegenwart ereignet und mit der zwingenden Erfahrung des Ich, Hier, Jetzt einhergeht. »Primitive Gegenwart ereignet sich im elementar-leiblichen Betroffensein, im Einbruch des Neuen, das stutzen läßt, im Schreck, in Angst und Schmerz, in der Exponiertheit auf dem Gipfel des Orgasmus oder in katastrophaler Scham, im Zusammenbruch des Menschen an etwas, dem er nicht gewachsen ist: also im Getriebenwerden in die Enge, in akuter Engung.« 15
Solche Erfahrung primitiver Gegenwart durch leibliche Betroffenheit von einer bestimmten Wirklichkeit, wird als Auslöser von Individuation im Sinne eines Erkennens von Identität und Verschiedenheit verstanden, das sich aus dem Kontinuum chaotischer Mannigfaltigkeit abhebt. Die in der leiblichen Erfahrung fundierte Differenzierung des chaotisch mannigfaltigen Daseins ist für Schmitz Voraussetzung von Personalität, d. h. Voraussetzung des Denkens und des Erkennens, des Wollens und Handelns als Person in entfalteter Gegenwart. Die Korrelation von Enge und Weite und das antagonistische Miteinander von Engung und Weitung werden in diesem Sinne als Grundprinzipien der leiblichen Existenzweise vorgestellt und die Ausgeglichenheit von Engung und Weitung ist dabei der »normale« Zustand des leiblichen Befindens in entfalteter Gegenwart. Leibliches Spüren als Ausgangspunkt der Selbstwahrnehmung ereignet sich aber eben gerade als Abhebung aus diesem ausgeglichenen Zustand zwischen Enge und Weite im Moment leiblicher Betroffenheit, so z. B. im Schreck, in der Angst oder im Schmerz, die sich als Engung und Spannung bemerkbar machen. In Entspannungsmomenten, beim Einschlafen, in großzügigen Räumen, in räumlicher Weite der Natur, oder in Erfahrungen von Leichtigkeit und Erleichterung hingegen fallen Schwellung und Spannung aus. Die Dynamik der Tendenzen von Engung und Weitung hängt beim lebenden Menschen eng zusammen, sie vereinseitigt sich im vitalen Antrieb als Übergewicht des einen Zustands über den anderen 15
Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 122.
27 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Kerstin Andermann
oder sie spaltet sich ab als privative Weitung. Die ausgeglichene Gewichtung beider Tendenzen, wie sie z. B. im gleichförmigen Ein- und Ausatmen deutlich wird, bildet das Grundmuster leiblicher Ökonomie im Spektrum körperlicher Erfahrungs- und Verhaltensweisen. Schmitz führt seine phänomenologischen Beschreibungen anhand einer beachtlichen Vielzahl und Varietät von Beispielen umfassend aus und schließt an unterschiedliche Anwendungs- und Praxisfelder an. Eine weitere Nuance in der Bestimmung des phänomenalen Charakters der Leiblichkeit wird mit dem Begriffspaar der protopathischen und der epikritischen Tendenz eingeholt. Im Unterschied zur Bestimmung der Tendenzen leiblicher Richtungnahme wird hiermit die Qualität von Empfindungen im engeren Sinne erfasst: »Protopathisch ist die Tendenz zum Dumpfen, Diffusen, Ausstrahlenden, worin die Umrisse verschwimmen, epikritisch die schärfende, spitze Punkte und Umrisse setzende Tendenz.« 16
Protopathische und epikritische Empfindungen schließen sich nicht aus, sondern leibliche Regungen können sowohl in der einen als auch in der anderen Weise erlebt werden. Besonders deutlich auszumachen sind diese Qualitäten wiederum in der Erfahrung von Schmerz, der eben – wie Schmitz beschreibt – eher als dumpf und wühlend oder als scharf und stechend wahrgenommen werden kann. Die Dynamik des Leiblichen lässt sich auch anhand längerfristiger leiblicher Dispositionen beschreiben, die wandelbar und abhängig von äußeren Faktoren, den Einzelnen oder auch ganze Gruppen erfassen und beherrschen können. Schmitz hat diese Dimension der leiblichen Disposition in ganz verschiedenen Analysen zur politischen Geschichte und zur Kunstgeschichte, aber auch zur Einordnung psychiatrischer Krankheitsbilder herausgestellt. Zwar ist die leibliche Disposition, wie Schmitz sie bestimmt, nicht im Sinne einer statischen Konstitutionsbedingung zu verstehen, sondern wird als höchst wandelbar und durchlässig 16
Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 126.
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Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis
angesehen. Gleichwohl aber liegt der Verdacht nahe, das wir es hier mit einer deterministischen Denkungsart zu tun haben, durch die das Subjekt reduzierend von seiner leiblichen Disposition her bestimmt und klassifizierend an die Bedingungen seiner Leiblichkeit gebunden wird. Schmitz bestimmt die Rolle der Leiblichkeit vor allem in ihrer Fundierungsfunktion, wenn er ihre Bedeutung als Basis der menschlichen Lebenszusammenhänge und der Kultur hervorhebt. Leiblichkeit ist konstitutiv mit kulturellen Dimensionen verschränkt und auch nicht von den Machtund Wissensverhältnissen zu trennen, denen das Erleben des Körpers untersteht. 5.
Leiblichkeit als Kommunikation und Resonanz
Von ihrer Dynamik ausgehend wird Leiblichkeit auch in übergreifenden Zusammenhängen sichtbar und zur Grundlage der Erklärung von Leistungen, die den Raum des einzelnen Körpers überschreiten. Der Leib zeigt sich in Hinblick auf seine Resonanzfähigkeit als Akteur und nicht als bloß latenter Hintergrund des Handlungs- und Wahrnehmungsgeschehens. Leiblichkeit ist nicht nur als eine Frage der Selbstaffektion, d. h. vom eigenleiblichen Spüren und der leiblichen Betroffenheit des Subjekts durch seine psychophysische Verfasstheit (z. B. im Falle von starken Emotionen oder Schmerz) her in den Blick zu nehmen. Sie wird vielmehr auch in einem weiteren Sinne evident, wenn wir den Leib in Kommunikations- und Interaktionszusammenhängen betrachten, die den Körperraum überschreiten und ihn im Zusammenspiel mit anderen Körpern (im Straßenverkehr oder beim Sport), im Umgang mit Dingen und Objekten (technischen Medien, Werkzeugen oder Instrumenten), in der Wahrnehmung von Atmosphären und Situationen (im Falle von Stimmungen, Gefühlen oder geteilten Situationen) usw. zeigen. Leiblichkeit ist durch die ihr innewohnende Dynamik in übergreifende Zusammenhänge eingeschlossen und erweist sich als ein Resonanzfeld mit permanent übergreifendem Bezug auf die Umgebung. Das leibliche Geschehen seiner Struktur nach als Kommunikation zu 29 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Kerstin Andermann
verstehen ist für Schmitz der leitende Ausgangspunkt zur Analyse der Einzelphänomene. Bereits in seiner grundlegenden (oben angeführten) Definition der Leiblichkeit wird deutlich, dass der Leib die Grenzen des Körpers überschreitet und die leibliche Selbsterfahrung nicht im Sinne eines gegen sein Außen abgeschotteten Refugiums reiner Unmittelbarkeit zu verstehen ist. Als Resonanzphänomen ist die Leiblichkeit ihrer elementaren Struktur und Dynamik nach nur in Beziehung auf die Umgebung hin zu denken. Der Leib ist keine »abgesonderte Provinz, sondern der universale Resonanzboden, wo alles Betroffensein des Menschen seinen Sitz hat und in die Initiative eigenen Verhaltens umgeformt wird; nur im Verhältnis zu seiner Leiblichkeit bestimmt sich der Mensch als Person.« 17
Schmitz unterscheidet nun wiederum verschiedene Formen der leiblichen Kommunikation, die das Zusammenspiel und die Verschränkung des Leibes und seines Umgebungsraums deutlich machen. So z. B. die Bewegungssuggestion als »anschauliche Vorzeichnung einer (bevorstehenden oder ausbleibenden, aber sinnfällig nahegelegten) Bewegung, die als Brückenqualität zwischen dem spürbaren Leib und wahrgenommenen, auch leiblosen Gestalten dafür sorgt, dass die Brücke leiblicher Kommunikation geschlagen werden kann.« 18
Deutlich gemacht wird dies unter anderem am Beispiel der Ausweichbewegung vor einem heran fliegenden Stein, die möglich ist, ohne die Position des eigenen Körpers in Relation zum Flugobjekt bewusst auszuloten. Es ist vielmehr der Blick als leibliche Kommunikation, der, die Pole des Geschehens einbeziehend, ein räumliches Feld aufspannt und die Bewegungssuggestion als wahrgenommenen Gestaltverlauf in das motorische Körperschema übertragen kann. 19 Das Ausweichen gelingt durch die leibliche Kommunikation im geteilten Raum des Leibes und der Objekte. (Nimmt man die Verhältnisbestimmung von Körpern und Din17 18 19
Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 116. Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie, S. 38. Vgl. Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie, S. 38.
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Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis
gen in den Blick, erweist sich die phänomenologische Perspektive als besonders fruchtbar und es zeigt sich, dass die kulturwissenschaftliche Wende auch in dieser Hinsicht vom Körper ihren Ausgang nimmt.) Neben den Gestaltverläufen sind es die synästhetischen Charaktere als Andeutungen von Modi des Scharfen, des Spitzen, des Zarten, des Schweren, der Frische, des Übermuts, der Trägheit usw., um nur einige Beispiele von Charakteren zu nennen, die im Resonanzfeld leiblicher Kommunikation zwischen Wahrgenommenem und Wahrnehmendem übergreifen können. Schmitz bestimmt diese Vorgänge vom vitalen Antrieb und der leiblichen Richtungnahme der Weitung her und bezeichnet sie zur genaueren Bestimmung mit den Begriffen der Einleibung und der Ausleibung. Während die Ausleibung eher in eine vom Subjekt abgehende Richtung verläuft (wie der in die Weite gerichtete Blick), ist die Einleibung, wiederum unterschieden nach solidarischer und antagonistischer Einleibung ein dialogisches Verhältnis von miteinander in Schwingung geratenden Tendenzen, wie z. B. im Blickkontakt. Die wechselseitige Einleibung ist für Schmitz Bedingung der Wahrnehmung des Anderen, sie ist die »Quelle der Du-Evidenz« 20. Ebenso wie Merleau-Ponty kritisiert Schmitz die Spielarten intellektualistischer Theorien und ihre Tendenz, die Wahrnehmung allgemein und die Erfahrung des Anderen im Besonderen als einen Akt des Bewusstseins und damit letztlich als eine sich selbst verdoppelnde Projektion anzusehen. Die Evidenz des Anderen in seiner Andersheit ist von jeder Projektion zu befreien und wird daher erst in der wechselseitigen Wahrnehmung durch antagonistische Einleibung wirklich möglich. Im Gegensatz zur antagonistischen Einleibung ist die solidarische Einleibung eine simultane Ausrichtung der Leiblichkeit auf Situationen, in denen sich zwischenleibliche Übertragungen ereignen. Besonders anschaulich nachzuvollziehen ist dies bei Kollektivbewegungen, wie z. B. der solidarischen Bewegungsinszenierung begeisterter Fußballfans, beim Mannschaftssport oder im Chorgesang. Mit solidarischer Einleibung haben wir es aber auch 20
Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie, S. 40.
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in Fällen ideologischer Instrumentalisierung und Mobilisierung des Menschen auf der Ebene seiner Leiblichkeit zu tun. Die Nutzung der Resonanzfähigkeit des Leibes zu ideologischen und gemeinschaftsromantischen Zwecken (besonders deutlich in der durch primitive Rhythmen verstärkten gemeinschaftlichen Bewegung des Marschierens) ist bekannt. Schmitz bietet ein begriffliches Instrumentarium, das nicht nur die alltagsweltliche Rolle der Leiblichkeit sichtbar macht, sondern eben auch hochproblematische Phänomene ideologisch geprägter Vergemeinschaftung auf einer Ebene erklärbar macht, die – insbesondere in politischen Kontexten – selten in den Blick genommen wird. Insbesondere in solchen Fällen wird die umfassende und disziplinär übergreifende Rolle deutlich, die eine solide Analyse der leiblichen Existenzweise des Menschen und vor allem auch seiner Möglichkeiten der Emanzipation von dieser leisten kann. Die Spielräume individueller Abwehr und intellektueller Distanzierung leiblicher Ansprache müssen ebenso in die Analyse einbezogen werden, wie die leibliche Reaktionsweise selbst. Das Phänomen der Einleibung wird von Schmitz weiter differenziert nach latenter und patenter Einleibung, die sich besonders anhand von Gesprächssituationen deutlich machen lassen. Latente Einleibung liegt in jedem Gespräch vor, ohne dass wir diese in besonderer Weise durch Abhebung einzelner Regungen bemerken würden. Patent wird diese Form der Einleibung genannt, wenn sich eine spezielle Abhebung als Reaktion einzelner Leibesinseln ereignet, so z. B. beim plötzlichen Erröten in der Scham. Trotzdem die Einleibung im Gespräch gewöhnlich latent zu pflegen bleibt, gibt es in ihr teilheitliche Sensationen. Ein besonderer Aspekt der leiblichen Kommunikation durch Einleibung zeigt sich in dem, was Schmitz als eine ganzheitliche Umstimmung bzw. als Haltung oder Fassung in Gesprächsituationen charakterisiert. In ihr stabilisiert sich die Person habituell und mehr oder weniger adäquat und geschmeidig gegen durchscheinende Ambivalenzen, die die Kommunikation durchstimmen könnten. »Deren elastische Anpassung, eventuell bis hin zu dem nicht mehr elastischen Extrem, sich aus der Fassung bringen zu lassen, ist das
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Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis
feinste Mittel, sich durch Einleibung im Gespräch zu orientieren, indem man den Anderen am eigenen Leibe spürt.« 21
Diese Formen der Anpassung zugleich leiblicher und personaler Haltungen durch leibliche Kommunikation ermöglichen nicht nur die Wahrnehmung des konkreten Gesprächspartners, sondern auch die Aufnahme von Atmosphären und die Einfühlung in Situationen. Auch Schmitz’ These von den Gefühlen als Atmosphären baut wesentlich auf der Bestimmung der Leiblichkeit als Kommunikation auf, und insbesondere hier zeigt sich das gleichursprüngliche Eingelassensein des Subjekts und der Strukturen leiblicher Kommunikation in Situationen. Leiblichkeit im Sinne der Betroffenheit des Subjekts auf affektiver Ebene weist nicht nur einen intentionalen und propositionalen Objektbezug auf und richtet sich in diesem Sinne stets (auch urteilend) auf etwas. Sie zeichnet sich ebenso durch den engsten Subjektbezug selbst aus, da sie das Subjekt in die Betroffenheit von etwas versetzt. Insbesondere in ihrer Bestimmung als Kommunikation ist Leiblichkeit bei Schmitz also mitnichten in einer Abgrenzung von ihrem Außen zu denken. Leiblichkeit ist kein Raum innerer Natur und Ursprünglichkeit, seine leibliche Existenzweise macht den Menschen vielmehr höchst anpassungsfähig und offen für Einflüsse und Ansprüche, die sich an ihn richten. 6.
Ausblick und Aspekte der Kritik
Will man den Begriff der Leiblichkeit nun zum erneuerten Grundbegriff einer kulturwissenschaftlichen Perspektive auf die Horizonte und Bedingungen menschlicher Erfahrung machen, so ist es unabdingbar, ihn radikal von seiner lebensphilosophischen Zuordnung und dem Anklang einer unterkomplexen Ursprünglichkeitsphilosophie zu befreien, die den Leib lediglich als eine Erlösungsformel beschwört. Eine kulturwissenschaftlich gewendete Phänomenologie der Leiblichkeit hat daher einerseits da21
Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie, S. 42.
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rauf zu achten, dass sie sich nicht in deterministische und vitalistische Aporien verstrickt und das Subjekt im Ausgang seiner Leiblichkeit wesensphilosophisch herleitet. Sie muss andererseits aber auch darauf achten, das kritisch-aufklärerische Potential nicht aus dem Blick zu verlieren, das eine subtile Bestimmung des Menschen, ausgehend von einem spezifischen Lebens- und Lebendigkeitsbegriff bieten kann. Diese Ambivalenz zeigt sich in so verschiedenen Philosophien, wie der von Deleuze, Bergson, Plessner und eben auch bei Hermann Schmitz, um nur wenige Namen zu nennen. In der Schmitz’schen Konzeption der Leiblichkeit ist eine Struktur der Pluralität und der Überschreitung angelegt, die in hohem Maße auf den Anderen, auf Umwelt, Praxis und kulturelle Umgebung ausgerichtet ist und die jede Rede von einer Wahrheit oder Eigentlichkeit der leiblichen Natur Lügen straft. Diese Offenheit und Dynamik resonanzhafter Selbstüberschreitung auf einer elementaren, empirischen Ebene leiblichen Geschehens eingeholt zu haben, ist die Stärke der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz. Leiblichkeit wird hier als Kommunikationsform von ihrer umfassenden Ausrichtung auf die Umgebung her verstanden. Sie wird nicht von einem dualistischen Duplizierungsvorgang ausgehend bestimmt, sondern als ein selbstständiges, horizontales Verhältnis des Körpers zur Umgebung begründet. Sie ist keine eigentliche Natur des Menschen, die seiner historisch und kulturell geprägten Seite entgegen zu stellen wäre, sondern muss, ähnlich wie bei Plessner und Cassirer, die den Menschen im Ausgang des biologischen Umweltbegriffs Uexkülls in den Funktionszusammenhang seiner Weltoffenheit stellen, frei von wesensphilosophischen Begründungen gesehen werden. Anders als Philosophische Anthropologie und Kulturanthropologie sucht die Phänomenologie ihren Ausgangspunkt nicht in einer Philosophie der Biologie, sie sucht nicht die Sonderstellung des Menschen in der Natur zu begründen. Sie versteht die leibliche Existenzweise vielmehr vom Primat der Gleichursprünglichkeit ausgehend, als eine unhintergehbar doppelte Verschränkung des Subjekts mit seinem Außen und kann dabei auf jede Form naturalisierender Wesensbestimmung und dualistischer Ableitung verzichten. 34 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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Schmitz sieht seine Philosophie dabei in besonderer Weise auf die Praxis übergreifend und stellt sie aktiv in den Anwendungszusammenhang humanwissenschaftlicher Praxisfelder (Psychologie, Medizin usw.) und in den Kontext aktueller kulturkritischer Bezüge. Als Quellen und zur Veranschaulichung seiner Analysen zieht Schmitz immer wieder lebensphilosophisch geprägte, populärwissenschaftliche Untersuchungen der 20er und 30er Jahre heran. 22 Auf der Basis dieses Materials holt er viel von der vitalen Dynamik der Leiblichkeit ein und kann die leibliche Lebendigkeit des Menschen gegen einen reduktionistischen Begriff des Lebens und des Körpers verteidigen. Bedauerlicherweise nimmt er dabei aber eine unhaltbare naturphilosophische Hypostasierung und wesensphilosophische Abschließung der menschlichen Natur gegen ihre vermeintliche kulturelle Entfremdung in Kauf. An dieser Stelle kommt die methodologische Verpflichtung der Phänomenologie auf einen offenen Phänomenbegriff und einen rein beschreibenden Umgang mit den Erfahrungsquellen an ihre Grenzen. Ebenso wie das rein empirisch-historische Denken den Menschen in seiner spezifischen Existenzweise nicht zu erfassen vermag, ist eine rein phänomenologische Beschreibung, die sich aus allen möglichen Quellen speist nicht hinreichend. Vor allem dann nicht, wenn diese ihre Quellen nicht auch kritisch in den Blick nimmt. In der Schmitz’schen Konzeption der Leiblichkeit von ihrer resonanzhaften Seite her wird diese als ein offenes und unbestimmtes Phänomen sichtbar, das den Menschen unter ständiger Bezugnahme auf die mannigfaltigen und pluralen Bedingungen seiner Umgebung zeigt. Die Tatsache, dass dieser offene Umgebungsbezug der Leiblichkeit von seiner kulturellen Durchdringung nicht zu trennen ist und der Mensch daher nicht einfach natur- und wesensphilosophisch zu reduzieren ist, ist in der Konzeption der Leiblichkeit von vorneherein angelegt. Diese Anlage bleibt aber undeutlich und wird verschenkt, solange es keine Theorie gibt, durch die sie auf einer abstrahierenden übergeordneten Ebene dargestellt wird und durch die sie sich vor der Indienstnahme ihres affirmativen Lebensbegriffs schützen kann. 22
Vgl. Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 127 ff.
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Der Schmitz’schen Leibphänomenologie fehlt also gewissermaßen die theoretische Absicherung ihrer im Kern pluralistischen und eben nicht reduktionistisch-dualistischen Grundstruktur, und daher muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, den Menschen reduzierend auf Wesensmerkmale hin und von deren Bestimmung ausgehend zu definieren. Sie zeigt die Leiblichkeit zwar in aufschlussreicher Weise als ein offenes und an der Praxis ausgerichtetes Verhältnis, aber verwickelt sich in lebensphilosophische Aporien, die durch die Einbeziehung von historisch und ideologisch unhinterfragten Quellen noch verstärkt werden. Schmitz führt die Dynamik des Leiblichen zwar an einer beachtlichen Breite von Referenzen auf das empirische Gegenstandsfeld aus und kann den Zusammenhang von leiblichen Dispositionen und kulturellen Systemen und Ausdrucksformen dadurch genau aufzeigen. Er begründet das Verhältnis von Körper und Welt bzw. von Natur und Kultur aber nicht auf einer theoretischen Ebene, wie Plessner es z. B. mit den zentralen Begriffen der exzentrischen Positionalität und der natürlichen Künstlichkeit oder wie MerleauPonty es mit der Bestimmung einer chiastischen Verflechtung getan hat. Im Falle Merleau-Pontys ist der Weg von der phänomenologisch-empirischen Auseinandersetzung mit dem Gegebenen zur theoretischen Darlegung seines Denkens, durch die Aufklärung eines zugrunde liegenden ontologischen Strukturmodells, im Übergang von Phénoménologie de la Perception zu Le visible et l’invisible zu beobachten. Zwar wird die Markierung der zentralen Struktur des Chiasmus ihrerseits durch den Begriff »chair« etwas verschleiert, doch Merleau-Ponty versäumt es nicht, die allen Beschreibungen zugrunde liegende Struktur der Verschränkung von Subjekt und Objekt, von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Berührtem und Berührendem immer wieder auch in Abstraktion von ihren empirischen Grundlagen darzustellen. Schmitz kritisiert hingegen, dass eine theoretische Grundlegung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses nur oberflächlich bleiben kann, solange sie sich im Bereich objektiver, neutraler Tatsachen bewegt. Seine Kritik an Plessner geht vor allem in diese Richtung und entzündet sich daran, dass dieser zwar das Verhältnis des 36 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis
Menschen zu sich selbst bestimme, dass er aber nicht zeigen könne, wie Selbstwahrnehmung überhaupt möglich ist und subjektive Sachverhalte erschlossen werden könnten. 23 Dass Leiblichkeit nicht nur die Leiblichkeit des einzelnen Subjekts ist, sondern als Zwischenleiblichkeit verschiedene Sphären reversibel verschränkend ineinander führt, haben Schmitz und Merleau-Ponty gleichermaßen deutlich gemacht. Beide haben die der Leiblichkeit allgemein inhärente Überkreuzung von Subjekt und Objekt in einer leiblichen Konstellation des Körpers paradigmatisch abgebildet gesehen: Für Merleau-Ponty sind es die sich berührenden Hände in denen sich »eine grundsätzliche Beziehung, eine Verwandtschaft« 24 zeigt, in der das »berührende Subjekt zum berührten wird« 25. Für Schmitz zeigt sich diese besondere Situation der gleichzeitigen Subjekt- und Objekterfahrung im eigenleiblichen Spüren des Mundes. Der Mund ist ein »Leib im Kleinen« 26 und die gleichförmige Dauerhaftigkeit der aktiven und der passiven Rolle in dieser inselhaften Selbstberührung bildet die leibliche Dynamik als Ganze ab. Die Betonung der Begriffsarbeit und das Bemühen um Unterscheidungen, die sich den Phänomenen geschmeidig anpassen, ist sicher als eine der hervorzuhebenden Leistungen von Schmitz anzusehen. Zwar trägt diese Begriffsarbeit tatsächlich zur Infragestellung tradierter ontologischer Leitbilder und zur Kennzeichnung der Probleme bei, die sich z. B. aus der Orientierung der Wahrnehmung an Gattungszugehörigkeit, Zahlfähigkeit und Trägersubstanzen ergeben. (Besonders deutlich wird z. B. die Infragestellung des Substanzprimats in der These von den Gefühlen als Atmosphären und im Begriff der Situation.) Gleichwohl aber ist auch darauf hinzuweisen, dass Schmitz wiederum Kategorisierungen in das Gegebene einführt, die zu neuen Vereinseitigungen führen. Auch 23
Vgl. Hermann Schmitz: »Die Grenzen des ›exzentrischen‹ Subjekts«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5/2003, S. 873–876. 24 Maurice Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible, Paris 1964 (übers. v. Regula Giuliani/Bernhard Waldenfels: Das Sichtbare und das Unsichtbare (Sichtbare Unsichtbare), München 1986, S. 176). 25 Merlau-Ponty: Sichtbare Unsichtbare, S. 176. 26 Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 132.
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aus diesem Grund steht zu fragen, ob die Orientierung an reduzierenden Bildern des Denkens (Deleuze) nicht durch eine gewisse Offenheit im Deutungshorizont der Begriffe vermieden werden könnte. Mit der Frage nach der Leistungsfähigkeit metaphorischen Denkens und Sprechens wird diese Problematik eingeholt, und erst im metaphorisch reflektierten Gebrauch der Begriffe lassen sich die latenten und unbestimmten Qualitäten der Leiblichkeit wirklich anschaulich machen. Im Feld der Leiblichkeit versprechen sowohl die bestimmende, explikative Präzision neuphänomenologischer Begriffsarbeit, als auch der offene und auf den unbestimmbar auszudeutenden, selbsttätig schöpferischen Nachvollzug setzende Gebrauch von Metaphern aufschlussreich zu sein. Schmitz setzt sich vom konstruktiven Metapherngebrauch dezidiert ab und will der Unbestimmtheit metaphorischer Ausdeutung einen geschmeidigen Apparat von variablen und sich entwickelnden Begriffen gegenüber stellen, der die unwillkürliche Lebenserfahrung immer wieder neu spiegelt, ohne sie in Künstlichkeiten schrumpfen zu lassen. Ein Rückgang auf Eigentlichkeit und Natürlichkeit macht für ihn keinen Sinn; vielmehr muss die Verstrickung und Verdeckung der Lebenserfahrung mit begrifflichen Mitteln gezeigt und gegen ein vorgemachtes Leben gestellt werden. Zur Rehabilitierung und zur Verteidigung der leiblichen Lebendigkeit des Menschen über die Philosophie hinaus ist der hellsichtige und subtile Begriffsapparat von Hermann Schmitz äußerst wertvoll.
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Undine Eberlein
Aspekte leiblicher Intersubjektivität
1.
Leibliche Intersubjektivität in Leibphänomenologie und Embodiment-Forschung
Leibliche Intersubjektivität ist zentral für menschliche Sozialität. Der »body turn« in den Sozial- und Kulturwissenschaften hat zwar die soziokulturelle Bedeutung und Formung der Körper und ihre Rolle als Produkte wie Produzenten von Sozialität vielfach thematisiert, dabei jedoch die phänomenale Erfahrung aus der Erste-Person-Perspektive nicht – oder nur am Rande – einbezogen. Hier kann die im Deutschen mögliche semantische Differenzierung von »Körper« und »Leib« systematisch genutzt werden, um die im Englischen mit Formulierungen wie »felt body« und »sensitive body«, im Französischen mit »corps propre« und »corps vivant« angesprochenen Aspekte subjektiver Erfahrung zu artikulieren. Dabei handelt es sich um ein »familienähnliches« Bündel von Themen und Problematiken, die sich teilweise überschneiden und ergänzen, ihre exakten Konturen aber erst vor dem Hintergrund der jeweiligen philosophischen oder wissenschaftlichen Theoriearchitektur bekommen. Die Körper/Leib-Differenzierung lässt sich phänomenologisch als Unterscheidung zweier sich deutlich voneinander abhebender, allerdings auch immer schon miteinander verknüpfter und verschränkter Dimensionen unseres Wahrnehmens und Erlebens auffassen. Dabei orientiere ich mich hier an der »Neuen Phänomenologie« von Hermann Schmitz, die die Leiberfahrung bzw. das »eigenleibliche Spüren« als Grundlage unserer Welt- und Selbsterfahrung versteht, durch die wir vor-reflexiv in eine gemeinsame, mit reichen Erlebnisqualitäten sich zeigende Welt ein39 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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gebunden sind. Im eigenleiblichen Spüren sind wir (außer in pathologischen Zuständen etwa der Depersonalisierung) zugleich unbezweifelbar wir selber und untrennbar verbunden – wobei die entsprechenden Beziehungen und Erfahrungen keinesfalls angenehm und harmonisch sein müssen, sondern ebenso antagonistisch, gewaltsam, schmerzhaft usw. sein können. Schmitz’ Leib-Definition lautet: »Leiblich ist, was jemand in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig, spüren kann, ohne sich der fünf Sinne, namentlich des Sehens und Tastens, und des aus deren Erfahrung gewonnenen perzeptiven Körperschemas […] zu bedienen.« 1
Dabei ist unser Leib immer schon dynamisch umweltbezogen: »Leibliche Kommunikation findet statt, wenn ein durch Spannung und ganzheitliche Regungen zusammengehaltener Leib in eine leibliche Dynamik aufgenommen wird, die ihn spaltet oder übertrifft, indem sie ihn mit etwas verbindet. Wenn dieses absolut identisch ist, handelt es sich um Einleibung im Kanal des vitalen Antriebs, sonst um Ausleibung im Kanal privativer Weitung als Versinken (Versunkenheit) in Weite.« 2 Der etwas irritierende (und an »Einverleibung« erinnernde, vgl. auch Schmitz’ häufigen Rekurs auf das Beispiel des Kauens) Begriff der »Einleibung« meint also eine Veränderung im Spüren, wobei Schmitz zwischen »interner« und »externer Einleibung« unterscheidet: Sein Hauptbeispiel für »interne Einleibung« ist (chronischer) Schmerz, dieser »gehört […] nur zwiespältig zum eigenen Leib, der insofern im Schmerz gespalten ist«. 3 Hier meint »Einleibung« also das Auftreten eines neuen, aber bleibenden Schwerpunkts des Gespürten, der die »Leibinseln« und die gesamte Leiberfahrung in eine veränderte Dynamik zwingt und so als eine leiblich zugehörige und doch auch fremde Macht erscheint. Die »externe Einleibung« dagegen vereinige den eigenen Leib 1
Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/ München 2009, S. 35. 2 Hermann Schmitz: Der Leib (Leib), Berlin/Boston 2011, S. 29. 3 Schmitz: Leib, S. 29.
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»mit begegnenden Sachen (z. B. Personen, Leibern, unbelebten Körpern) […] zu einem Gebilde, das die Struktur leiblicher Dynamik besitzt«. 4 Diese Dynamik kann dabei ein oder mehrere Zentren haben: »Einleibung kann einseitig und wechselseitig sein. Einseitig ist sie z. B. bei Faszination, etwa, wenn man gebannt mit angehaltenem Atem den lebensgefährlichen, tollkühnen Kunststücken eines Drahtseilartisten folgt […] Wechselseitige Einleibung vollzieht sich im Oszillieren oder Fluktuieren der Dominanzrolle in dem durch die Einleibung ad hoc sich bildenden übergreifenden Leib […]«. 5
Solche wechselseitige externe Einleibung entspricht damit dem, was man wohl gemeinhin »leibliche Kommunikation« nennen würde – Schmitz’ Hauptbeispiel ist der »Blickwechsel« als »eine Art von Ringkampf im übertragenen Sinn«, 6 bei dem ein gemeinsamer und dynamischer vitaler Antrieb entsteht: »Daher ist auch jeder Blick im Blickwechsel ein Anschlag auf Dominanz, aus rein leiblichen Gründen, auch ganz ohne absichtliches Dominanzstreben, im Gegenteil: Die unterwürfigsten Blicke, der liebevolle und der demütige Blick, sind die dominantesten, weil sie rühren, und der Gerührte, der (im übertragenen Sinn) den festen Stand verloren hat, sich nicht mehr wehren kann. So wird die Begegnung von Blicken unwillkürlich zum Ringen um Dominanz.« 7 Aber es ist noch weiter zu unterscheiden: »Die beiden Hauptformen der Einleibung sind die antagonistische und die solidarische. Die Einleibung ist antagonistisch, wenn sie mindestens von einer Seite […] mit Zuwendung zur anderen Seite […] verbunden ist, und solidarisch, wenn sie ohne Zuwendung zum Partner oder zu Partnern erfolgt.«
Die meiner Ansicht nach unglückliche Terminologie verschleiert, dass gerade die »antagonistisch« genannte Form einen dyna4
Hermann Schmitz: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie (Höhlengänge), Berlin 1997, S. 127. 5 Schmitz: Höhlengänge, S. 129. 6 Schmitz: Leib, S. 32. 7 Schmitz: Leib, S. 31.
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mischen Bezug voraussetzt (wie im Beispiel des Blickwechsels), der dagegen in der »solidarisch« genannten Form nicht bzw. nur indirekt existiert: »Solidarische Einleibung verbindet menschliche oder tierische Leiber durch einen gemeinsamen vitalen Antrieb ohne einseitige oder wechselseitige Zuwendung zueinander, bedarf aber eines integrierenden Themas […]. Typische Beispiele sind Aufruhr […], panische Flucht und stürmischer Mut, die über eine Truppe kommen, die alberne oder feierliche Hochstimmung eines Festes, die mitreißende Hochspannung vor einem entscheidenden Ereignis […]«. 8
Leibliche Intersubjektivität erfahre ich nach Schmitz immer »am eigenen Leibe«, nämlich insofern durch »externe Einleibung« ein übergreifender »Gesamtleib« entsteht. Damit aber wird etwa die – bei Schmitz durchaus durchscheinende – Erfahrung verstellt, dass ich im Spüren das »Eindringen« fremder Elemente als solches erlebe bzw. die leibliche Dynamik und Stimmung anderer Menschen zwar »eigenleiblich« aufnehme, aber von meiner eigenen durchaus unterscheiden kann (auch wenn ich mich unter Umständen dagegen wehren muss, dass mich etwas »aus meinem Rhythmus bringt« oder Unruhe oder Angst anderer übergreifen usw.). Mein Spüren ist eigenleiblich – aber die leiblichen Zustände und Dynamiken anderer Menschen sind mir darin durchaus als »ihre« erfahrbar! Die Leibphänomenologie von Schmitz bedient sich zudem leider eines Vokabulars, das die Rezeption in den bzw. Anschlussfähigkeit an die Sozial- und Kulturwissenschaften erschwert. Um diese Anknüpfung zu leisten müsste meiner Meinung nach 1.) eine Methodologie zur vergleichenden Erfassung und Beschreibung von Leiberfahrung mittels teilnehmender Beobachtung und teilstandardisierter Interviews, und 2. ) eine Terminologie zu ihrer Dokumentation entwickelt werden. Damit würde die an die Erste-Person-Perspektive gebundene Form der phänomenologischen Beschreibung freilich zu Gunsten eines Versuchs der wissenschaftlichen Objektivierung des Phänomenbereichs 8
Schmitz: Leib, S. 29.
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leiblicher Erfahrung und Intersubjektivität erweitert. Deswegen möchte ich kurz ein zu diesem Vorgehen passendes Beschreibungsvokabular vorschlagen, wobei entsprechend meinem Forschungsinteresse besonders Fragen der leiblichen Erfahrung von Bewegung, ihrer Wahrnehmung und Koordination im Fokus sind: Zuerst ist zwischen »Leiberfahrung«, die bewusst gemacht wird bzw. werden kann, und »Leibdisposition«, die implizit und unter der Bewusstseinsschwelle bleibt, zu differenzieren. Letztere beeinflusst unser Fühlen und Handeln und ist – oft auch über einen längeren Zeitraum – wirkmächtig, aber phänomenologisch nur indirekt erschließbar, nämlich wenn sie durch ein Ereignis bzw. eine Zustandsänderung bewusst wird, z. B. wenn ich nachträglich spüre, wie schlecht es mir eine Zeit lang gegangen ist. Bei der Leiberfahrung ist zwischen fokussierter und unfokussierter zu unterscheiden. Die fokussierte Leiberfahrung, bei der wir aufmerksam leiblich Spüren, kann eine aktive Form haben, bei der wir unsere Aufmerksamkeit aktiv und gezielt auf unser Spüren richten, um etwas Bestimmtes zu spüren – also unser Spüren gewissermaßen »gestalten« wollen. Durch Konzentrations- und Suggestionsübungen, aber auch Imaginationen und Bilder wird etwa in Praktiken wie Feldenkrais, Qi Gong, Tai Chi, Somatics usw. die Aufmerksamkeit auf bestimmte Formen bzw. Qualitäten des leiblichen Spürens gerichtet bzw. diese werden so eigentlich erst hervorgebracht. Die fokussierte Leiberfahrung kann aber auch eine passive Form haben, etwa wenn wir dösend in der Sonne liegen und in uns aufmerksam »hineinspüren«, ohne dabei aber etwas Bestimmtes spüren zu wollen. In unserem Alltag dominiert freilich die unfokussierte Leiberfahrung, bei der wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf das leibliche Spüren richten, sondern nur gewissermaßen »mitlaufend« spüren. Weiterhin ist zu unterscheiden zwischen leiblicher Kommunikation im eigentlichen Sinne, bei der mindestens zwei »Leiber« mit eigenleiblichem Spüren (also Menschen oder Tiere) involviert sind, und die meist in einer komplexen wechselseitigen Dynamik abläuft, und Formen der leiblichen Affizierung und Reaktion, bei der ein Leib von Umweltzuständen oder Ereignissen beeinflusst 43 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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wird und auf diese reagiert (z. B. ein Gewitter, eine Landschaft oder eine »Atmosphäre«, aber auch einen Abgrund, einen heranfliegenden Stein, eine Farbe oder ein Bild, einen Ton oder eine Melodie usw.). Diese Unterscheidung erscheint wichtig, denn selbst wenn ich mit nicht-personalen Elementen meiner Umgebung in einer engen Beziehung leiblichen Spürens bin (wie z. B. mit Maschinen, einer vertrauten Landschaft, einem geliebten Musikstück) ist dies doch phänomenal deutlich vom Miteinander des wechselseitigen leiblichen Spürens und Kommunizierens von Menschen untereinander (und »höheren« Tieren) unterschieden. (Von »Einleibung« wäre meiner Meinung nach besser nur in jenen Fällen zu sprechen, wo ein Gegenstand (wie z. B. ein Blindenstock) in einer Weise in das leibliche Spüren und das eigene motorische Körperschema integriert wird, dass er im Handlungsvollzug als vollkommen zugehörig empfunden wird.) Bestimmend für leibliche Kommunikation sind ihre Wechselseitigkeit (die in ihrer Intensität oder Wirkmächtigkeit durchaus asymmetrisch sein kann) und die sich entwickelnde leibliche Dynamik, für die das »Alphabet der Leiblichkeit« von Schmitz einen guten Ausgangspunkt bietet. Weitere Kategorien für die Leibdynamik wären: »Schwere« versus »Leichtigkeit«; »Sinken« versus »Aufrichten«; »Fluss« bzw. »Durchlässigkeit« versus »Fragmentierung« bzw. »Festhalten«; »Verdichten« versus »Weiten« und »Spannung« versus »Loslassen«. Bei der mehrere Beteiligte erfassenden Dynamik leiblicher Kommunikation ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen »gleichgerichteter« Dynamik (hierzu gehören u. a. die von Schmitz beschriebenen Formen »solidarischer Einleibung«) und »gegengerichteter« Dynamik (vgl. die »antagonistische Einleibung«, wobei es auch z. B. um ein lustvolles Zusammenspiel von Aktion-Reaktion gehen kann). Beide Kategorien sind dabei auf die situative leibliche Dynamik anzuwenden und nicht auf ganze Praktiken auszudehnen, die nämlich meist beide Formen, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, umfassen. Anders als Schmitz sehe ich aber auch bei gleichgerichteter Dynamik eine enge Verbindung der beteiligten Leiber, die nicht nur durch einen externen Fokus verbunden sind. 44 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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Eine spezielle Form der leiblichen Kommunikation ist die »leibliche Resonanz«, bei der in einer Art »Übertragung« eine gleichgerichtete Dynamik des leiblichen Spürens entsteht bzw. besteht. Solche »leibliche Resonanz« als ein situatives Geschehen der Synchronisierung leiblichen Spürens kann zu Erfahrungen der personalen Entgrenzung und dynamischen »Verschmelzung« führen, die anders als bei der von Schmitz beschriebenen »Ausleibung« in eher kontemplativen Situationen von einer übergreifenden Dynamik leiblicher Intersubjektivität getragen sind. (Wie Massenhysterien oder totalitäre Massenbewegungen zeigen, ist aber solche Entgrenzung oft eine durchaus zwiespältige Sache …) Bestimmte Körperpraktiken wie Tanz (vgl. besonders Paartänze wie den Tango oder auch die Kontaktimprovisation) oder Formen von Somatics (besonders Tai Chi und seine Paarübungsform Tui Shou) üben leibliche Kommunikation und Resonanz gezielt und eignen sich entsprechend besonders für einschlägige empirische Untersuchungen. Wenn z. B. eine Gruppe zusammen Tai Chi praktiziert, ist leibliche Kommunikation von zentraler Bedeutung. Zwar ist durch Positionierungs-Traditionen ein Tänzer dazu bestimmt, den Rhythmus der Gruppe vorzugeben. Aber die Figuren und Richtungswechsel sind zu komplex, als dass man allein durch bewusste Abstands- und Lagebestimmungen zu einer Koordination und einem gemeinsamen Rhythmus finden könnte. Hierfür ist die leibliche Abstimmung notwendig, wobei der Leib nicht nur »sendet«, sondern vom »Empfang« von Impulsen und einem übergreifenden Netz von Gestaltverläufen und Bewegungssuggestionen bestimmt ist. Trotz unterschiedlicher leiblicher Disposition und Geschichte können so die Übenden vor-reflexiv und non-verbal leiblich kommunizieren und in gleichgerichteter leiblicher Dynamik üben. Die leibliche Intersubjektivität der Beteiligten ist dabei zentrale Voraussetzung einer dynamischen und »gut eingespielten« Bewegungskoordination. Prozesse »leiblicher Resonanz« sind aber darüber hinaus auch im sozialen Alltag und besonders für alle soziokulturellen Praktiken wichtig, die eine spontane Koordination in einer Situation erfordern. Leider erschweren Duktus und Begrifflichkeit von Hermann Schmitz oft eine Rezeption seiner Erkenntnisse durch 45 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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die Kognitions-, Sozial- und Kulturwissenschaften, die von einer Einbeziehung seiner leibphänomenologischen Perspektive sehr profitieren könnten. Besonders bedauerlich ist außerdem die Unkenntnis der Neuen Phänomenologie in der internationalen »Embodiment«-Forschung, zumal diese sachlich ähnlich orientierte und anschlussfähige Überlegungen zur leiblichen Intersubjektivität vorgelegt hat. »Embodiment« steht für die Einbeziehung des Körpers in die Sozial- und Kulturwissenschaften, wie sie insbesondere in der Geschlechterforschung, in den an Foucault und/oder Bourdieu anknüpfenden historischen bzw. soziokulturellen Analysen sowie in den Cultural Studies zu beobachten ist. Die soziale Formierung der Körper und die Einkörperung des Sozialen bilden komplementäre Perspektiven, um die Bedingungen und Grenzen der Reproduktion, aber auch Variation und Infragestellung von Ordnungs- und Herrschaftsformen zu untersuchen. Dabei erscheint der Körper freilich oft als passives Material der Diskurse und Praktiken. Hier kann die Leibphänomenologie eine Korrekturfunktion erfüllen, da sie die Bedeutung der subjektiven Leiberfahrung und damit auch der Erste-Person-Perspektive betont und so den »Eigensinn« des Leib-Körpers gegenüber soziokulturellen Anforderungen und Formierungen thematisierbar macht, ohne auf essentialistische oder biologistische Ansätze zu rekurrieren. »Embodiment« steht ebenso für die Einbeziehung des Körpers in die Kognitions-, Emotions- und Identitätsforschung. Die Kritik repräsentational geprägter Ansätze der Kognitionsforschung und ihres latenten Dualismus versucht den Leib-Körper als konstitutiv für Kognition und Identität, Erfahrungsbildung und Handlungsmacht, Sprache und Kultur zu erweisen. Erfahrung und Erkenntnis werden dabei als immer schon »embodied«, »embedded«, »situated« und »enacted« sowie notwendig mit Bewegung verknüpft beschrieben. Unter Rekurs auf wissenschaftliche Forschungen sowie Ansätze etwa von Husserl, Heidegger, Sartre und Merleau-Ponty werden das Verständnis von »Embodiment« und die jeweiligen Konsequenzen kontrovers diskutiert. Dabei zeichnet sich vielfach eine neue Wertschätzung der Phänomenologie ab: »Neurophenomenology« und »naturalizing phenomeno46 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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logy« rehabilitieren die Erste-Person-Perspektive und den phänomenalen Reichtum der subjektiven Erfahrung – und verbinden dies mit dem Anspruch ihrer neurowissenschaftlichen Untersuchung und naturalistischen Erklärung. Die leitende Arbeitshypothese dabei ist, dass das phänomenale Erleben nicht als bloßes Epiphänomen gewertet werden sollte, sondern seine genaue Beschreibung und Analyse für ein adäquates Verständnis des menschlichen Geistes entscheidend sei. Phänomenologische Untersuchungen, Kognitionsforschung und Neurowissenschaften erscheinen so als einander ergänzende Ansätze. Ausgehend von Francisco Varela und Mitstreitern hat dies zu einer Rehabilitierung von Selbstbeobachtung bzw. Introspektion in Teilen der Kognitionswissenschaften geführt. Die detaillierte Beschreibung subjektiver Erlebnisabläufe, Vorstellungsbilder usw. durch die Probanden erwies sich dabei aber als schwierig, sodass Methoden wie das »explicitation interview« ausgearbeitet wurden, um zuvor oft nur vage bewusste Aspekte der subjektiven Erfahrung artikulierbar zu machen. 9 Für das Thema »leibliche Intersubjektivität« sind besonders die Arbeiten von Shaun Gallagher interessant, der sich u. a. mit dem Problem des Fremdverstehens (vgl. »theory of mind« und »social cognition«) beschäftigt und dazu einen »interaction theory« genannten Ansatz von »embodied cognition« vorgelegt hat: Unser Verstehen der Meinungen, Gefühle und Absichten anderer ist danach meist ein unmittelbares, vor-reflexives Erfassen an Hand ihrer Bewegungen, Gesten, Haltung, Mimik, Augenbewegungen etc. An der Alltagspsychologie orientierte theoretische Rekonstruktionen (vgl. »theory theory«) und/oder simulierende Nachbildungen (vgl. »simulation theory«) zwecks Verstehens ihrer Bewusstseinsinhalte und Intentionen sind dagegen sekundäre und im Alltag eher selten verwendete Methoden des Fremdverstehens. Dieses sei nämlich meist kein Prozess theoretischen bzw. simulierenden Erschließens aus der Dritte-Person-Perspektive, sondern 9
Vgl. Claire Petitmengin: »Describing one’s subjective experience in the second person«, in: An interview method for the science of consciousness, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 5, 2006, S. 229–269.
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ein verkörpertes, pragmatisch-handlungs-bezogenes (»enactive«), soziokulturell geprägtes und situatives Verstehen aus der ZweitePerson-Perspektive: »Rather than third-person observation, our relations with others are better characterized in terms of second-person interaction where most of what we need for a pragmatic understanding of the other person are not hidden mental states, but embodied expressions that we can easily perceive on their faces, in their postures, movements and gestures – none of which float around in thin air but are situated in social and pragmatic contexts. On the phenomenological view, interaction, rather than observation, constitutes our primary way of being with others […]«. 10
Gallaghers »interaction theory« des sozialen Verstehens sieht dieses also als in leiblich-körperlicher Intersubjektivität und deren vor-reflexiven Leistungen begründet. »Embodied interaction« ist für Gallagher der Schlüssel für alles soziale Verstehen und Handeln. Zugleich aber fehlt ihm eine Sprache zur genauen Beschreibung der subjektiven Erfahrungsseite der entsprechenden Prozesse – hier könnte ein Rekurs auf die Neue (Leib-)Phänomenologie helfen. Umgekehrt legen es seine Fragestellungen nahe, den Bereich des aktiven Handelns und insbesondere der Handlungsund Bewegungskoordination im Kontext der Leibphänomenologie stärker zu thematisieren. Deren Betonung der affektiven Betroffenheit und des »Widerfahrnischarakters« leiblichen Erlebens ist zwar zur Korrektur des individualistischen, aktivistischen und rationalistischen Vorurteils der soziologischen Handlungstheorie wichtig, vernachlässigt dabei aber tendenziell die zentrale Bedeutung von Leiblichkeit (auch) für aktives, zielgerichtetes Handeln, wie sie in einschlägigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen etwa von Arbeitsprozessen oder von Wettkampfsport aufgezeigt wurde. Für Gallaghers Konzept der »embodied cognition« wie für die Neue Phänomenologie gilt aber gleichermaßen, dass erst ihr An10
Shaun Gallagher: »On the possibility of naturalizing phenomenology«, in: Dan Zahavi (Hrsg.): Oxford Handbook of Contemporary Phenomenology, Oxford 2012. S. 70–93.
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schluss an Diskurse der Sozial- und Kulturwissenschaften eine umfassende Thematisierung leiblicher Intersubjektivität ermöglicht. Über empirische Untersuchungen hinaus stellt sich dabei die theoretische Aufgabe der Grundlegung einer die Leiberfahrung und die damit verbundene Erste- und Zweite-Person-Perspektive des Erlebens der situativen, bewegten und verkörperten Intersubjektivität als Bedingung der Möglichkeit von Sozialität artikulierenden Sozialtheorie. Leibliche und körperliche Dynamik im Zusammenspiel sowie deren intersubjektive – kooperative wie antagonistische – Koordination erweisen sich dabei als zentral, so dass der Zusammenhang von Leiberfahrung und Bewegungswahrnehmung bzw. Bewegungskoordination nicht nur für spezifische Körperpraktiken, sondern für Sozialität überhaupt eine besondere Bedeutung gewinnt. 2.
Aspekte der Leiberfahrung in Tai Chi und modernem Bühnentanz
Alle soziokulturellen Praktiken haben (auch) eine körperliche und eine leibliche Komponente. Selbst scheinbar ganz »leibferne« Tätigkeiten – wie etwa das Schreiben am Computer – sind mit einem zumindest peripheren leiblichen Spüren verbunden. Erst recht ist in jenen soziokulturellen Praktiken, bei denen der Körper und seine Leistung im Vordergrund stehen – man denke etwa an körperliche Arbeit oder den Leistungssport – auch das leibliche Spüren beteiligt, selbst wenn es hier meist peripher bleibt. Anders ist dies bei manchen besonderen Körperpraktiken, die fokussierte Leiberfahrung in Form von gezieltem leiblichem Spüren – oft verbunden mit Imaginationen – einsetzen, wie z. B. dem Tai Chi und manchen Formen des modernen (Bühnen-)Tanzes. Hier bekommt Leiberfahrung explizit eine besondere Bedeutung. Damit aber sind diese Praktiken auch besonders geeignet, die Spezifik und Wirkmächtigkeit von Leiberfahrung praktisch zu vermitteln und theoretisch zu erfassen. Was beim Tai Chi allerdings zuerst wahrgenommen wird, ist die Dynamik der körperlichen Bewegung, ihre Ausdehnung in 49 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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den Raum und ihre Zurücknahme. So spielt denn auch für das Tai Chi, das ja aus der Kampfkunst stammt, in all seinen Stilen und Varianten die kontinuierliche Übung und Kenntnis des Körpers eine zentrale Rolle. Erst nach Training und Dehnung der Muskulatur beginnt man zu »laufen«. Ein gründlicher Anatomiekurs, der Kenntnisse über Aufbau und Funktion von Skelett und Muskulatur vermittelt, gehört zu jeder seriösen Ausbildung zum Kursleiter bzw. Lehrer. Das Erlernen des Tai Chi beginnt als Lernen der Technik einschließlich der physikalischen Gegebenheiten von Kraftrichtungen und Kraftübertragungen und natürlich der bis ins Detail festgelegten Bewegungschoreographie der jeweiligen Form. Deren erfolgreiche »Einkörperung« bestimmt – neben der Anatomie – maßgeblich den technischen Level der jeweiligen Ausführung. Über diese körperlich-technischen Grundvoraussetzungen hinaus aber ist das leibliche Spüren für die »Qualität« des Tai Chi von entscheidender Bedeutung – und zwar sowohl für den allein Übenden, als auch für das gemeinsame Laufen in der Gruppe. Obwohl dies den Übenden durchaus bewusst ist, gibt es bezeichnender Weise kaum Literatur, die diese Leib-Dimension des Tai Chi ausdrücklich zum Gegenstand hat. (Dagegen gibt es neben anleitenden Schriften einige Literatur, die sich mit medizinisch messbaren Wirkungen etwa auf Blutdruck, Muskeltonus, Stoffwechsel, Stress usw. befasst.) Soweit mir bekannt, thematisiert bisher eigentlich nur die Sinologin Gudula Linck die Leiberfahrung im Tai Chi (und Qi Gong) systematisch, wobei sie zur Beschreibung auf chinesische, meist dem Taoismus entstammende, Begriffe rekurriert und diese dann zur Terminologie von Hermann Schmitz in Beziehung zu setzen versucht: Yin und Yang als komplementäre Zustände und Leibdynamiken; he und hai als Schließung/Engung; Öffnung/Weitung; Yi als spontanes leibliches Erinnern; Ying als Resonanz usw. 11 Auch ich werde mich im Folgenden am »Alphabet der Leiblichkeit« von Schmitz orientieren, seine Kategorien aber – wie 11
Vgl. Gudula Linck: Ruhe in der Bewegung. Chinesische Philosophie und Bewegungskunst, Freiburg/München 2013.
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oben schon skizziert – ergänzen und erweitern. Laut Schmitz ist Leiberfahrung immer schon in sich »dialogisch«: Leiblich sein heißt, zwischen Engung und Weitung zu stehen und weder von dem einen noch von dem anderen ganz loszukommen, zumindest so lange das Bewusstsein währt. Diese fundamentale Polarität durchzieht das leibliche Empfinden in jedem Augenblick – wie sich gerade im Tai Chi exemplarisch zeigen lässt, wo das ständige Pulsieren zwischen den Polen Engung/Verdichtung und Weitung permanent alle Bewegungen begleitet, die dabei immer in der gespürten Körpermitte verankert und aus dieser koordiniert werden. Schon das Eröffnen der Form und die Ausrichtung der Körperposition bedarf dabei der aktiven fokussierten Leiberfahrung: Im schmalen Stand und dann in der Öffnung zum schulterbreiten Stand lässt man bewusst den Schwerpunkt sinken, und zwar nicht nur körperlich über die Entspannung des unteren Rückens und Beckens sowie der Knie und Fußgelenke, sondern durch ein »gespürtes Sinken«, das vom Ausatmen begleitet und als leibliche Empfindung des Sinkens, der Schwere und der stabilen Verbindung mit dem die Füße tragenden Grund erfahren wird. Gerade Anfängern helfen dabei Imaginationen bzw. Bilder des inneren Absinkens bis in die Fußsohlen (und über diese hinaus). Ähnliches gilt für die gleichzeitige Aufrichtung des Oberkörpers: Neben der Aufrichtung der Lenden- und Brustwirbelsäule und Entspannung der Schultern ist eine leibliche Empfindung von Leichtigkeit, Weite, Leere, Gelöstheit und Ausdehnung nach oben die Voraussetzung für die optimale Haltung. Häufig werden dabei Imaginationen verwendet, wie etwa die Vorstellung, dass man von einem Faden am Scheitelmittelpunkt ganz leicht nach oben gezogen wird und dieses Areal sich nach oben trichterförmig öffnet, was mit »den Geist weit werden lassen und entspannen« umschrieben wird. Weiterhin ist in der ersten Ausrichtung des Körpers im Stand – der selber nie statisch ist – die leibliche Dynamik von Verdichtung/Schwere nach unten und Weitung/Leichtigkeit nach oben ein wesentliches Moment. Noch intensiver wird diese Empfindung, wenn der Stand durch das Heben und Sinkenlassen der Arme in sichtbarer äußerer Dynamik aufgelöst wird: Auch hier 51 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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ist die Bewegung nicht nur durch ein muskulär-mechanisches Heben der Arme bis etwa zur Schulterhöhe und Sinken bis zur Hüfthöhe bestimmt, sondern wird begleitet von der Empfindung entspannter Leichtigkeit der Weitung und des Steigens bis zu einem bestimmten Umschlagspunkt, der die Phase des langsamen Sinkens und Verdichtens nach unten einleitet. Und auch hier wird die Leiberfahrung häufig gezielt mit Suggestionen unterstützt: etwa durch die Vorstellung, dass die Handgelenke, die entspannt die Bewegung anführen, von Fäden ganz leicht nach oben gezogen werden. Beim Sinken dagegen, bei dem die Ellbogen den Bewegungsimpuls nach unten anleiten, steuert die Vorstellung eines langsam schwebenden Absinkens der Arme durch Wasser gezielt die leibliche Empfindung von Schwere und Verdichtung. Natürlich sind bei all dem Skelett, Muskeln, Sehnen, Faszien usw. in ihrem Zusammenspiel von Kontraktion und Entspannung beteiligt (vgl. beim modernen Tanz die Techniken von »contraction« und »release« von Martha Graham). Dies ist die Basis für die technisch korrekte Ausführung des Tai Chi, macht aber eben nicht dessen spezifische Qualität aus, die der Übende (aber oft in leiblicher Resonanz auch der Zuschauer) erfahren kann. Diese Qualität zeigt sich besonders im sogenannten »knochenlosen Tai Chi«, bei dem ein ständiges Pulsieren zwischen Verdichtung und Weitung wie ein einziges Ein- und Ausatmen im Bewegungsfluss des bis in die Fingerspitzen durchlässigen Körper-Leibes erfahren wird. In den langsamen fließenden Bewegungen vollzieht sich sanft und ohne Unterbrechung der permanente Wechsel von Weitung und Verdichtung, der von bewusster Atmung begleitet wird. Jede Bewegung, die sich in den Raum ausdehnt, kann nicht endlos in die Weite gehen, sondern kommt an einem gewissen Punkt an ihre Grenze und wird zurückgeholt. In den Bewegungen von verströmender Weichheit, in der Plastizität des »morphing«, in dem die eine Gestalt bruchlos aus der anderen hervorgeht, wird vom Übenden (aber oft auch vom Zuschauer) der »Flow« (des Chi) leiblich gespürt. Dabei ist der weiche Bewegungsfluss zugleich von einer zielgerichteten Energie (Chi) und Kraftqualität geprägt, die Intensität vermittelt. Diese leiblich spürbare Kraftqualität tritt besonders im so52 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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genannten »Chen-Stil« (oft auch »Entladungsform« genannt) hervor. Hier wird der langsame Bewegungsfluss häufig von plötzlichen kurzen und kraftvollen Stoßbewegungen unterbrochen. Als Vorbereitung dieser Energie-Entladungen kommt es erst zur Muskelkontraktion und dann zum plötzlichen Loslassen der Spannung. Aber ohne eine leiblich-spürende Konzentration auf die äußerste Verdichtung und dann die maximale Weitung mutet der Entladungsmoment sowohl für den Übenden als auch für die Zuschauer meist kraftlos und lau an. Paradoxer Weise bietet also gerade die bis in Details festgelegte Form des Tai Chi den Raum bzw. die Freiheit für das Erspüren der verschiedenen Formen und Qualitäten der Leibdynamik, die nicht nur je nach Leibdisposition und Leib-Biographie, sondern auch je nach Tagesform sehr unterschiedlich erfahren werden: An manchen Tagen ist nur der technische Ablauf möglich (und es fühlt sich wie eine Art »Trockenübung« an), an anderen Tagen kommt es zum beschriebenen »Flow«. Interessanter Weise ist dabei die aktive fokussierte Leiberfahrung mit bewusster Aufmerksamkeitslenkung zwar anfangs notwendig, sollte dann aber mehr und mehr in den Hintergrund treten, so dass eine nur noch periphere Leiberfahrung das Laufen der Form begleitet. Zuviel Konzentration verhindert nämlich gerade den Fluss der (Bewegungs-) Energie. Wenn aber die vom Atem begleiteten Tai Chi-Bewegungen mit vollkommener Präsenz und zugleich »schwebender«, selbstvergessener Aufmerksamkeit in entspannter Ruhe und Natürlichkeit bei zugleich äußerster Konzentration und dem rechten Maß an Spannung ausgeführt werden, scheint sich die permanente Dynamik von Innen und Außen, Zentrieren und Öffnen, Verdichten und Weiten über die äußeren Körpergrenzen hinaus in den leiblichen Richtungs-Raum auszudehnen und diesen zu erfüllen. Wenn eine Gruppe zusammen Tai Chi praktiziert, ist leibliche Kommunikation von zentraler Bedeutung. Zwar wird durch Positionierungs-Traditionen jeweils einer dazu bestimmt, den Rhythmus der Gruppe zu bestimmen. Aber die Figuren und Richtungswechsel sind zu komplex, als dass man allein durch bewusste körperliche Abstands-und Lagebestimmungen zu einer gemein53 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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samen Koordination und einem gemeinsamen Rhythmus finden könnte. Hierfür ist die leibliche Abstimmung bzw. leibliche Kommunikation und Resonanz notwendig. Der Leib »sendet« nämlich nicht nur, sondern ist zugleich auch vom »Empfang« anderer leiblicher Impulse und einem übergreifenden Netz von Gestaltverläufen und Bewegungssuggestionen bestimmt. Die ähnliche leibliche Organisation trotz teilweise unterschiedlicher Dispositionen und Leib-Biographien ermöglicht es den Übenden, leiblich »anzudocken«, d. h. vor-reflexiv und non-verbal leiblich mit einander zu kommunizieren und in gleichgerichteter Dynamik zu laufen. Ein weitere Form des Tai Chi, bei der die leibliche Kommunikation und Resonanz von ganz besonderer Bedeutung ist, ist die Partnerübung »Tui Shou« (auch »Pushing Hands« genannt), bei der man gezielt lernt, nicht nur die Kraft des Gegners in dessen Bewegungsimpuls aufzunehmen und von sich abzulenken, sondern auch leiblich vorauszuspüren, wohin genau die Kraft des Gegners zielt. Dabei ist das »Hinhören« auf den Partner von entscheidender Bedeutung: seine Kraftrichtung und Dynamik zu erspüren und aufzunehmen, in die Vertikale zu neutralisieren, von sich ab- und umzuleiten, und schließlich ›wegzuschicken‹. Das Ziel dabei ist letztlich, die eigene Verwurzelung und Zentrierung zu behalten und den Partner aus seiner Mitte und Struktur zu bringen. Meine Beispiele haben hoffentlich deutlich gemacht, welch zentrale Rolle die Leiberfahrung für die Praxis des Tai Chi spielt. So sehr auch körperliche Aspekte wichtig sind, steht und fällt doch die Intensität und Qualität der Übungen mit der leiblichen Dynamik. Interessanterweise ist diese Qualität oft auch für Zuschauer erfahrbar, selbst wenn diese keine vorgängigen Erfahrungen mit solchen Körperpraktiken haben. Das Konzept der »leiblichen Resonanz« (und dessen mögliches neurowissenschaftliches Pendant, die schon seit Jahren viel diskutierte Rolle der »Spiegelneuronen«) scheint mir dies zumindest ansatzweise erklärbar zu machen. Ganz zentral ist die Rolle leiblicher Kommunikation bei der sogenannten Kontaktimprovisation, die als gemeinsames Improvisationsgeschehen keine geplante Abfolge kennt. Der Tanz ent54 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Aspekte leiblicher Intersubjektivität
steht hier aus dem eigenleiblichen Spüren, der wechselseitigen Wahrnehmung der Partner und ihrer Situation, sowie der Kontaktaufnahme in jedem Augenblick neu, wobei jede Bewegung sich unmittelbar an die Bewegung des Partners anschließt. Die Grundvoraussetzung dieses spontanen Dialogs ist die Offenheit und das Erspüren der eigenen körperlichen und leiblichen Dynamik wie auch der des anderen, die Wahrnehmung der gemeinsamen Situation und die Präsenz des »Im-Augenblick-seins«. Aber auch im Solotanz kann die leibliche Dynamik und Intersubjektivität mit anderen Tänzern wie auch mit dem Publikum eine zentrale Rolle bei der Gestaltung des Tanzes wie auch bei seiner Wahrnehmung seitens der Zuschauer spielen: Wenn der Tänzer Akram Khan in rasanten, derwischartigen Drehbewegungen über die Bühne wirbelt und dann zu einem blitzartigen und doch zugleich weichen Innehalten kommt, spürt das Publikum ohne jedes narrative Element, nur durch die Intensität der puren Bewegung, das Thema vieler Arbeiten Khans: Nämlich wie Zeit sich in ihren verschiedenen Dimensionen in Bewegung zeigt. Mit seinen bis in die Fingerspitzen energetischen Bewegungen, deren Präzision und Durchlässigkeit im Kontrast zu den sich rasend wiederholenden und dabei nur minimal verschiebenden Tanzfiguren steht, wird beim Zuschauer das paradoxe Gefühl einer aus der Beschleunigung entstehenden Verlangsamung und Dehnung der Zeit zum »Flow« einer langen Welle erzeugt, ähnlich wie beim Hören serieller Musik mit ihren minimalen Varianten bei prinzipieller Invarianz. Akram Khan ist als Londoner Choreograf und Tänzer bengalischer Herkunft ein Immigrant der dritten Generation. Er verbindet in seinem Tanzkonzept besonders den traditionellen indischen Tanzstil des Kathak mit Formen des zeitgenössischen Tanzes. Khan beschreibt selber, dass im Kathak die rhythmischen Vorgaben oft die individuelle Geschwindigkeitsgrenze des Körpers überschreiten, wodurch es unklare Momente der Unentschiedenheit und des Übergangs in den Bewegungsmustern gebe, die Technik dabei jedoch zugleich ganz klar bleibe. Auf der narrativen Ebene verbindet er in seinem Tanz die indische Mythologie mit ihren Erzählelementen von Schöpfung und Zerstörung, Geburt 55 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Undine Eberlein
und Tod mit ähnlichen Themen der modernen Philosophie und Naturwissenschaften. Wenn Khan in immer wieder neu gestalteten Experimenten das extreme Tempo des Kathak mit den verschiedenen Tempi und Raumdimensionen des zeitgenössischen Tanzes verbindet, erfährt das Publikum die verwirrende Gleichzeitigkeit von Geschwindigkeit und Verlangsamung, von Chaos und Struktur buchstäblich »am eigenen Leibe«. Die genannten Beispiele zeigen, dass auch im zeitgenössischen Tanz die Leiberfahrung vielfach eine große Rolle spielt. Man fühlt sich an den amerikanischen Tanzkritiker, Chronisten und Mentor des »modern dance« John J. Martin erinnert, der die Forschungen zur sogenannten »Kinästhetik« in den Tanzdiskurs einführte und den Zuschauer als eine Art »Resonanzraum« deutete. Die Übertragung von Tanzbewegungen vom Tänzer auf den Zuschauer fasst Martin dabei sympathetisch auf: Der Zuschauer absorbiert quasi die Bewegungen mit ihren emotional gestimmten Spannungsmomenten in seinen Körper, reagiert also im höchsten Maß empathisch. Der Tanz wirkt nicht nur visuell, sondern der Zuschauer wird von ihm leiblich berührt. Dieses Tanzverständnis jenseits (oder vor aller) sprachlicher Verständigung und das dazugehörige Wahrnehmungskonzept der Resonanz ist freilich noch im Kontext des »modern dance« entstanden und erinnert teilweise an die problematischen Vorstellungen des Ausdruckstanzes. Dagegen scheint in vielen zeitgenössischen Tanzkonzepten, die z. B. die physikalische Materialität der Körper und ihrer Bewegungen betonen, oder deren Zeichenhaftigkeit herausstellen und etwa alltägliche Bewegungsabläufe zitierend aufnehmen, das leibliche Spüren kein zentrales Thema mehr zu sein. Und tatsächlich ist die Bedeutung der Leiberfahrung im zeitgenössischen Tanz recht unterschiedlich: Sie kann rein »peripher« bleiben, oder aber auch als »fokussierte« und bewusste zu einem wichtigen Element sowohl der Ausbildung und Aufführungspraxis der Tänzer, als auch der Wahrnehmung und Beurteilung durch die Zuschauer werden. In jedem Fall sollte heute Leiblichkeit natürlich nicht mehr als Ressource und Ausdruck innerer Wahrheit und unentfremdeter Authentizität fungieren, wie es im deutschen Ausdruckstanz vielfach Hoffnung und Programm war. 56 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Aspekte leiblicher Intersubjektivität
Das eigenleibliche Spüren und die Fähigkeiten zur leiblichen Kommunikation und Resonanz sind vielmehr (wie der Körper und seine Möglichkeiten) bis zu einem gewissen Grad trainierbar – sonst hätte jedes diesbezügliche Üben keinen Sinn und Erfolg. Das je eigene Leibempfinden und die Ausprägung und Intensität der leiblichen Resonanz sind also (auch) ein Resultat der jeweiligen Lebensgeschichte und der daraus entstandenen Leibdisposition – also durchaus soziokulturell »vermittelt«. Über die Beschreibung der Leiberfahrung in Tai Chi und modernem Tanz hinaus ist es heute wichtig, die Leibphänomenologie für die Sozial- und Kulturwissenschaften anschlussfähig zu machen, aber auch umgekehrt diese für die Thematisierung der Leiberfahrung mit ihrer spezifischen Erste-Person-Perspektive zu öffnen. Zentral ist dabei insbesondere die empirische Frage, bis zu welchem Grad und in welcher Weise Leiberfahrungen und leibliche Intersubjektivität von soziokulturellen Praktiken abhängen bzw. von diesen geprägt werden. Und welche Rolle spielen umgekehrt Leibdisposition und Leiberfahrung für die Habitusbildung und für die Sozialisation in soziokulturelle Praktiken? Lassen sich viele solcher Praktiken nicht überhaupt erst unter Rekurs auf Leiberfahrung hinreichend beschreiben und vermitteln? Und erzwingt das nicht geradezu eine leibphänomenologische Erweiterung der Sozial- und Kulturwissenschaften?
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Jens Soentgen
Probleme des Schmitz’schen Leibkonzeptes. Ein Kommentar 1
Mit seinen innovativen Beschreibungen des leiblichen Spürens gelingt es Hermann Schmitz, ein Phänomengebiet, das von den dominanten Dogmen zersplittert und versenkt wurde, zu integrieren und als Ganzes sichtbar zu machen. Zwar gab es auch vor Schmitz bedeutende Ansätze zu einer Phänomenologie der Leiblichkeit, so etwa bei Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Jürg Zutt und anderen. Doch keiner dieser Autoren konnte ein Konzept vorlegen, das an Klarheit, Originalität und Detailpräzision mit dem Werk von Schmitz vergleichbar wäre. Schmitz analysiert mit seinen neun Begriffen fast dreißig konkrete leibliche Prozesse und Phänomene, wobei er oft neue Aspekte aufzeigen kann. Das ist umso bemerkenswerter, als es sich hier um ein Thema handelt, das schon vor Jahrhunderten von der Medizin beschlagnahmt wurde. Schmitz kümmert sich nicht um die Einschüchterung der Naturwissenschaften; seine Leibtheorie beweist, dass auch ein einzelner Mann, der mit vorindustriellen Methoden wissenschaftlich arbeitet, ohne Gerätepark, ohne Mitarbeiterstab, wichtige empirische Entdeckungen machen kann. Er macht eine Philosophie vor, die sich nicht als Schleppenträger, Platzhalter oder Interpret der Naturwissenschaft versteht, sondern unterwegs ist zu eigenen Entdeckungen. Denkverbote, Gebietsaufteilungen, Rollenzuweisungen, die jahrhundertelang beachtet wurden, werden von ihm beiseitegeschoben. Der Erfolg gibt ihm Recht. 1
Aus: Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, Bonn 1998, S. 57–63. Der Text wurde für den Wiederabdruck angepasst.
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Probleme des Schmitz’schen Leibkonzeptes. Ein Kommentar
Unmittelbar überzeugend scheinen mir seine Beobachtungen über die Inselstruktur des Leibes zu sein. Sein Ansatz, den Schmerz, aber auch Angst und Hunger als dynamische Konflikte zu analysieren, gestattet neuartige medizinische Anwendungen. Es ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Schmitz’sche Philosophie des Leibes ein großes therapeutisches Potential birgt. Freilich hat Schmitz nur Ansätze zu einer eigenständigen Krankheitslehre entwickelt, 2 aber es ist sicher keine bare Spekulation, wenn man annimmt, dass sich aus seiner Theorie ein neues Verständnis verschiedener psychosomatischer Krankheiten und neue Ansätze für die Therapie ergeben werden. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Leib bei Schmitz nicht nur als ein in sich zirkulierendes System angesehen wird, sondern sich auch mit anderen Leibern verbinden kann. Leibliche Vorgänge spielen schon in der Wahrnehmung eine große Rolle, ein Thema, das Schmitz in seinem »System der Philosophie« 3 ausführlich bearbeitet hat. Die praktischen und theoretischen Implikationen seiner Arbeiten über den Leib sind so reichhaltig, dass sie kaum erschöpfend aufgezählt werden können. Diese Leistungen werden in der Fachdiskussion auch zunehmend gewürdigt. An einer Stelle scheint mir die Schmitz’sche Theorie der Leiblichkeit allerdings problematisch zu sein. Es geht um den Zusammenhang von Leib und Körper. Schmitz betont immer wieder die Eigenständigkeit des Leibes, was auch insofern sinnvoll ist, als dieser vor ihm gar nicht als eigenständiges Phänomen bewusst war. Von dem sicht- und tastbaren Körper unterscheidet er ihn streng. Immer wieder betont er, dass keineswegs leiblichen Regungen irgendein körperliches Äquivalent (z. B. Prozesse in körperlichen Organen) entsprechen müssen. Mit dieser Autonomisierung des Leibes gegenüber dem Körper schafft er sich einerseits Freiraum, insofern er sich mit diesem Lehrstück nicht 2
Vgl. Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, Paderborn 1989, S. 27–106. 3 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 5. Teil: Die Wahrnehmung (System III/5), Bonn 1978.
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Jens Soentgen
nur methodisch, sondern auch in der Dogmatik emanzipiert und distanziert von der Naturwissenschaft, für die explizit oder implizit vielfach, wenn auch nicht unbestritten das Dogma gilt, dass nichtmaterielle Phänomene ein materielles (körperliches) Korrelat haben. Schmitz nutzt den durch die Autonomisierung des Leibes gegenüber dem Körper gewonnenen Freiraum, indem er Denkmöglichkeiten auch für solche Phänomene, die im Rahmen der herkömmlichen naturwissenschaftlichen Sicht unerklärlich sind, vorschlägt, etwa für Telepathie oder Telekinese. Für Suggestion und Hypnose, zwei immerhin auch von der normalen Wissenschaft anerkannte Phänomene, arbeitet er in Band III/5 seines »System der Philosophie« ebenfalls neue Konzepte aus. 4 Auch wenn man diesen kritisch gegenübersteht, wird man sagen können, dass sich in solchen Ideen die Produktivität der von ihm vorgenommenen Trennung zeigt. Diese hat aber, zumindest in der rigorosen Weise, wie Schmitz sie handhabt, zugleich bedenkliche Seiten. Schmitz zeigt die Tendenz, das leibliche Befinden weit über das hinaus, was die Phänomene zulassen, zu autonomisieren. Die Unterscheidung zwischen dem sichtbaren Körper und dem gespürten Leib ist methodisch sinnvoll. Nicht nachvollziehbar aber ist es, wenn Schmitz den Leib vom Körper so radikal entkoppelt, dass die Zusammenhänge, die tatsächlich bestehen, unter den Tisch gekehrt werden. Die leiblichen Regungen, die Schmitz beschreibt, wie zum Beispiel der Hunger, Schmerz oder die Müdigkeit, bleiben eigenartig abgeschlossen, wodurch sie etwas Absurdes bekommen. Schmitz kritisiert die natürliche Redeweise, die sagt, Hunger sei das Bedürfnis, etwas zu essen, Durst aber sei das Bedürfnis, etwas zu trinken, und behauptet, dass man so nur sagen würde, wie Hunger bzw. Durst gestillt würden, nicht aber, was sie an sich selbst sind. 5 Stattdessen beschreibt er den Hunger als »Zwiespalt zwischen 4
Vgl. Schmitz: System III/5, S. 75–94. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 1. Teil: Der Leib (System II/1), Bonn 1965, S. 230.
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Probleme des Schmitz’schen Leibkonzeptes. Ein Kommentar
Spannung und protopathischer Tendenz«, der nicht etwa durch Essen aufgelöst werden könne, sondern durch »Einwirken auf die Spannung und durch Einwirken auf die protopathische Tendenz« 6. Das Essen kann sich zwar als eine solche Einwirkung darstellen, doch nach Schmitz’ Auffassung geht es auch anders, z. B. durch Baden. Das wirkt etwas merkwürdig. Es mag sein, dass durch die Entspannung, die ein warmes Vollbad bewirkt, der Hunger ein wenig gelindert wird. Doch es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen der Linderung von Hunger und dem tatsächlichen Stillen von Hunger. Freilich nimmt Schmitz diesen Einwand vorweg. Er misst der Entspannung im Vollbad selbst nur eine geringe praktische Bedeutung zu, und erwähnt dann richtig das Essen als den eigentlichen »Ausweg aus dem Hungerkonflikt«. Doch auch hier geht es keineswegs darum, dass das Essen Nährstoffe zufügen muss, das heißt, dass es dabei irgendwie auch um körperliche Angelegenheiten geht. Vielmehr behauptet Schmitz, er könne die »Bevorzugung fester Nahrung allein schon aus der leiblichen Konstellation bei Hunger verstehen: Das Packen, Zerbeißen und Zermahlen der festen Nahrung sowie das Verschlingen der festen und der breiigen ist schwellende Machtund Kraftentfaltung, […] wodurch die beim Hunger überwiegende Spannung nach der Seite der Schwellung ergänzt und so einer harmonischen leiblichen Ökonomie eingegliedert wird.« 7 Wie ist das zu verstehen? Offenbar so, dass man auch Wellpappe oder Styropor essen kann, da es ja nur auf das leibliche Vergnügen ankommt, die Zähne in etwas zu schlagen, es zu zerreißen und zu zermahlen. Das jedenfalls könnte man aus der »Einsicht« in die »Natur« des Hungers folgern, die Schmitz formuliert. Schmitz entzieht diesen Phänomenen ihre interne Teleologie, mit dem typischen Argument, diese gehöre nicht zum Phänomen selbst, sondern sei eine nachträgliche, durch Erfahrung hinzugekommene Assoziation. 8 Die Tatsache also, dass man Hunger auf
6 7 8
Schmitz: System II/1, S. 233. Schmitz: System II/1, S. 235. Schmitz: System II/1, S. 234.
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Jens Soentgen
Brot und nicht auf Schaumgummi hat, gehört nach Schmitz nicht zum Hunger selbst, sondern ist ihm äußerlich. An dieser Stelle wird er zum Opfer seiner eigenen Abstraktionen. Es ist sinnvoll, wenn sich Schmitz bemüht, seine Beschreibungen auf das leibliche Befinden, auf das Spürbare zu konzentrieren. Doch schon methodisch bereitet das große Schwierigkeiten, wie man daran sieht, dass Schmitz in seinen konkreten Beschreibungen immer wieder Anleihen beim Körper machen muss, versteckte oder offene, weil er mit seinem leiblichen Vokabular nicht durchkommt. Erst recht führt aber seine Tendenz in die Irre, Leib und Körper systematisch zu entkoppeln und als zwei selbständige Bereiche zu behandeln. Diese Tendenz äußert sich auf vielfältige Weise. So behauptet er etwa, es gebe keine Organempfindungen, das heißt, es gebe keine Möglichkeit, Organe wie den Magen, das Herz oder die Nieren leiblich zu spüren. Für seine These formuliert er sogar einen Beweisversuch. 9 So zerschlägt er eine wichtige Brücke zwischen Körperlichem und Leiblichem. Der Leib wird zu einem von der konkreten Umgebung isolierten System, das fast schon esoterisch wirkt. Schmitz spricht von Leibesinseln, und das ist ein sehr plastischer Ausdruck. Für den naiven Menschen sind aber diese Leibesinseln zugleich oft Organempfindungen: man spürt das Knurren des Magens, das Schmerzen der Füße oder das Pochen des Herzens. Schmitz jedoch will davon nichts wissen. Er schließt seinen Leib aseptisch vom Körper ab, als ob dieser Körper eine ansteckende Krankheit habe. Zwischen Leib und Körper gibt es also nach Schmitz kaum Beziehungen. Sie operieren getrennt. Mit solchen schroffen Abgrenzungen erschwert Schmitz Kontakte zwischen seiner Theorie und benachbarten Forschungsbemühungen. Nicht nur Anschlüsse von Seiten der Medizin werden auf diese Weise blockiert, sondern auch Kontakte zur Naturphilosophie. Leib entdeckt, Körper verschwunden – so könnte man sein Resultat zusammenfassen. Denn der Körper wird bei Schmitz nicht nur allzu strikt vom Leib abgegrenzt, er selbst wird auch kaum in seiner Eigenart bedacht. Er wird so gezeichnet, dass er 9
Schmitz: System II/1, S. 54 f.
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Probleme des Schmitz’schen Leibkonzeptes. Ein Kommentar
meilenweit vom Leiblichen entfernt zu sein scheint. So ist der Körper seiner Ansicht nach klar gegen die Umgebung abgegrenzt, im Gegensatz zum Leib, der diffus ausgedehnt ist und keine feste Grenze hat. Bei dieser schroffen Gegenüberstellung wird aber übersehen, dass die Haut selbst keineswegs eine geschlossene Fläche darstellt: sie atmet. Der Körper befindet sich in ständigem Stoffwechsel mit der Umgebung, er ist offener, als er aussieht. Die Strukturen von Körper und Leib unterscheiden sich nicht so vollständig, wie Schmitz annimmt. Schmitz wirft der Naturwissenschaft gelegentlich vor, sie zerschlage die »vielsagenden Eindrücke« der »unbefangenen Lebenserfahrung«; aber er selbst geht nicht selten ganz ähnlich vor. Er versucht, das Leibliche radikal zu isolieren, und zerreißt dabei die ganzheitlichen Erfahrungen, die der Alltagsmensch mit seinem leibhaftigen Körper macht. 10 Die Ursache für diese Übertreibung ist sicherlich das Bemühen von Schmitz, die Erfahrung des Leiblichen als eine eigenständige Sphäre überhaupt zugänglich zu machen. Vielleicht ist die geniale Leistung von Schmitz eben darin zu sehen, dass er die leiblichen Regungen nicht bloß als Sekundäreffekte naturwissenschaftlich beschreibbarer physiologischer Vorgänge sieht, sondern als ein autonomes System versteht. Er hat ein eigenständiges Vokabular aufgebaut, um seine neue Sicht artikulieren zu können: So spricht er etwa konsequent von leiblichen Regungen, nicht aber von Empfindungen, um das Missverständnis auszuschalten, dass das, was man spürt, immer nur Ausdruck oder Repräsentanz eines physiologischen Prozesses ist. Vielmehr haben die leiblichen Regungen eine Eigendynamik, die sich ihrerseits auf körperliche Prozesse auswirken kann. Das herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst von Schmitz.
10
Vgl. für eine ähnliche Kritik auch Philipp Thomas: Selbst-Natur-sein. Leibphänomenologie als Naturphilosophie, Berlin 1996, S. 134. Ausführlich erörtert Gernot Böhme diesen Punkt; vgl. dazu Gernot Böhme: »Die Phänomenologie von Hermann Schmitz als Phänomenologie der Natur?«, in: Gernot Böhme/Gregor Schiemann (Hrsg.): Phänomenologie der Natur, Frankfurt 1997, S. 136–141.
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Jens Soentgen
Es ist naheliegend, dass ihm dabei gelegentlich eine Verwechslung von Autonomie mit Autarkie unterläuft. Der entscheidende Punkt ist aber eben der, dass leibliche Regungen eine relative, nicht jedoch eine absolute Autonomie gegenüber körperlichen Prozessen haben. Zwischen beiden Sphären gibt es notwendige Interaktionen. Es ist im Übrigen kein Wunder, wenn jemand, der in einer so radikalen Weise alte Traditionen beiseiteschiebt wie Schmitz, um die Dinge auf ganz neue Art zu deuten, dabei auch groteske Übertreibungen produziert. Solche Übertreibungen sind die Kosten, die eine intellektuelle Revolte mit sich bringt. Sie haben für den Leser vielleicht auch des Öfteren den Effekt, überhaupt erst die Möglichkeit vor Augen zu führen, dass man die Welt auch auf ganz andere Weise beschreiben kann, als es üblich ist.
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Gesa Lindemann
Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib 1
Meine Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib stehen im weiteren Kontext der Arbeiten zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Konstruktivistische Annahmen haben in den letzten Jahren sowohl in der Wissenschaftsforschung als auch in der Geschlechterforschung zu einer Radikalisierung geführt, die es grundsätzlich problematisch gemacht hat, überhaupt noch zwischen sozialer bzw. kultureller Konstruktion und ihr vorausgesetzten natürlichen Gegebenheiten zu unterscheiden. Wenn das der Fall ist, stellt sich die Frage, wie man überhaupt noch vom Körper bzw. einer natürlichen Zweigeschlechtlichkeit sprechen kann. Im Folgenden möchte ich mit Bezug auf die philosophische Anthropologie Plessners und die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz einen Vorschlag machen, mit den Problemen umzugehen, die sich im Rahmen einer konstruktivistischen Perspektive ergeben. Die These, dass die Wirklichkeit, in der wir leben, sinnvollerweise unter der Fragestellung untersucht werden kann, eine soziale oder gesellschaftliche Konstruktion zu sein, zählt spätestens seit der Arbeit »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« 2 von Berger und Luckmann zu den klassischen Annahmen der wissenssoziologischen Forschung. Berger und Luckmann hatten allerdings noch die Naturwissenschaften von ihrem Programm ausgenommen. Diese Ausnahmestellung verlieren sowohl die Me1
Angepasster Wiederabdruck von: Gesa Lindemann: »Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib«, in: Annette Barkhaus (Hrsg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt 1996, S. 146–175. 2 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1989.
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Gesa Lindemann
dizin als auch die Naturwissenschaften im Allgemeinen erst in den neunzehnhundertachtziger Jahren. Die moderne Wissenschaftsforschung hat sich darangemacht, die Vorgänge, die sich in Forschungslabors vollziehen, detailliert zu beschreiben, und kommt zu dem Ergebnis, dass die Behauptung, naturwissenschaftliche Forschung sei nicht konstitutiv durch soziale Prozesse »kontaminiert«, unhaltbar ist. Naturwissenschaftliche Forschung ist ein soziales Phänomen, und ihre Ergebnisse stellen eine mögliche Interpretation der Welt dar, die wie alle anderen Versionen der Auslegung von Welt an Kontexte und soziale Praktiken gebunden sind. 3 In der Geschlechterforschung hat eine vergleichbare Entwicklung eingesetzt. Die psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung zum Phänomen Geschlecht war seit den fünfziger Jahren durch die kategoriale Trennung zwischen »sex« und »gender« bestimmt. »Sex« bezeichnete den biologischen Geschlechtsunterschied, während »gender« die psychische, soziale und kulturelle Aneignung und Überformung der natürlichen Zweigeschlechtlichkeit meinte. Im Bereich der Erforschung von »gender« wurde unter Konstruktion von Geschlecht die Ausbildung einer psychischen Geschlechtsidentität verstanden oder soziale Rollenzumutungen oder die kulturell etablierten Vorstellungen darüber, wie Männer und Frauen zu sein haben und welche Verhaltensstandards das Verhältnis zwischen ihnen regeln. In diesem Verständnis schreibt die Medizin bzw. die Biologie den Sozialwissenschaften ihren Gegenstand – die Zweigeschlechtlichkeit – vor. Die letzteren bescheiden sich damit, die psychische, soziale und kulturelle Überformung eines außergesellschaftlichen Faktums zu ihrem Gegenstand zu machen. Diese eingespielte Arbeitsteilung zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften ist aus guten Gründen in Frage gestellt worden. 3
Vgl. u. a. Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt 1991. Einen guten Überblick über diese Entwicklung bietet: Bettina Heintz, »Wissenschaft im Kontext. Neuere Entwicklungstendenzen der Wissenschaftssoziologie«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45, 1993, S. 528–552.
