Körperkonzepte im Arturischen Roman 9783110944860, 9783484108066

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German Pages 489 [492] Year 2007

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Table of contents :
Vorwort
I. Symbolische Körper
Der charismatische Körper im höfischen Roman. Strukturen homoerotischen Begehrens im Prosa-Lancelot
Der Schatten des Körpers des Königs
lebendec hegrabn. Ein Versuch über Parzivals Unsichtbarkeit
Wunden, Blut und Blutsbande in Malorys Morte Darthur
Aspekte der >schönen ErscheinungFremdkörper< im Text? Die >besta desassemelhada< in der altportugiesischen Demanda do Santo Graal
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Körperkonzepte im Arturischen Roman
 9783110944860, 9783484108066

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Körperkonzepte im arthurischen Roman

Körperkonzepte im arthurischen Roman Herausgegeben von Friedrich Wolfzettel

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Gedruckt mit Hilfe der Kurt Ringger-Stiftung, Mainz und der Internationalen Artusgesellschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-10806-6 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter G m b H & Co. KG http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

VII

I. Symbolische K ö r p e r Jutta Eming D e r charismatische K ö r p e r im höfischen R o m a n . Strukturen homoerotischen Begehrens im Prosa-Lancelot

3

Ulrich Wyss D e r Schatten des Körpers des Königs

21

Stephan Fuchs-Jolie lebendec begrabn. Ein Versuch über Parzivals Unsichtbarkeit

33

Joerg O. Fichte W u n d e n , Blut u n d Blutsbande in Malorys Morte Darthur

57

Laetitia Rimpau Aspekte der >schönen Erscheinungc Le Bei Inconnu, Le Dit de la Panthere u n d die Vita Nuova

75

II. E m o t i o n - Begehren — Sexualität Elisabeth Schmid Lüsternheit. Ein Körperkonzept im Artusroman

131

Ulrich Ernst Haut-Diskurse. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des h o h e n Mittelalters

149

Friedrich Wolfzettel Der defiziente arthurische Körper: Nacktheit als Gattungs-Paradigma

201

VI Brigitte

Inhaltsverzeichnis Burrichter

Die Sprache der Tränen. Das narrative Potential des Weinens bei Chretien de Troyes Sandra

231

Linden

Körperkonzepte jenseits der Rationalität. Die Herzenstauschmetaphorik i m Iwein Hartmanns von Aue Klaus

Ridder

Parzivals Gier. Habsucht als Moment kultureller Identitätssuche im Parzivalroman Wolframs von Eschenbach Gerhard

247

269

Wild

por escritura no se podia dezir oder: Die R h e t o r i k des Begehrens.

Überlegungen zu Körper und Kunst im frühen Roman

287

III.Verfremdete Körper Armin

Schulz

Das Reich der Zeichen und der unkenntliche Körper des Helden. Zu den Rückkehrabenteuern in der Tristan-Tradition Martin

Schuhmann

Körper im Text — der Löwe und der Löwenritter Irmgard

337

Gephart

Enite und die Pferde. Animalischer und zivilisierter Körper in Hartmanns von Aue Erec Stefanie

311

353

Schmitt

Riesen und Zwerge: Zur Konzeptualisierung des gegnerischen Körpers im WigaloisWimts von Grävenberg und seinen frühneuzeitlichen Bearbeitungen Martin Baisch/Matthias

369

Meyer

Zirkulierende Körper. Tod und Bewegung im Prosa-Lancelot

383

Inhaltsverzeichnis Annette

Gerok-Reiter

Körper - Zeichen. Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec Christiane

VII

405

Ackermann

dirre trüebe lihte schtn. K ö r p e r i n s z e n i e r u n g , I c h - P r ä s e n t a t i o n

und Subjektgestaltung im Parzival Wolframs von Eschenbach Dietmar

431

Frenz

Ein >Fremdkörper< im Text? Die >besta desassemelhada< in der a l t p o r t u g i e s i s c h e n Demanda

do Santo Graal

455

Vorwort Formen der Körperlichkeit und Körperinszenierung im Text, aber auch die Materialität von Literatur und medialer Inszenierung, ζ. B. im Theaterspiel, stehen seit geraumer Zeit im Zentrum literaturwissenschaftlicher und insbesondere auch mediävistischer Überlegungen. Die Wiederkehr des Körpers ist das von Dietmar Kamper und Christoph W u l f 1 1982 herausgegebene Sammelwerk überschrieben, mit dessen Titel zugleich auf eine vergessene Dimension seit Nietzsche und Husserl angespielt wurde. Phänomenologie (Merleau-Ponty) und Psychoanalyse, besonders postmoderne kritische Ansätze wie die von Deleuze und Guattari, dann auch die Gender-Studies haben wohl ein Übriges getan, um diesen, bis dahin verdrängten Aspekt wieder bewusst zu machen. Merkwürdigerweise fand er nur zögernd auch in mediävistische Forschung Eingang, obwohl gerade da, d. h. vor dem Verlust medialer Körperlichkeit in der sog. »Gutenberg-Galaxis« und der konkomitanten Entstehung des Buch-Körpers 2 , der angestammte Ort für die Körperlichkeit medialer Inszenierung gewesen wäre. Bekannt ist der programmatische Aufsatz von Hans Ulrich Gumbrecht »Beginn der Literatur/Abschied vom Körper?« 3 Auf den Zusammenhang von Medialität und Körperlichkeit hat Horst Wenzel 4 in seinem wichtigen Werk über das Verhältnis von Sinneswahrnehmung, Schriftlichkeit und Bildlichkeit ebenso hingewiesen wie Paul Zumthor schon ein Jahrzehnt früher mit seinen Arbeiten über die Körperlichkeit mündlicher Tradition 5 ; die Sprache des Körpers erscheint hier als »la parole fondatrice« und begründet die »vocalite« mittelalterlicher »Literatur« samt ihren performatiellen Aspekten. In epistemologischer Perspektive situiert sich der von Bernard Ribemont herausgegebene Sammelband Le corps et ses enigmes au Moyen Age6; der Versuch einer men-

1 2

3

4

5

6

Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hrsg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a. Μ. 1982. Jan-Dirk Müller, »Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck«, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988, 2 0 3 - 2 1 7 ; J.-D. M., »Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik«, ZfdPH 122 (2003), 1 1 8 - 1 3 2 . Hans Ulrich Gumbrecht, »Beginn der Literatur/Abschied vom Körper?«, in: Gisela Smoelko-Koerdt, Peter M. Spangenberg, Dagmar Tillmann-Bartylla (Hrsg.), Der Ursprung von Literatur, Medien, Rollen, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und 1650, München 1988, 1 3 6 - 1 4 8 . Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter, München 1995. Paul Zumthor, Introduction ä la poesie orale, Paris 1983, und bes. La Lettre et la Voix. De la >litterature medievalespontanen< Zuneigungsbekundung vorausgingen und die sie in sich aufheben sollte. Jaeger beschreibt ferner eine »charismatische Kultur< am Beispiel der Bildungskonzepte in mittelalterlichen Kathedralschulen: C. Stephen Jaeger, The Envy of Angels. Cathedral Schools and Social Ideals in Medieval Europe, 950-1200, Philadelphia 1994. Vgl. fur die antike Tradition vor allem die Einfuhrung von David Konstan, Friendship in the Classical World, Cambridge 1997, fur monastische Kreise Brian Patrick MacGuire, Friendship and Community. The Monastic Experience 350—1250, Kalamazoo 1988. Die »Gemeinschaft von Tisch und Bett< als Form ehrerbietigen Verhaltens bis zum Spätmittelalter erörtert van Eickels (wie Anm. 6), 368ff.

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Juttta

Eming

divinity. [...] Imagine a single subject waiting with his petition to be ushered into the king's presence, anticipating the comforting distance o f an elevated throne and obligatory lowering o f the eyes. Unexpectedly the king appears in the same room, near him, looking him in the eye.The result: embarrassment, confusion, loss o f will. 9

Die Wirkung, die Jaeger hier beschreibt, entspricht den Merkmalen charismatischer Herrschaft nach Max Weber. Es handelt sich um eine nicht genau fassbare, mit den Begriffen des Numinosen und Magischen am ehesten zu beschreibende Ausstrahlung, in Webers berühmter Definition selbst eine als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit [...], um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht j e d e m anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als » F ü h r e r« gewertet wird. 10

Charisma, dies hängt sowohl mit der Tendenz, eine Führerschaft auszubilden, als auch mit den Formen seiner Institutionalisierung zusammen, 11 wird von Weber exemplarisch mit der Königswürde verbunden. 12 Von den speziellen Körperlogiken, in denen königliches Charisma manifest wird, ist bislang Ernst H. Kantorowicz'Theorie der »Zwei Körper des Königs« besonders bekannt geworden, die als eine ontologisch und funktional bestimmte Ebenbildlichkeit mit Christus zu verstehen ist. 13 Ein weiteres Beispiel bietet die Tradition der rois thaumaturges, der wundertätigen Könige, die nach Marc Bloch mit der Vorstellung verbunden ist, dass der Körper des Königs Heilkräfte besitzt. 14 Das Charisma-Konzept bleibt jedoch nicht auf den Königsstand beschränkt. Mit dem Begriff des Erbcharismas wird sein Geltungsbereich von Weber vielmehr auf geburtsständische Privilegien und damit auf den Adelsstand als Ganzen ausgedehnt. 15

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12 13

14

15

Jaeger, Ennobling Love (wie Anm. 4), 21. Weber (wie Anm. 1), 140. In Webers Ausführungen nehmen die Prozesse der »Veralltäglichungaußeralltägliche< Qualität des Charismas unterliegt, einen zentralen Stellenwert ein. Vgl. dazu auch Winfried Gebhardt, »Charisma und Ordnung. Formen des institutionalisierten Charisma. Überlegungen im Anschluss an M a x Weber«, in: W. G., Arnold Zingerle, Michael N. Ebertz, Charisma. Theorie — Religion - Politik, Berlin, N e w York 1993, 4 7 - 6 8 . Vgl. zum Verhältnis von Institutionalisierung undVeralltäglichung bei Weber auch Gebhardt (wie Anm. 10). Vgl. Weber (wie Anm. 1), 756f. u. 771. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, übers, von Walter Theimer, 2. Aufl., München 1994 (engl. 1957). Marc Bloch, Die wundertätigen Könige. Mit einem Vorwort von Jacques Le Goff, übers, von Claudia Märtl, München 1998 (frz. 1983). Vgl. Weber (wie Anm. 1), 144. Einen guten Uberblick über die Entwicklung des Cha-