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Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib
Garfinkel 4 hatte als erster darauf aufmerksam gemacht, dass die Zweigeschlechtlichkeit, die sich in Alltagssituationen ereignet, nicht auf ein Wissen um Körper, ihre Formen, Hormone und Chromosomen rekurriert, sondern auf Darstellungsleistungen, der Interpretation von Darstellungen, den Berichten über Personen, die aufgrund gelungener Darstellungsleistungen geschlechtlich eingeordnet werden, u. Ä. Genitalien sind in diesem Zusammenhang Bedeutungen, die Personen zugesprochen werden, die überzeugend als Mann oder Frau wirken. Im Alltag wirkt – so Garfinkels Ergebnis – ein kultureller Standard, der Folgendes besagt: 1. Es gibt zwei Geschlechter und nur zwei Geschlechter. 2. Jede Person kann letztinstanzlich einem von zwei Geschlechtern zugeordnet werden. 3. Jede Person gehört ihrem Geschlecht lebenslänglich an. Dass dies sich so verhält, wird von den interaktiv Beteiligten als eine natürliche und moralische Wirklichkeit erfahren. 5 Im Anschluss an Garfinkel haben Kessler und McKennas 6 gezeigt, wie biologische Forschungen diese kulturelle Gewissheit im Labor fortsetzen. Eine Forschung, die unter der Voraussetzung arbeitet, dass es zwei Geschlechter gibt, könne gar nicht anders, als immer wieder Belege für die Richtigkeit ihrer axiomatischen Annahme zu finden. Die konstruktivistische Geschlechterforschung distanziert sich damit von der Basisannahme, dass Zweigeschlechtlichkeit ein natürliches, präkulturelles Faktum sei, und wendet sich stattdessen Fragen wie den folgenden zu: Wie vollzieht sich eine Wahrnehmung, die unentwegt damit beschäftigt ist, Menschen in Männer und Frauen zu sortieren? Wie gelingt es Interagierenden, sich so zu verhalten, dass sie problemlos als ein Geschlecht wahrgenommen werden können? Wie verhalten sich Menschen so zueinander, dass sie die konstante Zuordnung von Personen zu jeweils
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Harold Garfinkel, »Passing and the Managed Achievement of Sex Status in an Intersexed Person. Part I« (Passing), in: Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Englewood Cliffs, New York 1967, S. 116–185. 5 Vgl. Garfinkel: Passing. 6 Susan J. Kessler/Wendy McKenna: Gender. An Ethnomethodological Approach, New York u. a. 1978 (repr. Chicago lll. u. a. 1985).
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Gesa Lindemann
einem Geschlecht nicht irritiert? 7 Welche institutionellen Strukturen forcieren eine Zweiteilung des gesellschaftlichen Personals in entweder Männer oder Frauen? 8 Der Körper bildet nun eines der zentralen Probleme, die sich einer konstruktivistischen Geschlechterforschung stellen, denn nur wenn auch der Körper als ein genuin soziales Phänomen ausgewiesen werden kann, kann die Differenz von »sex« und »gender« tatsächlich vernachlässigt werden. Die Probleme, die sich dabei ergeben, lassen sich verdeutlichen, wenn man sich anschaut, wie Michel Foucault in der Einleitung zum zweiten Band von Sexualität und Wahrheit seine Analyse der Sexualität anlegt. Er nennt drei Achsen, an denen sich seine Untersuchung orientiert: »Die Formierung der Wissen, die sich auf die Sexualität beziehen; die Machtsysteme, die ihre Ausübung regeln; und die Formen, in denen
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Für rassistische Unterscheidungen, die ebenso wie die Geschlechterunterscheidung auf körperliche »Merkmale« rekurrieren, gilt das nicht. Zumindest Soziologlnnen halten es für ein bemerkenswertes, d. h. sie irritierendes Phänomen, wenn Populationen Lebenshaltungen und Handlungen entlang der Unterscheidung zwischen »uns« und »denen«, d. h. den fremdartigen anderen, organisieren. Zu einem derart irritierenden Phänomen ist die Geschlechterunterscheidung erst in jüngster Zeit geworden. 8 Vgl. u. a. die seit 1987 existierende Zeitschrift Gender and Society; Regine Gildemeister/Angelika Wetterer: »Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung« (Geschlechter), in: Gudrun-Axcli Knapp/Angelika Wetterer (Hrsg.): Traditionen – Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg 1992, S. 201–254; Stefan Hirschauer: »Die interaktive Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit«, in: Zeitschrift für Soziologie 18, 1989, S. 100–118. In der englischsprachigen feministischen Diskussion hat sich die Infragestellung der Unterscheidung zwischen »sex« und »gender« zum Teil völlig unabhängig von der soziologischen Debatte entwickelt. Ein wichtiger Strang war dabei die Kritik an Levi-Strauss’ Modell des Frauentauschs. Vgl. hierzu u. a. Monique Wittig: The Straight Mind, Boston Mass. 1992; Parveen Adams/Elizabeth Cowie (Hrsg.): The Woman in Question, Cambridge Mass. 1990. In größerer Verwandtschaft zur neueren soziologischen Wissenschaftsforschung befinden sich dagegen die Arbeiten von Haraway (Donna Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991).
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Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib
sich die Individuen als Subjekte dieser Sexualität (an)erkennen müssen.« 9
Überträgt man dieses Programm wie Foucault 10 auf den Körper, so zeigt sich, wo das Problem liegt. Der Körper wird zwar auf vielfältige Weise zum Objekt gemacht, indem er mit Diskursen überzogen und die Art und Weise seiner Verwendung geregelt wird usw., aber auf die Frage, was da zum Objekt gemacht wird, was mit Diskursen überzogen wird, wessen Verwendung geregelt wird, erhält man keine Antwort. 11 Wie sich an der Einleitung zu den Memoiren von Herculine Barbin zeigt 12, kann die Unbestimmtheit bei Bedarf eines Emanzipationsdiskurses in einen Fixpunkt »außerhalb« des gesellschaftlichen Zugriffs verwandelt werden, von dem ausgehend Kritik geübt werden kann. Es stellt sich also das Problem, ob man die Frage nach dem Gegenstand des Zugriffs überhaupt stellen kann, ohne in die Falle zu geraten, ein präkulturelles Etwas anzunehmen und damit implizit die Zweiteilung von Natur und Kultur zu reproduzieren, die zu unterlaufen die Konstruktionsthese angetreten war. Ein weiteres Problem liegt in der undifferenzierten Rede vom Körper. Wenn man nämlich dessen Gegebenheitsweise genauer untersucht, stellt sich zwangsläufig die Frage, ob der »Körper«, der einer physiologischen Untersuchung unterworfen wird, der gleiche »Körper« ist, von dem ich sagen kann, dass er in der Schultergegend schmerzt? Und was ist mit dem »Körper«, an den ich überhaupt nicht denke, dessen Beine mich aber bis zur Bushaltestelle tragen? Diese Differenzierungen sind einer phänomenologi9
Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt 1986, S. 10. 10 Die drei Achsen entsprechen ungefähr den vier von ihm unterschiedenen Technologien, die Sexualität und Körper zu ihrem Objekt machen: Die Technologien der Produktion, der Macht, der Zeichensysteme und des Selbst (vgl. Michel Foucault, »Technologien des Selbst«, in: Luther H. Marcin (Hrsg.), Technologien des Selbst, Frankfurt 1993, S. 24–62, hier S. 26). 11 Für eine ähnlich gelagerte Kritik an Foucault vgl. Chris Shilling: The Body and Social Theory, London/Newbury Park/New Delhi 1993. 12 Michel Foucault (Hrsg.): Herculine Barbin. Being the Recently Discovered Memoirs of a Nineteenth Century Hermaphrodite, New York 1980.
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Gesa Lindemann
schen Perspektive zwar geläufig, werden aber in der Konstruktionsdebatte weitgehend vernachlässigt. 13 Um diese Probleme zu lösen, greife ich eine Anregung Bourdieus auf. Er hatte den Leib als einen Speicher zur Aufbewahrung von Werten und Gedanken bezeichnet. 14 Diese können aktualisiert werden, indem der Leib eine entsprechende Haltung einnimmt. Die Aktualisierung unterscheidet sich fundamental von einer expliziten Erinnerung, denn es geht nicht um ein explizites Bewusstsein von etwas. Der Leib funktioniert eher wie eine strukturierte Materie, die einem Individuum bedeutet, was es ist. 15 Aber auch bei Bourdieu bleibt es unklar, von was er spricht, wenn er vom Leib redet. Auch wenn der Leib als ein Speicher beschrieben wird, sucht man vergebens nach einer Charakterisierung der Materie des Speichers. Eine Entfaltung der bei Bourdieu lediglich angedeuteten zeichentheoretischen Perspektive scheint mir aus zwei Gründen sinnvoll: Zum einen verschiebt sich die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur hin zu der Frage des Verhältnisses von materiellem Bedeutungsträger und Bedeutung. Auf 13
Auf ein weiteres Problem sei hier hur kurz eingegangen. Die Differenzierung zwischen »sex« und »gender« hatte theoriestrategisch nicht nur die Funktion, den Sozialwissenschaften gegen Biologie und Medizin ein Terrain zu sichern, das sie legitim erweise erforschen dürfen, sondern diente darüber hinaus als eine Art Realiätsanker. »Gender«, die kulturelle Überformung der biologischen Zweigeschlechtlichkeit, wurde als Kontingent gesetzt, war nicht eigentlich wirklich, sondern veränderbar. Wenn »gender« den Fixpunkt »sex« verliert, stellt sich nicht mehr nur die Frage, wie Wirklichkeit konstruiert wird, sondern auch die, wie Konstruktionen als zwar je historische, aber immerhin unhintergehbare Wirklichkeit erfahren werden. Die Konstruktionsthese erklärt, Wirklichkeit ist machbar, verschließt sich aber einer Thematisierung der alltäglichen Erfahrung, dass wir hinnehmen müssen, was wirklich ist (vgl. u. a. Gildemeister/Wetterer: Geschlechter; Judith Butler: Gender Trouble, New York/London 1990), weshalb der Verlust der Kategorie »sex« tendenziell einem Realitätsverlust gleichkommt. Vgl. hierzu ausführlicher: Gesa Lindemann: »Die Konstruktion der Wirklichkeit und die Wirklichkeit der Konstruktion«, in: Theresa Wobbe/Gesa Lindemann (Hrsg.): Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt 1994, S. 115–146. 14 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (Sinn), Frankfurt 1987, S. 127. 15 Bourdieu: Sinn, S. 135.
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Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib
diese Weise gerät auch das Materielle, insoweit es dazu aufbereitet ist, Bedeutungen zu tragen, in den Bereich der Kultur. Die Frage wäre dann, wie ist der Körper bzw. der Leib Bestandteil einer Bedeutungsrelation. Zum anderen ermöglicht es die zeichentheoretische Verschiebung, den Leib umfassender, als Bourdieu es tut, als einen gesellschaftlich geformten zu beschreiben, nämlich auch insofern, als er zuständlich gespürt wird. 16 Meine Leitthese ist in sich dreifach gegliedert: 1. Der Leib ist im Unterschied zum visuell-taktil wahrnehmbaren Körper eine Gegebenheit eigener Art. 2. Der Leib ist nicht ein diffuses Bündel insignifikanter Erregungen, die beliebig in Diskurse integriert und dabei mit Bedeutungen belegt werden können, sondern ein strukturiertes Gebilde, das als solches dazu geeignet ist, Bedeutungen zu tragen, also in zeichenhafte Verweisungszusammenhänge integriert zu werden. 3. Der Leib steht zum Körper in einem Verhältnis wechselseitigen Bedeutens. 1.
Begriff des Leibes
Um einen präzisen Begriff des Leibes zu entwickeln, ist es sinnvoll, den Leib in seiner spezifischen Räumlichkeit von der des Körpers abzugrenzen. Dies ermöglicht es im Weiteren auch, das Verhältnis von Körper und Leib genauer zu bestimmen. Der von mir verwendete Leibbegriff orientiert sich an Plessner und Schmitz, wobei ich Schmitz als eine phänomenologische Weiterentwicklung von Plessners Leibverständnis interpretiere. Plessner 16
Es würde hier zu weit führen, detailliert aufzuzeigen, welche Konsequenzen es bei Bourdieu hat, dass er die Entfaltung der zeichentheoretischen Perspektive vermeidet. Es sei nur so viel angedeutet: Im Zentrum steht die Reduktion des Habitus und damit des Leibes auf Praxis, d. h. auf die praktische Beziehung zum Feld. Dies macht es unmöglich, die diese Beziehung fundierende Struktur des LeibUmwelt-Bezugs noch in den Blick zu nehmen. Damit wird der Leib gleichsam in den Habitus aufgesogen und mit Schweigen übergangen.
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entwickelt den Begriff des Leibes im Rahmen seiner Theorie der »Positionalität« 17. Positionalität bezeichnet allgemein die Form der Umweltbeziehung lebendiger Wesen, durch die sie sich von unbelebten Körpern unterscheiden. Da es mir in diesem Zusammenhang vor allem um die besondere Form der Räumlichkeit belebter Körper, d. h. Leiber, geht, stelle ich folgende drei Momente in das Zentrum meiner Darstellung des Unterschieds von unbelebten und belebten Körpern: 1. das Verhältnis von Kern und Eigenschaften des erscheinenden Körpers; 2. die Beziehung des Körpers zu dem Raum, den er einnimmt; 3. das Verhältnis des Körpers zu seiner Umgebung. 18 1.1 Körper Kern und Eigenschaften: Ein Körper ist immer nur in Perspektiven gegeben, ich kann ihn nicht auf einmal wahrnehmen, sondern muss um ihn herumgehen, um ihn nach und nach in seinen verschiedenen Teilansichten zu erfassen. Der Körper bildet dabei eine Ganzheit, denn die einzelnen Ansichten werden immer als diejenigen des Körpers verstanden, den ich gerade sehe. Wenn sich in einer bestimmten Perspektive der Gesamteindruck verändert, betrifft dies auch immer die vorhergehenden Wahrnehmungen. Ein Tisch, der zunächst wie ein Holztisch ausgesehen hat, wird nicht dadurch zu zwei Tischen, dass ich ihn plötzlich als einen Plastiktisch wahrnehme. Auch die neue Auffassung von ihm wird auf den Tisch als Ganzes bezogen, so dass ich eben feststellen muss, mich zuvor getäuscht zu haben. Der Tisch, von dem ich jetzt weiß, dass er ein Plastiktisch ist, ist derselbe, den ich anfangs für einen Holztisch hielt. Mit Husserl bezeichnet Plessner dieses Unterschiedensein des Körpers als Ganzen von seinen 17
Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch (Stufen), Berlin, New York 1975. 18 Zeitlichkeit und Potentialität, die für eine umfassende Beschreibung der Differenz zwischen belebten und unbelebten Körpern i. S. Plessners unerlässlich sind, klammere ich aus.
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Eigenschaften als X oder als Kern, das bzw. der die Eigenschaften hat, die ich in immer neuen Perspektiven wahrnehmen kann. 19 Bei unbelebten Körpern ist der Kern aber nicht etwas, das sich in der Wahrnehmung als etwas von den einzelnen Erscheinungen Verschiedenes abheben ließe. Der Kern geht vielmehr in der Reihe der Erscheinungen, in denen sich die Eigenschaften zeigen, auf. Bei dieser Beschreibung sind zwei Ebenen auseinanderzuhalten, die Plessner mit den Worten »raumhaft« und »räumlich« charakterisiert. 20 Räumlich ist der Tisch, insofern ich z. B. eines seiner Beine aufsägen kann, um nachzusehen, wie das Bein innen aussieht, oder insofern ich an seiner Oberfläche entlangstreichen kann usw. Aber das, was das Insgesamt seiner Eigenschaften zu einer Einheit vermittelt, wird auf diese Weise nicht greifbar. Dieser Einheitspunkt, der in der Wahrnehmung aufweisbar ist, insofern er es ist, auf den alle räumlichen und allgemeiner sinnlichen Charaktere bezogen sind, bezeichnet Plessner als raumhaft. Der raumhafte Einheitspunkt, der Kern, kann sogar – wie das obige Beispiel zeigte – einen Gestaltwandel überdauern. Bezogen auf das Verhältnis des Kerns zu den eigenschaftstragenden Seiten spricht Plessner von einem Richtungsgegensatz. Die Eigenschaften verweisen »in« das Ding hinein, auf den Kern, der sie hat. Die einzelnen Eigenschaften verweisen aber nicht nur »in« das Ding, sondern auch auf die anderen Seiten und Ansichten des Dings. Da diese aber immer auf andere Ansichten des Dings, d. h. auf andere Ansichten des Kerns, verweisen, ist es so, als führte das Ding, verstanden als Kern, die Wahrnehmung »um« sich »herum«. Die in der Wahrnehmung gegebene Tatsache, dass es ein Ding gibt, zentriert die einzelnen sinnlichen Gegebenheiten auf sich hin (Richtung »in« das Ding hinein) und führt die Wahrnehmung »um sich herum« auf immer neue Aspekte und Ansichten seiner selbst. 21 19
Vgl. Plessner: Stufen, S. 81 ff. Plessner: Stufen, S. 85. 21 Vgl. Plessner: Stufen, S. 82 f. Plessner betont dabei ausdrücklich (S. 87), dass die Substantialität des Dings in dieser Analyse nur als Moment der Wahrnehmungsbeziehung zu verstehen ist. Siehe hierzu auch die wahrnehmungstheoretische Ausarbeitung des Substanzproblems bei Schmitz (Hermann Schmitz: System 20
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Das Verhältnis des Körpers zu dem von ihm selbst eingenommenen Raum: Die Festlegung des Ortes, an dem ein unbelebter Körper sich befindet, kann ausschließlich dadurch erfolgen, dass dieser Ort in Relationen zu anderen Orten bestimmt wird. Das gleiche gilt für die Orte, durch die er determiniert wird. Es handelt sich also um eine wechselseitige Determination, in der Orte nur durch ihr Verhältnis zueinander bestimmt werden. Um es negativ zu sagen: Ein unbelebter Körper hat von sich aus keine Beziehung zu dem Ort, an dem er ist. 22 Die Beziehung des Körpers zu seiner Umgebung: Die Beziehung des Körpers zu seiner Umgebung untersucht Plessner, indem er danach fragt, wie ein Körper an diese grenzt: Wo ist der Körper zu Ende und wo beginnt das umgebende Medium? Bei unbelebten Körpern ist der Sachverhalt ihrer Begrenztheit dadurch gekennzeichnet, dass sie ihre Grenze nicht als etwas haben, das zu ihnen gehört, diese bildet vielmehr ein virtuelles Zwischen, das weder dem Körper noch dem ihn umgebenden Medium angehört. Die Grenze bezeichnet lediglich das Übergehen in den Bereich, der auf das Ding als seinen Einheitspunkt verweist. Durch, die Grenze wird keine Beziehung zwischen dem Ding, d. h. das in den Einheitspunkt vermittelte Areal, und seiner Umgebung hergestellt. Das unbelebte Ding ist an seiner Grenze zu Ende und erstreckt sich in dem Raum, den es ausfüllt. Plessner definiert Grenze als das Übergehen von einem Bereich in einen anderen. Auf dieser Grundlage definiert Plessner den Unterschied zwischen belebten und unbelebten Körpern. Bei einem unbelebten Körper ist es so, dass dieser Grenze nicht selbst hat. Die Grenze ist ein virtuelles Zwischen dem Körper und dem umgebenden Medium. Ein lebendiger Körper ist darüber definiert, dass er die Grenze selbst hat. Dies läuft darauf hinaus, dass der Körper das Übergehen von ihm in das umgebende Medium selbst als eine seiner Eigenschaften hat. 23 In diesem Fall nimmt der Körder Philosophie, Bd. III: Der Raum, 5. Teil: Die Wahrnehmung, Bonn 1978, S. 170 ff.). 22 Vgl. Plessner: Stufen, S. 131. 23 Vgl. Plessner: Stufen, S. 103.
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per nicht nur den Raum ein, den er messbar ausfüllt, sondern er ist zugleich das Übergehen in das umgebende Medium und er ist zugleich das Übergehen aus dem Medium in den Körper. Dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass der lebendige Körper von sich aus eine Beziehung zu seiner Umgebung hat. Wenn das der Fall ist, handelt es sich Plessner zufolge um einen belebten Körper, wenn es nicht der Fall ist, handelt es sich um einen unbelebten Körper. 24 1.2 Leib Bei der Darstellung lebendiger Körper lasse ich die spezifische Umweltbeziehung der Pflanzen außer Acht und orientiere mich primär an der »zentrischen Positionalität«, in deren Zusammenhang Plessner die leibliche Umweltbeziehung beschreibt. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann der spezifische Leib-Umwelt-Bezug der »exzentrischen Positionalität« herausarbeiten. Kern und Eigenschaften: Die »Stufen des Organischen« lassen sich als Stufen des In-sich-reflektiert-Seins des Kerns, der die erscheinenden Eigenschaften hat, beschreiben. Die raumhafte Struktur von Kern und Eigenschaften nimmt bei lebendigen Körpern eine Form an, die als solche am Körper anschaulich gegeben ist. »So ist der lebendige Körper ein Selbst oder das in der Einheit aller seiner Teile nicht allein aufgehende, sondern ebenso in den Einheitspunkt (der zu jeder Einheit gehört) als einen von der Einheit des Ganzen abgelösten Punkt gesetzte Sein.« 25 Die Relation von Selbst und Haben bildet die Voraussetzung für die Entstehung von Bewusstsein, ist selbst aber nicht mit Bewusstsein gleichzusetzen 26, denn diese Relation gilt auch schon für das Verhältnis der Pflanze zu ihren Teilen. Entfaltet ist diese Struktur allerdings erst auf der Ebene der zentrischen Position, d. h. der des Tieres. Das Tier hat seinen Körper als das Mittel seines Umwelt24 25 26
Vgl. hierzu Plessner: Stufen, S. 103 ff. Plessner: Stufen, S. 158. Plessner: Stufen, S. 159.
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bezuges und merkt sich selbst. Es hat vermittels des Körpers ein Bewusstsein von umgebenden Gegenständen, und es merkt den eigenen Körper. Den Körper, der auf diese Weise von einem nicht räumlich zu verstehenden Selbst gehabt wird, bezeichnet Plessner als Leib. 27 Ein lebendiger Körper ist also einerseits wie jeder andere Körper ein erscheinendes Ding, insofern ist er durch die Erscheinungsstruktur des Dinges bestimmt. Das Selbst ist ein Kern, der in den Erscheinungsweisen des Dinges aufgeht, indem es als Kern die verschiedenen Erscheinungen zur Einheit vermittelt. Andererseits ist das Selbst zugleich ein Subjekt des Habens und tritt insofern dem Körper gegenüber. Es ist nicht mehr nur im Körper, wie der Kern, der im Bereich des Areals zu verorten ist, den das Ding ausfüllt, sondern als Selbst ist der Kern zu dieser Mitte seinerseits in Beziehung. Diese Beziehung bezeichnet Plessner als »Angehoben-und Niedergesetztsein, wobei der Unterschied der Phasen selbst annulliert gedacht ist« 28. Das Verhältnis des Körpers zu dem von ihm eingenommenen Raum: Als bloßer Körper befindet sich auch der lebendige Körper an einer Stelle, die durch bloße Relation zu anderen Stellen im Raum determiniert ist. Indem der lebendige Körper aber zu sich als zu seinem Leib in Beziehung ist, ist er ebenfalls zu dem Ort, an dem er ist, von sich aus in Beziehung gesetzt. Das Selbst ist eine raumhafte Mitte, auf die hin der Leib und das umgebende Feld orientiert sind. Es ist ein »absoluter Bezugspunkt« 29, auf den sowohl der Körper als Leib als auch das umgebende Feld konvergiert. Das Selbst ist nicht relativ zu anderen Raumstellen bestimmt, sondern der Nullpunkt der Orientierung. 30 Die Beziehung des Körpers zu seiner Umgebung: Dies markiert für Plessner letztlich den zentralen Unterschied zwischen belebten und unbelebten Körpern. Vom Phänomen der Grenze her entwickelt er seine gesamte Charakteristik lebendiger Körper. Die 27
Plessner: Stufen, S. 231. Plessner: Stufen, S. 183. 29 Plessner: Stufen, S. 238. 30 Es wäre genauer zu sagen, dass der Leib die Existenz eines Nullpunkts der Orientierung fundiert. Im Rahmen des leiblichen Umweltbezuges können auch begegnende Dinge den zentrierenden Pol der Erfahrung bilden. 28
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Grenze unbelebter Körper war bestimmt als ein virtuelles Zwischen, in dem der Übergang vom Körper zu seiner Umgebung stattfindet. Die These, dass der lebendige Körper die Grenze als seine Eigenschaft hat, kommt also auf dasselbe hinaus wie die Aussage, dass der lebendige Körper das Übergehen in den Raum, der er nicht mehr selbst ist, als seine Eigenschaft hat. Dadurch erhält der Doppelaspekt, d. h. der Richtungsgegensatz von »in« das Ding »hinein« und »um« das Ding »herum«, einen qualitativ anderen Charakter. Denn die Richtung geht nicht mehr »um« das Ding »herum«, verweist nicht mehr nur auf die eigenschaftstragenden Seiten, sondern die Richtung geht »über« das Ding »hinaus«, und umgekehrt ist die Gegenrichtung nicht mehr von den eigenschaftstragenden Seiten »in« das Ding »hinein« (= Vermittlung in den Einheitspunkt), sondern sie geht von dem »Über«-das-Ding»hinaus«-Sein »in« das Ding hinein. Das Selbst ist so nicht mehr nur zu sich selbst in Beziehung, es ist vielmehr, indem es zu sich in Beziehung ist, zugleich zu seiner Umgebung in Beziehung gesetzt. Die entfaltete Form dieser Relation ist das Bewusstsein, das Plessner als »sphärische Einheit von Subjekt und Gegenwelt« 31 bezeichnet. Bewusstsein ist das Bezogensein eines Leibes auf die Umwelt, in dem dieser die Umwelt merkt und umgekehrt motorisch auf sie einwirken kann. Jetzt wird erst die Feststellung verständlich, die ich im vorhergehenden Punkt bezüglich des Verhältnisses belebter Körper zu dem Raum, den sie einnehmen, gemacht habe: Das Selbst bildet einen absoluten Bezugspunkt, auf den der Körper als Leib und das Umfeld konvergieren. Das Umfeld kann nur deshalb auf das Selbst, die raumhafte positionale Mitte, konvergieren, weil der lebendige Körper das Übergehen in das umgebende Feld als seine Eigenschaft hat. Nach Plessner ist es wesentlich dieses Übergehen, das den lebendigen Körper von ihm als physischen Körper abhebt und in ihn setzt, also zur Gegenüberstellung von Subjekt und eigenschaftstragenden Seiten führt. Der lebendige Körper ist wesentlich durch einen Richtungsgegensatz bestimmt, der ihn in seinen Einheitspunkt setzt 32 31 32
Plessner: Stufen, S. 67. Plessner: Stufen, S. 127 ff.
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und in der entfalteten Form dieses Gegensatzes das Selbst zum Subjekt macht, das den Körper als seinen Leib hat. Dieser Leibbegriff beinhaltet ein komplexes Verhältnis von Körper und Leib, denn das Selbst ist immer auch Kern, d. h. der Einheitspunkt, in dem der Körper als Ganzes vermittelt ist. Demnach ist das Selbst der Körper als ganzer, der sich als Leib gegeben ist und der sich als Leib als Mittel seines Umweltbezuges hat. Das Selbst, d. h. der Körper als ganzer, hat vermittels seines Leibes Kontakt zu seiner Umwelt, es beherrscht in der Bewegung seinen Leib, es merkt die Umwelt und wirkt motorisch auf sie ein. Ich füge dazu noch an: Das Selbst hat den Körper nicht nur als Mittel des Umweltbezuges, sondern es spürt ihn auch, indem es z. B. Lust oder Schmerz empfindet. Tiere sind auf den Sachverhalt, doppelt zu sein, d. h., ein Körper zu sein und diesen zugleich als Mittel des eigenen Umweltbezuges als Leib zu haben, nicht rückbezogen. Ein Tier ist ein lebendiges Wesen kraft dieser Verdopplung; es lebt in ihr, aber sie ist ihm nicht gegeben. Anders gesagt: Der Körper ist in sich zerfallen und ist auf sich als Mittel seines Umweltbezuges, d. h. auf sich als Leib, bezogen. Aber auf diese Spaltung selbst ist der Körper nicht rückbezogen. 33 Diese Rückbezüglichkeit ist das Kennzeichen der exzentrischen Position, sie bezeichnet ein Wesen, das Körper ist, als Selbst des Habens im Körper ist (Stufe des Leibes) und außerhalb des Körpers und von dem Punkt außerhalb sich als beides erfasst. 34 Damit ist auch der absolute Bezugspunkt für Positionsfeld und Körper, d. h. das Selbst, das den Körper als seinen Leib hat, relativiert. Für die exzentrische Position kehrt Plessner zumeist die Relation von Haben und Sein um. Auf der Stufe der zentrischen Position gilt: Das Tier ist ein Körper, für den gilt, was für alle physischen Körper gilt. Als ein Selbst dagegen hat das Tier seinen Körper als Mittel des Umweltbezuges, d. h. als seinen Leib. Exzentrische Position: Der Mensch ist Leib, d. h., er geht in der Umweltbeziehung auf, er bildet ein nichtrelativierbares Hier-Jetzt. 33 34
Plessner: Stufen, S. 238. Plessner: Stufen, S. 293.
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Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib
Und insofern er aus dieser Umweltbeziehung herausgesetzt ist, realisiert er, dass er einen Körper hat, der sich an einer nur relativ bestimmbaren Raum-Zeit-Stelle befindet. Bevor ich darangehe, in dieses Modell die Leibanalysen von Schmitz einzuarbeiten, möchte ich schon eine Andeutung machen, an welcher Stelle der Plessner’schen Gedankenentwicklung der Ansatz für zeichentheoretische Überlegungen liegt. Ich gehe dabei von der Frage aus, ob es auf der Stufe exzentrischer Positionalität überhaupt denkbar ist, dass der Körper des Körperseins derselbe ist wie der des Körperhabens, und wenn sich diese Körper unterscheiden, wie der Unterschied zu denken ist. Die Achse, um die der Körper in dieser Fragestellung gedreht wird, ist der Leib. Zur besseren Orientierung werde ich im Weiteren vom Dingkörper sprechen, wenn ich die Ebene des Körperseins meine, und einfach von Körper, wenn ich die Ebene des Körperhabens anspreche. Der Dingkörper ist der von den Naturwissenschaften mit ihren Methoden erforschte Gegenstand, die von allen qualitativ zu erfassenden Momenten des Dingkörpers abstrahieren. Es ist weiterhin ein Dingkörper, der durch den Transfer in den Alltag des Labors und des Experiments von allen Verunreinigungen, die ihm lebensweltlich anhaften, befreit wird, d. h., im Experiment wird er durch eine spezifische Abstraktion wahrgenommen, in der alle Eigenschaften auf das reduziert werden, was an ihnen messbar und experimentell nachweisbar ist: Farben auf Lichtwellen, Töne auf Schallwellen usw. 35 Der uns allen alltäglich begegnende Körper ist dagegen in andere Sinnbezüge eingelassen. Die alltägliche Wahrnehmung ist nicht auf Messbarkeit aus, folglich sind die Schemata, die diese Wahrnehmung des Körpers ordnen, von anderer Art. Dingkörper und Körper meinen zwar den gleichen Gegenstand, aber in verschiedenen Wissenskontexten. Aus 35
Einen besonderen Status nimmt in dieser Hinsicht die Gestalthaftigkeit von Gegenständen ein, diese ist nämlich einerseits experimentell nachweisbar, andererseits aber ein integrales Element alltäglicher Wahrnehmung. Langer (Susanne Langer: Philosophie auf neuen Wegen, Frankfurt 1984) etwa setzt Gestalthaftigkeit gegen die spezifisch naturwissenschaftlichen Abstraktionen, während Plessner gegen Köhlers gestalttheoretische Deutung der Belebtheit argumentiert (vgl. Plessner: Stufen, S. 89).
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diesem Grund ist es sinnvoll, den Begriff der Verschränkung derart zu differenzieren, dass er sich auch auf den Körper, der allen alltäglich zugänglich ist, beziehen kann. Diesem Zweck dient die zeichentheoretische Interpretation des Begriffs »Verschränkung«. In diesem Sinne lässt sich das Verhältnis von Körper und Leib dann verstehen, wenn es sich um die Beziehung zwischen alltäglich begegnendem Körper und Leib handelt. Eine strikte Trennung der Wissenskontexte, in denen der Dingkörper und der Körper existieren, ist allerdings schlecht möglich. Die Wissenschaft produziert Bilder vom Körper, die in den Alltag übersetzt werden. Eine zentrale Übersetzungsmaschinerie stellt dabei die Medizin dar. Sie macht das Wissen vom Dingkörper durch ihr Heilungsversprechen relevant für Personen, denen ihr leibliches Befinden problematisch geworden ist: sei es, dass sie Schmerzen haben oder sich sucht mehr recht bewegen können; sei es, dass sie ihrem leiblichen Befinden misstrauen und auch ohne Beschwerden »überprüfen« lassen möchten, ob sich ihr Körper in der medizinisch für ihn etablierten Ordnung befindet. 36 1.3 Die Räumlichkeit des gespürten Leibes Plessners Analyse der Positionalität ist als ein Dialog mit der naturwissenschaftlich verfahrenden Biologie angelegt. Sein Ziel ist es, am gegenständlich anschaulichen Körper lebender Wesen Charaktere aufzuweisen, die das Spezifische der Belebtheit ausmachen. 37 Das Verfahren der Introspektion, die Deskription leib36
Ein aktuelles Beispiel für das Misstrauen gegenüber dem leiblichen Befinden sind Schwangerschaftsuntersuchungen. Für Frauen gilt es mittlerweile fast als verantwortungslos, wenn sie die Schwangerschaft ausschließlich nach ihrem leiblichen Spüren beurteilen und auf pränatale Untersuchungen verzichten. Bei dieser Entwicklung spielt die Verbildlichung der Gestalt des Fötus als einer von der Mutter zu unterscheidenden Körperform eine zentrale Rolle. Vgl. hierzu: Barbara Duden: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben, Hamburg, Zürich 1991. 37 Vgl. hierzu auch Helmuth Plessner: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982.
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licher Erfahrungen als solcher, verwendet Plessner nicht. Dies würde auch der Anlage seiner Untersuchung widersprechen, da weder Pflanzen noch Tiere sich hinsichtlich ihrer Erfahrungen verbal äußern. Schmitz, dem es nicht um eine Theorie des Lebendigen insgesamt zu tun ist, geht den Weg der Analyse von Selbstbeschreibungen leiblicher Erfahrung. Grundsätzlich basiert dieses Verfahren auf einer Differenz zwischen dem Selbst, d. h. einem ichhaften Zentralpunkt 38, und dem Leib als Voraussetzung des sich Spürens. Strukturell ist diese schon mit der zentrischen Position gegeben, weshalb Plessner das Verfahren der Selbstbeschreibung auch nicht grundsätzlich ausschließt. Im Rahmen der Schmitz’schen Analysen zeigt sich nun, dass dasjenige, was Plessner als ein Abgehoben-und-In-sich-Gesetzt-sein des lebendigen Körpers beschrieben hatte, eine Region des Räumlichen erschließt, die Plessner in seiner Bindung an den anschaulich gegebenen Körper verschlossen geblieben war. Die drei zentralen Themen der Differenz von Körper und Leib waren: 1. die unterschiedliche Struktur des zu sich in Beziehungseins, 2. die Differenz hinsichtlich der Beziehung zu dem vom Körper ausgefüllten Raum (= Differenz zwischen relativem und absolutem Ort) und 3. die unterschiedliche Art zu seiner Umgebung in Beziehung zu sein, das Problem der Begrenzung. Diese Themen wiederholen sich bei Schmitz zwar, erfahren aber auf der Ebene des Leibes eine Einbettung in eine qualitativ andere Raumstruktur, die sich gewissermaßen zwischen dem lediglich raumhaften Selbst und dem in relative Raumpunkte zerfallenden Raum ausdehnt. Schmitz und Plessner ähneln einander darin, dass sie zwischen Selbst bzw. Ichmoment und dem Leib differenzieren, zu dem das Ichmoment in Beziehung ist. Weiterhin nehmen beide einen absoluten Ort an, der sich von einem nur relativ zu bestimmenden Ort unterscheidet. Eine grundsätzliche Verschiedenheit liegt aller38
Ich spreche hier von ichhaft und nicht von Ich, da ein Ich eine Distanz zum nichtrelativierbaren Zentrum des Leibes impliziert, was auf der Ebene des einfachen Leibseins i. S. von Schmitz, der zentrischen Position Plessners, nicht der Fall ist.
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dings darin, dass Schmitz die Art und Weise, wie der Leib dem Ichmoment gegeben ist, in den Mittelpunkt stellt, wodurch auch die Analyse des Leib-Umwelt-Verhältnisses einen anderen Akzent erhält. Die Phänomene, die Schmitz durch diese Verschiebung ins Zentrum seiner Leibphänomenologie geraten, sind nicht anschaulich im Sinne von Schauen/Sehen fassbar, sondern nur noch einer Selbstbeobachtung, die das Spüren des eigenen Leibes in den Mittelpunkt stellt, zugänglich. Schmitz ist damit einer der wenigen Phänomenologen, der mit der Beschränkung auf das Sehen bricht. 39 Erkenntnistheoretisch stellen der absolute Ort und die ihm entsprechende Räumlichkeit eine fundierende Schicht dar, denn es gibt absolute Orte auch dann noch, wenn die Orientierung nach Lage- und Abstandsbeziehungen restlos zusammengebrochen ist. In der Erfahrung heftigen Schmerzes kann sich die Wahrnehmung äußerer Gegenstände völlig auflösen. Für die betreffende Person ist dann nur noch das Faktum ihres Schmerzes gegeben. Wo dieser Schmerz sich befindet, weiß sie auch dann noch, wenn dieser so heftig ist, dass er nicht einmal mehr lokalisiert werden kann, sondern die Person gewissermaßen ganz und gar ausfüllt. Sie weiß dann nicht mehr, wo es sie schmerzt, sondern nur noch, dass es sie schmerzt. Im Extremfall möchte die betreffende Person aus sich heraus und ist zugleich in sich gefangen, an einem Ort, den sie nicht verlassen kann. Diesen Konflikt sieht Schmitz für den Schmerz grundsätzlich, also auch bei weniger heftigen Schmerzen, als charakteristisch an. Er analysiert den Schmerz als »gehindertes Weg!«. 40 39
Die Schmitz’sche Phänomenologie bricht allerdings nicht nur mit dem Sehen als Modell der Leib-Umwelt-Beziehung, sondern wendet sich auch explizit gegen die handlungstheoretische Verkürzung der Leibanalyse, die bei Merleau-Ponty (vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (Wahrnehmung), Berlin 1966) z. B. noch stark ausgeprägt ist. 40 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. 1: Die Gegenwart, Bonn 1964, S. 186. Schmitz zieht diese Charakteristik zunächst aus einer Analyse der Worte, die den Schmerz beschreiben. Die Beschreibungen des Schmerzes, die Elaine Scarry (Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt 1992, S. 16 ff.) mit Bezug auf einen me-
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Der im Schmerz gegebene absolute Ort ist kein isolierter Punkt, denn er ist als die Enge, in die jemand gezwungen ist, bezogen auf eine Weite als Orientierung des »Weg!«. Als dasjenige, wohin die/der Betreffende hinaus will, bildet die Weite den Hintergrund, vor dem sich die Enge des schmerzenden Leibes abhebt. Schmerz ist gemäß Schmitz ein spannungsvoller räumlicher Gegensatz von Enge und Weite, der so dominant sein kann, dass er alle weitere räumliche Differenzierung zerstört. Im Gegensatz von Enge und Weite wird weiterhin eine Grenze gezogen, denn es ist sehr deutlich, wo der Leib ist und wo er zu Ende ist. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass der Leib nur zu Ende ist, indem er über sich hinaus ist, d. h. zu der Weite in Beziehung ist, vor deren Hintergrund sich die Enge des schmerzenden Leibes abhebt. Insofern gehört die Weite ebenso zum Leib wie die Enge. 41 Der Leib ist das in diesem Gegensatz fundierte Phänomen. Wenn die Pole des Gegensatzes Enge und Weite aus diesem herausfallen, d. h. nicht mehr aufeinander bezogen sind, hört der Leib auf zu existieren. Man muss sich die Radikalität des Gedankens klarmachen: Der Leib ist das sich Selbst-Gegebensein und das notwendige Gegebensein des Korrelats außer ihm, der Weite. Daraus folgt: Der Leib ist ein rein struktural, d. h. in und durch einen Gegensatz zu begreifendes Phänomen und fundiert als ein solches die Erscheinung einer sinnvollen Welt, in der man zu Hause sein kann. Die Leibanalyse von Schmitz stellt sich insgesamt die Aufgabe, die Vielfalt leiblicher Phänomene wie Schmerz, Hunger, Wollust oder das Blicken durch Reduktion auf ein Spiel von Gegensätzen zu reduzieren. Im Wesentlichen sind es zwei Gegensatzpaare: Enge/Weite und ortsfindende/ortsauflösende Tendenz. Der Gegensatz von Enge und Weite ist dabei in sich noch weiter differenziert, wobei das wesentlich Neue der Differenzierung im Phänomen der Richtung liegt. Sich auszurichten, d. h. sich z. B. beim dizinischen Fragebogen, der Patientlnnen helfen soll, ihre Schmerzen zu beschreiben, vorlegt, konvergieren mit den Schmitz’schen Befunden. 41 Schmitz bestimmt den Leib als Enge als »per se« leiblich, während die Weite nur insofern leiblich ist, als sie von »per se leiblichen Phänomenen […] regelmäßig als Korrelat gefordert« wird (Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 1. Teil: Der Leib (System II/1), Bonn 1965, S. 6.).
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Gehen an eine Richtung zu halten oder die Erfahrung von Gerichtetheit beim Ausatmen, beschreibt Schmitz als eine Vermittlung von Enge an Weite. Im Sich-Richten wird der Weiteraum durch Vektoren strukturiert, die vom Leib als absolutem Ort ausgehen. Das Wesentliche der leiblichen Richtungen ist ihre Unumkehrbarkeit. Es macht einen qualitativen Unterschied, ob etwa beim Blick die Richtung von mir ausgeht und ich jemanden anblicke oder ob ich die Erfahrung mache, dass sich jemand auf mich richtet und mich anblickt. Der Gegensatz ortfindende/ortsauflösende Tendenz dient Schmitz dazu, das Phänomen des körperlichen Leibes, das nicht mit dem Begriff der Verschränkung von Körper und Leib i. S. Plessners verwechselt werden darf, in die Gegensatzstruktur einzuordnen. Körperlicher Leib meint folgendes: Wenn man den eigenen Leib spürt, kann man Areale voneinander unterscheiden, die einerseits durch Lage- und Abstandsbeziehungen wechselseitig determiniert sind, die aber dennoch zum Leib als absolutem Ort gehören und selbst auch absolut örtlich bestimmt sind. Diese Orte sind als Areale meines Leibes relativ zueinander bestimmt: oberhalb davon, unterhalb davon etc. Aber dennoch kann ich z. B. das strahlige Leeregefühl in der Magengegend sofort als meinen Hunger identifizieren und muss nicht erst überprüfen, ob sich dieser Hunger vor dem Schreibtisch, oberhalb des Stuhls ungefähr innerhalb des von meinem Körper eingenommenen Gebietes befindet, um dann zu schließen, dass es sich bei diesem Gefühl wohl um meinen Hunger handeln müsse. Diese Areale bezeichnet Schmitz als Leibesinseln, die sich bilden, ausdehnen, zusammenziehen und auch wieder ganz verschwinden können. Die strahlige Leere kann sich wieder zusammenziehen und schließlich ganz verschwinden, dann ist das Hungergefühl einfach weg. Insofern diese Orte lokalisiert sind, sind sie auf die ortsfindende Tendenz bezogen. Wenn diese sich völlig durchsetzt, ist der Ort auf einen Punkt zusammengezogen. Als Beispiel hierfür könnte ein punktueller spitzer Schmerz dienen. Wenn der Schmerz sich dagegen ausbreitet und die scharfe Zuspitzung verliert, wird der Ort, verstanden als örtliche Zuspitzung, aufgelöst, indem er sich vergrößert. 84 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib
Die zentralen Charakteristika der Räumlichkeit des Leibes lassen sich so zusammenfassen: 1. Der Leib bildet einen absoluten Ort. 2. Die Räumlichkeit des Leibes existiert nur in und durch eine Gegensatzstruktur. Relativ örtliche Punkte sind dagegen nur in ihrer örtlichen Bestimmtheit, nicht aber in ihrer Existenz gefährdet, wenn sie aus der sie bestimmenden Relation herausfallen. Das ist beim Leib nicht der Fall, er existiert nur in der Form des Gegensatzes. 3. Die Räumlichkeit des Leibes bezeichnet räumlich ausgedehnt existierende Gebilde, deren Ausdehnung nicht teilbar ist. Man kann das gespürte Areal nicht zerschneiden und in seine Einzelteile zerlegen. Schmerzatome, aus denen das Schmerzgebilde aufgebaut ist, gibt es nicht. Teilbar ist nur der Körper. 4. Im Unterschied zu Körpern können sich leibliche räumliche Gebilde verkleinern, vergrößern, verschwinden und wieder bilden. Das kann sich auch in der Zeit ereignen, während der ich sie beobachte. Bei Körpern pflegt es derlei Vorkommnisse nicht zu geben, jedenfalls dann nicht, wenn ich sie in einem gleichmäßig wachen Zustand anschaue. 5. Der Leib hat eine »ökonomische« Dimension, denn leibliche Erfahrungen können an Intensität zu- und abnehmen. Zum Dingkörper, an dem physiologische Erregungen gemessen werden können, steht der gespürte Leib in einem vergleichbaren Verhältnis wie z. B. Schallwellen und gehörte Töne oder Lichtwellen und gesehene Farben. Es handelt sich also um eine Differenz zwischen qualitativen Gegebenheiten und Daten, die aufgrund von Messungen gewonnen werden. 42 42
Eine Möglichkeit, das Verhältnis dieser beiden Reihen von Erscheinungen zu bestimmen, wäre die, eine geregelte Korrespondenz anzunehmen, was von einer Punkt-für-Punkt-Entsprechung zu unterscheiden wäre. Holenstein versucht auf diese Weise den Zusammenhang von Tönen und Schallwellen zu verstehen (vgl. Elmar Holenstein: »Die Grenzen der phänomenologischen Reduktion in der Phonologie oder Eine strukturalistische Lektion in Phänomenologie«, in: Elmar Holenstein: Linguistik. Semiotik. Hermeneutik. Plädoyers für eine strukturale Phänomenologie, Frankfurt 1976, S. 114–124, hier S. 118 f.). Indem die Leibphänomenologie das Verhältnis von Dingkörper und Leib als eines zwischen ausschließlich quantitativen und qualitativen Phänomenen, die auch eine ökonomische Dimension haben, versteht, denkt sie über ein Problem nach, dem sich auch die Psychoanalyse auf eine grundsätzliche andere Weise widmet. Starobinski hat ge-
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Gesa Lindemann
2.
Verschränkung von Körper und Leib als Verhältnis wechselseitigen Bedeutens
Bei der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Körper und Leib und dem in der Verschränkung gegebenen Bedeutungsverhältnis ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen zu differenzieren. 1. Die Ebene des Körperseins, d. h. die des Dingkörpers im Sinne Plessners. Hier ginge es im Sinne einer realistischen Einstellung um eine Erforschung des Körpers, der messbaren physiologischen Prozesse, von Genstrukturen usw. Der Versuch einer Historisierung müsste sich entsprechend ebenfalls naturwissenschaftlicher Methoden bedienen. 2. Die Ebene der Wissenskonzepte, in deren Rahmen ein Wissen über den Körper formuliert wird, sowie die Ebene der sozialen Praxis, in der das Wissen über den Körper entwickelt wird. Dies wäre gewissermaßen eine reflexive Einstellung zum Wissen über zeigt, dass eine der Leistungen Freuds darin bestand, gegen die Annahme einer körperlichen Bedingtheit psychischer Vorkommnisse deren Eigenart verteidigt zu haben (vgl. Jean Starobinski: »Kleine Geschichte des Körpergefühls«, in: Jean Starobinski: Kleine Geschichte des Körpergefühls, Frankfurt 1991, S. 12–33). Dabei bezieht er sich maßgeblich auf Freuds Triebbegriff, der einen Bruch zwischen Körper und Psyche markiert, indem der Trieb einerseits als somatische Reizquelle und andererseits als deren psychische Repräsentation verstanden wird (vgl. Sigmund Freud, »Triebe und Triebschicksale«, in: Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. III: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt 1975, S. 75–102). Generell kann man bei Freud feststellen, dass sich Psychisches als Bruch mit dem Somatischen konstituiert. In diesem Bruch entsteht die virtuelle Räumlichkeit des psychischen Apparats. Dies ist auch theoriegeschichtlich zu verstehen. Während Freud (Sigmund Freud: »Entwurf einer Psychologie«, in: Sigmund Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887–1902, Frankfurt 1962, S. 297–384) in seinem ersten metapsychologischen Entwurf »psychische Zustände […] als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile« darstellen wollte, insistierte er seit dem metapsychologischen Entwurf der Traumdeutung (Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. II: Die Traumdeutung, Frankfurt 1972) auf einem Bruch, den er als ein Repräsentationsverhältnis verstanden wissen wollte. Die von Plessner her gelesene Leibphänomenologie Schmitz’ markiert den gleichen Bruch mit dem Körper, versteht ihn aber nicht als Repräsentation, sondern als Differenz von Räumlichkeiten, die methodisch verschiedenen Zugängen zum menschlichen Körper geschuldet sind.
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Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib
das Körpersein. In diesem Zusammenhang ließe sich in wissenssoziologischer Perspektive eine Historisierung des Wissens vornehmen, indem soziale Praktiken und kulturelle Strukturen als konstitutive Bestandteile des Wissens ausgewiesen werden. 3. Auf der Ebene des Leibes und der Leib-Umwelt-Beziehung geht es strukturell um drei Fragen. a) Wie wird der eigene Leib gespürt? b) Wie ist die Sphäre des gespürten Leibes von dem sie umgebenden Medium abgegrenzt? c) Wie ist die Umweltbeziehung, hinsichtlich der Struktur der differenzierenden Wahrnehmung und des praktischen Handelns beschaffen? In einer sozialwissenschaftlichen Perspektive sind lediglich die Ebenen (2) und (3) zugänglich. Die erste und die zweite bilden eine Ausdifferenzierung der Phänomene einerseits des Körperseins, des Dingkörpers, und andererseits des Körperhabens, d. h. des Körpers der Verschränkung von Körper und Leib. Die zweite Ebene ist weiterhin die der diskursiven Konstruktion des Körpers. Wie Diskurse die Gestalt des Körpers formen können, d. h. wie die Wahrnehmung des Körpers in sich einen zeichenhaften Verweisungscharakter haben kann, also als etwas in sich Semiotisches verstanden werden kann, ist zwar ein bisher ebenfalls nur in Ansätzen geklärtes Problem, das ich allerdings hier nicht weiter behandle. 43 2.1 Der Leib als Bedeutungsträger In diesem Zusammenhang geht es mir hauptsächlich um das Bedeutungsverhältnis zwischen Körper und Leib. Dabei ergeben sich folgende Schwierigkeiten: Einerseits wird in diesem Konzept der Leib als ein Bedeutungsträger verstanden und andererseits als Bedeutung, wobei das Bedeutungsverhältnis, insofern der Körper den Leib bedeutet, zugleich normativ ist. Der Körper bedeutet den Leib, indem er dem Leib bedeutet, wie er zu sein hat. Zu43
Vgl. hierzu Gesa Lindemann: »Geschlecht und Gestalt. Der Körper als konventionelles Zeichen der Geschlechterdifferenz«, in: Gertrud Koch (Hrsg.): Auge und Affekt, Frankfurt 1995, S. 75–92.
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Gesa Lindemann
nächst wende ich mich dem Problem zu, wie der Leib etwas bedeuten kann. Schmitz’ Analyse des Leibes, die diesen als ein in und durch ein System von Gegensätzen existierendes Phänomen beschreibt, weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Jakobsonschen Phonologie auf. Jakobson war es darum gegangen, die Vielzahl der Phoneme auf ein System von Gegensätzen Zu reduzieren, aus denen sich die einzelnen Phoneme zusammensetzen. 44 Auf diese Weise wird jedes einzelne Phonem nicht als ein isoliertes Phänomen, sondern als Bestandteil eines Systems von Oppositionen begriffen. Jakobson unterscheidet streng zwischen Phonetik, die es mit dem Lautmaterial als solchem zu tun hat, und der Phonologie, deren Aufgabe es ist, die strukturierte Aufbereitung des phonischen Stoffes zu sprachlichen Lauten, die etwas bedeuten, zu untersuchen. Die Laute werden zu Phonemen, indem sie mit einem System von Oppositionen überzogen werden 45, und in der Sprache sind nur Laute zugelassen, die in dieses System integriert sind. Problemlos identifizierbare und reproduzierbare Bedeutungsträger sind Phoneme nur als Bestandteil dieses systematischen Zusammenhangs. Die Notwendigkeit der Gliederung in ein durch Gegensätze strukturiertes System stellt sich nicht für jede Materie, die Bedeutungen trägt. Visuelle Zeichen sind z. B. nicht in der gleichen Weise aufgebaut 46, da sichtbare Gestalten andere Möglichkeiten der Ordnung anbieten. Der Leib als bedeutende Materie dagegen gleicht akustischen Zeichen darin, dass er durch ein strukturiertes System von Gegensätzen eine Form erhält. Es bestehen allerdings zwei wesentliche Unterschiede: 1. Lautliche Zeichen existieren 44
Vgl. Roman Jakobson: »Zur Struktur des Phonems«, in: Roman Jakobson: Selected Writings, Bd. I: Phonological Studies, The Hague 1971, S. 280–310. 45 Vgl. Roman Jakobson: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, Frankfurt 1969, S. 93 ff. 46 Vgl. Roman Jakobson, »Visual and Auditory Signs«, in: Roman Jakobson: Selected Writings, Bd. Il: Word and Language, The Hague 1971, S. 334–337 und Roman Jakobson: »On the Relationship between Visual and Auditory Signs«, in: Roman Jakobson: Selected Writings, Bd. Il: Word and Language, The Hague 1971, S. 338–344.
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Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib
zwar als bestimmte nur in und durch die sie bestimmenden Gegensätze, aber diese formen einen Stoff, den sie als solchen nicht hervorbringen, sonst wäre die Differenzierung in Phonetik als Stoffwissenschaft und in Phonologie als Formwissenschaft nicht nötig. Im Unterschied dazu existieren leibliche Zeichen nur in und durch die den Leib strukturierenden Gegensätze. Diese sind zugleich der Stoff und die Form des Leibes. 2. Das System der Gegensätze, das die Phonologie beschreibt, kennt nur relative Werte, dies entspricht einem System von Orten, in dem die einzelnen Punkte ihre Festlegung nur in umkehrbar wechselseitigen Relationen erhalten. Im Unterschied dazu markieren die den Leib bildenden Gegensätze einen absoluten Ort. Unabhängig von diesen Differenzen bleibt als Ergebnis festzuhalten, dass der Leib als Leib – vom Körper ist hier nicht die Rede – eine strukturierte Materie bildet, die als solche dazu geeignet ist, in Bedeutungsrelationen integriert zu werden. Dies kann auf eine zweifache Weise geschehen: 1. als ein Verweis leiblicher Phänomene auf sich selbst, 2. als ein Verweis leiblicher Phänomene auf den Körper. Die erstgenannte Bedeutungsbeziehung ist wesentlich zeitlich strukturiert. Wenn eine Person unter einem spezifischen Schmerz leidet, z. B. einer Art von Migräne, die sich in mehr oder weniger großen Zeitabständen einstellt, ist es möglich, diesen Schmerz schon in einem noch gar nicht so schmerzhaften Anfangsstadium wiederzuerkennen. Ich weiß dann, es geht wieder los. Das leichte Spannungsgefühl am Übergang Hals/Kopf ist dann nicht nur als es selbst gegeben, sondern als ein Hinweis auf diese Art von mit Übelkeit verbundenem Kopfschmerz insgesamt. Das leichte Spannungsgefühl wird als Anfang einer ganzen Erfahrungssequenz verstanden, deren Zukunft sie bedeutet. Der Bestandteil einer Erfahrungssequenz verweist auf diese als Ganze. Dieser Bedeutungszusammenhang schließt selbstverständlich einen Irrtum nicht aus, wenn sich im Laufe des Tages herausstellt, dass die Migräne überraschenderweise doch nicht kommt. Aber gerade daran zeigt sich, dass das morgendliche Unwohlsein mit etwas identifiziert worden war, das es in sich selbst nicht war, nämlich mit der Erfahrungssequenz Migräne als ganzer. 89 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Gesa Lindemann
2.2 Wechselseitiges Bedeuten von Körper und Leib Die zweite Bedeutungsrelation, die im Verhältnis von Leibsein und Körperhaben fundiert ist, möchte ich am Beispiel der Gebärmutter untersuchen. Die Frage, um die es geht, ist die, ob die Gebärmutter eine Nomadin ist und im Körper umherwandert oder ob sie an einer Stelle bleibt. Bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein wandten sich medizinische ExpertInnen immer wieder gegen die Auffassung, dass die Gebärmutter wandert und durch ihre Unruhe z. B. Hysterie hervorruft. Thomas Laqueur 47 zieht aus der beständigen Wiederholung der Behauptung, die Gebärmutter würde nicht wandern, den Schluss, dass irgendjemand daran wortwörtlich geglaubt haben müsse. Er folgt damit einer ähnlichen Logik wie Elias 48, der aus Anstandsbüchern rückschließt, welche Art von Verhalten es gab, das unterbunden werden sollte. Im sechzehnten Jahrhundert schließlich fanden anatomische Abbildungen eine viel weitgehendere Verbreitung als vorher und im selben Zeitraum verstummte die Klage der professionell anatomisch Wissenden darüber, andere würden an den Unsinn einer wandernden Gebärmutter glauben. 49 Um überhaupt davon sprechen zu können, dass eine Gebärmutter wandert und dadurch eine frauenspezifische Krankheit verursachen kann, muss es ein Wissen um die Existenz dieses Organs geben. Dies kann nur durch anatomische Forschungen gewonnen werden. In einer realistischen Perspektive bezieht es sich auf den Körper im Sinne des Körperseins. Dieser Körper fällt aber zusammen mit dem Körper i. S. des Körperhabens, d. h. mit dem Körper, in den Einzelne i. S. einer Bedeutungsrelation verschränkt sind. Mit anderen Worten: Die Person, die sich leiblich spürt, verbindet die dabei gemachten Erfahrungen mit dem Körper, den sie hat. Dieser Körper ist nun derjenige, von dem sie weiß, dass sich 47
Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud (Leib), Frankfurt, New York 1992. 48 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (2 Bde.), Frankfurt 1976. 49 Vgl. Laqueur: Leib, S. 129 ff.
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Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib
in ihm eine Gebärmutter befindet. Bezüglich der leiblichen Erfahrung müsste man sagen, dass eine Leibesinsel, die die Existenz einer Gebärmutter bedeutet, wandert. Um das zu verstehen, ist es sinnvoll, noch eine Ergänzung zur spezifischen Räumlichkeit des Leibes zu liefern. Der Raum, in dem es relative Orte gibt, ist auch darüber bestimmt, dass sich in ihm an einer Raum-Zeit-Stelle immer nur ein Gegenstand befinden kann. Dieser Logik ist die Argumentation der Anatomen verpflichtet, die darauf beharren, in einem menschlichen Körper sei gar kein Platz für eine bewegliche Gebärmutter vorhanden. Diese sei von anderen Organen umgeben und außerdem, wie schon Galen wusste, mit Bändern befestigt, weshalb es undenkbar sei, sie würde nicht an ihrem Platz bleiben. Dagegen ist es durchaus möglich, dass sich zwei oder mehr absolute Orte an einer relativ bestimmten Raum-Zeit-Stelle befinden. 50 Verdeutlichen möchte ich das an einem moderneren Beispiel, den Phantomgliedmaßen. Das sind amputierte Gliedmaßen, die aber dennoch als vorhandene gespürt werden. Personen mit Phantomgliedern vermeiden es normalerweise, sich so zu bewegen, dass das Phantomglied irgendwo anstößt. Wenn sie allerdings aufgefordert werden, den Stumpf so dicht an einen festen Gegenstand, etwa einen Tisch, heranzuführen, dass für das Phantomglied, z. B. eine Hand, kein freier Platz mehr bleibt, wird die Phantomhand in dem Bereich gespürt, der von der Tischplatte ausgefüllt wird. Die Hand wird dabei nicht als etwas dem Tisch Zugehöriges erfahren und der Tisch nicht als etwas, das zur Hand gehört. Auf eine vergleichbare Weise kann ein Phantomglied durch den eigenen Körper geführt werden, wobei der dabei durchdrungene Bereich zugleich eigenleiblich gespürt wird, ohne dass eine Vermischung zwischen beiden Arealen des körperlichen Leibes auftritt. Absolute Orte, in diesem Fall Leibesinseln, d. h. ausgedehnt gespürte Regionen des körperlichen Leibes, können an einem relativen Ort existieren, der zur gleichen Zeit mit einem Körper ausgefüllt ist, und weiterhin können sich zwei absolute Orte einen relativen Ort teilen, d. h. am selben relativen Ort existieren. 50
Für das Folgende vgl. Schmitz: System II/1, S. 18 ff.
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Gesa Lindemann
Die wandernde Gebärmutter wäre demnach als eine Leibesinsel zu verstehen, als ein Areal des gespürten körperlichen Leibes, dessen Örtlichkeit absolut ist. In diesem Sinne kann es das Phänomen geben, dass sich eine Region des gespürten Leibes deutlich verschiebt und dabei auch durch andere Regionen des körperlichen Leibes wandert. Die Modifikation der Struktur des körperlichen Leibes als wandernde Gebärmutter zu verstehen, setzt aber wie gesagt voraus, dass Leib und Körper in einem Bedeutungsverhältnis zueinander stehen. In diesem Fall ist die Leibesinsel der Bedeutungsträger und die körperlich feststellbare Gebärmutter die Bedeutung. Damit die Bedeutungsrelation in dieser Richtung funktionieren kann, muss sie ebenso umgekehrt verlaufen. In diesem Fall tauschen Körper und Leib die Positionen. Der Körper wird zum Bedeutungsträger, der anzeigt, wie der Leib einer Person gespürt wird. Einen weiblichen Körper zu haben, bedeutet einer Person, als einen Bestandteil ihres körperlichen Leibes eine fixierte Leibesinsel »Gebärmutter« zu spüren bzw. spüren zu können. Insofern es sich um Körper und Leib einer Person handelt, erhält der Körper im Verhältnis zum Leib eine normierende Funktion. Der Körper, den ich habe, bedeutet die Form des körperlichen Leibes, und er bedeutet dem körperlichen Leib, welche Form er haben sollte. Mein Körper, verstanden als mein Wissen über seine visuelle Gestalt, vermittelt zwischen mir und meinem Leib. Ohne diese Annahme bliebe es unverständlich, warum die Gebärmutter europäischer Frauen mit der Verbreitung anatomischen Wissens »sesshaft« wurde. Um Veränderungen der leiblichen Erfahrung zu verstehen, ist es sicher zu kurz gegriffen, den Leib einzig durch den Bezug auf den Körper zu begreifen, denn der Leib ist ja nicht nur passiv gespürter körperlicher Leib, sondern auch auf die Umwelt bezogen, die er erlebt und auf die er praktisch einwirkt. Der Leib bildet das historisch geformte Agens geschichtlicher Prozesse. All dies habe ich ausgeklammert, um die Beziehung des körperlichen Leibes zum Körper zu akzentuieren. Aber auch wenn man diese Restriktion in Rechnung stellt, scheint es interpretationsbedürftig, dass es der Bilder bedurfte, um die leibliche Gebärmutter zu 92 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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beruhigen. Zu sehen, wie die Organe im Körper geordnet sind, war überzeugender, als nur davon zu hören. Das Bild vermittelt augenscheinlich ein räumliches Modell, das ohne den Umweg über ein sprachliches oder gar propositionales Wissen auskommt und deshalb problemloser in den Leib versenkt werden kann. Dieser Vorgang beinhaltet – wie gesagt – eine Formung des Leibes; er wird in der Aufnahme der neuen Form zu etwas anderem. Bei der Struktur wechselseitigen Bedeutens handelt es sich zumindest nicht nur um ein mentales Wissen, sondern um die Angleichung einer gespürten an eine visuell bildhafte Topographie. 51 Die These der Verschränkung von Körper und Leib nimmt dem Zugang zum Leib in zweifacher Hinsicht die unproblematische Einfachheit. Zum einen ist es in diesem Rahmen nicht möglich, davon auszugehen, der Leib sei derart durch Diskurse geformt, dass es an ihm außer den ihn formenden Mächten nichts zu untersuchen gäbe. Dies wäre etwa die Position Foucaults, die z. B. Butler 52 dahin radikalisiert, dass Diskurse die Materialisierung des Körpers bewirken könnten. Zum anderen gibt es aber auch keinen unvermittelten Zugang zum Leib, denn dieser wird in seiner räumlichen Struktur selbst einer kulturellen Formung unterworfen. Der phänomenologischen Reduktion gelingt es lediglich, die Strukturalität des Leibes als ein vorläufig universales Phänomen auszuweisen, jede bestimmte Form des Leibes muss dagegen als historisch variabel verstanden werden. 53
51
Vergleichbare Prozesse der Umformung des Leibes durch Angleichung zwischen visuellen und leiblich gespürten Topographien lassen sich auch bei der Geschlechtsveränderung von Transsexuellen nachweisen. Transsexuelle mühen sich damit ab, ihren Leib in die topographische Ordnung des neuen Körpers zu bringen. Dieser Vorgang ist zu unterscheiden von der operativen Veränderung des Körpers (vgl. Gesa Lindemann: Das Paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl, Frankfurt 1993, Kap. I, V). 52 Judith Butler: Bodies that Matter. On the Discursive Limits of Sex, New York, London 1993. 53 Phänomenologische Reduktion ist hier im Sinne Schmitz’ (Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 1. Teil: Der leibliche Raum, Bonn 1967, S. 1 ff.) zu verstehen, der ähnlich wie Merleau-Ponty (Merleau-Ponty: Wahrnehmung, S. 11) auf deren Unabschließbarkeit abhebt.
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Gesa Lindemann
Abschließend sei noch eine Ergänzung angefügt. In diesem Text habe ich nur die Ordnung des gespürten Leibes als historisch variabel beschrieben. Die Veränderbarkeit betrifft aber genauso die Art und Weise, wie die Grenze zwischen dem absoluten Ort des Leibes und dem ihn umgebenden Medium gezogen ist. In unserer Kultur ist diese Grenze relativ undurchlässig und fällt mehr oder weniger mit der Gestalt des Körpers zusammen, d. h. diese reguliert die Grenze zwischen Leib und Umwelt. Zugleich ist das Aktivitätszentrum etwas, das immer im Leib verortet wird. Dies wird von den meisten Phänomenologen insofern unbewusst reproduziert, als sie immer den eigenen Leib als das situative Erfahrungszentrum beschreiben. 54 Kulturen, die es für möglich halten, dass Götter buchstäblich in die Leiber der Menschen eingreifen, können dagegen weder eine undurchlässige Grenze des Leibes zu seiner Umwelt annehmen, noch verorten sie das Aktionszentrum immer in den Leibern. 55 Diese Variabilität zwingt zu der Annahme, dass der Leib in einem umfassenden Sinne einer kulturellen Form bedarf, die ihm Halt und erlebte Kontur gibt, eine Form, die sowohl den körperlichen Leib als auch die Leib-Umwelt-Beziehung in ihrer räumlichen Verfasstheit und praktischen Struktur reguliert.
54
Für eine Kritik dieser phänomenologischen Positionen vgl. Elmar Holenstein (Elmar Holenstein: »Der Nullpunkt der Orientierung. Die Platzierung des Ich im wahrgenommenen Raum«, in: Elmar Holenstein: Menschliches Selbstverständnis. Ichbewusstsein, intersubjektive Verantwortung, interkulturelle Verständigung, Frankfurt 1985, S. 14–58), der allerdings mit den Positionen Schmitz’ und Plessners nicht recht vertraut zu sein scheint. 55 Vgl. hierzu etwa Schmitz’ Analyse der Ilias (Schmitz: System II/l), deren Helden eine außer ihnen existierende Gottheit als eigenes Aktionszentrum erfahren. Diese Arbeit bildet gewissermaßen eine Pionierstudie der kulturwissenschaftlichen Körpergeschichtsschreibung, die erst seit den achtziger Jahren breiter aufgenommen wurde. Für einen Überblick vgl. Barbara Duden: »Geschlecht, Biologie, Körpergeschichte. Bemerkungen zu neuer Literatur in der Körpergeschichte«, in: Feministische Studien Heft 2, 1991, S. 105–122.
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Zeichentheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Körper und Leib
3.
Schluss
Innerhalb der These, Wirklichkeit sei eine soziale Konstruktion, stellte sich das Problem, wie Körper und Leib als genuin kulturelle Gegebenheiten zu verstehen sind. Mein Lösungsversuch basiert darauf, diese Frage zeichentheoretisch zu reformulieren, wodurch die Differenz von Natur und Kultur ihre zentrale Stellung an die zwischen Bedeutendem und Bedeutetem verliert. In dieser Perspektive habe ich versucht, den Leib als eine spezifische Bedeutung tragende Materie auszuweisen, die – darin den auditiven Zeichen vergleichbar –durch ein System von Gegensätzen strukturiert ist. Im Sinne der exzentrischen Positionalität steht der Leib in einer doppelten Beziehung zum Körper. Einerseits bilden Organisationsformen des Dingkörpers – wie etwa das Vorhandensein eines zentralen Repräsentationsorgans 56 – die Voraussetzung für die Existenz des Leibes; andererseits stehen Körper und Leib in einem Verhältnis wechselseitigen Bedeutens. Ausgehend von der Bedeutungsrelation ergibt sich für die Frage, ob der Leib eine natürliche Voraussetzung sei, folgendes: 1. Das Faktum der Strukturalität des Leibes ist nicht das Resultat einer kulturellen Formung. 2. In Analogie mit der Phonologie Jakobsons wäre davon auszugehen, dass der Leib in historischen Formen existiert, die jeweils nie alle Möglichkeiten der die leibliche Struktur tragenden Gegensätze ausschöpfen. 3. Beim Leib kann die historische Form allerdings nicht – auch nicht durch eine Abstraktion – von dem Stoff unterschieden werden, den sie strukturiert, denn der Leib existiert im Unterschied zu auditiven Zeichen nur in und durch die Gegensatzstruktur. Es gibt auf der Ebene des Leibes keine Differenz, die der zwischen Phonologie und Phonetik gleichzusetzen wäre. 4. Daraus folgt: Der Leib ist einerseits total natürlich, denn das Faktum der Strukturalität ist nicht auf eine Kultur relativ, andererseits ist der Leib aber total relativ auf die jeweilige Kultur, denn seine Form ist eine je historische, an der kein Substrat feststellbar ist, das sich diesseits von ihr befände. 56
Vgl. Plessner: Stufen, S. 229.
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Thomas Fuchs
Die Koextension von Leib und Körper. Von Phantomgliedern, Gummihänden und anderen Rätseln 1 1.
Einleitung: Naturalisierung und Virtualisierung
Dass alles, was Menschen erleben, in Wahrheit eine Konstruktion und Vorspiegelung ihrer Gehirne sei, gehört heute zu den gängigen Überzeugungen von Neurowissenschaftlern und Neurophilosophen. Von Schmerz oder Ärger über Farben oder Musik bis hin zu Liebe oder Glauben gibt es kaum noch ein Phänomen, das nicht irgendwo im Gehirn untergebracht wird. Der Kosmos entsteht im Kopf und die Wahrnehmung wird gewissermaßen zu einer physiologischen Illusion. Typische Beschreibungen lauten dann etwa folgendermaßen: »Was Sie sehen, ist nicht, was wirklich da ist; es ist das, wovon Ihr Gehirn glaubt, es sei da.« 2 »Die geistige Multimedia-Show ereignet sich, während das Gehirn externe und interne Sinnesreize verarbeitet […]« 3 »[…] wir [befinden] uns immer schon in einem biologisch erzeugten ›Phenospace‹ […]: Innerhalb einer durch mentale Simulation erzeugten virtuellen Realität.« 4
1
Dieser Beitrag ist ein Wiederabdruck von Thomas Fuchs: »Hirnwelt oder Lebenswelt? Zur Kritik des Neurokonstruktivismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, S. 347–358. 2 Francis Crick: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins, München 1994. 3 Antonio Damasio: »Wie das Gehirn Geist erzeugt«, in: Spektrum der Wissenschaft, Dossier 2: Grenzen des Wissens, 2002, S. 36–41, hier S. 36. 4 Thomas Metzinger: Subjekt und Selbstmodell (Subjekt Selbstmodell), Paderborn 1999, S. 243.
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Die Koextension von Leib und Körper
»Unsere Wahrnehmung ist […] eine Online-Simulation der Wirklichkeit, die unser Gehirn so schnell und unmittelbar aktiviert, dass wir diese fortwährend für echt halten.« 5
Nach dieser neurokonstruktivistischen Konzeption ist die reale Welt also in dramatischer Weise verschieden von der, die wir erleben. Was wir wahrnehmen, sind nicht die Dinge selbst, sondern nur die Bilder, die sie im Gehirn hervorrufen. Die tatsächliche Welt ist ein eher trostloser Ort von Energiefeldern und Teilchenbewegungen, bar jeder Qualitäten. Der Baum vor mir ist eigentlich nicht grün, seine Blüten duften nicht, der Vogel in seinen Zweigen singt nicht melodisch: Das alles sind nur zweckmäßige Scheinwelten, die das Gehirn anstelle nackter, materiellkinematischer Prozesse erzeugt. Das milliardenfache Flimmern neuronaler Erregungen erzeugt meine Illusion einer Außenwelt, während ich in Wahrheit eingesperrt bleibe in die Höhle meines Schädels. Nun ist das neurobiologische Unternehmen der Naturalisierung des Geistes nur der letzte Schritt in einem auf die Neuzeit zurückgehenden Prozess der Entanthropomorphisierung, der Spaltung von Lebenswelt und Wissenschaft. Bereits für Galilei, Descartes und andere Protagonisten des Naturalisierungsprojekts ist die Welt nicht das, als was sie uns in alltäglicher Erfahrung erscheint. Ihre eigentliche Natur ist der Wahrnehmung nicht zugänglich; sie muss mit mathematischen Begriffen erst aufgedeckt werden. Damit erhält die Lebenswelt einen virtuellen oder illusionären Status: Wir glauben nur, so Descartes, »[…] wir sähen die Fackel selbst und hörten die Glocke selbst, während wir nur die Bewegungen empfinden, die von ihnen ausgehen.« 6 Die Wahrnehmung vermittelt nur Scheinbilder, zweckmäßig für uns erzeugt durch unsere natürliche Sinnesorganisation; erst die Wissenschaft kann uns darüber Auskunft geben, in welcher Welt wir tatsächlich leben. 5
Werner Siefer/Christian Weber: Ich – Wie wir uns selbst erfinden, Frankfurt 2006, S. 259. 6 René Descartes: Die Leidenschaften der Seele, hrsg. v. Klaus Hammacher, Hamburg 1984, S. 41.
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Thomas Fuchs
Freilich ist Descartes’ dualistische Ontologie heute längst auf dem Rückzug. Der Materialismus löst das Problem, das durch die Spaltung zwischen der sinnlich wahrgenommenen Welt und dem wissenschaftlich konzipierten Universum entsteht, indem er nur noch Letzterem ontologische Realität zuspricht. In einem Punkt jedoch knüpfen die Verfechter des modernen Naturalismus noch immer an Descartes und den nachfolgenden Idealismus an: Auch für sie ist die wahrgenommene Welt nur subjektive Erscheinung, nämlich eine Reihe von »Vorstellungen« oder »Repräsentationen« als inneren Stellvertretern der äußeren Welt. Diese idealistische Konzeption der Wahrnehmung übernimmt die Neurobiologie, so heftig sie ansonsten den Dualismus bekämpft. Es genügt ihr, den Begriff der Repräsentation materialistisch umzudeuten, nämlich zur Bezeichnung derjenigen neuronalen Prozesse, die den subjektiven Bildern der Außenwelt zugrunde liegen sollen. Durch spezifische Erregungsmuster oder Datenstrukturen spiegelt das Gehirn die Strukturen der Außenwelt wider. Wie sich zeigt, passen die idealistische Innenwelt des Bewusstseins und die neurobiologische Innenwelt des Gehirns überraschend gut zueinander: Denn sowohl aus idealistischer wie aus materialistischer Sicht hat das Subjekt keinen wirklichen Anteil an der Welt. Die Verknüpfung beider Traditionen wird durch die Erkenntnistheorie des Neurokonstruktivismus hergestellt. Nun gibt es einen Bereich der Welt, der sich der Verbannung in die mentale Innenwelt in besonderer Weise widersetzt: Es ist der eigene Leib, den wir bewohnen, jedoch nicht wie der Kapitän sein Schiff oder der Fahrer sein Auto, sondern in der Weise, dass wir selbst dieser Leib sind – in der räumlichen Ausdehnung und Meinhaftigkeit der leiblichen Empfindungen, in der Selbstbeweglichkeit der Glieder und in allen leiblichen Fähigkeiten, die sich mit den zuhandenen Dingen und Aufgaben der Umwelt in habitueller Weise verbinden. Der Leib ist das primäre Medium des Inder-Welt-Seins, und damit auch das Zentrum unserer Lebenswelt. Das Programm der Naturalisierung lässt sich daher nur konsequent durchführen, wenn es gelingt, diesen subjektiven Leib als Illusion oder Projektion zu erweisen und den physikalisch definierten Körper an seine Stelle zu setzen. Nicht umsonst wandte 98 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Die Koextension von Leib und Körper
bereits Descartes beträchtliche Mühe auf, um die primäre Erfahrung der Räumlichkeit und Meinhaftigkeit des erlebten Leibes zu unterminieren. Vor allem Phänomene wie das Phantomglied, das Amputierte an der Stelle des fehlenden Gliedes empfinden, aber auch die beliebige Teilbarkeit des Körpers im Gegensatz zum Geist sollten seine Zeitgenossen davon überzeugen, dass die alte, aristotelisch-thomistische Konzeption der Koextension von Seele und Körper aufzugeben sei. 7 Die enge Verbindung, ja Vermischung beider, die Descartes gleichwohl noch zugestand, 8 sollte doch nichts daran ändern, dass der Geist des Körperkonglomerats nicht bedürfe und von ihm radikal verschieden sei. Der gleichen Problematik begegnen wir im Neurokonstruktivismus wieder, wenn auch unter materialistischem Vorzeichen. Im Interesse des Naturalisierungsprogramms muss die leibliche Subjektivität als Konstrukt erwiesen werden. Das Phantomglied und verwandte Erfahrungen bei Gesunden, in denen eigenleibliche Empfindungen außerhalb der Körpergrenzen lokalisiert werden, ja selbst die sogenannten außerkörperlichen Erfahrungen scheinen hinreichend zu belegen, dass unser subjektiver Leib nichts anderes ist als ein gewohnheitsmäßiger Phantomkörper, eine Simulation oder Konstruktion des Gehirns, die unter bestimmten Umständen an nahezu beliebiger Raumstelle erzeugt werden kann. So gibt der Hirnforscher Ramachandran zwei von jedem leicht durchführbare Experimente zu räumlichen Verlagerungen des Leiberlebens außerhalb des Körpers an, die belegen sollen: »Ihr eigener [subjektiver] Körper ist ein Phantom, ein Phantom, das Ihr Gehirn aus rein praktischen Gründen vorübergehend konstruiert hat.« 9 Das räumliche Körperschema, die Propriozeption, 7
René Descartes: Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die erste Philosophie (Meditationes), hrsg. v. Lüder Gäbe/Arthur Buchenau, Hamburg 1959, S. 155 ff. (Kap. VI, § 21 f.). 8 Descartes: Meditationes, Kap. VI, § 13. 9 Vilaynur S. Ramachandran/Sandra Blakeslee: Die blinde Frau, die sehen kann. Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins (Rätselhafte Phänomene), Reinbek/ Hamburg 2001, S. 114; Eines der bekanntesten Experimente dieser Art ist die »Gummihand-Illusion«: Wird eine sichtbare Gummihand auf dem Tisch synchron mit der unter dem Tisch verborgenen eigenen Hand rhythmisch berührt,
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die Kinästhese – all das wird demnach an bestimmten Arealen vor allem des Parietalhirns erzeugt und in den vom Gehirn konstruierten, virtuellen Raum hineinprojiziert. Die grundlegende Spaltung zwischen der sinnlich wahrgenommenen Welt und dem naturwissenschaftlich konzipierten Universum kehrt somit wieder in der Spaltung zwischen dem subjektiven Leib und dem physiologischen Körper, so als ob diese zwei unterschiedlichen Welten angehörten – der eine der vom Gehirn konstruierten »Innenwelt« des Bewusstseins, der andere der objektiv-physikalischen Welt. Die oben genannten Dissoziationen von leibräumlicher und körperräumlicher Erfahrung sollen unsere lebensweltliche Intuition, im verletzten Fuß auch den Schmerz zu empfinden, als neuronal erzeugte Illusion erweisen. Um diese gesamte Konzeption noch einmal zusammenfassen und zugleich die zentrale lebensweltliche Bedeutung des Leiberlebens zu verdeutlichen, zitiere ich aus einem Buch Gerhard Roths mit dem bezeichnenden Titel »Aus Sicht des Gehirns«: »Die Feststellung, dass die von mir erlebte Welt des Ich, meines Körpers und des Raumes um mich herum ein Konstrukt des Gehirns ist, führt zu der vieldiskutierten Frage: Wie kommt die Welt wieder nach draußen? Die Antwort hierauf lautet: Sie kommt nicht nach draußen, sie verlässt das Gehirn gar nicht. Das Arbeitszimmer, in dem ich mich gerade befinde, der Schreibtisch und die Kaffeetasse vor mir werden ja nur als ›draußen‹ in Bezug auf meinen Körper und mein Ich erlebt. Diese beiden sind aber ebenfalls Konstrukte, nur ist es so, dass mit der Konstruktion meines Körpers auch der zwingende Eindruck erzeugt wird, dieser Körper sei von der Welt umgeben und stehe in deren Mittelpunkt. Und schließlich wird […] ein Ich er-
so nimmt die Versuchsperson die Gummihand nach einiger Zeit als eigene Hand mit Berührungsempfindungen wahr (Matthew Botwinick/Jonathan Cohen: »Rubber hands ›feel‹ touch that eyes see«, in: Nature 391, 1998, S. 756). Metzinger und Blanke haben dieses Prinzip auf eine Ganzkörper-Illusion ausgeweitet: Wird bei einer Versuchsperson mittels Videobrille die Wahrnehmung eines Scheinkörpers erzeugt, der gleichzeitig mit ihrem eigenen Körper am Rücken gestreichelt wird, so kommt es zu einer Verlagerung der Selbstwahrnehmung in den Scheinkörper (vgl. Olaf Blanke/Thomas Metzinger: »Full-body illusions and minimal phenomenal selfhood«, in: Trends in Cognitive Sciences 13, 2008, S. 7–13).
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zeugt, das das Gefühl hat, in diesem Körper zu stecken, und dadurch wird es erlebnismäßig zum Zentrum der Welt.« 10
Der subjektive Leib stellt demnach ein ganz besonderes Konstrukt des Gehirns dar, das uns nämlich die Illusion vermittelt, tatsächlich in der Welt zu leben und mit ihr in Beziehung zu stehen. Der »Kosmos im Kopf«, also die behauptete Virtualität der erlebten Welt ebenso wie des Ich, beruht wesentlich auf der Annahme, auch das Leiberleben sei nur virtueller Natur, oder mit anderen Worten: das Subjekt sei nicht verkörpert, nicht im Leib zuhause, sondern es entspringe allein dem Gehirn, wie Athene dem Haupt des Zeus. Das Programm der Naturalisierung lässt sich daher nur konsequent durchführen, wenn es gelingt, diesen subjektiven Leib als Illusion oder Projektion zu erweisen und den physikalisch definierten Körper an seine Stelle zu setzen. Soll die Wahrnehmung mehr als eine virtuelle Welt vermitteln, und soll die Lebenswelt gegenüber dem neurowissenschaftlichen Dominanzanspruch wieder in ihr Recht gesetzt werden, so muss vor allem die behauptete Virtualität des Leiberlebens widerlegt werden. Dazu werde ich im Folgenden eine Argumentation entwickeln, die auf der impliziten Intersubjektivität der Wahrnehmung beruht. Wie sich zeigen wird, vermag sie die Erfahrung des leiblichen In-der-Welt-Seins zu beglaubigen und trägt so dazu bei, die Vorstellung einer monadischen Innenwelt des Subjekts im Gehirn zu überwinden. 2.
Leibliches In-der-Welt-Sein: Die Koextension von Leib und Körper
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die Tatsache, dass wir den subjektiven Leib und den organischen Körper normalerweise durchaus als koextensiv erfahren: Dort, wo wir beim Atmen ein Weit- und Engwerden spüren, hebt und senkt sich auch der sichtbare Brustkorb. Der empfundene Schmerz sitzt dort, wo der Na10
Gerhard Roth: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt 2003, S. 48.
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gel auch den physischen Fuß gestochen hat. Und zeigt der Patient dem Arzt seinen schmerzenden Fuß, so wird dieser auch dort nach der Ursache suchen. Wäre die subjektive Leiberfahrung nur eine Illusion, könnte er die Aussage des Patienten als bedeutungslos ignorieren. Es gibt also eine räumliche Übereinstimmung oder Syntopie von Leiblichem und Körperlichem, auf die bereits Husserl hingewiesen hat: In der »Kompräsenz« des in der subjektiven und in der objektiven Einstellung Gegebenen konstituiere sich der Leib als »physisch-aesthesiologische Einheit.« 11 Das Phänomen der Phantomschmerzen zeigt uns zwar, dass der Organismus im Ausnahmefall auch ohne das betreffende Glied eine entsprechende Schmerzempfindung erzeugen kann, macht aber den Normalfall nicht weniger erstaunlich: Wie ist es eigentlich möglich, dass wir den Schmerz tatsächlich da empfinden, wo sich auch der dazu passende verletzte Körperteil befindet – und nicht z. B. im Gehirn? Der naheliegende Begriff der »Projektion« von Leibempfindungen in den Raum des Körpers führt nicht weiter, denn in einer virtuellen Welt käme dieser objektive Körperraum gar nicht vor. Eine Projektion »nach außen« kann es nicht geben, wenn diese Außenwelt doch nach der Voraussetzung nur eine vom Gehirn konstruierte Innenwelt sein soll – es gäbe gar kein »wohin« der Projektion. Die früher noch üblichen Projektionskonzepte sind daher in den kognitiven Neurowissenschaften weitgehend zugunsten eines einheitlichen phänomenalen, gleichwohl aber virtuellen Raums aufgegeben worden, eines »Phenospace« 12. Der empfundene Schmerz in meinem Fuß ist demzufolge ebenso ein Hirnkonstrukt wie der gesehene Fuß und mit ihm die gesamte Umgebung, die ich wahrnehme. Sobald wir nun aber in eine intersubjektive Situation eintreten 11
Edmund Husserl: Husserliana, Bd. 4: Ideen zur einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. v. Marly Biemel, Den Haag 1952, S. 161; vgl. zur Koextension von Leib und Körper auch Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie (Leib Raum Person), Stuttgart 2000, S. 135 ff. 12 Metzinger: Subjekt Selbstmodell, S. 243.
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wie der erwähnte Patient beim Arztbesuch, wird rasch deutlich, dass subjektives Erleben und objektive Situation keineswegs zwei strikt voneinander getrennten Welten angehören. Die »Syntopie« oder das Zusammenfallen des Ortes von Schmerz und Verletzung betrifft nämlich jetzt den von Arzt und Patient gemeinsam wahrgenommenen Körper: Wo der Patient den Schmerz empfindet und wohin er deutet, eben dort sucht und findet der Arzt auch dessen Ursache. Beide sehen den gleichen Fuß, der schmerzt und verletzt ist. Der Verweis auf den jeweiligen »Phenospace« von Arzt und Patient hilft nun nicht mehr weiter – wenn die Rede von einer Realität des Körpers überhaupt irgendeinen Sinn haben soll, dann in der intersubjektiven Situation. Denn hier kommen die subjektiven Räumlichkeiten beider Personen in einer Weise zur Deckung, die ihre bloße Subjektivität aufhebt. Der von beiden Personen übereinstimmend gemeinte Körper kann kein subjektives Scheingebilde mehr sein. Er befindet sich im gemeinsamen, intersubjektiven und insofern objektiven Raum. Ich will diesen Punkt der Argumentation noch weiter verdeutlichen: Nach der neurokonstruktivistischen Voraussetzung produziert jedes Gehirn nur seinen eigenen virtuellen Raum; es kann somit keinen »gemeinsamen Phenospace« von Arzt und Patient geben. Daraus folgt aber: Wenn sich Wahrnehmung restlos als ein physikalischer Prozess beschreiben und erklären ließe, der sich jeweils zwischen einem Gegenstand und einem Gehirn abspielt, dann könnten zwei Menschen gar nicht gemeinsam ein- und denselben Gegenstand betrachten. Die zwei Prozesse liefen, vom betrachteten Objekt ausgehend, in verschiedene Richtungen und streng getrennt voneinander ab, und die beiden Personen blieben in ihre jeweilige Welt eingeschlossen. Sie könnten zwar versuchen, sich über ihre Innenwelten zu verständigen, hätten dafür aber keine gemeinsamen Referenzobjekte mehr. Jedes Zeigen-auf-etwas verbliebe nur im eigenen Illusionsraum, und daher gäbe es auch für die sprachlichen Indexwörter (»dieses«, »hier«, »ich«) keine gemeinsamen Richtungen und Ankerpunkte. Damit aber entfiele auch die Grundlage sprachlicher Verständigung. Die neurokonstruktivistische Illusionsthese führt also in letzter Konsequenz zu einem »Neuro-Solipsismus«. 103 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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Doch schon der einfache Vorgang, dass der Arzt z. B. ein Rezept für ein Schmerzmittel schreibt und das Papier dem Patienten übergibt, beruht darauf, dass beide denselben Gegenstand sehen, ihn als solchen intendieren, und nicht nur mit ihren internen Konstrukten oder mentalen Bildern umgehen. Beide haben Anteil am intersubjektiv konstituierten und insofern objektiven Raum gemeinsamer Gegenständlichkeit. Ihre subjektive Sicht ist also zwar eine je individuelle und perspektivische Sicht, jedoch nicht etwa virtuell oder subjektiv in dem Sinne, als wäre das Gesehene »nur im Subjekt«. Sehend befinden wir uns immer schon in einem gemeinsamen Raum mit anderen Sehenden (seien sie nun anwesend oder abwesend), deren Perspektiven wir als gleichermaßen gültig voraussetzen. Es ist ihr Sehen (Hören, Tasten …), das unsere eigene Wahrnehmung beglaubigt. Die Intentionalität der Wahrnehmung hebt somit die Gebundenheit an eine rein subjektive Perspektive auf; sie enthält eine implizite Intersubjektivität. 13 Arzt und Patient nehmen also den gleichen, objektiven Körper wahr. Nun fällt aber die subjektive Stelle des Schmerzes mit dem objektiven, zeigbaren Ort des betreffenden Körperteils zusammen. Der subjektiv-leibliche und der objektive Raum kommen also tatsächlich zur Deckung, und wir müssen die Frage wiederholen: Wie ist es möglich, dass der Patient den Schmerz gerade dort empfindet und nicht im Gehirn? Schon die Richtung dieser Frage zeigt freilich, dass wir in cartesianischer Tradition noch immer gewohnt sind, Subjektivität kategorial vom lebendigen Organismus zu trennen. Evolutionär 13
Nach Husserl bezeugt gerade die horizonthafte Gegebenheit der Objekte, dass sie auch für andere zugänglich sind: Der Erfahrungsgegenstand, etwa ein Tisch, erschöpft sich nicht in den mir gegebenen Aspekten, sondern verfügt über einen Horizont gleichzeitiger Aspekte (etwa die Rückseite des Tisches), die mir nicht zugänglich sind, die aber prinzipiell von anderen wahrgenommen werden können. Aufgrund seiner Aspektivität existiert also der Gegenstand nicht nur für mich allein, sondern verweist immer zugleich auf andere (Edmund Husserl: Husserliana, Bd. 6: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hrsg. v. Walter Biemel, Den Haag 1962, S. 468.) Somit ist auch mein schmerzender Fuß ein implizit immer schon von anderen »mitgesehener« Fuß.
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verhält es sich gerade umgekehrt: Ursprünglich ist der ganze Körper gewissermaßen ein Sinnes- und Fühlorgan. Gerade an seinen Grenzflächen mit der Umgebung ist der Organismus reizbar, sensibel und responsiv. Die elementare Sensibilität beginnt an der Peripherie des Körpers. Die Ausbildung eines nervösen Zentralorgans hebt diese periphere Sensibilität nicht auf, sondern integriert sie. Dass das leibliche Bewusstsein dennoch mit dem Organismus koextensiv bleibt, zeigt, dass es von Anfang an ein verkörpertes Bewusstsein ist. Es stellt das »Integral« über dem lebendigen Organismus insgesamt dar, nicht ein im Gehirn produziertes Phantom oder Modell. 14 So gesehen ist die Koextension von subjektivem Leib und organischem Körper nicht mehr verwunderlich. Sie ist aber auch funktionell sinnvoll: Das Bewusstsein ist dort, wo die entscheidenden Interaktionen mit der Umwelt stattfinden – in der Peripherie, nicht im Gehirn. Schließlich ist der Körper der eigentliche »Spieler im Feld«; daher ist es sinnvoll, dass seine Grenzen, Stellungen und Bewegungen in der Umwelt leibräumlich erlebt und nicht nur kognitiv registriert werden. Theoretisch wäre es zwar auch denkbar, dass Schmerzen uns ebenso ortlos zu Bewusstsein kämen wie Gedanken oder Erinnerungen. Doch ohne die Koinzi14
Der Begriff des Modells oder auch des »Selbstmodells« impliziert, dass dem subjektiven Erleben nur ein abgeleiteter oder sekundärer Status zukomme: Die materielle Substanz des Körpers ist die eigentliche Realität, das subjektive Leiberleben nur deren mehr oder minder zutreffende Modellierung oder Repräsentation. Ohne hier in eine umfassende Kritik der Selbstmodell-Theorie Metzingers (Metzinger: Subjekt Selbstmodell) eintreten zu wollen, sei doch soviel gesagt, dass ein Modell nur für jemanden ein Modell ist, also eine andere Wirklichkeit repräsentiert. Soll das personale Subjekt aber der Voraussetzung nach selbst nur ein Modell (bzw. ein »Selbstmodell«) sein, so bleibt nur übrig, dem neuronalen oder organismischen System einen Quasi-Subjekt-Status zuzuschreiben: Das Gehirn erschafft sich mit dem subjektiven Leib ein Modell des Organismus. Doch weder Gehirne noch ihre Subzentren sind Subjekte, aus deren Sicht das Modell als solches fungieren könnte; und fasst man Organismen als maschinenanaloge Biosysteme ohne Selbstsein auf, dann gibt es für sie Modelle ebenso wenig wie für einen mit Zielsuchsystem ausgestatteten Torpedo. Der Begriff des Modells beruht also auf dem, was durch ihn erklärt werden soll, nämlich auf Subjektivität. Vgl. dazu ausführlicher Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption (Gehirn), Stuttgart 2008, S. 59 ff.
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denz der beiden Räume hätten wir unseren Körper nur als ein äußerlich zu hantierendes Werkzeug und wären nicht in ihm »inkarniert«. Nur weil das Bewusstsein in der schmerzenden Hand ist, zieht man sie unwillkürlich vor der Nadel zurück. 15 Nur weil die Empfindung des Töpfers in seiner tastenden Hand sitzt, und er dort den Widerstand und die Struktur des Tones spürt, kann er ihn auch geschickt formen. Eine bloße »zentrale Verrechnung« im Gehirn könnte niemals leisten, was die unmittelbare Präsenz des Subjekts in seiner Hand ermöglicht, nämlich die Verknüpfung von Leib, Wahrnehmung, Bewegung und Objekt in einem sensomotorischen Aktionsraum: »Mein Leib ist da, wo er etwas zu tun hat.« 16 Wenn ich also nach etwas taste, so bewege und spüre ich keine virtuelle, sondern meine wirkliche Hand, die ihrerseits einen wirklichen Gegenstand berührt. Das wird dadurch möglich, dass der subjektive leibliche Raum in den objektiven Raum des Organismus in seiner Umwelt eingebettet ist. Mit anderen Worten: Der Leib ist die Weise, wie wir uns als Organismen in Beziehung zur Umwelt erfahren. Wir sind leibhaftig in der Welt – und nicht Wesen, die nur »das Gefühl haben, in ihrem Körper zu stecken«, wie Roth meint. Freilich ist die Ausdehnung des subjektiven Leibs flexibel – nämlich entsprechend den jeweiligen funktionellen Erfordernissen. Sie stimmt keineswegs immer mit den Grenzen des Körpers überein. So können auch Instrumente in das subjektive Körperschema integriert werden: »Der Stock des Blinden«, so schreibt 15
Dies hat selbst Descartes klar gesehen: Die Reizung der Schmerzfasern im Fuß lasse uns den Schmerz zwar nur so empfinden, »als ob« er im Fuß wäre, was aber dennoch sinnvoll sei: »Zwar hätte Gott die Natur des Menschen auch so einrichten können, dass dieselbe Bewegung im Gehirn dem Denken irgendetwas anderes darstellte, etwa sich selbst, sofern sie sich im Gehirn oder im Fuß oder an einer der dazwischenliegenden Stellen befindet […]; aber nichts anderes hätte zur Erhaltung des Körpers gleich gut beigetragen« (Descartes: Meditationes, S. 157 ff. (Kap. VI, § 23), Herv. v. Verf.). Nur zieht Descartes daraus nicht den notwendigen Schluss, das Subjekt der Schmerzen als (leib-)räumlich zu denken. 16 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (Wahrnehmung), Berlin 1965, S. 291.
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Merleau-Ponty, »ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst nicht mehr wahrgenommen, sein Ende ist zu einer Sinneszone geworden.« 17 Ebenso spürt der geübte Autofahrer die Qualität des Straßenbelags unter den Reifen seines Wagens. Ein Amputierter vermag durch allmähliche Gewöhnung seine Prothese zu »inkorporieren«, so dass sie für ihn buchstäblich zu einem neuen Leibglied wird. Statt nur zentrales Konstrukt zu sein, modifiziert sich also der subjektive Leibraum in Abhängigkeit von der jeweiligen Zone, in der die tatsächliche Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfindet. Dies ist wiederum funktionell sinnvoll: Der physische Kontakt mit dem eigentlichen Widerstand der Umgebung muss in das subjektive Erleben eingehen, damit ein adäquater Umgang mit Objekten und Werkzeugen möglich wird. Die angeblichen »Illusionen«, die dabei entstehen, sind in Wahrheit höchst sinnvolle Verschiebungen unseres Leibbewusstseins im Kontakt mit der Umwelt. Wiederum folgt: Der objektive Raum des physischen Organismus und der subjektive Raum des leiblichen Erlebens sind ineinander verschränkt und modifizieren sich ständig wechselseitig. 18 Eine Einschränkung freilich gilt: Phänomene wie die Phantomglieder oder andere Leib-Körper-Dissoziationen zeigen, dass die Diskrepanz zwischen dem objektiv-körperlichen und dem subjektiv-leiblichen Raum ausnahmsweise erhebliche bzw. dysfunktionale Ausmaße annehmen kann. 19 Solche Ausnahmen sprechen aber ebenso wenig wie die Verschiebungsphänomene beim Instrumentengebrauch gegen die grundsätzliche Syntopie, also gegen die prinzipiell koextensive Räumlichkeit von Leiblichem und 17
Merleau-Ponty: Wahrnehmung, S. 173. Dies gilt z. B. auch für physiologische Veränderungen, wie sie beim Autogenen Training auftreten: Die autosuggestiv hervorgerufene Wärmeempfindung in einem Leibglied geht mit einer messbar erhöhten Durchblutung des entsprechenden Körperteils einher. Ähnlich sind die meisten der in der psychosomatischen Medizin thematisierten Phänomene in dieser wechselseitigen Verschränkung von Leiblichkeit und Körperlichkeit begründet. 19 Hierbei spielt offenbar eine Reorganisation des somatosensorischen Kortex nach Ausfall des peripheren Signalinputs vom amputierten Glied eine zentrale Rolle; vgl. Ramachandran/Blakeslee: Rätselhafte Phänomene, S. 57 ff. 18
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Organisch-Körperlichem – im Gegenteil, sie bestätigen sie sogar. Wären nämlich Leib und Körper nicht normalerweise koextensiv, so wäre für den Amputierten sein Phantomglied nicht so irritierend; denn es gäbe dann auch keine mögliche Diskrepanz beider Räumlichkeiten. 20 Freilich sind die Formen und Grenzen des gespürten Leibes auch im Normalfall unscharf und fließend; schon deshalb können sie nicht mit den Körperformen exakt übereinstimmen. Die prinzipielle Syntopie von Leib und Körper genügt jedoch, um die Illusionsthese zu widerlegen. Ebenso wenig wie das Vorkommen von optischen Täuschungen oder Doppelbildern unsere visuellen Wahrnehmungen sämtlich als Illusionen erweist, lassen Phantomglieder oder außerkörperliche Erfahrungen den Schluss auf eine generelle Virtualität unseres Leiberlebens zu. 3.
Der Ort des Schmerzes
Fragen wir nun nach diesen Überlegungen noch einmal: Wo ist der Schmerz, wenn mir der Fuß wehtut? – Nach gängiger neurowissenschaftlicher Überzeugung dort, wo er angeblich erzeugt wird, also im Gehirn. Selbst Searle, sonst ein Kritiker des neurobiologischen Reduktionismus, ist dieser Auffassung: »Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass unsere Schmerzen sich im physikalischen Raum innerhalb unseres Körpers befinden […] Doch wissen wir nun, dass dies falsch ist. Das Hirn bildet ein Körperbild, und Schmerzen – wie alle körperlichen Empfindungen – gehören zum Körperbild. Der Schmerz-im-Fuß ist buchstäblich im physikalischen Raum des Hirns.« 21 – Doch das Gehirn empfindet weder Schmerzen noch enthält es sie. Es produziert auch kein »Körperbild«, denn der erlebte Leib ist kein »Bild« von einem 20
So kann ein Armamputierter seinen Stumpf auf eine Wand zubewegen und dabei zu seiner Bestürzung feststellen, wie das Phantom mühelos die Wand durchdringt und nun mit ihr »denselben« Raum einnimmt (vgl. David Katz: Zur Psychologie des Amputierten und seiner Prothese, Leipzig 1921). Doch keiner der beiden erlebten Räume ist an sich illusionär – sie sind vielmehr koextensive, sich überlagernde Modalitäten des einheitlichen Erfahrungsraums. 21 John R. Searle: Die Wiederentdeckung des Geistes, München 1993, S. 81.
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Körper, sondern es ist der Körper selbst als empfundener. Alles was sich im Gehirn findet, wenn jemand Schmerz empfindet, sind bestimmte neuronale Aktivierungen (besonders im somatosensorischen Kortex und im Gyrus cinguli), die zwar notwendige Bedingungen des Schmerzerlebens darstellen, aber sicher keine Schmerzen sind. Der Schmerz-im-Fuß ist somit weder im physikalischen Raum des Fußes noch im physikalischen Raum des Gehirns, denn Schmerzen sind nun einmal weder anatomische Dinge wie Sehnen oder Knochen, noch physiologische Prozesse wie Ladungsverschiebungen an neuronalen Zellmembranen. Wo ist der Schmerz dann? Er ist im »Fuß-als-Teil-des-lebendigen-Körpers«, denn dieser einheitliche lebendige Körper bringt – nicht zuletzt vermittels des Gehirns – auch eine leibliche, räumlich ausgedehnte Subjektivität hervor. Dass ich sinnvoll aussagen kann: »Ich habe Schmerzen im Fuß«, und denselben Fuß auch meinem Arzt zeigen kann, setzt voraus, dass der subjektive Raum meines Schmerzes und der objektive Raum meines Fußes nicht zwei getrennten Welten angehören, sondern syntopisch zur Deckung kommen. Das ist für ein physikalistisch geprägtes Denken schwer akzeptabel – wird hier nicht das »Gespenst in der Maschine« 22 wieder zum Leben erweckt? Soll der Seele insgeheim wieder Einlass in die physikalisch gereinigte Welt verschafft werden? – Tatsächlich war es ein selbstverständlicher Bestandteil aristotelischer und vorneuzeitlicher Überzeugungen, dass die Seele unteilbar und dennoch mit dem organischen Körper koextensiv sei. 23 Noch Kant schreibt in seiner vorkritischen Periode: 22
So die bekannte Formulierung von G. Ryle in seiner Kritik des Leib-SeeleDualismus (Gilbert Ryle: The Concept of Mind, London 1949). 23 Vgl. Aristoteles: De Anima 411 b 24 (»in jedem der Teile sind alle Teile der Seele vorhanden«, zitiert nach: Aristoteles: Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst, übers. v. Olof Gigon, München 1950); später dann Meister Eckhart: »Die Seele ist ganz und ungeteilt vollständig im Fuße und vollständig im Auge und in jedem Gliede« (Meister Eckhart: Die deutschen und die lateinischen Werke, Bd. 1: Meister Eckharts Predigten, hrsg. v. Josef Quint, Stuttgart 1958, S. 161 ff.) oder Thomas von Aquin: »Anima hominis est tota in toto corpore et tota in qualibet parte ipsius« (Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Milano 1988, I q 93 a 3).
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»Ich würde mich also an der gemeinen Erfahrung halten und vorläufig sagen: wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin ebenso unmittelbar in der Fingerspitze wie in dem Kopfe. Ich fühle den schmerzhaften Eindruck nicht an einer Gehirnnerve, wenn mich ein Leichdorn peinigt, sondern am Ende meiner Zehen. Keine Erfahrung lehrt mich, […] mein unteilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen im Gehirn zu versperren, um von da aus den Hebezug meiner Körpermaschine in Bewegung zu setzen, oder dadurch selbst getroffen zu werden […] Meine Seele ist ganz im ganzen Körper und in jedem seiner Teile.« 24
Erklärt man nun die subjektive Erfahrung leiblicher Räumlichkeit nicht zum Schein, sondern setzt sie syntopisch in Bezug zum intersubjektiven und damit objektiven Raum, so knüpft dies in gewissem Sinn tatsächlich an die Lehren von einer Koextensivität von »Seele« und »Körper« an, allerdings mit einer ganz anderen, nicht-dualistischen Begrifflichkeit. An die Stelle der außerweltlichen cartesischen Seele oder res cogitans tritt der subjektive, räumlich ausgedehnte Leib. Und an die Stelle des physikalistisch als bloße res extensa verstandenen Körpers tritt der lebendige Organismus: Er stellt ein einheitliches Funktionsganzes dar, das unteilbar und gleichwohl im physikalischen Raum ausgedehnt ist – in Parallele zum subjektiven Leib und dessen unteilbarer Ausdehnung. 25 Ein adäquater Begriff des Lebendigen muss daher den organismisch-körperlichen ebenso wie den subjektiv-leiblichen As24
So Kant in den »Träumen eines Geistersehers« von 1794 (S. 324 f.). Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: Immanuel Kant: Werke, Bd. 2, hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1905, S. 315–374, hier S. 324 f. 25 Die von Descartes behauptete beliebige Teilbarkeit des organischen Körpers ist also ebenso wenig aufrechtzuerhalten wie die Unausgedehntheit des Subjekterlebens (vgl. Descartes: Meditationes, S. 151 ff. (Kap. VI, § 17, 19). Auch die leibliche Subjektivität ist unteilbar ausgedehnt, insofern ihr alle räumlich verteilten Leibempfindungen gleichermaßen zugehören und in der einheitlichen »Meinhaftigkeit« des Leibes vereinigt sind. Man kann dies beim eigenleiblichen Spüren mit geschlossenen Augen leicht nachprüfen. Räumlich ist auch die am ganzen Leib empfundene Frische oder Müdigkeit, das Missbefinden oder das Krankheitsgefühl (vgl. dazu Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1995, S. 117 ff.; sowie Fuchs: Leib Raum Person, S. 97 ff.).
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pekt umfassen. Beide hängen nicht nur äußerlich im Gehirn miteinander zusammen; sondern das Lebewesen als Ganzes erscheint einmal als lebendiger, empfindender und zugleich expressiver Leib 26, das andere Mal als lebendiger Organismus. Dass dieser lebendige Organismus zum Träger einer gleichfalls räumlich ausgedehnten Subjektivität werden kann, fügt der rein physikalisch beschreibbaren Welt keine neue Entität, keine Seelensubstanz hinzu, widerspricht also auch keinen physikalischen Gesetzen. Allerdings bedeutet es für uns selbst als lebendige Wesen eine fundamentale Veränderung: Wir sind keine im Gehirn eingeschlossene Monaden mehr, denen ein Bild der Welt vorgespiegelt wird, sondern wir bewohnen unseren Leib und durch ihn die Welt. Die Phänomenologie kann damit unsere primäre Erfahrung wieder in ihr Recht setzen, als inkarnierte Wesen in der Welt zu sein. 4.
Resümee: Lebenswelt und Neurowissenschaften
Der Leib ist das Zentrum und die Grundlage der Lebenswelt. Durch seine ausgedehnte Räumlichkeit, Beweglichkeit und Geschicklichkeit sind wir in die Welt eingebettet und in ihr zuhause. Durch seine Erscheinung, seine Bewegungen und seinen Ausdruck werden wir aber auch als Personen für andere wahrnehmbar und verständlich. Es ist die von Husserl so genannte personalistische oder lebensweltliche Einstellung, in der wir einander als leibliche Wesen, als verkörperte Subjekte erfahren, verstehen und miteinander kommunizieren. In der Lebenswelt begegnen wir einander nicht wie Körpervehikel, in deren Gehirnen wir die Gedanken und Gefühle des anderen lokalisieren, sondern als Personen, die ihren gesamten Leib bewohnen, in ihm erscheinen und sich ausdrücken. Schon der Dualismus bei Descartes, aber auch der neurobio26
In der Wahrnehmung eines schmerzverzerrten Gesichts wird der Schmerz auch der Perspektive der 2. Person zugänglich, erweist sich also auch in dieser Hinsicht als ein Phänomen, das nicht einer virtuellen Innenwelt angehört, sondern dem lebendigen und sichtbaren Leib als Ganzem.
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logische Konstruktivismus beruhen nun auf einer doppelten »Entleiblichung«. Zum einen nämlich wird der lebendige Leib objektiviert zu einem bloßen Körperding; zum anderen wird das leibliche Subjekt zu einem Bewusstseins-Ich hypostasiert und in eine mentale Innenwelt eingesperrt. Der Körper lässt sich dann aus der Beobachterperspektive oder 3. Person-Perspektive erforschen; dem Bewusstseinsubjekt bleibt nur noch die zwar unbestreitbare, aber doch unzugängliche 1. Person-Perspektive. Was damit wegfällt, ist zum einen die lebensweltliche oder Teilnehmer-Perspektive, die Perspektive der 2. Person; zum anderen das Prinzip des Lebens, das dem Organismus als Ganzem zukäme. Der neurobiologische Reduktionismus ergibt sich dann aus einem Kurzschluss zwischen 1. und 3. Person-Perspektive, nämlich zwischen dem abstrahierten Bewusstsein und dem objektivierten Körper bzw. dem Gehirn als seinem pars pro toto. Doch es ist nicht das Gehirn, das fühlt, denkt, wahrnimmt oder sich bewegt, sondern nur das Lebewesen, der lebendige Organismus als ganzer. Wie sich zeigt, ist die Leiblichkeit die Schlüsselstelle und zugleich die Achillesferse des neurobiologischen Reduktionismus. Um die physikalische Welt von allem Erlebten und Lebendigen zu reinigen, muss der subjektive Leib zum internen Konstrukt des Gehirns erklärt werden; seine räumliche Ausgedehntheit darf nur eine Illusion sein. Demgegenüber habe ich zu zeigen versucht, dass die Leib und Körper eine »physisch-ästhesiologische Einheit« darstellen, wie Husserl es ausdrückt; dass also der subjektiv erlebte Leib und der intersubjektiv wahrgenommene, physische Körper syntopisch zur Deckung kommen. Dieser Körper ist freilich nicht mehr der teilbare Maschinenkörper der mechanistischen Physiologie und Medizin: Der Einheit des subjektiven Leibes entspricht vielmehr die unteilbare Einheit des lebendigen Organismus. Eine Neubegründung des Lebensbegriffs auf der Basis der leiblichen Selbsterfahrung ebenso wie einer systemischen Biologie ist insofern die zentrale Voraussetzung dafür, die naturalistische Aufspaltung der Person in Physisches und Mentales zu überwinden. 27 27
Dazu habe ich in meinem Buch (Fuchs: Gehirn, bes. Kap. 3.) einen Ansatz entwickelt.
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Die Koextension von Leib und Körper
Das Subjekt ist ausgedehnt über den leiblichen Raum, und dies nicht in Form eines Phantomgebildes, eines Hirnkonstrukts, sondern als die in einen lebendigen Körper eingebettete und mit ihm koextensive verkörperte Subjektivität. Die somatosensorischen und motorischen Strukturen im Gehirn sind freilich notwendige Bedingungen dieses Subjekterlebens. Doch bedeutet dies nicht, dass das Leibsubjekt im Gehirn zu lokalisieren wäre wie Descartes’ Seele in der Zirbeldrüse. Wir gehören der Welt an, mit Haut und Haaren – wir sind leibliche, lebendige und damit »organischere« Wesen als es der neurowissenschaftliche Zerebrozentrismus suggeriert. Die Neurobiologie unterschlägt den Primat der lebensweltlichen oder Teilnehmer-Perspektive, in der alleine sich Lebendiges und Leibliches wahrnehmen lässt. Stattdessen vertritt sie letztlich einen metaphysischen Realismus, der das »Gehirn an sich« erkennen zu können glaubt, und der Lebenswelten als bloße Konstrukte betrachtet. Die Verfeinerungen neurobiologischer Messverfahren, so schreibt etwa Singer, »[…] machen oft als psychisch bezeichnete Phänomene zu objektivierbaren Verhaltensleistungen […] Darunter fallen Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fähigkeit, Emotionen zu haben. All diese Verhaltensmanifestationen lassen sich operationalisieren, aus der Dritten-Person-Perspektive heraus objektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen.« 28 Wie man aus der 3.-Person-Perspektive (d. h. ohne mit der betreffenden Person zu sprechen) Wahrnehmungen oder Emotionen feststellt, bleibt freilich Singers Geheimnis. Die Teilnehmerperspektive ist im Unterschied zur Beobachter-Perspektive die soziale Perspektive, in der Menschen einander als Personen wahrnehmen und miteinander kommunizieren. Das Erleben, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln von Personen ist überhaupt nur aus dieser Perspektive zu erfassen und dann unter gewissen Ein28
Wolf Singer: »Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, 2004, S. 235–255, hier S. 238.
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Thomas Fuchs
schränkungen auch mit neurowissenschaftlichen Befunden korrelierbar. Wer nicht weiß, was »Sehen« ist, und sich nicht mit anderen Sehenden darüber verständigen kann, kann auch keine Neurophysiologie der optischen Wahrnehmung treiben. Schon die Gegenstandskonstitution erfordert vom Neurowissenschaftler also das Einnehmen der Teilnehmerperpektive. »Ohne Intersubjektivität des Verstehens keine Objektivität des Wissens.« 29 In der 2.-Person-Perspektive begegnen wir einander als verkörperte Subjekte, als Lebewesen mit einem Leib, der weder in Innen- noch in Außenperspektive ein Hirnkonstrukt darstellt, sondern eine physisch-ästhesiologische Einheit. Und so wie es keinen Körper im Kopf gibt, so auch keine Hirnwelten, keinen Kosmos im Kopf. Denn der Kosmos ist nicht der ídios, sondern der koinós kósmos, die Welt, die wir mit den anderen teilen. Indem sie in ihrer Leiblichkeit für uns wirklich werden, werden wir auch für uns selbst wirklich, als leibhaftige und in ihrem Leib erscheinende Wesen. Leiblichkeit und Lebenswelt begründen einander wechselseitig. 5.
Zusammenfassung
Aus neurokonstruktivistischer Sicht erzeugt das menschliche Gehirn eine interne Simulation der Außenwelt, die als phänomenale Welt im Bewusstsein erscheint. Diese Auffassung setzt insbesondere voraus, dass der subjektiv erlebte Leib und der organische Körper zwei grundsätzlich voneinander verschiedenen Welten angehören, der mentalen und der physikalischen. Die Räumlichkeit 29
Jürgen Habermas: »Freiheit und Determinismus« (Freiheit), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, 2004, S. 871–890, hier S. 885; »Die Objektivität der Welt konstituiert sich für einen Beobachter nur zugleich mit der Intersubjektivität der möglichen Verständigung über das, was er vom innerweltlichen Geschehen kognitiv erfasst. Erst die intersubjektive Prüfung subjektiver Evidenzen ermöglicht die fortschreitende Objektivierung der Natur. Darum können die Verständigungsprozesse selbst nicht im Ganzen auf die Objektseite gebracht, also nicht vollständig als innerweltlich determiniertes Geschehen beschrieben und auf diese Weise objektivierend ›eingeholt‹ werden« (Habermas: Freiheit, S. 883.).
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Die Koextension von Leib und Körper
des erlebten Leibes muss dann zur Illusion erklärt werden, etwa durch Verweis auf Dissoziationen von Leib- und Körperräumlichkeit wie bei der Gummihand-Illusion oder beim Phantomglied. Die behauptete Virtualität des Leiberlebens lässt sich jedoch widerlegen durch die Intersubjektivität der Wahrnehmung, die die Koextensivität von Leib- und Körperräumlichkeit bestätigt. Damit erweist sich Subjektivität als ebenso verkörpert wie räumlich ausgedehnt, das heißt, als leibliches In-der-Welt-Sein.
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Ute Gahlings
Leib ohne Geschlecht? Postgender aus phänomenologischer Sicht
1.
Einführung
Ist es ein Junge oder ein Mädchen? Diese Frage wird den Eltern neutral bekleideter Säuglinge häufig gestellt. Die fehlende Sichtbarkeit des Geschlechts im Gesicht scheint Neugier, sogar Unbehagen hervorzurufen. Schon der schwangere Leib provoziert zu der Frage: Was wird es denn, ein Junge oder ein Mädchen? Und in Ländern mit kaum reguliertem Einsatz von Reproduktionstechnologien lautet die Frage noch früher: Was soll es denn bitte sein, ein Junge oder ein Mädchen? Die Menschheit lebt – daran besteht kein Zweifel – in Gendergesellschaften, was bedeutet, dass mit der Markierung von Geschlechtern Prozesse der Zuschreibung von Rollen und Eigenschaften einhergehen, sowie Erwartungsdruck, Handlungsimperative und Beziehungsmuster. Gender ist eine soziale Institution, sagt die Soziologin Judith Lorber, mit einer Geschichte, bestimmten Strukturen und sehr spezifischen Wirkungen, die dafür sorgen, dass die individuelle Identitätsbildung in Relation zu einer etablierten Geschlechtermatrix erfolgt. 1 Als Ergebnis einer Kulturalisierung ist diese Matrix wandelbar, u. a. auf juristischer Ebene. In Deutschland gibt es seit fast 100 Jahren das Frauenwahlrecht; seit mehr als 60 Jahren ist die Geschlechtergleichheit im Grundgesetz verankert, seit 1994 steht Homosexualität nicht mehr unter Strafe, seit 2002 ist Prostitution legal und seit 2013 wird bei der Geschlechtsbestimmung nach der Geburt ein drittes, intersexuelles Geschlecht anerkannt. Gleich1
Vgl. Judith Lorber: Gender-Paradoxien (Gender-Paradoxien), Opladen 2003.
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Leib ohne Geschlecht?
wohl führen wir Debatten über verpflichtende Frauenquoten, wir nehmen Berichte über den Gender Pay Gap zur Kenntnis (Frauen verdienen bei gleicher Arbeit durchschnittlich 22 % weniger als Männer), 2 wir sind mit erschreckenden Belegen zu Gewalterfahrungen von Frauen konfrontiert (laut EU-Studie ist jede dritte Frau betroffen) 3 und wir nehmen die Veränderung der Infrastruktur für den männlichen Sextourismus wahr. Trotzdem glauben wir in einer post-feministischen Gesellschaft zu leben, in der sich angeblich die Forderungen nach Geschlechter-Gerechtigkeit und anständigen Umgangsformen zwischen den Geschlechtern erledigt haben. 2.
Postgender und die Phänomenologie der Geschlechter
Mit Postgender scheint sich der wissenschaftliche GeschlechterDiskurs sogar selbst ad absurdum zu führen. Im Kontext von Forderungen nach degendering wirkt es unzeitgemäß, geradezu anstößig, die Geschlechterdifferenz überhaupt noch aufzugreifen und sich dabei auf die Erscheinungsweise von Körpern und gespürte Leiblichkeit zu beziehen. Ursprünglich wurde die Kategorie Geschlecht reflektiert, um Verwerfungen auszuräumen, die mit der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht einhergehen. Heute scheint sie sich in Beliebigkeit aufzulösen, obwohl lebensweltlich sogar Rückschritte in der Humanisierung der Geschlechterver2
Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.): »Frauenverdienste – Männerverdienste: Wie groß ist der Abstand wirklich?«, unter: www.destatis.de/DE/Publikationen/ STATmagazin/VerdiensteArbeitskosten/2013_03/PDF2013_03.pdf?_blob=pub licationFile (Stand 27. 7. 2014); vgl. auch die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 18. März 2014 (104/14) zum Gender Pay Gap 2013 bei Vollzeitbeschäftigten unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/ Presse mitteilungen/2014/03/PD14_104_621pdf.pdf?__blob=publicationFile (Stand 21. 07. 2016); zur Lage in der EU vgl. Council of the European Union (Hrsg): The gender pay gap in the Member States of the European Union: quantitative and qualitative indicators, Brüssel 2010. 3 Vgl. European Union Agency For Fundamental Rights: »Violence against Women: an EU-wide survey. Main results report.«, unter: www.fra.europa.eu/ sites/default/files/fra-2014-survey-main-results_en.pdf (Stand 26. 3. 2014).
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Ute Gahlings
hältnisse hinzunehmen sind. Fatal an dieser Entwicklung ist, dass Lebens- und Erfahrungsweisen aus dem Blick geraten, die nach wie vor oder sogar auf neue Weise mit Geschlechtlichkeit verbunden sind, aber noch nicht zureichend verstanden sind und nicht zuletzt deshalb auch Fragen im Bereich von Ethik, Politik und Lebenskunst aufwerfen. Als Phänomenologin sehe ich daher die Notwendigkeit einer Revitalisierung des Wissensfeldes Geschlecht. Die Leibphänomenologie richtet sich dabei auf bedeutsame Erfahrungen, die in Gendergesellschaften mit dem Frau- und Mannsein, mit dem Inter- und Transssexuellsein etc. gemacht werden. Da diese Erfahrungen eine hohe Komplexität aufweisen und unterschiedlichen Einflüssen unterliegen, begreife ich Geschlecht als fragiles Resultat natürlicher Ausprägung und kultureller Einwirkung. Ich gehe von einem Geschlechtsleib aus, der sich in vielfältiger Weise habitualisiert und ins leibliche Spüren bringt. Mit der Bezugnahme auf Geschlechterdifferenzen nehme ich zur Kenntnis, dass sich eine biographisch gewachsene Geschlechtsidentität – auch wenn sie sich als Folge einer »Diskurs-Blase« erweisen sollte – nicht mit einem kognitiven Geniestreich abschütteln lässt, sondern ausgesprochen eindrucksvoll unsere Haltung zur Welt, unser leibliches Erleben und unser zwischenmenschliches Verhalten prägt. So zeigt sich »Weiblichkeit« bei einem als Frau geborenen Menschen ebenso wie bei einer transvestitisch inszenierten Frau oder einem männlich-zu-weiblich-transsexuellen Menschen. Schon mit Schopenhauers erkenntnistheoretischer Unterscheidung zwischen dem Leib als Objekt unter Objekten, also dem objektiven Körper, und dem eigenen Leib als Ort subjektiven Erlebens kann ich auf die körperliche Erscheinungsweisen und die Leiberfahrungen dieser Menschen Bezug nehmen. 4 Alle drei re4
Schopenhauer verwendet ausschließlich, also auch hier in beiden Fällen den Begriff »Leib«, zielt aber mit seiner erkenntnistheoretischen Unterscheidung auf die heute in der Phänomenologie übliche Rede von Körper und Leib. Vgl. Arthur Schopenhauer: Werke in zehn Bänden, Bd. 1.1: Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1977, S. 31, 143, 172 f.
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Leib ohne Geschlecht?
präsentieren das Klischee Frau, doch ihre Körper, ihre leiblichen Erfahrungen und die Genese ihrer Geschlechtsidentitäten sind verschieden. Der eine Frau mimende Transvestit und die männlich-zu-weiblich-Transsexuelle sind nicht als Frauen aufgewachsen. Sie haben weder biographische Umbrüche wie Thelarche (Brustwachstum) oder Menarche (erste Menstruation) durchlaufen, noch waren sie den fortlaufenden Menstruationen mit ihren hygienischen Implikationen, der Fruchtbarkeit mit ihren Unwägbarkeiten oder einer Schwangerschaft ausgesetzt. Der Transvestit kann die häufig nach Geschlechterstereotypen simulierte Frauenerscheinung und das »weibliche« Gehabe wieder ablegen und bleibt auch während der aktuellen Rollenperformanz körperlich Mann, insofern Mann-Sein bedeutet, mit männlichen Geschlechtsorganen ausgestattet zu sein. Der männlich-zu-weiblichtranssexuelle Mensch favorisiert eine dauerhafte Geschlechtsumwandlung, sein »weiblicher« Körper wird aber selbst nach invasiven Manipulationen nicht menstruieren oder fruchtbar sein. Der Ausschluss dieser Erfahrungsmöglichkeiten bedeutet für die »weibliche« Leiblichkeit jedoch anderes als bei Menschen, die als Frauen geboren wurden. Gerade weil Geschlechtsidentitäten stets auf eine etablierte Geschlechtermatrix reagieren, die wiederum in hohem Maße auch Körper und körperliche Vorgänge interpretiert, sollte Geschlechtlichkeit umso gründlicher vonseiten gespürter Leiblichkeit erschlossen werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind wissenschaftlich und lebensweltlich relevant, insofern sie dazu beitragen, Erlebnisweisen, Lebensmöglichkeiten und Leidensformen zu verstehen. Menschen, die einander verstehen, können sich besser aufeinander beziehen und die gemeinsame Lebenswelt gestalten – was im Übrigen das Ziel jedes seriösen Feminismus war und ist. So ist nicht nur für die zwischenmenschliche Bezogenheit, sondern grundsätzlich für die Humanisierung der Geschlechterverhältnisse solche Erhellung subjektiven Spürens und Befindens von großer Bedeutung, um u. a. im politischen Raum wirksame Strategien zur Beseitigung von Benachteiligungen und zur Linderung von vermeidbarem Leiden entwickeln zu können. Doch nicht nur für klassische Geschlechter-Themen oder 119 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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frauenspezifische Anliegen kann eine phänomenologische Aufklärung geschlechtlicher Existenzweisen von Belang sein. Sie kann außerdem zum Verständnis der Gender-Komplexität beitragen, indem sie geschlechtlich konnotierte Leiberfahrungen in möglichst vielen Varianten und aus unterschiedlichen Perspektiven evaluiert. Werden dann auch verstärkt die Grenzen, Varianten und Überschreitungen der geschlechtlichen Differenzierungen in den Blick genommen, lassen sich Fragen klären, die heute von besonderer Tragweite sind, etwa danach, was Intersexualität oder Transsexualität für die gespürte Leiblichkeit bedeuten und wie darauf gesellschaftlich und zwischenmenschlich angemessen zu reagieren ist. Eine juristische Neuerung wie die Anerkennung eines dritten, intersexuellen Geschlechts ist keine reine Formalität, sondern verweist nun auch von Rechtswegen und mit einem Auftrag zur Integration auf Menschen, die mit völlig anderen Herausforderungen an ihr geschlechtliches Selbstverständnis konfrontiert sind als solche, die sich der üblichen Standardfolie »weiblich« oder »männlich« zuordnen lassen. Wie das Werk von Hermann Schmitz und seine Anschlussmöglichkeiten in den wissenschaftlichen Einzeldisziplinen eindrucksvoll belegen, hat die Philosophie des Leibes eine hohe ethische Relevanz. Wenn Philosophie zur Aufgabe hat, menschliches Sein und Mitsein dort zu verstehen und nachzubuchstabieren, wo sich existenzielle Betroffenheit ereignet, dann gehört Geschlechtlichkeit zweifellos zu ihren zentralen Themen. Wer im Ernst würde leugnen, dass sie mit tief greifender Erfahrung verbunden ist? Im Verlauf der Theoriegeschichte zur Geschlechterdifferenz vom biologischen Determinismus zu Postgender ist allerdings irgendwann in den 1990er Jahren der Geschlechtskörper im wissenschaftlichen Diskurs abhandengekommen, und zwar nachdem es, initiiert durch die Frauenbewegungen, in Europa und Amerika eine ebenso affirmative wie innovative Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper gegeben hatte. Die Phänomenologie, die sich zunächst überwiegend mit dem Leib im Allgemeinen jenseits möglicher Differenzierungen befasste, kam gegenläufig vom geschlechtslosen Leib zum Geschlechtsleib und hat erneut Zugangsweisen zum Geschlechtskörper erschlossen. Dabei wurde deut120 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Leib ohne Geschlecht?
lich, dass Natur und Kultur gleichermaßen in das verwickelt sind, was sich einem Subjekt in gespürter Leiblichkeit als geschlechtlich erweist. Ich möchte diesen Theorieverlauf kurz nachzeichnen, bevor ich zeige, wie Geschlechterdifferenzen phänomenologisch rekonstruiert und anerkannt werden können. 3.
Theoriegeschichte Geschlechterdifferenz: Vom Determinismus zum degendering
In Europa setzte sich in der über Arbeitsteilung fungierenden binären Geschlechterordnung im dritten bis ersten vorchristlichen Jahrtausend ein männlich-hierarchischer Herrschaftsanspruch durch. Dieser war archaisch vorgeprägt durch die »Stories« frühgriechischer Mythen über Gewalt gegen Frauen und die Erfolge der Instrumentalisierung ihrer Gebärfähigkeit: Geschichten von Göttermännern, die Menschenfrauenkörper vergewaltigen – bevorzugt Königstöchter – und damit Landraum erobern. 5 Die dann u. a. durch die griechische Philosophie und den hebräischen Monotheismus gestützte, Jahrhunderte lang maßgebende und vielerorts heute noch gültige Geschlechtertheorie war bzw. ist der biologische Determinismus. Man geht von natürlichen Unterschieden anhand körperlicher Merkmale aus und lässt daraus zwingend Geschlechterrollen folgen. Klassisches Beispiel: Weil Frauen Kinder gebären, sind sie für deren Aufzucht zuständig. Dieser Determinismus reguliert nicht nur die zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern wirkt sich zudem auf Rationalitätsformen und Institutionen sowie auf die Konstruktion, Bewertung und Wahrnehmung weiterer kategorialer Gegenüberstellungen aus, wie etwa die von Körper und Geist, Gefühl und Vernunft, Fürsorge und Gerechtigkeit etc. Dieser biologische Determinismus wurde teilweise schon in der Antike, im Spätmittelalter dann von Christine de Pizan in 5
Vgl. Klaus Theweleit: Buch der Königstöchter. Von Göttermännern und Menschenfrauen. Mythenbildung, vorhomerisch, amerikanisch. Pocahantas II, Frankfurt 2013.
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ihrem »Buch von der Stadt der Frauen« 6 gründlich hinterfragt und avancierte in den Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts zum Politikum. Die Erkenntnis, dass sex, anatomisches Geschlecht, und gender, Geschlechtsrolle, nicht qua Natur verknüpft sind, eröffnete Spielräume für gesellschaftliche Veränderungen. Der politische Schauplatz zeigt jedoch stets eine Problematik: Einerseits geht es gegen hegemoniale Realitäten um die Anerkennung der Frau als Mensch, andererseits geht es auf der Grundlage von Geschlechterdifferenzen um die Frau als Frau (etwa um das Recht auf Mutterschutz oder Stillpausen im Berufsalltag, neuerdings um das Prozedere rund um die Eizellen-Tiefkühllagerung). Mit dieser Ambivalenz konstruktiv umzugehen, ist und bleibt eine Herausforderung. In den 1970er Jahren fand die Kategorie Geschlecht Eingang in das wissenschaftliche Feld und erlebte eine bemerkenswerte akademische Kulturalisierung. Bei ihrem Bemühen um interdisziplinäre Anerkennung wurde die politisch und wissenschaftskritisch eingestellte feministische Theorie schon bald unter dem Etikett Frauenforschung verharmlost und eines Nischendaseins verwiesen. Aus der Frauenforschung wurde die Frauen- und Geschlechterforschung, dann kamen die Gender-Studies, schließlich die Queer- und Diversity-Studies, und auch die Männerforschung beanspruchte Revier. Heute gibt es in Deutschland kein feministisches Forschungszentrum mehr und der GeschlechterDiskurs hat seine Blütezeit gehabt, auch wenn der Begriff Heteronormativität 7 sich zuletzt noch einmal als wirkmächtig erwiesen hat, um die normativen Ansprüche von gender deutlicher auf die Verfahren der Institutionalisierung von Heterosexualität zu beziehen. 6
Christine de Pizan: Le Livre de la Cité des Dames, Paris 1405 (übers. v. Margarete Zimmermann: Das Buch von der Stadt der Frauen, Berlin 1986). 7 Vgl. Jutta Hartmann/Christian Klesse/Peter Wagenknecht/Bettina Fritzsche/ Kristina Hackmann (Hrsg.): Heteronormativität. Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht, Wiesbaden 2007; vgl. dazu u. a. Ute Gahlings: »Heteronormativität. Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Geschlecht«, in: Gernot Böhme/Ute Gahlings (Hrsg.): Wie lebt es sich in unserer Gesellschaft?, Bielefeld 2015, S. 149–170.
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Leib ohne Geschlecht?
Mit den Theorietypen des Postgender geht ein von mir so bezeichneter kulturalistischer Determinismus einher. Die lange tragfähige Unterscheidung zwischen sex und gender wurde nivelliert. Judith Butler steht hier für eine Denkweise, in der sich das naturalistische Paradigma umkehrt: Aus gender folgt sex, so ihr Votum. 8 Damit wird ihrer Auffassung nach die Geschlechterdifferenz sogar in ihrer biologischen Grundlage als kulturell codiert entlarvt – eine Theorie, die der Politik das feministische Wir und der Forschung den Geschlechtskörper entfremdete. Im Unterschied zu dieser Entwicklung vom biologischen Determinismus zu Postgender, in der Körper gegenüber Diskursen kaum mehr Gewicht haben, zeigt die Theoriegeschichte zum Thema Körper und Leib in der Phänomenologie eine andere Entfaltung. 4.
Theoriegeschichte Leib: Vom geschlechtslosen Leib zum Geschlechtsleib
Was die europäische Geistesgeschichte angeht, so hat Schmitz mit der zungenbrecherischen Bezeichnung »psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische« sowie »dynamistische Verfehlung« deutlich gemacht, was der Philosophie das »Andere der Vernunft« bedeutet. 9 Selten wird die darin verwickelte Misogynie, die Verachtung, Abwertung und Ausblendung der Frauen und der mit Weiblichkeit identifizierten Lebenssphären mit thematisiert. 10 So verwundert es nicht, dass auch die Wiederkehr des Körpers in den Wissenschaften und die Wiederentdeckung des Leibes in der Phänomenologie primär anhand generischer Leitfragen erfolgte, was zunächst durchaus legitim ist. Wenn man aber meint, damit alle Existenzweisen erfasst zu haben und gar noch die männliche zur menschlichen Erfahrung generalisiert, setzt man 8
Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (Unbehagen), Frankfurt 1991. 9 Vgl. dazu Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 32– 82. 10 Vgl. Jack Holland: Misogynie. Die Geschichte des Frauenhasses, Frankfurt 2007.
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sich dem Vorwurf eines defizitären Forschungsblicks aus, der zum Beispiel Geschlecht, Lebensalter und Sozialstatus betrifft. Dabei finden wir in den Anfängen der Phänomenologie mit Edith Stein schon eine Phänomenologin, die weitgehend unbeachtet blieb, aber nicht nur den Leib erforschte und damit Husserl inspirierte, sondern die Geschlechterdifferenz bereits mit allen virulenten Theoriefragen aufgriff. Sie thematisierte der Sache nach sex und gender, interdisziplinäre Zugangsweisen, das Individualismusproblem und die notwendigen Veränderungen in den Geschlechter-Verhältnissen. 11 Auch Simone de Beauvoir trug mit ihren Analysen zur geschlechtlichen Existenz zum Verständnis jener Situation bei, die ihrer Auffassung nach der Leib ist. 12 Ende der 1990er Jahre setzte dann eine zuerst kritische, später konstruktive Auseinandersetzung zwischen Phänomenologie und Geschlechtertheorie ein, die sich u. a. bei Linda Fisher als feminist phenomenology etablierte und im Postgender-Diskurs durchaus eine Stimme hat. 13 In leibphänomenologischer Perspektive kann nämlich deutlich werden, dass sowohl sex als auch gender sich leiblich ausprägen. Nicht nur die Natur, auch die Kultur ist in dem Sinne Schicksal, als sie sich in gespürter Leiblichkeit verankert. So hat beispielsweise die kulturelle Bewertung der Menstruation Einfluss darauf, was Frauen bei diesem körperlichen Vorgang erleben und wie sie von anderen darin wahrgenommen werden. Eine solche geschlechtsspezifische Situation, die von einem heteronormativen Überbau getragen wird, lässt sich nicht ohne weiteres in einer Lebensspanne »wegfühlen«, zumal sie in langer Überlieferung von 11
Vgl. Edith Stein: Edith Stein Gesamtausgabe, Bd. 13: Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen, Freiburg/Basel/Wien 2000; vgl. dazu auch Ute Gahlings: »Geschlechter-Realitäten. Edith Steins Beitrag zur Theorie der geschlechtlichen Differenzierung«, in: Internationales Edith Stein Institut Würzburg (Hrsg.): EdithStein-Jahrbuch 2004, Würzburg 2004, S. 131–156. 12 Simone de Beauvoir: Le deuxième sexe, Paris 1949 (übers. v. Eva Rechel-Mertens/Fritz Montfort: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg 1970). 13 Silvia Stoller/Helmuth Vetter (Hrsg.): Phänomenologie und Geschlechterdifferenz, Wien 1997; Linda Fisher/Lester Embree (Hrsg.): Feminist Phenomenology, Dordrecht/Boston/London 2000; Silvia Stoller/Veronica Vasterling/Linda Fisher (Hrsg.): Feministische Phänomenologie und Hermeneutik, Würzburg 2005.
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Leib ohne Geschlecht?
Zumutung, ja sogar Zwang gezeichnet ist. So reagiert die Phänomenologie auf gespürte Leiblichkeit, die durch Kulturalisierung erfolgt und macht zugleich deutlich, dass auch der Körper Einfluss auf diese Erfahrungsqualität hat. Der biographisch gewachsene Geschlechtsleib wird gerade nicht in beliebiger oder gar frei wählbarer Weise erfahren. Neben sex und gender wird damit eine weitere, wesentliche Dimension geschlechtlicher Existenz erschlossen. Bislang haben sich darauf bezogene leibphänomenologische Untersuchungen zur Geschlechterthematik häufig im Allgemeinen, d. h. im Kontext der Entwicklung und Fundierung einer Phänomenologie der Geschlechter bewegt und, wenn es um konkrete Analysen geht, überwiegend auf weibliche Leiberfahrungen gestützt. 14 Damit ist das Potenzial einer Phänomenologie der Geschlechter jedoch bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Es fehlen bislang systematische phänomenologische Evaluationen für die männlichen Leiberfahrungen und für das Spektrum der Erfahrungen von inter- und transsexuellen Menschen. Eine Aufarbeitung von geschlechtlich konnotierten Leiberfahrungen im interkulturellen Vergleich wäre ebenfalls von Gewinn, zumal interdisziplinäre Forschungen bereits gezeigt haben, wie stark historische, wirtschaftliche, politische sowie weitere inter- und intrakulturelle Kontexte bis hin den Bedingungen und Veränderungen in der natürlichen Umwelt die Intensität und Bedeutung von Leiberfahrungen beeinflussen können. In unserer Zeit wirken die Entwicklungen und Errungenschaften der wissenschaftlich-technisch-kapitalistischen Zivilisation in besonderer Weise auf die Körperwahrnehmung, die Inszenierung des Körpers durch bodysculpturing, das leibliche Befinden, die verschiedenen Leiberfahrungen etc. und damit auch auf das menschliche und geschlechterspezifische Selbstverständnis ein. Umso wichtiger scheint es, die Kategorie Geschlecht systematisch phänomenologisch zu rekonstruieren und sich Rechenschaft darüber abzulegen, dass und
14
Vgl. vor allem Ute Gahlings: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen (Weibliche Leiberfahrungen), Freiburg/München 2006.
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wie auch in Zeiten von Postgender noch sinnvoll von Geschlechterdifferenzen ausgegangen werden kann. 5.
Geschlechterdifferenzen phänomenologisch rekonstituiert: Körper, Leib, Identität
Wenn ich nun zeige, wie man Geschlechterdifferenzen phänomenologisch nachbuchstabieren kann, dann rekonstruiere ich Geschlechtlichkeit und ihre Genese aus unterschiedlichen Perspektiven. Es geht um sex, den geschlechtlichen Leib und gender. 5.1 Der geschlechtliche Körper (sex) Mit dem Geschlechtskörper, also dem, was man unter engl. sex versteht, ist der Körper in seiner äußeren Form, und zwar als ein Körperding gemeint, das sich in seiner jedermann erkennbaren, geläufigen Erscheinung mit bestimmten Körperteilen zeigt und zu ertasten ist. Nun gibt es keinen geschlechtlich neutralen oder geschlechtslosen Körper. Differenzen zeigen sich in wechselseitiger Bezogenheit, teilweise nicht einmal symmetrisch oder konstant. Mit Blick auf eine vorausgesetzte Doppelspezies sind auch seit jeher Fälle physiologischer Uneindeutigkeit bekannt, deren Häufigkeit mittlerweile gut erfasst ist. Wenn heute bei einer Geburt in Deutschland das dritte Geschlecht bestimmt wird, so geschieht das nach der hier in Anschlag gebrachten Sicht- und Tastprüfung am Körper. Weitere, durch medizinisch-technische Verfahren ermittelbare Feindifferenzierungen der Geschlechter zeigen sich zunächst oder auch gar nicht am Körper, sondern unter Umständen erst in seiner Entwicklung, wenn zum Beispiel eine phänotypisch ausgeprägte Frau aufgrund einer bestimmten Chromosomenlage in der Pubertät keine Fruchtbarkeitsfähigkeit ausbildet. Nimmt man nun die körperlichen Entwicklungen hinzu, so zeigt sich eine Vielschichtigkeit, die eine Gliederung nach Lebensaltern nahe legt: 126 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Leib ohne Geschlecht?
Dem Säugling ist sein Geschlecht im Gesicht nicht anzusehen. Eine Unterscheidung zeigt sich am nackten Körper ausschließlich in Form verschiedener Genitalien – weiblich, männlich, intersexuell – und einer unterschiedlichen Anzahl von Körperöffnungen. Der weibliche Körper hat im Vergleich zum männlichen – und je nachdem auch zum intersexuellen – eine zusätzliche Körperöffnung, die vaginale. Diese bei der Geburt ausgeprägten Differenzen haften den Geschlechtskörpern qua Natur zeitlebens an. Im zweiten Lebensjahrzehnt treten weitere dauerhaft verankerte Unterschiede in den Bereich der Sicht- und Tastbarkeit. In geschlechtertypischen Wachstumsprozessen entwickeln sich unterschiedliche Körperproportionen. Der weibliche Körper bildet mit den Brüsten sogar neue Körperteile aus, der männliche tendiert u. a. zum Bartwuchs, der intersexuelle unterliegt anderen Veränderungen. Es gibt sicht- und tastbare Verschiedenheiten der sexuellen Körperreaktionen. Diese Ausprägung der Geschlechtskörper ist also nicht mit der Geburt gegeben, sondern entfaltet sich deutlich im zweiten Lebensjahrzehnt. Weitere Differenzen sind auf das zweite bis fünfte Lebensjahrzehnt begrenzt. So kann sich der weibliche Körper maximal in drei Hinsichten von anderen Geschlechtskörpern unterscheiden: 1. durch Ausscheidung von Flüssigkeiten: Blut (Menstruationsblut, Deflorationsblut, Lochien nach der Geburt), (sexualitätsund zyklusbezogene) Sekrete und Fruchtwasser an der vaginalen Öffnung sowie Milch an den Brüsten, 2. durch Gewichtsveränderungen und erhebliche Ausdehnungen im Bauch- und Brustbereich: Gravidität und Laktation, und 3. durch Ausscheidung fester Substanzen an der vaginalen Körperöffnung: Kindskörper und Plazenta. Nach dem fünften Lebensjahrzehnt bleibt diese maximale Differenzbreite aus. Nimmt man die heute möglichen Veränderungen bei einer Geschlechtsumwandlung hinzu, die natürlich Spuren, zum Beispiel Operationsnarben hinterlassen, könnte man von fünf Geschlechtskörper-Typen sprechen: weiblich, männlich, intersexuell, männlich-zu-weiblich-transsexuell und weiblich-zumännlich-transsexuell, und zwar in der Dimension dessen, was an »nackten« Körpern zu sehen und zu tasten ist, was also an 127 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Ute Gahlings
ihnen und ihren Öffnungen in der Perspektive ihrer Dinghaftigkeit in Erscheinung tritt. Mit dem Blick des Anderen auf das Objekt »Geschlechtskörper« scheint dieses Körperschema zeit- und kulturübergreifend gültig zu sein. 5.2 Der geschlechtliche Leib bzw. geschlechtlich konnotierte Leiberfahrungen Mit der Leiblichkeit rücken Erfahrungen in den Blick, Erlebnisse eines Ich, das den Körper »bewohnt«, ihn spürt, sich von ihm betreffen lässt, in gewisser Weise auch ihm ausgeliefert ist. Es geht sowohl um allgemeine leibliche Phänomene, wie die gesamtleibliche Ergossenheit des Körperraums im leiblichen Lot, als auch um das, was sich am Leib, an einzelnen Leibesinseln und in der Responsivität verschiedener Leibesregionen aufdrängen kann. Mit dem leiblichen Lot ist ein übergeordneter Phänomenbezirk für alle Orientierungsleistungen, Positionierungen und Bewegungen des Leibes im Raum und als Raum gemeint. 15 Leibliche Lotung bedeutet Zentrierung, Balancierung und Gewichtung, hat aber mit der Körpermasse als res extensa, mit Bodenhaftung und Schwerkraft ebenso zu tun wie mit Sinneswahrnehmungen, Körpervorstellungen und dem leiblichen Befinden. Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Widerständigkeit, Einleibung, leibliche Responsivität, leibliche Biographie und zugleich sowohl individuell habitualisierte als auch situativ aktualisierte Gefühle. Das leibliche Lot wird nicht als Leibesinsel erfahren, es lässt sich nicht regional erfassen, weil es immer auf die Lotung des Körpers und des gespürten Leibes als Einheit bezogen ist. Schon im Säuglingsalter vollzieht sich durch leibliche Lotung die Bezogenheit auf andere Menschen und mit der Eroberung des Körpers zum eigenen Leib zugleich die Aneignung von Welt. Insofern sich in 15
Aspekte wie der »Nullpunkt der Orientierung« (Stein, Husserl), die Leibesinseltheorie sowie »Körper und Körperschema« (Schmitz) oder auch die »Situationsräumlichkeit und Positionsräumlichkeit« (Waldenfels) gehen in den Begriff des leiblichen Lots ein. Vgl. dazu Gahlings: Weibliche Leiberfahrungen, S. 118 ff.
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Leib ohne Geschlecht?
diesen Prozessen allmählich die Person herausbildet, steht die leibliche Lotung als elementare Leiberfahrung in Zusammenhang mit der leiblichen Integrität. Die Beziehungen zwischen dem leiblichen Lot und der sich im Werden der Person herausbildenden leiblichen Integrität, die sich schon in jungen Jahren über den Habitus (Bourdieu) realisieren, sind dadurch äußerst komplex und verweisen auf eine enge Verwobenheit zum Beispiel von Körperhaltung, Atmungsverhalten und Gefühlsdisposition. Hinsichtlich leiblicher Lotung lässt sich nun für den Geschlechtsleib geltend machen, dass die Geschlechtskörper durch ihre unterschiedliche Gestalt anderen Lotungsverfahren unterliegen. Die weiblichen Brüste und das männliche Genital erfordern als »fleischliche Massen« auf ihre Weise eine spezifische leibliche Lotung, die alle Leiberfahrungen begleitet und auf die gesamte Selbst- und Fremdwahrnehmung Einfluss hat. Das leibliche Lot verändert sich in Korrelation zu lebensgeschichtlichen Situationen und Wandlungen, zum Beispiel im weiblichen Erfahrungsbereich beim Brustwachstum, bei den zyklus-, kälte-, alters-, schwangerschafts-, laktations- oder sexualitätsbedingten Brustveränderungen, und im männlichen Erfahrungsbereich beim erigierenden, erigierten, ejakulierenden, urinierenden sowie auch alternden Penis und damit einhergehenden Veränderungen an den Hoden. Der gravide, gebärende und postpartuale weibliche Leib ist wiederum in andere Prozesse leiblicher Lotung verwickelt, um noch ein weiteres Beispiel zu geben. In allen Erfahrungen leiblicher Lotung spielen geschlechtsspezifische Leibesinseln eine mehr oder weniger tragende Rolle. 16 Für den Geschlechtsleib ist gerade im Horizont der Verschmelzung von leiblicher Lotung, leiblicher Integrität und personaler Identität darüber hinaus von Belang, wie sich zum Beispiel die Körperhaltungen, das Atmungsverhalten und die Gefühlsdispositionen in leiblicher Lotung auswirken. Insofern Menschen in Gendergesellschaften aufgrund ihrer körperlichen Geschlechtsmerkmale sozialisiert werden, lässt sich auch von geschlechtsspezifischer leiblicher Lotung in Bezug darauf sprechen, 16
Vgl. Gahlings: Weibliche Leiberfahrungen, S. 145 ff.
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Ute Gahlings
wie Frauen, Männer, Intersexuelle etc. in gruppenspezifische Gefühlslagen hineinwachsen und entsprechende Habitusformen ausbilden. Diese sind zwar nicht grundsätzlich verallgemeinerbar und unterliegen durch vielfältige kulturelle Überformung auch der Veränderbarkeit, durch Kleidungsmoden ebenso wie durch Selbstkultivierung, aber eine Verähnlichung im leiblichen Lotungsverhalten ist gerade im Hinblick auf das Ineinanderwirken von Natur und Kultur durchaus evident. So gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede beim Atmen, Sich-Halten und Sich-Bewegen, zum Beispiel auch bei Haltungsschäden und selbst bei der Ausbildung starrer Leibesinseln (etwa steifer Nacken, hochgezogene Schultern, »eingeschnürte« Brust oder »eingedrückter« Oberbauch). 17 Die vielen Varianten leiblicher Lotung stehen dabei häufig in einem engen Zusammenhang mit geschlechtsspezifischen Leibesinseln. Neben diesen eher allgemeinen Phänomenen des Geschlechtsleibes verläuft auch die Genese geschlechtlicher Leiberfahrungen analog zur Entwicklung der Geschlechtskörper unterschiedlich. Der weibliche Leib ist schon qua Faktizität seinem Subjekt anders gegeben als der männliche, inter- oder transsexuelle. Diese geschlechtsspezifischen Leiberfahrungen sind in zeitliche Muster eingebettet, unterliegen bestimmten Prozessen und treten in der Weise des Sowohl-als-auch bzw. des Entweder-Oder auf. So kann sich die weibliche Erfahrung des tropfenden, verströmenden Leibes sowohl am Genital hinsichtlich der verschiedenen Blut-Flüssigkeiten sowie der Sexualsekrete als auch am oberen Leib in Bezug auf die Muttermilch und hier noch an zwei unterschiedlichen Regionen ereignen. Es gibt zusammenhängende oder einander ausschließende Spürerfahrungen mit je eigenem Erlebnisspektrum. Für den weiblichen Leib lassen sich anhand der Topoi Er17
Die Gesundheitswissenschaften haben sich in den beiden letzten Jahrzehnten des lange vernachlässigten Zusammenhangs zwischen Geschlecht, Gesundheit und Krankheit angenommen und inzwischen umfangreiche Untersuchungen vorgelegt. Ein leibphänomenologischer Ansatz wurde dabei jedoch bisher noch kaum einbezogen. Vgl. Klaus Hurrelmann/Petra Kolip (Hrsg.): Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. Männer und Frauen im Vergleich, Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 2002.
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Leib ohne Geschlecht?
fahrungen des Flüssigen, des Festen und der Fülle insgesamt 12 Feindifferenzierungen aufgezeigen. 18 Der Geschlechtsleib bringt sich in seiner relativen Örtlichkeit ins Spüren, also an geschlechtertypischen Leibesinseln. Solches Spüren ergießt sich mitunter in ganzleibliches Empfinden. So kann sich der weibliche Leib in der Laktation an den Brüsten in Form von Schwellung, Fülle, Drang, sowie in gespürter Resonanz auch als Schmerz im Unterleib aufdrängen, vor allem kurz nach der Geburt, aber ebenso in ganzleiblich ergreifendem, weitendem Entspannen in der Einleibung mit dem Kind. In anderen Erfahrungen wird zuweilen die Räumlichkeit des Leibes nicht mehr gespürt bzw. als »absoluter Ort« (Schmitz) erfahren, zum Beispiel in extremen Schmerzzuständen beim Gebären. Dabei ist gespürte Leiblichkeit zweifellos durch individuell-biographische und sozio-kulturelle Bedingungen beeinflusst. Man denke etwa an das mögliche Entsetzen von unaufgeklärten Mädchen bei ihrer ersten Menstruation oder daran, dass Angst vor Vergewaltigung als chaotisch-mannigfaltige Atmosphäre den weiblichen Leib in bestimmten Situationen regelrecht überfallen kann. So kommt mit dem Geschlechtsleib stets auch das zur Sprache, was die feministische Theorie als gender bezeichnet. 5.3 Die Geschlechtsidentität (gender) Gender meint dann die durch kulturelle Praxen und Interaktionen an den Achsen von Körper, Leib, Biographie und Diskurs entfaltete personale Identität und leibliche Integrität. Hier zeigt sich eine komplexe Verschränkung von Individuum und Kollektiv bzw. Leib und Diskurs. Die Geschlechtsidentität bezeichnet, und damit schließe ich mich Butler an, »nicht ein substantiell Seiendes, sondern einen Schnittpunkt«. 19 Dieser Schnittpunkt aber, und hier entferne ich mich von Butler, ist nicht ein solcher
18 19
Vgl. Gahlings: Weibliche Leiberfahrungen, S. 206 ff. Butler: Unbehagen, S. 29.
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»zwischen kulturell und geschichtlich spezifischen Relationen« 20 allein, sondern auch zwischen geschlechtsspezifischer Körperlichkeit und biographisch generierter Leiberfahrungen. Die Geschlechtsidentität wird niemals allein vom Körper konstituiert, und ebenso wenig ist sie ausschließlich ein Diskurs-Phänomen. Geschlechtlichkeit ist nicht ohne körperliche Konstitution und Entwicklung, nicht ohne leibliche Biographie, Interaktionen mit Diskursen und nicht ohne Intersubjektivität zu haben, ebenso wenig lässt sie sich erschöpfend anhand der Binarität weiblich – männlich evaluieren. Geschlechtsidentität entfaltet sich in vielfältiger Wechselbezüglichkeit im Kontext von Schicksal und Freiheit, Faktizität und Entwurf. So gehört zur Geschlechtsidentität die Art und Weise, wie die Geschlechterdifferenzen im gegebenen historischen Rahmen figuriert und imaginiert werden. Kleiderordnungen, Haartracht, Hygieneanweisungen etc. dienen einer Markierung und, im Sinne Butlers, einer Performativität der Attribute des Geschlechtskörpers. Zur Geschlechtsidentität gehören ferner die Strategien zur Verarbeitung, Interpretation und Kanalisation leiblicher Erfahrungen. Diese bilden in ihrer Variationsbreite Ausgangs- und Angriffspunkte, an denen sich die Kultur im weiteren und gender im engeren Sinne einschreibt. Die Diskurswirkungen an den Achsen geschlechtlicher Leiberfahrungen sind deshalb so effektiv, weil diese von Betroffenheit begleitet und von Atmosphären umgeben sind, wie sich leicht zum Beispiel anhand der Medikalisierung und Pathologisierung körperlicher Umbruchphasen in der weiblichen Biographie zeigen lässt. 21 Neben den unterschiedlichen Wissensformen spielen auch wirtschaftliche und politische Interessen eine wichtige Rolle bei den gender-Kreationen. In der technisch-wissenschaftlich-kapitalistischen Zivilisation haben sich – auch mit Bezug auf die Geschlechtsidentitäten – die Wahrnehmungsweisen des Körpers, die Erfahrungen der Leiblichkeit und 20
Butler: Unbehagen, S. 29. Vgl. z. B. Petra Kolip (Hrsg.): Weiblichkeit ist keine Krankheit. Die Medikalisierung körperlicher Umbruchphasen im Leben von Frauen, Weinheim/München 2000.
21
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Leib ohne Geschlecht?
die Umgangsformen mit dem Pathischen unserer Existenz erheblich verändert. In ihrer biographischen Genese unterliegt die Geschlechtsidentität verschiedenen Wandlungen und ist insofern abhängig von persönlichen Erfahrungen mit sich selbst und Anderen, kollektiven An- und Zumutungen. Geschlechtliche Leiberfahrungen, wie zum Beispiel der erste Geschlechtsverkehr, können sich dabei als Schlüsselerlebnisse in den Lebenslauf einschreiben. Deutlich treten Veränderungen der leiblichen Integrität im Pubertätsprozess auf, in der weiblichen Biographie zum Beispiel mit dem Brustwachstum, das durch leibphänomenologische Exploration in seiner Bedeutung für die Geschlechtsidentität erfasst werden kann. 22 Auf die biographische Relevanz von Leiberfahrungen wirken aber etwa auch Umweltbedingungen ein, bei den Menstruationen schon allein deshalb, weil sie heute wesentlich früher eintreten als noch vor hundert Jahren, teilweise schon im Grundschulalter. Weitere bedeutsame Erfahrungen in der weiblichen Biographie sind Schwanger-Sein, Gebären, Stillen und das Klimakterium. Für männliche, inter- und transsexuelle Biographien lassen sich andere Kernerfahrungen herausschälen – hier gibt es noch erheblichen Forschungsbedarf. Individuelle Geschlechtsidentitäten sind immer bezogen auf die etablierten Identitätszuweisungen für die Geschlechter, also einen intra- und interkulturell höchst variablen Katalog von Verhaltensweisen, Rechtssetzungen, Lebensbedingungen etc., in dessen Kontext sich der Mensch als Geschlechtswesen vorfindet und zu bewegen hat. Dazu gehört wesentlich der vergeschlechtlichte Sexualstatus. Die Sexualität ist immer Teil der gesellschaftlichen Institutionen und wird umfangreich kulturalisiert. Bestimmte Praktiken und Beziehungsformen werden präferiert, andere pathologisiert oder kriminalisiert. Es werden sogar ohne Not und mit schwerwiegenden Folgen sexuelle Lustzentren physisch entfernt, wie etwa bei der Klitoridektomie, von der weltweit über 90 Millionen Frauen betroffen sind. 23 22 23
Vgl. Gahlings: Weibliche Leiberfahrungen, S. 249 ff. Die Weltgesundheitsorganisation geht derzeit von 125 Millionen heute leben-
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Bezogen auf die Kategorien sex und gender ist die Sexualität sexed, also physisch vergeschlechtlicht, weil weibliche und männliche, inter- und transsexuelle Anatomien und Orgasmuserfahrungen unterschiedlich sind. Sie ist gendered, also sozial vergeschlechtlicht, weil »die sexuellen Skripte für Frauen und Männer, ob als Heterosexuelle, Homosexuelle, Bisexuelle, Transsexuelle oder Transvestiten, unterschiedlich sind«. »Das Bindeglied zwischen der Erfahrung des physischen Sex und der vergeschlechtlichten sozialen Vorschriften für sexuelle Gefühle, Phantasien und Handlungen« sind, nach Lorber, »die individuellen Körper, Wünsche und Muster des Sexualverhaltens, die zu vergeschlechtlichten sexuellen Identitäten verschmelzen.« Ich würde hier von individuellen geschlechtlich konnotierten und Identität stiftenden Leiberfahrungen sprechen. Diese Identitäten sind vielfältig und komplex, sie werden aber in Kategorien eingeteilt und »sozial nach den Mustern eines vergeschlechtlichten Sexualstatus zugerichtet«. 24 So errichtet gender als soziale Institution für das Selbstverständnis des Menschen und auf seinem Weg zu anderen Menschen in der Fülle möglicher Begegnungen und Beziehungen zahlreiche, teils mit großem Leiden verbundene Grenzen. Jeder Mensch hat sich in der Gendergesellschaft zu finden. Deren Wirkmächte sind massiv – keine Spur von Postgender. Jedoch zeigt sich gerade in gender-reflektierten Gesellschaften, dass sich zumindest die Spielräume für die Entfaltung individueller Geschlechtsidentitäten erweitern, und zwar sowohl hinsichtlich der Toleranz der Geschlechter-Vielfalt als auch mit Blick auf mögliche Veränderungen durch die zunehmenden invasiven Manipulationen am Geschlechtskörper. In diesem Sinne kann eine Kultur mehr oder weniger Einfluss darauf haben, ob und wie stark geschlechtden genitalverstümmelten Mädchen und Frauen weltweit aus, wobei nicht bei jeder FMG (Female Genital Mutilation) das Lustzentrum der Klitoris entfernt ist. Vgl. WHO (Hrsg.): »Female Genital Mutilation«, unter: http://www.who. int/mediacentre/factsheets/fs241/en/ (Stand 15. 07. 2016); UNICEF (Hrsg.): Female Genital Mutilation/Cutting: A statistical overview and exploration of the dynamics of change, New York 2013. 24 Lorber: Gender-Paradoxien, S. 112.
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Leib ohne Geschlecht?
liche Leiberfahrungen in der Identitätsbildung ausschlagen. Das Ausmaß von gendering, diesem ständig waltenden Einschreibungsprozess, hängt letztlich von der persönlichen Situation ab. 6.
Zur Humanisierung der Geschlechterverhältnisse
Auch wenn nun einige Gendergesellschaften fortschrittlich sind, haben sich feministische Anliegen und die Kritik an den Geschlechterverhältnissen leider dennoch nicht erledigt. Tatsächlich gibt es durch das Voranschreiten von Technik, Wissenschaft und Kapitalismus sogar schon wieder neue vermeidbare Übel, die mit den Situationen von Frauen zusammenhängen, beispielsweise im medizinischen System die Reduktion der Gebärenden auf ein Operationsobjekt oder die Ausbeutung weiblicher Körper für die Gewinnung von Reproduktionssubstanzen. 25 Doch auch die Mitglieder anderer Gruppen – Intersexuelle, Transsexuelle, Homosexuelle, in mancher Hinsicht selbst Männer – sind immer noch von Ausgrenzungen, Stigmatisierungen und gruppenspezifisch bedingten, negativen Lebenserfahrungen betroffen. Gerade weil hier noch erheblicher Handlungsbedarf besteht, halte ich die von Postgender ausgehenden Signale bezüglich der Beliebigkeit und Diskursabhängigkeit von Geschlecht für trügerisch, vor allem wenn aus einem Theoriefeld, das gerade die Verfahren des gendering verstanden hat, radikale Forderungen nach degendering laut werden. In ihrem Buch »Breaking the Bowls. Degendering and Feminist Change« 26 fordert Lorber als letzten feministischen Akt die ersatzlose Streichung der Kategorie Geschlecht aus den gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen. Wenn gender formal nicht mehr existiert, kann es, so die 25
Zum ersten Beispiel vgl. die Arbeiten von Sabine Dörpinghaus: Dem Gespür auf der Spur. Leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe, Freiburg/München 2013; zum zweiten Beispiel vgl. u. a. Heidi Hofmann: Die feministischen Diskurse über Reproduktionstechnologien, Frankfurt/ New York 1999. 26 Judith Lorber: Breaking the Bowls. Degendering and Feminist Change, New York/London 2005.
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Ute Gahlings
These, nach Geschlecht keine Diskriminierungen mehr geben – ein wahrhaft post-feministischer Zustand. Lässt sich eine soziale Institution wie gender mit einem solchen Geniestreich aus unserer Lebenserfahrung tilgen? Nun – ich sehe ein, dass wir im Bemühen um Humanisierung der Geschlechterverhältnisse mehr brauchen als den Kampf um Gleichheit, ich sehe auch ein, dass sich die Kategorien Frau und Mann nicht singulär aufrechterhalten lassen, ebenso wenig wie die heteronormative Matrix. Im Kontext leiblicher Selbsterfahrung zeigt sich degendering jedoch als ein Konzept, das allzu sehr über Kognitionen und Formalitäten funktioniert, wenn es auf struktureller Ebene die Geschlechter-Segregation ausräumen will. Dabei brauchen wir aus meiner Sicht gerade in der gegenwärtigen Lage zunächst einmal und immer noch eine Würdigung und Anerkennung der geschlechtlichen Existenzweisen mit ihren unterschiedlichen Leiberfahrungen, auch um weitere Handlungsspielräume für die Linderung damit verbundener Leiden zu erschließen. So brauchen wir vor allem eine Achtung der gender-Komplexität. Selbstverständlich lässt sich der Trend beobachten, dass gender durch die Angleichung der Geschlechterrollen in der Arbeitsteilung und die zunehmende Toleranz gegenüber der Homosexualität in den westlichen Kulturen an Bedeutung verliert. Andererseits bleibt gender in viel zu vielen Dimensionen nahezu unverrückt bestehen – auch in unserer Gesellschaft, zum Beispiel bei sexistischer Ausgrenzung oder ungleicher Entlohnung. Das ist kein guter Zustand in einer Welt, in der anderenorts gender noch überwiegend fest zementiert ist und Heteronormativität nicht einmal reflektiert wird. Ich meine, dass der Kampf sowohl um Geschlechter-Gerechtigkeit als auch um Anerkennung in den Differenzen nicht zugunsten einer formalen Auflösung der Geschlechterkategorien aufgegeben werden darf und darauf geachtet werden muss, welche Ziele mit welchen Schritten erreicht werden können. Sicherlich ist eine Gesellschaft denkbar, die heteronormative Zurichtungen und vermeidbares Leiden an der Geschlechtlichkeit überwunden hat. Vermutlich werden die Menschen einander dann offener als einzigartige Personen begegnen. Gewiss werden 136 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Leib ohne Geschlecht?
sich die Möglichkeiten erotischer Bezogenheit und die Kreativität leiblicher Liebe erweitern. Mir scheint, dass dies auch jetzt schon einigen Menschen gelingt, obwohl wir eine heteronormative Gesellschaft sind. Da dies aber nicht die allgemeine Lage ist und immer noch sehr viel für das intersubjektive Verstehen zwischen Frauen, Männern, Inter- und Transsexuellen etc. getan werden muss, ist es außerordentlich wichtig, die Erfahrungsweisen geschlechtlicher Existenz am Leitfaden gespürter Leiblichkeit zu analysieren und in lebensweltlich relevanter Sprache nachzubuchstabieren. Es geht darum, wie Schmitz einmal schrieb, »verdeckte und ungeschützte Möglichkeiten des Lebens ans Licht zu bringen« 27 und einseitig orientierten Lebensformen entgegen zu wirken. Ich bin sicher, dass die phänomenologische Erfahrungskunde vorerst mehr zur Humanisierung der Geschlechterverhältnisse beitragen kann als die formale Abschaffung oder wissenschaftliche Aufkündigung der Kategorie Geschlecht.
27
Hermann Schmitz: Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 25 f.
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II. instruktiv
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Robert Gugutzer
Leiblichkeit und Personalität in der Sportsucht
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Sportsucht begann 1970 und wird seitdem nahezu ausschließlich innerhalb der (Sport-)Psychologie und (Sport-)Medizin geführt. 1 Eine zentrale Frage der Psychologie und Medizin ist dabei bis heute, was eine Sportsucht genau ist und wie sie sich zum Beispiel von einer engen Bindung an oder einer starken Leidenschaft für den Sport abgrenzen lässt. Psychologie und Medizin haben dafür bestimmte Kriterien entwickelt, genauer gesagt ein Bündel an Symptomen, anhand derer sie Sportsucht als psychische und/oder körperliche Störung diagnostizieren. Der vorliegende Beitrag hinterfragt die-
1
Die wissenschaftliche Sportsuchtforschung startet mit der Studie von Frederick Baekeland: »Exercise deprevation: Sleep and psychological reactions«, in: Archives of General Psychiatry 22, 1970, S. 365–369. Übersichten zur Sportsuchtforschung liefern z. B. Jeremy Adams/Robert J. Kirkby: »Excessive exercise as an addiction: a review«, in: Addiction Research and Theory 10, 2002, S. 413–437; Benjamin Allegre/Marc Souville/Pierre Therme/Mark D. Griffiths: »Definitions and measures of exercise dependence«, in: Addiction Research and Theory 14, 2006, S. 631–646; Simone Breuer/Jens Kleinert: »Primäre Sportsucht und bewegungsbezogene Abhängigkeit – Beschreibung, Erklärung, Diagnostik« (Primäre Sportsucht), in: Dominik Batthyàny/Alfred Pritz (Hrsg.): Rausch ohne Drogen: Substanzungebundene Süchte, Wien 2009, S. 191–218; Zsolt Demetrovics: »Exercise addiction: A literature review«, Psychiatria Hungarica 23, 2008, S. 129–141; Sabine M. Grüsser/Carolin N. Thalemann: Verhaltenssucht. Diagnostik, Therapie, Forschung (Verhaltenssucht), Bern 2006; Heather A. Hausenblas/Danielle Symons Downs: »Exercise dependence: A systematic review« (Exercise review), in: Psychology of Sport and Exercise 3, 2002, S. 89–123; John H. Kerr/Koenraad J. Lindner/Michelle Blaydon: Exercise Dependence (Exercise Dependence), London/New York 2007; Attila Szabo: Addiction to exercise: A symptom or a disorder?, New York 2010.
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Robert Gugutzer
ses symptomatologisch-kriteriologische Sportsuchtverständnis 2 und schlägt einen alternativen Zugang vor. Kritikwürdig erscheint die symptomatologisch-kriteriologische Thematisierung der Sportsucht nämlich deshalb, weil damit – so die zentrale These – zwei für ihr Verständnis bedeutsame Aspekte übergangen werden: ihre Erlebens- und biographische Dimension. Der Alternativvorschlag ist daher phänomenologisch fundiert und basiert konkret auf zwei zentralen Konzepten der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz: »Leiblichkeit« und »Personalität«. Sportsucht soll hier entsprechend als »leibliches Phänomen« und als wichtiger Teil der »persönlichen Situation« analysiert werden. Im Folgenden werde ich zuerst in aller Kürze den psychologisch-medizinischen Zugang zur Sportsucht referieren (1.), um abgrenzend dazu im zweiten Teil Überlegungen zu einer Neophänomenologie der Sportsucht anzustellen, wofür ich Schmitz’ An2
Zu einer ähnlich gelagerten grundsätzlichen Kritik an der symptomatologischkriteriologischen Diagnostik in der Medizin siehe Alfred Kraus: »Phänomenologisch-anthropologische Aspekte der Diagnostik und der Klassifikation in der Psychiatrie« (Phänomenologisch-anthropologische Aspekte), in: Dirk Schmoll/Andreas Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen, Freiburg/München 2005, S. 55–71; vgl. außerdem Thomas Reuster: »Integrationsprobleme in Psychiatrie und Medizin« (Integrationsprobleme), in: Dirk Schmoll/Andreas Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen, Freiburg/München 2005, S. 71–86 und Alexander Risse: »Diabetologie in Wissenschaft und Praxis. Bemerkungen des neophänomenologisch beunruhigten Laien« (Diabetologie), in: Dirk Schmoll/Andreas Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen, Freiburg/München 2005, S. 302– 325. Die Kritik am symptomatologisch-kriteriologischen Ansatz von Psychologie und Medizin lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Symptome bezeichnen »isolierte und selbständige Eigenschaften«, während Phänomene als »in einen Kontext eingebettet« betrachtet werden (Andrea Moldzio: »Zur schizophrenen Entfremdung auf der Grundlage der Neuen Phänomenologie«, in: Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen, Freiburg/ München 2005, S. 185–203, hier S. 190). Der Blick auf Symptome birgt m. a. W. die Gefahr, die phänomenale und kontextuelle (einschließlich des biografischen Kontextes) Dimension des zur Rede stehenden Sachverhalts zu übersehen. Anders gesagt: Eine symptomatologisch-kriteriologische Herangehensweise ist konstellationistisch, eine phänomenorientierete situationistisch (vgl. Schmitz in Risse: Diabetologie, S. 306).
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Leiblichkeit und Personalität in der Sportsucht
merkungen zur Sucht 3 nutzen werde (2.). Auf dieser Grundlage werde ich im dritten Teil eine Fallanalyse einer sportsüchtigen Person vorstellen (3.). Damit soll exemplarisch dargestellt werden, was in den Blick kommt, wenn das sportsüchtige Verhalten und Erleben einer neophänomenologischen Analyse unterzogen wird. Im abschließenden Fazit verallgemeinere ich die empirischen Ergebnisse im Sinne eines Plädoyers für eine phänomenologisch angeleitete Hermeneutik sportsüchtigen Handelns und Erlebens (4.). 1.
Sportsucht in Psychologie und Medizin
Was ist Sportsucht? In der psychologischen und medizinischen Literatur wird über diese Frage seit der ersten Erwähnung des Begriffs 1970 in einer psychiatrischen Fachzeitschrift lebhaft diskutiert. Handelten die wissenschaftlichen Kontroversen in den 1970er Jahren davon, inwiefern Sportsucht eine positive oder negative Sucht darstellt, 4 so verlagerte sich die Diskussion in den 1980er Jahren dahin, ob sie ein eigenständiges Krankheitsbild oder die Folge einer vorgängigen Psychopathologie ist, allen voran 3
Es sei erwähnt, dass weder Hermann Schmitz noch ein anderer Autor im Umfeld der Neuen Phänomenologie sich bislang besonders mit dem Thema Sucht beschäftigt hat. Auch Isabella Marcinskis Arbeit zur Magersucht thematisiert die Suchtdimension der Magersucht nicht wirklich, was bereits daran erkennbar ist, dass sie von Anorexie statt von Magersucht spricht (vgl. Isabella Marcinski: Anorexie – Phänomenologische Betrachtung einer Essstörung (Anorexie), Freiburg/München 2014). Angesichts der Tatsache, dass Sucht und Süchtigkeit gesellschaftlich weit verbreitete Phänomene sind, muss die nicht vorhandene Neophänomenologie der Sucht durchaus überraschen – was im Übrigen für die philosophische Philosophie insgesamt gilt: Sucht ist anscheinend kein phänomenologisch interessanter Gegenstand. Eine Ausnahme ist Jann E. Schlimme: »Versuch eines phänomenologischen Verständnisses der Sucht«, in: Wiener Zeitschrift für Suchtforschung 31/1, 2008, S. 5–12; Jann E. Schlimme: »Addiction and self-determination. A phenomenological approach«, in: Theoretical Medicine and Bioethics 31/ 1, 2010, S. 49–62. 4 Vgl. William Glasser: Positive Addiction, New York 1976; William P. Morgan: »Negative addiction in runners«, in: Physician and Sports Medicine 7, 1979, S. 57–70.
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Robert Gugutzer
einer Essstörung. Diesbezüglich hat sich die Unterscheidung zwischen »primärer« und »sekundärer« Sportsucht etabliert. 5 Diskutiert wird seit dieser Zeit auch immer wieder die Frage der Grenzziehung zwischen einer engen, leidenschaftlichen Bindung an den Sport (»commitment«) und einer »wirklichen« Sucht nach Sport (»addiction«). 6 Das zentrale Thema der psychologischen und medizinischen Sportsuchtforschung war und ist jedoch die Suche nach eindeutigen Definitionskriterien. Grundlage dafür sind die gängigen medizinisch-psychiatrischen Klassifikationssysteme, derzeit DSM-V und ICD-10. Sportsucht ist in diesen Klassifikationssystemen nicht aufgelistet. Da sie als eine Form von Abhängigkeit betrachtet wird, werden für ihre Definition die allgemeinen Merkmale substanzgebundener Suchterkrankungen herangezogen. 7 Sportsucht gilt entsprechend als ein Abhängigkeitssyndrom mit folgenden Symptommerkmalen: 8 1. Toleranzentwicklung (Dosissteige5
Vgl. David M. W. de Coverley Veale: »Exercise dependence«, in: British Journal of Addiction 82, 1987, S. 735–740; David M. W. de Coverley Veale: »Does primary exercise dependance really exist?« in: John Annett/ Barry Cripps/Hannah Steinberg (Hrsg.): Exercise Addiction: Motivation for Participants in Sport and Exercise, Leicester 1995, S. 1–5. 6 Vgl. John A. Sours: »Running, Anorexia Nervosa, and Perfection« (Running), in: Michael H. Sacks/Michael L. Sachs (Hrsg.): Psychology of Running, Champaign, Ill., S. 80–91; Jörg Knobloch/Henning Allmer/Thomas Schack: »Sport und Sucht – Ausdauer- und Risikosportarten« (Sport und Sucht), in: Stefan Poppelreuther/Werner Gross (Hrsg.): Nicht nur Drogen machen süchtig. Entstehung und Behandlung von stoffungebundenen Süchten, Weinheim 2000, S. 181–207. 7 Die Frage, inwiefern es angemessen ist, Kriterien substanzgebundener Süchte wie Alkohol- oder Drogensucht auf stoffungebundene Süchte wie die Sportsucht zu übertragen, wird dabei nicht groß diskutiert. So heißt es bspw. bei Heiko Ziemainz/Oliver Stoll/Amely Drescher/Rafael Erath/Melanie Schipfer/Bernd Zeulner: »Die Gefährdung zur Sportsucht in Ausdauersportarten« (Gefährdung Sportsucht), in: Zeitschrift für Sportmedizin, 64/2, 2013, S. 57–64, hier S. 58: »Obwohl die gängigen Klassifikationssysteme (ICD, DSM) suchthaftes Verhalten bislang als substanzinduzierte Störung betrachten, treffen die beschriebenen Merkmale auch auf das Symptombild der Sportsucht zu.« Eine Begründung für diese Behauptung wird nicht geliefert. 8 Vgl. z. B. Hausenblas/Symons Downs: Exercise review; Kerr/Lindner/Blaydon: Exercise Dependence; Breuer/Kleinert: Primäre Sportsucht.