Der charismatische Körper im höfischen Roman

7

Adliges Charisma entspricht königlichem Charisma durch das gemeinsame allgemeine Merkmal, dass es wesentlich auf dem Fluidum körperlicher Präsenz gründet. 15 Dies wird von Weber zwar nicht in Begriffen von Körperlichkeit und Begehren konzeptualisiert, doch steht außer Frage, dass die Wirkweise von Charisma nicht als intellektuelle, sondern als eine emotionale Qualität zu begreifen ist, welche beim anderen eine »ganz persönliche Hingabe«17 hervorruft. Gerade weil es zum allgemeinen Merkmal des Adligen wird und entsprechend verbreitete Begehrensstrukturen generiert, hat es einerseits einen normativen und nicht einen sexuell transgressiven Charakter. 18 Jaeger sieht in der ostentativen >Beherrschung des Fleisches< im Sinne christlicher Selbstdisziplin andererseits allerdings ein wesentliches Motiv der >MännerfreundschaftenVerdachtErb-Adelscharisma< gesprochen wird. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Jaegers These, dass die >charismatische< Kultur der Kathedralschulen von einer >intellektuellen< Kultur abgelöst werde, in The Envy of Angels (wie Anm. 7). Weber (wie Anm. 1), 140. Weber spricht, um das Modell des genuinen Charismatikers und seiner Gemeinde zu beschreiben, auch von einer >emotionalen Vergemeinschaftung< sowie von einem >Liebeskommunismusüberführtbei sich behalten< möchte? U m dies zu verstehen, ist es entscheidend, nicht eine eventuelle homosexuelle Zielrichtung des Begehrens zu fokussieren, sondern die Formen, in denen dieses Begehren verkörpert wird. Dafür ist grundsätzlich von einer Bandbreite vonVerkörperungen auszugehen, welche Begehren einerseits ausdrücken, andererseits hervorrufen. So hat sich gezeigt, dass bereits der vitale, der aktive u n d kraftvolle K ö r p e r Lancelots auf dem Feld in Galahots Augen einen Wert verkörperte, der in i h m augenblicklich den Impuls auslöste, v o m Kampf abzulassen. In Galahots Zelt n i m m t Lancelot, der inzwischen nicht m e h r von einer R ü s t u n g bedeckt ist, dagegen eine passive, ruhende Position ein. Eine ruhige Körperhaltung ist wohl diejenige, die mit einer charismatischen W i r k u n g zuerst in Verbindung gebracht wird. Sie lässt sich mit Attributen wie W ü r d e u n d Superiorität assoziieren, u n d sie kann eine Herrscherfigur als in sich ruhendes Gravitationszentrum der Macht konturieren. Einen solchen Typus des charismatischen Herrschers repräsentiert z u m Beispiel die Figur Karls des Großen im Rolandslied.34 Anders als im Rolandslied j e d o c h , w o Karls Gesicht im Verbund mit einer speziellen Lichtmetaphorik als Ausdrucksmodus seiner einzigartigen Stellung fungiert, 3 5 werden an der vorliegenden Textstelle des Prosa-Lancelot nicht Lancelots Physiognomie, seine Statur, sein Gesicht oder allgemein seine Schönheit beschrieben. D e n n o c h verkörpert seine Haltung, unterstützt durch eine spezielle Positio-

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Engel-trüt. Vom Erwachsenwerden eines jungen Adligen in der Erzählung Engelhart Konrads von Würzburg«, Jahrbuch für Internationale Germanistik XXXIII (2001), 8-27, und die >Replik< von Elisabeth Schmid, die auch eine französische Version einbezieht, »Engelhard und Dietrich: Perpetuierung der Adoleszenz«, ebd., 28—40. Judith Klinger und Silke Winst verstehen ihre Analyse von Identitätskonzeptionen im Engelhard, in der sie zu dem Ergebnis kommen, dass weder hetero- und homosexuelles Begehren noch ein historisches Analogon dazu im Text differenziert würden, auch als Gegenentwurf zu den psychoanalytischen Argumentationen von Peschel und Schmid: »Zweierlei minne stricke. Zur Ausdifferenzierung von Männlichkeit im Engelhard«, in: Martin Baisch u.a. (Hrsg.), Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts, Göttingen 2003 (Aventiuren 1), 259-289, hier: 287, Anm. 75. Vgl. die Analyse von Karina Kellermann, »>Die zwei Körper des KönigsHingabe< hervorruft. Genau dies zeigt nun umgekehrt die Verkörperung von Galahots Begehren. So nahe wie möglich schmiegt er sich an den Leib des anderen, um sich der Wirkung von dessen Präsenz — der Präsenz des Körpers - zu überlassen. Galahot begehrt Lancelot also nicht als Sexualpartner, sondern als exzeptionellen Adligen. Er will in Lancelots Charisma gleichsam eintauchen, und das heißt, er will in der Situation in seinem Zelt und von nun an immer in Lancelots Nähe sein — nicht mehr und nicht weniger. Seine Reaktion auf Lancelot im Zelt verkörpert dieses Begehren vollkommen und ohne dass ein >Rest< an Ausdruckspotential zurückbliebe, der sexualisiert werden müsste. Es ist vielmehr konkrete, leibliche Nähe selbst, die hier erotisiert wird. Lancelots Attraktivität gründet in seiner Körperlichkeit und diese ist über Begabungen wie Vitalität, Kraft oder Tapferkeit zwar geschlechtlich markiert, aber nicht sexuell konnotiert. Gegen die These, dass Galahot in der gerade interpretierten Textpassage kein sexuelles Begehren verkörpert, könnte nun die offensichtliche Parallele zu einer weiteren Episode des Romans nur kurz zuvor sprechen, in der Lancelot ebenfalls schlafend auf einem Bett liegt, beobachtet wird und Begehren erzeugt. Diesmal handelt es sich jedoch um das Begehren einer Frau, der Frau von Maloaut. Zwei durchaus konträre Schlussfolgerungen wurden aus solcher Vergleichbarkeit zwischen männlichem und weiblichem Begehren bislang in der Forschung gezogen. Einerseits hat Ingrid Hahn — im Anschluss an Judith Klinger — die These vertreten, dass Lancelots »charismatische Schönheit«37 geschlechtsübergreifend wirke, da sie

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An dieser Stelle zeigt sich exemplarisch, dass Formen der Verkörperung keineswegs ausschließen, dass der Körper auch Zeichenfunktionen übernimmt. Vgl. zu letzteren Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, F r a n k -

37

furt a.M. 2003, 180ff. Ingrid Hahn, »des herczen wille. Z u m Selbstbezug der Person im Prosa-Lancelot«, in: Nine Miedema, Rudolf Suntrup (Hrsg.), Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft.

FS Volker Honemann,

Frankfurt a.M. u.a. 2003,

226-236, hier: 229; Judith Klinger, »Möglichkeiten und Strategien der Subjekt-Reflexion im höfischen Roman. Tristan und Lancelot«, in: Jan-Dirk Müller, Horst Wenzel (Hrsg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent,

Stuttgart, Leipzig, 127—148.

Vgl. ferner Klinger (wie Anm. 25), zu Lancelots Schönheit 75fF. und passim; zum Zerfall seiner charismatischen Schönheit ebd., 234f.

Der charismatische Körper im höfischen

15

Roman

nahezu alle zentralen Figuren des Textes erfasst. Andererseits hat R e g i n a l d Hyatte geltend gemacht, dass die B e z i e h u n g von Lancelot u n d Galahot v o m heterosexuellen Modell der fine amor modelliert werde. 3 8 Dieser Auffassung schließt Klaus Speckenbach sich insofern an, als in seiner Sicht in der B e z i e h u n g zwischen Galahot u n d Lancelot das Konzept der >Freundesliebe< d e m der >Frauenliebe< unterliegt. 3 9 I m ersten Fall wird also eine fehlende Differenz zwischen den Strukturen m ä n n lichen u n d weiblichen Begehrens veranschlagt, im zweiten Fall eine D o m i n a n z der heterosexuellen Begehrensstruktur. D i e Frau von Maloaut liebt Lancelot fraglos i m >normativen< heterosexuellen Sinne. Sie hält ihn sogar bei sich gefangen, weil auch sie auf seine G e g e n w a r t nicht verzichten m ö c h t e u n d obwohl Lancelot sie zurückweist. Lancelot erbittet sich allerdings von ihr, an den Kämpfen zur Verteidigung des Artusreichs gegen Galahot teiln e h m e n zu dürfen, w e n n er dafür j e d e n A b e n d zu ihr zurückkehrt. Als er nach d e m ersten Kampftag erschöpft u n d übersät mit Verletzungen eingeschlafen ist, nutzt sie, gemeinsam mit ihrer Nichte, die Gelegenheit, ihn zu betrachten: Die frauw sah den ritter uff sym bette ligen, und hett sin arm ußgeworffen, wann das wetter heiß was. Er slieff fast und was aller geschwollen under synen äugen von großen schlegen die er enpfangen hett des tages. Die nase was im beschunden, und der halß was im bemasiget [...] von dem halßberg, sin oberbrawen waren alle geqwetschet. Im waren sin arm alle weicin von schlegen, und was im die schultern wunt in manige wise und off synen ahsein, die hend waren im geblat und vol blutes von großen schlegen (684,9-17). W i e d e r wird Lancelots schlafender K ö r p e r v o m Erzähler i m R a u m arrangiert. Anders als bei der Beschreibung in Galahots Zelt wird die Perspektive diesmal j e d o c h mit einiger Liebe z u m Detail auf Lancelots Aussehen gelenkt, u m d a n n in unterschiedlichen Ansichten ü b e r seinen K ö r p e r zu w a n d e r n , erst i m Vollbild, dann v o m Gesicht ü b e r die Schultern. Verletzungen u n d Verschmutzungen, Blut, D r e c k u n d R o s t f l e c k e n w e r d e n akribisch genau geschildert. D e n n o c h entsteht nicht der E i n d r u c k eines hässlich gewordenen, sondern eines i m m e r n o c h unversehrten, charismatischen Körpers. D a f ü r werden, ähnlich w i e im Falle von Lancelots Entrückungszuständen, Stilisierungsmuster religiösen Charismas zitiert u n d neu

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39

R e g i n a l d Hyatte, The Arts of Friendship. The Idealization

of Friendship in Medieval and

Early Renaissance Literature, Leiden, New York, Köln 1994. Klaus Speckenbach, »Freundesliebe und Frauenliebe im Prosa-Lancelot«, in: Wolfgang Haubrichs, Wolfgang Kleiber, RudolfVoß (Hrsg.), Vox Sermo Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit.