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Leiblichkeit und Personalität in der Sportsucht
rung), 2. Entzugssymptome (physischer und psychischer Art), 3. Kontrollverlust (Zwang/Drang, Sport machen zu müssen), 4. Hoher Aufwand (Zeit, Gedanken, Geld), 5. Kontinuität (im Sinne des Fortsetzens der Sportaktivität selbst bei Krankheit oder Verletzung) sowie 6. Konflikte (im Beruf, Familie, Freundeskreis). Als eine Form von Abhängigkeit, die ohne äußerlich zugeführte Substanzen entsteht, wird Sportsucht auch als eine »Verhaltenssucht« bezeichnet, für die zwei Merkmale zentral sind: »exzessives Verhalten« und »Störung der Impulskontrolle«. 9 Sportsüchtig ist demnach eine Person, die einen »unkontrollierbaren Impuls« 10 oder einen übermäßigen Drang 11 nach sportlicher Bewegung verspürt und nicht anders kann, als diesem Drang in Form maßloser sportlicher Aktivität nachzugeben, wobei sie selbst ihre sportliche Maßlosigkeit positiv bewertet. Die medizinisch-psychologische Forschung zur Sportsucht präsentiert neben dieser »symptomatologisch-kriteriologischen Diagnostik« 12 ebenso Hypothesen zur Ätiologie sportsüchtigen Verhaltens. Im Mittelpunkt stehen hierbei physiologische und psychologische Erklärungsansätze. Zu den am häufigsten zitierten physiologischen Ätiologiemodellen zählen die Endorphinhypothese, die Katecholaminhypothese und die Dopmaninhypothese. 13 Die bekannteste dieser drei Hypothesen ist die Endorphinhypothese, der zufolge sportliche Aktivität die Produktion körpereige9
Grüsser/Thalemann: Verhaltenssucht, S. 19 f. Grüsser/Thalemann: Verhaltenssucht, S. 20. 11 Der psychologischen Sportsuchtforschung zufolge ist die Sportsucht, weil sie eine Verhaltenssucht ist, keine Zwangsstörung, sondern eine Impulsstörung, was bedeutet, dass für sie eher ein Drang als ein Zwang charakteristisch ist (vgl. Grüsser/Thalemann: Verhaltenssucht, S. 22). Kleinert/Hoyer/Raven unterscheiden daher zwischen Sportsucht und Sportzwang, wobei der Unterschied darin besteht, »dass Suchtverhalten ego-systonisch und Zwangsverhalten ego-dystonisch ist« (vgl. Jens Kleinert/Jürgen Hoyer/Hanna Raven: »Zwanghaftes und extrinsisch motiviertes Sport- und Bewegungsverhalten«, in: Hans-Wolfgang Hoefert/ Christoph Klotter (Hrsg.): Gesundheitszwänge, Lengerich 2013, S. 306–325, hier S. 312). 12 Kraus: Phänomenologisch-anthropologische Aspekte, S. 55–71; vgl. Reuster: Integrationsprobleme, S. 71–86. 13 Vgl. Grüsser/Thamelann: Verhaltenssucht, S. 102 ff. 10
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ner Opiate (Endorphine) anrege, was so sehr zur Verbesserung der Stimmung beitrage, dass man danach süchtig werden könne. Alltagssprachlich ist hier von »Glückshormonen« die Rede 14 und vom so genannten »Runners High«, einem euphorischen Glücksgefühl, von dem hauptsächlich Langstreckenläufer berichten. Zu beachten ist dabei, dass es für die Endorphinhypothese keine empirischen Belege gibt, sie wissenschaftlich längst als bloßer »Mythos« 15 entlarvt wurde, sie sich gleichwohl im öffentlichen Diskurs hartnäckig als zentrale Erklärung für die Genese einer Sportsucht hält. 16 Psychologische Ansätze wiederum zielen vor allem darauf, bestimmte Motive bzw. Motivkomplexe sowie Persönlichkeitsmerkmale zu identifizieren, die die Entstehung und Aufrechterhaltung sportsüchtigen Verhaltens erklären. Als wichtige Motive werden zum Beispiel »Machtstreben« oder das »Sensation Seeking«, 17 die Suche nach flow-Zuständen und dem »volition high« 18 oder das »Verlangen nach einem ›hedonic tone‹ (Aufrechterhaltung einer positiven Stimmung)« 19 bezeichnet. Als in Frage stehende Persönlichkeitsmerkmale gelten einerseits Perfektionismus, Zwanghaftigkeit, Extrovertiertheit, Selbstwertorientierung, andererseits Ängstlichkeit, Neurotizismus und Narzissmus. 20 Die psychologi14
Fälschlicherweise, denn bei Endorphinen handelt es sich nicht um Hormone, sondern um Neuropteptide. 15 Oliver Stoll: »Endogene Opiate, Runners High und Laufsucht – Aufstieg und Niedergang eines Mythos«, in: Leipziger Sportwissenschaftliche Beiträge 28/1, 1997, S. 102–121. 16 Vgl. beispielsweise Johann Grolle: »Versöhnung mit der Heimat«, in: Der SPIEGEL 40/2012, S. 116–118. 17 Gregor Bartl: »Sport und Sucht – Extremsportarten«, in: Stefan Poppelreuther/ Werner Gross (Hrsg.): Nicht nur Drogen machen süchtig. Entstehung und Behandlung von stoffungebundenen Süchten, Weinheim 2000, S. 209–231. 18 Knobloch/Allmer/Schack: Sport und Sucht, S. 192. 19 Ziemainz/Stoll/Drescher/Erath/Schipfer/Zeulner: Gefährdung Sportsucht, S. 59. 20 Vgl. Heather A. Hausenblas/Peter R. Giacobbi Jr.: »Relationship between exercise dependence symptoms and personality«, in: Personality and Individual Differences 36, 2004, S. 1265–1273; zum Narzissmus siehe Sours: Running, S. 80–91; Alayne Yates: Compulsive Exercise and Eating Disorders. Toward an Integral Theory of Activity, New York 1991.
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schen Befunde zur Ätiologie der Sportsucht sind insgesamt uneinheitlich, allen voran erlauben sie es nicht, einen Kausalzusammenhang zwischen Persönlichkeit und Sportsucht herzustellen. Dessen ungeachtet wird immer wieder gesagt, »dass sportsüchtige Menschen in vielfältiger Hinsicht mit Persönlichkeitsproblemen zu tun haben.« 21 Zusammenfassend heißt das: Aus Sicht der Psychologie und Medizin ist Sportsucht ein Komplex von überwiegend psychischen und körperlichen Symptomen sowie ein pathologisches Verhalten, nämlich eine Abhängigkeitserkrankung und Störung der Impulskontrolle. Aus neophänomenologischer Perspektive thematisieren Medizin und Psychologie die Sportsucht somit als einen »objektiven Sachverhalt« 22: Als sportsüchtig und damit als krank gilt ihnen ein Mensch, wenn bzw. weil sein Verhalten den diagnostischen Kriterien einer Sportsucht entspricht. Ob bzw. inwiefern die Sportsucht für die Person ein gleichermaßen »subjektiver Sachverhalt« ist, sie also von ihrer Sportsucht affektiv betroffen ist und ihr »Sosein« 23 davon berührt wird, ist eine Frage, die für die medizinische und psychologische Forschung bestenfalls nachrangig ist. 24 Aus der Sicht des Sportsüchtigen, der von sich selbst
21
Breuer/Kleinert: Primäre Sportsucht, S. 203. Ein Sachverhalt im Sinne von Schmitz ist »jeder korrekt geformte Ausspruch eines Aussagesatzes […], wenn er nicht durch Widerspruch in sich oder zu seinen impliziten Voraussetzungen seinen eigenen Sinn durchkreuzt«. »Ein Sachverhalt (ggf. eine Tatsache) ist subjektiv, wenn höchstens einer, und zwar nur im eigenen Namen, ihn aussagen kann«, hingegen ist eine Tatsache objektiv, »wenn jeder sie aussagen kann, sofern er über genügend Kenntnis und Sprachbeherrschung verfügt« (Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie (Unerschöpflicher Gegenstand), Bonn 1990, S. 5 f. [Hervorh. v. Verf.]). Ein Psychiater, der die wissenschaftlich etablierten Diagnosekriterien zur Sportsucht kennt und anwendet, erklärt sie zu einer objektiven Tatsache. 23 Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 6. 24 Die hier geäußerte Kritik an der Medizin und Psychologie gilt nur dem naturwissenschaftlichen Strang, der zumindest in der Medizin der vorherrschende ist. Vertreter einer Medizin im Sinne einer »Heilkunde/Kunst« sind hingegen sehr nah an dem hier vorgeschlagenen phänomenologischen Ansatz dran. Diese Nähe zeigt sich bspw. in der Darstellung von Thomas Reuster, die verdeutlicht, worum es einer Medizin als Heilkunde/Kunst geht, nämlich u. a. um »Idiographik«, 22
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sagt: »Ich bin sportsüchtig«, ist die Subjektivität dieser Tatsache jedoch der zentrale Punkt. In diesem Sinne erscheint es zum einen ratsam, Sportsucht als (leibliches) Phänomen zu begreifen und nicht von vornherein – per Definition – als Symptom(komplex) zu behandeln. 25 Zum anderen ist es notwendig, die Lebensgeschichte und den Lebenskontext der betroffenen Person zu berücksichtigen – in den Worten von Schmitz: ihre persönliche Situation. 2.
(Sport-)Sucht im Lichte der Neuen Phänomenologie
Wie eingangs erwähnt, liegt bis dato weder eine Neophänomenologie der Sportsucht vor noch ist Sucht allgemein ein von der Neuen Phänomenologie ernsthaft behandeltes Phänomen – auch nicht von Hermann Schmitz. 26 Im »System der Philosophie« finden sich meines Wissens nach lediglich zwei Stellen, an denen sich Schmitz – jeweils sehr knapp – mit Sucht bzw. Süchtigkeit auseinander setzt: Zum einen im Band II, Teil 1 »Der Leib« auf S. 238, zum anderen im Band IV »Die Person« auf den Seiten 105–107. Worum geht es dabei? (a) In »Der Leib« kommt Schmitz im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der leiblichen Regung »Durst« kurz auf die Sucht zu sprechen: »Durst [ist] die Urform aller Süchtigkeit, z. B. der sexuellen und der toxischen; sogar etymologisch scheinen ›Sucht‹ und ›Saugen‹ zusam»Phänomen«, »Einzelfall«, »Teilnahme/Subjektivität«, »Lebensgeschichtlicher Zusammenhang« und »Verstehen«; Reuster: Integrationsprobleme, S. 82. 25 Ähnlich argumentiert Marcinski in ihrer phänomenologischen Studie zur Anorexie: »Speziell die Phänomenologie stellt eine Begrifflichkeit bereit, mit der das ansonsten in der Psychiatrie vernachlässigte subjektive Erleben in der psychischen Krankheit beschrieben werden kann. So wird ein tieferes Verständnis der psychopathologischen Phänomene möglich, noch bevor sie zu Symptomen verdinglicht werden« (Marcinski: Anorexie, S. 58). 26 Unmittelbar nach Fertigstellung dieses Beitrags hat Schmitz einen Text zur Phänomenologie der Sucht verfasst: Hermann Schmitz: »Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung« (unveröffentlichtes Manuskript).
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men zu gehören. Süchtigkeit ist nämlich Preisgabe des leiblichen Rhythmus an die nackte, unbedingte Schärfe und Schlichtheit der leiblichen Intensität. Der süchtige Leib ›pendelt‹ nicht mehr, ihm fehlt der Ausgleich, die Selbstregulierung der konkurrierenden Impulse; Sucht ist Versinken des Leibes in den Abgrund gestaltloser Intensität. Die Urform solches Versinkens ist das Saugen, an dem daher das Wesen aller Sucht abgelesen werden kann […].« 27
Ob Durst die »Urform aller Süchtigkeit« ist und das »Saugen« jenes Phänomen, an dem »das Wesen aller Sucht abgelesen werden kann«, ist eine These, die noch genauer erläutert werden müsste. 28 Wichtiger für meine Argumentation ist der Hinweis, dass Süchtigkeit die »Preisgabe des leiblichen Rhythmus an die […] leibliche Intensität« bzw. Sucht »das Versinken des Leibes in den Abgrund gestaltloser Intensität« ist. In der Sucht gerät die »leibliche Ökonomie« 29 aus dem Lot, insofern das Konkurrenzverhältnis von leiblichem Rhythmus und leiblicher Intensität zugunsten der leiblichen Intensität aufgelöst wird. Das süchtige Erleben äußert sich als intensives, nämlich »simultanes Zusammenwirken von Spannung und Schwellung«, 30 und zwar, wie das Zitat nahelegt, unabhängig davon, ob es sich um eine stoffgebundene (»toxische«) Sucht oder eine stoffungebundene Sucht wie die »Sexsucht« handelt. Versteht man Sucht als eine zugespitzte Form von Leidenschaft, so kann man mit Schmitz obendrein sagen, dass nicht nur der »leidenschaftliche Mensch«, sondern erst recht der süchtige Menschen »Glück nicht als Behagen (sucht), sondern als Intensität seines Erlebens; daher erstrebt er auch die Spannung und läßt 27
Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. 2, Teil 1: Der Leib (System II/ 1), Bonn 1965, S. 238. 28 Das gilt vor allem deshalb, weil Schmitz von »allen« Süchten spricht und damit die Unterscheidung zwischen stoffgebundenen und stoffungebundenen Süchten neutralisiert. Ob das phänomenologisch angemessen ist, gilt es zu klären. 29 Schmitz: System II/1, S. 125. 30 Alle Intensität besteht in der »simultanen Konkurrenz leiblicher Spannung und Schwellung. […] so, daß jeder von beiden Impulsen, indem er gegen den anderen unterdrückend andringt, diesen Antagonisten antreibt und stärkt, d. h. dessen Chance, seinerseits zu überwiegen, verbessert.« (Schmitz: System II/1, S. 111 ff.).
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sich, selbst ohne dies zu beabsichtigen, bereitwillig auf den Schmerz ein.« 31 Dieses Zitat klingt, als wäre es mit Blick auf Sportsüchtige formuliert. Denn Sportsüchtige finden ihr »Glück« in der Tat nicht in einem wohligen, weitenden Behagen, sondern in der engenden Spannung: im Kick, Thrill, Rausch oder einfach ›nur‹ in der gespürten Muskelspannung im sportlichen Tun. Der leibliche Weg zu ihrem Glück führt viele Sportsüchtige dabei über das bereitwillige Einlassen auf bzw. das explizite Suchen nach Schmerzen. So wie bereits der Hobbysportler seinen schmerzenden Muskelkater nach einer sportlichen Aktivität mit gewissem Stolz erträgt, weil ihm der Muskelkater spürbar signalisiert, etwas geleistet zu haben, so sind für Sportsüchtige Schmerzen nicht nur eine selbstverständliche Begleiterscheinung ihres exzessiven Verhaltens, sondern ein handlungsmotivierendes leibliches Phänomen, das in den Narrationen der Sportsüchtigen häufig wie eine Art Trophäe präsentiert wird. So heißt es zum Beispiel in einem Erfahrungsbericht eines ehemaligen Sportsüchtigen: »Das Geilste ist der Schmerz nach dem Schmerz. Nach einem erfolgreichen Wettkampf auslaufen, mit steifen, krampfenden Beinen – da geht kaum was drüber. Last und Anspannung sind abgefallen, der Körper sendet mit jedem Schritt ans Gehirn: Du hast es geschafft. Und im Idealfall habe ich im Ziel eine Grenze verschoben, das Gefühl ist unvergleichlich.« 32
Fragt man nun, weshalb eigentlich der Sport ein soziales Feld ist, in dem suchtähnliche Erlebnisse leiblicher Intensität gesucht und auch gefunden werden, so lässt sich mit Schmitz sagen, dass dies entscheidend mit den »Kämpfen und Beschwerden« zu tun hat, die der Sport garantiert. Betrachtet man den Sport als institutionalisierte Form von Bewegungsproblemen, folgt daraus, dass jede Sportart ihre eigenen, für sie konstitutiven Bewegungsprobleme aufweist, deren Lösung entsprechend auf je verschiedene Weise 31
Schmitz: System II/1, S. 120. Daniel Drepper: Sport an der Grenze zur Sucht – mein Erfahrungsbericht. unter: http://www.danieldrepper.de/sport-an-der-grenze-zur-sucht-mein-erfahrungsbe richt/ (Stand: 27. 10. 2012).
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beschwerlich ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Sportsüchtige mit Schmitz als der leidenschaftlich »Strebende« bezeichnen, der sich absichtsvoll körperliche Hindernisse in den Weg stellt, »um ein sonst leicht zu gewinnendes Ziel mit lockendem Glanz zu umkleiden. Das ist die Quelle der Lust an Kampfspielen […] auch der beglückende Kampf mit den Elementen: des Schwimmers mit den Fluten, des Bergsteigers mit Erde und Fels […]. Auch an die modernen Formen der technisch vermittelten Auseinandersetzung mit dem Element am Steuer von Auto und Flugzeug, Skibrettern und Schlittschuhen ist zu erinnern. Aber die Urgestalt eines Kampfes, der gesteigerte leibliche Intensität schenkt, ist der Ringkampf […].« 33
Dass Schmitz in diesem Zitat Beispiele aus der Welt des Sports bringt, ist wohl kein Zufall, vielmehr ein Hinweis darauf, dass gerade der Sport ein prädestiniertes Feld für gesteigerte leibliche Intensität ist und damit für die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Süchtigkeit. Meine These ist: Der Sport ist deshalb ein »prädestiniertes Suchtfeld«, 34 weil die gesteigerte leibliche Intensität, die er ermöglicht, aus einer außerordentlichen körperlichen Eigenbewegung resultiert, die zudem hohe gesellschaftliche Legitimation genießt. Das unterscheidet die Sportsucht von anderen Verhaltenssüchten wie der Spiel-, Computer-, Konsum- oder Arbeitssucht, in denen die Verschränkung von Körperbewegung und Leibempfinden weniger eng und intensiv ist. Das bisher skizzierte phänomenologische Verständnis von Sucht hat gegenüber dem medizinisch-psychologischen Suchtverständnis einen wichtigen Vorteil: Es beschreibt das süchtige Verhalten wertneutral. Ob Süchtigkeit im Sinne eines Versinkens des Leibes in gestaltloser Intensität pathologisch ist oder nicht, wird hier nicht vorab definitorisch entschieden, sondern ist eine empirisch offene Frage, die für jeden Einzelfall aufs Neue zu klären ist. Dasselbe gilt für das vorhin genannte Kriterium »Störung der Im33
Schmitz: System II/1, S. 120. Karl-Heinrich Bette/Robert Gugutzer: »Sport als Sucht. Zur Soziologie einer stoffungebundenen Abhängigkeit«, in: Sport und Gesellschaft 9/2, 2012, S. 107– 130.
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pulskontrolle«. Gemeint ist damit, dass die sportsüchtige Person einem Drang unterliegt, sich sportlich zu betätigen. Dem Drang nach sportlicher Aktivität nicht widerstehen zu können, gilt der Medizin und Psychologie als pathologisch. Aus neophänomenologischer Sicht lässt sich ein solcher Drang oder Impuls hingegen wertfrei beschreiben. Dazu Schmitz: »Ein Trieb ist ein unwillkürliches Drängen nach einem Verhalten, dessen Erfolg die leibliche Ökonomie aus einem relativ unstabilen in einen relativ stabilen Zustand versetzt. Sättigung, wollüstige Befriedigung, Atmen frischer Luft als erlangtes Triebziel eines vorher Erstickenden, Gelingen des triebhaften ›Weg!‹ bei Angst und dgl. mehr stillen in diesem Sinn die disharmonische Unruhe der Konkurrenten Spannung und Schwellung.« 35
Im Lichte dieses Zitats erscheint die Sportsucht als »ein unwillkürliches Drängen« nach einem sportlichem »Verhalten, dessen Erfolg die leibliche Ökonomie aus einem relativ unstabilen in einen relativen stabilen Zustand versetzt«. Der Drang, Sport machen zu müssen, führt zu einem körperlichen Verhalten, das die »disharmonische Unruhe der Konkurrenten Spannung und Schwellung« in einen ruhigen, harmonischen Zustand überführt. Dem starken Bewegungsdrang, von dem die meisten Sportsüchtigen berichten, nachzugeben, ist also keineswegs per se gleichbedeutend mit einer gestörten Impulskontrolle, sondern zu allererst der personale Versuch, einen leiblichen Impuls mit einem körperlichen Verhalten zu beantworten. Verbunden ist damit das subjektive Ziel, in einen Befindenszustand zu gelangen, der von den Athleten typischerweise als ›freudiges Geschafftsein‹, ›Zufriedenheit‹ oder ›Stolz‹ beschrieben wird. Ob oder inwiefern aus diesem Zustand einer ausgeglichenen leiblichen Ökonomie ein pathologisches Verhalten resultiert, ist erneut eine empirisch offene Frage, die von Faktoren wie der Lebensgeschichte und des Lebenskontextes der betroffenen Person abhängt. (b) Die zweite Textstelle im »System der Philosophie«, an der Schmitz sich zur Sucht äußert, findet sich im Kontext seiner 35
Schmitz: System II/1, S. 125.
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Theorie der Person. Der Personentheorie von Schmitz zufolge ist für das personale Subjekt das Hin-und-Her von »primitiver und entfalteter Gegenwart« bzw. von »personaler Regression und Emanzipation« konstitutiv. 36 Die »Reifung der Persönlichkeit«, so Schmitz, ist »das Werk eines Kreisprozesses, in dem beide Antagonisten, personale Emanzipation und personale Regression, einander in die Hände arbeiten.« 37 Sucht ist dabei für Schmitz – neben der Hysterie – ein ausgezeichnetes Beispiel personaler Regression. Genauer gesagt bezeichnet Schmitz Sucht als eine »Technik der Auslösung personaler Regression«, wofür er Beispiele der Trunksucht, Stehlsucht, Spielsucht, der »geschlechtlichen Ekstase« und der »Wonneangst«, 38 die sich besonders als »Kitzel der Gefahr und des Abenteuers« 39 zeigt, anführt: »Diese Lockung personaler Regression ist die Quelle der Sucht in solchen Fällen, wo diese auf einem makaberen Reiz, einem nervösen Kitzel beruht. Stehlsucht und Spielsucht haben diesen Reiz als verwegenes Spiel mit dem Schicksal (des Ertapptwerdens bzw. Verlierens) und gleichen darin dem Auskosten der Spannung durch den Springer, ehe er sich aus der Höhe in die Wassertiefe fallen läßt […].« 40
Interessant an Schmitz’ Ausführungen zur Sucht als personale Regression ist zum einen, dass seine Beispiele hauptsächlich aus dem Feld der stoffungebundenen Verhaltenssüchte stammen, und zwar einschließlich der Sportsucht. Den Kitzel des Wasserspringers könnte man zumindest bei großzügiger Interpretation als Sportsuchtphänomen bezeichnen, jedenfalls dann, wenn man dabei an die Risikosportvariante des »Cliff Diving« denkt. Wichtiger ist aber zum anderen Schmitz’ Bemerkung, dass es eine »Technik der Auslösung personaler Regression« gebe, wofür die Sucht eben
36
Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. IV: Die Person (System IV), Bonn 1980. Siehe auch Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 153–171. 37 Schmitz: System IV, S. 105. 38 Schmitz: System IV, S. 106 f. 39 Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 157. 40 Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 156.
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ein Beispiel sei. 41 Diese Formulierung ist insofern bedeutsam, als damit gesagt ist, dass Sucht kein Widerfahrnis ist, das über einen kommt, ohne sich dagegen wehren zu können. Sucht ist kein Schicksal, dem man ausgeliefert ist. Menschen sind nicht Opfer ihrer Sucht, sondern Täter: 42 Menschen tun ihre Sucht, sie verhalten sich süchtig. Ein solches Suchtverständnis widerspricht nicht nur der Selbstbeschreibung von Süchtigen, die sich häufig als Opfer ihrer Sucht beschreiben, sondern auch der gängigen Auffassung der Sportsuchtforschung, die den »Kontrollverlust« als zentrales Suchtsymptom bezeichnet: Die Sucht beherrscht die Person, nicht die Person beherrscht die Sucht, lautet die übliche Formel. Dass eine konkrete Person in der personalen Regression verharrt, mag empirisch durchaus vorkommen. Zu sagen, dass dies ein Wesensmerkmal von Süchtigkeit sei, ist jedoch empirisch falsch und sachlich kontraproduktiv. Zu denken ist hier etwa an die therapeutische Arbeit mit Süchtigen, für die es einen Unterschied macht, ob die Suchtperson als Opfer oder als Täter ihres süchtigen Verhaltens betrachtet wird. Indem das phänomenologische Verständnis von Sucht als einer Technik personaler Regression die aktive, willentliche Dimension des Suchtverhaltens betont, öffnet sie einen Spielraum therapeutischer Arbeit, der weiter und damit vermutlich erfolgversprechender sein dürfte als jener, innerhalb dessen der Süchtige ausschließlich als Opfer seiner personalen Regression gesehen wird. Zudem ist die Auffassung vom Suchtverhalten als einer Technik personaler Regression in der Hinsicht relevant, dass es für die 41
An anderer Stelle spricht Schmitz im Anschluss an Ernst Gabriel von dem »Talent«, »personale Regression im Sich-fallen-lassen und im Moment davor auszukosten« (Schmitz: unerschöpflicher Gegenstand, S. 107), wobei das Sich-fallen-lassen wörtlich (im Fall des Wasserspringers) wie auch im übertragenen Sinne zu verstehen ist. 42 Sie suchen sich ihre Sucht, worauf das Wort »Sucht« hinzuweisen scheint, was etymologisch allerdings nicht zutrifft; Sucht leitet sich von dem mittelhochdeutschen Adjektiv »siech« = »krank« und seiner Ableitung »siechtuom« = »langwierige Krankheit« her; vgl. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1997, S. 674 und 727.
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»reife Persönlichkeit« zentral ist, immer wieder in die primitive Gegenwart abzusteigen, also personal zu regredieren. 43 Ein Mensch, der versuchte (es wird ihm kaum gelingen), lediglich auf einem hohen »Niveau« personaler Emanzipation 44 zu leben, indem er einen möglichst großen Abstand zu seiner primitiven Gegenwart einnimmt, wäre eine ziemlich leblose Person. Ein lebloses Leben aber, dem Momente affektiven Betroffenseins fehlen, ist im eigentlichen Sinne kein Leben mehr. Vor dem Hintergrund erscheint das Suchtverhalten geradezu als lebenserhaltende Maßnahme oder zumindest als eine Art Gesundbrunnen: Weil die Sucht dem Menschen die Möglichkeit zur personalen Regression gibt, sorgt sie für einen Ausgleich in der personalen Ökonomie und sichert das personale Überleben. Diese Interpretation sportsüchtigen Verhaltens erscheint womöglich arg positiv. Sie darf jedoch nicht missverstanden werden. Es sollen damit keineswegs die Gefahren süchtigen Verhaltens kleingeredet werden. Jede Sucht birgt die Gefahr, dass der davon Betroffene phasenweise oder über längere Zeit in primitiver Gegenwart verharrt. Das wäre der Gesundheit der Person zweifelslos abträglich. Die Betonung der positiven Aspekte süchtigen Verhaltens hat jedoch zwei Vorteile: Zum einen wird man damit dem Phänomen Süchtigkeit gerecht, da Süchtigkeit sich nun mal als dieses Moment des affektiven Betroffenseins in primitiver Gegenwart zeigt. Zum anderen ist damit ein therapeutischer Nutzen verbunden: So wie beispielsweise in der Therapie von Essstörungen gesagt wird, dass das essgestörte Verhalten subjektiv sinnvoll ist, 45 so lässt sich auch über das süchtige Verhalten allgemein und das sportsüchtige Verhalten im Besonderen sagen: Es ist subjektiv 43
»Ohne personale Emanzipation bliebe der Mensch tierisch und würde gar nicht zur Person; ohne personale Regression bliebe die Person gleichsam hohl, weil der Aufstand personaler Emanzipation aus der Hinfälligkeit unmittelbaren Betroffenseins dann wie eine abstrakte, einsame Gebärde der Aufrichtung wäre, die den von ihr erzeugten Abstand oder Zwischenraum nicht zu füllen vermöchte.« (Schmitz: System IV, S. 105). 44 Zu den »Niveaus personaler Emanzipation« siehe Schmitz: System IV, S. 24 ff. 45 Vgl. Robert Gugutzer: »Der Körper als Identitätsmedium: Essstörungen«, in: Markus Schroer (Hrsg.): Soziologie des Körper, Frankfurt 2005, S. 323–355.
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sinnvoll, da es das personale Überleben sichert. Dies anzuerkennen, anstatt das sportsüchtige Verhalten pauschal zu pathologisieren, scheint mir therapeutisch wertvoll. (c) Auf der Grundlage der vorliegenden Überlegungen von Hermann Schmitz zur Sucht lässt sich sagen, dass Sportsucht a) ein leibliches Phänomen ist, nämlich das Versinken in leiblicher Intensität, sowie b) ein Aspekt der Person, nämlich das Versinken in primitive Gegenwart qua personaler Regression. In der Sportsucht sind mit anderen Worten Leiblichkeit und Personalität auf suchtspezifische Weise verschränkt. Damit ist nun zwar der Grundstock für eine Neophänomenologie der Sportsucht gelegt, mehr aber auch noch nicht. Notwendig erscheint mir eine Fortführung dieser Grundlagen in mindestens drei Richtungen. Erstens müsste das Verständnis von Süchtigkeit als leibliches Phänomen konkretisiert werden. Zu sagen, Sucht ist gesteigerte leibliche Intensität, geht phänomenologisch nicht weit genug. Wenn leibliche Intensität als simultanes Zusammenwirken von Spannung und Schwellung definiert wird, dann ist davon auszugehen, dass dieses Zusammenwirken von Spannung und Schwellung je nach Sportart differiert. Die Suchterfahrung eines Triathleten unterscheidet sich sehr wahrscheinlich von jener eines Bodybuilders, Basejumpers oder Apnoetauchers – und zwar deshalb, weil sich das spürbare simultane Zusammenwirken von Spannung und Schwellung in der sportarttypischen körperlichen Bewegung unterscheidet. Das süchtig machende intensive Erlebnis eins 100-Kilometer-Laufs ist ganz sicher ein anderes als das süchtig machende intensive Erlebnis eines zehn Sekunden dauernden Sprungs mit dem Fallschirm von einem Hochhaus. Der Grund liegt darin, dass Laufen und Fallen unterschiedliche körperliche Praktiken und unterschiedliche leibliche Erfahrungen sind. Verallgemeinert heißt das: Im Hinblick auf sportsüchtiges Verhalten und Erleben ist es erforderlich, die sportartspezifische Verschränkung von Körper bzw. körperlicher Bewegung und Leib zu berücksichtigen und von da ausgehend die süchtig machende leibliche Intensität zu beschreiben. Zweitens reicht es für das Verständnis jeder Sucht und so auch der Sportsucht nicht hin, sie lediglich auf der Ebene primitiver 156 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Leiblichkeit und Personalität in der Sportsucht
Gegenwart zu verorten. Sportsüchtig werden und bleiben Menschen nicht, weil ihnen ihr Sport wiederholt Gelegenheiten personaler Regression bietet. Um zu verstehen, wie ein Mensch in eine Sportsucht gerät und an ihr festhält, ist es notwendig, sie gleichermaßen auf der Ebene der entfalteten Gegenwart zu thematisieren. Eine Hermeneutik der Sportsucht, der es um das Verstehen dieses Verhaltens geht, bedarf daher der Analyse sportsüchtigen Verhaltens als Teil der »persönlichen Situation« inklusive deren Einbettung in für die Person relevante »gemeinsame Situationen«. 46 In den Blick kommen damit die Lebensgeschichte und der lebensweltliche Kontext der sportsüchtigen Person. Drittens, da die Selbst- oder Fremdzuschreibung eines Verhaltens als »süchtig« immer nur innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes erfolgt, der bestimmt, welches Ausmaß sportlicher Aktivität als »normal« oder »anormal«, »maßlos«, »exzessiv« oder »suchtähnlich« gilt, bedarf eine Neophänomenologie der Sportsucht der Berücksichtigung der sportsuchtrelevanten »Programme« (und der daraus folgenden »Probleme«) der je persönlichen wie auch der gemeinsamen Situation 47 (Familie, Milieu, Sport, Kultur). Ob die Person selbst ihr Verhalten als süchtig bewertet, hängt von den programmatischen Erwartungen, Vorstellungen und Leitbildern ab, an denen sie sich in ihrer sportlichen Praxis 46
Zum Begriff der »Situation« siehe Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 21–28. Siehe auch Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung (Situationen Konstellationen), Freiburg/München 2005, Kap. 1; vgl. dazu Michael Großheim: »Der Situationsbegriff in der Philosophie. Mit einem Ausblick auf seine Anwendung in der Psychiatrie«, in: Dirk Schmoll/Andreas Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen, Freiburg/München 2005, S. 114–149. 47 Eine Situation ist Schmitz zufolge »charakterisiert durch Ganzheit (d. h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusität dieser Bedeutsamkeit in der Weise, daß die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) nicht sämtlich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind« (Schmitz: Situationen Konstellationen, S. 22). Diese Definition gilt sowohl für gemeinsame als auch die persönliche Situation.
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orientiert. Je nach Bezugsgruppe wird die Selbsteinschätzung, ob das eigene Sportprogramm »normal« oder »extrem« ist, variieren: Verglichen mit Hobby- und Nichtsportlern eher »extrem«, verglichen mit Profisportlern »eher normal bis wenig«. Letzteres verweist des Weiteren auf die Notwendigkeit, den Blick ebenso auf die Programmstruktur der Sportsucht als überindividuelle Situation zu richten: Nimmt man allein das Ausmaß und die Intensität der Sportausübung als Anhaltspunkt, läge die Vermutung nahe, dass es im Profisport sehr viele Sportsüchtige gibt. Diese Annahme ist jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit falsch (empirische Daten gibt es dazu keine). Der programmatische Kontext (Erwartungen, Verpflichtungen, Regeln, Einstellungen) des Profisports enthält andere Normalitätsmaßstäbe als jener des Breiten- und Freizeitsports, weshalb die Suchtfrage nicht nur anders beantwortet, sondern bereits anders gestellt werden muss. Wie auch immer Frage und Antwort aussehen, offenkundig ist, dass eine Neophänomenologie der Sportsucht beidem nachzugehen hat. 3.
Fallbeispiel »Carina Hofmann«
Vor dem Hintergrund der bisherigen theoretischen Ausführungen soll das folgende Fallbeispiel einen empirischen Einblick in das subjektive Erleben und Werden einer Sportsucht liefern. Die Person, um die es dabei geht, Carina Hofmann 48, ist zum Interviewzeitpunkt 53 Jahre alt, seit mehr als 30 Jahren mit demselben 48
Carina Hofmann ist ein Codename; auch alle im Weiteren genannten Personen- und Ortsnamen sind anonymisiert. Carina Hofmann stellte sich nach einem Vortrag zum Thema Sportsucht als Interviewpartnerin zur Verfügung, da sie den Eindruck hatte, eine »Betroffene« zu sein. Das Interview wurde in Anlehnung an das »problemzentrierte Interview« von Witzel (vgl. Andreas Witzel: »Das problemzentrierte Interview«, in: Gerd Jüttemann (Hrsg.): Qualitative Forschung in der Psychologie. Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder, Weinheim 1985, S. 227–256) durchgeführt und dauerte 158 Minuten. Es wurde mit einem digitalen Aufnahmegerät aufgezeichnet und anschließend vollständig transkribiert. Zitate aus dem Interview erfolgen mit Verweis auf die entsprechenden Zeilennummern des Transkripts.
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Leiblichkeit und Personalität in der Sportsucht
Mann verheiratet, mit dem sie eine gemeinsame Tochter im Alter von 28 Jahren hat. Carina Hofmann hat ein Universitätsstudium absolviert und wurde in einem geisteswissenschaftlichen Fach promoviert; sie war immer, mal in Vollzeit, mal in Teilzeit, berufstätig. Ihre Sportkarriere begann im Schulalter: Zunächst betrieb sie Leichtathletik, als Jugendliche kamen Volleyball und Tennis hinzu, später noch Mountainbiking sowie Fitness- und Krafttraining. Zum Zeitpunkt des Interviews sind ihre Hauptsportarten Laufen und Krafttraining, im Sommer außerdem Tennis, Schwimmen, Mountainbiking und Fahrradfahren. Ihr tägliches Trainingspensum beträgt im Sommer »vier bis sechs Stunden« (Z. 1672), im Winter etwas weniger. (a) Carina Hofmann bezeichnet sich selbst als sportsüchtig, was sie vor allem an der »Zwanghaftigkeit« festmacht, mit der sie ihren Sport erlebt. Sie empfindet ihre Zwanghaftigkeit als ein Stück »Unfreiheit« (Z. 321), weil sie von ihr immer wieder in ihrem Alltag »beeinträchtigt« (Z. 1321) wird. In dem folgenden Zitat nennt sie ein hierfür typisches Beispiel: »[…] es scheint so zu sein, als gibt es einen Trieb und einen Antrieb in mir, den ich auch nicht überkommen kann unbedingt, der mir auch Probleme macht. Das fing damals schon an, wenn irgendwas anderes sich in die frühen Morgenstunden geschoben hat und ich gehindert wurde beispielsweise wenn Freunde über Nacht kamen oder aus meiner [Name einer Stadt]-Zeit kamen ja auch öfters Leute, da hab ich schon überlegt zwanghaft, wie mache ich das, dass ich aufstehe, ohne dass die das merken und noch schnell laufen gehe und zurückkomme und so tue als wär nichts gewesen […].« (Z. 294–300)
Carina Hofmann spricht von einem »Trieb« bzw. »Antrieb« zum Sporttreiben, der ihr immer dann Probleme bereite, wenn sie ihn nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen ausleben kann. Mit Schmitz lässt sich dieser Trieb als ein »unwillkürliches Drängen nach einem Verhalten« bezeichnen, »dessen Erfolg die leibliche Ökonomie aus einem relativ unstabilen in einen relativ stabilen Zustand versetzt«. 49 Carina Hofmanns Drang zum Laufen 49
Schmitz: System II/1, S. 125.
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Robert Gugutzer
ist »unwillkürlich«, da der Drang sie wie eine externe Macht leiblich übermannt und zu einem bestimmten Verhalten ›zwingt‹. Der Drang macht sich subjektiv als leibliche »Unruhe« bemerkbar, die Carina Hofmann nur auf eine Weise abzustellen vermag, nämlich durch eine körperliche bzw. sportliche Aktivität. Dafür nimmt sie psychische und soziale Belastungen wie Heimlichkeiten und Täuschungen anderer in Kauf. Carina Hofmann berichtet im Interview, dass sie von klein auf diesen Bewegungsdrang hatte und ihn schon immer im Sport kanalisiert habe. Ihr Bewegungsdrang ist ihr ein treuer Lebensbegleiter, oder wie man im Anschluss an Schmitz sagen kann, eine »leibliche Disposition«, die »in hohem Maß Schicksal und Artung der Persönlichkeit« 50 von Carina Hofmann bestimmt. Zweifelsohne hat der Bewegungsdrang von Carina Hofmann schicksalshaften und persönlichkeitsformenden Charakter, gleichwohl stellt er für sich genommen noch kein Problem dar. Sofern es die Umstände erlauben und sie ihrem Bewegungsdrang nachgeben kann, ist alles in Ordnung. Zum Problem wird der leibliche Drang zum SichBewegen erst dann, wenn er auf eine bestimmte Situation trifft, deren Programmatik – ihre zumeist impliziten Normen, Regeln, Ge- oder Verbote – eine sportliche Aktivität nicht vorsieht. Für Carina Hofmann liegen solche Situationen regelmäßig dann vor, wenn sie Besuch von Freunden hat oder selbst bei Freunden übernachtet und sie nicht, wie üblich, zu früher Morgenstunde joggen kann. Offensichtlich haben solche Situationen für sie einen programmatischen Gehalt im Sinne von ›Du sollst Deine Freunde frühmorgens nicht stören‹, ›Deine Freunde dürfen es nicht mitbekommen, dass Du bereits vor dem Frühstück joggst‹ oder Ähnliches. Erst aufgrund dieses situationsspezifischen Programms wird aus dem leiblichen Phänomen »Bewegungsdrang« ein Problem, dem sie selbst den Namen »Zwang« gibt und unter dem sie spürbar leidet. (b) Neben den negativ bewerteten Leidensmomenten erlebt Carina Hofmann auch positiv bewertete. Diese lassen erkennen, worin die subjektive Bedeutsamkeit sportsüchtigen Verhaltens 50
Schmitz: System IV, S. 315.
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Leiblichkeit und Personalität in der Sportsucht
liegt. Es sind dies Momente hoher leiblicher Intensität, die aus einer besonderen körperlichen Anstrengung resultieren. Das eindrücklichste Beispiel, das Carina Hofmann hierfür liefert, ist die Schilderung ihrer »extremen Moutainbikingphase« (Z. 1157), die so extrem war, dass sie, wie sie sagt, »zwei Mal einen Nervenzusammenbruch, oder Körperzusammenbruch« (Z. 1162 f.) hatte: »[…] das hab ich SO übertrieben hm, weil das bei dem Mountainbikefahren bin ich anders als beim Laufen immer mal in so Phasen gekommen mit so’m Kick, also ’nen wirklichen Endorphin-Kick, ich bin gefahren=gefahren=gefahren nach eineinhalb Stunden bin ich auf einmal den Berg hochgeflogen, obwohl ich meinte ich, es geht doch eigentlich nicht mehr. Und das war schon toll, das wollte ich dann auch ab und zu mal haben. […] Ja das war ein Rausch, das war unglaublich […] da hatte ich dann zweimal kam ich nach Hause und o’n- es war nur noch schwarz um mich herum, also ich konnte äh f=f=f also ging gar nichts fünf Tage.« (Z. 1199–1211) 51
Carina Hofmann wählt für die Beschreibung jenes außergewöhnlichen Empfindens die im Sportkontext üblichen Vokabeln »Kick« bzw. »Endorphinkick« und »Rausch«. In diese leiblich intensiven Zustände ist sie durch die körperliche Anstrengung beim Mountainbikefahren geraten. Außergewöhnlich waren diese Erlebnisse dabei deshalb, weil es gewissermaßen zu einer Entkopplung von Körper und Leib gekommen war: Die erwartbare Korrespondenz von körperlicher Anstrengung und leiblicher Erschöpfung blieb nämlich aus. Carina Hofmann ist den »Berg hoch geflogen«, wo doch nach »anderthalb Stunden« eigentlich das Gegenteil zu erwarten gewesen wäre: statt »fliegender Leichtigkeit« so etwas wie nach unten ziehende, erdende Schwere. Diese ganzheitliche leibliche Regung des den-Berg-Hochfliegens war für sie so »toll«, so rauschhaft, dass sie sie gern öfter empfunden hätte. Diese Empfindung hatte offenbar Suchtpotenzial. Interessant an dem Zitat von Carina Hofmann ist ebenfalls, dass sie auf den Unterschied zwischen Laufen und Mountainbiken hinweist: Momente gesteigerter leiblicher Intensität erlebt 51
Wörter mit »=« verbunden sind schnell gesprochen, Wörter in Großbuchstaben sind betont gesprochen.
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Robert Gugutzer
sie beim Mountainbiken, nicht jedoch beim Laufen. Die körperliche Bewegung und Anstrengung dieser beiden Sportarten ist augenscheinlich so verschieden, dass die daraus resultierenden leiblichen Empfindungen ebenfalls verschieden sind. Darauf weist Carina Hofmann auch an einer anderen Stelle im Interview hin, die zudem verdeutlicht, dass es in leiblicher Hinsicht Klassen von Sportarten gibt, die in der üblichen Körperperspektive auf den Sport undenkbar sind bzw. unentdeckt bleiben: »[…] hat es mir auch wieder geholfen abzuschalten und nicht zu denken. Und gerade das Mountainbikefahren, also da war beim Mountainbikefahren war noch mehr als beim Laufen das Gefühl, der Kopf ist einfach leer, also das das ist einfach nur noch leer, und das wollte ich schon […] übrigens das Krafttraining, das kann einem auch manchmal helfen, den Kopf leer zu kriegen. […] man muss sich auch tatsächlich da auf einzelne Muskelgruppen konzentrieren, und man spürt dann natürlich auch diesen einzelnen Muskel und man spürt die Durchblutung und man wie die wie die wie die Anspannung ansteigt, und man kann dann auch in der Tat nichts anderes denken. Aber beim Mountainbikefahren geht das auch, und zwar sowohl bergauf als auch bergab.« (Z. 2158–2186)
Mountainbiken und Krafttraining werden hier als zwei körperliche Praktiken beschrieben, die, anders als das Laufen, offenkundig leiblich verwandt sind. Obwohl Mountainbiken und Krafttraining in körperlicher Hinsicht sehr verschieden sind, sind sie sich in leiblicher Hinsicht anscheinend sehr nah: Beide ermöglichen es nämlich, dass »der Kopf leer« wird. Seinen »Kopf leer zu bekommen« heißt, an nichts mehr zu denken, keine Gedanken mehr zu haben, nicht mehr Verstand, sondern ganz Leib zu sein – kurz: aus entfalteter Gegenwart in primitive Gegenwart abzusinken. Verallgemeinert bedeutet das: Sobald die körperlich-muskuläre Anspannung beim Mountainbiken und Krafttraining ein gewisses leibliches Intensitätsniveau erreicht hat, 52 die schwellende 52
Vgl. dazu die Bemerkung von Schmitz zum am eigenen Leib gespürten Druck als Beispiel für leibliche Intensität, insofern »dabei Spannung und Schwellung merklich simultan konkurrieren, etwa in der bei aktivem Druck spontanen und bei passivem Druck reaktiv schwellenden Spannung in den Muskelgebieten […].
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Leiblichkeit und Personalität in der Sportsucht
Spannung oder spannende Schwellung beim Bergauftreten oder beim Gewichteheben leiblich kaum mehr auszuhalten ist, führt dieses simultane Zusammenwirken von Spannung und Schwellung dazu, dass das Dasein in entfalteter Gegenwart momentoder phasenweise ausgeschaltet ist. Wie es scheint, ist genau dieses zeitweise Absinken in primitive Gegenwart für Frau Hofmann so attraktiv, dass sie danach dürstet, wie man im Anschluss an Schmitz’ Suchtdefinition sagen kann. (c) Um zu verstehen, wie jemand sportsüchtig wird und bleibt, reicht es nun allerdings nicht hin, das sportsüchtige Verhalten damit zu erklären, dass es wiederholt leiblich intensive Erfahrungen ermöglicht. Verstehen lässt sich sportsüchtiges Verhalten nur, wenn man das »Ineinanderwirken personaler Emanzipation und Regression« 53 berücksichtigt, mit anderen Worten, die persönliche Situation des Einzelnen, die sich nach Schmitz allgemein aus dem Zusammenspiel von »persönlicher leiblicher Disposition« 54 und dem »persönlichen Charakter« 55 entwickelt. Ein wichtiger Teil des persönlichen Charakters ist die »Erinnerung«, die sich Schmitz zufolge vor allem um so genannte »Kristallisationskerne« herum bildet. 56 In der erzählten Erinnerung von Carina Hofmann finden sich mehrere Beispiele für solche biograBeispiele liefert die beim Tauziehen oder dann, wenn ein schweres Gewicht auf dem Körper liegt, am eigenen Leib gespürte Intensität« (Schmitz: System II/1, S. 116). 53 Schmitz: System IV, S. 287. 54 Leibliche Disposition bezeichnet »ein relativ beharrendes, obwohl der Wandlung fähiges ›Klima‹ ganzheitlicher leiblicher Regungen, das das leibliche Befinden einer Person eigentümlich tönt und für diese schicksalshaft ist.« (Hermann Schmitz: »Phänomenologie der Leiblichkeit«, in: Hilarion Petzold (Hrsg.): Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven, Paderborn 1985, S. 71–106, hier S. 101); Ausführlich zur leiblichen Disposition siehe Schmitz: Sytem IV, S. 291–296 und 315–346. Ergänzend zu Schmitz könnte man den für Sportsüchtige zentralen Bewegungsdrang als einen Aspekt der leiblichen Disposition bezeichnen. Der Bewegungsdrang einer sportsüchtigen Person ist eine »vitale Qualität des Antriebs«, die »in hohem Maß Schicksal und Artung der Persönlichkeit« des Sportsüchtigen bestimmt (Schmitz: System IV, S. 315). 55 Vgl. Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 75; ursprünglich siehe Schmitz: System IV, § 270. 56 Schmitz: System IV, S. 359–367.
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fisch relevanten Kristallisationskerne, die zuvorderst mit ihrem Vater, sodann mit ihrem Ehemann zu tun haben. Gemeinsam ist diesen biografisch relevanten Kristallisationskernen ihr hoher Gehalt affektiven Betroffenseins. 57 So erzählt Carina Hofmann von einem prägenden Ereignis mit ihrem Vater, den sie, wie sie sagt, immer »idealisiert und vergöttert« (Z. 542 ff.) habe. Ihr Vater war früher Zehnkämpfer und dadurch sehr muskulös, zugleich war er sehr intelligent und von vielen Frauen umschwärmt. Carina Hofmann sagt: »[…] mir fällt jetzt gerade ’ne Szene ein, die mich garantiert also dem Sport noch sehr viel zugänglicher gemacht hat. Das äh als ich in der Pubertät war, mein Vater mal zu mir gesagt hat, und das meinte er GANZ NETT dass er gesagt hat ›Ach, unser Kind kriegt jetzt auch Hüften‹ hkünstlich erhöhte Stimmei oder sowas. Ja also hat ’ne Bemerkung gemacht, dass ich meine kindliche Figur verliere und mir liefen SOFORT die Tränen und ich war so AUFGEBRACHT und WÜTEND da drüber […].« [Z. 1956–1960]
Auf die Nachfrage des Interviewers, warum das so schlimm für sie gewesen sei, antwortete Carina Hofmann: »[…] ich weiß jetzt nicht mehr genau, ob die alle schmalhüftig waren oder so aber, ähm ich wollte, k=klar war, so wie meine Mutter will ich auf keinen Fall sein, weil ich WILL ja intelligent sein und ich will schön sein und ich will äh äh will meinem will so’n Typ Mann wie mein Vater gefallen, und das tat meine Mutter in meinen Augen offensichtlich nicht mehr […].« [Z. 1982–1986]
57
Vgl. Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 167. Während Schmitz das affektive Betroffensein der Erinnerung auf die in der Vergangenheit erlebte Situation bezieht, habe ich zugleich das affektive Betroffensein in der gegenwärtigen Erinnerung betont. Man kann damit von einer doppelten leiblichen Erinnerung sprechen, die für die »biographische Identität« relevant ist: »Die in der Erinnerung aktualisierten vergangenen Erfahrungen und Erlebnisse dürften […] umso wichtiger für die Identität sein bzw. werden, je stärker das Individuum von diesen Erlebnissen wie auch von der Erinnerung an sie leiblich-affektiv betroffen (gewesen) ist.« (Robert Gugutzer: Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologischsoziologische Untersuchung personaler Identität, Wiesbaden 2002, S. 104).
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Die Vorstellung, breite Hüften zu bekommen, war für Carina Hofmann in Schmitz’ Terminologie ein »programmatisches Schreckbild« 58, da sie mitbekommen hatte, wie wenig freundlich ihr Vater mit ihrer Mutter umging, die breite Hüften hatte, während die Frauen, die ihren Vater umschwärmten, genauso wie dessen sieben Schwestern allesamt schmalhüftig waren. Carina Hofmann dachte und fühlte, schmalhüftig und kleinbusig sein zu müssen, um für von ihr bewunderte Männer wie ihren Vater attraktiv zu sein. Zu den »prospektiven Zügen« 59 der persönlichen Situation von Carina Hofmann gehörte von früher Jugend an daher der Versuch, ein bestimmtes, von ihr so genanntes »spätmodernes Körperidealbild« zu realisieren, nämlich schmal, schlank und muskulös zu sein. Ein solches Körperidealbild zu verwirklichen, sei »nicht nur ein Geschenk«, so Carina Hofmann, »sondern das ist eine permanente Sorge«, für die es vor allem mit zunehmendem Alter eines »gewissen Trainingsaufwands« (Z. 443–448) bedürfe. Zur Seite steht ihr dabei seit 30 Jahren ihr Ehemann. Ihr Ehemann teilt dasselbe Körperidealbild und ist ähnlich sportlich aktiv wie sie. Beide definieren sich und ihre Beziehung über ihre Körperlichkeit: »[…] unsere ganze Beziehung war immer stark mit dieser Körperlichkeit und mit Sexualität verbunden und fru- und mit der gegenseitigen Freude an so ’nem schönen, meinetwegen auch wirklich, jedenfalls für den anderen immer sehr attraktiven Körper. Und insofern hat er nie was unternommen um mich äh äh irgendwie daran zu hindern […].« (Z. 1921–1925)
An mehreren Stellen des Interviews wird deutlich, dass der Mann von Carina Hofmann nicht nur nichts unternommen hat, sie in ihrem exzessiven Sporttreiben zu bremsen, sondern sie darin gefördert hat. Augenfällig wird das besonders an Situationen, die von Carina Hofmann auf eine Weise erzählt werden, als seien sie kaum der Rede wert. So berichtet sie zum Beispiel davon, dass ihr 58 59
Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 75. Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 75.
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Mann ihr einmal zu Weihnachten eine Monatskarte für ein zweites Fitnessstudio geschenkt habe, damit »ich noch schneller [zum Trainieren; R. G.] äh damit ich nicht etwa mal sage, ich setze jetzt mal aus« (Z. 1869). Nach einem Krankenhausaufenthalt wegen eines Knöchelbruchs wiederum erzählte sie ihrem Mann, dass sie nun erst mal viel liegen und ruhen müsse, woraufhin dieser meinte, »›du kannst ja ein bisschen Gewichtetraining machen, so für den Oberkörper wenigstens‹ is losgedüst und hat mir zwei Hanteln gekauft und hat mir gezeigt, was ich so bisschen Hanteltraining machen kann« (Z. 1550–1552). Zusammenfassend kann man sagen: Die persönliche Situation von Carina Hofmann ist eingebettet in die gemeinsame Situation mit ihrer Herkunftsfamilie und mit ihrem Lebenspartner, die beide durch ganz ähnliche Sachverhalte (z. B. »Sport gehört zu unserem Leben«), Programme (z. B. Leistungsethik, Disziplin, Körperkult) und Probleme (z. B. Sorge um Figur, Konflikte wegen des Sports) gekennzeichnet sind. Nur wenn man dieses vielschichtige Verwobensein von personaler und gemeinsamer Situation analysiert, hat man eine Chance zu verstehen, wie die Person Carina Hofmann sportsüchtig werden konnte. 4.
Fazit
An einem Fall wie jenem von Carina Hofmann lässt sich exemplarisch erkennen, wie wichtig es ist, die Analyse einer Sportsucht nicht auf biologische und/oder psychologische Faktoren zu beschränken. Wendete man die in Sportmedizin und -psychologie vorherrschenden Diagnosemerkmale auf Carina Hofmann an, würde das Ergebnis unweigerlich lauten, dass hier eine Sportsucht vorliegt, weil mindestens die Symptome Kontrollverlust (Störung der Impulskontrolle), hoher Aufwand, Kontinuität und soziale Konflikte feststellbar sind. In medizinisch-psychologischer Hinsicht handelte es sich damit um ein pathologisches Verhalten, das es entsprechend therapeutisch zu behandeln gilt. Eine solche Auffassung wird der Person Carina Hofmann nicht gerecht. Zwar ist es wohl angemessen, sie als sportsüchtig 166 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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zu bezeichnen, jedoch unangemessen, sie als krank zu etikettieren. Auch wenn Carina Hofmann an ihrem Sport, vor allem ihrem Bewegungsdrang, immer wieder leidet und ihr die daraus resultierenden Nachteile bewusst sind, z. B. die damit einhergehende Unfreiheit, empfindet sie ihre Sportsucht keineswegs als behandlungsnotwendige Krankheit. Ihre Sportsucht ist für sie eine akzeptierte, ja, positiv bewertete 60 subjektive Tatsache – während sie für Medizin und Psychologie eine objektive, negativ bewertete Tatsache ist –, die Teil ihrer persönlichen Situation und in eine dazu passende gemeinsame Situation eingebettet ist. Das zu ignorieren, hieße, die Person Carina Hofmann nicht ernst zu nehmen. Eine solche Deutung widerspricht der herrschenden Lehre der Sportsuchtforschung, der zufolge Sportsucht – wie jede Sucht – per Definition etwas Negatives ist. Verzichtet man jedoch auf einen definitorischen Zugang und wählt stattdessen einen am Einzelfall ansetzenden phänomenologischen Zugang, ist es nicht nur nicht notwendig, sondern unangemessen, vorab zwischen positiver oder negativer Sucht zu entscheiden. Das Erkenntnisziel einer solchen Herangehensweise besteht nämlich darin, den Einzelfall zu verstehen, statt ihn deduktiv-nomologisch zu erklären, und am Einzelfall die Suchtqualität zu klären. Dafür ist es unabdingbar, die ›ganze‹ Person, ihre Lebensgeschichte und ihren lebensweltlichen Kontext, in den Augenschein zu nehmen. Es ist entscheidend, ihre Leiblichkeit und Personalität, und nicht nur ihren Körper und ihre Psyche, zu betrachten. Um es in den Worten des Psychiaters Michael Schmidt-Degenhard zu sagen: Es bedarf einer »interpretativen Situageneseforschung«, der es um das einzelfallspezifische Verstehen der »Komplexität und Dynamik des Phänomens« 61 geht. 60
Positiv an ihrer Sportsucht sei, so Carina Hofmann, dass sie im Unterschied zu den meisten anderen Frauen mit ihrer Figur und ihrem Aussehen sehr zufrieden ist, sich nicht zwingen müsse, Sport zu treiben, und vor allem: »[…] ich kann eigentlich genussvoll essen, also ich kann essen, ich kann ich hab ’nen erhöhten Kaloriengebrau= äh ver= äh äh Verbrauch und statt den Frauen-üblichen 2000 Kalorien die ich zu mir nehmen könnte, wenn ich denn keinen Sport treiben würde, kann ich 3000 essen.« (Z. 1364–1367). 61 Michael Schmidt-Degenhard: »Interpretative Situageneseforschung«, in: Dirk
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Robert Gugutzer
In diesem Sinne wurde hier die Neue Phänomenologie als Methode genutzt, um damit zu einer Hermeneutik sportsüchtigen Erlebens und Verhaltens zu gelangen. Ein solcher Fokus auf die Sportsucht als subjektive Tatsache, auf das damit verbundene leibliche Sich-Erleben sowie auf die persönliche und gemeinsame Situation, in welche die je individuelle Sportsucht inkludiert ist wie sie gleichermaßen deren Ausdruck ist, erscheint als unabdingbare Notwendigkeit, um dieses vermeintlich irrationale Verhalten zu verstehen und gegebenenfalls anschließend intervenierend einzugreifen.
Schmoll/Andreas Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen, Freiburg/München 2005, S. 150–165, hier S. 161.
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Isabella Marcinski
Hunger, Schmerz, Ekel, Frieren: Leib und Körper in der Anorexie
1.
Einleitung
Die Essstörung Anorexia nervosa wurde 1873 als Krankheitsbild eingeführt, doch erst ab den 1960er und 70er Jahren stieg die Zahl der Veröffentlichungen und der diagnostizierten Fälle massiv an. Die Anorexie entwickelte sich zu einer »Modekrankheit«, die von Beginn an primär junge weiße Frauen aus den gebildeten Mittelschichten westlicher Gesellschaften betraf. 1 Charakteristisch für die Anorexie ist eine massive Selbstaushungerung, bei der eine strikte Diät zu einem teilweise völligen Nahrungsverzicht führen kann und schließlich mit einem starken Gewichtsverlust und Untergewicht einhergeht. Die für die Psychiatrie und Psychotherapie geltenden Diagnosemanuale des ICD-10 und DSM-V legen die weiteren Diagnosekriterien fest, die die Betroffenen erfüllen müssen, damit ihre Selbstaushungerung als Anorexia nervosa diagnostiziert wird. Neben Hyperaktivität und exzessivem Sport gilt die verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Körpermaße als zentrales Symptom. Hierunter fällt die Annahme, Anorektikerinnen würden sich als zu dick wahrnehmen, was meist mit dem Bild einer sich im Spie1
Karen Margolis: Die Knochen zeigen. Über die Sucht zu Hungern (Knochen), Berlin 1985, S. 8. Die epidemiologische Forschung geht davon aus, dass circa 90 % der Betroffenen Frauen sind. Vgl. Annette Kersting: »Essstörungen« (Essstörungen), in: Anke Rohde/Andreas Marneros (Hrsg.): Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie. Ein Handbuch, Stuttgart 2007, S. 178–183. Daher werde ich im Folgenden von Anorektikerinnen sprechen. Die Forschung beschäftigt sich in den letzten Jahren allerdings auch zunehmend mit Essstörungen bei jungen Männern.
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Isabella Marcinski
gel betrachtenden jungen Frau verdeutlicht wird. Als weitere Diagnosekriterien werden ein Streben nach Schlankheit, Ängste, dick zu werden, die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und schließlich eine immense Bedeutung des Körpers für das eigene Selbstwertgefühl genannt. Alle diese Merkmale werden auch als Körperschema- und Körperbildstörung zusammengefasst. 2 Die bisherige human- und sozialwissenschaftliche Forschung konzentriert sich auf diese körperlichen und psychischen Symptome. Mit der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz kann dem leiblichen Erleben der Betroffenen nachgegangen werden, das bisher eine Lücke in der Forschung zur Anorexie sowie zu psychischen Krankheiten generell darstellt. 3 Im Folgenden soll an2
Das ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) wird von der WHO herausgegeben und ist das international wichtigste Diagnoseklassifikationssystem für die Medizin. Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) wird von der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung publiziert. Beide Klassifikationssysteme sind seit ihren Anfängen zahlreicher Kritik ausgesetzt. Diese betrifft vor allem die positivistische Klassifizierung von Krankheitsentitäten, die durch eine Liste von Symptomen identifizierbar seien. Vgl. zu den Diagnosekriterien: American Psychiatric Association: »Feeding and Eating Disorders – DSM 5«, unter: http://dsm5.org/Documents/Eating%20 Disorders%20Fact%20Sheet.pdf (Stand: 15. 06. 2013); Katherine Ann Halmi: »Eßstörungen«, in: Hanfried Helmchen et al. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart. Erlebens- und Verhaltensstörungen, Abhängigkeit und Suizid, 6. Band, 4. Auflage, Berlin, Heidelberg 2000, S. 331–353; Kersting: Essstörungen; WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, Bern 2010, S. 216 ff. Der für eine Diagnose notwendige Gewichtsverlust wird unterschiedlich angegeben. Statt der Abmagerung geriet außerdem zunehmend die Angst vor dem Dicksein in den Vordergrund. Dies verweist auf die Dominanz der Körperbildstörung und damit der affektiven Dimensionen als Diagnosekriterien, die im DSM-V, das im Mai 2013 erschienen ist, im Fokus liegen. Im DSM-V wird außerdem die Amenorrhoe nicht mehr als Diagnosekriterium genannt, was unter anderem mit der Gültigkeit der Kriterien für Männer begründet wird. 3 Vgl. ausführlich auch Isabella Marcinski: Anorexie – Phänomenologische Betrachtung einer Essstörung, Freiburg 2014. Hermann Schmitz wurde bisher allein im deutschsprachigen Raum in der Psychiatrie und Psychotherapie rezipiert und auch hier nur vereinzelt. In den englischsprachigen Ansätzen einer phänomenologisch orientierten Psychiatrie greifen die Autor_innen vor allem auf Martin
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Hunger, Schmerz, Ekel, Frieren
hand von Schilderungen von Betroffenen in autobiographischen Texten das Erleben in der Anorexie beschreiben werden – mit der Leibphänomenologie von Schmitz und zugleich über diese hinausgehend. Dabei wird sich zeigen, dass Schmitz’ Kategorien des eigenleiblichen Spürens hervorragend geeignet sind, um das anorektische Erleben zu rekonstruieren. Es werden sich jedoch auch Grenzen der Neuen Phänomenologie abzeichnen, die vor allem die Thematisierung der sozialen und kulturellen Dimensionen betreffen. Diese Grenzen lassen sich besonders gut am Beispiel der Essstörung Anorexie zeigen, da sie als ein kulturgebundenes Syndrom gilt und damit konstitutiv auf ihren soziokulturellen Kontext bezogen ist. Kulturell spezifische Körperund Selbstpraktiken sowie wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse zu Essstörungen prägen demnach auch das Erleben und Erzählen der Betroffenen. Daher werde ich in meiner Beschreibung der Anorexie die leibphänomenologischen Überlegungen um Perspektiven erweitern, die von der zentralen Bedeutung von Diskursen, Normen, Praktiken und gesellschaftlichen Transformationen für (Krankheits-)Erfahrungen ausgehen. Ich werde im Folgenden zunächst mit einigen Vorbemerkungen zur Leibphänomenologie von Schmitz und seinem Verständnis von psychischen Krankheiten beginnen sowie das Genre der autobiographischen Texte vorstellen, das der leibphänomenologischen Beschreibung als Quelle dienen soll. Anschließend komme ich mit der Beschreibung des leiblichen Erlebens in der Anorexie zum Hauptteil dieses Beitrags. Im Resümee sollen Möglichkeiten Heidegger, Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre zurück. Der Fokus der Untersuchungen, sowohl im deutschsprachigen als auch englischsprachigen Raum, liegt bisher auf der Schizophrenie und Depression. Vgl. beispielsweise: Thomas Fuchs: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie (Leib), Stuttgart 2000; Matthew Ratcliffe: Feelings of being. Phenomenology, psychiatry and the sense of reality, Oxford 2008; Jan Slaby/Achim Stephan: »Depression als Handlungsstörung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60/6, 2012, S. 919–935. Hannah Bowden beschreibt zwar das subjektive Erleben von Anorektikerinnen aus phänomenologischer Perspektive, bezieht sich in ihren Überlegungen jedoch auf die Theorien von Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre. Vgl. Hannah Bowden: »A Phenomenological Study of Anorexia Nervosa«, in: Philosophy, Psychiatry, Psychology 19/3, 2012, S. 227–241.
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Isabella Marcinski
und Grenzen einer Betrachtung der Anorexie aus der Perspektive der Neuen Leibphänomenologie zusammenfassend formuliert werden. 2.
Die Neue Phänomenologie: Leiblichkeit und psychische Krankheiten
Die Neue Phänomenologie nimmt als Leibphänomenologie die Leiblichkeit des Menschen zum Ausgangspunkt und fragt danach, »was Menschen am eigenen Leibe spüren«. 4 Phänomenologische Forschung habe die Aufgabe, so Schmitz, das alltägliche unmittelbare Leiberleben aufzuspüren und dem Denken und Sprechen zugänglich zu machen. Das eigenleiblich Gespürte lasse sich dabei nicht auf Körperliches oder Seelisches zurückführen, sondern konstituiere einen eigenen Phänomenbereich mit einer spezifischen Struktur. Leiblich ist demnach alles das, was ich an mir selbst spüre, so die Definition von Schmitz: »Leiblich ist, was jemand in der Gegend seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig, spüren kann, ohne sich der fünf Sinne, namentlich des Sehens und Tastens, und des aus deren Erfahrungen gewonnen perzeptiven Körperschemas […] zu bedienen.« 5
Die Bestimmung des Leibes erfolgt über seine Abgrenzung zum Körper, über den mir die fünf Sinne, vor allem der Tast- und der Sehsinn, Aufschluss geben. Im Gegensatz zum Körperlichen, das sich naturwissenschaftlich beobachten und beschreiben lässt, wird Leibliches unabhängig von der Einordnung durch die fünf Sinne unmittelbar an seinem Ort gespürt. Bei einem Mückenstich spüre ich beispielsweise ohne hinzusehen die schmerzende Stelle, die gestochen wurde. 6 Die Unterscheidung von Leib und Körper entspricht bei Schmitz damit derjenigen von Spürbarem und sinnlich 4
Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 1. Teil: Der Leib (System II/1), Bonn 1965, S. XIII. 5 Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/ München 2010, S. 35. 6 Dieses Beispiel wird wiederholt von Schmitz genannt, unter anderem in Her-
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Hunger, Schmerz, Ekel, Frieren
Wahrnehmbarem. 7 Das perzeptive Körperschema, das »aus Erfahrungen des Sehens und Tastens gewonnene habituelle Vorstellungsbild vom eigenen Körper«, dominiere jedoch meist unsere eigenleibliche Selbsterfahrung und verdecke so das leiblich Gespürte. 8 Schmitz kritisiert an der bisherigen Phänomenologie, dass diese noch zu sehr von einer Verschränkung von Leib und Körper ausging, während beide Phänomenbereiche vielmehr strikt zu trennen seien. Leibliches lasse sich demnach unabhängig von einem Bezug auf den Körper rekonstruieren. Mit dem Bestehen auf der Eigenständigkeit des leiblichen Spürens geht auch eine Abgrenzung von biographischen Zusammenhängen und soziokulturellen Kontexten einher. Hunger sei beispielsweise immer gleich leiblich spürbar und unterscheide sich nur graduell in der Intensität. Auf diese Trennung von Leib und Körper und die systematische Ausblendung der soziokulturellen Dimensionen wird noch am Ende des Beitrags kritisch einzugehen sein. Schmitz entwickelt von Beginn an mögliche Anwendungen seiner Neuen Phänomenologie in der Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie. Er schlägt die Suche nach pathologischen Veränderungen in der Leiblichkeit als einen dritten Weg hinsichtlich der Diagnostik von Krankheiten vor:
mann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 119. 7 Für Merleau-Ponty sind dagegen die visuelle und taktile Wahrnehmung konstitutive Aspekte unserer Leiblichkeit, weshalb Schmitz Merleau-Ponty unterstellen kann, dieser hätte keinen Leibbegriff. 8 Hermann Schmitz: Der Leib (Leib), Berlin/Boston 2011, S. 21. In seinen späteren Texten unterscheidet Schmitz das perzeptive von dem motorischen Körperschema. In dem Band Der Leib des Systems der Philosophie wird das Körperschema noch als ein rein perzeptives Vorstellungsbild verstanden, das der Perspektive des Körperlichen zugehört. Thomas Fuchs betont, dass das perzeptive Körperschema weniger das eigenleiblich Gespürte verdecke, sondern vielmehr strukturiere. Vgl. Fuchs: Leib, S. 128. In diesem Sinne schreibt auch Schmitz, dass eine Veränderung des perzeptiven Körperschemas eine Modifizierung des leiblichen Befindens bewirke und dies gezielt eingesetzt werden könne. Vgl. Schmitz: System II/1, S. 159. Diese Überlegung wird jedoch leider nicht weiter geführt.
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Isabella Marcinski
»Neben den Krankheitsanlässen im reinen Körper und den seelischen, die auf Entscheidungen, Gefühle oder Vorstellungen zurückgehen, gibt es leibliche Krankheitsgründe, die eventuell spezifische Krankheitsbilder prägen und vielleicht an jedem Krankheitsgeschehen mehr oder weniger beteiligt sind.« 9
Bei psychischen Krankheiten sei von spezifischen in der Leiblichkeit verorteten Krankheitsgründen und Symptomen auszugehen, die vor allem auf eine Zersetzung und Erstarrung in der leiblichen Dynamik zurückzuführen seien. Die Anorexie dient Schmitz bereits 1965 in dem Band Der Leib als Beispiel solcher Störungen der Leiblichkeit. Er widmet ihr einen ganzen Abschnitt, in dem er sich intensiv mit dieser noch relativ neuen und unbekannten Krankheit auseinandersetzt, der erst ab den 1970er Jahren eine öffentliche Aufmerksamkeit zuteilwerden sollte. Neben daseinsanalytischen Ansätzen sind für seine Beschreibung vor allem psychoanalytische Erklärungsmodelle zentral. Dieser Rekurs auf die Psychoanalyse, der trotz starker kritischer Einwände erfolgt, dürfte vor allem an dem sonst noch dürftigen Forschungsstand zur Anorexie gelegen haben. Schmitz’ Darstellung der Anorexie ist sehr schematisch und soll daher ergänzt werden durch seine Beschreibungen von Hunger, Schmerz und Ekel. Zusammen werden sie in einen kritischen Dialog mit autobiographischen Texten von Betroffenen gestellt, um eine Rekonstruktion des anorektischen Erlebens möglich zu machen. 3.
Autobiographisches Schreiben über die Anorexia nervosa
Seit den 1980er Jahren schreiben Frauen in Westeuropa und Nordamerika über ihre Anorexie autobiographische Bücher, in denen das intensive Spüren von Hunger, Schmerz, Ekel und Kälte viel Raum einnimmt. Diese Texte wurden teilweise zu Bestsellern 9
Schmitz: System II/1, S. 255. Diese Formulierung ist ungewöhnlich vorsichtig gehalten und deutet eine Parallelität möglicher Ursachen an.
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Hunger, Schmerz, Ekel, Frieren
und haben sich über die Jahre stark verändert. In den 1980er Jahren artikulierten die Autorinnen noch meist ein politisches Verständnis ihrer Essstörung, begriffen sich als Feministinnen, wiesen Krankheitszuschreibungen von sich und beschrieben ihre Anorexie stattdessen als Hungerstreik. Andere wiederum wussten nichts von der Existenz einer Krankheit namens Anorexia nervosa. 10 Ab den 1990er und vor allem den 2000er Jahren wandelten sich die Texte zunehmend zu einer Ratgeberliteratur, die den Weg der Heilung aus der als Krankheit verstandenen Essstörung weisen möchte. Damit zusammenhängend haben sich auch die Schilderungen der Erfahrung der Krankheit verändert. Die wissenschaftlichen Krankheitsdefinitionen und -deutungen sind zu beständigen Referenzpunkten der Erzählungen der Betroffenen geworden. Sie begreifen sich selbst als Anorektikerinnen und beschreiben sich und ihre Symptomatik in ständiger Abgleichung mit der wissenschaftlichen Literatur, die oft in Fußnoten oder in einem Literaturverzeichnis beigefügt wird. Über den Rekurs auf wissenschaftliche Diskurse vollzieht sich die Herstellung einer spezifischen Krankheitsidentität. Es findet eine positive Identifikation mit dem Krankheitsverständnis statt, die für die Texte in den 1980er Jahren noch undenkbar war. Dieser Trend wird in den letzten Jahren immer stärker, so dass sich die autobiographischen Texte zunehmend gleichen und sich lesen wie aus einem Lehrbuch zur Anorexia nervosa. 11 10
Hier wären folgende Texte als Beispiele zu nennen: Maria Erlenberger: Der Hunger nach Wahnsinn. Ein Bericht (Hunger), Reinbek bei Hamburg 1980; Andrea Graf: Die Suppenkasperin. Geschichte einer Magersucht, Frankfurt 1985; Sheila MacLeod: Hungern, meine einzige Waffe. Ein autobiographischer Bericht über die Magersucht (Hungern), München 1983; Margolis: Knochen; Valérie Valère: Das Haus der verrückten Kinder. Ein Bericht, Frankfurt 1989. 11 Exemplarisch sind: Grace Bowman: Thin. A memoir of anorexia and recovery, London 2007; Annika Fechner: Hungrige Zeiten. Überleben mit Magersucht und Bulimie (Zeiten), München 2007; Marya Hornbacher: Alice im Hungerland. Leben mit Bulimie und Magersucht. Eine Autobiographie (Autobiographie), Berlin 2010; Lena S.: Auf Stelzen gehen. Geschichte einer Magersucht (Stelzen), Bonn 2006; Portia de Rossi: Das schwere Los der Leichtigkeit. Vom Kampf mit dem eigenen Körper, München 2011. Es handelt sich ausschließlich um Texte von jungen Frauen, auf die ich mich
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Die Bücher sind größtenteils während oder nach der Genesung geschrieben, was darauf zurückgeführt werden kann, dass im unmittelbaren leiblichen Erleben und Betroffensein von der Anorexie keine Distanzierung und Reflektion der eigenen Erfahrungen möglich ist. Erst aus der Perspektive der – in Schmitz’ Terminologie – entfalteten Gegenwart kann über das Erleben in primitiver Gegenwart sinnvoll geschrieben werden. Die Autorinnen nutzen allerdings oft schon während ihrer Anorexie das Schreiben, um sich dem leiblichen Ausgeliefertsein an die Krankheit teilweise zu entziehen. 4.
Leibliches Erleben in Körperpraktiken der Anorexie
4.1 Einige Vorbemerkungen Hermann Schmitz entwickelt mit dem Alphabet der Leiblichkeit ein eigenes Kategoriensystem, um das leiblich Spürbare zu beschreiben. Die Kategorien der Enge und Weite begreift er dabei als fundamental für die gesamte Dynamik des leiblichen Befindens, da es sich immer zwischen diesen Polen abspielt. Zentral für die Charakterisierung des Erlebens in der Anorexie sind außerdem die Kategorien der protopathischen und epikritischen Tendenz sowie der privativen Weitung. 12 Schmitz führt in seiner Rekonstruktion der Anorexie in Der Leib aus, dass diese grundlegend geprägt sei durch das Spüren beziehe, da von betroffenen Männern bisher nur sehr wenige Berichte existieren und diese eigens betrachtet werden müssten, was hier nicht unternommen werden kann. Die Texte betroffener Männer wurden meist erst in den letzten Jahren publiziert, das heißt, sie zeichnen sich durch eine Identifikation mit dem Krankheitsverständnis und eine intensive Auseinandersetzung mit der Diagnostik und den wissenschaftlichen Diskursen aus. Zentral für die Autoren ist die Problematisierung der Anorexie als eine sogenannte Frauenkrankheit und die damit einhergehende Unsichtbarkeit männlicher Betroffener. 12 Das Alphabet der Leiblichkeit umfasst noch weitere Kategorien, mit denen sich das leibliche Befinden rekonstruieren lässt, doch beschränke ich mich hier auf diejenigen, die für die Anorexie zentral sind.
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von Hunger und Ekel. 13 Dem ist hinzuzufügen, dass sich in den autobiographischen Texten zusätzlich auch Schilderungen von Schmerz und einem ständigen Frieren finden. Diese sind ebenso zentral und gehen allesamt mit einer starken leiblich spürbaren Engung einher. Sie führen außerdem nicht nur zu der Schwerelosigkeit in privativer Weitung, die Schmitz annimmt, sondern auch zu einer spürbaren Selbstgewissheit, so meine These. Die Anorexie ist weiterhin kein Geschehen, das den Betroffenen einfach widerfährt, wie Schmitz unterstellt. Das Leiberleben ist vielmehr eng an kulturell spezifische Praktiken der Körperund Selbstbildung gebunden, nämlich vor allem an ein restriktives Essverhalten, Diäten und Sport. 14 Mittels dieser Körperpraktiken greifen die Betroffenen in das leibliche Erleben ein, versuchen es zu gestalten und so aktiv die Erfahrung von Hunger zu verstärken. Im Hunger, Schmerz, Ekel und Frieren werden sie schließlich auf sich selbst zurückgeworfen und spüren sich ganz intensiv. Ich gehe davon aus, dass diese spürbare Selbstgewissheit in der Anorexie grundlegend ist für die Entwicklung und die Aufrechterhaltung der Symptomatik. Vor allem der Hunger wird dabei zum Medium eines Selbstbezugs, was als stabilisierend für die Identität erlebt werden kann.
13
Die leibphänomenologische Rekonstruktion der Anorexie, auf die ich mich im Folgenden beziehe, erfolgt in: Schmitz: System II/1, S. 263–268. Zentral sind außerdem die Abschnitte zum Hunger und Ekel (S. 230–236 und S. 240–245). 14 In den Kulturwissenschaften und der Soziologie existiert eine breite Diskussion zu zeitgenössischen Körper- und Selbsttechniken, die sich vor allem an die Überlegungen von Michel Foucault und Marcel Mauss anlehnt. Vgl. Michel Foucault: »Technologien des Selbst«, in: Michel Foucault/Luther Martin/Huck Gutman/Patrick Hutton (Hrsg.): Technologien des Selbst, Frankfurt 1993, S. 24–61; Marcel Mauss: »Der Begriff der Technik des Körpers«, in: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Band 2: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellungen, Körpertechniken, Begriff der Person, München 1975, S. 197–220.
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4.2 Hunger, Schmerz, Ekel, Frieren Ausgangspunkt in der Beschreibung der Anorexie durch Schmitz ist die weibliche Pubertät. Es sei allerdings weder ein psychischer Konflikt, noch eine körperliche Ursache grundlegend für die Entwicklung einer Anorexie, sondern vielmehr eine »leibliche Krise«, die herbeigeführt werde durch die leiblichen Veränderungen, die mit der körperliche Entwicklung des pubertierenden Mädchens einhergehen. Diese Veränderungen bestünden in einer »Verschiebung der Gewichte in der Leiblichkeit«, bei denen der Weitungsimpuls und die protopathische Tendenz, also die Neigung ins Diffuse und Verschwommene, dominant werden und so schließlich eine Zersetzung in der Leiblichkeit herbeiführen. 15 Die Autorinnen berichten in ihren autobiographischen Texten von einem solchen leiblichen Ungleichgewicht in Form eines ihnen unangenehmen Gefühls des anschwellenden Leibes. Dabei wird deutlich, dass es das eigenleibliche Spüren ist, dass sich ganz prägnant verändert und als fremd erlebt wird. Martina, eine Patientin der Psychotherapeutin Monika Gerlinghoff, erzählt, sie habe ihren Körper als »unheimlich angeschwollen« erlebt, alles habe sich »prall und pelzig« angefühlt. 16 Annika Fechner schreibt zu dieser Zeit: »Ich bin in jeder Hinsicht zu viel!« 17 Und Lena S. berichtet, sie habe ein »dauerhaftes Gefühl des Immer-breiterWerdens« 18. Die Anorexie sei schließlich eine unwillkürliche eigenleibliche Reaktion auf diese Veränderungen in der Leiblichkeit. Schmitz grenzt dabei das »anorektische Geschehen« kaum ab von der Pubertät, so dass es scheinbar notwendig darauf folgt. 19 Dies ist nicht plausibel und sicherlich auch auf die Trennung der Phänomen15
Schmitz: System II/1, S. 266. Monika Gerlinghoff: Magersüchtig. Eine Therapeutin und Betroffene berichten, München 1985, S. 47. 17 Fechner: Zeiten, S. 15. 18 Lena S.: Stelzen, S. 129. 19 Schmitz: System II/1, S. 265. Die Rede von einem anorektischen Geschehen betont den Widerfahrnischarakter der Anorexie. Die Betroffene habe demnach keine Kontrolle über die Krankheit. 16
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bereiche von Leib und Körper zurückzuführen, die sich hier als Problem zeigt, da Fragen nach der Verschränkung beider Ebenen nicht gestellt werden (können). Da Schmitz zudem weder biographische, noch soziokulturelle Kontexte einbezieht, bleibt völlig unklar, warum dieses leibliche Ungleichgewicht lediglich bei jungen Mädchen auftreten sollte, als leibliche Krise erlebt und in Form einer anorektischen Symptomatik abgewehrt werde. 20 Die autobiographischen Texte weisen darauf hin, dass das Erleben eines anschwellenden Leibes charakteristisch ist für die Anorexie und zwar unabhängig von Geschlecht und Alter der Betroffenen. Zudem ist es in diesem Zusammenhang auch fraglich, ob die Schwierigkeiten allein aus dem leiblichen Geschehen selbst resultieren, wie Schmitz unterstellt. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der Leib immer schon mit soziokulturellen Bedeutungen beladen und von diesen konstitutiv geprägt ist, so dass sie als Teil der eigenen Erfahrung am Leib gespürt und über diesen Weg auch als problematisch erlebt werden können. 21 Folgen wir weiter Schmitz’ Darstellung, so vollziehe sich in der Anorexie eine Ablehnung dieser (in der weiblichen Pubertät) dominanten protopathischen durch die epikritische Tendenz, was sich in der Regung des massiven Ekels zeigt. Das Ekelhafte spiegle dabei das Protopathische des eigenen Leibes, das von Schmitz, wie schon erwähnt, als die Tendenz ins Diffuse und Verschwommene verstanden wird. Das Epikritische wird dagegen als die Neigung des leiblichen Befindens zum Spitzen und klar Umrissenen definiert. Normalerweise seien beide Tendenzen im leiblichen Spüren wirksam. In der Anorexie dominiere aber schließlich die epikritische Tendenz und das Protopathische werde in Form des Ekels abgespalten. Die Ablehnung des formlosen und schwammigen Körpers verweist jedoch auch, so muss Schmitz ergänzt werden, auf entsprechende kulturelle Diskurse, die das Leiberleben formen. Dies wird 20
Solche problematischen Geschlechterstereotype zeigen sich leider wiederholt in den Phänomenanalysen von Schmitz. 21 Ute Gahlings führt dies am Beispiel der Brüste aus. Vgl. Ute Gahlings: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen, Freiburg/München 2006, S. 657.
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deutlich in den Beschreibungen der Autorinnen, in denen sie von einem permanenten Ekelgefühl berichten, das durch Nahrung, ihren Geruch und ihre Konsistenz sowie das Beobachten von Menschen beim Essen, verursacht werde. Das Ekelhafte wird von den Autorinnen als verschwommen, formlos und schwammig charakterisiert. Der gesättigte Körper wird sogar mit Tod und Fäulnis assoziiert. Dabei scheint vor allem das eigene Fleisch als das schlechthin Ekelhafte erlebt zu werden, als eine unförmige Masse. Für Sheila MacLeod ist »weibliches Fleisch« der Inbegriff von allem »Geschwollenem, Verunreinigtem, Schmutzigem« und daher als ekelhaft Abgewehrtem. 22 Der Bauch steht dabei im Fokus der Aufmerksamkeit, so dass sich in den Erfahrungsberichten vielfältige Schilderungen einer unangenehm aufdringlichen protopathischen Fülle in der Bauchgegend finden. Die Autorinnen beschreiben ein »schier unerträgliches Völlegefühl« nach dem Essen, das ihnen Ekel einflößt und dazu führt, dass sie es irgendwann überhaupt nicht mehr vertragen, etwas im Magen zu haben. 23 Jenefer Shute beschreibt, ihr Bauch beginne anzuschwellen, sich zu wölben und zu spannen, wenn sie Nahrung zu sich nehme, sei schließlich »obszön prall«. 24 Sie fühle sich dann unerträglich »aufgedunsen«. 25 MacLeod nimmt Abführmittel, um das »Gefühl der Schwere und Völle«, das sie sofort nach dem Essen überfalle, loszuwerden. 26 Um sich von diesen »Auswüchsen des Fleisches« zu befreien, greifen die Betroffenen auf Diäten und Sport zurück. 27 Shute beschreibt den Vorgang plastisch als ein »herausätzen« des epikritischen »skelettalen Ich[s]« aus einer »verschwommenen, aus den Rändern ausblutenden Masse«. 28 Der in Form gebrachte dünne Körper wird schließlich als »sauber«, »wohlgeformt und ordentlich« beschrieben. 29 22 23 24 25 26 27 28 29
MacLeod: Hungern, S. 90. Fechner: Zeiten, S. 65. Jenefer Shute: Schwerelos (Schwerelos), München 1994, S. 42. Shute: Schwerelos, S. 108. MacLeod: Hungern, S. 97. MacLeod: Hungern, S. 100. Shute: Schwerelos, S. 235. MacLeod: Hungern, S. 100.
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Der Ekel wird von den jungen Frauen teilweise jedoch auch selbst herbeigeführt und genossen, wie beispielsweise Shute schildert: »Meine Oberschenkel waren […] schwabbelig. Ich entwickelte die Gewohnheit, heftig von unten auf sie einzuschlagen, um das bebende Fleisch zu sehen, um mir Widerwillen einzuflößen.« 30 Für das Erleben des Ekelhaften ist demnach eine Ambivalenz charakteristisch, die sich auch in Bezug auf Hunger, Schmerz und Kälte zeigt. Die strengen Diäten und exzessiver Sport lassen die Betroffenen schließlich ihre spitzen und kantigen Knochen spüren, was ebenfalls zu einem Primat der epikritischen Tendenz im leiblichen Erleben beiträgt. Die Autorinnen schildern, dass sie »eckiger und eckiger« werden. 31 Fechner stellt fest: »Mein Körper ist hart, kantig und kompakt. Es gibt dort nichts Weiches, Rundes, und das soll auch so bleiben, bis in alle Ewigkeit, Amen.« 32 Shute beschreibt sich letztlich mit folgenden Worten: »Nur noch Knochen, kein entstellendes Fleisch mehr, nur noch reine, klare Gestalt. Knochen.« 33 Dieses in den autobiographischen Texten geschilderte Erleben widerspricht damit der Annahme einer Körperschema- und Körperbildstörung als diagnostischem Kriterium einer Anorexie, das davon ausgeht, dass die Betroffenen sich ihrer Magerkeit nicht bewusst seien, sich als zu dick erfahren. Die Anorektikerinnen erzählen hingegen, dass sie spüren können, wie ihre Knochen hervortreten. Dieses Spüren der Knochen ist mit Schmerz verbunden. Sie können daher nicht anders, als sich ihrer Magerkeit unmittelbar bewusst zu sein, da sie sie tagtäglich schmerzhaft spüren. Schmerz ist somit ebenfalls Teil des alltäglichen anorektischen Erlebens, da ab einem gewissen Grad der Abmagerung jede Bewegung Schmerzen verursacht, der Körper übersät ist mit blauen Flecken und beim Gehen die Fußsohlen schmerzen. Fechner schildert, dass dadurch Schlaf ebenfalls kaum möglich ist: 30 31 32 33
Shute: Schwerelos, S. 142. Erlenberger: Hunger, S. 115. Fechner: Zeiten, S. 173. Shute: Schwerelos, S. 18.
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»Schlafen kann ich, wenn überhaupt, nur noch flach auf dem Bauch liegend, mit Kissen unterhalb der Beckenschaufel, die hart und spitz hervorragt. In jeder Position reiben schon nach kurzer Zeit die Knochen schmerzhaft aufeinander. An den Knöcheln ist die Haut wundgescheuert, und entlang der Wirbelsäule reiht sich ein blauer Fleck an den nächsten. Es sieht aus, als wollten sich meine Knochen durch die Haut bohren.« 34
Die Texte sind durchzogen von solchen Schmerzschilderungen, die aufgesucht und genossen werden, regelmäßig aber auch an Grenzen des Erträglichen stoßen. Anorektikerinnen spüren allerdings nicht nur Schmerz und Ekel, sie frieren auch ununterbrochen. Fechner schreibt, die Kälte habe sich während der Anorexie in ihr »eingegraben«. 35 Sie hält weiter fest: »Es lässt sich nicht mit normalem Frieren vergleichen, es ist ein Gefühl, das von innen heraus zu kommen scheint. Es lässt einen nicht los.« 36 Marya Hornbacher schildert das Frieren ganz ähnlich, nämlich als »eine Kälte, die irgendwie unter die Haut gelangt ist und die im Innern des Körpers immer kälter und kälter wird«. 37 Das Frieren wird in den autobiographischen Berichten oft als die unerträglichste Folge der Essstörung beschrieben. Es umfasst den ganzen Leib, zieht ihn als Engung zusammen und kann so stark werden, dass die Betroffenen das Gefühl haben, nicht mehr atmen zu können. 38 Neben Ekel, Schmerz und Frieren, steht schließlich das intensive Spüren des Hungers im Zentrum des anorektischen Erlebens. Die Betroffenen sehnen sich danach, führen den Hunger gezielt herbei und erhalten ihn aufrecht. In den Erfahrungsberichten wird das Hungererleben als ein ganzheitliches »Lebensgefühl« charakterisiert, das den Autorinnnen Halt gibt. 39 Hornbacher resümiert, dass sie sich nur noch auf das Spüren des Hungers konzentriert habe: »Ich erforschte das Ausmaß des Hungers. Der 34 35 36 37 38 39
Fechner: Zeiten, S. 278. Fechner: Zeiten, S. 265. Fechner: Zeiten, S. 75. Hornbacher: Autobiographie, S. 441. Vgl. Hornbacher: Autobiographie, S. 442. Erlenberger: Hunger, S. 137.
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Hunger war mein Ziel, mein Daseinsgrund.« 40 Maria Erlenberger konstatiert, dass der Hunger das für sie dominante Gefühl wurde: »Ich hatte ein Gefühl. Das Hungergefühl.« 41 Sie gab sich dem Hunger hin und konnte irgendwann nicht mehr ohne ihn sein: »Der Hunger wurde mein Gefährte. […] Er war mein Begleiter an jedem Tag. Ich tat alles, daß er mich nicht verließ, ich hätte ihn sonst vermisst.« 42 Schmitz hält fest, dass der Hunger mit einer massiven leiblichen Engung einhergehe. Üblicherweise sei das leibliche Spüren charakterisiert durch ein Wechselverhältnis von Enge und Weite. Der anhaltende Hunger in der Anorexie führe jedoch zu einem leiblichen Ungleichgewicht, bei dem die Enge überwiege, die zudem vor allem die Leibesinsel in der Gegend des Magens zusammenziehe. Wenn der Hunger besonders stark wird, könne die Enge schließlich auch den gesamten Leib umfassen. An den autobiographischen Schilderungen lässt sich zeigen, dass Hyperaktivität, Sport und spezielle restriktive Ernährungspraktiken als Körpertechniken dazu dienen, einen Ausgleich gegenüber diesem Ungleichgewicht wieder herzustellen. Die Hyperaktivität zählt zu den diagnostischen Kriterien einer Anorexie und wird von der Forschung auf den Versuch zurückgeführt, Kalorien zu verbrennen. Sie äußert sich in einer generellen Ruhelosigkeit, Bewegungsdrang und exzessiver Sportausübung. Shute berichtet beispielsweise, dass es ihr schwer fiel ein paar Minuten still zu sitzen, denn ihr »Körper schrie nach Bewegung«. 43 Auch Lena S. gesteht: »Ständig bin ich überdreht. Immer hibbelig, kribbelig, immer schaffend, machend, nicht ein Moment Ruhe, immer am Rand des Zusammenbruchs, aber niemals innehaltend, niemals ruhend, niemals still.« 44 Aus leibphänomenologischer Perspektive kann diese »krampfhafte Vielgeschäftigkeit« als Folge des Hungers beschrieben werden, der sich nicht nur durch eine massive Enge im leiblichen 40 41 42 43 44
Hornbacher: Autobiographie, S. 280. Erlenberger: Hunger, S. 119. Erlenberger: Hunger, S. 73. Shute: Schwerelos, S. 155. Lena S.: Stelzen, S. 24.
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Befinden auszeichne. 45 Diese stehe vielmehr in Konflikt mit der protopathischen Tendenz, was schließlich zu der typischen Unruhe und Nervosität bei den Betroffenen führe, so Schmitz. Im Sport versuchen die Anorektikerinnen, so lässt sich über Schmitz hinausgehend an den autobiographischen Erzählungen zeigen, dieser protopathischen Engung systematisch entgegenzuwirken und den Konflikt damit aufzulösen. Historisch kann gezeigt werden, dass der Sport allerdings erst mit dem Fitnesstrend der 1970er und 80er Jahre zu einem wesentlich Teil der anorektischen Symptomatik wurde. 46 Entsprechend sind es vor allem Joggen und Aerobic, die als Sport ausgeübt werden. Auch in den Erfahrungsberichten taucht er anfangs nur vereinzelt auf. Der Sport bildet damit eine erst seit kurzem zur Verfügung stehende Möglichkeit, einen Ausgleich herbeizuführen und die Unruhe zu mildern. Die exzessive Sportausübung führt außerdem zu einer extremen Engung und kann daher als Medium fungieren, um sich selbst zu spüren. 47 Shute schildert, dass gymnastische Übungen sie jeden Knochen, jede Sehne haben spüren lassen und schließlich zu einer tiefen Entspannung beitrugen. 48 Lena S. betont auch die Schmerzen beim Sport als ganz wesentlich für das eigenleibliche Erleben: »Mein Körper bin nicht ich. Immer wieder flüchte ich mich in Sport, um ihn überhaupt zu fühlen. Wenn er erschöpft ist, wenn er schmerzt, dann fühle ich ihn am besten. Und dann fühlt er sich am besten an.« 49 Anorektikerinnen hören außerdem nicht gänzlich auf zu essen, sondern verändern vielmehr ihre Essgewohnheiten, fangen an seltsame Dinge zu essen und ausgefallene Ernährungsrituale zu 45
Schmitz: System II/1, S. 232. Vgl. Joan Jacobs Brumberg: »From Psychiatric Syndrome to ›Communicable‹ Disease«, in: Charles Rosenberg/Janet Golden (Hrsg.): Framing Disease. Studies in Cultural History, New Jersey 1992, S. 134–154. Schmitz erwähnt den Sport daher nicht. 47 Schmitz beschreibt dies am Beispiel des Schwimmens, jedoch nicht bezüglich der Anorexie. Vgl. Schmitz: System II/1, S. 166. 48 Vgl. Shute: Schwerelos, S. 87. 49 Lena S.: Stelzen, S. 71. 46
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entwickeln. Die Nahrung wird dabei in winzige Portionen eingeteilt und langsam und lange gekaut. Sie lassen jeden Bissen auf ihrer Zunge zergehen, um ihn möglichst lange zu schmecken. Die Konzentration auf das Essen – die Tätigkeit, den Geschmack und die Konsistenz der Nahrung – ermöglicht eine besondere Intensität des Erlebens. Die Autorinnen berichten weiterhin, dass sich bestimmte Nahrungsmittel, zu denen Karotten und Äpfel gehören, geradezu anbieten, um ein Sättigungsgefühl allein über das Beißen und Kauen herzustellen. Fechner schreibt beispielsweise über Karotten: »Sie sind so hart, dass man getrost eine ganze Weile an ihnen nagen und knabbern kann, man beißt, raspelt, zerkleinert, hackt, kaut und schluckt, der ganze Kiefer ist im Dauereinsatz. So schafft man sie, die perfekte Attrappe einer langwierigen Mahlzeit, ohne tatsächlich eine nennenswerte Nährstoffmenge in den Magen zu bekommen.« 50
Schmitz erklärt, dass die protopathische Engung im Hunger nicht durch Nahrungsmittel selbst, sondern über den Essensakt aufgelöst werde, genauer: über die leiblichen Veränderungen, die das Kauen und Beißen herbeiführen. 51 Neben den speziellen Nahrungsmitteln können daher auch Kaugummi kauen, Zigaretten rauchen und viel trinken die Funktion einer solchen Ersatznahrung erfüllen. 52 Die Autorinnen beschreiben schließlich auch Erlebnisse der Schwerelosigkeit und des ›high seins‹, die Schmitz als charakteristisch für die Anorexie versteht. Lena S. berichtet von der Leichtigkeit, Euphorie und dem Hochgefühl, in das sie das Hungern versetzt habe und von dem sie nicht mehr lassen konnte. 53 Erlenberger spricht von einem »rauschartigen Erlebnis«, in dem sie sich verlor und das sie erfüllte. 54 Die euphorische Wirkung des Fastens gehe einher mit einem Gefühl des Schwebens und 50 51 52 53 54
Fechner: Zeiten, S. 261. Vgl. Schmitz: System II/1, S. 233 f. Der Begriff der Ersatznahrung findet sich bei Lena S.: Stelzen, S. 45. Vgl. Lena S.: Stelzen, S. 38. Erlenberger: Hunger, S. 75.
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Hinweggleitens und wird von den Autorinnen wiederholt mit Drogenrausch verglichen. Hornbacher zieht eine Verbindung zu Suchtverhalten generell, denn es sei ein »ungestümer Rausch« gewesen, dem sie hinterher jagte und verfiel. 55 Margolis vergleicht das Erleben nicht nur mit Drogen, sondern auch mit demjenigen von Mystiker_innen: »Warum preisen wohl Mystiker die euphorischen Zustände des Fastens? Wenn man nichts ißt, fühlt man sich nach einiger Zeit wirklich wie auf Wolken. Es ist, als ob man ›high‹ wäre, ohne Drogen zu brauchen, und den ›Trip‹ zieht man aus der eigenen Fähigkeit, die Erdenschwere zu überwinden.« 56
Die bisherige Forschung und Betroffene deuten diese Erfahrungen meist als Loslösung vom Körper und einem damit verbundenen Erleben von Autonomie. Andere beziehen sich auf biomedizinische Ansätze und erklären das typische Hochgefühl physiologisch mit der Ausschüttung von Endorphinen beim Fasten. Schmitz bezeichnet diese Zustände hingegen als privative Weitung des Leibes und führt sie auf die Enge im lang anhaltenden Hunger zurück. Dem ist hinzuzufügen, dass nicht nur der Hunger, sondern auch Ekel, Schmerz und starkes Frieren zu dieser starken Engung im leiblichen Befinden beitragen, die schließlich so massiv werden kann, dass sich Enge und Weite, die sonst miteinander verflochten sind, teilweise voneinander lösen. Die sich dabei ereignende privative Weitung bezeichnet einen Zustand, der als eine Befreiung von der Enge und daher als erleichternd bis hin zur Schwerelosigkeit erlebt wird. Lena S.’ Beschreibungen illustrieren geradezu exemplarisch diese privative Weitung in der Anorexie: »Hinübergetreten in eine andere Welt. Meine Füße kommen mir unheimlich weit entfernt vor, wie überhaupt mein ganzer Körper zu schweben scheint. Die Proportionen stimmen nicht mehr, alles fliegt, nichts passt mehr zusammen. […] Völlig entrückt. Auf Stelzen ge55
Hornbacher: Autobiographie, S. 280. Auch in der fachwissenschaftlichen Literatur wird die Anorexie als Sucht diskutiert. 56 Margolis: Knochen, S. 91.
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hen. Du gehst wie auf Stelzen. […] Dein Kopf ist leer. Fühlst dich frei. Vogelfrei. […] Dieses Gefühl, dieser Moment ist es wert, ist alle Mühe wert. Du bist auf dem richtigen Weg, du alleine, und du fühlst dich, als müsstest du ewig so weitermachen, als wolltest du ewig so weitermachen, um die Schwerkraft völlig zu verlieren, um immer dieses Gefühl der Schwerelosigkeit zu fühlen, das dich berauscht wie nichts anderes berauschen kann. Du schaust in den Himmel und gehst darin auf, bist eins damit.« 57
Neben diesen ekstatischen, entrückenden Erlebnissen, eröffnet die Anorexie den jungen Frauen auch die Möglichkeit, sich selbst ganz intensiv zu spüren. Sie erfüllt damit die Funktion einer Selbstvergewisserung, die zentral ist für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Symptomatik. Vor allem der Hunger, aber auch Ekel, Schmerz und starkes Frieren erschüttern das leibliche Gleichgewicht. Robert Gugutzer hat das Hungern in der Anorexie daher als eine Grenzerfahrung beschrieben, die eine leiblich spürbare Selbstgewissheit möglich macht, da sie als spürbare Enge die Betroffenen auf den Leib zurückwirft. 58 Durch die massive Engung spüren die Anorektikerinnen sich selbst unmittelbar, hier und jetzt. Die Anorexie verweist somit schließlich auch auf die Bedeutung des leiblichen Spürens für ein grundlegendes Selbstverhältnis. Die Autorinnen geben an, zur Zeit ihrer Anorexie sehr intensiv in der Gegenwart gelebt und sich nie lebendiger gefühlt zu haben. Vor allem das eigenleibliche Spüren des Hungers wird dabei als 57
Lena S.: Stelzen, S. 38 f. Karl Jaspers hat den Begriff der Grenzsituation geprägt, um Situationen zu bezeichnen, die uns ein Bewusstsein für unsere eigene Existenz vermitteln, indem sie unsere Selbstverständlichkeiten erschüttern und uns aus der Fassung bringen. Vgl. dazu Thomas Fuchs: »Existentielle Vulnerabilität. Ansätze zu einer Psychopathologie der Grenzsituationen«, in: Thomas Fuchs: Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Zug/Schweiz 2008, S. 148–171. Gugutzer bezeichnet »Hungern, Heißhungerattacken und freiwillig herbeigeführtes Erbrechen« allesamt als Grenzerfahrungen. Grenzerfahrungen seien sowohl als »spürbarer Widerstand« in Form eines Engegefühls oder als »spürbare Leichtigkeit« in Form eines Weitegefühls erfahrbar. Robert Gugutzer: »Der Körper als Identitätsmedium: Essstörungen«, in: Markus Schroer (Hrsg.): Soziologie des Körpers, Frankfurt 2005, S. 323–355, hier S. 343 f.
58
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Isabella Marcinski
konstitutiv für einen Selbstbezug beschrieben. Erlenberger erschien das Hungern sogar als der letzte mögliche Zugang zu sich selbst: »Einmal wollte ich mich fangen. Ich mußte diesen Weg gehen, ich wäre mir sonst für immer entschlüpft.« 59 Hornbacher berichtet ganz ähnlich, es habe sie zu Beginn ihrer Anorexie eine »unersättliche Neugier« erfasst, »die Grenzen meines Selbst auszuloten«. 60 Der Hunger ermöglicht die Erfahrung, dass sie existieren. Er wird zur notwendigen Überlebensbedingung, wie Erlenberger feststellt: »Ich lebte vom Hunger, wie andere Menschen vom Essen leben.« 61 Sie hält fest, dass sie sich im Spüren verloren habe – und damit in gewisser Weise aber auch gefunden: »Das Hungern war zu meiner Person geworden.« 62 5.
Resümee: Möglichkeiten und Grenzen einer Neuen Phänomenologie der Anorexie
Die Neue Phänomenologie von Schmitz eröffnet innovative und spannende Perspektiven auf die Anorexie und erlaubt eine sehr präzise Beschreibung des subjektiven leiblichen Erlebens, eine Facette, die bisher noch ein Desiderat der human- und sozialwissenschaftlichen Forschung darstellt. Am Schluss dieses Beitrags sollen Möglichkeiten sowie Grenzen einer leibphänomenologischen Zugangsweise zusammenfassend aufgezeigt werden. Im Rahmen der leibphänomenologischen Betrachtung konnte herausgestellt werden, dass die Anorexie gerade nicht durch eine Ablehnung des Körpers und eine Vergeistigung geprägt ist, wie oft in der Forschung angenommen, sondern vielmehr durch eine »hemmungslose Leibesinnigkeit«, wie anhand der Erfahrungsberichte deutlich gemacht wurde. 63 Dabei war es allerdings von Beginn an notwendig, die Neue Phänomenologie zu ergänzen und soziale, kulturelle und historische Dimensionen in Form 59 60 61 62 63
Erlenberger: Hunger, S. 205. Hornbacher: Autobiographie, S. 344. Erlenberger: Hunger, S. 168. Erlenberger: Hunger, S. 74. Schmitz: System II/1, S. 332. Schmitz bezieht sich hier auf die Askese.
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Hunger, Schmerz, Ekel, Frieren
von wissenschaftlichen und populären Diskursen, Praktiken und Normen mit in die Beschreibung des Erlebens einzubeziehen. Durch Praktiken des Hungerns und exzessiver Sportausübung versuchen Anorektikerinnen in das leibliche Befinden einzugreifen und die positiv erlebten eigenleiblichen Erfahrungen aufrechtzuerhalten sowie stets erneut herzustellen. Zu diesen Erfahrungen gehören ganz zentral ein Erleben von Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, aber auch ein intensives eigenleibliches Spüren sowie eine grundlegende Selbstgewissheit. Die Betroffenen gehen schließlich ganz auf im eigenleiblichen Spüren, es wird zum Mittelpunkt ihres Lebens und konstitutiv für einen Selbstbezug. Mit der Neuen Phänomenologie konnte außerdem die diagnostische Annahme einer Körperschema- und Körperbildstörung in Frage gestellt werden, da sie das Erleben nicht adäquat beschreiben kann. Die Betroffenen sind sich einerseits, wie sich zeigte, spürbar und schmerzhaft darüber im Klaren, dass sie nur noch Haut und Knochen sind. Andererseits kann die in den Diagnosekriterien angenommene Körperwahrnehmung als zu dick auf die protopathische Tendenz und die Schwellung zurückgeführt werden, die als spürbar aufdringlich erlebt werden und durch Praktiken des Fastens und Sports nie gänzlich abgewehrt werden können. Vielmehr bleiben sie stets präsent, vor allem durch das Spüren der Fülle in der Bauchgegend, die den Betroffenen unerträglich ist. Neben dieser Produktivität in der Anwendung des leibphänomenologischen Zugangs auf die Anorexie tauchten jedoch auch Probleme auf, die die durch Schmitz entwickelte phänomenologische Methode mit sich brachte. Indem die Leibphänomenologie zum Ausgangspunkt genommen wurde, war es beispielsweise schwierig, die charakteristische soziale Isolation in der Anorexie zu beschreiben. Da Schmitz sich allein auf das eigenleibliche Spüren konzentriert, stellt er hier keine Verbindung her. Es ist jedoch anzunehmen, dass Hunger, Ekel, Schmerz und Frieren die Betroffenen auch in ein anderes Verhältnis zur Welt und zu Anderen versetzen. Hier könnten Überlegungen weiter führen, die bei Martin Heidegger und daseinsanalytischen Analysen ansetzen. Die von Schmitz vehement verfochtene Unterscheidung von 189 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Isabella Marcinski
Leib und Körper, die er zum Ausgangspunkt seiner Leibphänomenologie macht, erweist sich ebenfalls in letzter Konsequenz als problematisch. Schon Gabriel Marcel erkannte in der allzu radikalen Unterscheidung die Gefahr eines neuen Dualismus. 64 Diese Sichtweise teilt Schmitz nicht und sieht darin vielmehr einen Vorteil der deutschen Sprache. 65 Dabei geraten bei ihm aber die möglichen vielfältigen Verschränkungen von Leib und Körper in der konkreten Erfahrung aus dem Blick. Soll die Anorexie als Versuch beschrieben werden, ein leibliches Spüren durch spezifische Körperpraktiken zu evozieren, dann ist hierfür gerade die Annahme einer solchen Verschränkung notwendig sowie eine Methodik, die diese zu untersuchen erlaubt. Es finden sich allerdings in Schmitz’ vielfältigen Publikationen teilweise auch Beschreibungen, die einer strikten Trennung von Leib und Körper widersprechen und geradezu das Gegenteil implizieren, beispielsweise wenn er Gymnastik oder die leiblichen Auswirkungen von Drogenkonsum beschreibt. Auch seine Rekonstruktion der Anorexie unterstellt eine Verbindung der leiblichen und körperlichen Bereiche. Im System der Philosophie betont er zudem mit dem Begriff des körperlichen Leibes, dass der eigene Leib uns im alltäglichen faktischen Erleben als leiblich und körperlich zugleich gegeben sei. Solche Überlegungen werden jedoch nicht weiter geführt und den vielversprechenden Begriff des körperlichen Leibes lässt Schmitz wieder fallen. Die radikale Trennung der leiblichen und körperlichen Phänomenbereiche ist eng verbunden mit einer fehlenden Thematisierung des Verhältnisses von Leiberfahrungen und ihrem soziokulturellem Kontext, denn der sicht- und tastbare Körper verweist auch auf das kulturelle Körperwissen, Körperbilder sowie Körperpraktiken. Das Phänomen der Anorexie deutet auf diese historische und soziokulturelle Gebundenheit konkreter Leiberfahrungen hin: Gesellschaftliche Anforderungen, Diskurse, Normen 64
Vgl. Gabriel Marcel: »Leibliche Begegnung. Notizen aus einem gemeinsamen Gedankengang«, in: Hilarion Petzold (Hrsg.): Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven, Paderborn 1985, S. 15–46. 65 Vgl. Schmitz: Leib, S. 5.
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Hunger, Schmerz, Ekel, Frieren
und kulturell verfügbare Körperpraktiken prägen das leibliche Erleben und die Erzählungen der Betroffenen über ihre Krankheit. Die leibphänomenologische Analyse hätte dies zu reflektieren, was jedoch bisher noch nicht genügend geschieht – eine Kritik, die nicht nur die Neue Phänomenologie von Schmitz betrifft. Ebenso wenig wie die kulturelle Situiertheit der von ihm beschriebenen Phänomene reflektiert Schmitz die eigenen leibphänomenologischen Begrifflichkeiten und Überlegungen. Dies zeigt sich beispielsweise in Geschlechterstereotypen und der Übernahme psychoanalytischer Erklärungsmuster in seiner Beschreibung der Anorexie, die zu problematischen Voraussetzungen in der Phänomenrekonstruktion führen. Einer der kritischsten Konsequenzen der mangelnden Situierung von Leiberfahrungen betrifft die Annahme, dass Nahrungsverzicht strukturell stets gleichartige leibliche Auswirkungen habe – irrelevant, in welchem Zusammenhang er erlebt werde. Hunger sei demnach auf eine ganz charakteristische Weise spürbar, eine Erfahrung, die lediglich graduelle Abwandlungen aufweise. Die psychiatrischen und psychotherapeutischen Forschungen zur Anorexie erklären die verschiedenen Kontexte ebenfalls für unbedeutend, denn Hunger habe immer identische körperliche und psychische Auswirkungen. Kulturwissenschaftliche und historische Analysen weisen jedoch darauf hin, dass dem Hunger soziokulturell sehr heterogene Bedeutungen zukommen und er daher auch unterschiedlich erlebt wird. 66 Hunger aufgrund von Nahrungsmangel gehe etwa, anders als in Essstörungen, mit apathischen und lähmenden Zuständen einher. Die Erfahrung von Hunger wäre damit als ein soziales Phänomen zu beschreiben, bei dem die konstitutiven Diskurse prägend sind für die charakteristischen Techniken des Umgangs und damit auch des Erlebens. Es macht schließlich einen Unterschied, ob der Hunger als Widerfahrnis durchlebt wird, dem die Betroffenen sich ausgeliefert fühlen, oder aber als willentlich herbeigeführte Selbstaushungerung. 67 66
Vgl. Maud Ellmann: Die Hungerkünstler. Hungern, Schreiben, Gefangenschaft, Stuttgart 1994; James Vernon: Hunger: A Modern History, Cambridge 2007. 67 Vgl. Isabella Marcinski: »Die Erfahrung von Hunger in der Anorexie: leib-
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Isabella Marcinski
Schmitz beschäftigt sich zwar ausführlich mit den Verzerrungen und Ausblendungen der Leiblichkeit im Laufe der abendländischen Geschichte. Dabei geht er aber davon aus, dass das leibliche Spüren nur verdeckt werde, was dazu führt, dass historische und soziokulturelle Faktoren der Leiblichkeit merkwürdig äußerlich bleiben. Stattdessen wäre aber eine Offenheit des Leibes für diese historischen und soziokulturellen Kontexte zu denken, die die leibliche Erfahrung durchdringen und sie damit grundlegend historisieren und situieren. Entsprechende Überlegungen finden sich in aktuellen Ansätzen einer feministischen Phänomenologie, die soziokulturelle Situationen, gesellschaftliche Machtbeziehungen, Normen und Diskurse in die Analyse des leiblichen Erlebens einbeziehen. 68 Eine solche Erweiterung und Öffnung ist für die Neue Leibphänomenologie noch zu unternehmen.
liches Erleben und soziale Kontexte«, in: Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel (Hrsg.): Nebulosa. Figuren des Sozialen, Bd. 8 (2015): Hunger, S. 36–44. 68 Beispiele für diese Ansätze sind: Sara Ahmed: Queer phenomenology. Orientations, objects, others, Durham 2006; Alia Al-Saji: »Bodies and sensings: On the uses of Husserlian phenomenology for feminist theory«, in: Continental Philosophy Review 43/1, 2010, S. 13–37; Luna Dolezal: The Body and Shame. Phenomenology, Feminism, and the Socially Shaped Body, London 2015; Lauren Freeman: »Phenomenology of Racial Oppression«, in: Knowledge Cultures 3/1, 2015, S. 24–44.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Burnout als leiblich-atmosphärische Störung 1
1.
Einleitung
Galt Burnout lange Zeit als Privileg der Workaholics, findet sich dieses Krankheitsbild heute in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft und des Arbeitslebens und macht selbst vor Arbeitslosen nicht Halt. 2 Mittlerweile geht rund ein Drittel aller Frühpensionierungen auf psychische Erkrankungen wie Burnout zurück. 3 In der Folge müssen sich Unternehmen aller Branchen mit dieser hierarchieübergreifenden Diagnose auseinandersetzen. Burnout verursacht bei Mitarbeitern gesundheitliche Schäden, reduziert die Leistungsbereitschaft und führt zu mangelnder Identifikation mit dem Unternehmen. Obwohl mittlerweile Konsens darüber herrscht, dass die Ursachen von Burnout längst nicht in den Mitarbeitern alleine zu suchen sind, 4 sondern die Unternehmen zumindest eine Mitschuld tragen, ist man dort noch immer mit der 1
Der Beitrag geht zurück auf: Christian Julmi/Ewald Scherm: »Burnout trotz geringer Anforderungen. Warum auch Arbeitslose an Burnout erkranken können« (Arbeitslose Burnout), in: SEM Radar. Zeitschrift für Systemdenken und Entscheidungsfindung im Management 12/2, 2013, S. 17–27. 2 Vgl. Dietrich von der Oelsnitz: »›Das macht mich krank!‹ Gefährden die moderne Arbeitswelt und falsche Führung die Mitarbeitergesundheit?« (Das macht mich krank), in: UNIVERSITAS. Orientieren! Wissen! Handeln! 67/2, 2012, S. 21–41, hier S. 23. 3 Dietrich von der Oelsnitz: »Moderne Führungskonzepte und Gesundheit«, in: wisu – das wirtschaftsstudium 44/7, 2015, S. 793–797, hier S. 793. 4 Vgl. Christina Maslach/Michael P. Leiter: Die Wahrheit über Burnout. Stress am Arbeitsplatz und was Sie dagegen tun können, Wien/New York 2001, S. 19–20; Matthias Burisch: Das Burnout-Syndrom (Burnout-Syndrom), Berlin/Heidelberg 2014, S. 170–171; Armita Atabaki: »Das Burn-out-Syndrom – Ausgebrannt am
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Thematik überfordert und setzt Burnout mit individuellem Versagen gleich. Eine wesentliche Schwierigkeit im Umgang mit Burnout besteht darin, dass bis heute kein allgemein definiertes, einheitliches Krankheitsbild von Burnout existiert. Alleine Burisch hat weit über 100 verschiedene Symptome von Burnout zusammengestellt. 5 Weitgehend Konsens besteht dahingehend, dass Burnout eine psychische (oder seelische) Störung bezeichnet. 6 Psychische Symptome sind beispielsweise Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Überdruss, verminderte Sinnhaftigkeit oder eine leichte Reizbarkeit, körperliche Symptome etwa chronische Müdigkeit, Energiemangel, Schwäche oder Schlafstörungen. 7 Bereits diese kurze Aufstellung von Symptomen lässt erahnen, dass die strikte Trennung von psychischen und körperlichen Symptomen zu kurz greift. Wer Niedergeschlagenheit nur als psychisches Symptom auffasst, vernachlässigt die ganz konkret am eigenen Körper gespürte Niedergeschlagenheit ebenso wie eine nur körperlich verstandene Müdigkeit deren konkretes Spüren verstellt. Derartige Zuordnungsprobleme lassen sich mit unserem Medizinverständnis jedoch kaum lösen, sondern sind vielmehr diesem inhärent, da es nur entweder psychische oder körperliche Leiden kennt. Es werden zwar Wechselwirkungen zwischen Psyche und Körper anerkannt, diese bleiben aber rätselhaft, da die Psyche genauso wenig einen Körper besitzt wie im Körper eine Psyche lokalisiert werden kann. Die Differenzierung in psychosomatische oder somatopsychische Wirkungen beschreibt weniger eine Wechselwirkung zwischen Psyche und Körper, sondern vielmehr einen monokausalen Zusammenhang, der entweder in die eine oder die andere Richtung zeigt. Gerade bei Burnout ist es jedoch schwierig
Arbeitsplatz« (Ausgebrannt), in: PERSONALquarterly 67/1, 2015, S. 46–49, hier S. 47. 5 Vgl. Burisch: Burnout-Syndrom, S. 26–29. 6 Vgl. Oelsnitz: Das macht mich krank, S. 22. 7 Vgl. Alfred Wolf/Florian Wolf/Milorad Susa: »Burnout und Chronic FatigueSyndrom (CFS)« (Fatigue-Syndrom), in: journal of preventive medicine 4/1, 2008, S. 170–180, hier S. 170 ff.
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
zu entscheiden, was Ursache, was Wirkung und ob die Ursache in einer psychischen oder körperlichen Dauerbelastung zu finden ist. Von dieser Problemlage ausgehend besteht das Ziel des vorliegenden Beitrags darin, mit einer leibphänomenologischen Herangehensweise eine alternative Perspektive auf Burnout anzubieten und aus dieser heraus Handlungsempfehlungen für Unternehmen abzuleiten, die das subjektive Erleben des Menschen in den Mittelpunkt stellen. In diesem Sinne plädiert der Beitrag auch gegen eine Reduzierung des Menschen auf einen reinen Produktionsfaktor, an der auch die Bezeichnung Humanressource nichts ändert. 2.
Die Problematik eines dualistischen Weltverständnisses
2.1 Die Abspaltung der Psyche als Innenwelt Durch die Trennung der Psyche von dem Körper des Menschen entsteht zwischen ihnen eine unüberbrückbare Erklärungslücke. Auf der einen Seite steht die Psyche als immaterielle Innenwelt mit all den Gedanken, Gefühlen, Motiven und Entschlüssen des Menschen. Der materielle Körper repräsentiert dagegen die Außenwelt als das, was gesehen, betastet und objektiv gemessen werden kann. Für die Medizin bedeutet dies, dass körperliche Leiden eine objektiv feststellbare Ursache besitzen (z. B. Viren, Bakterien, Verletzungen), wohingegen psychische Leiden Störungen des Denkens, Fühlens oder Handelns darstellen. Diese lassen sich nicht objektiv messen, sondern nur über die subjektiven Beschreibungen der Betroffenen erschließen. Da gemeinhin angenommen wird, dass der Mensch die unumstößliche (weil objektive) Außenwelt wahrnimmt, indem in seinem Gehirn Repräsentationen einzelner Objekte erzeugt werden, entsteht eine Rangordnung objektiver Fakten gegenüber subjektiver Erfahrung. 8 Während die Außenwelt als unumstößliche Wirklichkeit gilt, haftet der Innenwelt der Beigeschmack der Illusion an. Dieses Primat der Objek8
Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum (System III/2), Bonn 1969, S. 5.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
tivität gegenüber der Subjektivität äußert sich bereits im alltäglichen Sprachgebrauch, beispielsweise wenn wir eine Aussage als subjektiv bezeichnen und sie damit als einseitig oder irrelevant abwerten. Objektive Aussagen werden dagegen mit unumstößlichen Tatsachen gleichgesetzt, die über jeden Zweifel erhaben sind. 9 Auf diese Weise wird die subjektive Psyche von der objektiv im Raum vorhandenen Umgebung abgespalten und geht mit einem von dieser Umgebung weitgehend unabhängigen Eigenleben einher. In der Mehrzahl der psychologischen Theorien wird davon ausgegangen, dass die Mitarbeiter in einem Unternehmen körperlose Wesen sind oder der Körper (wie auch immer) einseitig von der Psyche kontrolliert wird, sodass er als eigenständiges Phänomen aus psychologischer Sicht keine Relevanz besitzt. In der Art und Weise, wie Handlungen oder Fähigkeiten in Unternehmen konzipiert werden, spielt der Körper höchstens eine nachgeordnete Rolle. 10 Als psychische Erkrankung spielt sich Burnout somit primär in den von der Umgebung abgekapselten »Köpfen« der Mitarbeiter ab. Es verwundert daher nicht, dass Burnout mit individuellem Versagen oder individueller Schwäche gleichgesetzt wird, 11 obwohl ganze Unternehmen und Gesellschaften an Burnout erkranken können. 12 Teilweise haben Führungskräfte, die das Unternehmen wechseln, schon nach wenigen Monaten ihren alten Krankenstand erreicht. 13 Die Ursachen sind also keineswegs 9
Vgl. Christian Julmi/Ewald Scherm: »Subjektivität als Ausdruck von Lebendigkeit«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik 3/1, 2012, S. 1–8, hier S. 2. 10 Vgl. Emily D. Heaphy/Jane E. Dutton: »Positive social interactions and the human body at work: Linking organizations and physiology«, in: Academy of Management Review 33/1, 2008, S. 137–162, hier S. 138. 11 Vgl. Andrea Lohmann-Haislah/Martina Morschhäuser/Ulrike Stilijanow: »Immer schneller, immer mehr … ? Psychischen Belastungen in der Arbeitswelt begegnen«, in: Personalführung 45/1, 2012, S. 40–49, hier S. 46. 12 Vgl. Ute Schönefeldt: »Erschöpfte Organisationen, ausgebrannte Beschäftigte«, in: Personalführung 45/1, 2012, S. 50–54, hier S. 51; Gustav Greve: Organizational Burnout. Das versteckte Phänomen ausgebrannter Organisationen, Wiesbaden 2015, S. 7. 13 Vgl. Oelsnitz: Das macht mich krank, S. 33.
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
beim Betroffenen alleine zu suchen, sondern auch in seinem Umfeld. Der Einfluss der Umgebung wird in der Burnout-Forschung zwar weitgehend anerkannt, 14 jedoch überrascht es aufgrund des beschriebenen dualistischen Medizinverständnisses wenig, dass das Zusammenspiel von Person und Umgebung bislang nur unzureichend untersucht wurde. 15 2.2 Die Herrschaft der Außenwelt Während die innerweltliche Psyche des Menschen als weitgehend unabhängig von der Außenwelt verstanden wird, führt die Unumstößlichkeit der objektiven Außenwelt dazu, dass sich das subjektive Erleben – will es seiner eigenen Illusion entkommen – zunehmend an dem orientiert, was sich vereinzeln und objektivieren lässt. Der Mensch orientiert sich in seinem Verhalten an vermeintlich objektiven Fakten als unumstößliche Wahrheit und verliert dadurch den Zugang zu seinem subjektiven Erleben. Es setzt ein Entfremdungsprozess ein, der sich in unserer Gesellschaft auf vielfältige Art und Weise zeigt. So steht etwa beim Essen nicht der Genuss im Vordergrund, sondern das Cholesterin, der Anteil von Triglyceriden oder das gute und schlechte HDL und LDL, auch wenn Viele gar nicht wissen, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt. 16 Wo früher von Trieben oder Instinkten die Rede war, steht heute die Freisetzung von Dopamin, Opioiden und Oxytocin als Botenstoffe des Motivationssystems im Vordergrund. 17 Bei der Liebe geht es nicht mehr darum, wo sie hinfällt, sondern um Algorithmen, die den perfekten Partner ermitteln. Wer mit seinem 14
Vgl. Christina Maslach/Wilmar B. Schaufeli/Michael P. Leiter: »Job Burnout« (Job Burnout), in: Annual Review of Psychology 52/1, 2001, S. 397–422, hier S. 407 ff. 15 Vgl. Atabaki: Ausgebrannt, S. 48. 16 Vgl. Thomas Vilgis: »Macht essen krank? Ein kurzes Plädoyer für mehr Gelassenheit und viel mehr Genuss«, in: UNIVERSITAS. Orientieren! Wissen! Handeln! 67/2, 2012, S. 65–71, hier S. 67. 17 Vgl. Joachim Bauer: »Egoismus oder Altruismus?« in: Forschung & Lehre 19/1, 2012, S. 48–49, hier S. 48.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Aussehen nicht zufrieden ist, kann sich sein Äußeres mithilfe moderner Chirurgie, die auch vor Botox-Flatrates gegen Falten nicht zurückschreckt, an die Standards der Außenwelt anpassen lassen. 18 Wenn die Ziele eines Unternehmens ohne Rücksichtnahme auf individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten auf den einzelnen Mitarbeiter heruntergebrochen werden, 19 setzt sich diese Entfremdungsbewegung auch in Unternehmen fort. Selbst in der Wissens- und Kreativwirtschaft zeichnet sich ein starker Trend zur reinen Ergebnisorientierung hin ab, der mit der Reduzierung der Mitarbeiter auf ihre kognitiven Ressourcen einhergeht, die es auszuschöpfen gilt. 20 Der Mensch selbst tritt dabei in den Hintergrund und hat sich unterzuordnen. Dieser Trend wird ironischerweise auch unter dem Stichwort Subjektivierung der Arbeit diskutiert, nach der sich der moderne Mensch als animal laborans freiwillig verausgabt und seine Prozesse von äußeren Vorgaben getrieben nicht selten bis zur Erschöpfung selbstgesteuert optimiert. 21 Teilweise sind die Betroffenen sogar noch stolz auf ihre Erschöpfung und sehen sie als Zeichen ihrer Produktivität. 22 Eine solche Funktionalisierung des Menschen führt letztlich zu dessen Entkopplung von seiner Umgebung. Der Mensch agiert nicht aus einem stabilen Umfeld und einer stabilen Identität heraus, sondern wendet sich Rollen zu, füllt diese aus und produziert Ergebnisse. Solange das Dasein des Menschen jedoch auf eine Funktion reduziert wird, die es auszufüllen gilt, ist es beliebig und austauschbar. In der Konsequenz bleibt der Mensch entweder ohne 18
Vgl. Hans-Georg Deggau: »Ohne Anmut. Einige Überlegungen zum ›Human Enhancement‹«, in: UNIVERSITAS. Orientieren! Wissen! Handeln! 67/4, 2012, S. 62–75, hier S. 67. 19 Vgl. Oliver Haas/Norbert Heigl: »Corporate Happiness«, in: CONTROLLER Magazin 36/4, 2011, S. 80–87, hier S. 82. 20 Vgl. Oelsnitz: Das macht mich krank, S. 30–34. 21 Vgl. Frank Schirmer: »Die hektische Organisation: Organisationaler Wandel als Treiber von Auszehrung«, in: Dietrich von der Oelsnitz/Frank Schirmer/Kerstin Wüstner (Hrsg.): Die auszehrende Organisation, Wiesbaden 2014, S. 155– 176, hier S. 167. 22 Vgl. Stephan Grünewald: »Riskanz der Träume. Wege aus der pausenlosen Betriebsamkeit«, in: Forschung & Lehre 20/7, 2013, S. 846–847, hier S. 846.
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
emotionale Bindung an seine Umgebung zurück oder identifiziert sich wie bei der Subjektivierung der Arbeit bis zur Erschöpfung mit seiner Funktion. 23 2.3 Der Mittelweg einer leibzentrierten Perspektive Die Gleichsetzung der subjektiven Erfahrung mit einer innerweltlich verorteten Psyche führt zu einem körperlosen Verständnis von Subjektivität, das nicht als in die Umgebung eingebettet verstanden wird. Da der Körper jedoch durchaus subjektiv gespürt wird und dieses körperlich-subjektive Spüren für Burnout eine hohe Relevanz besitzt, drängt sich die Notwendigkeit eines alternativen Verständnisses von Subjektivität auf, das dieses mit berücksichtigt. Hier bietet sich als Zugang die von Schmitz entwickelte Neue Phänomenologie an, in der die Unterscheidung zwischen dem Leib als subjektiv gespürter Leib und dem Körper als naturwissenschaftlich messbarer, objektiver Körper eine zentrale Rolle einnimmt. Der Leib kann mit Schmitz als das verstanden werden, »was jemand in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig, spüren kann, ohne sich der fünf Sinne, namentlich des Sehens und Tastens, und des aus deren Erfahrung gewonnenen perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen«. 24 Der menschliche Leib ist die subjektiv gespürte Evidenzquelle der eigenen Seinsgewissheit, die sich als leibliche Betroffenheit äußert, so dass sich Subjektivität und Leib nicht voneinander trennen lassen. Der Leib ist das Medium des In-der-Welt-Seins, über das sich der Mensch seine Umgebung erschließt und mit anderen Menschen in Kontakt tritt. Der subjektiv gespürte Leib ist naturwis23
Vgl. Christian Julmi/Ewald Scherm: »Burnout trotz geringer Anforderungen: Warum auch Arbeitslose an Burnout erkranken können«, in: SEM Radar. Zeitschrift für Systemdenken und Entscheidungsfindung im Management 12/2, 2013, S. 17–27, hier S. 19 f. 24 Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (Kurze Einführung), Freiburg/München 2009, S. 35.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
senschaftlich nicht erfassbar, so dass die Erforschung von Leib und Körper durch einen unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Zugang gekennzeichnet ist. Der Leib lässt sich jedoch in einem phänomenologischen Sinne objektivieren, indem das zu erfassen gesucht wird, worüber sich intersubjektiv Einigkeit erzielen lässt. 25 Das räumliche Erleben des Leibes lässt sich über die polaren Ausprägungen von Enge und Weite beschreiben. Die Enge ist das, was den Leib spürbar zusammenhält. Sie zeigt sich beispielsweise sehr aufdringlich bei (starken) Schmerzen. Die leibliche Enge wird als räumliches Hier gespürt und kennzeichnet damit den Ort, an dem sich jemand leiblich spürt (gespürte Anwesenheit). Demgegenüber ist die Weite der Hintergrund, von dem sich die Enge abhebt. 26 Enge und Weite besitzen im leiblichen Erleben die Bewegungstendenzen der Engung und der Weitung, 27 die als Spannung und Entspannung gespürt werden und deren Zusammenspiel sich etwa zeigt, wenn jemand aus der spürbaren Enge eines Raumes in die Weite der Natur tritt. 28 Über die Verschränkung der Tendenzen von Engung und von Weitung ist das leibliche Spüren über die beiden konkurrierenden Antriebe zur Enge und zur Weite hin dynamisch, wobei ein Übergewicht der einen Seite (Tendenz zur Engung) die andere (Tendenz zur Weitung) als antagonistischen Partner erst anstachelt und umgekehrt, sodass mal die eine, mal die andere Seite führt oder wie beim Einatmen ein ungefähres Gleichgewicht zwischen beiden Seiten herrscht. 29 Der Leib ist nicht nur der Ort, an dem sich jemand konkret 25
Vgl. Guido Rappe: Interkulturelle Ethik, Bd. II: Ethische Anthropologie, 1. Teil: Der Leib als Fundament von Ethik (Interkulturelle Ethik II/1), Berlin u. a. 2005, S. 418–422. 26 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 1. Teil: Der Leib (System II/1), Bonn 1965, S. 73–74. 27 Vgl. Schmitz: System II/1, S. 89–94. 28 Vgl. Rappe: Interkulturelle Ethik II/1, S. 485–486; Christian Julmi: Atmosphären in Organisationen. Wie Gefühle das Zusammenleben in Organisationen beherrschen (Atmosphären in Organisationen), Bochum 2015, S. 94 f. 29 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. IV: Die Person (System IV), Bonn 1980, S. 316.
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
spürt, sondern er ermöglicht auch den Kontakt mit anderen Menschen. Schmitz spricht in diesem Zusammenhang von leiblicher Kommunikation, die immer dann vorliegt, »wenn jemand von etwas in einer für ihn leiblich spürbaren Weise so betroffen und heimgesucht wird, dass er mehr oder weniger in dessen Bann gerät und mindestens in Versuchung ist, sich unwillkürlich danach zu richten und sich davon für sein Befinden und Verhalten in Erleiden und Reaktion Maß geben zu lassen«. 30 Die Verschränkung von Engung und Weitung durchzieht nicht nur den eigenen Leib, sondern ist auch Grundlage leiblicher Kommunikation mit anderen. 31 Bei Menschen mit einer Kontakthemmung ist die Fähigkeit leiblicher Kommunikation gestört. 32 3.
Burnout als leibliche Störung
3.1 Emotionale Erschöpfung Burnout selbst wird in der Literatur meist über die emotionale Erschöpfung, die Depersonalisation sowie die Wahrnehmung reduzierter Leistungsfähigkeit beschrieben. 33 Diese drei »Dimensionen« treten jedoch nicht notwendigerweise unabhängig voneinander auf, sondern können als aufeinander folgende Schritte eines Prozesses verstanden werden: Emotionale Erschöpfung führt zu Depersonalisation und damit zu einer Reduktion der wahrgenommenen Leistungsfähigkeit. 34 Die zunächst eintretende emotionale Erschöpfung schlägt sich in einem wahrgenommenen 30
Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 5. Teil: Die Wahrnehmung (System III/5), Bonn 1978, S. 31 f. 31 Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 38 f. 32 Vgl. Schmitz: System III/5, S. 31. 33 Vgl. Christina Maslach/Susan E. Jackson: »Burnout in organizational settings«, in: Applied Social Psychology 5, 1984, S. 133–153, hier S. 134; Maslach/ Schaufeli/Leiter: Job Burnout, S. 402 f.; Atabaki: Ausgebrannt, S. 46. 34 Vgl. Cynthia L. Cordes/Thomas W. Dougherty: »A review and an integration of research on job burnout« (review on job burnout), in: Academy of Management Review 18/4, 1993, S. 621–656, hier S. 641.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Energieverlust, aufgebrauchten emotionalen Ressourcen sowie einer Überbeanspruchung der Kontaktfähigkeit mit anderen Menschen nieder. Aus einer leiblichen Perspektive deuten Symptome wie mangelnde Energie, aufgebrauchte Ressourcen und beständige Überbeanspruchung auf eine verminderte leibliche Vitalität, Lebendigkeit oder Lebenskraft hin, die sich mit Rappe als leibliche Kraft fassen lassen. Leibliche Kraft verweist auf die leiblich gespürte Stärke im Sinne einer Potenz und spiegelt den engen Zusammenhang von Leib und Leben wider. Als eine Art leiblicher Dynamo induziert die leibliche Kraft einen beständigen Kraftfluss, indem er Zustände relativer Spannung und Entspannung schafft, die das leibliche Kraftfeld konstituieren, das von seinem Zentrum her zusammengespannt wird und in Richtung Peripherie an Spannkraft verliert, ohne dabei auf klare Grenzen zu stoßen. Die leibliche Enge ist als das räumlich gespürte Hier zunächst Zentrum und Voraussetzung von spürbarer Lebendigkeit, Tatendrang und Willenskraft (d. h. Handlungsfähigkeit). Die als Spannung gespürte leibliche Tendenz der Engung beansprucht und verbraucht jedoch ebenfalls leibliche Kraft, sodass es immer wieder Phasen der Regeneration mit einem Übergewicht der Entspannung bedarf. Durch den Spannungsabfall in der Entspannung wird nicht nur die Handlungsfähigkeit, sondern auch der leibliche Kraftverbrauch reduziert. Es setzt eine leibliche Akkumulation ein, in der Kraft gesammelt wird, die dem Menschen dann, beispielsweise nach einem erholsamen Schlaf, zur Verfügung stehen. 35 Die Hauptursache emotionaler Erschöpfung stellt dauerhaft erlebter Stress dar, 36 der sich leibphänomenologisch in einer gespürten Anspannung bzw. einem wahrgenommenen Druck manifestiert, 37 wobei sich ausgleichende Tendenzen der Entspannung bzw. Drucklösung nicht mehr ausreichend entfalten können. Da die leiblichen Tendenzen der Spannung gegenüber denjenigen der 35
Vgl. Rappe: Interkulturelle Ethik II/1, S. 480–484. Vgl. Atabaki: Ausgebrannt, S. 46. 37 Vgl. Guido Rappe: Leib und Subjekt. Phänomenologische Beiträge zu einem erweiterten Menschenbild (Leib Subjekt), Bochum 2012, S. 112 f. 36
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
Entspannung überwiegen, wird bei Stress leibliche Kraft beansprucht. Als unangenehmer Spannungszustand entsteht Stress insbesondere dann, »wenn eine subjektiv als bedeutsam angesehene Situation emotional als unkontrollierbar und somit unangenehm oder belastend eingeschätzt wird«. 38 Wenn sich jemand permanent in derartigen unkontrollierbaren Situationen befindet, d. h., ein dauerhafter Verbrauch leiblicher Kraft stattfindet, kommt er irgendwann an den Punkt, an dem die leibliche Kraft (inklusive vorhandener Reserven) aufgebraucht ist und emotionale (oder besser: leibliche) Erschöpfung folgt. Das leibliche Fließgleichgewicht 39 ist in diesem Fall dauerhaft gestört und kann nicht einfach durch einen erholsamen Schlaf oder ähnlichem wiederhergestellt werden. Im Gegenteil geht Burnout gerade mit einer Unfähigkeit einher, Ruhe zu finden. In der Regel finden betroffene Menschen selbst in Arbeitspausen keine Ruhe; »anstelle von Ruhe und Erholung erleben sie Unruhe und Leere«. 40 Emotionale Erschöpfung entsteht durch einen übermäßigen und Stress induzierenden Kontakt in leiblicher Kommunikation mit anderen Menschen, also wenn »die Umgebung den ihr ausgelieferten Menschen ohne Filter, ohne Regulativ bestürmt und überschwemmt«. 41 Häufig können sich von emotionaler Erschöpfung bedrohte Menschen nicht mehr richtig von ihrer Umgebung abgrenzen. Sowohl der aktive Burnout-Typ (»Selbstverbrenner«) wie auch dem passiven Burnout-Typ (»Opfer der Umstände«) haben Schwierigkeiten, Nein zu sagen; der Erste eher zu sich selbst, der Zweite eher gegenüber anderen. 42 Die fehlende Fähigkeit, Nein sagen zu können, führt zu einer Verstrickung von Leib und Umgebung, von eigenen und fremden Erwartungen, 43 durch die 38
Oelsnitz: Das macht mich krank, S. 23. Rappe: Interkulturelle Ethik II/1, S. 485. 40 Toni Brühlmann: »Burnout. Stressverarbeitungsstörung und Lebenssinnkrise«, in: Der Schmerz 28/5, 2013, S. 521–533, hier S. 531. 41 Schmitz: System III/5, S. 32. 42 Vgl. Oelsnitz: Das macht mich krank, S. 26 f. 43 Vgl. Hans-Peter Unger: »Über die Schwierigkeit, ›nein‹ zu sagen. Burnout – Entstehung und Prävention«, in: Forschung & Lehre 18/11, 2011, S. 832–843, hier S. 833. 39
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Christian Julmi und Ewald Scherm
der Mensch in seiner personalen Identität bedroht wird, da diese auf eine klare Differenz von Mensch (Ich) und Umgebung (Nicht-Ich) angewiesen ist. 44 Stattdessen wird der Mensch zu einer ständigen Auseinandersetzung gezwungen, die er aufgrund seiner undurchdringlichen Verstrickungen nicht (mehr) bewältigen kann. 3.2 Depersonalisation Der dauerhafte Kraftverlust durch übermäßigen leiblichen Kontakt mit anderen Menschen führt dazu, dass irgendwann die Fähigkeit zur Resonanz mit anderen Menschen in leiblicher Kommunikation gänzlich abhandenkommt und »sich so etwas wie eine Wand oder ein Nebel zwischen den Menschen und seine Umgebung zu legen scheint«. 45 In der Burnout-Diskussion spricht man in diesem Zusammenhang von Depersonalisation, die Fuchs aus einer leibphänomenologischen Perspektive heraus als »Entfremdung von der sinnlich erfahrbaren und mitmenschlichen Welt« beschreibt. 46 Depersonalisation zeigt sich in einem Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber anderen sowie einem abgestumpften Kommunikationsverhalten. Sie ist mit einer Störung zwischenmenschlicher Beziehungen und einer erlebten Entfremdung von anderen – aber auch von sich selbst – verbunden. Menschen, die von Burnout betroffen sind, erleben den Zustand der Entfremdung von ihrer Umgebung in der Regel sehr intensiv. Westphalen-Ollech berichtet etwa: »Von meinem Körper entfernte ich mich immer weiter. Er diente mir als Hülle und stellte mir seine Funktionen zur Verfügung. Doch er streikte zusehends – und ich wurde immer kraftloser.« 47 44
Vgl. Guido Rappe: Die Scham im Kulturvergleich. Antike Konzepte des moralischen Schamgefühls in Griechenland und China, Bochum/Freiburg 2009, S. 42. 45 Schmitz: System III/5, S. 32. 46 Thomas Fuchs: Psychopathologie von Leib und Raum. Phänomenologisch-empirische Untersuchungen zu depressiven und paranoiden Erkrankungen, Darmstadt 2000, S. 6. 47 Annette Westphalen-Ollech: »Gefangen im goldenen Käfig«, in: Peter Buche-
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
Noch eindringlicher schildert Richter die Selbstentfremdung und Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst: »Es hätte das Haus abbrennen können – wahrscheinlich wäre ich trotzdem liegen geblieben. Rückblickend betrachtet, war es schockierend – ich verlor die Kontrolle über mein eigenes Leben und es war so, als ob ich neben mir stehen würde. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte – und das Schlimme daran: es berührte mich kaum! Ich war nur erstaunt über das, was mit dem Menschen da neben mir geschah, und fragte mich: Was wird wohl aus ihm werden – jetzt, wo er nicht mehr funktioniert? Ich stand einfach neben mir […]« 48
Dem Erkrankten geht die Fähigkeit zu leiblichem Betroffensein verloren; die Resonanzfunktion des leiblichen Befindens ist gestört. 49 Bei der Depersonalisation wird die emotionale Bindung an die Arbeitsumgebung gleichsam gekappt. Die emotionale Bindung an die Arbeitsumgebung spiegelt wider, wie sich jemand in seine Umgebung eingebunden fühlt und sich in sie einbringen kann. 50 Emotionale Bindungen entstehen durch die Identifikation mit der eigenen Arbeit, den Menschen der Arbeitsumgebung und dem Unternehmen sowie durch das Maß persönlicher Involviertheit und leiblicher Entfaltung. 51 Leibliche Entfaltung äußert sich ganz konkret in einer spürbaren Ausdehnung in die Umgebung, die durch eine exzentrische Tendenz der Entspannung gekennzeichnet ist. Dies ist etwa der Fall bei Vertrauen, das einem entgegen gebracht wird. Bei herrschendem Misstrauen wird der Mensch dagegen auf sich selbst zurückgeworfen, wodurch seine leibliche Ausdehnung oder Erstreckung in die Umgebung – und damit auch die für die Regeneration leiblicher Kraft notwendige, nau/Manfred Nelting (Hrsg.): Burnout, Wiesbaden 2015, S. 179–199, hier S. 191. 48 André M. Richter: »Und plötzlich geht nichts mehr!« in: Peter Buchenau/ Manfred Nelting (Hrsg.): Burnout, Wiesbaden 2015, S. 201–216. 49 Vgl. Schmitz: System III/5, S. 32. 50 Vgl. Julmi/Scherm: Arbeitslose Burnout, S. 23. 51 Vgl. Niclas Schaper: »Wirkungen der Arbeit« (Wirkung Arbeit), in: Friedemann W. Nerdinger/Gerhard Blickle/Niclas Schaper (Hrsg.): Arbeits- und Organisationspsychologie, Berlin/Heidelberg 2014, S. 517–539, S. 532.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
exzentrische leibliche Tendenz der Entspannung – beschränkt wird. Eine emotionale Bindung an die Arbeitsumgebung wird auf diese Weise »unterbunden«. Anstatt sich leiblich in die Umgebung zu entfalten, greift der Mensch auf Bewältigungs- und Schutzmechanismen zurück. 52 Wer beispielsweise permanent unter Beobachtung steht und sich auf dem Präsentierteller wähnt, sucht nach Rückzugs- und Schutzmöglichkeiten. Auf diese Weise kann eine konzentrische Misstrauensspirale in Gang gesetzt werden: Der Rückzug ins Verborgene wird als Anzeichen von Vertuschung gedeutet, worauf Misstrauen geschürt und Kontrollverhalten verstärkt werden, worauf der Betroffene Schutz suchend sich zurückzieht (und so weiter). 53 Eine wesentliche Rolle für die emotionale Bindung spielt die Beziehung zu den Kollegen, die durch belastende oder fehlende persönliche Beziehungen geschwächt wird, was ebenfalls ein Gefühl der Entfremdung nach sich ziehen kann. 54 Als Gefühl, sich einbringen zu können und zu dürfen, geht eine hohe emotionale Bindung mit einem hohen Grad wahrgenommener Selbstbestimmung einher. Während das Eingreifen der Umgebung in das leibliche Befinden aus Sicht des Betroffenen eine konzentrische (engende) Tendenz besitzt, äußert sich das Eingreifen des Menschen in seine Umgebung als exzentrische (weitende) Tendenz. Man hat dann seine Umgebung sprichwörtlich »im Griff«. Der Schwerpunkt liegt auf positiv empfundener Weite und Entspannung, sodass eine hohe Selbstbestimmung prinzipiell eine Akkumulation leiblicher Kräfte begünstigt. Eine hohe Fremdbestimmung besitzt dagegen eine konzentrische Tendenz, verbunden mit einer engenden Wirkung der Umgebung und einem Schwerpunkt in Richtung Spannung. In diesem Sinne führt eine hohe Fremdbestimmung in vielen Fällen zu einem Ver52
Vgl. Christian Julmi/Ewald Scherm: »Vertrauen schafft Kreativität. Wie ein kreativer Spielraum entsteht«, in: Zeitschrift Führung + Organisation 82/2, 2013, S. 103–109, hier S. 104. 53 Vgl. Ethan Bernstein: »The transparency trap«, in: Harvard Business Review 92/10, 2014, S. 58–66, hier S. 60. 54 Vgl. Wendelin Küpers/Jürgen Weibler: Emotionen in Organisationen, Stuttgart 2005, S. 134.
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
brauch leiblicher Kräfte. Dies wird auch dadurch begünstigt, dass Menschen in einer fremdbestimmten Umgebung häufig die Kontrolle über die eigenen Gefühle verlieren und zunehmend durch die herrschenden Gefühlsregeln bestimmt werden. 55 Bei reiner Ergebnisorientierung tritt der Mensch nicht nur wie beschrieben in den Hintergrund, sondern ihm wird auch ein Stück weit die Chance genommen, eine emotionale Bindung zu seiner Umgebung aufzubauen. In der fremdbestimmenden Ergebnisorientierung ist die Depersonalisation damit in gewisser Weise bereits angelegt. 3.3 Wahrnehmung reduzierter Leistungsfähigkeit Die dritte Dimension des Burnout umfasst die Verminderung der Einschätzung in Bezug auf die Kompetenz, die gestellten Anforderungen erfolgreich bewältigen zu können. Während bei der Depersonalisation die emotionale (An-)Bindung an die Umgebung im Vordergrund steht, bezieht sich die reduzierte Wahrnehmung der eigenen Wirksamkeit auf die Zuwendung zu arbeitsbezogenen Aufgaben, die als Anforderungen aus der Umgebung an einen gestellt werden. Die wahrgenommene Leistungsfähigkeit liegt unter der eigenen Erwartungshaltung, sodass ein Gefühl der Überforderung eintritt. 56 Da in einer leibzentrierten Perspektive Mensch und Umgebung nicht dualistisch voneinander (ab)getrennt sind, können die Anforderungen aus der Umgebung auch in der eigenen, unter Umständen überzogenen Erwartungshaltung begründet sein, die jemand von sich selbst hat, ihm aber aus der Umgebung (oder Situation) heraus als an ihn gestellt erscheinen. Die eigene subjektive Erwartungshaltung wird dann zum objektiven Maßstab der eigenen Leistung. Bei einer wahrgenommenen reduzierten Leistungsfähigkeit sind die leiblichen Kraftreserven derart aufgebraucht, dass sie 55
Vgl. Steve Vincent: »The emotional labour process: An essay on the economy of feelings«, in: Human Relations 64/10, 2011, S. 1369–1392, hier S. 1372. 56 Vgl. Schaper: Wirkung Arbeit, S. 531.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
nicht mehr aus ihrer Gebundenheit im leiblichen Spüren gelöst und zur Zuwendung zu bestimmten Zielen oder Anlässen mobilisiert werden können. Der leiblichen Resonanz- und Schwingungsfähigkeit geht die Empfänglichkeit gegenüber Anregungen aus der Umgebung verloren. 57 Mit der leiblichen Entfremdung der Depersonalisation geht daher auch eine Störung »der leiblichen Resonanz- und Schwingungsfähigkeit« einher, »die verhindert, dass das Neue verarbeitet und integriert werden kann«. 58 Depersonalisation führt als Störung der emotionalen Bindung letztlich dazu, dass die Betroffenen entweder keine Motivation mehr haben, den an sie gestellten Anforderungen nachzukommen, oder die Möglichkeiten, diese effektiv bewältigen zu können, als stark eingeschränkt einschätzen. Wer etwa von Misstrauen umgeben ist und für jeden falschen Schritt bestraft wird, hat kaum das Gefühl der Kompetenz in Bezug auf seine Arbeit. Die reduzierte empfundene Wirksamkeit der eigenen Leistung als dritte Dimension von Burnout beruht daher wesentlich auf der zweiten Dimension der Depersonalisation. 59 Eine Störung der emotionalen Bindung an die Umgebung erschwert letztlich auch die Zuwendung zu arbeitsbezogenen Aufgaben aus der Umgebung. Die für die Depersonalisation charakteristische fehlende emotionale Bindung sowie die mit der Wahrnehmung reduzierter Leistungsfähigkeit verbundene Überforderung mit den arbeitsbezogenen Aufgaben aus der Umgebung hängen zwar eng miteinander zusammen, müssen jedoch unterschieden werden, da für die Gefahr einer Burnout-Erkrankung letztlich das Verhältnis beider entscheidend ist. Es reicht nicht aus, alleine die wahrgenommenen Anforderungen in den Blick zu nehmen, denn es gibt sowohl Menschen, die unter subjektiv schwierigsten Bedingungen ohne spürbaren Kraftverlust bestehen können, als auch 57
Vgl. Schmitz: System IV, S. 316 f. Gabriele Marx: »Entfremdung vom Leib bringt den Körper in Not«, in: Joachim Klose (Hrsg.): Heimatschichten. Anthropologische Grundlegung eines Weltverhältnisses, Wiesbaden 2013, S. 291–301, hier S. 298. 59 Vgl. Cordes/Dougherty: review on job burnout, S. 646. 58
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
Menschen, die bei eigentlich guten Bedingungen ausbrennen. 60 Stattdessen ist davon auszugehen, dass hier die emotionale Bindung eine entscheidende Rolle spielt. Je mehr sich jemand mit seiner Arbeit oder seinem Unternehmen identifiziert (hohe emotionale Bindung), desto höher ist seine diesbezügliche Leistungsbereitschaft und umso weniger setzt – zumindest bis zu einem gewissen Grad – ein Gefühl des Stresses oder der emotionalen Erschöpfung ein. 61 Studien belegen, dass eine hohe Identifikation dazu führt, dass Mitarbeiter »mehr leisten, zufriedener und kreativer sind, kundenorientierter handeln und seltener kündigen«. 62 Demgegenüber lässt sich sogar bei Arbeitslosen eine Zunahme an Burnout-Erkrankungen beobachten, 63 bei denen zwar nur eine geringe Arbeitsbelastung, häufig aber auch eine geringe emotionale Bindung vorliegt. Wer immer wieder Bewerbungen schreibt und Absagen kassiert, besitzt weder Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, noch fühlt er sich von (nicht vorhandenen) Kollegen wertgeschätzt. Eine eventuelle Identifikation mit der Arbeit läuft aufgrund der Nichtbeschäftigung beständig ins Leere und dadurch irgendwann leer. Einerseits führt eine Steigerung der Anforderungen nicht zwangsläufig zu höheren Belastungen, da sie durch eine Erhöhung der emotionalen Bindung kompensiert werden kann. Andererseits schützen geringe Anforderungen nicht vor erlebter Belastung, wenn die entsprechende emotionale Bindung fehlt. 64 Abbildung 1 veranschaulicht diese Zusammenhänge.
60
Andreas Hillert: Burnout – Zeitbombe oder Luftnummer? Persönliche Strategien und betriebliches Gesundheitsmanagement (Zeitbombe oder Luftnummer), Stuttgart 2014, S. 19. 61 Vgl. Klaus Moser: Commitment in Organisationen, Bern u. a. 1996, S. 59; Rolf van Dick: »Gefährliche Begeisterung« (Gefährliche Begeisterung), in: Harvard Business Manager 25/2, 2014, S. 14–15, hier S. 14. 62 Rolf van Dick: »Gesünder in der Gruppe«, in: Harvard Business Manager 23/8, 2012, S. 14–16, hier S. 14. 63 Vgl. Oelsnitz: Das macht mich krank, S. 23. 64 Vgl. Julmi/Scherm: Arbeitslose Burnout, S. 22.
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Christian Julmi und Ewald Scherm Grad der Bindung (+) zwischen Entspannung Mitarbeiter oder positiver und Stress Umgebung
Empfundene Anforderungen
(-) Anspannung oder negativer Stress
(--) Burnout-Gefahr Emotionale Bindung
Zeit
Abbildung1: Verhältnis zwischen Anforderungen und emotionaler Bindung im Zeitverlauf
In der Burnout-Forschung wird als grundlegendes theoretisches Modell zur Entstehung von Burnout allgemein ein dauerhaftes Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen einer Arbeit und den vorhandenen Ressourcen, diese zu bewältigen, zugrunde gelegt. 65 Besteht ein dauerhaftes Ungleichgewicht zwischen den (subjektiv empfundenen) Anforderungen der Arbeitsumgebung und der (subjektiv empfundenen) emotionalen Bindung, wird leibliche Kraft verbraucht, wobei ein dauerhafter Verbrauch leiblicher Kraft irgendwann zu Burnout führt. Dies wird dann als emotionale Erschöpfung erlebt und geht mit Symptomen wie verminderter Kraft und Vitalität oder fehlendem Antrieb einher. 66 Aus der emotionalen Erschöpfung heraus kann die emotionale Bindung an die Umgebung nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Resonanz- und Schwingungsfähigkeit geht verloren, auf arbeitsbezogene Anforderungen aus der Umgebung kann nicht mehr adäquat im Sinne einer leiblichen Responsivität geantwortet werden.
65 66
Vgl. Atabaki: Ausgebrannt, S. 47. Vgl. Wolf/Wolf/Susa: Fatigue-Syndrom, S. 173.
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
4.
Burnout als atmosphärische Störung
Da der Leib das Medium darstellt, das den Menschen mit seiner Umgebung verbindet, bezieht sich die Störung des leiblichen Fließgleichgewichts auf die Einbettung in die Umgebung und beeinflusst damit die Art und Weise, wie diese sinnlich wahrgenommen wird. 67 Der Leib ist nicht nur Resonanzboden für den Kontakt mit anderen Menschen, sondern auch für die Wahrnehmung von Atmosphären, verstanden als räumlich ergossene Gefühle, die einen Menschen aus der Umgebung heraus leiblich ergreifen. 68 Eine Störung des leiblichen Fließgleichgewichts geht entsprechend mit einer Beeinträchtigung der Sensibilität in der Wahrnehmung von Atmosphären einher. Ob und welche Atmosphäre einen Menschen ergreift, hängt von dessen leiblichem Empfinden ab, das wiederum von der jeweiligen persönlichen Situation spezifisch ausgerichtet wird, wobei auch die wahrgenommene Atmosphäre die persönliche Situation leiblich spürbar imprägniert. 69 Burnout taucht die Welt und die persönliche Situation in ein tristes, leeres und eintöniges Grau. 70 Der eigene Leib wird zum Resonanzboden eines »ihn umgreifenden und durchdringenden, übermächtigen Gefühls« 71 der Verzweiflung, das sich über sein ganzes Dasein legt, ohne dem von Burnout Betroffenen die Möglichkeit eines Auswegs zu präsentieren. Existenzielle Verzweiflung macht sich breit: »Das temporäre Gefühl der Hilflosigkeit hat sich zu einem chronischen Gefühl der Hoffnungslosigkeit verdichtet. Das Leben hat seinen Sinn verloren«. 72 Die Atmosphäre des Burnout kann mit Schmitz als Atmosphä-
67
Vgl. Rappe: Leib Subjekt, S. 112 f. Vgl. Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg/München 2014, S. 30. 69 Vgl. Hermann Schmitz: »Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen« (Gefühle Atmosphären), in: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hrsg.): Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt 1994, S. 33–56, hier S. 41. 70 Vgl. Matthias H. W. Braun: Burnout-Watcher. Die Leistungsfähigkeit erhalten. Das Leben bewusst gestalten, Regensburg 2012, S. 22. 71 Schmitz: System III/2, S. 169. 72 Burisch: Burnout-Syndrom, S. 35. 68
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Christian Julmi und Ewald Scherm
re der Leere bezeichnet werden 73 und lässt sich mit Julmi idealtypisch den ausladend-weitenden Atmosphären zuordnen, die durch einen Schwerpunkt der unlustvoll erlebten Weite gekennzeichnet sind. 74 Die Atmosphäre der Leere durchtränkt »die Gegenstände der Umgebung des Betroffenen atmosphärisch«, »indem sie diesen das Gepräge der Sinnlosigkeit, des Grauen, der endlosen Wiederholung aufdrückt«. 75 Als Beispiel führt Schmitz die Verschlafenheit am Morgen, das hässliche Häusermeer einer Großstadt oder ein Bahnhof, auf dem man unterwegs ist, an. 76 Typische (synästhetische) Qualitäten der Atmosphäre der Leere sind das Trübe, Fahle, Kühle, Graue, Schäbige, Matte, Charakterlose oder Fade, die sich als Qualitäten durch eine gewisse Neutralität auszeichnen. 77 Der Idealtyp der ausladend-weitenden Atmosphäre besitzt einen unlustvoll-exzentrischen Charakter, d. h., das räumliche Erleben ist mit einer Ausdehnung verbunden, die spürbar unangenehm ist. Obwohl im eigentlichen Sinne von nirgendwo her Gefahr droht, wäre man am liebsten woanders. Man findet keinen Zugang zur Umgebung und fühlt sich von ihr ausgeschlossen. Neben der Atmosphäre des Burnout gehört hierzu etwa die Atmosphäre einer fremdartigen Architektur, die zwar nicht abschreckend im Sinne eines engenden Impulses wirkt, zu der man aber aufgrund der Fremdartigkeit keinen Zugang findet. 78 Für Burnout ist es (wie beschrieben) charakteristisch, dass Betroffene anstelle von Ruhe und Erholung Unruhe und Leere erleben. Burnout geht mit einer »oft chronifizierte[n] Niedergeschlagenheit und innere[n] Leere« 79 sowie einem diffusen Gefühl der Ohnmacht bzw. Machtlosigkeit einher. 80 Die ausladend-weitende 73
Vgl. Schmitz: System III/2, S. 219–244. Vgl. Julmi: Atmosphären in Organisationen, S. 215 ff. 75 Schmitz: System III/2, S. 222. 76 Vgl. Schmitz: Gefühle Atmosphären, S. 41 f. 77 Vgl. Schmitz: System III/2, S. 225 ff. 78 Vgl. Julmi: Atmosphären in Organisationen, S. 215. 79 Achim Wortmann: Die Rolle von Persönlichkeit bei der Inneren Kündigung im Bezug zu den Prädiktoren Psychologischer Vertrag und Sensibilität für Ungerechtigkeit, Hamburg 2013, S. 28. 80 Vgl. Heinrich Jüptner: »Burnout: Gesundheitsbildung durch physische und 74
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
Atmosphäre der Leere ist die Verzweiflung, in der durch die Haltund Richtungslosigkeit der Leere auf paradoxe Art Unruhe und Trägheit zusammenkommen. Der Unruhe fehlt es aufgrund der gestörten leiblichen Resonanz- und Schwingungsfähigkeit an Initiative und Entschluss. Weil die Unruhe in alle Richtungen und doch nirgendwo konkret hin strebt, hebt sie sich selbst auf und wird zur Trägheit. 81 Die Bewegung ist mit einem Strampeln in zähfließendem Honig vergleichbar: Egal wie sehr man sich anstrengt, man kommt doch nicht von der Stelle. 5.
Implikationen für Unternehmen
Burnout entsteht, wenn im Zusammenspiel von Leib und Umgebung ein dauerhaftes Ungleichgewicht zwischen den (subjektiv empfundenen) Anforderungen der Arbeitsumgebung und der (subjektiv empfundenen) emotionalen Bindung an diese besteht. Entsprechend ergeben sich zwei mögliche Herangehensweisen, das Burnout-Risiko in Unternehmen zu mindern: Diese liegen erstens in der Reduzierung der Anforderungen, die aus der Umgebung heraus an den Mitarbeiter gestellt werden, und zweitens in der Erhöhung der emotionalen Bindung, die der Mitarbeiter an seine Umgebung hat. Entscheidend ist primär nicht deren absolute Ausprägung, sondern das Verhältnis der beiden zueinander, 82 wobei dennoch eine Grenze nicht überschritten werden darf, da zu hohe emotionale Bindung auch schädlich sein kann. Menschen, die sich bis zur Selbstaufgabe mit ihrer Aufgabe oder ihrem Umfeld identifizieren, können ebenso ausbrennen. 83 Dies gilt insbesondere für den aktiven Burnout-Typ des »Selbstverbrenners«. Das Verhältnis von Anforderungen und emotionaler Bindung kann nur über eine subjektive Herangehensweise bestimmt werpsychische Aktivierung und Entspannung«, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 47/3, 1993, S. 93–96, hier S. 94 f. 81 Vgl. Schmitz: System III/2, S. 236; Schmitz: Kurze Einführung, S. 88. 82 Vgl. Julmi/Scherm: Arbeitslose Burnout, S. 21. 83 Vgl. van Dick: Gefährliche Begeisterung, S. 15.
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den. Das jeweilige objektive Ausmaß der Anforderungen – sofern sich ein solches überhaupt bestimmen lässt – wird von verschiedenen Menschen unterschiedlich wahrgenommen. Zeitdruck ist beispielsweise ein Indikator für erhöhte Anforderungen, lässt sich jedoch nicht auf eine Kennzahl wie verfügbare Zeit pro Arbeitseinheit reduzieren. Es gibt sogar Untersuchungen, die belegen, dass der subjektiv wahrgenommene zur Verfügung stehende Zeitraum größer wird, wenn man Zeit investiert, um anderen zu helfen. 84 Insofern kann die Reduzierung der verfügbaren Zeit in einem quantitativen Sinne die verfügbare Zeit in einem subjektiven Sinne erhöhen. Zeitknappheit wird erst dann wirklich zu Zeitdruck, wenn er als leiblicher Druck gespürt wird, d. h., wenn er sich als unangenehmer Spannungszustand manifestiert, wobei die genannte Untersuchung darauf hindeutet, dass hierbei die emotionale Bindung eine wichtige Rolle spielt. Subjektiv empfundener Zeitdruck stellt eine ernstzunehmende Belastung dar, auch wenn er quantitativ schwer zu erfassen ist. 85 Insgesamt geht es darum, wie die Anforderungen und im Vergleich zu diesen die emotionale Bindung an die Arbeitsumgebung subjektiv erlebt werden. Sind die Anforderungen über einen längeren Zeitraum höher als die emotionale Bindung, geht dies zu Lasten leiblicher Kräfte. Was zunächst als Stress erlebt wird, kann als Burnout enden. Überwiegt die emotionale Bindung dagegen die empfundenen Anforderungen, kann Stress abgebaut und leibliche Kraft aufgebaut werden. Wenn die Anforderungen der Umgebung über der Kapazität der vorhandenen leiblichen Kräfte liegen, kippt das leibliche Fließgleichgewicht in ein Fließungleichgewicht, in dem den engenden, als Spannung gespürten Tendenzen nicht mehr ausreichend spannungsausgleichende Tendenzen der Weitung gegenüberstehen. Die Mitarbeiter laufen dann sozusagen im »Batteriebetrieb«. Hier spielen sogenannte Aufforderungscharaktere als engende Im84
Vgl. Cassie Mogilner/Zoë Chance/Michael I. Norton: »Giving time gives you time«, in: Psychological Science 23/10, 2012, S. 1233–1338, hier S. 1233. 85 Vgl. Axel Haunschild: »Arbeitshetze und Zeitdruck. Be- und Entschleunigung in der Wissenschaft«, in: Forschung & Lehre 22/7, 2015, S. 528–530, hier S. 529.
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
pulse eine wesentliche Rolle, die aus der Umgebung konzentrisch an einen herangetragen werden. Es handelt sich bei diesen um Bewegungssuggestionen, die eine Bewegung suggerieren, die – auch wenn sie nicht tatsächlich ausgeführt wird – am eigenen Leib erfahren wird. 86 Aufforderungscharaktere gehen beispielsweise von einem Türgriff aus, der einen auffordert, die Türe zu öffnen oder von einem Stuhl, der zum Hinsetzen auffordert. 87 Sie gehen jedoch ebenso von eingehenden Mails, klingelnden Telefonen oder dem Erscheinen des Vorgesetzten aus – und dann schließlich von der eigenen Erwartungshaltung, es könnte in jedem Moment eine Mail eingehen, das Telefon klingeln oder der Vorgesetzte auftauchen. Die ständige Erreichbarkeit eines Mitarbeiters sowie das gleichzeitige oder in kurzen Abständen aufeinanderfolgende Erledigen mehrerer Aufgaben bilden einen beständigen Aufforderungscharakter, der dem Mitarbeiter keine Gelegenheit lässt, durchzuatmen – unabhängig davon, ob dieser Zustand selbstoder fremdverschuldet ist. Der Mitarbeiter ist einer permanenten Nötigung ausgesetzt, sich mit der Vielfalt an Rollen- und Funktionserwartungen zu synchronisieren. Der permanente Aufforderungscharakter führt zu einer Überstimulation, die auf Dauer nicht mehr kompensiert werden kann. 88 Eine Reduzierung der Anforderungen sollte daher insbesondere durch die Reduktion der Aufforderungscharaktere herbeigeführt werden. Hierzu ist es zunächst grundsätzlich wichtig, regelmäßig Phasen der Erholung einzulegen, um das leibliche Fließgleichgewicht zu erhalten. Selbst im Spitzensport sind Top-Leistungen nur mit Phasen der Erholung möglich, in denen der Mensch regenerieren kann. 89 In Unternehmen können beispielsweise Ruhepausen angeboten werden, die sich die Mitarbeiter dann selbst einteilen können. Selbst ein Mittagsschlaf – im Englischen schöner als power nap bezeich86
Vgl. Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin/Boston 2011, S. 33 f. Vgl. Kurt Lewin: Grundzüge der topologischen Psychologie, Bern/Stuttgart 1969, S. 226; James J. Gibson: Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung, Bern u. a. 1982, S. 334. 88 Vgl. Till Bastian: »Neurose und Moderne: Die neuen Leiden der Seele«, in: UNIVERSITAS. Orientieren! Wissen! Handeln! 66/4, 2011, S. 22–35, hier S. 32 f. 89 Vgl. Julmi/Scherm: Arbeitslose Burnout, S. 22 f. 87
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Christian Julmi und Ewald Scherm
net – kann helfen, die leiblichen Kräfte im Gleichgewicht zu halten. 90 Nicht zuletzt sollte es Phasen geben, in denen ein Mitarbeiter nicht erreichbar ist und auch nicht darauf gefasst sein muss, jederzeit kontaktiert zu werden. Dies kann dem Betroffenen selbst schwer fallen, der sich vielleicht immer wieder dabei ertappt, trotz gutem Vorsatz seine Mails abzurufen. In diesem Kontext empfiehlt es sich für Unternehmen, die Teilnahme ihrer Mitarbeiter an spezifischen Techniken der Leibbemeisterung 91 wie Atemübungen, Meditation oder Yoga zu fördern bzw. sie zu einer Teilnahme zu motivieren. Atemübungen zielen beispielsweise darauf, über gezielte und intensive Engung entspannende Tendenzen der Weitung freizusetzen und diese letztlich zu kontrollieren. 92 Hierbei soll die leibliche Spannung nicht gänzlich aufgehoben, sondern insofern reguliert werden, dass »regellos schweifende Partialspannungen« am Ausbruch gehindert werden können. 93 Bei der Meditation löst sich der Mensch von den Bindungen zu seiner Umgebung und besinnt sich ganz auf sich selbst. 94 Die Person mitsamt ihrer Gedanken und kognitiven Aktivitäten tritt zugunsten des in die Weite des Raumes expandierenden leiblichen Spürens in den Hintergrund. 95 Auf diese Weise werden die Verstrickungen zwischen Leib und Umgebung reduziert, was zu einer Stärkung der eigenen, leiblich fundierten Identität führt. Durch Meditation »wird es für den Einzelnen möglich, sich seiner Potenziale, Motivationen und Präferenzen, bewusst zu werden«. 96 Auch bei Yoga geht es letztlich darum, Tendenzen der 90
Vgl. Rajiv Dhand/Harjyot Sohal: »Good sleep, bad sleep! The role of daytime naps in healthy adults«, in: Current opinion in pulmonary medicine 12/6, 2006, S. 379–382, hier S. 379. 91 Schmitz: System II/1, S. 178. 92 Vgl. Schmitz: System II/1, S. 180. 93 Schmitz: System II/1, S. 184. 94 Vgl. Desmond Morris: Der Mensch mit dem wir leben, München 1982, S. 165. 95 Vgl. Guido Rappe: »Time and nothingness in aspects of buddhist philosophy – From the beginnings to Dogen’s Uji«, in: Tadashi Ogawa/Michael Lazarin/Guido Rappe (Hrsg.): Interkulturelle Philosophie und Phänomenologie in Japan. Beiträge zum Gespräch über Grenzen hinweg, München 1998, S. 325–365, hier S. 328. 96 Stephan Laske/Claudia Meister-Scheytt/Wendelin Küpers: Organisation und Führung, Münster u. a. 2006, S. 91.
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
Entspannung freizusetzen und die Kontrolle über das eigene leibliche Fließgleichgewicht zu erlangen. 97 Neben einer Reduktion der empfundenen Anforderungen empfiehlt sich als zweite Möglichkeit der Minderung des Burnout-Risikos die Erhöhung der wahrgenommenen emotionalen Bindung der Mitarbeiter an ihre Umgebung. Hier zeigen Studien beispielsweise, dass das Gefühl, die eigenen Lebensumstände beeinflussen zu können, ein zentraler Faktor für das Wohlbefinden des Menschen darstellt. 98 Die Selbstbestimmung bei den zu erledigenden Aufgaben ist ein wichtiger Bestandteil der emotionalen Bindung, der konkret beeinflusst werden kann. Der Vorgesetzte kann nicht nur den Entscheidungsspielraum seiner Mitarbeiter erhöhen, sondern diese auch zusätzlich (d. h. ohne Einschränkung ihrer Autonomie) in ihrer Arbeit unterstützen und entlasten. Entscheidungen sollte ein Vorgesetzter nicht über die Köpfe seiner Mitarbeiter hinweg treffen, sondern diese aktiv mit einbeziehen, um die Identifikation der Mitarbeiter mit ihrer Arbeit zu erhöhen. 99 Man muss, wie gerne gesagt wird, Betroffene auch zu Beteiligten machen. 100 Allgemein erhöht sich durch kooperatives Führungsverhalten die emotionale Bindung von Mitarbeitern. 101 Demgegenüber steht beispielsweise ein destruktives Führungsverhalten, das vorliegt, wenn jemand über einen längeren Zeitraum hinweg das Verhalten seines Vorgesetzten ihm gegenüber als feindselig und/oder behindernd wahrnimmt. 102 Ein destruktives 97
Vgl. Schmitz: System II/1, S. 192, 279. Vgl. Bernhard Ungericht/Martina Wiesner: »Resilienz«, in: Zeitschrift Führung + Organisation 80/3, 2011, S. 188–194, hier S. 192. 99 Vgl. Christoph Berger: »Fehlende Partizipation und direktive Führung demotivieren. Europaweite Studie der Hay Group zum Unternehmensklima«, in: Personalführung 44/10, 2011, S. 4–5, hier S. 4. 100 Vgl. Götz W. Werner: »Kreativität und Gesellschaft«, in: Christian Julmi (Hrsg.): Gespräche über Kreativität, Bochum/Freiburg 2013, S. 98–103, hier S. 101 f. 101 Vgl. Bernd Helbich/Volker Herzig: »Kooperative Personalführung«, in: wisu – das wirtschaftsstudium 44/4, 2015, S. 455–459, hier S. 456 f. 102 Vgl. Birgit Schyns/Jan Schilling: »How bad are the effects of bad leaders? A meta-analysis of destructive leadership and its outcomes«, in: The Leadership Quarterly 24/1, 2013, S. 138–158, hier S. 141. 98
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Führungsverhalten untergräbt die emotionale Bindung eines Mitarbeiters und verursacht im Extremfall dessen Burnout. 103 Hierbei spielt das entgegengebrachte Vertrauen eine wesentliche Rolle, da sich ein kooperatives Führungsverhalten nur bei herrschendem Vertrauen entfalten kann. Vertrauen spielt jedoch nicht nur im Verhältnis zu Vorgesetzten eine wichtige Rolle, sondern auch im Verhältnis zu den Kollegen, weshalb auf eine vertrauensvolle und kollegiale Atmosphäre in der Belegschaft Wert gelegt werden sollte. 104 Demgegenüber macht eine gegen die Bedürfnisse der Mitarbeiter gerichtete Umgebung auf Dauer krank, weil sie diese in eine Situation zwingt, in der sie aufgrund der fehlenden emotionalen Bindung einem permanenten leiblichen Kraftverlust ausgesetzt sind. Die Gefahr des Burnout ist umso größer, je weniger der Mensch als Subjekt gebraucht bzw. je mehr er auf einen reinen Produktionsfaktor reduziert wird (oder sich selbst reduziert). 6.
Fazit
Der vorliegende Beitrag hat aus einer leibzentrierten Perspektive aufgezeigt, dass bei Burnout-Erkrankungen weder der Mensch noch sein Umfeld alleine verantwortlich sind. Vielmehr liegen die Ursachen eines Burnout im subjektiv-leiblichen Verbund von Mensch und Umgebung, also in der Art und Weise, wie ein Mensch leiblich in seine Umgebung eingebettet ist. Diesbezüglich scheint das steigende Burnout-Risiko in einem engen Zusammenhang mit der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung zu stehen. Böhme bemerkt hierzu: »Seit einiger Zeit treffen wir auf einen Menschen, der nicht im Genießen sozialisiert ist, sondern auf Umsatz, auf Verbrauch getrimmt, der im Grunde lustunfähig ist, leibfern lebt, in seinen sozialen Beziehungen cool und unempfänglich sich darstellt und in wachsendem Maße bindungsarm,
103
Vgl. Frank Walter: »Ursachen und Folgen destruktiver Führung«, in: PERSONALquarterly 67/3, 2015, S. 46–49, hier S. 48. 104 Vgl. Hillert: Zeitbombe oder Luftnummer, S. 70–73.
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Burnout als leiblich-atmosphärische Störung
um nicht zu sagen, bindungsunfähig wird«. 105 Eine leibzentrierte Perspektive vermag jedoch nicht nur Probleme aufzuzeigen, aus ihr heraus können auch – wie im vorangehenden Kapitel angedeutet – Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Letztlich erhöht sich durch diese Verschiebung der Perspektive der Handlungsspielraum für Unternehmen, da die emotionalen Bindungen eines Menschen leichter zu beeinflussen sein dürften als seine innerweltliche Psyche, die sich aus medizinischer Sicht meist nur mit entsprechenden Medikamenten ruhig stellen lässt. Mit Selbstbestimmung hat das dann aber nichts mehr zu tun.
105
Gernot Böhme: »Atmosphären wahrnehmen, Atmosphären gestalten, mit Atmosphären leben: Ein neues Konzept ästhetischer Bildung«, in: Rainer Goetz/ Stefan Graupner (Hrsg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff, München 2008, S. 31–43, hier S. 37.
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Jan Slaby
Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn. Bausteine einer phänomenologischen Gefühlstheorie 1 1.