Stuttgart, Leipzig 2001, 131-142, hier: 139.

FS Uwe

Ruberg,

16

Juttta Eming

gefüllt. 40 D e n n in der Exposition von Lancelots verletzlichem und im Schlaf unschuldig wirkenden Körper scheinen Darstellungstraditionen aus Märtyrerlegenden aufgerufen, in denen eine Figur sich trotz oder gerade wegen erlittener Torturen als unzerstörbar erweist. In analoger Form, w e n n auch anders kontextualisiert, wirkt Lancelot trotz seiner Blessuren schön und charismatisch. Dies spiegeln auch die Reaktionen der Frau von Maloaut. Sie betrachtet den schlafenden Helden zunächst gemeinsam mit ihrer Nichte in geradezu andächtiger Weise. D e r Umstand, dass Lancelot schläft, b e k o m m t in dieser Situation n u n allerdings einen delikaten U n t e r ton. Innerhalb des Verhältnisses von D o m i n a n z u n d Unterwerfung, in d e m sich Lancelot als Gefangener der verliebten Frau von Maloaut befindet, wird die Passivität seiner Körperhaltung sexualisiert. Im R o m a n ist dies explizit: »Werlich«, sprach sie, »nyfftel, ir solt schier wunder sehen«, und ging in die joiale. Die jungfrau stieß das heubt innen, die frau gab der jungfrauwen das liecht in ir hant und begund sich hoher schurczen. »Frau«, sprach die jungfrau, »wes hant ir gedacht, was wolt ir schaffen?« »Ich enkum nymer me zu als guten staten den ritter zu kußen als yczunt« (684,18-24). Auf die Frau von Maloaut wirkt die Gelegenheit unwiderstehlich, den K ö r p e r des Ritters, der sich ihr erotisch entzieht, endlich gänzlich unter ihrer Kontrolle zu haben. Sie kann von ihrer N i c h t e deshalb nur mühsam zurückgehalten w e r den, ihn mit Zärtlichkeiten zu überschütten. Die Parallele zur Stelle in Galahots Zelt ist offensichtlich, bedeutet j e d o c h gerade nicht, dass hier die gleiche B e g e h rensstruktur vorliegt. Lancelots charismatischer K ö r p e r ruft in Galahot ein Bedürfnis nach N ä h e hervor, das sowohl konkret physisch als auch metaphorisch, als Lebenskonzept, zu denken ist. Galahot hätte Lancelot am liebsten für i m m e r an seiner Seite: »wolt ir mir myn leben nemen? Ich mag on yn über ein leben nit« (1286, 36f.), erklärt er dazu an späterer Stelle gegenüber Artus. Die Frau von Maloaut dagegen begehrt Lancelot als Geliebten. Die Küsse, mit denen sie ihn bedecken möchte, u n d ihr geschürzter R o c k verweisen metonymisch auf den sexuellen Kontakt, den sie sich von i h m wünscht. Frauen erliegen Lancelots Charisma also nicht genauso wie M ä n ner. 4 1 Die Unterschiede zwischen den Episoden bei der Frau von Maloaut u n d in Galahots Zelt zeigen vielmehr, dass Charisma geschlechtsspezifisch u n d individuell wirkt. Lancelots Körper ist in analoger Weise arrangiert u n d ruft doch diffe-

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Als Ausdruck einer >Passion< im Zeichen des Minnedienstes liest Klinger (wie Anm. 25), 201, die Passage. Hahn (wie Anm. 37), 229.

Der charismatische Körper im höfischen Roman

17

rente Formen des Begehrens hervor. Homoerotisches — nicht homosexuelles — und heterosexuelles Begehren werden gegeneinander ausdifferenziert. Der charismatische Körper ist im Prosa-Lancelot kein Medium, u m Unterschiede zwischen Formen von Beziehung und Begehren zu nivellieren, sondern um sie zu profilieren. Dies bedeutet auch, dass Galahot und Ginover nicht um Lancelot konkurrieren, wenigstens nicht in dem Sinne, in dem dies in der Regel vertreten wird: als Konkurrenten u m die Liebe Lancelots. Galahot gibt die gerade erst begründete und ihm so wichtige Nähe zu Lancelot insofern auf, als er die Beziehung zwischen Lancelot und Ginover stiftet, nachdem er an Lancelot Zeichen eines heftigen Liebeskummers bemerkt hat. Körper-Performanz und Gefühlsausdruck in der entsprechenden Szene stehen ganz im Zeichen der Sprache der Liebe zwischen Männern. Galahot findet den weinenden Lancelot und tröstet ihn: »Galahot nam yn zwuschen sin arme und kußt im äugen und munt. >Lieber fruntsagent mir was uch sy«< (766, 9f.). Galahots Küsse und Berührungen sind auch hier kein Ausdruck einer sexuellen Annäherung, sondern der Sorge u m den Freund, den er trösten möchte. Dass Lancelot Ginover liebt, unterstützt und akzeptiert Galahot. Nachdem er sie zusammengeführt hat, äußert er einzig und allein den Wunsch, seine Freundschaft lebenslang behalten zu dürfen. Auch in diesem Kontext führt er die Radikalität seiner Bindung an Lancelot an: »Ich han lip und gut umb uwer gesellschafft gelaßen und gegeben« (1282,31f.). Aus Lancelots Reaktionen geht mitunter hervor, dass diese Bindung despotische Züge annehmen kann. Zu einem späteren Zeitpunkt wird zum Beispiel über ihn gesagt, dass er, anstatt mit Galahot aufzubrechen, lieber am Artushof in Ginovers Nähe geblieben wäre, »hett er getörst vor sim gesellen, den er me forcht dann ein kint synen meister« (1290,9f.). Es sind Leidenschaftlichkeit und Ausschließlichkeit von Galahots Wunsch nach Lancelots Nähe, die zu einem Problem werden, aber nicht die Konkurrenz um eine Liebe, die er gar nicht von Lancelot will. Die Intention des Textes, verschiedene Formen von Begehren zu differenzieren, wird auch in der kurzen Zeit ersichtlich, in der die Dreierkonstellation zwischen Lancelot, Galahot und Ginover u m die Frau von Maloaut erweitert ist. Zu dieser Erweiterung kommt es, nachdem die Frau von Maloaut von Ginover eingeladen wurde, bei ihr zu übernachten. Hier zeigt sich exemplarisch, dass ritualisierte Umgangsformen nobilitierender Liebe — zumindest in literarischen Texten - nicht adligen Männern vorbehalten sind. Das Beisammensein von Ginover und der Frau von Maloaut verläuft allerdings nicht harmonisch. Denn der Frau von Maloaut fällt es schwer, in Gegenwart Ginovers einzuschlafen, aber nicht, weil sie ähnlich wie Galahot zu aufgewühlt über die Gegenwart der anderen wäre, sondern weil sie meint, dass ihr diese Nähe aufgrund ihres niedrigeren Ranges nicht zustehe. Der gestörte Schlaf und das Argument der sozialen Unzulänglichkeit camouflieren

18

Juttta

Ettling

jedoch auch eine unterschwellige Spannung zwischen den Frauen. Denn die Frau von Maloaut offenbart sich im nächtlichen vertraulichen Gespräch als geheime Mitwisserin der illegitimen Liebe zwischen Lancelot und Ginover und wird von dieser daraufhin ermuntert, als Geliebte Galahots die vierte im Bunde zu werden. Gekleidet in einen Diskurs von Freundschaft und Fürsorge integriert Ginover auf der Ebene des Subtextes auf diese Weise die Spionin. Es gelingt Galahot mühelos, ein Verhältnis mit der Frau von Maloaut einzugehen. 42 Die heterosexuelle Beziehung hat ebenso wenig etwas mit seinen Emotionen für Lancelot zu tun wie Lancelots Liebe zu Ginover. Insgesamt entstehen nun vier Paarkonstellationen, die sich wechselseitig symmetrisch zueinander verhalten: Galahot und Lancelot als Freunde, Lancelot und Ginover als Liebende, Ginover und die Frau von Maloaut als Freunde, die Frau von Maloaut und Galahot als Liebende. Gemeinsam stehlen sie sich zu viert abends von der Hofgesellschaft fort, um die Gelegenheit zu einem erotischen Beisammensein zu finden. Frappant daran ist, dass sie sich dabei nicht in zwei heterosexuelle Paare aufteilen, die je fur sich blieben: »Alsus sprachen sie iegliches nachtes alle vier sament, das sie anders nicht endaten dann helsen und kußen; und wann das sie scheiden musten, so was yn so ubel zu mute das yn ir hercz in irm libe wond brechen« (816, 5—8). Der Erzähler trennt die Positionen von Paaren und grammatischen Subjekten wohl deshalb nicht klar voneinander, weil ohnehin vorausgesetzt ist, wer hier wen umarmt und küsst. Und das Begehren Galahots nach Lancelot wird durch die heterosexuellen >Küsse und Umarmungen< nicht zum Verschwinden gebracht. Trotzdem ist die Passage hinsichtlich der allgemeinen erotischen Situation, die hier inszeniert ist, bemerkenswert. Denn was für heutige Leser schwer vorstellbar ist, zumindest dann, wenn man nicht zu Begriffen von Devianz und Perversion greifen möchte: dass ein heterosexuelles Paar seine Intimität mit einem anderen heterosexuellen Paar teilt, steht erneut im Zeichen einer Erotisierung der leiblichen Nähe selbst. Diese Erotisierung war bereits im Verhältnis von Galahot zu Lancelot zu beobachten und stellt vielleicht eine eigene Spielart historischer Emotionalität dar. Der Genuss, den die Nähe des Sexualpartners verschafft, wird durch die gleichzeitige Nähe von Freund oder Freundin nicht gestört, sondern, zumindest was Galahot angeht, vermutlich

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Obwohl es fraglos auffällig ist, dass Galahots Verhältnis zur Frau von Maloaut schnell de-thematisiert wird, wie Andrea Sieber feststellt, ist der Grund dafür nicht notwendig in einer (durch Ginover) erzwungenen Heterosexualität< zu sehen (A. S., »Lancelot und Galahot - Melancholische Helden?«, in: Baisch u.a. [wie Anm. 33], 209-232, hier: 230). Heterosexuelles Begehren ist vielmehr eine Qualität, die der Figur zugeschrieben wird, ohne dass sie von besonderer Bedeutung fur das Romangeschehen ist.