Einleitung
Die Erkundung des menschlichen Gefühlslebens bildet seit vielen Jahren einen bedeutsamen Schnittbereich zwischen der Philosophie und den empirischen humanwissenschaftlichen Disziplinen, zum Beispiel der Psychologie, der Psychiatrie und den Neurowissenschaften. 2 Philosophinnen und Philosophen, die sich mit den Gefühlen beschäftigen, stehen daher vor einer besonderen Herausforderung. Einerseits sind sie gut beraten, ihre Überlegungen so zu gestalten und zu formulieren, dass sie auch von nicht philosophisch geschulten Personen produktiv aufgenommen werden können. Andererseits müssen sie sicherstellen, dass die theoretische Beschreibung von Gefühlsphänomenen nicht durch Vereinfachungen, Verkürzungen oder vorschnelle Zugeständnisse an 1
Der vorliegende Text ist eine ergänzte und überarbeitete Fassung eines Textes, der ursprünglich erschienen ist als: Jan Slaby: »Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn. Bausteine einer phänomenologischen Gefühlstheorie«, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hrsg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Erkenntnistheorie, Berlin 2011, S. 125–138. 2 Wichtigster Wegbereiter dieses Trends ist der Neurologe Antonio R. Damasio (vgl. Antonio R. Damasio: Descartes’ Error, New York 1994 und Antonio R. Damasio: The Feeling of what Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, San Diego 1999). Bemerkenswerte philosophische Anknüpfungen an die naturwissenschaftliche Affektforschung markieren die Studien von Griffiths (Paul Griffiths: What Emotions Really Are. The Problem of Psychological Categories, Chicago 1997) und Prinz (Jesse Prinz: Gut Reactions. A Perceptual Theory of Emotion, Oxford, New York 2004). Eine sehr differenzierte philosophische Einführung in diese Thematik liefert: Martin Hartmann: Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, Frankfurt 2010.
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Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn
die (vermeintliche) Empirie verfälscht wird. Mein Beitrag stellt einen Versuch da, ein phänomenologisches Verständnis der menschlichen Gefühle in groben Zügen so zu umreißen, dass der interdisziplinären Gefühlsforschung Anschlüsse an die Philosophie der Gefühle zumindest erleichtert werden. Ich meine damit neben den genannten humanwissenschaftlichen Disziplinen, die sich vor allem mit den physiologischen sowie evolutions- und verhaltensbiologischen Grundlagen von Emotionen befassen, auch Ansätze aus den Sozial- und Kulturwissenschaften, in denen Gefühle in den letzten Jahren vor allem unter dem Schlagwort »Affekt« (affect studies, affective turn etc.) thematisiert worden sind. 3 Zum Zweck einer solchen offenen Artikulation eines gefühlstheoretischen und gefühlsphänomenologischen Ansatzes beschreibe ich fünf zentrale Aspekte, die ich als für eine solche Konzeption unabdingbar erachte; natürlich sind es nicht die einzig denkbaren. Alle fünf Punkte sind in vielen nicht-phänomenologischen Ansätzen bislang – wenn überhaupt – nur in stark verkürzter Form berücksichtigt werden. Bei diesen Merkmalen handelt es sich erstens um die besondere Art des Weltbezugs der Gefühle (affektive Intentionalität), zweitens um die spezifische Interpersonalität bzw. den transpersonalen Charakter des Fühlens, drittens um den sehr engen, aber komplexen Zusammenhang zwischen Fühlen und Handeln, viertens um die gefühlsspezifische Art des Selbstbezugs und fünftens um die grundlegende Leiblichkeit des Fühlens. Bevor ich diese fünf Aspekte nacheinander beschreibe, unternehme ich den Versuch einer Globalcharakterisierung der Gefühle des Menschen. Dabei möchte ich eine Hinsicht herausstellen, die – sehr grob gesagt – die Rolle der Gefühle für die menschliche Existenz im Ganzen deutlich werden lässt: Es ist die These, dass 3
Einschlägig für die kulturwissenschaftlichen affect studies sind die Sammelbände Patricia T. Clough/Jean Halley (Hrsg.): The Affective Turn. Theorizing the Social, Durham 2007 sowie Melissa Gregg/Gregory J. Seigworth (Hrsg.): The Affect Theory Reader, Durham 2010. Eine philosophische Perspektivierung dieser Ansätze bieten Jan Slaby/Rainer Mühlhoff/Philipp Wüschner: »Affektive Relationalität. Umrisse eines philosophischen Forschungsprogramm« (Relationalität), in: Undine Eberlein (Hrsg.): Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge – Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen, Bielefeld (im Erscheinen).
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Jan Slaby
Gefühle als Situierungen in Möglichkeitsräumen betrachtet werden können. Nicht nur dieser Aspekt der im folgenden skizzierten Globalsicht auf die Affektivität des Menschen bringt meine Konzeption in ein enges und, wie ich hoffe, produktives Verhältnis zur Atmosphären-Theorie der Gefühle von Hermann Schmitz. 4 Die folgenden Überlegungen stehen insgesamt im Kontext einer existenzial-phänomenologischen Theorie der menschlichen Affektivität. 5 Ein für diesen Zugang zentraler Gedanke besagt, dass sich die personale Existenz, also das menschliche Leben oder Existieren insgesamt, nur dann adäquat beschreiben und verstehen lässt, wenn der in den Gefühlen liegende Welt- und Selbstbezug – mit anderen Worten: die affektive Intentionalität – in der richtigen Weise aufgefasst wird. In existenzial-phänomenologischer Perspektive sind Gefühle nicht an oder in Personen ablaufende Prozesse neben anderen, sondern zentrale Vollzugsformen der personalen Existenz selbst. Gefühle sind Seinsweisen. Was immer eine Person tut, wie sie sich zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst verhält – diese personalen Vollzüge werden nicht lediglich von Gefühlen begleitet, »koloriert« oder sonstwie beeinflusst, sondern sie erfolgen im Fühlen und aus dem Fühlen heraus und sind von diesem nicht zu trennen. Was und wie eine Person ist, ist also immer auch und ganz zentral ein affektives Geschehen und muss daher auch als ein solches beschrieben werden. Eine weitere, für das Folgende zentrale Ausgangsüberlegung hat Schmitz so formuliert: »In unserer Lebenserfahrung sind die Gefühle und das leibliche Befinden die Faktoren, die merklich dafür sorgen, dass irgend etwas uns angeht und nahegeht. Denken 4
Diese findet ihre wohl einschlägigste Formulierung in Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum, Bonn 1969; jedoch hat Schmitz dieses Thema an zahllosen Stellen seines umfangreichen Werkes behandelt – vgl. insbesondere Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik (Therapeutik), Paderborn 1992; Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Stuttgart 1998 sowie jüngst Hermann Schmitz: Der Leib (Leib), Berlin/Boston 2011. 5 Vgl. Jan Slaby: Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Affektivität im Kontext einer neoexistentialistischen Konzeption von Personalität (Weltbezug), Paderborn 2008.
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Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn
wir sie weg, so wäre alles in neutrale und gleichmäßige Objektivität abgerückt.« 6 Die Affektivität spannt also diejenige Dimension in der menschlichen Existenz auf, in der allein so etwas wie Bedeutsamkeit, Wert oder Signifikanz in den Blick kommt. 7 Gefühle sind Weisen eines grundlegenden Anteilnehmens. Im Fühlen manifestiert sich etwas als bedeutsam – something matters – und dies nicht etwa nur in der Weise einer wertenden Erkenntnis bzw. Bedeutsamkeitsdetektion, sondern in Form eines konstitutiven Zusammenhangs. Bedeutsamkeit und Gefühle sind zwei Seiten derselben Medaille, und zwar in dem untrennbaren Doppelsinn, der für die affektive Intentionalität insgesamt charakteristisch ist: Das gefühlsmäßige Anteilnehmen und die Bedeutsamkeit, die dadurch jeweils situativ erschlossen wird, sind die Pole eines konstitutiven Wechselspiels. Der Bedeutsamkeitsbezug der Gefühle erschließt in eins meine Situation, meine Bedürfnisse, Sorgen und Werthaltungen, wie er andererseits die diesen personalen Haltungen entsprechenden evaluativen Merkmale der Welt ins Licht rückt. Keiner dieser Pole ist grundlegender als der andere, sie können daher nur in ihrem wechselseitig konstitutiven Bezug adäquat expliziert werden. Dies wäre so lange noch eine vergleichsweise harmlose Auskunft, wie nicht erkannt wird, dass tatsächlich nur auf der Basis von Gefühlen überhaupt Bedeutsamkeit in die menschliche Existenz kommt. 8 Sobald der exklusiv wert-konstitutive Charakter der Gefühle eingesehen ist, wird es nicht mehr geschehen, dass Gefühle in reduktionistischer Manier als kognitive Zustände (Werturteile oder wertende Überzeugungen) fehlbeschrieben werden. 9 6
Schmitz: Therapeutik, S. 107. Ich verwende den Ausdruck »Bedeutsamkeit« terminologisch als Bezeichnung für Werthaftigkeit aller Art. Vgl. dazu Slaby: Weltbezug. 8 Vgl. Jan Slaby: »Empfindungen – Skizze eines nicht-reduktiven, holistischen Verständnisses«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 32, 2007, S. 207–225 und Slaby: Weltbezug. 9 Hauptvertreter des Kognitivismus in der Philosophie der Gefühle sind Robert C. Solomon (vgl. Robert C. Solomon: The Passions, New York 1976) und Martha Nussbaum (vgl. Martha Nussbaum: Upheavals of Thought, Cambridge (UK) 2001); ansonsten sind kognitivistische Ansätze insbesondere in der Psycho7
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Jan Slaby
Stattdessen ist von vornherein klar, dass Gefühle einen essenziell qualitativen Charakter aufweisen und sich allein schon dadurch von kognitiven Zuständen grundlegend unterscheiden. Terminologisch trage ich diesem Tatbestand dadurch Rechnung, dass ich das Konzept der affektiven Intentionalität stark mache und in seiner Doppelrolle detailliert beschreibe, um zu verdeutlichen, dass der Welt- und Selbstbezug der Gefühle von grundlegend anderer Art ist als derjenige nicht-affektiver Verhaltungen. 10 Im Umkehrschluss ergibt sich daraus der wichtige Hinweis, dass eine Explikation von Kognition, Erkenntnis, Urteils- und Denkvermögen des Menschen nur im Verbund mit einer auf der selben Ebene erfolgenden Bestimmung der Gefühle gelingen kann. Dieser weiter führende Gedankengang zur affektiven Natur auch vermeintlich nicht-affektiver Vollzüge liegt allerdings weit jenseits dessen, was in dem vorliegenden kurzen Text sinnvoll abgehandelt werden kann. 11 2.
Situierung im Möglichkeitsraum
Jeder Versuch einer aussagekräftigen Globalcharakterisierung der menschlichen Gefühle läuft Gefahr, an der Vielschichtigkeit und erfahrungsmäßigen Dichte seines Gegenstands zu scheitern. Die logie weit verbreitet – führender Vertreter dürfte hier Klaus Scherer sein (vgl. z. B. Klaus Scherer: »On the Nature and Function of Emotion: A Component Process Approach«, in Klaus R. Scherer/Paul Ekman (Hrsg.): Approaches to Emotion, Hillsdale 1984, S. 293–318). 10 Vgl. Slaby: Weltbezug. 11 Zum Begriff der affektiven Intentionalität vgl. Jan Slaby: »Affective Intentionality and the Feeling Body« (Intentionality), in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 7, 2008, S. 429–444 sowie Jan Slaby/Achim Stephan: »Affective Intentionality and Self- Consciousness« (Intentionality), in: Consciousness and Cognition 17, 2008, S. 506–513. Zentrale theoretische Überlegungen, die den Weg zur Konzeption der affektiven Intentionalität weisen, finden sich in: Peter Goldie: The Emotions. A Philosophical Exploration, Oxford 2000; Bennett Helm: Emotional reason. Deliberation, motivation, and the nature of value (Reason), Cambridge (UK) 2001 sowie Robert C. Roberts: Emotions. An Essay in Aid of Moral Psychology, Cambridge (UK) 2003.
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Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn
These, dass sich Gefühle als Situierungen in Möglichkeitsräumen beschreiben lassen, ermöglicht eine strukturierte Voraussicht auf das Feld des Affektiven und bringt auf diese Weise Aspekte zum Vorschein, die andernfalls verborgen blieben. Wenn man so will handelt es sich um die gezielte Überhellung des diffusen und komplexen Gegenstandsbereichs durch die Markierung einer zentralen, aber idealtypisch verstärkten, stilisierten und modellierten Explikationshinsicht. Das Gefühl als Situierung in einem Möglichkeitsraum – das besagt, dass ein Gefühl ein Spektrum von existentiellen Möglichkeiten erschließt, womit sowohl Verhaltens- bzw. Handlungsmöglichkeiten (aktive Existenzvollzüge) als auch mögliche relevante Widerfahrnisse (den Fühlenden »angehende« Geschehnisse) gemeint sind. Ein Gefühl zu erleben bedeutet demnach, dass sich ganz bestimmte Möglichkeiten gleichsam aufdrängen, während anderes, was vermeintlich auch möglich sein müsste, seltsam abgeblendet oder sogar gänzlich aus dem Bereich des überhaupt Erfass- und Erwägbaren verschwunden ist. Im letzteren Fall denkt der Fühlende nicht nur faktisch nicht an diese Möglichkeiten, sondern sie befinden sich überhaupt nicht mehr im Bereich des überhaupt für ihn faktisch Vorstellbaren und existenziell Vollziehbaren. Gefühle stecken somit auf dynamische Weise den Bereich des für eine Person konkret und real Möglichen ab. In diesem Sinne erscheint die Welt dem Sich-Fürchtenden anders als dem Fröhlich-Zuversichtlichen: Der von Furcht Ergriffene sieht Gefahren heraufziehen, deren Bewältigung er sich nicht zutraut – der Fröhliche hingegen erblickt nahezu überall positive Handlungsmöglichkeiten und fühlt sich möglichen Gefahren (soweit er überhaupt mit ihnen rechnet) gewachsen. Entsprechend unterscheiden sich die Handlungsbereitschaften beider Personen – oder mehr noch: ihre existenziellen Orientierungen differieren von Grund auf. Ihr jeweiliger Weltzugriff ist fundamental verschieden. Dieser affektive Situierungsvorgang läuft meist unwillkürlich ab und folgt nicht selten einer charakteristischen Verlaufsgestalt. Der Fühlende wird vor bestimmte Möglichkeiten geradezu »gezwungen« und von anderen abgetrennt, wobei die Vielfalt und die Art der affektiv präsenten Möglichkeiten während des zeit225 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Jan Slaby
lichen Ablaufs des Gefühls variieren. Gegen diese affektive Dynamik kann ein aktives Sich-Besinnen auf tatsächlich bestehende Möglichkeiten meist nicht viel ausrichten. Darin zeigt sich die charakteristische Passivität der Gefühle, die sich als eine die gesamte Existenz modulierende affektive Kraft erweist, die deshalb auch gelegentlich als eine »fremde Macht«, welche die fühlende Person überfällt, beschrieben wird. 12 In extremer Form lässt sich die These der Möglichkeitsräume an Gefühlslagen wie der Langeweile oder der Depression studieren, bei denen der Möglichkeitsraum nach und nach verengt, ehe er fast vollständig einschrumpft, bis hin zu seinem vollständigen Wegfall in der existentiellen Sackgasse des »Nichts geht mehr«. Aber auch ein Vergleich der globalen Bezüglichkeiten der Trauer, des Zorns, des Stolzes oder der Scham zeigt, dass die fühlende Person sich jeweils in unterschiedliche Bereiche dessen versetzt sieht, was geschehen kann, was sie zu tun in der Lage oder nicht in der Lage ist und wie sie sich allgemein in der Welt oder in einem gegebenen praktischen Kontext vorfindet. Im Stolz erweitert sich der Bereich des aktiv Möglichen infolge einer im sozialen Raum erfahrenen Eigenwertsteigerung der fühlenden Person. Dies wird leiblich nicht selten als ein Wachsen oder Anschwellen erlebt (»stolzgeschwellte Brust«), gleichzeitig steigert sich ganz allgemein die Handlungsbereitschaft und Initiative. Im direkten Gegensatz dazu schrumpft der Möglichkeitsraum in der Scham radikal ein – das Schämen kommt einem schlagartig erlebten Eigenwertverlust gleich, der sich leiblich als ein regelrechtes Schrumpfen manifestiert, oft in Form eines deutlichen Bewegungsimpulses, der mit der umgangssprachlichen Wendung »Im 12
Allerdings ist ein Besinnen auf tatsächlich Mögliches, oder auf die realen Wahrscheinlichkeiten des im Affekt für unvermeidlich Gehaltenen, letztlich doch die aussichtsreichste Weise einer aktiven Affektkontrolle. Wenn das hier vertretene Gefühlsverständnis korrekt ist, greift die um Gefühlskontrolle bemühte Person durch Erwägungen dieser Art – falls sie energisch genug vollzogen werden – direkt in das affektive Geschehen ein. Freilich richten derartige Bemühungen oft nur wenig gegen die wirklich starken Gefühle aus, da gerade die existenzielle Wirksamkeit einer bewusst vollzogenen Orientierungsbemühung nicht vollständig in der Macht der fühlenden Person liegt.
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Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn
Boden versinken Wollen« gut beschrieben ist. Dabei ist die SichSchämende wie gebannt in der Situation, sie senkt unweigerlich den Blick, macht sich so klein wie sie es nur kann. Ein klarer, offener Blick ins Gesicht eines Umherstehenden – also etwas, das unter normalen Umständen eine völlig unkomplizierte Gebärde und leicht zu vollziehen wäre – ist für den von Scham Erfassten unmöglich, ja geradezu unvorstellbar. Das ist die existenzielle Wucht der Scham, die sich in ihrem extremen Ausprägungen – etwa bei öffentlich vollzogenen Beschämungen – geradezu zu einem »Vernichtungsgefühl« steigern kann, das die sich schämende Person an den Rand der freiwilligen oder herbeigesehnten (Selbst-)Auslöschung rückt. Diese situative Wucht der Scham, die alles andere als ungerichtet oder unbestimmt-diffus ist, verdeutlicht anschaulich, dass die im Fühlen dynamisch erschlossenen Möglichkeitsräume durch das begrenzt sind, was gerade nicht mehr geht – durch ein spezifisches nicht-mehr-Sehen von Möglichkeiten, die aus Sicht anderer bei ansonsten gleichen Umständen offenkundig gegeben sind. Dem Depressiven werden mitunter selbst die einfachsten Lebensvollzüge unvorstellbar – das illustriert die folgende Passage aus dem Erfahrungsbericht von Andrew Solomon (»The Noonday Demon«): »My father would assure me, smilingly, that I would be able to do it all again, soon. He could as well have told me that I would soon be able to build myself a helicopter out of cookie dough and fly it to Neptune, so clear did it seem to me that my real life, the one I had lived before, was now definitively over.« 13
Nicht weniger deutlich fällt die folgende Schilderung von Lewis Wolpert aus, einem Psychiater, der eines Tages selbst an schweren Depressionen zu leiden begann: »[My psychiatrist was] extremely reassuring, telling me again and again that depression is self-limiting and that I would recover. I did not believe a single word. It was inconceivable to me that I should
13
Andrew Solomon: The Noonday Demon. An Atlas of Depression, London 2001, S. 54.
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Jan Slaby
ever recover. The idea that I might be well enough to work again was unimaginable and I cancelled commitments months ahead.« 14
Die Depression scheint insofern ein Sonderfall zu sein, als in ihr der Möglichkeitssinn einer Person insgesamt kollabiert. In extremen Fällen gibt es für den Depressiven überhaupt keine Möglichkeiten mehr – bereits die Idee möglicher Veränderung überhaupt ist dann aus seinem Erfahrungsspektrum verschwunden. Das erklärt auch das veränderte Zeiterleben in der Depression – die Zeit scheint still zu stehen, weil Veränderung jeglicher Art unvorstellbar geworden ist. 15 Gefühlen als existentiellen Vollzügen, als Seinsweisen, entspricht somit als Korrelat die Welt als ein jeweils unterschiedliches Spektrum von Möglichkeiten. Dies charakterisiert den besonderen Weltbezug der Gefühle, weil deutlich wird, wie die Fähigkeiten und Bereitschaften des Fühlenden – das, was er kann, was er zu tun bereit ist und ebenso, was er ertragen und verkraften kann (wenn man so will: seine »existentiellen Nehmerqualitäten«) – mit dem verschränkt sind, was geschehen kann oder was ihm von Seiten anderer Personen widerfahren bzw. angetan werden kann. Auf der Grundlage der These von den Möglichkeitsräumen lassen sich Gefühle als eine besondere, sehr umfassende Form des personalen Weltbezugs verstehen, ohne dass wir damit schon zur irrigen und übertrieben intellektualistischen Auffassung des gefühlstheoretischen Kognitivismus gelangen würden. 16 14
Lewis Wolpert: Malignant Sadness. The Anatomy of Depression, London 1999, S. 154. 15 Vgl. dazu Matthew Ratcliffe: »Understanding Existential Changes in Psychiatric Illness. The Indispensability of Phenomenology«, in: Matthew Broome/Lisa Bortolotti (Hrsg.): Psychiatry as Cognitive Neuroscience. Philosophical Perspectives, Oxford 2009, S. 223–244; Matthew Ratcliffe: Experiences of Depression. A Study in Phenomenology (Depression), Oxford 2015 und Jan Slaby/Achim Stephan: »Depression als Handlungsstörung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60, 2012, S. 919–935. 16 Als »Kognitivismus-Falle« bezeichne ich die Neigung, von der richtigen Einsicht in den (komplexen) Weltbezug der Gefühle zu einer irrigen Reduktion des Fühlens auf kognitive Vorgänge oder Einstellungen (Urteile, Überzeugungen etc.) verleitet zu werden. Maßgebliche Kritik am gefühlstheoretischen Kognitivismus üben Helm: Reason, Kap. 2 und Bennett Helm: »Felt Evaluations. A Theory
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Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn
Die These, dass Gefühle Situierungen in Möglichkeitsräumen sind, erfasst einen wichtigen Teil dessen, was nach meinem Verständnis an Hermann Schmitz’ Atmosphären-Theorie der Gefühle richtig ist. Viele der Atmosphären, die als Kandidaten für eine Identifikation mit Gefühlsphänomenen in Frage kommen, lassen sich recht direkt als Möglichkeitsräume beschreiben. Die spürbar »dicke Luft«, die in einer Sitzung herrscht, in die wir versehentlich hineinplatzen, drängt sich uns nicht primär als eine bloß ästhetisch-räumliche Qualität auf, sondern als ein interpersonales Feld zulässiger und unzulässiger Anschlüsse und zu erwartender Reaktionen. Wir öffnen die Tür des Konferenzraums, bemerken das angespannte Knistern zwischen den Konferierenden, und werden dadurch unmittelbar in die Vollzugsbahn eines unauffällig-unterwürfigen Verhaltens gelenkt. Wie ferngesteuert entschuldigen wir uns kleinlaut, machen auf dem Absatz kehrt oder schleichen mit gesenktem Blick auf unseren Platz. Stellen wir uns dagegen die hitzig-aggressive Atmosphäre eines Protests oder Aufruhrs vor, drängen sich uns ganz andere Möglichkeiten auf: Je nach dem, auf welcher Seite wir stehen, was für uns auf dem Spiel steht oder wie wir insgesamt affektiv disponiert sind, finden wir uns in einem Feld von spezifischen Initiativen und möglichen Geschehnissen. Die düstere, niederdrückende »Wolke«, die den Kummervollen umgibt, ihn gleichsam bannt und niederhält, lässt hingegen jegliche Initiative erlahmen – sowohl beim Fühlenden als auch bei den Menschen in seiner Umgebung, die kaum noch wissen, wie sie den Unglücklichen überhaupt ansprechen oder angehen sollen. Typische weitere Beispiele für affektiv erfahrene Atmosphären sind das von Goethe so genannte »Kanonenfieber« 17 vor der Schlacht oder die spürbar Ungemach verheißende »Ruhe vor dem Sturm«, also die sich von überallher diffus aufdrängende of Pleasures and Pains«, in: American Philosophical Quarterly 39, 2002, S. 13–30, sowie Hilge Landweer: »Phänomenologie und die Grenzen des Kognitivismus. Gefühle in der Philosophie« (Kognitivismus), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, 2004, S. 467–486. Eine ausführliche Diskussion dieser Thematik liefere ich in Slaby: Weltbezug, Kap. 9. 17 Ausführlich dazu Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung, München 2008, S. 7 ff.
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Latenz einer zu erwartenden Katastrophe oder Krise. Was sich hier besonders markant spürbar macht und als einschneidend erfahren wird, ist das Bevorstehen eines grandiosen Geschehens – hier ist die Evidenz des »Es wird etwas (mit uns) passieren, und wir wissen nicht was …« mit den Händen zu greifen, wobei die Unsicherheit hinsichtlich dessen, was genau geschehen wird, die Intensität des Gefühlserlebens noch steigert. Eine solche Konzeption von Gefühlen als dynamisch-leibliche Situierung in Möglichkeitsräumen erfasst weitere zentrale Elemente der Atmosphären-Theorie. So etwa das von Schmitz oft angeführte Phänomen, dass sich gefühlsrelevante Atmosphären auch dann wahrnehmen lassen, wenn man selbst nicht von ihnen affektiv betroffen ist. Auch einen Möglichkeitsraum im hier beschriebenen Sinne kann man in einem gewissen Sinn »von außen« wahrnehmen, ohne selbst in ihm zu stehen. So berichten Depressive gelegentlich davon, dass sie durchaus die Möglichkeiten sehen, die für andere bestehen, dass sie selbst aber davon radikal abgeschnitten seien. 18 Auch außerhalb des pathologischen Spektrums sind vergleichbare Fälle zu beobachten: Es gibt ein momentanes, gestalthaftes, aber gleichwohl nicht (oder nicht vollends) affektives Erfassen zumindest der Umrisse des Möglichkeitsspektrums einer anderen Person, die gerade ein Gefühl erlebt. Man betrachte die wachsende Panik einer alten Frau im überfüllten Zug, die kurz vor der Ankunft im Zielbahnhof ihr schweres Gepäck zusammenrafft um sich durch das Gedränge irgendwie den Weg zum Ausstieg zu bahnen – hier erfasst auch der nicht-empathische Beobachter das vom eigenen radikal verschiedene Möglichkeitsgefüge der in konkreter Bedrängnis befindlichen Person. Erst wenn er von der Atmosphäre der Panik, welche die alte Frau umgibt, selbst affektiv erfasst wird, kommt es zu einem betroffenen Mitfühlen. In diesem Fall wird das mögliche oder akute Leiden der Frau als etwas zu vermeidendes in den eigenen Möglichkeitsraum integriert – den Mitfühlenden schmerzt nun die konkrete Möglichkeit des fremden Leids. Ein abschließendes Wort zur Atmosphären-Theorie der Ge18
Vgl. wiederum Ratcliffe: Depression.
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fühle: Ich halte den Kern der Theorie, dass sich Gefühle in vielen Fällen als ein Eintauchen und affektives Mitschwingen mit überpersönlichen Atmosphären beschreiben lassen, für phänomenadäquat und theoretisch anschlussfähig. Allerdings schrecke ich vor dem von Schmitz vollzogenen letzten Schritt zurück, die Gefühle selbst mit den Atmosphären zu identifizieren und sie zu »überpersönlichen Mächten« zu erklären. Richtig scheint mir zu sein, dass Gefühle als rein individuelle, strikt personengebundene Erfahrungen fehlbeschrieben sind, auch wenn sie natürlich vom fühlenden Individuum »am eigenen Leib« erlebt werden. Erlebe ich dabei aber wirklich schon alles, was insgesamt im besagten Gefühl liegt? Oder tauche ich nur auf je spezifische, individuelle Weise in ein komplexes relationales Gefüge der Situation, eben den greifbaren Möglichkeitsraum, ein? Auf der anderen Seite überschreitet die rigorose Objektivierung von Atmosphären zu rein überpersönlichen Gebilden die Grenze zum Kontraintuitiven (Schmitz begegnet diesem Problem bekanntlich mit der Einführung der Kategorie der »Halbdinge«). Ich ziehe es daher bis auf weiteres vor, dasjenige, was an der Atmosphärentheorie aus meiner Sicht plausibel ist, ohne eine Vergegenständlichung der Gefühle zu entwickeln. 19 Statt dessen möchte ich diese »ergreifenden Atmosphären« so präzise wie möglich im Rahmen einer umfassenden Konzeption des affektiven Weltbezugs charakterisieren. Diesem Zweck dient die These von Gefühlen als einem Situiertwerden in Möglichkeitsräumen. Möglichkeitsräume sind das objektive, transpersonale, der Welt selbst inhärierende Phänomen, das im Zusammenhang mit individuellen Gefühlszuständen untersucht werden muss – »Möglichkeitsraum« ist daher auch mein hoffentlich etwas weniger metaphorisches Substitut für das, was anderswo »Atmosphäre« heißt, auch wenn meine Alternative andererseits, sofern sie nicht jeweils sehr genau situativ spezifiziert und ausgestaltet wird, den Nachteil einer gewissen Abstraktheit mit sich bringt. Die im weiteren Verlauf dieser Abhandlung erfolgende Kritik 19
Einen ersten Anlauf dazu, allerdings noch ohne Bezug auf Situierungen in Möglichkeitsräumen, habe ich unternommen in Slaby: Weltbezug, Kap. 13.
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und Korrektur von fünf typischen Engführungen aktuell vertretener Gefühlstheorien kann als eine indirekte Explikation der These von den Möglichkeitsräumen verstanden werden – als ein Katalog jener Hinsichten, denen gemäß die situationsspezifische Anreicherung zu erfolgen hat. Alle fünf Punkte explizieren mehr oder minder »nebenbei« auch Aspekte dessen, was von Schmitz in der Atmosphärentheorie mitthematisiert wird, allerdings auf andere Art und in einem anderen theoretischen und begrifflichen Kontext. 3.
Fünf Engführungen philosophischer Gefühlstheorien
3.1 Erste Engführung: Weltbezug (Intentionalität) Die erste zu korrigierende Engführung vieler nicht-phänomenologischer Ansätze betrifft das Verständnis des in den Gefühlen liegenden Weltbezugs – also das, was oft als die Intentionalität der Gefühle bezeichnet wird. Affektive Intentionalität wird von vielen Autoren, z. B. von den Vertretern kognitiver Theorien oder von den Anhängern psychologischer Einschätzungstheorien, auf eine schmale Relation der Informationsaufnahme zwischen der fühlenden Person und einer das jeweilige Gefühl auslösenden Begebenheit zugespitzt. Es geht also jeweils um einen intentionalen Zustand, welcher dann wahlweise auf einen konkreten Verlust (Trauer), eine konkrete Gefahr (Furcht), ein spezifisches Ärgernis (Ärger, Wut) oder eine konkrete Verfehlung (Schuld) bezogen ist. Ausgeblendet bleibt dabei mindestens die Art und Weise, in der das Gefühl die gesamten Weltbezüge einer Person, ihr gesamtes Situiertsein in der Welt betrifft. Gefühle sind globale Situierungen, nicht lediglich punktuell fokussierte »Auffassungen von etwas«. Der Traurige ist nicht lediglich auf den Verlust fixiert, den er erlitten hat, sondern er leidet an der Welt im Ganzen – er sieht, erfasst und antizipiert überall Dinge, die seinen hoffnungslosen Zustand nähren und ihn an der Welt und den Menschen verzweifeln lassen. Insbesondere erscheint ihm die Welt als verarmt, als leer; sie hat ihm nichts mehr zu bieten – das Spektrum des kon232 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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kret Möglichen ist radikal verengt. Der Traurige sieht die gesamte Welt anders als der Fröhliche, und das gilt keineswegs nur für die Stimmungsvariante der Trauer, die sich von vornherein nicht auf einen spezifischen traurigen Anlass, sondern unspezifisch auf die Welt im Ganzen zu richten scheint. Vielmehr ist der Unterschied zwischen (gerichteten) Emotionen und (ungerichteten) Stimmungen selbst problematisch, jedenfalls dann, wenn er als strikte Differenz klar getrennter Gefühlsarten verstanden wird. Das stimmungshaft Unspezifische am Bezug einer gewöhnlichen Emotion ist ein Spezifikum der affektiven Intentionalität und gehört essentiell zur emotionalen Erfahrung. Das gilt für Ärger, Wut oder Zorn – die sich nur selten vollständig bei ihrem konkreten Anlass aufhalten und sich meist auf weitere Umkreise des ursprünglichen Ärgernisses erstrecken; das gilt für die Freude, die bei entsprechender Tiefe eine Ausweitungstendenz bis hin zur globalen Positivsicht und umfassenden Initiative aufweist; und ebenso für explizit selbstbezügliche Gefühle wie Scham oder Schuld, deren Bezug sich über die je spezifischen Auslöser hinaus zu einer umfassenden Negativeinschätzung der eigenen Person im Lichte der jeweils geltenden sozialen Standards bzw. als Korrelat der einschneidend-objektivierenden Blicke der Anderen entwickelt. Ebenso weitet sich die gerichtete Furcht zu einer breiten Furchtsamkeit aus, die überall Gefahren sieht und mit einem akuten – und oft besonders schmerzlichen – Gewahren der eigenen Schwäche und Verletzlichkeiten einhergeht. Vergleichbares lässt sich von zahlreichen anderen Gefühlstypen berichten. Die unangemessene Verengung der affektiven Intentionalität manifestiert sich auch darin, dass Stimmungen und Hintergrundgefühle, die zwar oftmals nicht so auffällig und aufrührend sind wie viele der situativ bezogenen Emotionen, aber gleichwohl ständig im Wachleben gesunder Personen präsent sind, in ihrer Bedeutung für den affektiven Weltbezug unterschätzt werden. Gerade die oft unauffälligen existentiellen Hintergrundgefühle prägen den evaluativen Bezug auf die Welt in grundlegender Weise. 20 20
Dazu insbesondere Matthew Ratcliffe: »The Feeling of Being« (Feelings), in:
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Diese affektiv verankerten existentiellen Orientierungen bilden einen zentralen Aspekt des menschlichen Weltbezugs. Hier manifestiert sich das konkrete Wie des In-der-Welt-Seins besonders markant; Handlungen und Seinsweisen werden umrisshaft vorgezeichnet und qualitativ konturiert. Insbesondere bei psychischen Erkrankungen wie Depression oder Schizophrenie, die wesentlich durch pathologische Veränderungen dieses affektiven Hintergrunds charakterisiert sind, aber auch bei vielen eher alltäglichen »Stimmungsschwankungen« zeigt sich die Wichtigkeit dieser Gefühlsart, was wohl zum Teil den so verheerend tief greifenden, alles transformierenden Charakter dieser Krankheitsbilder erklären hilft. In diesem Zusammenhang lässt sich gut mit dem nach wie vor verbreiteten Irrglauben aufräumen, dass Stimmungen und Hintergrundgefühle im Gegensatz zu episodischen Emotionen ungerichtet und damit nicht-intentional seien. Zwar ist ein existentielles Hintergrundgefühl meist nicht auf eine konkrete Begebenheit bezogen, lässt sich aber angemessen als eine affektive Gesamttendenz zur selektiven Auffassung, Bewertung und Motivation und somit als ein umgreifender Modus der gespürten Welteinbettung beschreiben. Außerdem – und dazu komme ich in Kürze – liegt in diesen (nach außen mitunter diffus-umfassenden) Hintergrundgefühlen ein spezifischer affektiver Selbstbezug, also ein affektivvorreflexives Gewahren der eigenen Situation und Verfasstheit, was ebenfalls einen zentralen Aspekt der affektiven Intentionalität ausmacht.
Journal of Consciousness Studies 12, 2005, S. 43–60 und Matthew Ratcliffe: Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry, and the Sense of Reality (Feelings of Being), Oxford 2008. Ratcliffe kommt das Verdienst zukommt, Heideggers Konzeption einer alle Weltbezüge strukturierenden Befindlichkeit (vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1993 (zuerst 1927), §§ 29 f.) für die gegenwärtigen Debatten in der Philosophie der Gefühle und Philosophie der Psychiatrie fruchtbar zu machen; vgl. dazu ferner Slaby/Stephan: Intentionality.
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3.2 Zweite Engführung: Die Interpersonalität der Gefühle Der Traurige ist in einer anderen Hinsicht ebenfalls nicht allein auf den unmittelbaren Anlass seiner Trauer fixiert. Zur Trauer, wie zu den meisten anderen intentionalen Gefühlen auch, gehört ein spezifischer Einfluss auf die Personen in der Umgebung des Traurigen. Eine traurige Person zieht die anderen mit in ihre Trauer hinein, indem sie durch ihr Gebaren, ihre Mimik, ihre Bewegungsabläufe und Verhaltensweisen eine deutlich spürbare Schwere und Beklemmnis verbreitet. Angesichts dieser Atmosphäre der Trauer bedarf es einer Anstrengung, der viele nicht fähig sind, oder aber der totalen Empathielosigkeit, um in der Gegenwart des Traurigen ungerührt »anders zu fühlen«: heiter, unbefangen oder fröhlich zu sein. Die Bedrücktheit des Traurigen füllt den interpersonalen Raum und hemmt spürbar alle Interaktionen. Genau dies jedoch, der überpersönlich-ergreifende und mitunter bannende Charakter des Gefühls, durch den ein geteilter Möglichkeitsraum aufgespannt wird, bleibt in den üblichen Thematisierungen ausgeblendet. Stattdessen werden Gefühle als subjektive Zustände, als Vorgänge in oder an der Person beschrieben, die sich anderen Personen nur indirekt und mittelbar über äußere Symptome erschließen. Wie ein Gefühl den interpersonalen Raum zwischen Personen ausfüllt und die Interaktionen schon vor jeder direkten Begegnung subtil lenkt, wird meist nicht zum Thema. Nicht gesehen wird damit der grundlegende Tatbestand, dass die Affektivität einen Möglichkeitsraum aufspannt, innerhalb dessen es überhaupt erst zu bestimmten Interaktionen kommt – ein in diesem transsubjektiven Raum herrschender Gefühlston ermöglicht bestimmte Verhaltensweisen und affektive Anschlüsse und verhindert andere. Das gilt für die »dicke Luft«, die in einem Konferenzraum während einer konfliktreichen Sitzung herrscht, wie auch für die erhebende Ausgelassenheit einer rauschenden Feier oder beim kollektiven Jubelsturm im Fußballstadion. Zahlreich sind zudem die dialogischen Phänomene von Gefühlsresonanzen zwischen zwei Personen; leicht können Unsicherheit, Furcht, Scham oder Hochmut, aber auch subtilere affektive Grundhaltungen spezifische Bereiche des in der Interaktion Möglichen 235 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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und Unmöglichen vorzeichnen und somit Begegnungen zwischen Personen in charakteristische Bahnen lenken. In diesem Zusammenhang sind die Beobachtungen von Schmitz zur »leiblichen Kommunikation«, »Einleibung« und zum Gefühlskonflikt einschlägig. Sehr treffend scheint mir insbesondere die Ringkampfmetapher zu sein, wenn es darum geht, das »Kräftespiel« konträrer Gefühlstöne in dialogischen Interaktionen zu beschreiben. 21 Diese Sichtweise läuft letztlich auf eine transpersonale Sichtweise von Gefühlen hinaus. It takes two to make a feeling – könnte man sagen: Gefühle entstehen in dynamischen Konstellationen und Relationen, die zumeist mehr als ein Individuum umfassen. Das Fühlen selbst ist dann ein dialogisches Geschehen, wobei, wie Schmitz gut gesehen hat, auch nicht-belebte Gegenstände als »Dialogpartner« fungieren können, sogar in einem durchaus aktiven Sinn. Stets wird im dynamischen Vollzug, dessen Bewegungsmomente mehr als eine Quelle, mehr als einen situativen Ankerpunkt haben, eine relationale Sphäre spezifisch qualitativer Verbunden- oder Getrenntheit etabliert, in der sich die jeweils individuell erlebbaren Gefühlsqualitäten erst heraus bilden. 22 Diese interpersonale Sphäre – Joel Krueger spricht schlicht von einem »we-space«, Peter Sloterdijk ergeht sich in facettenreichen »sphärologischen« Beschreibungen – macht das aus, was ich den situativ geteilten affektiven Möglichkeitsraum nenne. 23
21
Wiederum ließen sich zahlreiche einschlägige Stellen in Schmitz’ Œuvre anführen; ich nenne hier nur exemplarisch Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart, Bonn 1980, S. 33 f., 97–101 sowie Hermann Schmitz: Die Liebe, Bonn 1993, Abschnitt 7.2.1. 22 Rainer Mühlhoff arbeitet an einer umfassenden Theorie solcher dialogisch-resonativer Konstitutionsverhältnisse im Feld des Affektiven. Erste Ergebnisse dieses umfangreichen Projekts, dem ich viele wertvolle Anregungen verdanke, finden sich in Rainer Mühlhoff: »Affective Resonance and Social Interaction«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 14, 2015, S. 1001–1019. 23 Joel Krueger: »Extended Cognition and the Space of Social Interaction«, in: Consciousness and Cognition 20, 2011, S. 643–657; Peter Sloterdijk: Sphären I. Blasen, Frankfurt 1998. Leider wird Sloterdijk in der Philosophie wenig rezipiert – in diesem Punkt Schmitz nicht ganz unähnlich. Dabei wäre es lohnend, die umfangreichen Ausführungen Sloterdijks zur »Mikrosphärologie« sowohl mit
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3.3 Dritte Engführung: Verhalten und Handeln Die leider weit verbreitete Auffassung des Weltbezugs als einer Erfahrungs- oder Repräsentationsbeziehung verengt das affektive Geschehen der Tendenz nach auf einen Prozess bewertender Informationsaufnahme. Oft werden Gefühle einfach als Bewusstseinszustände konzipiert, als Formen eines qualitativen inneren Erlebens. Ausgeblendet bleibt dabei die Art und Weise, in welcher der personale Weltbezug ein praktischer Vollzug, ein Sich-Verhalten-zur-Welt ist und damit ebenso das Ausmaß, in der die Gefühle nicht nur zum Verhalten und Handeln der fühlenden Person beitragen, sondern selbst Weisen ihres Sich-zur-Welt-Verhaltens, Sich-in-der-Welt-Bewegens sind. Das lässt sich selbst an der Trauer studieren, obwohl diese im Vergleich zu vielen anderen Gefühlen zu Recht als eher lähmend und uninitiativ gilt. Auch der Traurige agiert seine Trauer aus, bewegt sich in seiner Trauer und fokussiert die Welt praktisch im Modus des Traurigseins. Das kann sich im gewöhnlichen Trauerverhalten und den entsprechenden Trauerritualen äußern – Rituale, die ja den ganz konkreten Zweck der (kulturell und lokal jeweils angemessenen) Ausgestaltung, Verfestigung, Entfaltung der Trauer haben können, sofern die Trauer vom Fühlenden nicht abgewehrt oder verdrängt wird. Ebenso zeigt sich die aktive Tendenz beim Trauernden in spezifischen Interaktionen mit seinen Mitmenschen, deren Nähe er zwar suchen mag, doch deren gut gemeinte Aufmunterungsund Tröstungsversuche er geneigt ist abzutun, weil sie ihn nicht wirklich erreichen oder ihm schal, aufgesetzt und insgesamt unangemessen vorkommen. Der Trauerende weist in seinem Gebaren den Anderen charakteristische Rollen zu, er oder sie konfiguriert unwillkürlich das Möglichkeitsgefüge der Umgebung, einschließlich das der relevanten Anderen (ob sich diese dann tatsächlich in die Trauer »hinein ziehen« lassen, ist natürlich eine andere Frage – eine spürbare Tendenz dazu lässt sich bei Fällen echter Trauer allerdings nur schwer bestreiten). den Arbeiten Schmitz’ als auch mit neueren Arbeiten zu social interaction im Bereich der Philosophie des Geistes in Verbindung zu bringen.
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Wichtiger ist indes dies: Der Traurige agiert aus einer charakteristischen Trägheit und Schwere heraus, die das Wenige, das er überhaupt noch aktiv in Angriff nimmt, eigenartig hemmt und verlangsamt. Was hier vor sich geht, kann zum einen als die Aktualisierung eines gefühlsspezifischen Interaktionsmusters, eines kulturspezifischen Trauerskripts, betrachtet werden. Zum anderen prägt jedes Gefühl den Handlungen und Haltungen des Fühlenden ein spezifisches Gepräge auf, einen charakteristischen Stil. Das gilt für andere Gefühle in noch stärkerem Maße: Der SichFürchtende bewegt sich in einer umfassenden Rückzugstendenz, er zieht sich aus seinen Bezüglichkeiten zurück und engt sich auf einen engen Horizont des Sicheren ein. Zudem agiert er entweder schreckhaft, impulsiv oder aus einer eigentümlichen Starre und Lähmung heraus, die auch anderen, die seinem angstvoll-fahrigen Tun zusehen, das Blut in den Adern gefrieren lassen kann. Dieses Sich-im-Gefühl-Bewegen, das die Welt auf jeweils spezifische Weise begegnen lässt, ist eine zentrale Vollzugsart der affektiven Intentionalität. Umgekehrt dürften sich sehr viele menschliche Verhaltensweisen und Interaktionsmuster als das offene oder unterschwellige Ausagieren von Gefühlsmustern oder -skripten in einem jeweils gefühlstypischen Stil oder Modus erweisen. Eine Separierung des Verhaltensaspekts von einem davon unterschiedenen, rein »erfahrungsmäßigen« oder im engeren Sinne mentalen Weltbezug muss als phänomenfremd zurückgewiesen werden. Möglicherweise kann der Begriff der »Haltung« zur Aufklärung der Sachlage beitragen: Haltungen vereinen die zentralen Dimensionen des Personalen, weil sie zwischen aktiv-willentlichen Vollzügen und passiven Widerfahrnissen angesiedelt sind. Eine Haltung ist die – teils bewusst, oft auch unbewusst durch Erziehung, kulturelle Prägungen oder das unbewusste Imitieren anderer – eingenommene aktivische »Stellung« einer Person in der und zur Welt. Zumindest einige Gefühle lassen sich dann als unwillkürlich eingenommene Haltungen beschreiben; oft sind Gefühle aber auch das, was an die Stelle der Haltung tritt, wenn wir im Gefühlssturm »die Fassung verlieren« 24. Der Begriff der 24
Schmitz: Leib, S. 45.
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Haltung hat den gefühlstheoretisch relevanten Vorteil, dass er quer zur problematischen Trennung zwischen dem Mentalen und dem Nicht-Mentalen steht – Haltungen werden von der Person als ganzer eingenommen und lassen sich nicht auf ein mentales Gerichtetsein verengen. In der Haltung zeigt sich zudem zentral die jeweilige konkrete Art und Weise, wie eine Person mit den sie umgebenden, sie möglicherweise ergreifenden oder sonstwie »affizierenden« Geschehnissen und Wechselfällen umgeht, wobei es zumeist um ein jeweils individuell ausgestaltetes Kontinuum zwischen anfänglicher Passivität (die initiale Wucht des Affekts) und sukzessive sich (wieder) einstellender Initiativen handelt (aktives Meistern oder souveränes Standhalten einer konkreten Anfechtung oder Herausforderung). Insofern kommt in der Haltung das Haben von und Sich-Bewegen in spezifischen Möglichkeitsfeldern betont zur Geltung. Die Haltung ist der Vollzugsmodus einer solchen widerstehenden oder initiativen Selbsthabe – also das konkrete Leben der im Gefühl zunächst passiv erschlossen Möglichkeiten, ihr faktischer Vollzug. Mit dem Begriff der Haltung erhält die Beschreibung von Episoden des Gefühlserlebens erst ihre nötige Tiefe im Sinne einer umfassenderen Verankerung in den für Personalität bzw. die menschliche Existenz insgesamt zentralen Dimensionen. 25 Denkwürdig ist in diesem Zusammenhang die Charakterisierung von Schmitz, wonach dem Element der Haltung ein Moment von Nachträglichkeit gegenüber dem als eine äußere Macht
25
Zum Begriff der Haltung finden sich hilfreiche, allerdings kursorisch bleibende Überlegungen bei dem Phänomenologen Otto Friedrich Bollnow (Otto F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt 1956, Kap. IX; vgl. auch Slaby: Weltbezug, Kap. 7). Als bahnbrechend darf die demnächst erscheinende Studie zur Haltung im Anschluss an Aristoteles’ von Philipp Wüschner gelten (vgl. Philipp Wüschner: Eine aristotelische Theorie der Handlung. Hexis und Euexia in der Antike, Hamburg 2016). Äußerst empfehlenswert ist auch Frauke Kurbachers Untersuchung (Frauke Kurbacher: Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung, Würzburg 2016), die, wie der Titel verrät, stärker auf die interpersonale Dimension der Haltung abhebt. Mit diesen beiden Monographien beginnt sich endlich eine bedeutende Forschungslücke in der deutschsprachigen Philosophie zu schließen.
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auf das Subjekt eindringenden Gefühl eignen muss, da andernfalls nicht von einem authentischen Fühlen gesprochen werden kann: »Wenn [das affektive Betroffensein von Gefühlen; J. S.] echt ist, muss die betroffene Person anfangs ein Stück weit mit dem Impuls des stürmisch oder schleichend ergreifenden Gefühls mitgehen, gleichsam zu dessen Komplizen werden. Wer das Gefühl gleich an der Pforte seines Eintritts mit einer Stellungnahme empfängt, ist ein bloßer Schauspieler der Ergriffenheit. Wenn das Gefühl so mein eigenes sein soll, wie mein Schmerz, meine Hunger meine eigenen Regungen sind, muss ich mich ihm erst einmal gefangen gegeben haben und kann mich erst nachträglich aus der Gefangenschaft befreien, indem ich Stellung nehme durch Preisgabe, Widerstand oder eine Mischung aus beidem.« 26
3.4 Vierte Engführung: affektiver Selbstbezug An die Überlegungen zur Haltung lassen sich die folgenden Gedanken zum affektiven Selbstbezug unmittelbar anschließen. Die Betonung des Weltbezugs der Gefühle kann dazu führen, dass nicht deutlich genug gesehen wird, inwiefern jedes Gefühl beim Menschen auch ein sich-selbst-Fühlen – also eine Art von affektivem Selbstgewahren bzw. eine Form von betonter Selbsthabe – umfasst. Auch dort, wo ein affektiver Selbstbezug thematisiert wird, wird er oftmals auf eine bloß punktuelle Auffassung und Bewertung isolierter »Merkmale« der eigenen Person verengt. Dies geschieht z. B. dann, wenn ein affektiver Selbstbezug lediglich bei Emotionen wie Scham – in diesem Fall als ein Bezug auf einen Mangel oder Defekt der eigenen Person – verortet wird. Wo ein »affektives Selbstbewusstsein« thematisiert wird, beschränkt man sich zumeist auf ausdrücklich selbstbezügliche Emotionen wie Scham, Schuld oder Stolz. Nicht gesehen wird, dass jedes menschliche Gefühl im Kern eine Form von Selbstgewahrsein mit umfasst. Die traurige Person fühlt sich traurig. Das bedeutet nicht, dass sie sich selbst in einem introspektiven Akt den subjek26
Schmitz: Leib, S. 95.
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tiven Zustand der Traurigkeit zuschreibt. Stattdessen besteht das sich-traurig-Fühlen in einem affektiven Erschließen der eigenen (momentanen) Existenz als einer Sache ermangelnd, als eines beraubt- oder depriviert-Seins von etwas (Geschätztem oder Geliebtem). Ebenso geht mit der Furcht vor einer Gefahr ein sich-verletzlich-Fühlen angesichts ebendieser potentiellen Gefahr einher. Im Ärger liegt – parallel zum Bezug auf das innerweltliche Ärgernis – das Gefühl eines schmerzhaften Geschädigtseins, vielleicht im Einklang mit einem bereits affektiv »gelebten« Trachten nach Rache. Auf der positiven Seite liegt im Stolz, in der Freude, der Euphorie und der Zufriedenheit jeweils ein betontes Sich-Gehoben, Befördert oder Getragen-Fühlen von den herrschenden Umständen oder den Personen, mit denen man zu tun hat. Allgemein kann von einem jeweils auf bestimmte Weise inhaltlich charakterisiertem Affiziertsein des Selbst von bzw. durch etwas gesprochen werden. Der affektive Weltbezug geht stets mit dieser selbstbezüglichen Kehrseite einher, in der sich die spezifischen Arten existentieller Betroffenheiten manifestieren, die für die unterschiedlichen Gefühlstypen charakteristisch sind. Erst beides zusammen charakterisiert die affektive Intentionalität angemessen. Das affektive Selbstgewahrsein handelt also nicht vom Gefühl selbst, sondern davon, wovon das Gefühl seinerseits handelt. Im Falle der Trauer ist es ein Gewahrsein des Verlustes (als mich in meiner Existenz affizierend, mich schmerzlich angehend), meist manifestiert in einem schmerzhaften Gewahren einer nunmehr verarmten, entleerten Welt, also in einem drastisch verengten Möglichkeitsraum. Sowohl die Art dieses Selbstgewahrseins (gebunden im affektiven Weltbezug und im Ausagieren des Gefühls, nicht reflexiv auf das Gefühl selbst bezogen) als auch das Ausmaß seines Vorkommens (in allen Gefühlen normalsinniger Personen) ist bisher zu wenig gesehen und behandelt worden. Hier liegt eine wichtige Explikationsaufgabe für die Philosophie der Gefühle, die an dieser Stelle zugleich zeigen muss, dass die Philosophie der Gefühle immer auch zentrale weitere Aspekte dessen beleuchtet, was Personalität insgesamt ausmacht. 27 27
Eine erste Annäherung erfolgt in Slaby/Stephan: Intentionality, wobei wir dort
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3.5 Fünfte Engführung: Leiblichkeit Eine weitere Auslassung vieler gegenwärtig vertretener Gefühlstheorien betrifft die leibliche Natur des Fühlens. Im Rahmen der verbreiteten Fokussierung auf die evaluative Intentionalität gerät oft aus dem Blick, inwieweit sich die menschlichen Gefühle jeweils in einem komplexen leiblichen Geschehen manifestieren. Das Fühlen – verstanden als eine die Person insgesamt ergreifende existentielle Orientierung – ist, wie freilich sämtliche personale Vollzüge, in ganz grundlegender Weise leiblich. Das leibliche Spüren ist nicht von der affektiven Intentionalität zu trennen; diese selbst ist nicht bloß essentiell leibgebunden, sondern durch und durch ein leibliches Phänomen. So manifestiert sich Furcht als spürbare leibliche Engung, und in dieser Engungstendenz steckt zugleich das Gewahren der gefürchteten Bedrohung sowie das Innewerden der eigenen Gefährdetheit und Verletzbarkeit im Hinblick auf ebenjene Gefahr. Man spürt direkt am eigenen Leib, wie es um einen in der gegebenen Situation steht. 28 Im Stolz manifestiert sich die im sozialen Raum erfolgende Eigenwertsteigerung der fühlenden Person in Form einer markanten leiblichen Weitung – in Form eines buchstäblichen Wachsens oder Anschwellens, deshalb trifft die Rede von der »stolzgeschwellten Brust« die leibliche Gestalt des Stolzes sehr gut. Im Scham schrumpft das leibliche Feld hingegen schlagartig ein, was sich zum Beispiel in dem Bewegungsimpuls des »Im Boden versinken Wollens« äußert. Insgesamt geht der Leib in Form eines auf je spezifische Weise mit den gefühlsauslösenden Begebenheiten mitschwingenden bzw. mit diesen verwobenen Resonanzfeldes ins affektive Geschehen ein. Dieses dichte, qualitativ besetzte leibliche Spüren ist zugleich Medium des affektiven Weltbezugs und Grundlage der affektiven Selbstbezüglichkeit. Der Selbstbezug ist dabei kein insbesondere den Zusammenhang zwischen affektivem Selbstgewahrsein mit den von Ratcliffe (vgl. Ratcliffe: Feelings und Ratcliffe: Feelings of Being) beschriebenen existential feelings sowie dem begrifflich informierten und reflexiv zugänglichen Selbstverständnis einer Person betonen. 28 Vgl. hierzu Landweer: Kognitivismus, Slaby: Intentionality und insbesondere Ratcliffe: Feelings und Ratcliffe: Feelings of Being.
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explizites Erfassen einer etwaigen aktuellen persönlichen Lage, sondern ein leibliches Sich-irgendwie-Befinden: verletzlich oder verletzt, schwach oder stark, wertvoll oder wertlos, fragil oder stabil, angefochten, geliebt, ungeliebt, die herrschenden Umstände souverän kontrollierend oder als ohnmächtiger Spielball eines fremden Geschehens. Man kann den Leib insofern als eine Art substanziellen »Fühler« für die situative, sich in Form von atmosphärisch erfahrbaren Möglichkeitsräumen manifestierende Bedeutsamkeit verstehen, als ein changierendes Erfahrungsfeld, das auf vielgestaltige Weise mit der Umgebung in Resonanz steht. Hier kann zunächst ein einfacher Vergleich mit dem Tastsinn das Verständnis erleichtern: Beim Ertasten eines Gegenstandes spielt ein körperlich lokalisiertes Gefühl die Rolle des Erfahrungsmediums und tritt dabei in seinem Charakter als Körpergefühl in den Hintergrund – die Aufmerksamkeit richtet sich weitgehend auf das ertastete Objekt. Der leibliche Charakter der affektiven Intentionalität ist insofern mitunter als eine Generalisierung des Tastsinns beschrieben worden. Das leibliche Spüren bezieht sich nicht allein auf Gegenstände in unmittelbarer Körpernähe, sondern auf Situationen, auf die existentiellen Umstände der fühlenden Person, auf Möglichkeitsräume. In diesem Sinne ist der Leib das primäre Medium des affektiven Weltbezugs. 29 Freilich verbleibt die Analogie mit dem Tastsinn noch sehr an der Oberfläche des Geschehens. Hermann Schmitz ist ein besserer Gewährsmann für ein hinreichend subtiles Verständnis der Leiblichkeit der Gefühle. Schmitz unterscheidet streng zwischen dem Gefühl als überpersönlicher Atmosphäre und dem leiblichen Betroffensein vom Gefühl als besonderer Art der leiblichen Regung. Zwar erscheint diese Trennung bei Schmitz mitunter zu scharf, da sie das Erleben und das Erlebte des Gefühls dichotomisch aus29
Matthew Ratcliffe verwendet ein ganzes Kapitel seiner Studie Feelings of Being auf die Ausarbeitung der Parallele zwischen dem Tastsinn und einem umfassenden leiblichen Situationsbezug (vgl. Ratcliffe: Feelings of Being, Kap. 3 (»The Phenomenology of Touch«)). Überhaupt ist in der anglo-amerikanischen Philosophie ein zuvor kaum gekanntes Interesse an der Leiblichkeitsthematik wach geworden – dies dokumentiert u. a. die Studie von Shaun Gallagher (vgl. Shaun Gallagher: How the Body Shapes the Mind, New York, Oxford 2005.
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Jan Slaby
einander reißt, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Schmitz damit eine ganze Reihe von Phänomenen sehr gut explizieren kann – etwa Fremdscham, survivor guilt, Vorgefühle, Formen eines eigentümlichen Unbetroffenseins inmitten des heftigsten Gefühlssturms oder den markanten Moment des Umschlags, wenn uns ein zunächst teilnahmslos betrachtetes Gefühlsgeschehen in der Umgebung plötzlich doch ergreift und uns affektiv in seinen Bann schlägt. 30 Dennoch möchte ich das Ineinander von leiblichem Betroffensein und atmosphärisch manifestem Möglichkeitsraum inniger konzipieren als es Schmitz’ Ansatz zulässt. Leiblich ist unmittelbar die aktive Habe, das Sich-Bewegen in den Möglichkeitsräumen der gefühlsmäßigen Welterschließung, nicht bloß ein davon unterscheidbares »Affiziertsein«. Mein Sein, meine momentane Existenz ist die Betroffenheit selbst. Ich stehe in meinen Möglichkeiten, ich durchstehe die Möglichkeiten, die meine Welt bedeuten. Leibliches Spüren, affektiv-leibliches Betroffensein – zu sehr droht das doch wieder in ein subjektives Erfassen eines davon getrennten Objektiven umzuschlagen. Das Verhältnis ist inniger, Leib und Welt sind durch keinen scharfen Schnitt getrennt. Der Leib ist insofern doch weniger Medium, »Fühler« oder Manifestationsraum, in dem sich anderes niederschlägt – vielmehr ist sein lebendiger Vollzug das Sein meiner Welt. Leibsein und Welthabe sind nicht zu trennen. 4.
Fazit und Ausblick
Die Reichweite des Weltbezugs der Gefühle, ihr überpersönlichintersubjektiver Charakter, ihre Manifestation im Verhalten, im Handeln sowie in der Haltung der fühlenden Person, das in den Gefühlen liegende affektive Selbstgewahren sowie die Leiblichkeit der Gefühle sind zentrale Aspekte der menschlichen Gefühle, die in vielen Thematisierungen affektiver Phänomene nur unzureichend oder phänomenverkürzt berücksichtigt werden. Dieser Mängelkatalog von fünf Engführungen enthält im Umkehr30
Vgl. etwa Schmitz: Leib, Kap. 10.
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Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn
schluss bereits erste Ansätze zu einer positiven phänomenologischen Konzeption der affektiven Intentionalität. Diese sollte von der Unterscheidung zwischen einer sämtliche Bezugnahmen strukturierenden Hintergrundaffektivität (Heideggers »Befindlichkeit«, Ratcliffes »existential feelings«) einerseits und den konkret gerichteten Emotionen andererseits ausgehen, ohne diesen Unterschied zu verabsolutieren. Von dort aus lassen sich die verschiedenen Erscheinungsweisen der affektiven Intentionalität einerseits separat und andererseits in ihrem Zusammenhang beschreiben. Zudem sollte es darum gehen, die affektive Intentionalität im Kontext ihrer engen Verzahnung mit anderen für Personalität zentralen Strukturen zu situieren: dem Verstehen, dem Handlungsvermögen, der Sprache bzw. mit einem umfassender verstandenen begrifflichen Artikulationsvermögen, das auch nicht-sprachliche Formen bedeutungshaften Ausdrucks umfasst. Ein brauchbarer Leitfaden für dieses Unterfangen ist die These, dass sich die menschlichen Gefühle oft angemessen als ein Situiertwerden in Möglichkeitsräumen beschreiben lassen. Im Gefühl erfährt die fühlende Person, wie es konkret in der gegebenen Situation »um sie steht«. Dabei spielen Welt- und Selbstbezug untrennbar ineinander, eigene Handlungsmöglichkeiten sind ebenso unthematisch präsent wie mögliche bedeutsame, also die fühlende Person direkt betreffende Geschehnisse; anderes, das objektiv möglich wäre, ist hingegen eigentümlich abgeblendet oder ganz aus dem Erfahrungsspektrum verschwunden. Die im Gefühlserleben aufgespannten Möglichkeitsräume haben – zumindest in vielen markanten Fällen – den phänomenalen Charakter von leiblich ergreifenden, aber weitgehend situativ-überpersönlichen Atmosphären. Nach dieser Zusammenfassung des zuvor Mitgeteilten möchte ich abschließend in Form eines kurzen Ausblicks eine weiterführende Perspektive andeuten, die den Rahmen eines phänomenologischen Gefühlsverständnisses deutlich überschreitet. 31 Insbesondere in den Bemerkungen zur Intersubjektivität der Ge31
Die im Folgenden angedeutete Perspektive wird detaillierter beschrieben in: Slaby/Mühlhoff/Wüschner: Relationalität.
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Jan Slaby
fühle deutete sich bereits eine Tendenz in Richtung eines noch stärker vom Individualsubjekt losgelösten Verständnisses von affektiven Phänomenen an. Die Phänomenologie ist, allen Versuchen zur Überwindung dieser Positionierung zum Trotz, nach wie vor am Subjekt, an der subjektiven Erfahrungsperspektive, am zunächst nur sinnvoll als individuell zu verstehenden Bewusstsein orientiert. Ihre Beschreibungen und Theoretisierungen sind auch dort, wo es um geteiltes oder sozial moduliertes Erleben geht, meist auf das Erleben einzelner, an diesen sozialen Geschehnissen beteiligter Personen zentriert. Eine Weiterführung der hier angelegten Überlegungen könnte dagegen noch stärker die transpersonale Konstitution von Affektivität und Affizierung in geteilten Räumen und Umgebungen herausstellen. Hier ist ein Ansatz denkbar, der – dabei durchaus einen »kontrollierten Bruch« mit der grundlegenden Orientierung der Phänomenologie vollziehend – weder beim Individuum ansetzt, noch bei diesem bzw. bei dessen Erfahrung wieder endet. Wie wäre es, wenn wir Affekte (in Anschluss an Spinoza und Deleuze) als prozessuale Dynamiken in räumlichen, materiell-diskursiven und interpersonalen Gefügen bestimmen würden? Affekte wären dann nicht in erster Linie individuelle Gefühle, sondern steigernde oder hemmende Kraft- und Wirkverhältnisse zwischen Körpern aller Art, welche sich zeitweilig zu komplexen relationalen Konstellationen verbinden, von denen manche dann als die Gefüge und Arrangements des menschlichen Zusammenlebens bestimmt werden könnten. 32 Eine solche Perspektive würde das affektive Erleben bzw. das in und durch die Affektivität sich vollziehende Sein von Personen als Teilmoment solcher umfassender und veränderlicher Affizierungssituationen bestimmen, wobei die Erlebnisperspektive von menschlichen Individuen dabei weder sträflich vernachlässigt noch besonders privilegiert würde. In ihrer charakteristischen – und wie ich finde: vorschnell als 32
Siehe dazu jetzt auch Kerstin Andermann: »Substanz, Körper und Affekte. Immanente Individuation bei Spinoza und Deleuze«, in: Thomas Kisser/Katrin Wille (Hrsg.): Spinozismus als Modell. Lektüren zu Spinoza und Deleuze, München 2015, S. 1–31.
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Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn
alternativlos gesetzten – meta-ontologischen Orientierung mögen Vertreter_innen der Phänomenologie geneigt sein, einen solchen transpersonalen Ansatz als Verstoß gegen die Epoché zu disqualifizieren, da es sich um den Versuch eines Ausstiegs aus der Grundkonstellation der Intentionalität zu handeln scheint: Subjekt/ Objekt; Noesis/Noema; Seinsverständnis/Sein etc. Ein solcher radikaler Ausstieg aus dem neuzeitlichen Denkrahmen stehe uns, als nun einmal irreduzibel in dieser Relation stehenden Erkenntnissubjekten, nicht offen. Ist das wirklich zwingend? Können wir nicht dennoch eine transpersonal-objektale Konzeptualisierung ansetzen als ein Mittel zur Sichtbarmachung von Prozessen, die einer auf Intentionalität und Erfahrung beschränkten Perspektive zunächst oder dauerhaft ausgeblendet blieben? Vollziehen wir konzeptuelle Epoché statt bewusstseinsmäßiger oder ontologischer – denken wir einmal probeweise außerhalb des von Intentionalität, Bedeutung, Bewusstsein und Subjektzentriertheit vorgezeichneten Rahmens. Dies natürlich vor allem, um anschließend mit einem geschärften konzeptuellen Instrumentarium auf die Affizierungsmodi und Erlebnisweisen von menschlichen Subjekten zurück zu kommen. In Heideggers Verfahren der formalen Anzeige hat dieses Vorgehen durchaus einen Vorläufer im Bereich der Phänomenologie. Man muss es deshalb auch nicht gleich »spekulativen Realismus« nennen, wenngleich der Impuls, der Anlass zu der so betitelten Bewegung gibt, ernst zu nehmen ist: Denken muss sich das Sein außerhalb des gesichert Zugänglichen doch lassen, also denken wir es! Was lässt sich in einer solchen Blickrichtung ausmachen über die dynamischen Kraft- und Wirkverhältnisse zwischen Entitäten verschiedener Art? Kann es sein, dass gerade das Feld des Affektiven durch die stete Rückbindung an das erlebnismäßig Erfassund Erschließbare nur unzureichend und verkürzt in den Blick gebracht wurde? Ist es womöglich auch die in Teilen der Phänomenologie gebetsmühlenartig erfolgende Ablehnung des Naturalismus in einem unkreativ dichotomischen Denkrahmen (hier Bedeutung, Erleben, Subjektivität – dort wertneutrale Faktizität, mechanische Kausalzusammenhänge, blinde Naturgesetze, etc.), die das phänomenologische Philosophieren in einen selbstgebau247 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Jan Slaby
ten Käfig sperrt? Das Ausbrechen aus dem Denkraum des defacto-Erlebbaren eröffnet neue Möglichkeiten; wir sollten diesen Weg gehen. Hier liegt eine faszinierende Perspektive für die künftige Erforschung von Affektphänomenen insgesamt und großes Potenzial für ein nochmals geschärftes Verständnis der menschlichen Gefühle in ihrer konstitutiven Verstricktheit mit der nicht-menschlichen Wirklichkeit.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
1.
Einleitung
Menschen vollbringen in den unterschiedlichsten Bereichen kreative Leistungen, unter ihnen bildende Künste, Musik, Tanz, Literatur, Wissenschaft, Werbung, Mathematik, Geschäftsleben, Unterricht oder das tägliche Leben. Angesichts dieser vielfältigen und höchst unterschiedlichen Einsatzbereiche wird in der Forschung diskutiert, ob es sich bei Kreativität um eine universelle Fähigkeit handelt oder jeweils verschiedene Arten der Kreativität vorliegen, je nachdem, in welchem Bereich sie zum Einsatz kommt. Es geht also beispielsweise darum, ob die Kreativität eines Musikers dieselbe wie die eines Mathematikers oder Dichters ist. Hierbei handelt es sich um eine Grundsatzfrage der Kreativitätsforschung. 1 Während ursprünglich davon ausgegangen wurde, dass Kreativität eine bereichsunabhängige Fähigkeit darstellt, wurde diese Prämisse ab den 1990er Jahren infrage gestellt und diskutiert, 2 wobei sich einige Autoren für die Bereichsspezifität aussprachen, 3 andere 1
Vgl. John Baer: »Is creativity domain specific?« (Creativity), in: James C. Kaufman/Robert J. Sternberg (Hrsg.): The Cambridge handbook of creativity, Cambridge u. a. 2010, S. 321–341, hier S. 321. 2 Vgl. Eunsook Hong/Roberta M. Milgram: »Creative thinking ability: Domain generality and specificity« (Creative thinking), in: Creativity Research Journal 22/ 3, 2010, S. 272–287, hier S. 272; John Baer: »The importance of domain-specific expertise in creativity«, in: Roeper Review 37/3, 2015, S. 165–178, hier S. 166. 3 Vgl. John Baer: »The case for domain specificity of creativity«, in: Creativity Research Journal 11/2, 1998, S. 173–177; Gregory J. Feist: »The evolved fluid specificity of human creative talent«, in: Robert J. Sternberg/Elena L. Grigorenko/Jerome L. Singer (Hrsg.): Creativity. From potential to realization, Washington 2004, S. 57–82.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
eine Bereichsunabhängigkeit herausstellten 4 und wieder andere für eine Mischform plädierten. 5 Inzwischen gilt in der Forschung als weitgehend anerkannt, dass Kreativität zumindest teilweise eine bereichsspezifische Fähigkeit darstellt. 6 Die Frage jedoch, welche Bereiche in diesem Zusammenhang zu unterscheiden sind, ist noch weitgehend offen und auch eine Theorie der Bereiche steht diesbezüglich noch aus. 7 Der vorliegende Beitrag zeigt, dass sich mit den (leib-)phänomenologischen Arbeiten von Schmitz eine solche Theorie der Bereichsspezifizität von Kreativität aufstellen lässt, die sich darüber hinaus durch hohe Konsistenz
4
Vgl. Jonathan A. Plucker: »Beware of simple conclusions: The case for content generality of creativity«, in: Creativity Research Journal 11/2, 1998, S. 179–182; Jonathan A. Plucker: »The (relatively) generalist view of creativity«, in: James C. Kaufman/John Baer (Hrsg.): Creativity across domains: Faces of the muse, Hillsdale 2005, S. 307–312; Dean K. Simonton: »Varieties of (scientific) creativity: A hierarchical model of domain-specific disposition, development, and achievement«, in: Perspectives on Psychological Science 4/5, 2009, S. 441–452. 5 Vgl. Todd I. Lubart/Jacques-Henri Guignard: »The generality-specificity of creativity: A multivariate approach«, in: Robert J. Sternberg/Elena L. Grigorenko/Jerome L. Singer (Hrsg.): Creativity. From potential to realization, Washington 2004, S. 43–56; Jonathan A. Plucker/Ronald A. Beghetto: »Why creativity is domain general, why it looks specific, and why the distinction does not matter«, in: Robert J. Sternberg/Elena L. Grigorenko/Jerome L. Singer (Hrsg.): Creativity. From potential to realization, Washington 2004, S. 153–167; John Baer/James C. Kaufman: »Bridging generality and specificity: The amusement park theoretical (APT) model of creativity« (The amusement park), in: Roeper Review 27/3, 2005, S. 158–163; Baer: Creativity. 6 Vgl. Hong/Milgram: Creative thinking, S. 272; John Baer: »Domain Specificity and the Limits of Creative Theory«, in: Journal of Creative Behavior 46/1, 2012, S. 16–29, hier S. 16; James C. Kaufman: »Counting the muses: Development of the Kaufman Domains of Creativity Scale (K-DOCS)« (Counting), in: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts 6/4, 2012, S. 298–308, hier S. 298. 7 Vgl. Robert J. Sternberg: »The domain generality versus domain specificity debate: How should it be posed?« (domain) in: James C. Kaufman/John Baer (Hrsg.): Creativity across domains: Faces of the muse, Hillsdale 2005, S. 299–306, hier S. 305; Robert J. Sternberg: »Domain-generality versus domain-specificity of creativity«, in: Peter Meusberger/Joachim Funke/Edgar Wunder (Hrsg.): Milieus of Creativity, Dordrecht 2009, S. 25–38, hier S. 25.
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
mit empirischen Erkenntnissen auf diesem Forschungsgebiet auszeichnet. 8 Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Zunächst werden die phänomenologische Methode sowie ihre Relevanz für die Erforschung kreativer Leistungen in den Grundzügen skizziert und einige grundlegende Begriffe der Neuen Phänomenologie erläutert. Im Anschluss lassen sich ausgehend von Schmitz Intelligenzbegriff drei Arten von Kreativität unterscheiden: leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität. Diese werden vorgestellt und zu Ergebnissen empirischer Untersuchungen der Kreativitätsforschung in Bezug gesetzt. Der Beitrag schließt mit einer kritischen Würdigung der gewonnenen Erkenntnisse. 2.
Methodische und begriffliche Grundlagen
2.1 Die phänomenologische Methode Phänomenologie ist die Wissenschaft der Phänomene. Ein Phänomen ist für jemand zu einer bestimmten Zeit ein Sachverhalt, dessen Tatsächlichkeit sich ihm auch bei beliebiger Variation aller möglichen Annahmen als unveränderlich erweist und sich ihm in einer Weise aufdrängt, dass er dessen Vorkommen nicht ernsthaft bestreiten kann. Ein Phänomen ist z. B. der gespürte Schmerz, da er nicht durch die Annahme geleugnet werden kann, er sei nicht vorhanden. 9 Phänomenologie stellt eine qualitative Forschungsmethode dar, mittels derer die subjektive Erfahrung von Menschen erforscht wird. Schmitz bezeichnet die phänomenologische Methode als »phänomenologische Revision«. Diese zielt darauf ab, »möglichst viel von dem komplexen Glauben, von dem jeder Mensch erfüllt ist, ohne ihn ganz zu durchschauen, zu einzelnen 8
Vgl. zum Folgenden Christian Julmi/Ewald Scherm: »The domain-specificity of creativity: Insights from new phenomenology«, in: Creativity Research Journal 27/2, 2015, S. 151–159. 9 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 1. Teil: Der leibliche Raum, Bonn 1967, S. 1 f.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Annahmen« zu explizieren, »indem diese mit möglichst weitgespannter Variation geprüft werden an der Frage: Welchem zur Annahme anstehenden Sachverhalt kann ich nicht im Ernst die Anerkennung verweigern, dass es sich um eine Tatsache handelt«. 10 Zur Wissenschaft wird die Phänomenologie durch den Grad der Exaktheit ihrer Beschreibung bzw. deren Adäquatheit, durch Begriffsbestimmung sowie deren Kombination und durch die intersubjektiv nachprüfbaren und damit objektiven Begründungszusammenhänge von Phänomen und Situation, die zu erarbeiten sind. 11 Mittels phänomenologischer Analyse lassen sich quantitative Forschungsergebnisse validieren oder ablehnen. 12 So können etwa durch den gespürten Schmerz unauffällige Befunde von Messgeräten oder Laboruntersuchungen zurückgewiesen werden, nach denen der Patient gesund ist. 13 Es ist die Aufgabe der Phänomenologie, sich mit der subjektiven Erfahrung des Menschen auseinanderzusetzen, indem sie die implizite Struktur und Bedeutsamkeit menschlicher Erfahrungen zu explizieren sucht. Da Kreativität eine bedeutsame und einzigartige menschliche und damit subjektive Erfahrung darstellt, 14 erscheint die phänomenologische Methode in diesem Kontext entsprechend geeignet. Als Phänomen wurde Kreativität bereits in zahlreichen Bereichen beschrieben, den Naturwissenschaften, 15 10
Hermann Schmitz: »Naturwissenschaft und Phänomenologie«, in: Erwägen Wissen Ethik 15/2, 2004, S. 147–154, hier S. 152. 11 Vgl. Hermann Schmitz: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, S. 20 f.; Christian Julmi: Atmosphären in Organisationen. Wie Gefühle das Zusammenleben in Organisationen beeinflussen, Bochum/Freiburg 2015, S. 34. 12 Vgl. Patricia Sanders: »Phenomenology: A new way of viewing organizational research«, in: Academy of Management Review 7/3, 1982, S. 353–360. 13 Vgl. Christian Julmi/Ewald Scherm: »Subjektivität als Ausdruck von Lebendigkeit«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik 3/1, 2012, S. 1–8, hier S. 3. 14 Vgl. Steven Bindeman: »Echoes of silence: A phenomenological study of the creative process« (Echos), in: Creativity Research Journal 11/1, 1998, S. 69–77, hier S. 69. 15 Z. B. Ernst Mach: »On the part played by accident in invention and discovery«, in: The Monist 6/2, 1896, S. 161–175; Albert Einstein: »Letter to
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
der Literatur, 16 Malerei 17 und Musik. 18 Dennoch gibt es diesbezüglich bislang nur wenige phänomenologische Analysen. Die Studie Bindemans analysiert den von kreativen Persönlichkeiten beschriebenen kreativen Prozess (z. B. Poincaré und Picasso) auf Basis der phänomenologischen Arbeiten Husserls. 19 Zudem wurden einige phänomenologische Untersuchungen des kreativen Prozesses durchgeführt. 20 Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass die psychologische Forschung die Phänomenologie der Kreativität bzw. die Art und Weise, in der Kreativität subjektiv erfahren wird, substantiell vernachlässigt hat. 21 Darüber hinaus wird in keiner dieser Arbeiten die Frage nach der Bereichsspezifität von Kreativität untersucht.
Jacques Hadamard«, in: Brewster Ghiseli (Hrsg.): The creative process: A symposium, Berkeley/Los Angeles 1952, S. 32 f.; Henri Poincaré: »Mathematical creation«, in: Philip E. Vernon (Hrsg.): Creativity, Middlesex 1970, S. 77–90. 16 Z. B. Naomi Epel: Writers dreaming: 26 writers talk about their dreams and the creative process, New York 1993; Jane Piirto: »The creative process in poets«, in: James C. Kaufman/John Baer (Hrsg.): Creativity across domains: Faces of the muse, Hillsdale 2005, S. 1–22. 17 Z. B. Vincent van Gogh: »Letter to Anton Ridder Van Rappard«, in: Brewster Ghiseli (Hrsg.): The creative process: A symposium, Berkeley, Los Angeles 1952, S. 46–47; Christian Zervos: »Conversation with Picasso«, in: Brewster Ghiseli (Hrsg.): The creative process: A symposium, Berkeley/Los Angeles 1952, S. 48–53. 18 Z. B. Wolfgang Amadeus Mozart: »A Letter«, in: Philip E. Vernon (Hrsg.): Creativity, Middlesex 1970, S. 55 f.; Peter I. Tchaikovsky: »Letters«, in: Philip E. Vernon (Hrsg.): Creativity, Middlesex 1970, S. 57–60. 19 Vgl. Bindeman: Echos. 20 Vgl. Mary-Anne Mace/Tony Ward: »Modeling the creative process: A grounded theory analysis of creativity in the domain of art making«, in: Creativity Research Journal 14/2, 2002, S. 179–192; Sheila J. Henderson: »Product inventors and creativity: The finer dimensions of enjoyment«, in: Creativity Research Journal 16/2–3, 2004, S. 293–312; Barnaby Nelson/David Rawlings: »Its own reward: A phenomenological study of artistic creativity« (Artistic Creativity), in: Journal of Phenomenological Psychology 38/2, 2007, S. 217–255; Barnaby Nelson/David Rawlings: »How does it feel? The development of the experience of creativity questionnaire«, in: Creativity Research Journal 21/1, 2009, S. 43–53. 21 Vgl. Nelson/: Artistic Creativity, S. 218.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
2.2 Grundlegende Begriffe der Neuen Phänomenologie Bevor der Frage nach der Bereichsspezifität von Kreativität nachgegangen werden kann, sind Begriffe zu erläutern, die Schmitz seinem System der Neuen Phänomenologie zugrunde legt. Dieses System verfolgt primär die Aufgabe, »den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich« und die »unwillkürliche Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung wieder zugänglich« zu machen. 22 Im Zentrum der Neuen Phänomenologie steht das Phänomen des menschlichen Leibes, der im Gegensatz zum objektiv messbaren Körper immer subjektiv gespürter Leib ist. Der Leib ist das, »was jemand in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig, spüren kann, ohne sich der fünf Sinne, namentlich des Sehens und Tastens, und des aus deren Erfahrung gewonnenen perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen«. 23 Schmitz erläutert den Unterschied zwischen Leib und Körper am Beispiel des Fieberkranken, der leiblich spürt, dass seine Stirn heiß ist (»Mir ist heiß«), diese sich jedoch beim körperlichen Betasten kühl anfühlt (»Das ist kalt«). 24 Mit dem Begriff des Leibes können Phänomene des unmittelbar Gespürten (leibliche Regungen) objektiv beschrieben werden, die weder dem Körper noch der Seele des Menschen zugeordnet werden können. Hierzu gehören z. B. Müdigkeit, Frische oder Hunger. 25 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der gespürte Leib innerhalb eines dualistischen Paradigmas konzeptionell keinen Platz findet, weshalb viele Texte von Schmitz damit beginnen, dieses zu kritisieren. Das beständige Üben dieser Kritik erscheint insbesondere vor dem Hintergrund notwendig, da der Leib in der heutigen Zeit zunehmend in Vergessenheit gerät. Der Mensch sieht sich vielmehr nur noch seinem funktionalisierten Körper gegenüber, der 22
Vgl. Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (Kurze Einführung), München 2009, S. 7. 23 Schmitz: Kurze Einführung, S. 35. 24 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 1. Teil: Der Leib (System II/1), Bonn 1965, S. 12–13. 25 Vgl. Schmitz: System II/1, S. 5–9.
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
auch sein modellhaftes Weltbild bestimmt, das über technische Hilfsmittel und Messinstrumente selbst in Bereichen erschlossen wird, die für das unmittelbare Erleben nicht mehr zugänglich sind. Dadurch setzt das eigene Verständnis der Welt schon einen Entfremdungsprozess voraus, welcher den Blick von außen betont. Auch das Innere des Körpers entzieht sich durch seine Welten der Moleküle, der Zellen und der elektrischen Potenziale zunehmend dem, was der Mensch am eigenen Leib spürt. 26 Nicht zuletzt um diesem Entfremdungsprozess entgegenzuwirken, bedarf es einer systematischen Berücksichtigung des subjektiv gespürten Leibes, ohne den für den Menschen kein Wiederfinden in seiner Umgebung möglich wäre. Erst der Leib verankert ihn in seiner Umwelt, mit der er interagiert. 27 Eng mit dem Begriff des Leibes verbunden ist der Begriff der Atmosphäre, da Atmosphären als räumlich ergossene Gefühle im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird, ganzheitlich am eigenen Leib gespürt werden. 28 Atmosphären sind einerseits objektiv im Raum vorhanden, greifen andererseits jedoch über sogenannte Brückenqualitäten in das subjektive leibliche Befinden ein. Es lassen sich mit Schmitz im Wesentlichen zwei Arten solcher Brückenqualitäten unterscheiden: Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere. Bewegungssuggestionen sind Vorzeichnungen von Bewegungen, die ebenso von ruhenden wie von ausgeführten Bewegungen ausgehen können. Sie stellen die Suggestion einer Bewegung dar, die am eigenen Leib gespürt werden kann. Beispiele von Bewegungssuggestionen sind der stechende Blick, das Niederhängende einer Trauerweide oder ein Fingerzeig, der den Gezeigten wie einen Dolch aufspießt. 29 Synästhetische Charaktere gehen als Wahrnehmungsqualitäten über die Zuordnung zu einzelnen Gattungen der Wahrnehmung (z. B. Farben, 26
Vgl. Guido Rappe: Interkulturelle Ethik, Bd. II: Ethische Anthropologie, 1. Teil: Der Leib als Fundament von Ethik, Berlin/Bochum/London/Paris 2005, S. 812– 813. 27 Vgl. Guido Rappe: Interkulturelle Ethik, Bd. II: Ethische Anthropologie, 2. Teil: Personale Ethik, Berlin/Bochum/London/Paris 2006, S. 20. 28 Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 78–79. 29 Vgl. Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin/Boston 2011, S. 33–34.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Temperaturen, Schall, Licht) hinaus. 30 Eine Farbe wird als hell oder dunkel (Licht), als kalt oder warm (Temperatur) empfunden. Töne können schwer, dicht oder hart (Masse) sein. 31 Allgemein zeichnen sich synästhetische Charaktere durch Plus- und Minusqualitäten sowie zwischen ihnen durch eine neutrale Zone aus. Plusqualitäten sind beispielsweise hell, warm, schnell, laut, Minusqualitäten entsprechend dunkel, kalt, ruhig, still. 32 Der Mensch ist für Schmitz immer in Situationen eingebettet. Neben der persönlichen Situation sind dies viele gemeinsame Situationen (z. B. die gemeinsame Situation am Arbeitsplatz, bei einer Party oder beim Einkauf ), durch welche die persönliche Situation einen sozialen Hintergrund gewinnt. 33 Schmitz definiert Situationen durch drei Merkmale. Sie sind ganzheitlich, d. h., durch einen Zusammenhalt in sich und eine Abgehobenheit nach außen charakterisiert. Zweitens werden sie zusammengehalten durch eine Bedeutsamkeit, die aus Bedeutungen besteht. Bedeutungen sind Sachverhalte, die bezeichnen, dass etwas ist, Programme, die bedeuten, dass etwas sein soll oder erwünscht ist und Probleme, die sich auf die Frage beziehen, ob etwas ist. Als drittes Merkmal einer Situation ist ihre Bedeutsamkeit binnendiffus, d. h., die einzelnen Bedeutungen müssen nicht einzeln zählbar vorhanden oder voneinander getrennt sein. 34 Die Bedeutsamkeit stiftet gewissermaßen den Binnenzusammenhang aller situativen Geschehnisse und bildet die spezifische Sinnstruktur einer Situation, von der ausgehend sich die Welt erschließt und einzelne Bedeutungen sich aus dieser vorgängigen 30
Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 5. Teil: Die Wahrnehmung, Bonn 1978, S. 62. 31 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 4. Teil: Das Göttliche und der Raum (System III/4), Bonn 1977, S. 633. 32 Vgl. Hermann Schmitz: »Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen« (Gefühle Atmosphären), in: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hrsg.): Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt 1994, S. 33–56, hier S. 39– 40. 33 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart, Bonn 1980, S. 45–46. 34 Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 45.
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
Bedeutsamkeit herausschälen (lassen). 35 Dank seiner sprachlichen Fähigkeiten ist es dem Menschen möglich, aus der Bedeutsamkeit von Situationen einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme als geltende Tatsachen zu explizieren und zu kombinieren. Die Kombination oder Vernetzung einzelner Bedeutungen genügt jedoch nicht mehr der Definition einer ganzheitlichen Situation, weshalb Schmitz stattdessen von einer Konstellation spricht. Durch Konstellationen können Situationen mehr oder weniger rekonstruiert und bearbeitet werden. 36 Erst mit der gelungenen Explikation von einzelnen Bedeutungen in Konstellationen kann eine Objektivierung stattfinden. 37 Zu einer Situation gehören als Sachverhalte auch die Mitmenschen, auf die man unmittelbar gefasst ist, ohne sie im Einzelnen vorauszusehen. Situationen sind gleichsam vielsagende Eindrücke, die jemand von seiner Umgebung gewinnt. 38 Über diese Eindrücke sind Situationen typischerweise von Atmosphären durchzogen, die der Situation einen prägenden Charakter verleihen. Dieser prägende Charakter zeigt sich etwa sehr prägnant beim Musikhören mit Kopfhörern, wenn durch die Atmosphäre der Musik die Situation der Umgebung merklich in diese eingetaucht wird. 39 Doch auch wenn Situationen wesentlich von Atmosphären mitgeprägt sind, können sie nicht über diese identifiziert werden, d. h., von einer Atmosphäre allein kann nicht auf die damit verbundene Situation geschlossen werden. 40 Konstellationen sind dagegen nicht von Atmosphären durchzogen, da ihnen der ganzheitliche Charakter fehlt, der für Atmosphären konstitutiv ist. 35
Vgl. Michael Großheim/Steffen Kluck/Henning Nörenberg: Kollektive Lebensgefühle. Zur Phänomenologie von Gemeinschaften, Rostock 2015, S. 39 ff. 36 Vgl. Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung (Situationen Konstellationen), Freiburg/München 2005, S. 27–28. 37 Vgl. Schmitz: Situationen Konstellationen, S. 23. 38 Vgl. Schmitz: Gefühle Atmosphären, S. 35–36. 39 Vgl. Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007, S. 50. 40 Vgl. Hermann Schmitz: »Kreativität erleben« (Kreativität erleben), in: Christian Julmi (Hrsg.): Gespräche über Kreativität, Bochum/Freiburg 2013, S. 17–42, hier S. 26 ff.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
3.
Bereiche der Kreativität
3.1 Intelligenz und Kreativität Den Ausgangspunkt für das Kreativitätsverständnis von Schmitz bildet sein Intelligenzbegriff. 41 Schmitz versteht Intelligenz als Fähigkeit, Programme auf eine Weise zum Erfolg zu führen, dass dieser Erfolg nicht durch das bloße Anwenden vorgegebener Schemata, sondern durch eine den Umständen angepasste Neufindung erreicht wird. Er unterscheidet drei Arten von Intelligenz im weiteren Sinne: leibliche, hermeneutische und analytische Intelligenz. Intelligenz im engeren Sinne bezieht sich dagegen nur auf die hermeneutische und analytische Intelligenz, die im Gegensatz zur leiblichen Intelligenz auf Sprache angewiesen sind. Leibliche Intelligenz ist die Fähigkeit, mit Situationen ganzheitlich umzugehen, ohne einzelne Bedeutungen zu explizieren. Als Beispiel dafür kann der Autofahrer gesehen werden, der bei einem drohenden Unfall die Gefahr mit einem Schlage wahrnehmen und in seiner Reaktion auf die äußeren Umstände (Asphalt, Regen, Bäume, Autos) reagieren muss, ohne diese einzeln zu analysieren. Demgegenüber beziehen sich hermeneutische und analytische Intelligenz auf die Explikation von bzw. den Umgang mit einzelnen Bedeutungen. Hermeneutische Intelligenz expliziert und kombiniert einzelne Bedeutungen aus Situationen so sparsam, dass die Ganzheit der Situation noch erkennbar ist (poetische Explikation). Hermeneutische Intelligenz gibt es als Anpassung an Situationen und als Gestaltung von Situationen. Die Anpassung ist durch den Takt gekennzeichnet, welcher Situationen in ihrer Ganzheit respektiert. Sie ist wichtig im generellen Umgang mit Menschen etwa in der Politik oder in der Familie und erlaubt es, in einer Situation zu erfassen, welche Taten und Worte angebracht sind oder wo die Grenzen des Erreichbaren liegen. Die Gestaltung von Situationen setzt Schmitz mit der Dichtung als geschickte Sparsamkeit der Rede gleich. Aus der binnen41
Vgl. zum Folgenden Hermann Schmitz: Bewusstsein (Bewusstsein), Freiburg/ München 2010, S. 86–95.
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
diffusen Bedeutsamkeit der Situation werden einzelne Sachverhalte, Programme oder Probleme so vorsichtig herausgeholt, dass das Ganze der Situation durchschimmern kann. Analytische Intelligenz ermöglicht, einzelne Bedeutungen aus Situationen als geltende Tatsachen zu explizieren und zu kombinieren (prosaische Explikation). Sie kennzeichnet die Fähigkeit zur Übersetzung von Situationen in einzelne Bedeutungen sowie deren Verknüpfung. Während das hermeneutische Denken an die Situation gebunden ist bzw. diese zu bewahren sucht und in ihrer Ganzheit respektiert, emanzipiert sich das analytische Denken von dieser und löst sich von ihr ab. Es setzt eine Objektivierungsbewegung von der Situation zu Konstellationen ein, die einerseits Möglichkeiten der Manipulation eröffnet, andererseits der Gefahr des Realitätsverlustes ausgesetzt ist. Wesentliches Merkmal hermeneutischer und analytischer Intelligenz ist die Explikation von Einzelnem aus der Ganzheitlichkeit der Situation. Explikationen sind immer auch Auslegungen, Interpretationen, die den Schwerpunkt auf gewisse Aspekte legen, wodurch andere verschwinden. 42 Für Schmitz stellt Intelligenz eine notwendige, nicht jedoch hinreichende Voraussetzung für Kreativität dar, was allgemein einer gängigen Auffassung in der Kreativitätsforschung entspricht. 43 Dies zeigt sich schon am skizzierten Verständnis der Intelligenz als eine den Umständen angepasste Neufindung. Eine intelligente Leistung wird jedoch erst kreativ, wenn etwas als Ganzes verstanden und bearbeitet werden kann – denn erst, wenn man das Gefühl hat, etwas im Ganzen zu durchdringen, kann man damit so umgehen, »als hätte man das entscheidende Wort gefunden, als hätte man das Geheimnis irgendwie enthüllt und könnte im Ganzen durchsichtig machen, worum es sich handelt«. 44 Eine solche ganzheitlich erlebte Einsicht wird allgemein
42
Vgl. Steffen Kluck: Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zur Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt, Freiburg/München 2014, S. 192. 43 Vgl. z. B. Kaufman: Counting, S. 298. 44 Schmitz: Kreativität erleben, S. 20.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
als wesentlicher Bestandteil des kreativen Prozesses beschrieben 45 und spielt etwa bei dem produktiven Denken in der Gestaltpsychologie eine wesentliche Rolle. Die Möglichkeit zum produktiven Denken basiert nach Wertheimer analog auf dem »Verlangen, die Begierde, den springenden Punkt, den strukturellen Kern, die Wurzel der Situation in den Blick zu bekommen […]; von einer unklaren, unangemessenen Beziehung zur Sache zu einer klaren, durchsichtigen, unmittelbaren Gegenüberstellung zu gelangen«. 46 Schmitz veranschaulicht den Unterschied zwischen einer intelligenten und einer kreativen Leistung am Beispiel des Psychotherapeuten: »Wenn […] ein Neurotiker mit unaufgelösten Konflikten zum Psychotherapeuten geht, dann bedarf es einer außerordentlich intelligenten Arbeit – die auch ein guter Therapeut mit ihm hat –, um aus dem Mann schlau zu werden. Der entscheidende Punkt der aufdeckenden Psychotherapie besteht darin, einen Konflikt zunächst einmal bewusst und dem Patienten deutlich zu machen. Wenn schließlich der Punkt kommt, an dem der Konflikt als solcher reif ist, zum Vorschein zu kommen, dann bedarf es einer kreativen Leistung, damit dies gelingen kann – im Gegensatz zur übrigen Arbeit mit dem Patienten, die zwar oft sehr schwierig ist, jedoch immer nur Halbheiten oder Zwischenergebnisse zum Ergebnis hat.« 47
Da eine kreative Leistung immer auch eine intelligente Leistung darstellt, ist die kreative Leistung entsprechend danach zu differenzieren, ob es sich um leibliche, hermeneutische oder analytische Intelligenz handelt. Dieser Differenzierung folgend können die drei Arten der leiblichen, hermeneutischen und analytischen Kreativität unterschieden werden. Diese sollen nachstehend präzisiert werden.
45
Vgl. Graham Wallas: The art of thought, New York 1926; Robert J. Sternberg/ Janet E. Davidson (Hrsg.): The nature of insight, Cambridge 1995. 46 Max Wertheimer: Produktives Denken, Frankfurt 1964, S. 221. 47 Schmitz: Kreativität erleben, S. 20.
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
3.2 Leibliche Kreativität Schmitz vertritt die Auffassung, dass es für die Kunst – zu der er Musik, Baukunst, Malerei, Grafik, Skulptur und Tanz zählt – an sich wesentlich ist, etwas zu verkörpern, das am eigenen Leib spürbar ist. Diese Art der Kreativität ist leiblich. Sie ist das Resultat einer Begegnung des leiblichen Spürens mit Atmosphären. 48 Der Künstler wird in seinem Schaffen von seiner Leiblichkeit geleitet und beseelt. Das Kunstwerk gewinnt seinen spezifischen Charakter nicht aus einem geistigen Akt in Form einer Idee, sondern aus dem spezifischen, eigenleiblich gespürten Befinden des Künstlers. Zwar kann ein Künstler durchaus von einer Idee geleitet sein, diese verleiht dem Kunstwerk jedoch nicht seine künstlerische Qualität. Das künstlerische Schaffen besteht in der Übertragung einer am eigenen Leib gespürten Anregung in die objektive Gestalt. Diese Anregung kann ihren Ursprung im Leib selbst haben (was insbesondere in der modernen Kunst häufig der Fall ist) oder in einer Atmosphäre, die in das leibliche Spüren des Künstlers über Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere eingreift. 49 Der Antrieb des Künstlers ist ein leiblich spürbarer Impuls, der als Bewegungssuggestion den Künstler leitet. Während der Tänzer diesen Impuls unmittelbar am eigenen Leib zum Vorschein bringt, offenbart sich dieser Impuls beim bildenden Künstler in seinem Werk, 50 »so dass das Kunstwerk gleichsam eine geronnene oder fixierte – aber eine dynamisch fixierte – Atmosphäre ist«. 51 Ein Kunstwerk wirkt über Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere atmosphärisch (z. B. die Atmosphäre eines Gemäldes, einer Skulptur, eines Musikstücks, einer Kirche, einer Tanzaufführung), wobei es allgemein Aufgabe
48
Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 2. Teil: Der Leib im Spiegel der Kunst (System II/2), Bonn 1966, S. 74. 49 Vgl. Schmitz: Kreativität erleben, S. 26. 50 Vgl. Schmitz: System II/2, S. 75. 51 Guido Rappe: »Kreatives Potenzial und kreative Atmosphären«, in: Christian Julmi (Hrsg.): Gespräche über Kreativität, Bochum/Freiburg 2013, S. 43–73, hier S. 68–69.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
der Kunst ist, Atmosphären zu präsentieren. Die Fähigkeit des Künstlers ist seine leibliche Kreativität. Bereits 1924 findet sich diesbezüglich bei Balázs eine sehr schöne Beschreibung von Atmosphären als künstlerischen Ausdruck: »Die Atmosphäre ist wohl die Seele jeder Kunst. Sie ist Luft und Duft, die wie eine Ausdünstung der Formen alle Gebilde umgibt und ein eigenes Medium einer eigenen Welt schafft. Diese Atmosphäre ist wie der nebelhafte Urstoff, der sich in den einzelnen Gestalten verdichtet. Sie ist die gemeinsame Substanz der verschiedenen Gebilde, sie ist die letzte Realität jeder Kunst. Wenn diese Atmosphäre einmal da ist, kann die Unzulänglichkeit der einzelnen Gebilde nicht mehr Wesentliches verderben. Die Frage nach dem »Woher« dieser speziellen Atmosphäre ist immer die Frage nach der tiefen Quelle jeder Kunst.« 52
Und dieses »Woher«, so lässt sich mit Schmitz ergänzen, verweist wesentlich auf die leiblichen Impulse des Künstlers. Kunstwerke stellen in der Regel Atmosphären ohne Situationen dar. Die Mondscheinsonate von Beethoven mag beispielsweise für eine Situation im Mondschein eine passende Atmosphäre sein, es kann jedoch nicht gesagt werden, dass die Sonate primär eine Situation des Mondscheins darstellen würde, auch wenn Rellstab als Namensgeber der Sonate vielleicht dieser Ansicht war. 53 Kunstwerke, die keine Situationen darstellen, lassen sich atmosphärisch sehr gut in bestehende Situationen einbinden, etwa als Gemälde in der persönlichen Wohnsituation oder als musikalische Untermalung einer im Film dargestellten Situation. Da sich leibliche Intelligenz auf einen ganzheitlichen Umgang mit Situationen bezieht, können grundsätzlich auch Situationen bei leiblicher Kreativität eine Rolle spielen, sofern sie frei (oder vor) jeglicher begrifflicher Explikation sind.
52
Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt 2001, S. 30. 53 Vgl. Schmitz: Kreativität erleben, S. 27.
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
3.3 Hermeneutische Kreativität Hermeneutische Kreativität ist in den zwei Formen hermeneutischer Intelligenz als Anpassung an und als Gestaltung von Situationen möglich. Die Kreativität bei der Anpassung an Situationen offenbart sich in der Fähigkeit, eine Situation im Ganzen zu erfassen und sich auf sie einzustellen. Hermeneutische Kreativität erlaubt etwa einen geschickten Umgang in einer Verhandlungssituation, wenn der Verhandelnde genau weiß, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, Forderungen zu stellen, wann er besser nachgeben soll, wann sich eine Wendung ergibt oder was ein Schweigen bedeutet. Hierzu gehört auch, geschickt mit den Atmosphären einer Situation umzugehen. 54 Bei der hermeneutischen Kreativität als Anpassung an Situationen wird eine Situation »in einem Augenblick schlagartig in ihrer ganzen Bedeutsamkeit erfasst und das Handeln danach ausgerichtet«. 55 Die Kreativität bei der Gestaltung von Situationen offenbart sich in der Dichtung. Die sparsame Gestaltung von Situationen veranschaulicht Schmitz an Goethes Zeilen Über allen Gipfeln Ist Ruh. Hier lässt gerade das sparsame Wort »ist« die Bedeutsamkeit der Situation durchscheinen und diese lebendig werden. 56 Eine solche hermeneutische Sparsamkeit stellt etwa auch das Prinzip japanischer Haiku dar, findet sich aber genauso in epischen und dramatischen Dichtungen. Während der Künstler Atmosphären präsentiert, ist es die Aufgabe der Dichtung, Situationen darzustellen, indem diese vorsichtig expliziert werden, um sie im Ganzen zugänglich zu machen. 57 Über die Dichtung schreibt Schmitz: »Die Figuren des Dichters wirken lebendig, wenn ihre Persönlichkeit, sobald sie erscheinen, sprechen oder auch nur geschildert werden, im Augenblick ganz zum Vorschein kommt, so wie die Persönlichkeit 54 55 56 57
Vgl. Schmitz: Kreativität erleben, S. 24. Schmitz: Kreativität erleben, S. 25. Vgl. Schmitz: Bewusstsein, S. 92. Vgl. Schmitz: Kreativität erleben, S. 27.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
eines Mitmenschen in der lebendigen und eindringlichen Begegnung als frischer, wenn auch eventuell trügerischer Eindruck ganz präsent ist; solche Präsenz, die den nicht ganz expliziten, chaotisch-mannigfaltigen Hof der Bedeutsamkeit dieser Persönlichkeit mit präsentiert, seinen Figuren zu verleihen, ist die Kunst des Dichters, der lebendige Gestalten […] schafft.« 58
Natürlich spielen Atmosphären sowohl bei der Anpassung an als auch bei der Gestaltung von Situationen eine wichtige Rolle, da diese nicht nur von ihnen durchzogen sind, sondern die Atmosphären den Situationen einen prägenden Charakter verleihen. In der skizzierten Verhandlungssituation besitzen etwa die Intonation, Mimik oder Gestikulation der Verhandlungspartner und von einem selbst hohe Relevanz, um die Situation im Ganzen zu erfassen und mit ihr umzugehen. Für den Dichter sind Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere neben Metaphern 59 ein beliebtes Stilmittel, eine beschriebene Situation atmosphärisch zu untermalen. In gewisser Weise wird Dichtung »durch Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere (Rhythmus und Klang) […] selbst so etwas wie Musik«. 60 3.4 Analytische Kreativität Analytische Kreativität bedeutet zum einen, das Ganze einer Situation so zu durchschauen, dass die Situation mittels Explikation einzelner Bedeutungen auf das Wesentliche reduziert wird, und zum anderen, die einzelnen Bedeutungen so geschickt miteinander zu Konstellationen zu kombinieren, dass die Situation dadurch in den Griff genommen werden kann. Die Kreativität zeigt sich dann beispielsweise in der Mathematik und den Naturwissenschaften, »wenn durch eine neue Idee, auf die die Leute bisher 58
Hermann Schmitz: Husserl und Heidegger (Husserl Heidegger), Bonn 1996, S. 58. 59 Vgl. Susan K. Perry: »Flow and the art of fiction« (Flow), in: James C. Kaufman/John Baer (Hrsg.): Creativity across domains: Faces of the muse, Hillsdale 2005, S. 23–40, hier S. 25. 60 Schmitz: System III/4, S. 627.
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
noch nicht gekommen sind, plötzlich der große Zusammenhang als Ganzes hergestellt werden kann, wo vorher nur einzelne Elemente waren«. 61 Während leibliche Kreativität mit Atmosphären und hermeneutische Kreativität mit Situationen umgeht, bezieht sich analytische Kreativität auf die Gewinnung von und den Umgang mit Konstellationen. Es ist die analytische Kreativität, die es dem Menschen ermöglicht, etwas zu planen oder sich Konstellationen von Möglichkeiten auszumalen, nach denen sich Situationen unter Umständen umformen lassen. Analytische Kreativität erlaubt es, aus subjektiven Situationen Konstellationen objektive Zusammenhänge zu gewinnen, und kommt insbesondere in der Problemlösung zum Einsatz. 62 Die Problemlösung unterscheidet sich (als prosaische Explikation) fundamental von der Dichtung (als poetische Explikation), da sie »die undurchsichtige Problemsituation brutal« zerreißt, »um nur den Sachverhalt oder das Programm, die in der Lösung als Tatsache (bei theoretischen Problemen) oder als gültig (bei praktischen Problemen) herausspringen, festzuhalten«. 63 Da es viele Wege gibt, aus Situationen einzelne Bedeutungen zu explizieren und zu kombinieren, ist es möglich, dass sich die von unterschiedlichen Standpunkten unabhängig voneinander als gültige Tatsachen explizierten Bedeutungen widersprechen. Dies kann als philosophisches Äquivalent zu Gödels Unvollständigkeitssatz aus der Mathematik verstanden werden, nach dem es unmöglich ist, eine vollständige und konsistente Konstellation von Axiomen zu finden, die auf die gesamte Mathematik angewendet werden kann. 64 Der kreative Mathematiker zeichnet sich in Bezug auf diese Theoreme dadurch aus, dass er eine neue Konstellation von Axiomen findet, die innerhalb der Mathematik eine möglichst große Wirkung aufweisen, oder bestehende Konstellationen auf eine produktive Weise umgestaltet. 61
Vgl. Schmitz: Kreativität erleben, S. 35. Vgl. Schmitz: Bewusstsein, S. 94–96. 63 Schmitz: Husserl Heidegger, S. 58. 64 Vgl. Kurt Gödel: »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I«, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38, 1931, S. 173–198. 62
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Ein Mathematiker oder Naturwissenschaftler kann auch hermeneutisch kreativ werden, etwa indem er einen ganzen Wissenschaftsbereich (d. h. ein Netz aus Konstellationen) als Situation darzustellen versucht. Ein berühmtes Beispiel ist die Beschreibung der Funktionsweise des Gehirns von Sherrington: »The brain is an enchanted loom where millions of flashing shuttles weave a dissolving pattern.« 65 Bei Torrance finden sich mit seinen künstlerischen Definitionen von Kreativität Ansätze, den Begriff der Kreativität nicht analytisch, sondern hermeneutisch zu definieren (z. B. Creativity is wanting to know, Creativity is looking twice oder Creativity is listening for smells). Torrance merkt an, dass sich diese Art des Definierens besonders dazu eignet, Hypothesen zu generieren oder Theorien zu gewinnen. 66 Dies liegt daran, dass diese künstlerischen Definitionen binnendiffuse Situationen darstellen, aus denen sich auf verschiedene Weise einzelne Bedeutungen explizieren und verbinden lassen. 4.
Implikationen für die Kreativitätsforschung
4.1 Gewonnene phänomenologische Erkenntnisse Was lässt sich nun mit der Unterscheidung zwischen leiblicher, hermeneutischer und analytischer Kreativität über die Bereichsspezifizität kreativer Leistungen aussagen? Da es in der Literatur zumindest teilweise noch offen ist, ob es sich bei Kreativität um eine bereichsunabhängige oder eine bereichsspezifische Fähigkeit handelt, lässt sich die vorliegende Arbeit dahingehend einordnen, dass sie für eine bereichsspezifische Sicht auf die Kreativität plädiert. Darüber hinaus können konkret drei verschiedene Arten von Kreativität unterschieden werden: leibliche, hermeneutische 65
Charles S. Sherrington: Man on his nature, Cambridge 1942, S. 178. Vgl. Paul E. Torrance: »The nature of creativity as manifest in its testing«, in: Robert J. Sternberg (Hrsg.): The nature of creativity. Contemporary psychological perspectives, Cambridge u. a. 1988, S. 43–75, hier S. 49–53.
66
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
und analytische Kreativität. Mit dieser Form der Differenzierung unterscheidet sich die vorliegende Arbeit wesentlich von der Mehrzahl der Untersuchungen, in denen Kreativität hinsichtlich der Bereiche unterschieden wird, denen sich entweder die von Dritten bewerteten kreativen Produkte zuordnen lassen (z. B. Musik, Dichtung oder Mathematik) 67 oder in denen kreativen Personen tätig sind (z. B. Musiker, Dichter, Mathematiker). Dennoch lassen sich auf einer abstrakten Ebene die drei beschriebenen Arten der Kreativität auch auf die Beschreibung kreativer Produkte und kreativer Personen anwenden. Bei kreativen Produkten lässt sich etwa von einem Musikstück als Atmosphäre, von einem Gedicht als Situation und von der euklidischen Geometrie als Konstellation von Axiomen sprechen. In Bezug auf die Person kann von leiblichen, hermeneutischen und analytischen Fähigkeiten gesprochen werden. Diese sind auch als verschiedene kognitive Stile interpretierbar, verstanden als stabile und bevorzugte kognitive Strategie einer Person, Wissen und Erfahrungen für die Lösung eines Problems zu erwerben, zu verwenden und aufrechtzuerhalten. 68 Manche Menschen orientieren sich lieber an einzelnen Fakten und deren Kombination, andere wiederum verlassen sich bevorzugt auf den ganzheitlichen Eindruck, den sie von einer Situation haben. Der vorgestellte Ansatz leistet eine theoretische Fundierung der Bereichsspezifität, nach der Kreativität nicht bereichsunabhängig ist und auf der analytisch höchsten Ebene drei Bereiche unterschieden werden müssen, die sich durch einen grundsätzlichen Unterschied der kreativen Leistungen und der zugrunde gelegten Fähigkeiten auszeichnen. Von diesen drei Bereichen ausgehend können hierarchisch absteigend weitere Unterbereiche unterschieden werden – ähnlich dem hierarchisch gegliederten 67
Wobei ein als kreativ bewertetes Produkt nicht notwendigerweise auf einer kreativen Leistung beruhen muss, sondern auch zufällig entstehen kann, vgl. Hans Lenk: Kreative Aufstiege. Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität, Frankfurt 2000, S. 100. 68 Vgl. Ella Miron-Spektor/Miriam Erez/Eitan Naveh: »The effect of conformist and attentive-to-detail members on team innovation: Reconciling the innovation paradox«, in: Academy of Management Journal 54/4, 2011, S. 740–760.
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Amusement Park Model (APT) von Baer und Kaufman. 69 Der Bereich der leiblichen Kreativität ließe sich beispielsweise auf der zweiten Ebene danach unterscheiden, ob der Künstler die Atmosphäre selbst an seinem eigenen Leib zum Vorschein bringt oder sie in ein Werk bannt, das sich nach der Fertigstellung vom Künstler emanzipiert. Auf der dritten Ebene ließe sich Ersterem der Tanz zuordnen, Letzterem die Bereiche Musik, Baukunst, Malerei, Grafik und Skulptur. Die identifizierte Bereichsspezifität von Kreativität schließt nicht aus, dass es (wie im APT auf höchster Ebene abgebildet) bereichsunabhängige Faktoren gibt, die für die Kreativität notwendig sind (z. B. Intelligenz, Motivation, Umgebung). Sie schließt jedoch aus, dass diese für leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität gleichermaßen hinreichend sind. Darüber hinaus kann der erarbeitete Ansatz auch als theoretische Fundierung der Bereiche selbst verstanden werden. Er kann damit als Antwort auf Sternberg verstanden werden, der konstatierte, dass wir solange nicht über die Bereichsspezifität sprechen können, solange wir keine Theorie der Bereiche haben. 70 Die hier aufgezeigte Theorie der Bereiche stellt in diesem Zusammenhang ein Vokabular bereit, festgestellte Unterschiede in der Kreativitätsforschung zu diskutieren. So kann z. B. erklärt werden, weshalb es in der Wissenschaft immer wieder Fälle gibt, dass zwei oder mehrere Naturwissenschaftler voneinander unabhängig die gleichen Entdeckungen machen können (z. B. die Erfindung des Telefons durch Gray und Bell), zwei Musiker jedoch niemals die gleiche Symphonie komponieren werden. 71 Naturwissenschaftler arbeiten in einem mehr oder weniger gleichen Netz von Konstellationen und können in diesem damit auch prinzipiell gleich kombinieren. Der Musiker hingegen bringt seine jeweils einmaligen leiblichen Impulse zum Ausdruck. Darüber hinaus erlaubt es 69
Vgl. Baer/Kaufman: The amusement park. Vgl. Sternberg: Domain, S. 305. 71 Vgl. Dean K. Simonton: »Creativity, leadership, and chance«, in: Robert J. Sternberg (Hrsg.): The nature of creativity. Contemporary psychological perspectives, Cambridge u. a. 1988, 386–426, hier S. 415 f. 70
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
die Theorie, innerhalb einer kreativen Domäne zu differenzieren. Gedichte zu schreiben, zu verstehen und zu analysieren sind drei verschiedene Fähigkeiten einer Domäne, der Dichtung. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch, dass der Autor eines Gedichts Situationen gestaltet, während der versierte Leser sich an diese anzupassen vermag und der Kritiker aus diesen analytisch einzelne Bedeutungen expliziert und als geltende Tatsachen herausstellt. 5.
Integration empirischer Erkenntnisse
Blickt man nun auf empirische Untersuchungen, die sich mit der Frage nach der Bereichsspezifität von Kreativität auseinandersetzen, so lassen sich die Studien von Kaufman und Baer sowie Rawlings und Locarnini als empirische Bestätigung der hier erarbeiteten theoretischen Erkenntnisse ansehen. Kaufman und Baer haben mit einem speziell entwickelten Fragebogen – dem sogenannten Creativity Scale for Diverse Domains (CSDD) – 241 Studenten nach ihrer Einschätzung der eigenen Kreativität befragt, einmal allgemein und einmal bezogen auf neun verschiedene Bereiche: Kommunikation, Interpersonale Beziehungen, Bewältigung persönlicher Probleme, Literatur, Handwerk, Bildende Kunst, Motorik, Mathematik und Naturwissenschaft. Anhand einer explorativen Faktorenanalyse wurden die Daten dahingehend ausgewertet, ob sich die neun verschiedenen Bereiche auf einen Faktor reduzieren lassen (Bereichsunabhängigkeit) oder sich mehrere Faktoren ergeben (Bereichsspezifität), die zu differenzieren sind. Im Ergebnis konnten drei Faktoren identifiziert werden. Der Faktor »Kreativität in Empathie und Kommunikation« beinhaltete die Bereiche Interpersonale Beziehungen, Bewältigung persönlicher Probleme und Literatur. Dem Faktor »Praktische Kreativität« konnten die Bereiche Bildende Kunst, Handwerk und Motorik zugeordnet werden. Der Faktor »Mathematische/ Naturwissenschaftliche Kreativität« bezog sich auf die beiden Bereiche Mathematik und Naturwissenschaft. Die empirisch gewonnenen Erkenntnisse stimmen also mit dem vorgestellten Ansatz überein. »Kreativität in Empathie und Kommunikation« ent269 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Christian Julmi und Ewald Scherm
spricht der hermeneutischen, »Praktische Kreativität« der leiblichen und »Mathematische/Naturwissenschaftliche Kreativität« der analytischen Kreativität. 72 Diese Faktorenstruktur konnte durch Rawlings und Locarnini repliziert werden. 73 Insofern liegt eine (quantitativ-)empirische Bestätigung der phänomenologischen Erkenntnisse bereits vor. Darüber hinaus ist es jedoch ebenso denkbar, einen Fragebogen zu entwickeln, der sich an den phänomenologischen Erkenntnissen orientiert und diese konfirmatorisch testet. Beispiele solcher Fragen sind »Ich kann leicht meine inneren Gefühle in einem Kunstwerk ausdrücken« (leibliche Kreativität), »Es gelingt mir gut, komplexe Situationen in wenigen Worten auf den Punkt bringen« (hermeneutische Kreativität) oder »Ich habe keine Schwierigkeiten, universelle Prinzipien oder Gesetze in komplexen Situationen identifizieren« (analytische Kreativität). Die gewonnenen phänomenologischen Erkenntnisse erlauben auch eine Bewertung abweichender empirischer Daten. Oral, Kaufman und Agars konnten beispielsweise bei der Befragung von 575 Studenten mit dem CSDD ebenfalls drei Faktoren ermitteln, die zwar im Wesentlichen mit den Ergebnissen von Kaufman und Baer konsistent sind, jedoch in zwei Punkten von diesen abweichen. Erstens wurde Literatur dem Faktor »Praktische Kreativität« zugeordnet, zweitens konnte der Faktor »Motorik« keinem Faktor zugeordnet werden. 74 Hier können die phänomenologischen Erkenntnisse zumindest zwei Anhaltspunkte liefern. Erstens unterscheidet sich Literatur von den übrigen Faktoren bei »Praktischer Kreativität« dadurch, dass es sich bei Literatur nicht um die Anpassung an, sondern um die Gestaltung von Situationen handelt. Es ist daher zumindest plausibel, dass die Items un72
Vgl. James C. Kaufman/John Baer: »Sure, I’m creative – but not in math!: Selfreported creativity in diverse domains«, in: Empirical Studies of the Arts 22/2, 2004, S. 143–155. 73 Vgl. David Rawlings/Ann Locarnini: »Validating the creativity scale for diverse domains using groups of artists and scientists«, in: Empirical Studies of the Arts 25/ 2, 2007, S. 163–172. 74 Vgl. Gunseli Oral/James C./Mark D. Agars: »Examining creativity in Turkey: Do Western findings apply?« in: High Ability Studies 18/2, 2007, S. 235–246.
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
terschiedlich geladen wurden. Zweitens ist ein Unterschied zwischen Motorik und den übrigen im Faktor »Praktische Kreativität« geladenen Items ableitbar, da der Künstler seinen leiblichen Impuls bei der Motorik direkt am eigenen Leib zum Vorschein bringt, während dieser sich in den anderen Bereichen im Werk offenbart. Neben dem CSDD wurden weitere Fragebögen entwickelt, um die Bereichsspezifität von Kreativität zu untersuchen. So wurde etwa der Creative Domain Questionnaire (CDQ) erstmals von Kaufman vorgestellt. Der CDQ stellt eine Weiterentwicklung und Erweiterung des CSDD dar und umfasst Fragen zu insgesamt 56 verschiedenen Bereichen. Bei einer Befragung von 3553 Teilnehmern (in der Mehrzahl Studenten) konnte Kaufman fünf Faktoren identifizieren: »Naturwissenschaft«, »Soziale Kommunikation«, »Visuell-Künstlerisch«, »Verbal-Künstlerisch« und »Sport«. Der Faktor »Naturwissenschaft« enthält alle Elemente der Bereiche Mathematik und Naturwissenschaft sowie allgemein des analytischen Denkens, so dass eine Zuordnung zur analytischen Kreativität naheliegt. Der Faktor »Visuell-Künstlerisch« beinhaltet sowohl Elemente der Handwerkskunst (z. B. Handwerk und Textilien) als auch der traditionellen Kunst (z. B. Malerei und Fotografie). Dieser Faktor entspricht der leiblichen Kreativität, die sich in einem Werk offenbart. Der Faktor »Sport« kann dagegen der leiblichen Kreativität zugeordnet werden, die am eigenen Leib zum Vorschein kommt. Der Faktor »Verbal-Künstlerisch« setzt sich im Wesentlichen aus Bereichen der Literatur zusammen und offenbart eine große Nähe zur hermeneutischen Kreativität, die sich auf die Gestaltung von Situationen bezieht. Der Faktor »Soziale Kommunikation« umfasst Bereiche wie Emotionen und Interaktionen mit anderen Menschen und verweist damit auf die hermeneutische Kreativität der Anpassung an Situationen. 75 Eine hohe Übereinstimmung ergibt sich auch mit den Ergebnissen von Carson, Peterson und Higgins, die mit ihrem Creative Achievement Questionnaire (CAQ) 847 Personen (mehrheitlich 75
Vgl. James C. Kaufman: »Self-reported differences in creativity by ethnicity and gender«, in: Applied Cognitive Psychology 20/8, 2006, S. 1065–1082.
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Studenten) befragten. Hier lässt sich in Bezug auf die phänomenologischen Erkenntnisse lediglich eine Ungereimtheit feststellen: Der Bereich des Kochens wurde dem Faktor »Naturwissenschaft« zugeordnet. 76 Gemäß den erarbeiteten phänomenologischen Erkenntnissen handelt es sich beim Kochen jedoch um das Präsentieren von Atmosphären (wie sich jeder an einem guten Wein veranschaulichen kann, dessen Qualität sowohl an synästhetischen Charakteren wie dem weichen oder schweren Geschmack als auch an Bewegungssuggestionen wie dem prickelnden oder beißenden Aroma gemessen wird) und ist der leiblichen Kreativität zuzuordnen. Bei der »Architektur« ist es hingegen plausibel, dass sie keinem Faktor eindeutig zugeordnet werden konnte, da Atmosphären in der Architektur ebenso von Relevanz sind wie das Wissen um die Konstellationen der Ingenieurwissenschaften. 77 6.
Kritische Würdigung
Es konnte eine von der Neuen Phänomenologie inspirierte theoretische Fundierung der Bereichsspezifität von Kreativität erarbeitet werden, die sich durch eine hohe Konsistenz mit empirischen Erkenntnissen auszeichnet. In Bezug auf eine Operationalisierung der Theorie ist jedoch als wesentliches Merkmal der drei identifizierten Bereiche herauszustellen, dass sie nicht immer voneinander getrennt werden können, sondern fließend ineinander übergehen. So ist etwa der Bereich Literatur in diesem Spektrum nicht eindeutig zu verorten: Während japanische Haiku oder kurze Gedichte dem Idealbild hermeneutischer Kreativität am nächsten kommen, orientieren sich Texte von Sachbüchern stärker an einzelnen Tatsachen und Konstellationen von Tatsachen, weshalb sie zum Teil auch dem Bereich analytischer Kreativität zugeordnet 76
Vgl. Shelley H. Carson/Jordan B. Peterson/Daniel M. Higgins: »Reliability, validity, and factor structure of the creative achievement questionnaire«, in: Creativity Research Journal 17/1, 2005, S. 37–50. 77 Vgl. Donald W. MacKinnon: »The nature and nurture of creative talent«, in: American Psychologist 17/7, 1962, S. 484–495, hier S. 485.
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Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität
werden müssen. Durch die Möglichkeit fließender Übergänge wird beispielsweise die Konzeption eines diskret-hierarchischen Modells wie dem des APT erschwert. Zu klären wäre außerdem, inwieweit es sich bei der Anpassung an und der Gestaltung von Situationen um zwei verschiedene Fähigkeiten handelt. So können sich viele Dichter nur dann auf ihre Arbeit konzentrieren und eigene Situationen gestalten, wenn sie sich aus den Situationen, in die sie persönlich verstrickt sind, zurückziehen und sich von diesen abkapseln. 78 Dieser Rückzug von Situationen kann als Gegenteil der Anpassung an diese verstanden werden, so dass neben der beschriebenen Gemeinsamkeit auch eine gewisse Verschiedenheit der Fähigkeiten plausibel erscheint. Darüber hinaus gelten allgemeine Einschränkungen, die sich auch an anderer Stelle in der Literatur finden. 79 So besagt etwa Bereichsspezifität keineswegs, dass Menschen nur in einem Bereich kreativ sind oder sein können. Es ist selbstverständlich möglich, dass jemand sowohl leiblich als auch analytisch (oder hermeneutisch) kreativ sein kann. Zudem bedeutet leibliche Kreativität nicht, dass eine hohe Kreativität im Bereich der Malerei automatisch mit einer hohen Kreativität in anderen leiblichen Bereichen (z. B. der Musik) einhergeht. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Kreativität in der Regel viel Übung und Wissen in den jeweiligen Bereichen verlangt, jedoch nur wenige über diese Übung und dieses Wissen in verschiedenen Bereichen verfügen bzw. die Zeit haben, sich diese anzueignen. 80 Die Studien von Hayes über berühmte Komponisten zeigen etwa, dass in nahezu allen untersuchten Fällen mindestens zehn Jahre an Übung und Erfahrung vorhanden war, bevor das erste anerkannte Meisterwerk erschaffen wurde. 81 Diese Erkenntnis wird in der Kreativitätsforschung allgemein als Zehn-Jahres-Regel (ten year rule) bezeichnet. 82 78
Vgl. Perry: Flow, S. 33. Vgl. Baer: Creativity, S. 335 80 Vgl. Sternberg: Domain, S. 304; Baer: Creativity, S. 336. 81 Vgl. John R. Hayes: The complete problem solver, Philadelphia 1981; John R. Hayes: »Cognitive processes in creativity«, in: John A. Glover/Royce R. Ronning/ Cecil Reynolds (Hrsg.): Handbook of creativity, New York 1989, S. 135–146. 82 Vgl. James C. Kaufman/John Baer: »Hawking’s haiku, Madonna’s math: Why 79
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Christian Julmi und Ewald Scherm
Zuletzt ist zu betonen, dass es sich bei den vorgestellten Bereichen um phänomenologisch verschiedene Arten der Kreativität handelt, die sich auf die der subjektiv erlebten Kreativität zugrundeliegende Struktur bezieht. Dies bedeutet nicht, dass diese Struktur mit den herrschenden Überzeugungen der Menschen über Kreativität zusammenfällt oder bewusst erlebt werden muss. Die Struktur des subjektiv Erlebten ist nicht zwangsläufig identisch mit der subjektiv erlebten Struktur. Stattdessen ist die Struktur des subjektiv Erlebten im phänomenologischen Sinne das, was sich bei beliebiger Variation aller möglichen subjektiv erlebten Strukturen als unveränderlich erweist.
it is hard to be creative in every room of the house«, in: Robert J. Sternberg/Elena L. Grigorenko/Jerome L. Singer (Hrsg.): Creativity. From potential to realization, Washington 2004, S. 3–15, hier S. 5.
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III. historisch
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Gudula Linck
Gespürte Leiblichkeit. Annäherung an China mit Begriffen der Neuen Phänomenologie 1.
Vorbemerkung
1990 nach Kiel berufen, hatte ich im Reisegepäck ein Manuskript zur Körpergeschichte Chinas. Nach der ersten Begegnung mit der Neuen Phänomenologie wurde mir klar: Ich musste noch einmal von vorn beginnen, um diesen fremden Erfahrungsraum so begehbar zu machen, dass der terminologische Boden trägt. Umso mehr als die altchinesische Philosophie kaum daran interessiert war, die Welt auf der Suche nach einer objektiven Wahrheit zu durchdringen: Beschreiben und ordnen ja, aber nicht Abstand nehmend analysieren! Daoistische Philosophen, wie Zhuang Zhou (4.–3. Jh. v. Chr.) und Laozi 1, wollten »nah den Wesen und Dingen sein« (chǔ-wù 處物) 2. Auch Konfuzius (551–479 1
Vermeintlicher Verfasser des im 2. vorchristlichen Jh. kompilierten Daodejing. Wörtlich: chǔ = wohnen, verweilen, wù = Wesen und Dinge, Zhuangzi, Kap. 22 »Zhibeiyou«: »Der Vorbildliche, der nah den Dingen ist (chù-wù), verletzt sie nicht.« Vgl. die etwas andere Übersetzung von Richard Wilhelm: »Der berufene Heilige weilt in der Welt, aber er verletzt nicht die Welt.« (Richard Wilhelm: Dschuang Dsi. Das wahre Buch vom südlichen Blütenland (Blütenland), München 2008, S. 243). Dieser Gedanke findet sich auch in der Dichtkunst: Vgl. das Gedicht »Verdeckte Spuren« von Du Fu (712–770), das der Anthologie von Günter Debon seinen Titel gab (Günter Debon: Mein Haus liegt menschenfern, doch nah den Dingen. Dreitausend Jahre chinesischer Poesie, München 1988; das Gedicht findet sich auf S. 275). Bei Su Shi (1037–1101) lässt der Edle »seine Gedanken wohnen bei den Dingen« (yù yì yú wù 寓意於物) im Unterscheid zum alltäglichen zweckbestimmten »Anhaften an den Dingen« (liú-yì yú wù 流意於 物). Su Shi, »Dongpo wenji shilüe«, zit. nach: Heinrich Geiger: Die große Geradheit gleicht der Krümmung. Chinesische Ästhetik auf dem Weg in die Moderne, Freiburg/München 2005, S. 120.
2
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Gudula Linck
v. Chr.) und Mengzi (372–289 v. Chr.) waren von dem Wunsch beseelt, die Verbundenheit der Welt, Präsenz und Immanenz von »Himmel« (tiān 天) oder Dào (道) nicht durch schürfendes Forschen zu gefährden. An Hand zweier philosophischer Konzepte: Körper bzw. Leib und Qì (氣), einem Schlüsselbegriff der chinesischen Philosophie, sowie einer kulturellen Praktik, der Meditation im weiteren Sinne, möchte ich zeigen, dass das Chinesische mit Kategorien aus der Neuen Phänomenologie an Präzision gewinnt. 3 Anders herum, wird sich die Neue Phänomenologie auf dem Umweg über China interessanten Differenzierungen und Gewichtungen gegenübersehen. Auf diese Weise – so hoffe ich – wird beides deutlich: die transkulturelle Anschlussfähigkeit Schmitz’scher Konzepte und die Fruchtbarkeit transkultureller Vergleiche. 2.
Körper, Leib und Körperleib
In der Sinologie war und ist es üblich, verschiedene chinesische Begriffe mit »Körper« zu übersetzen, als verstünde sich das von selbst. Bei allem Unbehagen von Anfang an, hat mich erst die von Hermann Schmitz systematisierte Unterscheidung von Körper und Leib in die Lage versetzt zu begreifen, dass den altchinesischen Philosophen vor allem an gespürter Leiblichkeit gelegen war, ohne den tast- und sichtbaren Körper zu unterschlagen. 4 Der Begriff für die leiblich verfasste Gesamtpersönlichkeit des Menschen ist shēn 身. Die Etymologie führt zu einem alten Piktogramm, das eine schwangere Frau zeigt, d. h. einen Menschen, der lebendiger nicht sein kann, weil er bzw. sie mit neuem Leben schwanger geht. Etymologie und Gebrauch des Zeichens rechtfertigen also die Übersetzung mit dem deutschen Wort »Leib«, das seinerseits etymologisch mit »Leben« zu tun hat (ahd. lib). 3
Allein schon durch die Frage nach dem Phänomen hinter kulturspezifischen Begriffen. Vgl. Gudula Linck: Ruhe in der Bewegung. Chinesische Philosophie und Bewegungskunst (Ruhe), Freiburg/München 2013, Erster Teil. 4 Vgl. Linck: Ruhe, S. 33 ff.
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Gespürte Leiblichkeit
Zwei weitere ebenso geläufige Begriffe, xíng 形 und tǐ 體, zielen gleichermaßen auf die gesamtleibliche Verfasstheit des Menschen, haben aber den tast- und sichtbaren Körper immer im Blick. Dafür sprechen die altchinesischen Kontexte, aber auch die Etymologie der beiden Wortzeichen. In xíng verweist das rechte Zeichenelement, eine »Feder« 彡, auf die sichtbare Form und Gestalt. In tǐ bedeutet das linke Zeichenelement für sich allein schon »Knochen« 骨, während im rechten Zeichenelement die geordnete Aufeinanderfolge, also das Strukturierte der Knochen, angedeutet ist. Beide Wortzeichen übersetze ich mit verkörperter Leib, kurz: »Körperleib«. Über diese drei Begriffe hinaus finden sich, wenn auch seltener, zwei Wortzeichen, die ebenfalls als »Körperleib« (qū 軀) bzw. »Leib« (gōng 躬) zu übersetzen sind. Beide schreiben sich auf der linken Seite mit dem schon genannten Zeichen für »Leib« (身). Ersteres (qū 軀) zeigt auf der rechten Seite einen gegliederten Raum: 區, letzteres (gōng 躬) zeigt den Bogen 弓, der in anderen Wortbildungen sinnigerweise, da der Pfeil die Weite sucht, für »leibliche Weitung« steht. Zu guter Letzt tauchen in bestimmten Kontexten mehrere Wortzeichen auf, die unmittelbar auf die tast- und sichtbaren Anteile einer Person verweisen. Dabei handelt es sich in allen Fällen – außer beim Wortzeichen für Leichnam shī 屍 – um Wortzusammensetzungen, die pars pro toto gemeint sind und die man also zu Recht mit »Körper« übersetzen kann: »Knochen-und-Fleisch« (gǔ-ròu 骨肉), »Blut-und-Fleisch« (xùe-ròu-zhi-tǐ 血肉之體), »Haar-und-Haut« (shēn-tǐ- fà-fū 身體髮膚), die »Vier Gliedmaßen« (sì-zhī 四支) oder die »Zwölf Gelenke« (shí-èr-jié 十二 節). Die mit Hilfe der Unterscheidung von Körper und Leib gewonnene Prägnanz – m. E. eine gelungene Annäherung an China mit Begriffen der Neuen Phänomenologie – zeigt zugleich, dass der altchinesische Wort- bzw. Zeichenschatz sehr viel mehr Differenzierungen bereit hält als die schlichte Unterscheidung von Körper und Leib – indem unterschiedlich fokussiert wird: • der Leib, der mit Leben schwanger geht shēn 身 • der Leib, der sich weiten kann gōng 躬 • das Gestalthafte in der graphischen Etymologie von xíng 形 279 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Gudula Linck
• das Strukturierte in der von tǐ 體 und qū 軀 • und nicht zuletzt die Wortzusammensetzungen für den tastund sichtbaren »Körper« mit ihrer je spezifischen Fokussierung (Fleisch, Blut, Knochen und die Gelenke) Demnach stehen schon in vorchristlicher Zeit mindestens zehn verschiedene Bezeichnungen unterschiedlicher Fokussierung bereit. 3.
Qì 氣
Qì figuriert zentral in der chinesischen Philosophie. Im Folgenden geht es um die gespürte Leiblichkeit hinter diesem Konzept. Qì lässt sich umschreiben als kosmische Lebenskraft, die in allem west und wirkt, allem Sichtbaren und Unsichtbaren: Qì pulsiert durch die Welt im Wechsel von Tag und Nacht, Sommer und Winter, strömt in Flüssen und Seen, verdichtet sich zum Berg, schwingt sich hinauf zum Flug des Kranich am Himmel, hält den Baum verwurzelt in der Erde usw. Beim Menschen pulsiert Qì im Atem, im Blut, verdichtet sich zu Fleisch und Knochen, regt sich in seinen Wünschen, Emotionen und mehr oder weniger bewussten Akten der Besinnung. Qì ist nicht nur für die Beschaffenheit der Welt verantwortlich, sondern auch für deren Dynamik. Indem Qì pendelt zwischen den Polen extremer Verdichtung und feinster Zerstreuung, treibt es Werden und Vergehen der Wesen und Dinge voran. Auch das Leben des Menschen ist nichts anderes als Wandlung von Qì: »Sammelt es sich, nennt man das Leben; zerstreut es sich, ist das der Tod.« 5 Die Etymologie von Qì führt zu einem archaischen Piktogramm, das drei über einander getürmte Wolken zeigt. Noch im heutigen Kurzzeichen 气 sind diese Wolkenschichten erkennbar. 5
Zhuangzi: Kap. 22.1 »Zhibeiyou« (Huang Jinhong (Hrsg.): Xinyi Zhuangzi Duben (Xinyi), Taibei 1974, S. 253; diese Passage ist nicht von Richard Wilhelm übersetzt).
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Gespürte Leiblichkeit
Die Wolken sind Sturmwolken bzw. Windgötter, die es zu besänftigen galt. So ist der Wind von Anfang an mitgedacht. Bis heute sind die Wortzeichen für Wind und Qì austauschbar, vor allem, wenn es um Atmosphärisches geht. Qì als Wind ist der Atem der Erde 6, und so steht das Zeichen auch für den Atem des Menschen als Ausdruck seiner Lebenskraft. Damit gründet einer der Schlüsselkonzepte chinesischer Philosophie in alltäglich spürbarer Erfahrung: im Wind, der mich umspielt, im Atem, der mich durchströmt. Sucht man – über die Etymologie des Zeichens hinaus – in altchinesischen philosophischen Texten nach dem Sitz von Qì in Leib und Leben, dann finden sich im Zwischenraum zwischen dem schon abstrahierten Denkbegriff auf der einen Seite und dem sprachlosen leiblichen Spüren auf der anderen zehn Erfahrungsfiguren, die wiederum dem Wind bzw. dem Atem verpflichtet sind. Dann präsentiert sich Philosophie in einem einzigen Atemzug. Acht dieser Erfahrungsfiguren beschreiben das bipolare Atemgeschehen: Füllen und Leeren, Verdichten und Zerstreuen, Engen und Weiten, Ruhe und Bewegung, wobei der Widerstreit der polaren Kräfte für die fortgesetzte Bewegung verantwortlich ist. Der bipolare Atemzug kreist um die Mitte zwischen dem Ein und Aus bzw. Aus und Ein. Drei der Atemfiguren zielen auf Varianten des Atmens: Rhythmus (Zeit), Intensität und Richtung (Raum). Weitere grundlegende Merkmale des Atmens über die Bipolarität hinaus lassen sich wie folgt beschreiben: Der Atem geschieht von selbst, über den Atem stehen wir in Resonanz mit der Welt, d. h. das Atmen, ganz offenkundig beim Sprechen, verbindet uns mit anderen Menschen und Wesen zu gemeinsamen übergreifenden Situationen. Sämtliche Erfahrungsfiguren im Zwischenraum zwischen Denkbegriff und Spüren haben in den Kategorien der Neuen Phänomenologie zwar ihre Entsprechung – Atem und Intensität im vitalen Antrieb; Rhythmus, Mitte und der Widerstreit der 6
Zhuangzi: Kap. 2 »Qiwulun« (Jinhong: Xinyi, S. 60; vgl. Wilhelm: Blütenland, S. 53).
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Gudula Linck
Kräfte im Ringen zwischen Engung und Weitung –, jedoch mit dem Unterschied, dass die Neue Phänomenologie – im Fokus auf »Engung und Weitung« – bei der Räumlichkeit leiblicher Erfahrung ansetzt, die chinesische Philosophie aber – im Fokus auf Wind und Atem – einer Welt im Fluss den Vorrang gibt. Die hinter Qì ermittelten Erfahrungsfiguren sind gespürte Leiblichkeit par excellence und als solche in allen kulturellen Praktiken der chinesischen Lebenspflege präsent, einschließlich der Varianten chinesischer Meditation. 4.
Meditative Praxis
Auch die Praxisbeispiele veranschaulichen, wie sich mit Kategorien der Neuen Phänomenologie sinnvoll ein Erfahrungsraum erschließt, der zeitlich und kulturell entfernter nicht sein kann. Und auch hier gilt die Vorliebe für Differenzierung und Gewichtung. Es wird sich zeigen, dass diese dem Bedürfnis nach Praxis geschuldet und somit geradezu unverzichtbar sind. Die chinesische Meditation stelle ich in drei Varianten vor: erstens das »Stillsitzen« als Meditation im engeren Sinn, zweitens das so genannte Qigong als meditative Bewegungskunst, drittens handwerkliches Tun als meditative Alltagsverrichtung. In allen drei Varianten haben die am Konzept Qì entwickelten Erfahrungsfiguren ihren Auftritt und ihre Bewährung. 4.1 Das Sitzen in Stille Zum »Sitzen in Stille« greife ich eine einzige Erfahrungsfigur heraus: die Gewichtung der Mitte. Meditative Versenkung als spezifischer Bewusstseinszustand ringt geradezu um die Mitte zwischen »personaler Emanzipation« und »personaler Regression« 7. Anders 7
»Personale Emanzipation ist der Rückzug eines Subjekts […] von gewissen Sachverhalten, speziellen Tatsachen, Programmen und Problemen.« Entsprechend ist personale Regression »jedes nachhaltige Betroffensein« (Hermann
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Gespürte Leiblichkeit
gesagt, Meditation versucht, die Mitte zu halten zwischen Reflexion auf der einen Seite und Dösen, Dämmern, Schläfrigkeit auf der anderen, zwischen »zu viel denken, und wir schießen übers Ziel hinaus; zu wenig, und wir verpassen die Wirklichkeit« 8. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Anliegen daoistischer Meditation, das Dào, als die Mitte des kosmischen Rades vorgestellt wird oder als die Große (balancierend sich drehende) Töpferscheibe (dà-jūn 大鈞), aus der geformt alle Wesen und Dinge der Welt hervorgehen. 9 So wird das Dào auch als Kreis versinnbildlicht:
Die Anziehungskraft der Mitte rührt daher, dass das Zentrum des Kreises von den Außenstellen in immer gleichem Abstand entfernt ist. D. h. die Mitte ist frei von Vorlieben und Parteilichkeit und damit frei von Begehren, Emotionen und Verstrickung. Sie steht für den Zustand von Ich-Zurücknahme und Gelassenheit. Die kulturspezifische Auszeichnung der Mitte ist also eine Gewichtung, ohne die meditative Praxis als Einübung von Gelassenheit nicht möglich ist. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie (Unerschöpflicher Gegenstand), Bonn 1990, S. 155 f.). 8 Dōgen (1200–1253) hatte fünf Jahre in südostchinesischen Chan-Klöstern verbracht, bevor er nach Japan zurückkehrt und dort den Soto-Zen begründet; zit. nach Manfred Eckstein (Hrsg.): Shōbōgenzō. Die Schatzkammer der Erkenntnis des Wahren Dharma, Zürich 1977, 2 Bde., hier Bd. 1, S. 42. 9 Vgl. Linck: Ruhe, S. 75.
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Gudula Linck
Als Hilfsmittel sind beim »Sitzen in Stille« vorgesehen: Konzentration auf den Atem, Rezitation von Mantren und das spürende Durchwandern des eigenen Körperleibs vom Kopf bis zu den Zehenspitzen und zurück, und zwar entlang ausgezeichneter Orte auf den Leitbahnen des Qì. Konzentration auf den Atem gehorcht wie das spürende Durchwandern der Logik, die in der Neuen Phänomenologie mit dem Begriff der Leibesinseln angesprochen ist: Je mehr »Leibesinseln« gespürt werden, desto größer der Gewinn an Weitung und Entspannung. 10 Über Erleuchtung zu reden als gespürter Leiblichkeit fällt schwer. Der Zusammenhang zwischen konzentrativer Intensität und Umschlag in »maßlose Weitung« 11, wie ihn Hermann Schmitz behauptet, liegt nahe. Die von mir gesichteten chinesischen Texte schweigen sich aber darüber aus, als fehlten die Worte, »das Unsagbare zu sagen«. Und doch sind alle wichtigen Erfahrungen angedeutet, die auch in anderen kulturellen Kontexten Versenkung in numinose Atmosphären begleiten. Im Zhuangzi sind das Selbstvergessenheit (»Ich hatte gerade mein Ich verloren« 12), abgrundtiefes Schweigen, Wandern und Schweifen im Unendlichen, Einheit und Verbundenheit, Chaos – diffus und nebelhaft. In anderen Texten dominiert Grenzenlosigkeit von Zeit und Raum als Ausdruck des Erlebens von Dauer und Weite 13 oder Lichterfahrung – »Blitze zucken, Funken sprühen« 14 –, die Hermann Schmitz als Phänomen »am Rande des Optischen« deutet: »am Übergang vom sinnlichen Datum zum atmosphärischen Gefühl« 15. 10
Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 119 ff. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 1. Teil: Der leibliche Raum, Bonn 1988, S. 188. 12 Zhuangzi: Kap. 2 »Qiwulun« (Jinhong: Xinyi, S. 60; vgl. Wilhelm: Blütenland, S. 53). 13 Sima Chengzhen (647–735): »Der Körper erstreckt sich jenseits aller Begrenzungen«, zit. nach: Livia Kohn: Sieben Stufen der daoistischen Meditation, Uelzen 2010, S. 101. 14 Yunmen (864–949); zit. nach Urs App: Zen-Worte vom Wolkentor-Berg. Meister Yunmen, Bern 1994, S. 83. 15 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III, 4. Teil: Das Göttliche und der Raum (System III/4), Bonn 1995, S. 194. 11
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Gespürte Leiblichkeit
4.2 Qìgōng 氣功 – meditative Bewegungskunst Im Qigong, den heute so genannten chinesischen Lebenspflegeübungen, ist jede Bewegungsgestalt von den am Qi entwickelten Erfahrungsfiguren durchdrungen, d. h. auf solche Weise strukturiert. Es kann auch gar nicht anders sein, denn in dieser Bewegungskunst kommt es darauf an, 1. die Bewusstheit auf das bipolare Atemgeschehen wachzuhalten, zumal der Atem die Bewegung initiiert und führt; 2. mit der Bewusstheit nicht nur beim Atem, sondern auch bei der Bewegung zu sein, die ständig wechselt zwischen vertikalem, horizontalem und diagonalem Richtungsverlauf; 3. Resonanz zu gewährleisten zwischen Atem und Bewegung: d. h. Aufwärtsbewegung beim Einatmen, Abwärtsbewegung beim Ausatmen, Einwärtsbewegung beim Einatmen, Auswärtsbewegung beim Ausatmen; 4. den rhythmischen Wechsel zwischen Ruheposition und Bewegung zu respektieren; 5. zu achten auf Varianten an Rhythmus und Intensität; 6. leibliche Intensität nicht mit Körperspannung bzw. Muskelverspannung zu verwechseln; 7. die Mitte zu halten, d. h. destabilisierende Öffnung (= Weitung) zu vermeiden, zumal alle Bewegung aus der Mitte kommt und in die Mitte zurückführt; 8. den Widerstreit der Kräfte von der Mitte aus wirken zu lassen; 9. möglichst absichtslos, natürlich zu agieren, so dass die Bewegung von selbst geschieht; 10. die über all diesen Phänomenen schwebende Aufmerksamkeit zu erweitern um das spürende Sich-Hinein-Versetzen in eine umgreifende Situation, eine tages- oder jahreszeitliche Stimmung, z. B: »den Mond umarmen« oder »Frühlingswind in Weidenbäumen« oder eine szenische Tiergestalt »Der Kranich breitet seine Schwingen aus«. Bei alledem geht es darum, die Aufmerksamkeit, die im Alltag den Außendingen zugewandt und damit zerstreut ist, zu sammeln und 285 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Gudula Linck
umzulenken auf die spürende Selbstwahrnehmung, diese zu schulen und zu vertiefen. Nur so kann sich auf Dauer eine mitlaufende Achtsamkeit behaupten – wie ein »basso continuo in der Melodie des Lebens« 16. 4.3 Handwerkliches Tun als meditative Alltagspraxis Als Beispiel für meditative Alltagspraxis sei abschließend einem altchinesischen Koch das Wort erteilt, um auch hier gespürte Leiblichkeit in ihrer Binnendifferenzierung entlang der am Qì ermittelten Erfahrungsfiguren nachzuweisen. Zunächst aus dem Buch Zhuangzi die Geschichte vom Koch Ding: »Koch Ding zerlegt einen Ochsen im Beisein des Fürsten Wen Hui. Mit den Händen zupackend, mit der Schulter drückend, den Fuß aufgesetzt, das Knie dagegen gestemmt – ritsch-ratsch – rhythmisch zischend bewegt er das Messer – wie beim Tanz vom Maulbeerwald, wie im Takt der Jīngshǒu-Musik. Da ruft der Fürst begeistert aus: ›Wunderbar! Wie erlangt man ein solches Geschick?‹ Koch Ding legt das Messer nieder und antwortet: ›Dem Dào 17 bin ich zugeneigt. Das ist mehr als Geschick. Als ich begann, Ochsen zu zerlegen, sah ich nichts als den Ochsen vor mir. Drei Jahre später sah ich schon nicht mehr den ganzen Ochsen. Heute begegne ich ihm mit einer intuitiven Kraft. Ich sehe ihn also nicht mehr mit meinen Augen, verzichte auf das Wissen der Sinne und handele nach den Regungen meiner Intuition. Den natürlichen Strukturen folgend, eindringend in die großen Spalten, fahre ich durch die weiträumigen Höhlungen, füge mich dem, was mir entgegenkommt, ohne Gefäße und Sehnen zu berühren bzw. zu verletzen, ganz zu schweigen von den großen Knochen. Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er schneidet. Ein gewöhnlicher Koch wechselt das Messer einmal im 16
Bei Schmitz: System III/4, S. 189 lautet die Stelle, wenn auch bezogen auf mystische Entrückung: »Diese Entrückung kann auch permanent werden und sich gleichsam mit eigener Stimme wie ein Baß unter der Melodie des Lebens durchhalten.« 17 Dào kann hier beides bedeuten: kosmischer Urgrund sowie der Weg als »Kunst« (einen Ochsen zu zerlegen).
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Gespürte Leiblichkeit
Monat, weil er hackt. Mein Messer hält nun schon seit neunzehn Jahren und hat einige tausend Ochsen zerlegt. Und doch ist des Messers Schneide wie frisch vom Schleifstein. Gelenke haben Zwischenräume, aber mein Messer hat keine Dicke. Was in die Leere der Zwischenräume eintritt ohne Dicke, lässt Raum für die wandernd suchende Schneide. Darum ist des Messers Schneide nach neunzehn Jahren wie vom Schleifstein frisch. Trifft sie zwischen Knochen und Gelenken auf Verdichtungen, spüre ich die Schwierigkeit, nehme mich in Acht, verlangsame das Vorgehen mit konzentriertem Blick, bewege das Messer aufs Allerfeinste. – Und schon zerfällt der Ochse und liegt wie Erdklumpen am Boden. Ich ziehe das Messer heraus, richte mich auf, blicke um mich, zögere und bin zufrieden. Ich reinige das Messer und stecke es weg.‹« 18
Sein Geschick, behauptet der Koch, sei mehr als Geschick, sei Übereinstimmung mit dem Dào, zunächst mit dem Dào des Ochsen. Die Kunst, einen Ochsen zu zerlegen, ist intuitives Vorgehen, in jahrelanger Praxis eingeübt, ist implizites Wissen, das sich statt auf Körpersinne ganz aufs Spüren verlässt, ist leibliche Intelligenz, ist im Sinne der Neuen Phänomenologie Sichbewussthaben vor jeder Einzelheit. 19 Intuition, chin. »Geisteskraft« (shén 神), eine subtile Manifestation von Qì, scheint dem Koch als Spürsinn in den Fingerspitzen zu sitzen, wenn nicht in des Messers Schneide, die als Verlängerung seines spürenden Selbst fungiert. Der Koch hat nicht nur sein Werkzeug »eingeleibt«, sondern auch sein Gegenüber und dessen Eigen-Sinn in einer gemeinsamen Situation: Der Ochse ist tot, und doch besteht Resonanz mit dem, was dem Koch vom Ochsen entgegenkommt – an natürlichen Strukturen und situativem Widerstreit bzw. Widerstand. Den Worten des Kochs zufolge ist intuitives Vorgehen Konzentration, wenn auch nicht mit starrem Blick, ist vielmehr geistesgegenwärtige, d. h. schwebende, mitlaufende Aufmerksamkeit. Dann gelingt das Werk ohne Anstrengung und ohne Abnutzung des Werk18
Zhuangzi: Kap. 3 »Yangshengzhu« (Jinhong: Xinyi, S. 77 f.; vgl. Wilhelm: Blütenland, S. 67). 19 Hermann Schmitz: Bewusstsein, Freiburg/München 2010, S. 19.
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Gudula Linck
zeugs: Der Ochse zerfällt von selbst und liegt in Stücken am Boden. Das ungezwungene und Kräfte schonende »Von-Selbst« wird durch das Wortzeichen yóu 遊 unterstrichen, das in diesem Text die »wandernde« Schneide des Messers beschreibt. Auch an anderen Stellen im Buch steht yóu für das absichtslose »Umherschweifen« oder das »Wandern in Muße«. Die ursprüngliche Bedeutung des Zeichens ist das »freie Flattern einer Fahne« im Wind. Mit dem Sinnelement »Wasser« 游 – statt mit dem Sinnelement »Fuß« 辶 – setzt Zhuang Zhou das Zeichen, um »das Tummeln der Fische im Wasser« zu beschreiben. 20 Das »Von-Selbst« entspricht der Überzeugung, dass bei allem Tun, soll es lebensschonend geschehen, Absichtslosigkeit allein zum Ziel führt. Solcherart paradoxes »Tun im Nichts-Tun« ist Pflege des Lebens. So ruft der Fürst am Ende der Rede begeistert aus: »Wunderbar! Ich habe die Worte des Kochs Ding gehört und wurde belehrt über die Pflege des Lebens.« 5.
Zusammenfassung
Auf der Grundlage der – in der Neuen Phänomenologie getroffenen – Unterscheidung von tast- und sichtbarem Körper auf der einen und gespürtem Leib auf der anderen Seite konnten im altchinesischen Kontext mindestens zehn Begriffe differenziert werden. Die drei am häufigsten anzutreffenden chinesischen Wortzeichen entsprechen dem, was die Neue Phänomenologie als »Leib« bezeichnet, bedürfen aber der Präzisierung als »verkörperter Leib« oder »Körperleib«, da sie auf leibliches Spüren zielen, ohne den tast- und sichtbaren Körper aus dem Blick zu verlieren. Die Frage nach gespürter Leiblichkeit in weiteren Konzepten, hier dem philosophischen Schlüsselbegriff Qì, führte zu zehn Erfahrungsfiguren, die im Zwischenraum zwischen Philosophie und sprachlosem Spüren zu differenzieren sind. Diese kulturspezi20
Zhuangzi, 17 »Qiushui« (Jinhong: Xinyi, S. 204; vgl. Wilhelm: Blütenland, S. 201).
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Gespürte Leiblichkeit
fische Differenzierung ist m. E. dem Bedürfnis nach meditativer Praxis geschuldet. Anders gesagt: Praxis kommt ohne diese Differenzierung und – im Falle des Stillsitzens – schon gar nicht ohne Gewichtung der Mitte aus. So gesehen zielt die altchinesische Philosophie auf eine im Spüren wurzelnde Praxis und jede kulturelle Praxis, zumindest der chinesischen Gelehrtenkultur, ist meditatives Sein oder Tun.
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Steffen Kammler
Die Seele im Spiegel des Leibes
Wir alle haben einen Körper, aber wodurch unterscheidet sich dieser von einem Stein, einem Verkehrskegel oder einem beliebigen anderen Objekt in unserer Umgebung? Platon markiert diesen Unterschied mit dem Begriff ψυχή (»Seele«), die unseren Körper bewegt, ihn belebt und überhaupt erst organisiert. In der Perspektive der Neuen Phänomenologie ist diese Seele jedoch nichts weiter als eine metaphysische und »phänomenwidrige Konstruktion«, 1 die einen anthropologischen Dualismus generiert, den es zu überwinden gilt. Zum Zwecke dieser Überwindung führt Hermann Schmitz den Begriff »Leib« ein, der nicht nur den Begriff der »Seele« – und damit den Psychologismus und Introjektionismus – ablösen soll, sondern zugleich die Linie markiert, die ein Tier von Dingen oder Pflanzen trennt. Seele und Leib bezeichnen also etwas, das uns als Lebewesen von alldem unterscheidet, was man ganz allgemein gesprochen als »unbelebt« bezeichnen kann. Doch worin unterscheiden sich Seele und Leib voneinander? Im ersten Teil meines Aufsatzes möchte ich dafür argumentieren, dass weder die platonische Antwort auf die anfangs gestellte Frage notwendig die phänomenologische Antwort ausschließt noch umgekehrt. Meine These ist, dass es bei Platon nicht nur keinen unüberbrückbaren Dualismus von Seele und Körper gibt – wohl aber eine sachlich präzise Differenzierung der beiden –, sondern sogar eine äußerst enge Verbindung zwischen ihnen besteht. Doch bevor ich für diese These argumentieren möchte, 1
Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 1. Teil: Der Leib (System II/1), Bonn 1965, S. 56.
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Die Seele im Spiegel des Leibes
muss zunächst geklärt werden, was Platon mit dem Begriff »Seele« bzw. ψυχή eigentlich meint. Im Verlauf dieser Klärung werde ich zeigen, dass scheinbar widerstreitende Bestimmungen in den Dialogen den verschiedenen Perspektiven geschuldet sind, unter denen das Problem der Seele verhandelt wird, und versuchen, eine kohärente Theorie der Seele abzuleiten. Dabei konzentriere ich mich auf die Struktur- und Funktionsproblematik der ψυχή (»Seele«), wie sie im platonischen Textkorpus diskutiert wird. In einem zweiten Teil möchte ich auf die Leibphilosophie der Neuen Phänomenologie eingehen, die das platonische Seelenmodell als »phänomenwidrige Konstruktion« 2 ablehnt. Auch hier konzentriere ich mich auf die Struktur des Leibes, um die Konturen des Vergleichs deutlicher hervortreten zu lassen. Auf die Darstellung Schmitz’ expliziter Kritik an Platon verzichte ich an dieser Stelle und verweise dafür auf die ausführliche Analyse, die ich in meiner Dissertationsschrift gegeben habe. 3 Im dritten und letzten Teil schließlich setze ich die Ergebnisse meiner Überlegungen miteinander in Beziehung und mache die Nahtstellen zwischen Platonismus und Phänomenologie sichtbar, die die beiden Ansätze zugleich trennen und verbinden. Dabei versuche ich zu zeigen, dass der Leib zumindest auf struktureller Ebene eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Seele aufweist. 1.
Der Begriff ψυχή (»Seele«) bei Platon
Platons Philosophie liegt fast ausschließlich in Form von Dialogen vor. Allein dadurch ist es fast unmöglich, mit Sicherheit herauszuschälen, was seine eigene Position gewesen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass in den Dialogen scheinbar widersprüchliche Aussagen zur Seelenauffassung gemacht werden. Das hat dazu geführt, dass man eine philosophische Entwicklungsgeschichte von 2
Hermann Schmitz: System II/1, S. 56. Steffen Kammler: Die Seele im Spiegel des Leibes. Der Mensch zwischen Leib, Seele und Körper bei Platon und in der Neuen Phänomenologie, Freiburg/München 2013, besonders S. 124–150.
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Platon Denkens nachzeichnen wollte. Eine Lektüre der Dialoge kann unter diesen Vorzeichen einer Expedition in verschiedene exotische Länder gleichen, auf der man zwar vieles entdecken kann, das aber keine weitere Gemeinsamkeit aufweist als eben die, von einer Expedition in fremde Länder mitgebracht worden zu sein. Es gibt jedoch auch Interpreten, die der Meinung sind, dass der Versuch, »aus Platon eine konsistente Theorie zu gewinnen, die über die Aussagen des einzelnen Dialogs hinausgeht, weit mehr im Einklang mit den schriftstellerischen Intentionen des Autors steht als die Zerlegung des Dialogwerks in vermeintlich selbständige Stücke« 4, wie Thomas Szlezák es ausdrückt. Diesem Ansatz folgend möchte ich versuchen zu zeigen, dass sich die scheinbar widersprüchlichen Beschreibungen der Seele durch Platon vor dem Hintergrund einer ihnen zugrundeliegenden Seelenkonzeption wie Teile eines Puzzles zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen lassen. Die unterschiedlichen Puzzleteile machen dabei jeweils andere Aspekte sichtbar und lassen das Bild auf diese Weise Stück für Stück als Landkarte eines zusammenhängenden Gebietes erkennbar werden. Ich werde dies exemplarisch anhand des Problems der Teilbarkeit bzw. Einheit der Seele vorführen. Im »Phaidon«, in welchem die Unsterblichkeit der Seele verhandelt wird, geht es Platon darum, die Seele gegen den Körper abzugrenzen, um ihre Unsterblichkeit nachzuweisen. Dies alles geschieht im »Phaidon« mit Blick auf den unmittelbar bevorstehenden Tod des Sokrates und nimmt seinen Ausgang von der beiläufigen Bemerkung, dass ein echter Philosoph immer zu sterben bestrebt sei. Der Tod aber sei »nichts anderes als die Trennung der Seele vom Körper« 5. Ein »Philosoph« wird als ein Mensch bestimmt, der sich nicht in besonderer Weise um Bedürfnisse wie Essen oder Trinken, sexuelle Lust oder andere den Körper betreffenden Dinge bemüht, 6 sondern sich »soweit es ihm möglich ist, 4
Thomas A. Szlezák: Der Begriff Seele als Mitte der Philosophie Platons, Frankfurt 2010, S. 23. 5 Vgl. Plat. Phd. 64c 4–5: Ἆρα μὴ ἄλλο τι ἢ τὴν τῆς ψυχῆς ἀπὸ τοῦ σώματος ἀπαλλαγήν; 6 Vgl. Plat. Phd. 64d.
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Die Seele im Spiegel des Leibes
vom Körper abwendet, sich aber der Seele zuwendet« 7. Körper und Seele sind in dieser Perspektive also zwei Bereiche, denen man sich mit unterschiedlicher Gewichtung widmen kann. Für den Philosophen im platonischen Verständnis bedeutet die Konzentration auf das, was dem Körper zugerechnet wird, Ablenkung von seinem eigentlichen Ziel, der Erkenntnis der Wahrheit, denn der Körper bleibt (wie ein Hintergrundrauschen) als Störfaktor der Seele bei ihrem Bestreben nach reiner Erkenntnis vorhanden. Ein wichtiges Argument und Ergebnis der Überlegungen im »Phaidon« ist die Unzusammengesetztheit der Seele, die in der Zusammengesetztheit des Körpers ihr Gegenmodell findet. Ist der Körper aufgrund dieser Zusammengesetztheit dem Bereich des Werdens und damit des Vergehens zuzuordnen, so gilt für die Seele aufgrund ihrer Unzusammengesetztheit das Gegenteil – sie rückt in die Nähe des Göttlichen, Unentstandenen und Ewigen und also Unsterblichen. Sie ist unter anderem deshalb unvergänglich, weil sie als einheitliches Ganzes aus keinen Einzelbestandteilen besteht, in die sie zerfallen könnte. Die »Politeia« scheint dieser im »Phaidon« postulierten Einheit der Seele zunächst zu widersprechen, denn hier ist die Rede von drei verschiedenen Teilen (γένη) der Seele. Dass dadurch das im »Phaidon« Dargelegte jedoch nicht zurückgenommen, sondern lediglich weiter ausdifferenziert wird, 8 will ich kurz erläutern: Die drei Teile der Seele, von denen in der »Politeia« die Rede ist, sind 1. das λογιστικόν, 2. das θυμοειδές und 3. das ἐπιθυμητικόν.
7
Platon: Phd. 64e 5 f. In diesem Sinne vgl. auch Stefan Büttner: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen 2000, S. 18–37, besonders S. 62– 130. Dort werden auch die Gegenpositionen ausführlich diskutiert, so dass ich auf die dort geführte Diskussion verweise, da ich dieser nichts Substantielles hinzuzufügen habe.
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Das ἐπιθυμητικόν als die »unterste« Seeleninstanz ist immer auf etwas Bestimmtes gerichtet, das ihm auch gut erscheint. Deshalb werden z. B. Durst, Hunger und überhaupt Begierden (ἐπιθυμίαι) dieser Seeleninstanz zugeordnet. 9 Im Falle des Durstes hieße das beispielsweise, dass das Ziel erstens ein Getränk ist – und nicht etwa trockene Festnahrung – und der Durst sich außerdem auf ein Getränk richtet, das ihm gut bzw. wohltuend erscheint und nicht etwa auf ein Gift. 10 Darüber allerdings, was ein wohltuendes Getränk ist, kann sich das ἐπιθυμητικόν täuschen. An diesem Punkt schaltet sich nach Platons Diagnose eine weitere Instanz – nämlich das λογιστικόν – ein. Dieses erst verfügt über die nötigen Kriterien, um darüber zu entscheiden, ob ein Getränk wirklich wohltuend oder schädlich ist. Das λογιστικόν ist die Ursache dafür, dass jemand, der Durst hat, manchmal aus bestimmten Gründen doch nichts trinkt, obwohl er Gelegenheit dazu hätte. 11 Der eigentliche Zielbereich des λογιστικόν ist jedoch das rationale Denken. 12 Als dritte Instanz der Seele, die sich gewissermaßen in der Mitte zwischen den beiden anderen befindet, wird das θυμοειδές herausgestellt. Einerseits steht es dem ἐπιθυμητικόν nahe, weil es diesem im vehementen Streben ähnlich ist – andererseits ist es aber auch dem λογιστικόν verwandt, da es dessen Urteilen (jedenfalls in den meisten Fällen) folgt. Das θυμοειδές bezieht sich hauptsächlich auf das, was Recht bzw. Unrecht ist. Es handelt sich hierbei also um eine Art Seismographen für erlittenes Unrecht, der zugleich um eine Wiederherstellung des Rechtszustandes bemüht ist, dabei zunächst nur dieses Ziel im Auge hat und im Ernstfall bereit ist, zur Erreichung dieses Zieles auch erhebliche Nachteile in Kauf zu nehmen. 13 Wenn etwa jemanden, der am 9
Plat. R. IV, 437d 8–11. Plat. R. IV, 437d – 438b. 11 Vgl. Plat. R. IV, 439a–d. 12 Vgl. Plat. R. IV, 439d 5–8: τὸ μὲν ᾧ λογίζεται λογιστικὸν προσαγορεύοντες τῆς ψυχῆς, τὸ δὲ ᾧ ἐρᾷ τε καὶ πεινῇ καὶ διψῇ καὶ περὶ τὰς ἄλλας ἐπιθυμίας ἐπτόηται ἀλόγιστόν τε καὶ ἐπιθυμητικόν, πληρώσεών τινων καὶ ἡδονῶν ἑταῖρον. 13 Vgl. Plat. R. IV, 440d. 10
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Die Seele im Spiegel des Leibes
Verdursten ist, von einem anderen die letzte Flasche Wasser gestohlen wird, schaltet sich dieses Seelenvermögen ein und wird aktiv. Während sich das ἐπιθυμητικόν jedoch auf die aus der Wahrnehmung gewonnene Lust bezieht und in dieser Hinsicht unbelehrbar bleibt, ist das Ziel des θυμοειδές weniger partikulär. Außerdem steht es dem λογιστικόν insofern näher, als es diesem im Zweifel folgt und rationalen Gründen gegenüber tendenziell offen ist. Der akute Drang, erlittenes Unrecht zu rächen, kann so in einen größeren Handlungs- und Zeithorizont gestellt und damit zum einen aufgeschoben, zum anderen aber – was noch wichtiger ist – modifiziert werden. 14 Trotz der Differenzierung in verschiedene Instanzen wird die Seele von Platon auch hier als Ganzes (ὅλον) verstanden und zerfällt nicht einfach in drei Teile, sondern diese können als verschiedene Aktualisierungsformen ein und desselben Zugrundeliegenden gedacht werden. 15 Die Differenzierung wird unter anderem deshalb getroffen, um zu zeigen, dass die Seele nicht immer als ganze tätig ist. 16
14
Vgl. z. B. auch Plat. R. X, 608c 5 – d 4. Zur weiteren Problematik des Zeithorizonts vgl. Michael Großheim: »Zeithorizont und diachrone Solidarität. Ein Beitrag zur demographischen Debatte«, in: Michael Großheim (Hrsg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg/ München 2008, S. 94–112. 15 Andreas Graeser: Probleme der platonischen Seelenteilungslehre. Überlegungen zur Frage der Kontinuität im Denken Platons (Probleme), München 1969, S. 15. Graeser geht allerdings davon aus, dass sich dies z. B. im »Timaios« anders verhalte. 16 Vgl. Plat. R. IV, 436a 8 – b 2: »Τόδε δὲ ἤδη χαλεπόν, εἰ τῷ αὐτῷ τούτῳ ἕκαστα πράττομεν ἢ τρισὶν οὖσιν ἄλλο ἄλλῳ· μανθάνομεν μὲν ἑτέρῳ, θυμούμεθα δὲ ἄλλῳ τῶν ἐν ἡμῖν, ἐπιθυμοῦμεν δ’ αὖ τρίτῳ τινὶ τῶν περὶ τὴν τροφήν τε καὶ γέννησιν ἡδονῶν καὶ ὅσα τούτων ἀδελφά, ἢ ὅλῃ τῇ ψυχῇ καθ’ ἕκαστον αὐτῶν πράττομεν, ὅταν ὁρμήσωμεν.« (Dieses ist allerdings schwierig, ob wir mit demselben [Teil] ein jedes tun oder jedes mit einem anderen der drei vorhandenen [Teile]: wir mit dem einen lernen, mit einem anderen von dem, was in uns ist, aber uns ereifern (θυμούμεθα), mit einem dritten aber wiederum die Lustempfindungen bezüglich der Nahrung und der Erzeugung und was dem verschwistert ist, begehren, oder mit der Seele als ganzer jedes einzelne von diesem tun, wenn wir etwas in Angriff nehmen.)
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Ich will diese Problematik kurz an einem Beispiel ausführen, das nicht der »Politeia« entstammt: dem Bild vom Seelenwagen aus dem »Phaidros«. Die Seele wird dort der »zusammengewachsenen Kraft eines befiederten Gespanns und eines Wagenlenkers« verglichen 17. Diese Bestimmung bringt en passant zum Ausdruck, dass die Seele, trotz der Möglichkeit, sie in verschiedener Hinsicht zu betrachten, eben eine Einheit darstellt. 18 Das geschilderte Gespann besteht aus zwei Pferden und einem Wagenlenker, 19 wobei sich die Pferde stark voneinander unterscheiden, was für den Wagenlenker zu einem erschwerten Lenken des Gespanns führt. Das eine der beiden Pferde wird als schlecht charakterisiert, weil es im Gegensatz zum anderen Pferd nur durch Zwang gelenkt werden kann, Argumenten also nicht zugänglich ist. Während es übermütig ist und beständig seine Kompetenzen überschreitet, zeichnet sich das andere Pferd durch eine gewisse Besonnenheit und eine besondere Beziehung zu angemessener Ehre aus und steht dem Denken nahe. Nimmt man einmal an, dass die durch den Seelenwagen abgebildeten Teile sich analog zu der in der »Politeia« vorgestellten trichotomischen Struktur der Seele verhalten, 20 ergäbe sich folPlat. Phdr. 246a 3 – b 4: ἐοικέτω δὴ συμφύτῳ δυνάμει ὑποπτέρου ζεύγους τε καὶ ἡνιόχου. 18 Ganz in diesem Sinn übrigens auch Ernst Heitsch: Platon. Phaidros, S. 93. Sehr überzeugend weist Graeser darauf hin, dass die bildhafte Rede an dieser Stelle das Mittel der Wahl ist und es durchaus möglich ist, die Ausführungen »mit den Mitteln der Ideenphilosophie« zu bewerkstelligen, auf die später im »Phaidros« (Phdr. 272b; 274a und R. 435) selbst hingewiesen wird (vgl. Graeser: Probleme, S. 42 f.). 19 Ernst Heitsch geht aus mir nicht ersichtlichen Gründen davon aus, dass das Gespann der Götter aus vier Pferden besteht (vgl. Ernst Heitsch: Platon. Phaidros (Phaidros), Göttingen 1993, S. 94). Gegen seine Auffassung steht auch die Passage Plat. Phdr. 253c 7 ff. Der Wagen selbst kommt an dieser Stelle, soweit ich das sehe, nicht zur Sprache, es ist aber auch möglich, dass ζεῦγος das gesamte Fuhrwerk und nicht nur das Gespann der beiden Pferde bezeichnet. Sollte jedoch nur das Zweigespann der Pferde gemeint sein, wäre auch dies ein Verweis auf die Betonung der Selbstbewegung der Seele, denn der Wagen selbst wäre im Bild ja auch nur etwas, das vermittels der Pferde bewegt wird. Letztlich kommt es auf die Entscheidung dieser Frage aber für das Verständnis der Passage wohl nicht an. 20 In diesem Sinne siehe auch Graeser: Probleme, S. 42 ff. oder Heitsch: Phai17
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gende Zuordnung: Das gute der beiden Pferde nimmt die Systemstelle des θυμοειδές ein, das andere Pferd steht für das ἐπιθυμητικόν, der Wagenlenker für das λογιστικόν. Die den einzelnen Komponenten des Bildes zugeschriebenen Eigenschaften sprechen jedenfalls für eine solche Zuordnung. Das Verhalten der menschlichen Seele, wenn sie von Liebe erfasst wird, verdeutlicht die Rollenverteilung innerhalb der Seele weiter. Im Zustand der Liebe erkennt der Wagenlenker (das λογιστικόν) im Anblick des geliebten Wesens die Schönheit wieder, die er aus dem Bereich des Intelligiblen kennt. Er erkennt also das Allgemeine im Einzelnen – ganz so, wie dies auch in der »Politeia« ausgeführt ist. Der Wagenlenker selbst aber sucht nicht die Nähe des geliebten Wesens, sondern hält aus Furcht eine Art »Sicherheitsabstand« ein. Diesen vermag er aber nur mit Hilfe des »guten« Pferdes (dem θυμοειδές) aufrechtzuerhalten, das dem Wagenlenker gehorchend dem Impuls widerstehen kann, sich auf das Objekt der Liebe zu stürzen. Das »schlechte« Pferd (das ἐπιθυμητικόν) hingegen ist in dieser Situation gar nicht oder nur sehr schwer zu bändigen und vermag es aufgrund seiner ungestümen Kraft, den gesamten Seelenwagen in die Nähe des Geliebten zu bringen, wobei es alle möglichen Schwierigkeiten macht, die Seele also in Unordnung bringt, weil jetzt nicht mehr der Wagenlenker die Richtung bestimmt, sondern eines der beiden Pferde. Durch die Beschreibung wird – ganz in Analogie zur »Politeia« – deutlich, dass alle drei Teilnehmer eine eigene Erkenntnisleistung haben, denn alle drei nehmen dasselbe Objekt als etwas Erstrebenswertes wahr; sie ziehen aus ihrer eigentümlichen Wahrnehmung nur unterschiedliche Konsequenzen, weil sie diese
dros, S. 95. Anders ist die Deutung von Thomas M. Robinson: Plato’s Psychology, Toronto 1970, S. 117: »This fact coupled with the fundamental lack of distinction between good horse and charioteer, leads one to suspect that Plato’s basic allegiance still lies with that popular bipartition of soul (first seen in the Gorgias) into a set of desires and a principle of reflection.« Gegen Robinsons Auffassung spricht allein schon die Aussage: »Καθάπερ ἐν ἀρχῇ τοῦδε τοῦ μύθου τριχῇ διείλομεν ψυχὴν ἑκάστην […]« (Plat. Phdr. 253c 7 f.) Auch Plat. Phdr. 247c 6 ff. weist in diese Richtung.
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anders bewerten. Das liegt eben an den unterschiedlichen Kriterien, die ihnen zur Verfügung stehen. Das λογιστικόν erkennt im Partikulären das Allgemeine und richtet sich vornehmlich darauf, das θυμοειδές lässt sich von den Argumenten des λογιστικόν überzeugen, widersteht dem eigenen Impuls und lässt sich zurückhalten, während das ἐπιθυμητικόν allein seinem Impuls folgt, keiner Relativierung fähig oder zugänglich ist und somit den Bereich seiner »Zuständigkeit« überschreitet, indem es das Ganze aufgrund einer auf das Partikuläre gerichteten Bestrebung lenkt. Der Wagenlenker wird nicht nur von Liebe und Sehnsucht ergriffen, sondern auch von Furcht, denn er sieht das Einzelschöne vor dem Hintergrund des »Schönen an sich« stehen, welches in den Bereich der Ideen eingebettet ist und eine starke Erschütterung der Seele bewirkt. Weil die Ordnung der Seele aufrechterhalten werden soll, hat der Wagenlenker den Impuls zurückzuweichen, wobei die Pferde gewaltsam zurückgezogen werden. Das »schlechte« Pferd wird zornig, ereifert sich und muss die beiden anderen Teile gewissermaßen durch das Bestehen auf seinem Impuls zu ihrem »Glück« zwingen. Dieser Prozess ist als ständiger Kampf geschildert, bei dem einmal das »schlechte« Pferd die Führung übernimmt, ein andermal der Wagenlenker dieses mit aller Gewalt von einem unbedachten Nachgehen des Strebens abhält. Erst, wenn das ungestüme Pferd gebändigt ist, kann sich die ganze Seele dem Geliebten widmen und ihm nachgehen. Doch ohne das »schlechte« Pferd (das die Systemstelle des ἐπιθυμητικόν vertritt) scheint es fast, dass die Seele dem Impuls, den der Anblick des Einzelschönen hervorruft, erst gar nicht nachgehen würde. 21 Das »schlechte« Pferd ist also einerseits für den Absturz des Seelenwagens in die Körperwelt verantwortlich, stellt andererseits aber auch eine Bedingung dafür dar, dass die Seele wieder den ihr angemessenen Platz im Bereich des Intelligiblen einnehmen kann. Dass die Funktion des ἐπιθυμητικόν im »Phaidros« (unter der Voraussetzung, dass das schlechtere der beiden Pferde stellvertretend für dieses steht) nicht nur negativ bewertet wird, hat auch Graeser gesehen (vgl. Graeser: Probleme, S. 44).