Der charismatische Körper im höfischen

Roman

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sogar noch gesteigert. Denn wenigstens hier gelingt ihm, was sich im übrigen Verlauf des Romans als so überaus kompliziert darstellt - in der Nähe Lancelots zu bleiben und ihm gleichzeitig die Beziehung zu Ginover zu ermöglichen. Galahot verlangt es nach der konkreten, leiblichen Präsenz Lancelots. Er verwelkt wie eine Blume, wenn er sie nicht bekommt. 43 Lancelot >nobilitiert< zwar nicht, aber er hat einen charismatischen Körper. Dieser kann sich in ruhender Position befinden, aktiv und kontrolliert oder >entrückt< sein, in seiner Schönheit zur Geltung kommen, mit Schmutz und Kampf-Blessuren übersät sein oder zur Gänze unter einer schwarzen Rüstung verschwinden, seine Ausstrahlung ist garantiert. Lancelots Präsenz erscheint deshalb gerade den männlichen Helden des Prosa-Lancelot als InbegrifFirdischen Glücks und Ruhms. Der Artushof reagiert mit Bestürzung, nachdem klar geworden ist, dass Galahot ihm seinen herausragenden Helden entzogen hat. Er wirkt gleichsam wie amputiert. 44 Eine Funktion von Lancelots Charisma liegt deshalb vielleicht auch darin, es an Stelle von Artus zu verkörpern. 45 Fraglos besitzt Lancelot auch insofern einen charismatischen Körper, als er metonymische Wirkungen produziert. Er kann die Macht des Artusreichs repräsentieren oder seine Kraft auf Gegenstände übergehen lassen.46 In der Zeit der Trennung zwischen ihm und Galahot gibt es eine Passage, in der Galahot auf eine höfische Versammlung im Freien trifft. Männer und Frauen tanzen um einen Baum, auf dem ein Schild angebracht ist, und sie verneigen sich vor diesem Schild (290—296). Es ist Lance-

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Sieber (wie Anm. 42) bezieht den Umstand, dass Galahot an der Trennung von Lancelot schließlich zugrunde geht und stirbt, auf den Melancholie-Diskurs in seiner Prägung durch Judith Butler. Diese bezieht sich auf die Unterscheidung von Trauer und Melancholie durch Freud, der gegenüber sie jedoch geltend macht, dass Melancholie nicht aus der Einstellung des Subjekts, sondern aus der Beschaffenheit des Objekts resultiert. Das, was es dem gesellschaftlichen Gesetz nach nicht geben darf, kann demzufolge auch nicht betrauert werden. Ein solcher Fall ist homosexuelles Begehren, das in der frühkindlichen inzestuösen Mutter-Kind-Dyade nur kurz gelebt und dann unterdrückt wird. Galahot wird demzufolge zum Melancholiker, weil er das Objekt seines (homosexuellen) Begehrens nicht betrauern darf. So anregend diese These ist, wird mit ihr der Diskurs über Homosexualität wieder aufgegriffen. Vgl. zum Stellenwert der Episode für das Romangeschehen auch Klinger (wie Anm. 25), 122. So ein Vorschlag von Ulrich Wyss während der Diskussion im Anschluss an den Vortrag. Vgl. auch Klinger (wie Anm. 25), 222, sowie grundsätzlich Harald Haferland, Höfische Interaktion.

Interpretationen

zur höfischen Epik

und Didaktik

um 1200, M ü n c h e n

1988

(Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 10), 225-237. Vgl, jetzt auch Η. H., »Das Mittelalter als Gegenstand der Kognitiven Anthropologie. Eine Skizze zur historischen Bedeutung von Partizipation und Metonymie«, PBB 126 (2004), 3 6 64.

20

Juttta Eming

lots Schild, und Galahot verfolgt augenblicklich den Vorsatz, dieses Schild in seinen Besitz zu bringen, mit der gleichen Unbedingtheit, mit der er zuvor u m Lancelot geworben und die Herrschaft über das Artusreich angestrebt hatte. 47 Ebenso, wie der Adel als Stand mit dem Problem konfrontiert ist, einerseits wie alle Menschen von Gott geschaffen zu sein und andererseits durch spezielle Formen der Legitimierung zu allen anderen eine genealogische Differenz behaupten zu müssen, 48 ebenso verkörpert Lancelot den charismatischen Adligen einerseits exemplarisch und geht in seinen >Begabungen< andererseits über alle anderen weit hinaus. Der exorbitanten Steigerung des Charismas korreliert dann die Exorbitanz des Begehrens, das es hervorruft. Exponent solcher Exorbitanz ist im Prosa-Lancelot vor allem Galahot. Viele andere, vor allem männliche Figuren, auch Gawan und Artus, teilen zwar ein Begehren nach dem charismatischen Körper Lancelots. Doch Galahot übertrifft dieses Begehren, und er radikalisiert es, bis in seine selbstzerstörerischen Konsequenzen.

47 48

»Enweg will ich yn füren, oder ich sol darumb dot bliben!« (292, 23f.) Vgl. dazu die exemplarischen Analysen von Beate Kellner, Ursprung und Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, M ü n c h e n 2004.

Kontinuität.

Ulrich Wyss

Der Schatten des Körpers des Königs

Abstract. Is there an arthurian body? In the Tristan romances as well as in the Chretien corpus, the king's body remains a shadow. The body's powerful presence realizes itself as an absence. I. Gibt es ein Körperkonzept, das für den arthurischen R o m a n spezifisch wäre, einen arthurian body sozusagen? W i e wird er hergestellt - durch Anziehen, durch Ausziehen? W e n n in der Erzählung ein R i t t e r näher bestimmt werden soll, wird i h m eine Heldentat immer wieder zugeschrieben: Er ist der Eroberer der Douloureuse Garde z u m Beispiel; als »Karrenritter« dagegen charakterisiert Lancelot einen Augenblick des Versagens. Iwein w i e d e r u m wird nach seinem emblematischen Begleittier das Incognito des »Löwenritters« fuhren. Eine arthurische Figur kann aber auch durch ihre Verwandtschaft definiert werden, als der Sohn der W i t w e etwa. O d e r durch die Ausrüstung, die rot oder weiß oder grün sein mag. Die Chiffren, mit denen Chretien deTroyes die vielen Personnagen ausstattet, die in seinem Conte del Graal keinen Eigennamen tragen dürfen, beziehen sich nie auf deren Leib: le roi pecheur, l'orgueilleux de la lande, l'orgueilleuse pucelle, la germaine cousine, la veuve dame... Vielleicht bildet die hässliche Gralsbotin, die hideuse pucelle, eine Ausnahme. Dass der Leib von dem, was ihn umkleidet, so o h n e weiteres sich nicht unterscheiden lässt, muss Perceval erfahren, als er den chevalier vermeil, den er erschlagen hat, seiner R ü s tung berauben will: Eher müsse er den Toten in Grillfleischportionen zerlegen, als dass es i h m gelänge, eine seiner Waffen m i t n e h m e n zu k ö n n e n , klagt der gewalttätige Tor, denn: »Qu'eles se tienent si au cors / Q u e ce dedanz et ce defors / Est trestot un, si con m o i sanble, / Qu'eles se tienent si ansanble« 1 (denn sie haften so eng am Körper, dass dies Innen u n d dies A u ß e n eins u n d dasselbe ist, wie mir scheint, so sehr halten sie zusammen). Da zeichnet sich ein Körperkonzept ab, das doch eigentlich keines ist. Es definiert den K ö r p e r durch etwas Heterogenes.Wenn die Leiche des roten Ritters von dessen Ausrüstungsgegenständen befreit ist, bleibt

Chretien de Troyes, Der Percevalroman (Le Conte du Graal), übers, und eingel. von Monica Schöler- Beinhauer, München 1991 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 23), V. 1139ff.

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Ulrich Wyss

kein wie auch immer konzipierbarer Körper zurück, sondern, wie Perceval selber sagt, Fleischstücke, die man braten könnte (»charbonees«, V. 1136). Die Rüstung macht den Ritter, nichts sonst. Ließe sich eine Rittergeschichte denken, die auf ein wie auch immer zum Verschwinden gebrachtes somatisches Substrat ganz verzichten könnte? Claude LeviStrauss, der im ersten Band seiner Mythologica die behandelten indianischen Mythen wie Formen der europäischen Kunstmusik zu beschreiben unternahm, stieß einmal auf eine Struktur, für die es keine Parallele zu geben schien: weder Sonate noch Fuge noch Rondo; er fragte seinen Freund, den Komponisten R e n e Leibowitz, ob er so etwas kenne. Leibowitz verneinte, doch einige Wochen später schickte er Levi-Strauss eine Partitur, deren Struktur dem Mythos nachgebildet war: Es hatte so etwas noch nicht gegeben, aber es war möglich, realisierbar in der Arbeit des K o m ponisten. 2 Unser Fall liegt weniger kompliziert, denn natürlich gibt es einen R i t ter ohne Körper. Italo Calvino hat ihn 1959 in seinem R o m a n II cavaliere inesistente konstruiert. Karl der Große inspiziert seine Truppen, ein Kavalier mit sehr langem Namen (Agilulfo Emo Bertrandino di Guildiverni e deglie Altri di Corbentraz e Sura, cavaliere di Selimpia Citeriore e Fez) weigert sich, sein Visier zu öffnen. »Wie kommt es, dass Ihr Eurem Kaiser nicht das Gesicht zeigt?«, fragt Karl, er erhält zur Antwort: »Weil ich nicht existiere, Herr«. Der Kaiser will das sehen. Der Helm ist leer. »Für einen, der nicht existiert, seid Ihr aber gut in Form« 3 , sagt der Kaiser dann. Mit den Kleidern erschaffen wir uns einen Ritter. Das ist aber ein Kleiderkonzept, keines für den Körper. Gibt es auch das Gegenstück: den arthurischen Leib, der durch das Abstreifen der Kleider zutage gebracht wird? Dagegen spricht, dass das Entblößen, zum Beispiel auf dem Theater, wo es in den letzten Jahren gern praktiziert wird, keine Wahrheit zum Vorschein bringt, sondern wiederum einen sozialen Körper. Die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern, die uns Hans Christian Andersens geniales Kunstmärchen erzählt, liefert das Gegenstück zu Gottfried Kellers Parabel von den Kleidern, welche die Leute machen. Der nackte Kaiser trägt ein Kostüm, das problemlos als funktionsgerechte Kleidung durchgeht; nur das Kind, das von einem Standpunkt jenseits der geltenden symbolischen Ordnung spricht, erkennt, dass es gar nicht vorhanden ist. 4 Wenn dem so ist, wenn

2

3 4

Claude Levi-Strauss, Mythos und Bedeutung, Frankfurt a.M. 1980 (edition suhrkamp 1027), 63f. Italo Calvino, I nostri antenati, Milano 1960, 267. Vgl. dazu Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann und Ethel Matala de Mazza unter Mitwirkung von Andreas Kraß (Hrsg.), Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a.M. 2 0 0 2 (Fischer Taschenbuch 15448).

Der Schatten des Körpers des Königs

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der Körper, wie nackt auch i m m e r wir ihn uns imaginieren, auf ein soziales System zurückverweist, fragt es sich, ob der K ö r p e r für die Kulturwissenschaft überhaupt ein spezieller Gegenstand sein kann. Er ist i m m e r schon sozialisiert, akkulturiert, vergesellschaftet, als undefinierbares dedans von dem sichtbaren, deutbaren defors der Kleider u n d der Waffen nicht zu scheiden. Dass die nackte Haut ihrerseits ganz u n d gar von sozialen Funktionen investiert ist, lehrt ein Blick in j e n e Zeitschriften, die d e m M a n n u n d der Frau von Welt beibringen, wie sie ihre Haut am wirkungsvollsten zu Markte tragen. Der sogenannte »Waschbrettbauch« gehört zum somatischen Panzer des m o d e r n e n lebenstüchtigen Menschen, der seinen Leib nach sozialästhetischen Kriterien modellieren muss 5 - u n d sei es mithilfe der plastischen Chirurgie. Nichts anderes haben uns die Ethnologen von den sogenannten Naturvölkern zu berichten. 6 Führt das R e d e n vom »Körperkonzept« also auf eine Aporie? Dass das R e d e n vom K ö r p e r in den Humanwissenschaften gegenwärtig K o n j u n k t u r hat, lässt sich nicht leugnen. D e m verdankt sich auch die Themenstellung unseres Symposions. M a n möchte, nach der linguistischen u n d der ikonischen Wende, von einem body turn sprechen. Es geht offenbar darum, den Logozentrismus in den Geisteswissenschaften zu kompensieren. Vor Jahrzehnten gab es ein Büchlein mit dem verheißungsvollen Titel Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften7, es finden Konferenzen zu »Körper-Inszenierungen« 8 in der Literatur statt, wir feiern die »Wiederkehr des Körpers« 9 (woher eigentlich soll er wiederkehren?), wir wollen u m jeden Preis »am Leitfaden des Leibes« 10 denken, w e n n es sein muss anhand eines zerstückelten Körpers; Körperteile. Eine kulturelle Anatomie11 heißt ein vor wenigen Jahren erschienener Sammelband. I m m e r geht es darum, die R e c h t e des »Bauches« gegen den usurpierten Primat des »Kopfes« zu verteidigen (als ob dieser nicht auch ein Körper-Teil wäre). Die Barriere, die den Körper vom Text separiert, m ö c h t e n wir irgendwie überspringen.

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11

Vgl. zum Beispiel den Roman: John von Düffel, Ego, Köln 2001. Vgl. Claude Levi-Strauss, L'homme nu (Mythologiques IV), Paris 1971; Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham, Frankfurt a.M. 1988. Friedrich A. Kittler (Hrsg.), Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn 1980 (UTB 1054). Klaus Ridder (Hrsg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, Berlin 2002. Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hrsg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 1982. Helmut Pfotenhauer, Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987. Claudia Benthien, Christoph Wulf (Hrsg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek 2001.

Ulrich Wyss

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II. Damit komme ich zu meinem Thema. D e r Schatten des Körpers begegnet uns in dem Corpus der arthurischen R o m a n e zumindest einmal an prominenter Stelle, und zwar in allen Versionen der Erzählung von Tristan und Isolde. Das Liebespaar hat sich des nachts im Baumgarten verabredet, König Marke belauert sie, zusammen mit einem verräterischen Höfling. D o c h der Schatten, den er im Mondschein auf das Wasser der Quelle wirft — ein verschattetes Spiegelbild gewissermaßen — verrät ihn. »Do irsach her Tristant iren schatin / von dem mänen in dem brunnen«, heißt es von Tristan (V 3496f.), und von Isolde: »do wart ouch die vrauwe gut / der spegere wol geware. / der mäne trug den schaten dare / in den brunnen von in zwein« (V. 3528—3531). So bei Eilhart von Oberge 1 2 . In der altnordischen Tristranssaga, die den für uns zu weiten Teilen verlorenen R o m a n des Anglonormannen Thomas übersetzt, lesen wir: Ueber dem aber ging der mond auf und schien hell. Da sah er (Tristan) den schatten des königs auf der erde und blieb sogleich stehen, denn er wußte, daß der könig sie belauern wollte; doch war er sehr in angst und sorge um die königin, sie möchte den schatten nicht bemerken. Demnächst wurde aber auch sie denselben gewahr, und fürchtete sehr für Tristram, und so gingen sie beide fort und sahen, daß sie bei dieser kummer- und sorgenvollen sache verrathen waren. Der könig aber blieb unter dem bäume zurück und zweifelte noch immer so in betreff dieser sache, daß er seinen zorn gegen sie beide fahren ließ 1 3 .

Die Liebenden wissen das Schattenbild zu deuten, sie geben sich Rechenschaft von der Gegenwart des eifersüchtigen Dritten, die es anzeigt, und verhalten sich dementsprechend: Sie verraten sich nicht. Eilhart, auch Beroul, und die Saga bieten nur den Grundriss der Versuchsanordnung. Bei Gottfried von Straßburg wird das T h e m a ausgearbeitet. Interessant ist nicht in erster Linie, was Marke denkt und fühlt, sondern wie Tristan und Isolde sich aus der Affäre ziehen. »Tristan ging zu einer Stelle oberhalb des Wassers, die im Schatten des Olbaums lag, da stand er versonnen im Gras und betrachtete in seinem Herzen seine heimlichen Kümmernisse« (V. 14626fF., übersetzt von Peter Knecht 1 4 ).Tristan denkt an seinen Kummer — und sieht, auf der spiegelnden O b e r -

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Eilhart von Oberge, hrsg. von Franz Lichtenstein, Straßburg 1877 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 19). Iristrams Saga ok Isondar, hrsg. von Eugen Kolbing, Heilbronn 1878, Kap. 55, Ubers, ebd., 168. Gottfried von Straßburg, Tristan, Bd. 1: Text, hrsg. von Karl Marold, Bd. 2: Übersetzung von Peter Knecht, Berlin 2004 (de Gruyter Texte), die zitierte Stelle: 172.

Der Schatten des Körpers des Königs

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fläche des Wassers, dessen Grund: Marke und den Melot, den verräterischen Freund: »So kam es, daß er die Schatten von Marke und Melot sah, denn der Mond schien mit Macht durch die Zweige des Baums. Als er die verräterischen Schatten wahrnahm, da wurde ihm angst und bange, denn er erkannte die Gefahr, die da lauerte« (V. 14632ff.).Tristan furchtet, dass Isolde sich und ihn verraten könnte, er bittet Gott, sie und ihn zu beschützen (V 14641ff.): »got herre«, dähte er wider sich, »beschirme Isote unde mich! ist, daz si diese läge niht bi diseme schaten enzit ersiht, so gät si vür sich her ze mir. geschiht ouch daz, so werden wir ze jämer und ze leide, got herre, habe uns beide durch dine güete in diner pflege! bewar Isote an disem wege; beleite sunder alle ir trite warne die reinen etwaä mite dirre läge und dirre archeit, die man üf uns zwei hat geleit, e si iht gespraeche oder getuo, dä man iht arges denke zuo! ja herre got, erbarme dich üer si und über mich! unser ere und unser leben daz si dir hinaht ergeben!«

Der Held, sonst mit allen Wassern gewaschen und jeder Lage gewachsen, ist in Panik. Wie soll er angesichts der schweigenden, unbewegten Schatten agieren? Ihre Präsenz ist die einer Absenz, und dagegen hat Tristan keine Strategie. Es helfen weder List noch Gewalt, auch keine ausgeklügelte Intrige. Was einzig zählt, wäre Isoldes solidarische Geistesgegenwart, spontanes Lügen, souveräne Improvisation; doch woher soll Tristan wissen, ob er sich darauf verlassen kann? Der Schatten des Körpers stellt seine und Isoldes Liebe auf die härteste Probe. Der König, aus dem Dunkel drohend, ist in diesem Augenblick souveräner als in jeder anderen Situation, die der Roman für ihn bereithält. Vergleichbar allenfalls jene rätselhafte Stelle im Waldleben, als Marke die schlafenden Liebenden entdeckt und seinen Handschuh so aufs Gezweig legt, dass die Sonne sie nicht mehr verbrennt. 15 Da wirft er seinen

15

Beroul, Le roman de Tristan, in: Tristan et Iseut. Les poemes fran^ais. La saga norroise, hrsg.

von Daniel Lacroix, Philippe Walter, Paris 1989, V. 200Iff.

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Schatten auf sie, und der hat mehr Macht über die Liebenden als alle Ansprüche, die er als legitimer Ehegatte erheben könnte.Tristan und Isolde erkennen, dass das Leben in der Waldeinsamkeit keine Alternative zum Dasein am H o f bietet. Ist also der Schatten das Körperkonzept, nach dem wir suchen? Die Gegenwärtigkeit des Körpers wird durch seine Verdunkelung, Verschattung gesteigert. Präsent ist der Körper durch seine Absenz, im Schatten, den er wirft.