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Sein Anstoß ist also nötig, damit die Seele überhaupt zur Erkenntnis des intelligiblen Schönen kommen kann, wie das ganz analog in der Diotima-Rede im »Symposion« ausgeführt ist. 22 Diese Annahme verträgt sich ebenfalls gut mit der Konzeption der »Politeia«, und ist wenigstens ein Indiz dafür, dass die platonische Seelenkonzeption, wenngleich auch mit anderen Schwerpunkten, in den verschiedenen Dialogen als eine einheitliche und kohärente Theorie formuliert wird. Geht es im »Phaidon« um den grundsätzlichen Aufweis, dass die Seele vom Körper in der Hinsicht verschieden ist, dass sie auch nach der Verbindung mit diesem weiterbesteht, könnte man sagen, dass die »Politeia« eine Art formale Funktionsbeschreibung der tätigen Seele gibt. Der »Timaios«, den ich wenigstens kurz erwähnen möchte, widmet sich dem ganz konkreten Verhältnis von Seele und Körper. Obwohl auch hier die Seele das Primäre ist, macht diese Schrift deutlich, wie bedeutsam das Körperliche im Hinblick auf die Sorge um den ganzen Menschen ist und dass seine Rolle sich nicht darin erschöpft, ein Werkzeug für die Seele zu sein. 23 Wir 22
Vgl. Plat. Smp. 210a – 212b. Plat. Ti. 87d 1 – 88a 7: πρὸς γὰρ ὑγιείας καὶ νόσους ἀρετάς τε καὶ κακίας οὐδεμία συμμετρία καὶ ἀμετρία μείζων ἢ ψυχῆς αὐτῆς πρὸς σῶμα αὐτό· ὧν οὐδὲν σκοποῦμεν οὐδ’ ἐννοοῦμεν, ὅτι ψυχὴν ἰσχυρὰν καὶ πάντῃ μεγάλην ἀσθενέστερον καὶ ἔλαττον εἶδος ὅταν ὀχῇ, καὶ ὅταν αὖ τοὐναντίον συμπαγῆτον τούτω, οὐ καλὸν ὅλον τὸ ζῷον – ἀσύμμετρον γὰρ ταῖς μεγίσταις συμμετρίαις […]. οἷον οὖν ὑπερσκελὲς ἢ καί τινα ἑτέραν ὑπέρεξιν ἄμετρον ἑαυτῷ τι σῶμα ὂν ἅμα μὲν αἰσχρόν, […] καὶ διὰ τὴν παραφορότητα πτώματα παρέχον μυρίων κακῶν αἴτιον ἑαυτῷ, ταὐτὸν δὴ διανοητέον καὶ περὶ τοῦ συναμφοτέρου, ζῷον ὃ καλοῦμεν, ὡς ὅταν τε ἐν αὐτῷ ψυχὴ κρείττων οὖσα σώματος περιθύμως ἴσχῃ, διασείουσα πᾶν αὐτὸ ἔνδοθεν νόσων ἐμπίμπλησι, καὶ ὅταν εἴς τινας μαθήσεις καὶ ζητήσεις συντόνως ἴῃ, κατατήκει, […] τῶν λεγομένων ἰατρῶν ἀπατῶσα τοὺς πλείστους, τἀναίτια αἰτιᾶσθαι ποιεῖ· (In Beziehung auf Gesundheit und Krankheit, Tugend und Schlechtigkeit ist nämlich kein Ebenmaß oder Mißverhältnis von größerer Bedeutung als das von Seele selbst zu Körper selbst – was wir weder betrachten noch bedenken [ist], daß wenn eine schwächere und geringere [Körper-]gestalt eine starke und in jeder Hinsicht große Seele trägt, und wenn diese beiden in gegensätzlicher Weise verbunden sind, das ganze Lebewesen nicht schön ist, denn es ist in den wichtigsten Proportionen unproportional […]. Wie also ein Körper, der im Hinblick auf ein
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finden auch hier eine Bestimmung des Menschen, nur dass der Akzent diesmal auf dem Gesamtlebewesen, bestehend aus Seele und Körper, liegt. Wurde Gesundheit in der »Politeia« 24 als das richtige Verhältnis des Körperlichen in Bezug aufeinander bestimmt, während die richtige Ordnung der Seelenvermögen zueinander die Gerechtigkeit als Tugend der Seele ergab, ist die Perspektive im »Timaios« eine andere. Der Mensch wird nicht in Bezug auf die Ursachen seines Handelns betrachtet, sondern als biologischer Organismus, der notwendig als Verbindung der beiden Teile »Seele« und »Körper« besteht. Im »Timaios« wird deutlich, dass die Individualseele, wenn sie einmal mit einem Körper verbunden ist, diesen also als Träger (ὄχημα) hat, auch durch diesen limitiert wird – im Übrigen genau in der Weise, wie das im »Phaidon« geschildert wird. Wenn bei einem beliebigen Körper die Teile, die er zur Ausübung einer bestimmten Bewegung oder allgemeinen Funktion bedarf, nicht so proportioniert sind, wie es dafür sinnvoll ist, kann er die Funktion zwar noch ausführen, aber nicht ohne Einbuße. Der »Phaidros« schließlich betont den Aspekt des »affektiven Betroffenseins«, um einen Terminus der Neuen Phänomenologie zu gebrauchen, der ich mich nun im zweiten Teil meiner Ausführungen zuwenden möchte.
zu langes Bein oder ein anderes Übermaß im Mißverhältnis mit sich selbst steht und zugleich häßlich ist […] und durch die wankende Bewegung Stürze herbeiführend für sich selbst Ursache unzähligen Übels ist, muß man auch auf dieselbe Weise über das aus beidem Bestehende, was wir Lebewesen nennen, denken, daß wenn in diesem eine Seele ist, die stärker als der Körper und übereifrig ist, dann erschüttert sie ihn ganz, erfüllt ihn von innen her mit Krankheiten und löst ihn auf, wenn sie sich intensiv in irgendwelche Studien und Untersuchungen stürzt, wenn sie sich angestrengt irgendwelchen Studien und Untersuchungen zuwendet, […] und bewirkt, indem es die meisten der sogenannten Ärzte täuscht, daß etwas Schuldloses angeklagt wird.) 24 Vgl. Plat. R. IV, 444d 3–11.
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Die Seele im Spiegel des Leibes
2.
Der Begriff »Leib« der Neuen Phänomenologie
Schließt man die Augen und versucht ohne Zuhilfenahme des Tastens oder des Sehens dieselbe Struktur wiederzufinden, die man am eigenen Körper normalerweise erblicken oder ertasten kann, wird man feststellen, dass dies nicht möglich ist. Was man spürt, ist kein stetiger Zusammenhang, sondern einzelne, nicht kontinuierlich zusammenhängende Inseln des eigenleiblichen Spürens, die in Anzahl und Struktur veränderlich sind und keine klar definierten Grenzen zu haben scheinen. 25 Dasselbe passiert, wenn man auf diese Weise versuchen wollte, etwa seine Hand oder seinen Fuß zu »erspüren«. Der Fuß begegnet uns in diesem Versuch wie eine Hallig bei Hochwasser. Die Gegend der Knöchel, einzelne Bereiche der Zehen und der Fußsohle treten wie Warften hervor und sind dem eigenleiblichen Spüren zugänglich, während die optische oder tastbare Einheit des Fußes wie vom Meerwasser bedeckt diesem Spüren verborgen bleibt. Der Fuß erscheint als ganzer allerdings sofort wieder, wenn wir die Augen öffnen oder ihn mit den Händen tastend erkunden. Das, was dem eigenleiblichen Spüren zugänglich ist und eine andere Struktur aufweist als, was wir durch Zuhilfenahme von Sehen oder Tasten erfahren können, nennt Schmitz kurz »Leibesinseln«. Neben diesem für jedermann nachvollziehbaren Phänomen ist es aber auch möglich, dass unser leibliches Spüren nicht mit dem Ort unseres Körpers zusammenfällt. Man selbst kann dies vielleicht noch am ehesten nachempfinden, wenn man an eine Betäubung im Mundbereich (etwa anlässlich einer Weisheitszahn-OP o. ä.) denkt. Man hat dann das Gefühl, die Lippen oder Wangen wären stark geschwollen, und selbst wenn der Blick in den Spiegel oder das Betasten des Gesichtes mit der Hand zeigt, dass keine sichtbare Schwellung vorliegt, bleibt das Gefühl bestehen und lässt sich nicht »korrigieren« – das eigenleibliche Spüren geht über 25
Vgl. z. B. Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, Paderborn 1992, S. 42 oder Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie (Unerschöpflicher Gegenstand), Bonn 1990, S. 119 ff.
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die Grenzen des Körpers hinaus. Schmitz schildert das z. B. an den sogenannten Phantomgliederlebnissen, die von David Katz oder Paul Schilder untersucht wurden. 26 Diese Phantomgliederlebnisse zeigen, dass Menschen etwas leiblich von sich spüren, zu dem es aber kein physikalisches Gegenstück in der Welt (mehr) gibt – und zwar in einer Weise, dass die Phantomglieder den Bewegungen noch vorhandener Körperteile folgen oder beim »Eindringen« in etwaige physikalische Festkörper als widerständig gespürt werden. 27 Die Leibesinseln sind ein dem alltäglichen Erleben nachvollziehbares Beispiel dafür, dass das, was Herman Schmitz den absoluten Ort des Leibes nennt, mit dem relativen Ort des Körpers zusammenfallen kann. Auch wenn leibliche Regungen häufig auf einzelne Leibesinseln verteilt sind, 28 sind sie jedoch immer in »ein Klima leiblichen Befindens getaucht, das als ganzheitliche leibliche Regung jeweils mit einem Schlag den spürbaren Leib durchzieht« 29. Das bedeutet, dass – obwohl verschiedene und nicht kontinuierliche Leibesinseln feststellbar sind – diese denselben absoluten Ort teilen und somit eine »erlebte Einheit des eigenen Leibes« 30 besteht. In Hermann Schmitz eigenen Worten ausgedrückt: 26
Vgl. David Katz: Zur Psychologie des Amputierten und seiner Prothese, Leipzig 1921 oder Paul Schilder: Das Körperschema. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des eigenen Körpers, Berlin 1923. 27 Vgl. dazu auch Hermann Schmitz: System II/1, S. 16–31; besonders S. 30: »Das Phantomglied ist eine wirkliche Insel des körperlichen Leibes oder Sammlung solcher Inseln und führt bloß dann in die Irre, wenn es unvorsichtig der Verarbeitung durch das Körperschema unterworfen und dadurch zum Anlaß der Erwartung eines sicht- und tastbaren Körperteils […] genommen wird. Illusorisch ist dann nicht das Phantom, sondern bloß seine Verarbeitung im Körperschema und dieses selbst.« Dass mit den Leibesinseln etwas Leibliches als RelativÖrtliches begegnet, ist ein Verweis darauf, dass es sich hier um den »körperlichen Leib« handelt, welcher der Vorstellung des oben als zusammenhängend beschriebenen »Körperschemas« zugeordnet wird. 28 Beispiele hierfür sind etwa Schmerz, Jucken, Kitzel, Herzklopfen, Hitzewallung (vgl. Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 120). 29 Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 120. 30 Schmitz: System II/1, S. 37.
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Die Seele im Spiegel des Leibes
»Mit der […] Behauptung, daß jener absolute Ort auch auf jeder Leibesinsel ganz vorhanden ist – ist gemeint: Er ist auf jeder Leibesinsel vorhanden, da er alle diese Inseln umfaßt; auf keiner von ihnen ist aber nur ein Teil von ihm vorhanden, da er nicht teilbar ist.« 31
Die Einheit des Leibes als absoluter Ort ist also trotz dem Vorhandensein verschiedener Leibesinseln dadurch gewährt, dass die Leibesinseln diesen absoluten Ort zugleich darstellen und ihn sich teilen. Da sich unser perzeptives Körperschema nicht immer mit unserem (eigen-)leiblichen Empfinden deckt, kommt es manchmal, z. B. bei der Lokalisierung von Schmerz, zu dem Umstand, dass sich das leiblich Gespürte nicht mit dem in Übereinstimmung bringen lässt, was wir aus einer »körperlichen Perspektive« erwarten würden. Das liegt unter anderem darin begründet, dass der Körper durch relative Örtlichkeit bestimmt wird, während der Leib absolut örtlich ist. Es gibt gemäß Schmitz einen absolut-örtlich bestimmten »reinen Leib«, der aber nur unter besonderen Umständen spürbar ist und einen »körperlichen Leib«, der auch relativ-örtlich bestimmt ist. Der »reine Körpers« ist das, womit man sich als Objekt beschäftigen kann, was vermessbar ist und sich zerlegen lässt. Der »körperliche Leib« steht in seiner Örtlichkeit zwischen den beiden anderen, ist aber Leib in der Hinsicht, dass er nicht zerlegbar ist; während er Körper in der Hinsicht ist, dass er einen Ort in einem Gefüge von Lage- und Abstandsbeziehungen einnimmt, der sich nicht in einem »Hier« erschöpft, sondern ein »Hier« mit Bezug zu anderen Punkten bzw. Orten in einem Raum ist. 32 Damit sind Struktur und Kategorien des Leibes 31
Schmitz: System II/1, S. 46. Vgl. aber auch S. 38: »[…] so weit, wie sich eigene Leibesinseln erstrecken, auch der absolute Ort des eigenen Leibes im Ganzen reicht«. S. 39: »Der neue Beweis aus der Einheit des Leibes liefert darüber hinaus die Einsicht, daß alle diese absoluten Orte von Leibesinseln überformt und zusammengefaßt sind durch einen absoluten Ort des Leibes im Ganzen.« 32 Vgl. Schmitz: System II/1, S. 54: »Der reine Leib ist bloß absolut-örtlich und gar nicht relativ-örtlich bestimmt; er kommt bei den panischen Zuständen von Angst, Schmerz und Wollust vor, wenn die räumliche Orientierung verloren gegangen ist. Der reine Körper ist bloß relativ-örtlich und gar nicht absolut-örtlich bestimmt; er bildet das Objekt der naturwissenschaftlichen Beschäftigung von Anatomie, Physiologie und exakt messender Medizin mit dem menschlichen
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hinreichend skizziert. Für das verhandelte Thema ist es nötig, auch die »Funktionen« des Leibes zu betrachten, also die Rolle des Leibes bei der Wahrnehmung oder beim Denken. Schmitz’ Definition der Wahrnehmung lautet simpel: »Wahrnehmung ist […] Gegebenheit oder Sichpräsentieren von etwas in leiblicher Kommunikation.« 33 Dabei ist die antagonistische Einleibung als grundlegende Form der Wahrnehmung anzusehen, neben der es jedoch auch die Möglichkeit der Wahrnehmung durch Ausleibung gibt. 34 Von leiblicher Kommunikation spricht Schmitz, »wenn jemand von etwas in einer für ihn leiblichen Weise so betroffen und heimgesucht wird, daß er mehr oder weniger in dessen Bann gerät und mindestens in Versuchung ist, sich danach zu richten« 35. Wahrnehmung in Schmitz’ Verständnis ist also weniger als ein aktiver Prozess seitens des Wahrnehmenden gedacht, sondern dieser wird von dem, was er wahrnimmt, eher gelenkt. 36 Das heißt nicht, dass Wahrnehmung in diesem Sinn eine bloße Aufnahme oder Verarbeitung von Signalen wäre. 37 Im Gegenteil ist Wahrnehmung als eine Art Koagieren von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem durch Einleibung zu verstehen. Weiterhin fällt ins Auge, dass in Schmitz’ Definition der Wahrnehmung keiKörper. In der Mitte zwischen beiden steht der körperliche Leib, der sowohl absolut-örtlich als auch relativ-örtlich ist: das Gewoge verschwommener Inseln, die ebenso je für sich einen relativen und einen absoluten Ort haben, wie sie durch einen absoluten Ort zur Einheit des Leibes im Ganzen zusammengehalten werden. […] Um die Frage zu entscheiden, ob ein gegebenes Phänomen dem körperliche Leib oder dem reinen Körper angehört, ist […] nur zu prüfen, ob es unteilbar oder teilbar ausgedehnt ist.« 33 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 5. Teil: Die Wahrnehmung (System III/5), Bonn 1989. Zu einer präzisen Bestimmung dessen, was leibliche Kommunikation ist siehe z. B. Schmitz: System III/5, S. 31 f. oder Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 135–140. 34 Vgl. dazu auch Hermann Schmitz: Bewusstsein (Bewusstsein), Freiburg/München 2010, S. 123–126. 35 Schmitz: System III/5, S. 31 f. 36 Vgl. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie (Grundlagen), Bonn 1994, S. 126 ff. 37 Vgl. dazu auch Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 138 ff.
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ne Rede von Sinnesorganen ist. Diese betrachtet er nicht als Vermittler, Werkzeuge oder Schleusen der Wahrnehmung, sondern bloß als Stätten einer sich mit der Wahrnehmung »regelmäßig verbindenden ›Begleitmusik‹, die sich in keinem ernstlich und nüchtern belegbaren Sinn je ›zwischen‹ das Wahrnehmen und das Wahrgenommene zu schieben vermag« 38. Zwar geht er davon aus, dass die Sinnesorgane eine notwendige Bedingung des Wahrnehmens sind, doch folgt daraus für ihn eben nicht, dass wir mit den Augen sehen bzw. mit den Ohren hören. 39 Damit richtet er sich gegen einen Physiologismus und Sensualismus, der durch die Annahme von Sinneskanälen verkennt, dass im Wahrnehmen ganzheitliche Situationen erfasst werden, 40 die erst nachträglich in Einzelinformationen zergliedert werden. Die Wahrnehmung ist also primär leiblich, in dem Sinn, dass der Blick als leibliche Regung verstanden keine Entsprechung im Körper hat. Die Augen kommen beim Erfahren des Sehens nicht vor, wohl aber der Blick – sowohl der eigene (den man schweifen oder auf etwas ruhen lassen kann), als auch der fremde (der einen trifft). Nicht ganz klar ist, wie Schmitz das von ihm sehr wohl ernstgenommene und untersuchte Phänomen der Heautoskopie mit der Auffassung in Einklang bringt, dass die Sinnesorgane zumindest eine notwendige Bedingung für das Wahrnehmen sind, denn auch wenn man das Phänomen aus dem Wesen der privativen Weitung erklären kann, bleibt noch die Frage offen, welche Sinnesorgane denn die notwendige Bedingung dafür sein sollen, dass der eigene, vom Leib verlassene Körper gesehen wird. 41 38
Schmitz: System III/5, S. 4. Vgl. dazu auch Schmitz: Grundlagen, S. 2 ff. 40 Zum Situationsbegriff vgl. etwa Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. IV: Die Person, Bonn 2005, S. 14 f.: »Eine Situation überhaupt ist eine absolut oder relativ chaotisch-mannigfaltige Ganzheit, zu der mindestens Sachverhalte gehören.« Vgl. außerdem Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 4. Teil: Der Raum. Das Göttliche und der Raum, Bonn 1995, S. 411–444 und Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie der totalen Vernetzung, Freiburg/München 2004. 41 Zur Heautoskopie vgl. auch Schmitz: System II/1, S. 138 ff. Die dort gemachten Ausführungen sind auch ein gutes Beispiel für Schmitz’ manchmal problematischen Quellenumgang. So deutet er z. B. die Rede von der Seele einfach als Leib39
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Auch das Denken ist nach Schmitz leiblich, denn »Denken im weitesten Sinn ist Umgang mit Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, und ein von diesem Umgang geleitetes Verhalten« 42. Schmitz unterscheidet drei Arten des intelligenten Denkens im weitesten Sinn: die leibliche, die hermeneutische und die analytische Intelligenz. Alle drei müssen leiblich fundiert sein, wenn Schmitz’ Aussage gilt, dass Gedanken vorschwebende Sachverhalte sind, deren Denken selbst aber leiblich ist. 43 Diese Überlegungen abschließend möchte ich einen Punkt wenigstens erwähnen, der den Leib in eine überraschende Nähe zur Seele rückt. Im letzten Band seines »Systems der Philosophie« verhandelt Schmitz das Unsterblichkeitsproblem und kommt zu dem Schluss: »Was den Tod überdauert, kann nicht die Seele sein, denn die gibt es nicht, wohl aber der spürbare Leib, der weder sicht- und tastbarer Körper ist, noch ausdehnungs- und ortlose Seele.« 44
Die Annahme einer solchen Möglichkeit findet Schmitz in den Phänomenen der Phantomgliederlebnisse oder der Heautoskopie begründet. Beides sind Beispiele dafür, dass abgespaltene Leibesinseln bzw. der »Leib im Ganzen« 45 ohne den reinen Körper vorerfahrung um und kommentiert dies so: »Was Sophie von Klingenau als ihre Seele geschaut hat, dürfte kaum zu ermitteln sein; phänomenologisch läßt sich etwas, das den Namen ›Seele‹ verdiente, m. W. nicht nachweisen« (S. 139). Auch das in diesem Zusammenhang spöttisch zitierte Bonmot Virchows: ›Ich habe schon viele Leichen seziert, aber noch keine Seele darin gefunden‹, das er abwandelt in: ›Ich habe schon viele Phänomene aus dem Umkreis menschlichen Erlebens gemustert, aber auf eine Seele bin ich dabei noch nicht gestoßen‹ (S. 139), ließe sich genauso gut auf den Leib anwenden, denn dieser wird beim Sezieren auch nicht entdeckt. Vgl. zur Quellenproblematik auch Steffen Kammler/Steffen Kluck: »Ad fontes. Zu den Quellen des Phänomenologen«, in: Michael Großheim (Hrsg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie, Freiburg/München 2008, S. 59–78. 42 Schmitz: Bewusstsein, S. 86. 43 Vgl. Schmitz: Unerschöpflicher Gegenstand, S. 201; Schmitz: System II/1, S. 8 f. 44 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart (System V), Bonn 1980, S. 191. 45 Schmitz: System V, 191. – Diese Formulierung spricht meines Erachtens ge-
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Die Seele im Spiegel des Leibes
kommen oder diesen sogar wechseln können. 46 Schmitz hält die Annahme einer »Unsterblichkeit des Leibes bei Trennung vom reinen Körper, aber mit räumlicher, örtlich umschriebener Ausdehnung und bei […] Bewußtsein« 47 jedenfalls für möglich. 48 Im platonischen »Phaidon« wurde der Tod ganz ähnlich als Trennung der Seele vom Körper bestimmt. 49 3.
Zusammenschau und Ausblick
Man könnte nun fragen – und damit sind wir beim letzten Teil meiner Überlegungen angekommen –, ob Schmitz’ Konzeption des Leibes nichts anderes als eine Modernisierung der platonischen Seelentheorie sei und beide Konzepte in letzter Konsequenz dasselbe beschreiben, nur mit anderen Namen. Sowohl Platon als auch Schmitz würde man mit einer Bejahung dieser Frage Unrecht tun. Vergleicht man die von mir getroffenen Bestimmungen von Seele und Leib, fallen aber folgende Gemeinsamkeiten auf: Sowohl Seele als auch Leib werden als unteilbare Einheit (gleichwohl mit binnendifferenzierter Struktur) beschrieben. Beide kennzeichnen das, wodurch der Mensch wahrnehmend seine Umwelt erfährt, beide sind Grund jeder Bewegung und Dynamik, Ursprung der Subjektivität, »Ort« des Denkens, gen Jens Soentgens Auffassung, dass man den Leib (den es strenggenommen nicht gebe, sondern nur leibliches Befinden) in keiner Weise als Substanz verstehen dürfe (vgl. Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, Bonn 1998, S. 61 f.). Schmitz selbst jedenfalls scheint dies zu tun. 46 Vgl. Schmitz: System V, S. 191. Schmitz spricht dort sogar von der Möglichkeit von Gespenstern, die als Leiber ohne reinen Körper existieren könnten und nicht seh-, hör- bzw. tastbar sind. Die Bemerkung Platons im »Phaidon« scheint mir in eine ähnliche Richtung zu deuten (vgl. Plat. Phd. 80e – 82c). 47 Schmitz: System V, S. 192. 48 Vgl. dazu auch Hermann Schmitz: »Die Bedeutung des Todes für die Dauer der Person«, in: Hermann Schmitz: selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität, Freiburg/München 2015, S. 189–208, besonders S. 194 f. 49 Platon, Phd. 64c 4–5: »Ἆρα μὴ ἄλλο τι ἢ τὴν τῆς ψυχῆς ἀπὸ τοῦ σώματος ἀπαλλαγήν;«
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weder Seele noch Leib sind materiell wie unser Körper, den man betasten, sehen, vermessen kann und beide sind schließlich sogar potentiell unsterblich. Platon geht von der Annahme aus, dass die Seele im Unterschied zum Körper nicht aus verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt sein kann, weil man diese Bestandteile auch wieder zerlegen könnte und die Seele somit wie der Körper vergänglich wäre. Die Einheit der Seele ist also Voraussetzung für ihre Unsterblichkeit, die im »Phaidon« ja bewiesen werden soll. Dennoch wird in »Politeia« oder im »Phaidros« die Seele als aus verschiedenen Arten oder Teilen bestehend beschrieben. Ich habe dafür argumentiert, dies so zu verstehen, dass diese Teile nicht in demselben Sinn aufzufassen sind, wie man von körperlichen Komponenten redet, sondern als verschiedene Aspekte der Aktivität der Seele. In der »Politeia« wird die prinzipielle Einheit der Seelenteile z. B. dadurch ausgesprochen, dass jeder der drei Teile auf einer ganz grundlegenden Ebene dasselbe tut: nämlich unterscheiden. Von dieser Basis ausgehend differenzieren sich die »Funktionen« allerdings und umfassen das gesamte Spektrum der menschlichen Möglichkeiten: Denken, Meinen, Entscheiden, Wahrnehmen, Empfinden von Emotionen, Hunger, Lust oder Schmerz – all das leistet die Seele und bedient sich dabei des menschlichen Körpers als Hilfsmittel oder Medium. Auch das im »Phaidros« gezeichnete Bild des Seelenwagens zeigt eine differenzierte Einheit, die dort als zusammengewachsene Kraft des Gespanns beschrieben ist. Man kann, wie ich hoffentlich plausibel machen konnte, mit einigem Recht davon ausgehen, dass die Einheit der Seele trotz der Binnendifferenzierung nicht aufgegeben ist. Ein ähnliches Ergebnis kann für den »Timaios« festgehalten werden. Die Einheit und Unteilbarkeit der Seele wird also zunächst in Gegenüberstellung zu den Eigenschaften des Körpers dargestellt, während die Aktivität der Seele dann weiter ausdifferenziert wird. Ausgangspunkt für diese Überlegung ist die Unsterblichkeit der Seele. Für Schmitz ergibt sich ein ähnliches Bild, jedoch mit anderen Schattierungen. Er geht nicht von der metaphysischen Annahme aus, dass die wahrnehmbare Welt von einer intelligiblen Welt ab308 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Die Seele im Spiegel des Leibes
hängig ist und nur aus dieser heraus voll verstanden werden kann. Seine Überlegungen starten bei dem eigenen Erleben. Der Ausgangspunkt ist wiederum die Differenz zum Körper, nur dass zunächst nicht dessen Zusammengesetztheit als Unterschied formuliert ist, sondern im Gegenteil die Erfahrung seiner »Durchgängigkeit«, die dem eigenleiblichen Spüren entgegensteht, das Kriterium ist, wodurch Leib und Körper geschieden werden. Der Leib begegnet nämlich als Gewoge von Leibesinseln, die keinen kontinuierlichen Zusammenhang zu haben scheinen. Dieser Zusammenhang ist aber gegeben im absoluten Ort des Leibes, der die unerschütterliche Gewissheit des »Hier« für jeden Menschen darstellt. Dieses »Hier« des absoluten Ortes besteht ohne Relation zu etwas anderem und ist zugleich auf allen Leibesinseln ganz vorhanden, aber auf keiner von ihnen als Teil, denn anders als sich etwa ein Garten in verschiedene Parzellen aufteilen lässt, ist der absolute Ort nicht teilbar. Die Leibesinseln, also alles das, was wir als leibliche Regungen von uns spüren, werden dadurch zusammengehalten, dass wir immer mit Gewissheit sagen können, dass wir es sind, die etwas spüren, ohne das Spüren erst nachträglich mit uns als Subjekt dieses Spürens verbinden zu müssen. Sie sind der Ort des Denkens, des Wahrnehmens, des Fühlens von Gefühlen, des Hungers, der Lust, des Schmerzes. Eine weitere Nahtstelle ist die Immaterialität von Seele und Leib. Das Beispiel der Phantomglieder zeigt besonders eindrücklich, dass der Leib die Grenzen des Körpers überschreiten kann und dann noch spürbar, aber eben nicht wahrnehmbar ist. Nimmt man, wie Schmitz dies tut, das Phänomen von Heautoskopien ernst, scheinen diese nahezulegen, dass der Leib, der selbst unsichtbar ist, ganz den sichtbaren Körper verlassen kann, wobei er diesen jedoch noch wahrzunehmen vermag. Obwohl uns der Leib gemäß Schmitz fast ausschließlich als körperlicher Leib gegeben ist, d. h. als ein Leib, der uns nicht nur absolut-örtlich, sondern auch relativ-örtlich in enger Verbindung mit dem Körper gegeben ist, wäre dies ein Beispiel für die Möglichkeit des reinen Leibes im Gegensatz zu einem reinen Körper, der dann wirklich ohne Leib zu sein scheint. Das Beispiel der Heautoskopien führt direkt zum Wahrnehmungsvorgang. Dieser ist gemäß Platon aus309 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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schließlich eine Tätigkeit der Seele und wird von dieser mittels der körperlichen Sinnesorgane vollzogen. Dem Körper kommt in platonischer Perspektive lediglich die Rolle eines Werkzeugs zu, das aber eben als Vermittler zwischen Seele und Wahrnehmbarem nötig ist. Was die Seele gemäß sich selbst erkennt, ist Denkbares, das – je nach Abstraktionsstufe – frei von Materie ist. Schmitz geht hier in gewisser Weise sogar einen Schritt weiter als Platon. Zwar meint auch er, dass die Sinnesorgane notwendige Bedingung für Wahrnehmungen sind, während die Wahrnehmung selbst nicht körperlich, sondern hier eben leiblich ist, doch bei den von ihm besprochenen Fällen von Heautoskopien finden Wahrnehmungen ohne Sinnesorgane statt, und Schmitz hält dies durchaus für möglich. Hier traut Schmitz dem Leib meines Erachtens etwas zu viel zu. Richtig scheint mir die Überzeugung zu sein, dass Wahrnehmung nichts ist, was von Sinnesorganen verrichtet wird und dessen Daten dann zur Weiterverarbeitung an die Seele weitergegeben werden, wie er dies bei Platon zu finden glaubt. Der Unterschied zwischen Platon und Schmitz scheint mir eher darin zu liegen, dass Schmitz davon ausgeht, dass Wahrnehmung primär Wahrnehmung von Situationen ist – Vereinzelungen in diesem Modell also erst sekundär sind –, während der Wahrnehmungsprozess nach Platon wohl tatsächlich umgekehrt gedacht ist und die primär unterschiedenen Einzelheiten erst in einem »nachträglichen« Akt zu etwas Ganzem zusammengefügt werden. Die Verbindung zum Körper scheint mir im Fall der Wahrnehmungen jedenfalls besser von Platon in den Blick genommen, für den das Wahrnehmungsvermögen, ganz im Sinne Aristoteles’, im Zusammenhang mit den körperlichen Möglichkeitsbedingungen aktualisiert wird und ansonsten nur der Potenz nach vorhanden ist. Mit Schmitz’ Interesse an der ganzheitlichen Wahrnehmung jenseits von Sinneskanälen hängt auch seine Theorie der Gefühle zusammen. Hier liegt meiner Meinung nach eine der großen Stärken und Chancen des phänomenologischen Ansatzes. Gefühle als überpersönlich existierende Atmosphären zu deuten, die wir uns durch affektives Betroffensein in einem Balance-Akt zwischen Aktivität und Passivität erst aneignen müssen, indem wir uns auf das 310 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Die Seele im Spiegel des Leibes
Ergriffensein einlassen, scheint mir etwas Grundlegendes über das Wesen der Gefühle auszusagen, das über ein bloßes Stellungnehmen zu ihnen hinausgeht. Die platonische Konzeption nimmt die Gefühle tendenziell erst dann in den Blick, wenn sie schon unsere sind, und analysiert hier präzise und richtig die Möglichkeiten des Umgangs mit ihnen. Es wäre jedoch falsch, Platon Blindheit für den atmosphärischen Charakter der Gefühle vorzuwerfen, denn, wie am Beispiel des »Phaidon« gezeigt werden konnte, nimmt er diese sowohl wahr als auch ernst. Entscheidend für ihn ist aber der Umgang mit Gefühlen in dem Sinn, dass es ihm darum geht, welche Bedeutung man ihnen bei Entscheidungen und in der Lebenspraxis beimisst. Hier ist unter anderem an Platons differenzierte Analysen in der »Politeia« oder im »Phaidros« zu erinnern, in denen er Chancen und Gefahren aufzeigt, die durch eine unkritische Dominanz einzelner Seelenregungen entstehen können. Schmitz hingegen ist darum bemüht, die nur vermeintliche Autarkie der Person aufzudecken und auf das Eingebettetsein in einen unverfügbaren Bereich, zu dem wir uns zwar verhalten können, dem wir in bestimmter Hinsicht eben aber auch ausgeliefert sind, hinzuweisen. Platons Schilderung der Liebe etwa scheint mir in eine ganz ähnliche Richtung zu weisen. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass Platon eine abgeschlossene Innenwelt, wie Schmitz sie ihm unterstellt, jedenfalls nicht kennt und keineswegs bestrebt ist, bestimmte Gefühle bzw. Regungen abzutöten, sondern – zugegebenermaßen in einem anderen Sinn als Schmitz – an einer seelischen Ökonomie interessiert ist. Schmitz ist Phänomenologe und bezieht die Maßstäbe aus dem Prüfen des eigenen Erlebens, deswegen tritt der ethische Anspruch hier auch in den Hintergrund, wenngleich er nicht ganz verschwindet. Platons Anthropologie ist an etwas Transzendentem orientiert, und deshalb schwingt hier auch immer die Forderung der Annäherung an dieses Ideal mit, freilich unter Berücksichtigung der jeweiligen Disposition des Menschen, wie die »Politeia« zeigt. Auch in der Tätigkeit des Denkens treffen sich Seele und Leib. Hier bietet Platon meiner Meinung nach die differenziertere Theorie gemäß den Denkinhalten, während Schmitz sehr präzise 311 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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die Eigenarten des Vollzugs herausarbeitet. Die drei Gestalten des Denkens nach Schmitz zeichnen sich dadurch aus, dass sie das ganzheitlich Gegebene in unterschiedlicher Weise vereinzeln, worin wohl die entscheidende Differenz zu Platon zu sehen ist, für den die Erkenntnis beim Einzelnen beginnt und sich von dort zum Allgemeinen bewegt, an dem es ja zugleich implizit orientiert ist. Interessant ist, dass der Körper für Schmitz in dieser Frage gar keine Rolle zu spielen scheint, außer in der Hinsicht, dass dieser bei der genuin leiblichen Intelligenz durch das motorische Körperschema unmittelbar eingebunden ist. Für mich bleibt eine offene Frage, wie Schmitz abstrakte Denkinhalte und Vorgänge einordnet, die er im »System der Philosophie« teilweise als ortlos ausgibt. Gibt es neben dem leiblich fundierten Denken noch ein ortloses, das einem anderen Bereich angehört? Was schließlich für Platon als Ausgangspunkt seiner Überlegungen gelten kann, stellt für Schmitz einen möglichen Schluss seiner Leibphilosophie dar. Platon setzt die Unsterblichkeit der Seele voraus und versucht diese zu beweisen. Sie ist aus platonischer Sicht in so signifikanter Weise vom Körper verschieden, dass Körperliches ohne die Existenz von etwas Seelischem gar nicht vorstellbar ist. Im Hinblick darauf, dass sie das ist, was den Körper überdauert, ist sie eben auch das Wesen des Menschen. Ohne Seele keine Bewegung, keine Wahrnehmung, kein Denken – ohne Körper ist all dies prinzipiell möglich. Dass auch Hermann Schmitz zu diesem Schluss kommt, mag zunächst überraschen, ist in seinem Fall aber keiner Orientierung an einem transzendenten Bereich geschuldet, sondern ergibt sich als mögliche, wenn auch nicht zwingende Folge seiner Analysen der Phänomene aus dem Umkreis menschlichen Erlebens. Die Möglichkeit, dass der reine Leib mit der ihm eigentümlichen Weise der räumlichen Ausdehnung getrennt vom reinen Körper vorliegt, lässt diesen in radikaler Weise vom Körper gelöst erscheinen. In einer Hinsicht ist diese Trennung sogar radikaler als die der Seele vom Körper in platonischer Perspektive, denn wie die Jenseitsmythen zeigen, ist diese mit jenem so eng verbunden, dass sie nach der Trennung Spuren des Zusammenseins trägt. Bei Schmitz ist von einer solchen engen 312 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Die Seele im Spiegel des Leibes
Verbundenheit keine Rede, sondern Leib und Körper stehen plötzlich seltsam isoliert nebeneinander. Ich möchte mit alldem nicht sagen, dass Platons Seelenvermögen und Schmitz’ Leibesinseln dasselbe meinen, sondern nur auf eine Strukturähnlichkeit hinweisen, die mir bisher nicht hinreichend beachtet worden zu sein scheint. Das Konzept des Leibes bietet und eröffnet jedenfalls andere Möglichkeiten und Räume als die platonische Seelentheorie, verdeckt aber auch gleichzeitig andere, die der platonische Ansatz besser zu erschließen vermag. Dafür – und diese Bemerkung sei am Schluss gestattet –, dass für Schmitz die Seele eine bloße Fiktion ist und er einen phänomenologischen Nachweis der Seele für problematisch bis unmöglich hält, scheint mir seine Phänomenologie des Leibes bereits ein gutes Stück des Weges in die Richtung eines solchen Nachweises gegangen zu sein.
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Der Beitrag des Leibes
Die Prägung der abendländischen Denkweise beginnt in der zweiten Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, etwa zwischen Empedokles und Demokrit, und wird im 4. Jahrhundert von Platon und Aristoteles besiegelt. Ihr treibender Beweggrund ist der Bedarf personaler Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen. Im 7. Jahrhundert hatte Archilochos gedichtet: »Der Menschen Sinn steht so, wie Zeus ihn je nach dem von Tag zu Tag führt, und sie denken so, wie die Umstände sind, auf die sie stoßen.« 1 Dagegen Demokrit: »Die Menschen haben sich vom Geschick ein Bild geformt als Bemäntelung eigener Unberatenheit. Nur selten nämlich kämpft das Geschick gegen die Klugheit, das Meiste im Leben bringt wohlverständiger Scharfblick ins Gerade.« 2 Statt eingebunden und Anflügen ausgeliefert zu sein, will der demokritische Mensch sein Leben in eigener Regie führen. Diesem Ziel dienen die Weltspaltung und die zugehörige Menschspaltung. Jeder Mensch erhält seine Seele als eine private Innenwelt, in die sein gesamtes Erleben eingeschlossen wird, damit er nicht mehr unberechenbaren Eingaben ausgesetzt ist, sondern als Vernunft im eigenen Hause Herr sein kann; die zwischen den Innenwelten verbleibende empirische Außenwelt wird von ergreifenden Mächten gereinigt, indem sie bis auf wenige für Experiment und Statistik optimale Merkmalsorten (die unspezifischen Sinnenqualitäten) und deren erdachte Träger (Atome, später Substanzen) abgeschliffen wird; der Abfall der Abschleifung 1
Archilochos fr. 68 (Diehl). Hermann Diels/Walther Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1954 (8. Auflage), 68 B 119.
2
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Der Beitrag des Leibes
wird entweder absichtlich in den Seelen untergebracht oder vergessen, um dann unter der Hand in verwandelter Gestalt ebendort unterzukommen. Die aus der Außenwelt vertriebenen ergreifenden Mächte, wie der Zeus des Archilochos, werden seit Platon mit dem Nimbus des Höheren in Transzendenz projiziert. Der Mensch wird in Seele und Körper zerlegt, mit der Zerrung, dass sein Körper, obwohl zu ihm gehörig, in die Außenwelt ausgelagert wird. Bei der Welt- und Menschspaltung ist man sehr schematisch vorgegangen, mit der Folge großer Verluste wichtiger Massen normaler Lebenserfahrung für das menschliche Welt- und Selbstverständnis. Geradezu grotesk ist in dieser Beziehung das Schicksal des spürbaren Leibes. Jeder Mensch kennt Kopf- und Bauchschmerzen. Als Schmerzen sollen sie, der neuen Einteilung gemäß, seelisch sein, aber Kopf und Bauch sind körperlich. Jeder Mensch kennt Hunger, Durst, Wollust, Ekel, Frische und Müdigkeit; Zorn ist schon einmal in ihm aufgestiegen, ein Schauer ist ihm übergelaufen, Kummer hat ihn niedergedrückt, Freude ihn erleichtert. Solche Regungen sind nicht im Körper, weil ohne Flächen, aber auch nicht innerlich in einer Seele, sondern so äußerlich wie der Körper, weil räumlich ausgedehnt und mehr oder weniger an Körperstellen lokalisiert. Ihre Ausdehnung ist aber anders. Der Menschenkörper ist in drei räumlichen Dimensionen stetig ausgedehnt, von Oberflächen begrenzt und durch Flächen schneidbar. Der Leib ist dagegen ausgedehnt in einem flächenlosen Raum gleich dem Raum des Schalls und der einprägsamen Stille, des Wetters und des Wassers für den Schwimmer, ohne Strecken und Punkte. Er ist auch nicht stetig ausgedehnt, sondern meist ein Gewoge verschwommener Inseln, deren Volumen nicht dreidimensional ist, sondern dynamisch durch Verschränkung von Engung und Weitung als Spannung und Schwellung zum vitalen Antrieb. Man kann das leicht am Einatmen beobachten. Eine Leibesinsel bildet sich aus einem vitalen Antrieb, in dem zunächst die Schwellung führt, indes sich das Übergewicht allmählich, aber in Sekundenschnelle, zur Spannung verschiebt, bis diese unerträglich zu werden droht und von dem Ausatmen als unumkehrbarer leiblicher Richtung in die Weite abgeführt wird. 315 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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Damit sinkt die Ateminsel des Leibes zusammen, um sich sofort wieder neu zu bilden. Alle Leibesinseln haben wie der Leib im Ganzen absolute, nicht erst durch Lagen und Abstände bestimmte, relative Orte, wie sich z. B. am Zusammenfahren bei Schreck und an spontanen Reaktionen zeigen lässt, während die Körperorte relativ sind und die Leibesinseln meist durch das perzeptive Körperschema an dieser Relativierung teilnehmen. Die Ausdehnung des Leibes steht im Zeichen seiner Dynamik, deren wichtigste Dimension die von Enge und Weite ist, in der Engung und Weitung sich teils zum vitalen Antrieb verschränken, mit wechselnder Bindungsform und Gewichtsverteilung, teils als privative Engung und privative Weitung aus diesem Verband lösen. Die Engung hält die Leibesinseln zur Einheit des Leibes zusammen. Der vitale Antrieb ist nicht auf den Leib einzelner Menschen beschränkt, sondern verbindet Leiber mit Leibern und sogar mit leiblosen Gestalten, die durch ebenso an ihnen wahrnehmbare wie am eigenen Leib spürbare Brückenqualitäten leibnah sind, im gemeinsamen Antrieb der Einleibung mit reichhaltiger Differenzierung. Leibliche Kommunikation gibt es außerdem als Ausleibung im Kanal der privaten Weitung. Zum spürbaren Leib, unterschieden vom sichtbaren und tastbaren Körper, gehören erstens die bloßen leiblichen Regungen nach Art der schon genannten, andererseits diejenigen, die obendrein leibliches Ergriffensein von Gefühlen sind, weiter die spürbare Motorik, ebenso die unwillkürliche wie die willkürliche, und schließlich die unumkehrbaren leiblichen Richtungen in die Weite, wie der Blick, das Ausatmen, das Schlucken. In Folge der Weltund Menschspaltung ist der Leib für das menschliche Selbstverständnis wie in einer Gletscherspalte verschwunden, nachdem er im Urchristentum, besonders bei Paulus, noch in dessen Mittelpunkt gestanden hatte. Ab etwa 1800 keimt wieder bei Philosophen wie Troxler, Maine de Biran und Schopenhauer, bei diesem auf dem Umweg einer ausschweifenden Metaphysik, ein Verständnis für ihn, bis dann vom Ende des 19. Jahrhunderts an der Leib zum philosophischen Schlagwort wird, ohne dass man dadurch den Vorgaben der Weltspaltung entkommen wäre. Bei Nietzsche ist der Leib ein Körper im Sinne der Naturwissenschaft, 316 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Der Beitrag des Leibes
ein Virchow’scher Zellenstaat mit einem Beigeschmack von Häckel’schem Monismus. Husserl versteht ihn als beseelten Körper, in dem die Seele mit motorischen Impulsen waltet. Merleau-Ponty sagt bald, er selbst sei sein Körper, bald hält er diesen für die geronnene Existenz und diese für eine beständige Inkarnation, ohne bestimmte Sinngebung für das Wort »Existenz«; dieser Körper hat eine Hand mit Nägeln, Muskeln und Knochen und ist außerdem offen zur Welt. Dass es die eigenständige Ausdehnungsweise und Dynamik des spürbaren Leibes, die mit den entsprechenden Eigenschaften des Körpers unvereinbar ist und den totalen oder partiellen Export des Leibes aus diesem Körper wenigstens widerspruchsfrei denkbar macht, wird erst in der Neuen Phänomenologie herausgearbeitet. Es erübrigt sich, hier noch einen Seitenblick auf die übrigen Potentiale begriffener Erfahrung zu werfen, die die Weltspaltung seit Demokrit, Platon und Aristoteles durch grobe Trennlinien mit breiten Grauzonen verdeckt hat. Ein eklatantes weiteres Beispiel sind die Atmosphären, also etwa das, wovon man manchmal sagt, dass etwas in der Luft liegt, ohne im Ernst an Luft zu denken. Immerhin ist das Thema inzwischen virulent geworden, nachdem ich schon 1969 die Gefühle als Atmosphären bestimmt hatte. Das Verständnis für das menschliche Gefühlsleben und den Beitrag des leiblich-affektiven Betroffenseins ist empfindlich durch die Introjektion der Gefühle als private Seelenzustände im Zuge der Weltspaltung geschädigt worden. Die Neue Phänomenologie sucht das Versäumte in dieser und anderer Hinsicht nachzuholen. Das ist jetzt nicht mein Thema. Ich bleibe beim Leib und gehe der Frage nach, welchen Beitrag er zur Welt und zum Menschen leistet. Dabei werde ich mit der Explikation und Begründung, soweit ich diese schon an anderer Stelle nach meinem Ermessen breit und sorgfältig gegeben habe, nicht ins Einzelne gehen, sondern mich darauf beschränken, das Grundsätzliche skizzenhaft anzusprechen, wie schon in den vorangegangenen Bemerkungen über den Leib. Ich werde den Beitrag des Leibes, abgesehen von speziellen Anwendungen, unter vier Titeln behandeln, nämlich: 317 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
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Identität Personalität affektives Betroffensein Kontakte.
1.
Identität
Alle Menschen, und ganz besonders die Logiker, gehen mit der Identität zu leichtfertig um. Man hält Identität für eine ganz selbstverständlich allem Seienden zugehörige Eigenschaft, und zwar als relative Identität mit etwas. Berühmt ist der Slogan des angesehenen Logikers Quine: »No entity without identity.« Ich habe bewiesen, dass relative Identität eine von ihr verschiedene absolute voraussetzt, die nicht darin besteht, mit etwas identisch zu sein, sondern darin, selbst zu sein, dieses oder jenes. 3 »Es selbst« zu sein, wäre schon zu viel gesagt, denn dadurch wäre schon auf die Identität mit sich selbst verwiesen. Das schlichte Selbstsein ist gleichwertig mit der Verschiedenheitsfähigkeit: Wenn vieles ist, dann ist, was selbst ist, verschieden von anderem. Zwischen der absoluten und der relativen Identität steht die Einzelheit (die numerische Einheit). Ich habe gezeigt, dass folgende drei Begriffsbestimmungen äquivalent sind: Einzeln ist, was Element einer Menge mit der Anzahl 1 ist, wobei 1 die Anzahl jeder nicht leeren Menge ist, in der jedes Element mit jedem identisch ist; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt; einzeln ist, was Element irgend einer endlichen Menge ist. 4 Diese Angaben sagen noch nichts über den Aufbau der Einzelheit; daher ergänze ich sie durch die weitere Bestimmung: Einzeln ist, was absolut identisch und Fall einer Gattung ist. Dann und nur dann kann nämlich etwas als Element einer endlichen Menge das Verhältnis zur Zahl haben, das in den Definitionen angegeben wird. 5 Gattung ist alles, wo3
Hermann Schmitz: Kritische Grundlegung der Mathematik (Grundlegung), Freiburg/München 2013, S. 49 f. 4 Schmitz: Grundlegung, S. 28–30 5 Schmitz: Grundlegung, S. 34; Hermann Schmitz: Gibt es die Welt? (Welt), Frei-
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Der Beitrag des Leibes
von etwas ein Fall ist; beide Begriffe habe ich anderswo bestimmt. 6 Zur relativen Identität gehört über die Einzelheit hinaus nur, dass etwas nicht bloß Fall einer Gattung, sondern Fall mehrerer Gattungen ist; Identität mit etwas besteht einfach darin, dass etwas absolut identisch und Fall mehrerer Gattungen ist, z. B., wenn Bismarck mit einem Reichskanzler identisch ist, dass ein absolut »identisches Etwas ein Fall der Gattung Träger des Namens »Bismarck« und auch der Gattung Reichskanzler ist, oder, wenn etwas mit sich selbst identisch ist, dass es als Fall der Gattung Referens der Identität auch Fall der Gattung Relat der Identität ist. Schlimmer als der leichtsinnige Umgang mit Identität, ja von verhängnisvoller geschichtlicher Wirksamkeit 7, ist der leichtsinnige Umgang mit Einzelheit. Man pflegt Identität schlechthin, relative Identität und Einzelheit zusammenzuwerfen und mit einander für selbstverständlich zu halten; dagegen habe ich bewiesen, dass nicht alles einzeln sein kann. 8 Jetzt aber geht es mir um die Voraussetzungen absoluter Identität. Wenn die Menschen schon Einzelheit und Identität für selbstverständlich halten, werden sie geneigt sein, ebenso bei der kaum je beachteten absoluten Identität zu verfahren. Und doch ist diese keineswegs selbstverständlich. In unserer Erfahrung kommt auch Mannigfaltiges ohne absolute Identität vor. Ich denke etwa an den Schwimmer, der sich ohne optische Kontrolle in nur mäßig bewegtem Wasser gegen dessen Widerstand vorwärts kämpft, z. B. kraulend. Mit der absoluten Identität und Verschiedenheit seiner Glieder muss er vertraut sein, denn er würde untergehen, wenn er sie verwechselte, auch burg/München 2014, S. 73 f. – Allerdings gibt es vieles, das absolut identisch ist und unter Gattungen fällt, aber doch nicht einzeln ist: das von mir so genannte diffus chaotische Mannigfaltige, in dem noch nicht Einzelheit vorhanden ist, wohl aber absolute Identität und Verschiedenheit, die den Umgang mit ihm vor Verwechslungen schützt, z. B. beim glatten Kauen fester Nahrung. Dann ist aber nichts selbst, als absolut identisch, Fall einer Gattung, mit der Folge, dass man nur summarisch (über alle Fälle einer Art), nicht streuend (über jeden einzelnen Fall) universell quantifizieren kann, vgl. Schmitz: Grundlegung, S. 82. 6 Schmitz: Grundlegung, S. 43 f. 7 Vgl. Schmitz: Welt, S. 144–146. 8 Schmitz: Grundlegung, S. 70–72.
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wenn er sie nicht einzeln durchnimmt. Dagegen hätte es für ihn keinen Sinn, sich mit den Fluten, die er durchschwimmt, entsprechend zurechtzufinden; sie sind für ihn viele, aber nicht verschiedene. Das Entsprechende kann man an jedem Kontinuum finden, in das man eintaucht, z. B. tiefer Dunkelheit oder einer durchdösten Frist. Beim intensiven Wachsen und Abnehmen, wenn etwas lauter oder leiser, heller oder dunkler, wärmer oder kälter, schneller oder langsamer, stärker oder schwächer wird, häufen sich viele Stufen oder Grade, die einzeln werden, wenn der Prozess anhält und ein Stadium abgelesen wird, im Prozess selbst aber nicht herausgegriffen werden können, weil eine intensive Größe keine Teile hat, aus denen sie zusammengesetzt wäre; wieder hätte es keinen Sinn, eine Verschiedenheit dieser intensiven Inhalte zu berücksichtigen, da sie nicht echte Grade oder Stufen sind, sondern nur durch das Ablesen zu solchen verfestigt werden. Was muss geschehen, damit in dem Seienden, das auch ohne absolute Identität vorkommt, überhaupt etwas selbst wird? Offenbar genügt es nicht, dass absolute Identität als eine Bestimmung neben anderen dem Seienden zukommt, denn dieses müsste schon absolut identisch sein, um so bestimmt werden zu können. Vielmehr muss im Seienden eine viel tiefer greifende Veränderung eintreten, ein Akzent, der zugleich ein Riss in der konfusen Gleichförmigkeit des Selbstlosen ist und an den Rand des Nichtseins führt. Von dieser Art ist allein der plötzliche Einbruch des Neuen, der Gegenwart exponiert, Dauer zerreißt und die zerrissene Dauer ins Nichtsein verabschiedet. Ich habe dieses Ereignis als die primitive Gegenwart mit fünf Seiten oder Momenten beschrieben und als die gemeinsame Quelle von Raum, Zeit und Leib ausgegeben. 9 Damit wird der Leib entscheidend für absolute Identität. Die primitive Gegenwart, als Maximum leiblicher Enge, ist ein seltener Ausnahmezustand extremer privativer Engung des Leibes, der aber in der Engung oder Spannung im vitalen Antrieb nachwirkt oder vorschwebt und dadurch absolute Identität auf alles überträgt, womit der gemeinsame vitale Antrieb der Einlei9
Hermann Schmitz: Phänomenologie der Zeit (Zeit), Freiburg/München 2014, S. 46–57.
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Der Beitrag des Leibes
bung zu tun hat. Nach der Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt, als dem strukturierten Rahmen aller möglichen Vereinzelung 10, wird die absolute Identität mit der Einzelheit trivial und kann auf alles erstreckt werden, was sich überhaupt vereinzeln lässt. 2.
Personalität
Das Wesentliche einer Person, d. h. eines Menschen bei normaler Entwicklung nach den Anfängen der Kindheit, besteht darin, dass sie Rechenschaft von sich zu geben vermag. Sie folgt nicht automatisch Vorgaben, sondern besinnt sich auf sich selbst, auf ihre Stellung und Rolle in der Umgebung, und setzt dabei Akzente, zieht Bilanz über das Getane und Erlittene, übernimmt Verantwortung usw. Notwendig und zureichend dafür ist ihre Selbstzuschreibung, die darin besteht, sich für einen Fall mehrerer Gattungen zu halten. Ausschlaggebend für das Personsein ist also das Verfügen über relative Identität. Ein türkischer Schüler in Kreuzberg z. B. hält sich für einen Türken, einen Berliner, einen Moslem, einen Familienvater, einen Schuster usw., vielleicht auch noch für einen Lottospieler oder Welterlöser. Diese Vielzahl von Gattungen gibt ihm den nötigen Spielraum für Rechenschaft. Er kann auswählen, integrieren, Akzente setzen, vernachlässigen usw. und sich so einen Raum für Selbstbestimmung schaffen. Die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, einen Fall mehrerer Gattungen für sich selbst zu halten, ist hiernach das definierende Merkmal der Person, hat aber Voraussetzungen, deren Problematik man als das Problem der persönlichen Identität besser bezeichnen würde als die Engländer, die darunter im Anschluss an John Locke das Problem der Dauer der Person verstehen. Selbstzuschreibung ist die Identifizierung eines Referens, hier des Falles einer Gattung, mit einem Relat, hier der sich etwas zuschreibenden Person. Vielmehr aber handelt es sich um eine doppelte Identifizierung, weil ja mehrere Gattungen zusammengefasst werden 10
Schmitz: Zeit, S. 74–96.
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müssen. Der erwähnte Türke muss einerseits einen Schuster mit einem Türken, einem Berliner, einem Lotteriespieler oder Welterlöser identifizieren, andererseits alle diese Gattungsfälle mit sich. Jenes mag man als horizontale, dieses als vertikale Identifizierung bezeichnen. Für die horizontale Identifizierung gibt es von Schritt zu Schritt gute Gründe. Der Schuster braucht nur zu wissen, dass dieser Schuster in Berlin wohnt, Türke ist usw.; das lässt sich nachweisen. Für die vertikale Identifizierung gibt es dagegen überhaupt keinen Grund, weil alle diese Gattungsfälle, ebenso einzeln wie zusammen, auch einem anderen zukommen könnten als gerade ihm. In allen Tatsachen meines Lebens und Wesens – und das gilt für alle, auch jenen Türken – ist nichts enthalten, das den Schluss gestattete, dass sie gerade die meinigen sind, wenn dies nicht schon zu ihrer bloßen Tatsächlichkeit gehört. Alle objektiven oder neutralen Tatsachen, nämlich solche, die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann, sind nicht von dieser Art, z. B. dass ein gewisser Türke Schuster in Berlin ist, Lotterie spielt usw. Es gibt aber auch die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann, und ihnen ist eingegraben, dass es sich um ihn selbst handelt. Schon im gewöhnlichen Leben hält man solche Tatsachen für selbstverständlich. Ich zeige das an einer missglückten Liebeserklärung, für die ich einen Mann namens »Peter Schulze« fingiere. Sie hat die Gestalt folgenden Dialoges: Mann: »Peter Schulze liebt dich.« Frau: »Warum sagst du nicht: ›Ich liebe dich‹ ?« Mann: »Das ist doch ganz überflüssig.« Frau: »Das ist gar nicht überflüssig, gerade darauf kommt es mir an.« Schulze ist daran gescheitert, dass er nur objektive Tatsachen gelten lässt, bei deren Aussage das Wort »ich« als bloßes Pronomen fungiert, das ohne Sinnverlust durch einen Namen ersetzt werden kann. Die Frau wollte aber etwas hören, das höchstens er im eigenen Namen sagen kann, weil es ihm nahe geht und dieses Nahegehen so unvertretbar seines ist, dass niemand es ihm nachspre322 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Der Beitrag des Leibes
chen kann. Da die Reaktion der Frau ganz normal ist, stellt sich heraus, dass schon die ungekünstelte Erlebnisweise gewöhnlicher Menschen mit der Existenz subjektiver Tatsachen vertraut ist. Die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins können neutralisiert werden, und an den so durch Abschälung der Subjektivität abgeblassten, objektiven Tatsachen lässt sich der Zusammenhang nachweisen, der z. B. den Schuster mit dem Berliner und dem Lotteriespieler verbindet. In umgekehrter Richtung, von den objektiven Tatsachen zu den subjektiven, führt dagegen kein begründbarer Weg. Daher muss man sich ohne Identifizierung schon kennen, damit die vertikale Identifizierung ein Relat gewinnt, womit identifiziert wird. Das leisten einzig die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins. Damit bekommt der Leib eine tragende Rolle. Erstens nämlich ist alles affektives Betroffensein leiblich. Was mir nahe geht, mich packt, mir zu schaffen macht, greift mich leiblich spürbar an. Zweitens aber ist jede subjektive Tatsache subjektiv für jemand, in meinem Fall also für mich, und damit ich sie als an mich adressiert finde, muss ich mich also ohne jede Identifizierung finden, weil sonst das Problem der vertikalen Identifizierung wieder auftauchen würde, daß es keinen Grund für sie gibt, wenn nicht eine Bekanntschaft mit dem Relat, in meinem Fall mit mir, voraus gesetzt wird. Damit ich für mich subjektiver Tatsachen innewerde, muss ich mich also ohne Identifizierung finden. Wie ist das möglich? Ich habe die Antwort gegeben: Das ist möglich und geschieht wirklich durch die primitive Gegenwart, zu deren fünf in absolut unspaltbarem Verhältnis verschmolzenen Momenten das Selbstsein (absolute Identität) und das Ichsein (als aktiv-passives affektives Betroffensein) gehört, deren Zusammenfall die Identifizierung erübrigt. Die primitive Gegenwart als das Maximum leiblicher (privativer) Engung tritt zwar selten hervor, wird aber im gewöhnlichen Leben durch die Engungskomponente des vitalen Antriebs, der das bewusste Leben trägt, vorgehalten oder angedeutet. Die unentbehrliche Voraussetzung der personalen Selbstzuschreibung, die identifizierungsfreie Kenntnis seiner selbst als des Relats der vertikalen Identifizierung, beruht also auf der leiblichen Dynamik. 323 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Hermann Schmitz
3.
Affektives Betroffensein
Die Introjektion im Zuge der Welt- und Menschspaltung hat den Gefühlen Unrecht getan. Sie werden fortan als private Seelenzustände verstanden und schon in Platons Alterswerk 11, entschiedener bei Kant, auf Lust und Unlust reduziert, gleichsam stumpfe Seelenzustände, denen im Gegensatz zu den verwandten Empfindungen der Bezug nach außen fehlt. Wenn Spinoza die Liebe als Lust definiert, begleitet von der Vorstellung einer äußeren Ursache, wälzt er diesen Bezug auf eine bloße Begleitvorstellung ab. Hume beteuert, er finde in dem, was er »mich« nennt, lauter Perzeptionen und nichts als Perzeptionen, namentlich »die Perzeption der Wärme und Kälte, des Lichtes oder Schattens, der Liebe oder des Hasses, der Lust oder Unlust.« 12 Bei dieser Nivellierung des Gefühls auf etwas in der Seele (hier als Perzeptionshaufen) bloß Vorfindliches, nach Art von Licht und Schatten, gehen die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins verloren. Dass etwas mir nahe geht, mich packt, mir zu schaffen macht, deutet eher auf eine Dynamik des Empfangens hin, auf eine Konfrontation, ein Ausgesetztsein, als auf die Statik vorfindbarer Zustände. Die Introjektion der Gefühle ist ein trügerisches Heilmittel der Abkehr von solcher Konfrontation in eine beruhigende Entlastung der Person, die in den Mauern ihrer geschlossenen Innenwelt sich sicherer fühlen kann als beim Ausgesetztsein an ergreifende Mächte. Die Gefühle sind vielmehr Atmosphären, d. h. ausgedehnte Besetzungen eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird, mit Anspruch auf totale Besetzung dieses Raumes. 13 Sie können als Atmosphären bloß wahrgenommen werden, dann aber auch ohne Veränderung den Wahrnehmenden umstimmen, wie das »Gefühl der Stille, der Ordnung, der Zufrie11
Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum, Bonn 2005, S. 489–491. 12 David Hume: Ein Traktat über die menschliche Natur (hrsg. v. Reinhard Brand, übers. v. Theodor Lipps), Hamburg 1973, S. 326 (1. Buch, 4. Teil 6. Abschnitt). 13 Hermann Schmitz: Atmosphären (Atmosphären), Freiburg/München 2014, darin S. 30–49.
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Der Beitrag des Leibes
denheit«, das ringsum »atmet«, das den Faust Goethes anrührt, als er, ein lüstern verliebter Spion, Gretchens Zimmer betritt. 14 Zu eigenen Gefühlen des Menschen, der sie selber fühlt und nicht bloß wahrnimmt, werden sie dadurch, dass sie ihn leiblich spürbar ergreifen. Das beredteste Zeugnis dafür ist die erstaunliche Gebärdensicherheit, die das Gefühl dem Ergriffenen eingibt. Der Frohe weiß mit strahlenden Augen, zufriedenem Lächeln, heller Stimme und beschwingtem Gang aufzutreten; wer nicht so fühlte und dieses komplizierte Ausdrucksverhalten echt nachahmen wollte, müsste ein geschickter Schauspieler oder Parodist sein. Ebenso weiß der Kummervolle schlaff mit ziellos starrendem, gesenktem Blick zu sitzen, während der Beschämte zwar auch den Blick senkt, aber nicht erschlafft, sondern in starrer Spannung verharrt usw. Nur beim Mitleidigen, dessen Ergriffenheit nicht ganz echt ist, setzt die dem Leib vom Gefühl eingegebene Gebärdensicherheit aus. Er muss sich bemühen, seiner Anteilnahme taktvoll Ausdruck zu geben. Nur wenn das Mitleid einmal so spontan und stürmisch ist wie eigenes Leid, folgt ihm die Gebärdensicherheit. Außer den Gefühlen gibt es auch Atmosphären anderer Art, z. B. die leiblichen, die in der Einleibung in gemeinsame Situationen als Mobilisierung des vitalen Antriebs überspringen, wenn z. B. eine zuvor gelangweilte Schulklasse von einem charismatischen Lehrer zu gemeinsamem Eifer für ein Thema oder Problem mitgerissen wird. Affektives Betroffensein gibt es ebenso von bloßen leiblichen Regungen wie von Gefühlen, die durch leibliche Regungen hindurch ergreifen. Das affektive Betroffensein von Gefühlen hat aber eine besondere Form, weswegen ich es als Ergriffenheit bezeichne. Bloße leibliche Regungen kann man gewöhnlich von Anfang an mit einer Stellungnahme verfolgen. Das gilt auch für den Schüler, der das Überspringen des gemeinsamen Eifers auf sich eventuell bremsen kann. Das ergreifende Gefühl hat dagegen die besondere Macht, den, der es fühlt, gewissermaßen zu hypnotisieren oder zu faszinieren. Der Ergriffene muss seinen eigenen Impuls zunächst in den Dienst der ergrei14
Johann Wolfgang Goethe: Faust, Verse 2691 f.
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fenden Macht stellen. Wer zornig wird und sich dem Zorn nicht im ersten Augenblick überlässt, zürnt nicht wirklich. Das gilt wie für stürmisches Ergriffensein von Zorn auch für schleichendes wie von Liebe und Neid. Wer ein Gefühl an der Schwelle seines Eintritts gleich mit einer fertigen Stellungnahme begrüßt, wird nur flüchtig angeflogen oder fühlt nicht echt. Erst nach einer mehr oder weniger kurzen Anfangsphase hat die Person die Möglichkeit der Auseinandersetzung in Preisgabe oder Widerstand, womit sie einen persönlichen Stil des Fühlens entwickeln kann. Daher kann man Gefühle schlechter beobachten als bloße leibliche Regungen. Man ist von vorn herein Partei und gerät in Zwiespalt, wenn man diese Befangenheit mit der neutralen Beobachterrolle verbinden soll. Diese spezifische Bannkraft des ergreifenden Gefühls stellt die Introjektion bloß. Diese behandelt die Person als Regenten, der mit Vernunft und freiem Willen die brodelnde Masse in seiner Seele oder seinem Bewusstsein, in die er hinabblickt, mehr oder weniger zu bändigen berufen ist. Tatsächlich ist der Ergriffene der Zauberkraft des ihn ergreifenden Gefühls zunächst unterlegen und muss sich aus dieser Unterlegenheit loswinden. Dieses Kriterium der Ergriffenheit gestattet die Abgrenzung der Gefühle von anderen Atmosphären, z. B. von gespürtem Wetter, das zum Gefühl nur wird, wenn es den Menschen nicht nur irgendwie affektiv betroffen macht, sondern in der angegebenen Weise ergreift. Ohne seinen Leib wäre der Mensch also gefühllos, und mit den Gefühlen würde ihm auch die Gestaltungskraft entgehen, die eine Funktion der Resonanzfähigkeit für Gefühle ist. Das liegt daran, dass diese oft vielsagende Eindrücke durchdringen und beleben, d. h. impressive Situationen, deren binnendiffuses Mannigfaltiges integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen mit einem Schlage zum Vorschein kommt. Solche vielsagenden Eindrücke können Visionen oder Vorbilder, verführende oder auch abstoßende Leitbilder sein, die in Kraft des ergreifenden Gefühls die persönliche Situation und den vitalen Antrieb des Ergriffenen zu einer gestaltenden Reaktion herausfordern. Ohne die weckende Kraft des Gefühls bliebe diese Herausforderung stumm. 326 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Der Beitrag des Leibes
4.
Kontakte
Menschen kommen in Kontakt mit etwas, wenn sie darauf treffen, damit zu tun haben, sich damit auseinandersetzen müssen. Man kann dann von einer Gegenstandsbeziehung sprechen, sofern man das Wort »Gegenstand« in hinlänglich weitem Sinn verwendet. Die ältere Phänomenologie um Brentano, Husserl, Scheler hat das große Verdienst, diese sonst beiläufig behandelte Gegenstandsbeziehung zu einem zentralen Thema des Nachdenkens gemacht zu haben, unter dem Titel der Intentionalität, die intentionalen Akten des Bewusstseins anvertraut wurde. Nach Husserl ist Intentionalität die Eigenheit von Erlebnissen, »›Bewußtsein von etwas‹ zu sein.« 15 Brentano gibt folgende Beispiele: »In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehaßt, in dem Begehren begehrt usw.« 16 Gemeint als intentionales Objekt ist in der älteren Phänomenologie immer etwas Einzelnes, das eine Anzahl um 1 vermehrt, das Element einer endlichen Menge ist.4 Daran ändert die Einsicht Husserls nichts, dass dieses Objekt in vielen Fällen von Horizonten umgeben ist, in die man sich analytisch vertiefen kann. Die Voraussetzungen der Einzelheit wurden in diesem Kreis nicht berücksichtigt. Nichts Einzelnes ist geradezu und unmittelbar vom Himmel gefallen, sondern zur Einzelheit gehört außer absoluter Identität, Fall einer Gattung zu sein.5 Intentionalität im Sinne von Husserl ist ein verfehlter Zugang zum Einzelnen, weil sie nicht den Umweg über Gattungen und das Fallsein nimmt, über das »etwas als etwas«, wie Heidegger (noch zu allgemein) sagte. Tatsächlich ist der Gegenstandsbezug aber nicht nur eine intentionale Beziehung zu Einzelnem, sondern setzt viel früher ein, nämlich bei der Einleibung in Halbdinge. Halbdinge unterscheiden sich von Volldingen durch unterbrechbare Dauer und eine 15
Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 1. Buch, Halle a. d. Saale 1913, S. 168. 16 Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1. Band (hrsg. v. Oskar Kraus), Leipzig 1924, S. 125.
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unmittelbare Kausalität, in der Ursache und Einwirkung dem Effekt gegenüber zusammenfallen. Ein gutes Beispiel ist die Stimme, die sich von einer Schallfolge dadurch unterscheidet, dass sie nicht wie diese wächst, ebenso der intensive Blick, von dem man getroffen wird wie von einer Stimme, der entgegenschlagende Wind, der einen trifft und mit einer Bewegung ohne Ortswechsel (vor der Umdeutung in bewegte Luft) ankommt, die reißende Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt, der Zorn, der noch stärker mitreißt, nämlich anfangs zum Mitmachen seines Impulses zwingt, während man sich gegen die reißende Schwere sogleich sträubt, ferner der wiederkehrende Schmerz, ein eindringender Widersacher, mit dem man sich auseinandersetzen muss, weil man nicht in ihm aufgehen kann wie (etwa in panischer Flucht) in der nicht minder peinlichen Angst. Solche Auseinandersetzung wie mit Wind, Schwere, Schmerz ist ebenso wie die primäre Dienstbarkeit mit sekundärer Auseinandersetzung als Ergriffenheit von Zorn ein Gegenstandsbezug, aber kein intentionaler Akt nach Brentano und Husserl, weil nicht angewiesen auf Einzelnes, sondern schon dem Leben aus primitiver Gegenwart angehörig, das mit absoluter Identität und Verschiedenheit ohne Einzelheit auskommt und in Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit ohne Vereinzelung der zugehörigen Sachverhalte, Programme und Probleme gefangen ist. 17 Der innerleibliche Dialog von Spannung und Schwellung im vitalen Antrieb spreizt sich gleichsam im gemeinsamen Antrieb der Einleibung zu einer Auseinandersetzung in Angriff und Rückzug, Anschwellen und Anspannen gegen einander, das sich mit der Introjektion in eine Seele nicht fassen lässt, da es vielmehr um ein Verhältnis zum Leib geht; dieser ist im Schmerz (zugleich eigener Zustand und eindringender Widersacher) in sich zerrissen, wird vom Wind, von der reißenden Schwere, vom Zorn wie von einer fremden und doch nur am eigenen Leib spürbaren Macht ohne angebbare Quelle ihrer Herkunft getroffen, von der Stimme, vom Blick aber in einer noch weiter gespreizten Weise, nämlich so, dass sich auch mit einem Gegenüber, einer angebbaren Quelle der Einwirkung, 17
Schmitz: Zeit, S. 76–78; Schmitz: Welt, S. 94 f.
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ein gemeinsamer Antrieb einspielt. Solche Einleibung erstreckt sich, vermittelt durch Brückenqualitäten (Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere) auf alles, was ausdruckshaltig ist. 18 Im Leben aus primitiver Gegenwart ist der Gegenstandsbezug oder Kontakt noch nicht intentional im Sinne der älteren Phänomenologie. Das wird anders, wenn sich aus diesem Leben heraus die primitive Gegenwart zur Welt entfaltet.10 Der Mensch verlässt die Gefangenschaft in (zuständlichen und aktuellen) Situationen in Kraft seiner satzförmigen Rede, mit der er aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit der Situationen einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme herausholt und die dabei anfallenden Gattungen zu nach Unterschied und Übereinstimmung geordneten Netzen verknüpft, in denen beliebige absolut identische Etwasse als einzelne Platz finden, vielseitig (in verschiedenen Netzen) dank relativer Identität. Damit ist die Voraussetzung der Intentionalität, die Einzelheit des intentionalen Objekts, gesichert, zugleich aber die Intentionalität ersetzt, denn dadurch, dass ein Gegenstand dem Bewussthaber in solchen Netzen aufscheint, ist er bereits als einzelner bewusst und braucht nicht mehr besonders intendiert zu werden. Die Intentionalität zieht sich allenfalls in die Aufmerksamkeit zurück, die ich als Zuwendung des vitalen Antriebs in Wartestellung charakterisiert habe. Sie kommt schon im Leben aus primitiver Gegenwart vor; in der Welt, in entfalteter Gegenwart, wird sie zum wachsamen Warten auf Veränderungen an Gegenständen, die durch Netze von Gattungen vereinzelt sind. Damit ist der personale Kontakt in entfalteter Gegenwart geschlagen, über dem Kontakt durch Einleibung im Leben aus primitiver Gegenwart und beständig auf diesen angewiesen. Den Beitrag des Leibes zu Welt und Mensch habe ich unter vier Titeln nur ganz prinzipiell erörtert. Die speziellen Beiträge des Leibes zu einzelnen Lebensgebieten wie Kunst, Musik, Geschichte, Krankheit und Heilung, Raum (als städtischer und ländlicher), Kindheit und Erziehung usw. sind von großer Wichtigkeit, können aber hier nicht mehr erörtert werden. 18
Als ein Beispiel habe ich die Komponenten der Atmosphäre einer Stadt analysiert (Schmitz: Atmosphären, S. 92–108).
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Zu den Autorinnen und Autoren
Kerstin Andermann, Dr. phil., geb. 1971 Studium der Literaturwissenschaft, Soziologie, Philosophie an der Universität Bielefeld. Promotion in Philosophie an der Universität Potsdam. DFG-Stipendiatin am Graduiertenkolleg »BildKörper-Medium. Eine anthropologische Perspektive« Karlsruhe. Seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leuphana Universität Lüneburg. Wichtigste Publikationen u. a.: »Transindividuelle Affizierung. Spinozas relationale Ontologie bewegter Körper«, in: Undine Eberlein (Hrsg.): Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen – Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge, Bielefeld 2016. Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und Emotionstheorie, (hrsg. mit Undine Eberlein), Berlin 2011. Spielräume der Erfahrung. Kritik der transzendentalen Konstitution bei Merleau-Ponty, Deleuze und Schmitz (Phänomenologische Untersuchungen. Herausgegeben von Bernhard Waldenfels), München 2007. Undine Eberlein, Dr. phil., geb. 1959 Studium der Philosophie und Germanistik. Promotion in Philosophie an der FU Berlin. Langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der FU Berlin und der Universität Magdeburg sowie Dozentin in der Erwachsenenbildung und an der ASH Berlin. Wichtigste Publikationen u. a.: Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen – Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge (Hrsg.), Bielefeld 2016. 331 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Zu den Autorinnen und Autoren
»Leiberfahrung in kulturellen Praktiken, in: Wolfgang Sohst (Hrsg.): Die Globalisierung der Affekte, Berlin 2013. Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und Emotionstheorie (hrsg. mit Kerstin Andermann), Berlin 2011. Thomas Fuchs, Prof. Dr. med. Dr. phil., geb. 1958 Inhaber der Karl Jaspers-Professur für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Heidelberg. U. a. Koordinator des Marsilius-Projekts »Verkörperung als Paradigma einer evolutionären Kulturanthropologie«. Wichtigste Publikationen u. a.: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 2008. Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000. Psychopathologie von Leib und Raum. Phänomenologisch-empirische Untersuchungen zu depressiven und paranoiden Erkrankungen, Darmstadt 2000. Ute Gahlings, PD Dr. phil. habil., geb. 1963 Privatdozentin für Philosophie an der TU Darmstadt. Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten und Hochschulen. Zweite Vorsitzende des Instituts für Praxis der Philosophie und Leiterin des Philosophischen Salons in Darmstadt. Gast- und Vertretungsprofessuren in Berlin und Darmstadt. In Frankfurt am Main führt sie eine Philosophische Praxis. Wichtigste Publikationen u. a.: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen, Freiburg/ München, 2. Auflage 2016. Wie lebt es sich in unserer Gesellschaft? (hrsg. mit Gernot Böhme), Bielefeld 2015. Hermann Graf Keyserling. Ein Lebensbild, Darmstadt 1996. Robert Gugutzer, Prof. Dr. phil., geb. 1967 Studium der Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft an den Universitäten Tübingen und LMU München. Promotion 2001 an der Universität Halle-Wittenberg. Habilitation 2011 an 332 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Zu den Autorinnen und Autoren
der Universität Augsburg (venia legendi: Soziologie). Seit 2009 Leiter der Abteilung Sozialwissenschaften des Sports an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Wichtigste Publikationen u. a.: Handbuch Körpersoziologie (hrsg. mit G. Klein & M. Meuser), Wiesbaden 2017. Leben nach Zahlen. Self-tracking als Optimierungsprojekt? (hrsg. mit S. Duttweiler, J.-H. Passoth & J. Strübing), Bielefeld 2016. Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld 2012. Christian Julmi, Dr. rer. pol., geb. 1978 Studium des Wirtschaftsingenieurwesens mit Begleitstudium der Angewandten Kulturwissenschaften am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), von 2011 bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Organisation und Planung an der FernUniversität in Hagen, mit abschließender Promotion 2015. Seit 2015 Habilitand und akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl. Wichtigste Publikationen u. a.: Gespräche über Kreativität. Philosophische Annäherungen an ein subjektives Phänomen, Bochum/Freiburg 2013. Atmosphären in Organisationen. Wie Gefühle das Zusammenleben in Organisationen beherrschen, Bochum/Freiburg 2015. »The domain-specificity of creativity: Insights from new phenomenology«, in: Creativity Research Journal 27/2, 2015, S. 159–167 (zus. mit Ewald Scherm). »The concept of atmosphere in management and organization studies«, in: Organizational Aesthetics 6/1, 2017, S. 4–30. Steffen Kammler, Dr. phil., geb. 1977 Studium der Gräzistik und Philosophie in Rostock. Promotion 2012. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Rostock. Wichtigste Publikationen u. a.:
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Zu den Autorinnen und Autoren
Die Seele im Spiegel des Leibes. Der Mensch zwischen Leib, Seele und Körper bei Platon und in der Neuen Phänomenologie, Freiburg/München 2013. Rauchzeichen aus dem Labyrinth. Der ontologische Anspruch der Photographie, Rostock 2009. Steffen Kluck, Dr. phil., geb. 1980 Studium der Philosophie und Germanistik in Rostock. Promotion 2012. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock. Wichtigste Publikationen u. a.: Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zur Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt, Freiburg/München 2014. Gestaltpsychologie und Wiener Kreis. Stationen einer bedeutsamen Beziehung, Freiburg/München 2008. Gudula Linck, Prof. Dr. phil., geb. 1943 Studium der Ethnologie, Sinologie und Japanologie in Paris, Salamanca, Mainz, Tübingen, Taibei/Taiwan, Osaka, München, Freiburg, Peking und Berkeley. Promotion 1978. Habilitation 1985. Von 1990 bis 2008 Professorin für Sinologie an der Universität Kiel. Wichtigste Publikationen u. a.: Ruhe in der Bewegung. Chinesische Philosophie und Bewegungskunst, Freiburg/München 2015. Leib oder Körper. Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie, Freiburg/München 2012. Yin und Yang. Auf der Suche nach Ganzheit im chinesischen Denken, München 2006. Gesa Lindemann, Prof. Dr. phil., geb. 1956 Studium der Soziologie und Rechtswissenschaft in Göttingen und Berlin. Promotion 1993. Habilitation 2001. Seit Juni 2007 Professorin für Soziologie an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. 334 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Wichtigste Publikationen u. a.: Going beyond the laboratory. Social robotics in everyday-life (Schwerpunktheft der Zeitschrift »Artificial Intelligence & Society« 2016, hrsg. mit Hironori Matsuzaki/Ilona Straub) Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen, Weilerswist 2014. Das Soziale von seinen Grenzen herdenken, Weilerswist 2009. Isabella Marcinski, M.A., geb. 1981 Studium der Philosophie und Gender Studies in Berlin. Seit 2014 Promotion mit einer Doktorarbeit zum Thema Essstörungen am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin, gefördert durch ein Elsa-Neumann-Stipendium des Landes Berlin. Wichtigste Publikationen u. a.: »Die Erfahrung von Hunger in der Anorexie: leibliches Erleben und soziale Kontexte«, in: Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel (Hrsg.): Nebulosa. Figuren des Sozialen, Bd. 8 (2015): Hunger, S. 36–44. Anorexie – Phänomenologische Betrachtung einer Essstörung, Freiburg/München 2014. »Anorexie mit anderen Augen – Helmuth Plessners philosophische Anthropologie als Grundlage eines leiblich fundierten Verständnisses einer Essstörung«, in: Nina Degele/Sigrid Schmitz/Marion Mangelsdorf/Elke Gramespacher (Hrsg.): Gendered Bodies in Motion, Opladen 2010, S. 127–140. Dem Erleben auf der Spur. Feminismus und die Philosophie des Leibes, Bielefeld 2016 (hrsg. mit Hilge Landweer). Ewald Scherm, Univ.-Prof. Dr. rer. pol., geb. 1960 Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Regensburg, Promotion 1990 und Habilitation 1994 ebenfalls an der Universität Regensburg, 1995 Berufung auf den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Organisation und Planung an der FernUniversität in Hagen. Wichtigste Publikationen u. a.: Internationales Personalmanagement, 2. Aufl., München/Wien 1999 (1. Aufl. 1995). 335 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Organisation. Theorie, Gestaltung, Wandel, München/Wien 2007 (zus. mit Gotthard Pietsch). Internationales Management. Eine funktionale Perspektive, München 2001 (zus. mit Stefan Süß). Personalmanagement, 3. Aufl., München 2016 (1. Aufl. 2003) (zus. mit Stefan Süß). Hermann Schmitz, Prof. Dr. phil., geb. 1928 Promotion 1955. Habilitation 1958. 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Wichtigste Publikationen u.a: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, Freiburg/ München 2016. Atmosphären, Freiburg/München 2014. Gibt es die Welt?, Freiburg/München 2014. Der Leib, Berlin/Boston 2011. System der Philosophie. 5 Bände, Bonn 1964–1980. Jan Slaby, Prof. Dr. phil., geb. 1976 Promotion 2006. Seit 2016 Professor für Philosophie des Geistes und Philosophie der Emotionen am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Vorstandsmitglied im Berliner Sonderforschungsbereich 1171 Affective Societies sowie Leiter des Teilprojekts B05 »Emotionsrepertoires im Wandel« (Laufzeit 2015– 2019). Wichtigste Publikationen u. a.: Crititical Neuroscience (hrsg. mit Suparna Choudhury), Oxford 2012. Gefühl und Weltbezug, Münster 2008. Jens Soentgen, PD Dr. phil., geb. 1967 Studium der Chemie. Promotion in Philosophie mit einer Arbeit über den Stoffbegriff. Habilitation 2015 (in Philosophie). U. a. in Brasilien als Gastdozent für Philosophie tätig. Seit 2002 wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg und seit 2016 Adjunct Professor of Philosophy an der Memorial University in St. John’s (Kanada). 336 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Wichtigste Publikationen u. a.: Wie man mit dem Feuer philosophiert – Chemie und Alchemie für Furchtlose, Wuppertal 2015. Selbstdenken! 20 Praktiken der Philosophie, Wuppertal 2003. Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, Bonn 1998. Das Unscheinbare. Phänomenologische Beschreibungen von Stoffen, Dingen und fraktalen Gebilden, Berlin 1997. Stefan Volke, Dr. phil., geb. 1971 Studium der Germanistischen Sprachwissenschaft, Philosophie und Geschichte an den Universitäten Rostock und Freiburg. Promotion 2005 an der FU Berlin. Lehrer für Philosophie an einem Hamburger Gymnasium. Wichtigste Publikationen u. a.: »Wortphysiognomien – Ein Beitrag zur Gestaltlinguistik«, in: Ellen Aschermann/Margret Kaiser-el-Safti (Hrsg.): Gestalt und Gestaltung in interdisziplinärer Perspektive, Frankfurt 2014, S. 155–172. Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens (hrsg. mit Steffen Kluck), Freiburg/München 2012. Sprachphysiognomik. Grundlagen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Lautwahrnehmung, Freiburg/München 2007.
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Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie
Das Interesse der Neuen Phänomenologie gilt den Phänomenen selbst. Sie eicht ihre Begriffe an der unwillkürlichen Lebenserfahrung. Dadurch gibt sie Gelegenheit zu neuen Einsichten, die über übliche Perspektiven hinausgehen. Insbesondere Themenbereiche wie Leib, Gefühl und Subjektivität können so in neuer Weise der Erkenntnis zugänglich gemacht werden. Zugleich öffnet die Neue Phänomenologie den Blick auf andere Kulturen. Mit der Reihe, in der Monographien und Textsammlungen erscheinen, wird diesem Anliegen Raum zur Diskussion gegeben. Band 1 Hermann Schmitz Situationen und Konstellationen Wider die Ideologie totaler Vernetzung 304 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48146-2 Band 2 Anna Blume (Hg.) Zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung 176 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48147-9 Band 3 Dirk Schmoll / Andreas Kuhlmann (Hg.) Symptom und Phänomen Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen 332 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48148-6
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Band 4 Jürgen Hasse Fundsachen der Sinne Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens 436 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48130-1 Band 5 Jan-Peters Janssen (Hg.) Wie ist Psychologie möglich? 224 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48189-9 Band 6 Sven Sellmer Formen der Subjektivität Studien zur indischen und griechischen Philosophie 380 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48179-0 Band 7 Ute Gahlings Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen Erweiterte Neuausgabe 720 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48802-7 Band 8 Stefan Volke Sprachphysiognomik Grundlagen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Lautwahrnehmung 280 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48209-4 Band 9 Anna Blume (Hg.) Was bleibt von Gott? Beiträge zur Phänomenologie des Heiligen und der Religion 224 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48231-5
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Band 10 Hermann Schmitz Freiheit 168 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48297-1 Band 11 Hans Jürgen Wendel / Steffen Kluck (Hg.) Zur Legitimierbarkeit von Macht 184 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48330-5 Band 12 Jürgen Hasse (Hg.) Die Stadt als Wohnraum 212 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48334-3 Band 13 Michael Großheim / Stefan Volke (Hg.) Gefühl, Geste, Gesicht Zur Phänomenologie des Ausdrucks 292 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48412-8 Band 14 Hermann Schmitz Jenseits des Naturalismus 392 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48381-7 Band 15 Michael Großheim / Steffen Kluck (Hg.) Phänomenologie und Kulturkritik Über die Grenzen der Quantifizierung 256 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48427-2 Band 16 Gudula Linck Leib oder Körper Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie 360 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48451-7 340 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Band 17 Barbara Wolf Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit Eine qualitative Studie unter Einbeziehung von Richard Sennetts Flexibilitätskonzept und Hermann Schmitz’ Neuer Phänomenologie 444 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48536-1 Band 18 Steffen Kluck / Stefan Volke (Hg.) Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens 404 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48537-8 Band 19 Steffen Kammler Die Seele im Spiegel des Leibes Der Mensch zwischen Leib, Seele und Körper bei Platon und in der Neuen Phänomenologie 200 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48563-7 Band 20 Sabine Dörpinghaus Dem Gespür auf der Spur Leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe 440 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48605-4 Band 21 Lenz Prütting Homo ridens Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens Erweiterte Neuausgabe 2028 Seiten. Gebunden mit Leseband. ISBN 978-3-495-48829-4
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Band 22 Michael Großheim / Anja Kathrin Hild / Corinna Lagemann / Nina Trcka (Hg.) Leib, Ort, Gefühl Perspektiven der räumlichen Erfahrung 416 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48643-6 Band 23 Steffen Kluck Pathologien der Wirklichkeit Ein phänomenologischer Beitrag zu Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt 384 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48592-7 Band 24 Henning Nörenberg Der Absolutismus des Anderen Politische Theologien der Moderne 312 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48694-8 Band 25 Isabella Marcinski Anorexie – Phänomenologische Betrachtung einer Essstörung 132 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48683-2 Band 26 Hilge Landweer / Dirk Koppelberg (Hg.) Recht und Emotion I Verkannte Zusammenhänge 456 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48817-1 Band 27 Stefan Volke / Steffen Kluck (Hg.) Körperskandale Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit 256 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48857-7 342 https://doi.org/10.5771/9783495813744 .
Band 28 Hilge Landweer / Fabian Bernhardt (Hg.) Recht und Emotion II Sphären der Verletzlichkeit 376 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48880-5
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