III. Es geht aber auch u m den Schatten des Körpers des Königs. Auch dort, wo er sich keineswegs im Dunkeln verbirgt, ist der König seltsam unpräsent, irgendwie abwesend. Der König redet oft nicht selber, so am Beginn von Erec et Enide. Dass Artus die Jagd nach dem weißen Hirsch unternehmen wird, sagt er nicht selber, es wird in indirekter R e d e verkündet. Dagegen erhebt Erec seine Einwände, die dann mit einer autoritären Satzung weggewischt werden: »Li rois respont: >Ce sai j e bien. / Mais por ce n'en lairai j e rien, / Car ne doit estre contredite / Parole puis que rois Γ a dite«Folgens und D i e nens in DemutKommunikationWillkür< und >Darstellung
Widerruf Parzival nachdrücklich empfiehlt, scheint die zentrale Vorstellung zu sein. 27 Was heißt

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So sagt Trevrizent zu Parzival: »ir jeht, ir sent iuch umben gral: / ir tumber man, daz muoz ich klagn. / jane mac den gräl nieman bejagn, / wan der ze himel ist so benant« (468,10—14). Und in seinem >Widerruf< im sechzehnten Buch sagt er: »ez was ie ungewonheit, / daz den gräl ze keinen ziten / iemen möhte erstriten« (798,24—26). Zutreffend hat Otto Neudeck dies als »Paradoxon der Gewalt« bezeichnet (»Das Stigma des Anfortas. Zum Paradoxon der Gewalt in Wolframs Parzival«, LASL 19, 2 [1994], 52-75). Ähnlich auch Alexandra Stein, >wort und wercSuche< nach d e m Gral g e n a n n t w i r d , heißt in W o l f r a m s R o m a n meist nach dem gräle striten, riten,jagn, werben oder ringen — F o r m u l i e r u n g e n , die sich auf bloßes r ä u m liches A u f f i n d e n beziehen, sind äußerst selten. 3 0 U n d der Erzähler selbst f o r muliert Parzivals H a n d l u n g e n dezidiert als vasallistisch-ritterlichen Dienst am Gral: A m E n d e des sechsten Buches n e n n t er es »schildes a m b e t u m b e n gräl« (333,27), bei seinem letzten K a m p f i m f ü n f z e h n t e n B u c h n e n n t er ihn »dienstman« des Gral u n d der C o n d w i r a m u r s (740,21): »den beiden was er diensthaft äne w a n e mit dienstlicher kraft« (737,29). N ä h e als Sichtbarkeit ist das Register, in d e m das formuliert w i r d : D e r Gral ist f ü r alle, die nicht zur Gralfamilia b e r u fen sind, »unerkennet« (473,9), »den gräl sehen« ist Parzivals Ziel (441,13), was i h n schmerzt, ist »des grales vremde« (445,30). Parzivals Dienst u m den Gral —

Mittelalters. Erlanger Ringvorlesung 2003, Erlangen 2005 (Erlanger Studien 131), 83-99. — Der Erzähler behauptet, das nun erlassene Frageverbot sei ein gleichsam verständnisvoll-humanes Entgegenkommen des Grals an die lange durch das Fragegebot gequälte Gralgesellschaft: »durch daz der süeze Anfortas / so lange in süren pinen was / und in diu vräge lange meit, / in ist immer mer nu vrägen leit. / al des grales phlihtgesellen / von in vrägens niht entwellen.« (819,3—8). Angesichts der geradezu zwangsläufig fatalen Entwicklung, die dadurch sogleich ausgelöst wird, schon in der unmittelbar folgenden Generation beim Parzival-Sohn Loherangrin, mag man das als beinahe sarkastisch empfinden (dazu Bumke, »Parzival und Feirefiz« [wie oben], 242-244).Vor allem aber scheint mir dadurch die ganze Mechanik des Grals offensiv als eine Veranstaltung des Erzählers ausgewiesen: >Ich, Wolfram, muß einfach nur die Märchengesetze der Handlung ändern, und schon wäre ein neuer Roman zu erzählen.< Zum offenen Schluss des Parzival, der >Unabschließbarkeit der Sinn-Produktion< (399) und dem Nicht-utopischen Charakter des Grals vgl. auch Cornelia Schu, Vom erzählten Abenteuer

zum

Abenteuer

des Erzählens.

Überlegungen

zur Romanhaftigkeit

von

Wolframs

»Parzival«, Frankfurt a.M. u.a. 2002, insbes. 425-431. 30

Formulierungen des Musters den gräl erwerben/näch dem gräle werben (388,29; 424,23;

425,5; 428,21;

769,25; 786,11; 827,6-7); den gräl gewinnen (425, 23); nach dem gräle

striten (425,26; 428,26); o h n e Verb näch dem gräle (432,29); näch dem gräle jagen (433,11); nach dem gräle riten ( 6 4 6 , 1 6 ; 7 7 2 , 2 5 ) ; näch dem gräle ringen

(732,19). Das Verb

suo-

chen wird nur selten gebraucht und sehr indirekt im Zusammenhang mit dem Gral: Über Parzival sagt Feirefiz: »er suochet einen hohen funt, / näch dem gräle wirbet er« (769,24-25); über den Heiden, der Anfortas verwundete, erzählt Trevrizent: »er suochte die verren ritterschaft / niht wan durch des grales kraft / streich er wazzer unde lant.« (479,21—23). Das Verb vinden wird in diesem Zusammenhang nie gebraucht. Die semantisch naheliegende Formulierung vorsehen näch dem/umben gräle taucht zweimal auf (503,24; 559,18), aber >forschen< ist unmittelbar etymologisch verwandt mit >fragenvrägen< insbes. im Parzival s. ausfuhrlich Peschel (wie Anm. 29).

46

Stephan

Fuchs-Jolie

soweit w i r i h n eben sehen — bleibt sich stets gleich: es ist striten.31 Im siebten B u c h heißt es »ern suochte niht wan striten« (390,9), i m neunten B u c h sagt er selbst über seine Zeit der Gottesferne »ichn suochte niht wan striten« (461,8), u n d n o c h im vierzehnten Buch erklärt er seine Absichten Gramoflanz gegenüber mit »ich k o m durch striten in sin lant, niwan durch strit gein siner hant« (701,5-6). In den ersten Versen des zehnten Buches, also direkt nach d e m Trevrizent-Gespräch, in d e m er erfahren hat, dass man den Gral nicht erstriten könne, verkündet der Erzähler: »wan swers gräles gerte, der muose mit d e m swerte sich d e m prise nähen« (503,27). D a m i t ist sozusagen das Programm des n u n gänzlich unsichtbaren Parzival benannt. U n d wie er es erfüllt haben wird, zeigt sich, als er seinem B r u d e r vor versammelter Artusgesellschaft eine U n m e n g e von R i t t e r n aufzählt, mit denen er »streit« u n d an denen er »hat rfterschaft erzeiget« (771,25-27), »die wile ich nach dem gräle reit« (772,25), wie er sagt. Schließlich muss auchTrevrizent widerrufen u n d sagen, dass Parzival den Gral offenbar mit »arebeit erstriten« habe (798,23—26), und C u n d r i e erklärt ihm: »du hast der sele ruowe erstriten« (782,29). Diese von verschiedenen Figuren geäußerte Ansicht, dass Dienst umbe den gräl und nach dem gräle in ritterlichem Kämpfen und Erwerben von pris mit Waffen besteht, scheint in derTat durch das gedeckt, was wir von Parzival hören. Freilich: Mehrfach wird behauptet, dass m a n den Gral gerade nicht erjagn oder erstriten könne, w e n n man nicht z u m Gral benennet sei, so von Trevrizent (468,12— 14; 473,9-11; 798,24-26), so schon von Sigune (250,26-30), so n o c h von Parzival selbst, als er schon seine B e r u f u n g erfahren hat (786,5—7). Ist dennoch das, was Parzival tut, indem er humiliter dient, nämlich striten u n d erwerben von pris mit nicht nachlassendem Impetus, eine Bedingung für seine Berufung? O d e r sollen wir es einfach so verstehen, dass Parzival der märchenhaft Erwählte ist, der die Zeit bis zu seiner B e r u f u n g nur probeweise mit d e m zubringt, was er als R i t t e r kennt u n d kann? Dass dieser Held der hervorragendste aller ritterlichen Kämpfer ist, ist spätestens seit der Blutstropfenszene am Anfang des sechsten Buchs klar; u n d ein besonderer Dienst nach d e m Gespräch mit Trevrizent, an d e m so etwas wie D e m u t u n d Gottesfürchtigkeit als Handeln kenntlich würde, ist nicht zu sehen. Anlässlich seines ersten Kampfes nach seinem Verschwinden mag m a n noch bemerken, dass er vor Bearosche auf Seiten des Unrechts kämpft, was er später dann nicht mehr tut. 3 2 Dass er i m achten B u c h im Kampf mit Vergulaht gegen einen unerkannten Verwandten

31

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So auch Haug (wie Anm. 22), 210, Bumke (wie Anm. 22), 91—95, und Schu (wie Anm. 29), 290. Vgl. Bumke (wie Anm. 23), 82. Ähnlich Wolfgang Mohr, der beobachtet, dass Parzival »wahllos« kämpfe (»Parzival und Gawan«, in: Heinz Rupp [Hrsg.], Wolfram von Eschenbach, Darmstadt 1966 [zuerst 1958], 287-318, hier: 291).

lebendec begrabn. Ein Versuch über Parzivals Unsichtbarkeit

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streitet, ist j a eine Problemkonstellation, die bis kurz vor seiner Berufung in den Kämpfen mit Gawan und Feirefiz n o c h gesteigert wird und also gerade keine sich z u m Positiven entwickelnde Linie begründet. U n d gerade in d e m Kampf, der zwischen diesen beiden Endkämpfen liegt, in Parzivals letztem K a m p f ohne göttliches Eingreifen, dem K a m p f mit Gramoflanz, zeigt sich, dass Parzival als reine Kampfmaschine agiert, die striten und pris schon beinahe als Selbstzweck betreibt. 3 3 Was diesen R i t t e r zum Gralkönig qualifiziert, ob ihn überhaupt etwas qualifiziert außer der schieren Erwählung, ist qua handelndem K ö r p e r nicht zu verdeutlichen, es ist als Geschehenslogik nicht sichtbar zu m a c h e n . 3 4 U n d diesen B r u c h zwischen W e g und Ziel, zwischen Handeln der Figur und ihrer Bestimmung inszeniert Wolfram, indem er die D e n k f o r m des Dienstrechts gleichsam narrativ beim W o r t nimmt und den K ö r p e r des Helden unsichtbar macht. Damit z u m dritten Punkt, zum P r o blem der Darstellung.

Darstellung Z u T r e v r i z e n t sagt Parzival: »min freude ist lebendec begrabn« ( 4 6 1 , 1 2 ) . Das ist es, was der Erzähler mit d e m K ö r p e r seiner Heldenfigur macht: »Lebendig begra-

33

34

Dies wird insbesondere in Parzivals R e d e 700,30—701,20 deutlich. Die Motivation fur diesen Kampf scheint auf Figurenebene kaum begründbar: »Warum die beiden miteinander kämpfen, ist nicht ganz klar«, so Bumke (wie Anm. 23), 113. Man wird auch hier die Begründung eher im Kompositorischen, im Strukturellen suchen müssen. Zu den Verwandtenkämpfen, die das »Paradoxon der Gewalt« am Ende als unlösbares Dilemma der Figuren ausstellen, vgl. Neudeck (wie Anm. 25), 74, sowie Czerwinski (wie Anm. 4), 1 4 6 - 1 5 9 . Insofern scheint es mir nicht hinreichend, Parzivals Kämpfe einer eindeutigen Interpretation zu unterwerfen, sei es als Ausdruck seiner »Disposition zu schuldhaftem Verhalten« und Orientierungslosigkeit (so Herta Zutt, »Parzivals Kämpfe«, in: Werner Besch u.a. [Hrsg.], Festgabe für Friedrich Maurer zum 70. Geburtstag, Düsseldorf 1968, 178— 198), sei es als positive Leistung, mit der er sich der göttlichen Erwählung adäquat erweist (so Martin H. Jones, »Parzivals Fighting and his Election to the Grail«, Wolfram-Studien 3, Schweinfurter Kolloquium 1972, hrsg. von Werner Schröder, Berlin 1975, 52—71). Beide Aspekte sind eben zugleich gültig, aber keiner für sich hinreichend, die Figur und ihr Handeln kohärent plausibel zu machen. Ahnlich argumentiert Bumke (wie Anm. 22), 9 1 - 9 5 , und Schu (wie Anm. 29), 2 8 7 - 2 9 8 , die treffend von der »verschlungenen Ambivalenz der Perspektiven« (298) als erzählerischem Sinn dieser Problemstellung spricht. Dazu auch Bernd Schirok, »ich louc durch ableitens list. Zu Trevrizents Widerruf und den neutralen Engeln«, ZfdPh 106 (1987), 4 6 - 7 2 , insbes. 5 3 - 5 5 ; Michel Huby, »Nochmals zu Parzivals >EntwicklungAbsage an die Freude< als Moment der Gralsuche«,JEGP 98 (1999), 4 0 - 7 7 .

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Fuchs-Jolie

ben« — unsichtbar machen und doch weiterleben lassen, als Schatten, im Spiegel, sozusagen als bloßen körperlichen Umriss einer Figur, die auf wenige Signifikanten ihres jeweiligen Handelns reduziert ist, ein Handeln, das whelds ist und bleibt. 35 Es ist als ein stufenweises Unsichtbar- und Wieder-Sichtbar-Werden inszeniert.Während Gawans Aufbruch am Ende des sechsten Buchs als dynamische Aktion geschildert wird und Gawan selbst in seiner Ausrüstung ausfuhrlich beschrieben wird, löst sich Parzivals ritterlicher Körper gleichsam allmählich auf: Von ihm werden nur zornige und resignative Gesten sprachlicher und körperlicher Art gezeigt.36 Nach dem von Cundrie zeremoniell dargebotenen Huldentzug handelt die Erzählung von Gawan, Parzival bleibt dennoch präsent. Zunächst tritt er im siebten Buch noch einmal sechzig Verse lang unmittelbar auf, aber nur als einer, der mit den von ihm Besiegten redet, nicht qua Beschreibung visualisiert (388,11—390,12). Im achten Buch ist er dann nur noch in der Erzählung des Vergulaht vorhanden, der berichtet, dass er von einem fremden Ritter besiegt und zum Erwerben des Grals oder ersatzweise nach Pelrapeire geschickt wurde (424,15-425,14). Im neunten Buch, das bei aller topographischen und chronologischen Einordnung eine Zeit- und Rauminsel in der Handlung bleibt, 37 ist er freilich körperlich präsent, wenn auch erstaunlich konturlos und schattenhaft. Nur scharf fokussierte Elemente seines Körpers werden benannt, nur das Nötigste sozusagen — sein »liehtez vel«, das Sigune wiedererkennt (440,24-28); seine Rüstung im Gegensatz zum Büßergewand des Grauen Ritters (447,1—7); seine eisengepanzerten Arme als bizarrer erotischer Reiz für dessen Töchter (449,2—3); das Vertauschen seiner Rüstung mit einem Gewand Trevrizents (459,1 Off.). Im zehnten Buch, der Fortsetzung der Gawan-Erzählung, ist er gar nicht sichtbar, im elften Buch in der Erzählung des Fährmanns Plippalinot als einer, der einst Ither vor Nantes erschlug und hier fünf Ritter Orgeluses besiegt hat (559,9—18). Im zwölften Buch erzählt Orgeluse in einigen Versen von einem roten Ritter, also von Parzival, dem sie ihre Liebe angetragen habe, der aber

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Zu Trevrizent sagt Parzival: »alrerst ich innen worden bin / wie lange ich var wiselos / unz daz freuden helfe mich verlos« (460,28—30), was mir für sein Handeln nicht nur vor, sondern auch nach dem Gespräch mit Trevrizent zu gelten scheint, was ihm aber hier selbst bewusst wird. Insofern unterstreichen diese Worte eher die Differenz und aporetische Spannung von Haltung und Handlung der Figur, als dass sie Hinweis auf neue gewonnene Weisung und Ausrichtung des tatsächlichen Handelns wären. Man vergleiche die immer indirekter werdende und von Figurenrede und Erzählerkommentar dominierte Darstellung von Parzivals Abschied von der Artusgesellschaft (331,1—333,30) und den parallelen und doch gänzlich anders geschilderten Aufbruch Gawans zum König von Ascalun in prächtiger Ausstattung zur Ritterfahrt (335,1—30). Den Begriff der >Zeit-Insel< verwendet in diesem Zusammenhang schon Karl Bertau (.Deutsche Literatur

im europäischen

Mittelalter,

B d . 2: Π 95-1220,

M ü n c h e n 1973, 997).

lebendec begrabn. Ein Versuch über Parzivals Unsichtbarkeit

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wegen der Königin von Pelrapeire und dem Gral abgelehnt habe (618,19-619,14). Ganz am Ende des dreizehnten Buchs tritt er dann wieder in persona in die Geschichte ein, als Ritter, der am Flussufer Gawan gegenübersteht und dessen Gestalt in jetzt längerer Beschreibung immer sichtbarer und identifizierbarer wird (678,17-679,17). Der Erzähler sagt deutlich »an den rehten stam diz msere ist komn« (678,30) — die Geschichte hat wieder zu ihrem eigentlichen Stamm zurückgefunden, aber noch ist dies vorläufig. Das vierzehnte Buch bietet den Abschluss der Gawan-Handlung, doch Parzival, der nach dem rechtzeitig abgebrochenen Kampf mit Gawan mit allen Ehren am Artushof aufgenommen wird, bleibt ein passiver Fremdkörper: »manege clären frouwen muos er sich küssen schouwen« (698,23-24) - die Figur sieht sich selbst zu, wie ihr Körper die höfischen Rituale vollzieht. Es ist ein Körper, der das vollzieht, was einen höfischen und ritterlichen Körper ausmacht, der aber etwas anderes vollziehen müsste, was qua Körper nicht positiv darstellbar ist. Es ist nur symbolisch abzubilden, durch Gesten symbolischer Kommunikation, und zwar privativ — durch Unsichtbarkeit, durch Entzug. Erzählerisch wird dies hier dadurch realisiert, dass Parzival sich selbst zweimal für die höfische Gesellschaft unsichtbar zu machen versucht. Er schleicht sich fort »als ein diep« (708,10), einmal, um mit Gramoflanz zu kämpfen fur seinen Freund Gawan, der das gar nicht will, 38 ein zweites Mal, weil diese höfischen Freuden am Artushof und seines Herzens jämer nicht zusammenpassen: »sol ich mit den ougen freude sehn / und muoz min herze jämers jehn, / diu were stent ungeliche.« (732,23—25). Er steckt, so könnte man sagen, noch immer im falschen Körper. Der sichtbare Körper der höfischen R i t u ale ist nur eine Form seines Körpers, und zwar eine vorläufige. W i e sehr aber auch sein kämpfender Ritter- und Rüstungskörper ein vorläufiger ist, wird schließlich im Bruderkampf effektvoll inszeniert. Sein Ritterkörper wird endgültig als RitterTotschlag-Körper denunziert, indem Gott selbst im Ither-Schwert das zentrale Attribut des falschen, geraubten Körpers zerstört. 39 Unsichtbar ist Parzival im Grunde nie vollständig, insofern er in diversen Figuren auch während seiner körperlichen Absenz gespiegelt ist, am deutlichsten freilich in Gawan selbst, beständig changierend zwischen Identität und Opposition. 4 0 Gawan

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Die Szene findet sich 700,25-707,14. Vgl. dazu auch oben Anm. 33. Deutlich kommentiert dies der Erzähler: »got des niht langer ruochte, / daz Parzival das re nemen / in siner hende solde zemen: / daz swert er Ithere nam, / als siner tumpheit do wol zam.« (744,14-18). Bertau (wie Anm. 37) spricht von »Zweipoligkeit«, die »variabel zwischen Opposition und Identität« schwankt, »ohne sich je auf beide Extreme einzuschwören« (982); Schu (wie Anm. 29) stellt die narrative Funktion dieser Verdopplung der Handlungsträger ins Zentrum ihrer klugen Analyse: Der Erzähler öffne dadurch offensiv »Deutungsspielräume« der epischen Welt (325) und mache »den Plural der Wirklichkeiten« nar-

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ist die Leinwand im Vordergrund, durch die und auf der Parzival als Schatten erst wahrnehmbar wird. 41 Denn: Es gibt kein Rollenmodell und insofern keinen adäquaten eigenen Körper fiir einen Ritter, der ritterlich kämpft, aber nicht um Minne zu erwerben, sondern um etwas, von dem man nicht wissen kann, wie man es bekommt und ob kämpfen dafür überhaupt etwas nützt. Und es gibt kein Rollenmodell und keinen Körper für einen, den die höfische Gesellschaft in hohem muot als ihren Hervorragendsten feiert, dessen Herz aber voll jämer und sorgen ist, weil er nicht weiß, ob er nicht doch zu etwas anderem bestimmt ist. Parzivals zunehmende Präsenz und Sichtbarwerdung ist ein prekärer Versuch, ihm Rollenmodelle durch körperliche Attribute und Gesten zu verleihen, die ihm allesamt nicht angemessen sind und deshalb nur Spiegelungen, Reflexe, geborgte Requisiten sind. Es sind Versuche, ihm Körper anzuprobieren, die ihm alle nicht recht passen. Auch am Ende wird Parzivals Körper sichtbar: weniger, indem er aus dem Spiegel heraustritt, sondern eher, indem er mit dem Spiegel eins wird. Die beiden finalen Verwandtenkämpfe mit Gawan und Feirefiz sind tatsächlich als Kämpfe mit einem Spiegel inszeniert. Beschrieben sind zwei Körper, die ununterscheidbar agieren, die ineinandergleiten, vollends nach dem Kämpfen, wenn Parzival in den permanent repetierten Formeln wie »mit dir selben hast du hie gestrftn« (752,15) mit Feirefiz verschmilzt,42 und beide trinitarisch mit ihrem Vater Gahmuret verschmel-

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rativ erfahrbar (360). Dazu auch Czerwinski (wie A n m . 4), 1 3 3 - 1 4 7 , u n d Stein (wie A n m . 25), 6 3 - 6 9 . Vgl. dazu die ausfuhrlichen Analysen zu Gegenbildlichkeit u n d W i e d e r h o l u n g von M o h r (wie A n m . 32); D a g m a r Hirschberg, Untersuchungen zur Erzählstruktur von Wolframs »Parzival«. Die Funktion von erzählter Szene und Station für den doppelten Kursus, G ö p p i n g e n 1976, 188ff.; M a r i a n n e W y n n , »Parzival and G ä w ä n — H e r o and C o u n terpart«, Beiträge 84 (1962), 1 4 2 - 1 7 2 ; Sidney M . J o h n s o n , »Parzival and G a w a n : T h e i r Conflict of Duties«, in: Wolfram-Studien 1, hrsg. von W e r n e r Schröder, Berlin 1970, 9 8 - 1 1 6 ; J o a c h i m B u m k e (wie A n m . 22), 1 5 7 - 1 6 4 . — Für Chretiens Conte du Graal u n d die Frage nach d e m Verhältnis der Protagonisten Perceval u n d Gauvain bzw. der R o m a n t e i l e vgl. die - freilich auch i m Hinblick auf Wolframs Parzival äußerst ergiebige - ausfuhrliche Darstellung von E r d m u t h e DöfFinger-Lange, Der Gauvain-Teil in Chretiens Conte du Graal. Forschungsbericht und Episodenkommentar, Heidelberg 1998. Elke Brüggen hat jüngst am Beispiel der Ampflise die B e d e u t u n g der >Schattenfiguren< für Wolframs Erzählen herausgearbeitet (»Schattenspiele. B e o b a c h t u n g e n zur Erzählkunst in Wolframs Parzival«, Wolfram-Studien 18, Berlin 2 0 0 4 , 1 7 1 - 1 8 8 ) , u n d m a n mag überlegen, ob Parzival w ä h r e n d der Gawan-Partien der Typik einer solchen Schattenfigur entspricht. Ähnliche F o r m u l i e r u n g e n in der gleichen R e d e des Feirefiz: »dune wertest m i r m i n selbes lip« (752,19); in der R e d e des Erzählers f i n d e n sich ebensolche Identitätsformeln: »ieweder des anderen herze truoc« (738,9); »sit ein verch u n d ein bluot / solch u n g e n ä d e ein ander tuot« (740,3-4); »man mac wol j e h n , sus striten sie, / der se b e d e n e n n e n wil ze zwein. / si w a r n doch bede niht wan ein. / m i n b r u o d r u n d ich daz ist

l e b e n d e c begrabn. Ein Versuch über Parzivals

Unsichtbarkeit

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zen. 4 3 A b e r ist dies n u n sein Körper? D i e pure körperliche Evidenz der Vatersippe? 44 Das Zerbrechen des Ither-Schwertes, dieses primordialen Symbols einer geborgten R o l l e und eines für die Figur Parzival im G r u n d e längst desavouierten ritterlichkämpferischen Rollenmodells, ist ein gewaltsames erzählerisches Konstrukt, und als solches ist es offensiv ausgestellt. D e n n längst schon hatte er das ihm von Anfortas verliehene Schwert, das Gralschwert, z u m Kämpfen, es war schon einmal zerbrochen u n d er hatte es wieder geheilt - aber das Gralschwert ist aus der Erzählung verschwunden, 4 5 gegen seinen Bruder muss es das Ither-Schwert sein, das zerbricht u n d mit i h m vollends die Idee, dass das, was n o c h aussteht, mit ritterlichen M i t teln zu erreichen sei. 46 Es ist sicherlich kein Zufall, dass wir von Parzival im sechzehnten B u c h kein Bild, keine Beschreibung m e h r erhalten. Er legt R ü s t u n g e n

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ein lip« (740,26-29). Ganz ähnliche Formulierungen finden sich beim Gawan- Kampf: »erkantiu sippe und hoch geselleschaft / was da mit hazlicher kraft / durch scharpfen strit zein ander komen« (680,13-15); [Parzival:] »ich hän mich selben überstriten« (689,5); [Gawan:] »hie hänt zwei herzen einvalt / mit hazze erzeiget ir gewalt. / din hant uns bede überstreit. [...] du hast dir selbe an gesigt« (689,27-690,1). In beiden Kämpfen werden kaum mehr einzelne Körper beschrieben vom Erzähler, sondern es wird von Anfang an erzählt, was si, also Parzival und Gawan bzw. Parzival und Feirefiz, jeweils zugleich taten und dachten, was ihre Rösser und Lanzen und Schwerter taten. Die Identifizierung der Spiegelkörper reicht bis weit in die Beschreibung hinein. Allein in den Endphasen der Kämpfe, als einer den anderen zu überwinden droht (im Gawan-Kampf ab 688,11, im Feirefiz-Kampf ab 743,23), treten die Ritterkörper mit ihren Attributen und Waffen auseinander und werden als einzelne und einzeln handelnde in der Beschreibung identifizierbar und gleichsam sichtbar. So sagt Feirefiz: »wil ich der wärheit grifen zuo, / beidiu min vater unde ouch duo / und ich, wir wären gar al ein, / doch ez an drien stücken schein.« (752,7-10). So Czerwinski (wie Anm. 4), 151: »[...] im Kampf [...] erweist sich endlich die Einheit der Edelsten im Bilde des dynastischen Körpers, in dem einer kollektiv-reflexiven Korporal-Identität: corpus mysticum«. Alexandra Stein (wie Anm. 25), 137f., spricht von »Eingliederung in den eigenen Sozial- und Sippenkörper« (137f.).Joachim Bumke (wie Anm. 22), 97-99, möchte dieses Motiv der identifizierenden Verschmelzung allerdings vor allem auf Parzivals Selbsterkenntnis beziehen. Dass Parzival dieses Schwert tatsächlich fuhrt und im Kampf benutzt, erfahren wir nur aus einer einzigen Stelle, als nämlich am Beginn des neunten Buches der Erzähler die viereinhalb Jahre seines Kämpfes in Gottesferne nach Cundries Verfluchung resümiert (434,1 Iff.) und dann kurz von dem Zerbrechen des Schwertes und der wundersamen Heilung desselben in dem Quell Lac bei Karnant berichtet (434,25-30), was Parzival schon von Sigune angekündigt worden war (253,24ff).Vgl. dazu den Kommentar von Eberhard Nellmann in: Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach d. Ausg. Karl Lachmanns rev. und komm, von Eberhard Nellmann, übertr. von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8, 1-2), 593f„ 657f. und 760. Ähnlich Haug (wie Anm. 22), 214; Neudeck (wie Anm. 25), 74; Stein (wie Anm. 25), 140.

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ab u n d wieder an, Gewänder an u n d wieder ab — aber welche Rüstung, welche Gewänder erfahren wir nicht. Ist es n o c h i m m e r Ithers harnaschl Welcher sonst? Es scheint n u n gleichgültig. A n der einzigen Stelle, an der seine äußere Erschein u n g über den Vollzug überpersönlich-ritueller Gesten hinaus jetzt n o c h erwähnt wird, ist nun er, der engelsgleiche Schöne, ein negatives Spiegelbild des erlösten Anfortas: »Parziväls schoen was nü ein wint« (796,7). Anfortas ist ja auch ab jetzt ein >normaler< Gralritter u n d kein Gralkönig — der Erwählte selbst aber hat auf der Ebene des Geschehens keinen K ö r p e r mehr, so wie ja auch der Gral keinen w a h r nehmbaren K ö r p e r hat, bloß ein Stein-Ding mit einem R a n d ist.

Narration U n d damit endlich zur eigendich interessanten Frage u n d damit auch z u m Schluss: Was wäre ein narrativer Sinn dieser Konzeption? Auf welchen Wegen ein aus der Huld Gefallener die Huld wiedererlangt, ist nicht codifizierbar; welche Möglichkeiten zur satisfactio, zur buoze bestehen, ist Sache heimlicher, unsichbarerVerhandlungen; wie es von einem Zustand z u m anderen k o m m t , ist nicht als Prozess beschreibbar. Benennbar sind n u r die Zustände: das humiliter servire u n d humiliter prosequi, die Unsichtbarkeit vorher; die deditio, die sichtbare U n t e r w e r f u n g am Ende, die A u f h e b u n g bedeutet, die aber nur die Inszenierung des zuvor verhandelten Ergebnisses ist. Zwischen Parzival u n d d e m Gral bzw. Gott aber gibt es keine vermittelnden Gespräche, nichts was als buoze zu verhandeln wäre, humiliter servire eröffnet i h m nicht die Möglichkeit, Mediatoren zu suchen - es bleibt b e i m bloßen servire, b e i m D i e n e n als solchem. U n d das kann nur so gedacht werden, wie es das ritterliche Modell hergibt, als ein striten, auch w e n n völlig unentschieden bleibt, was striten mit der Gralberufung u n d d e m Wiedererlangen von Gottes H u l d zu tun hat. A b e r genau das scheint es zu sein, was humiliter, was >demütig< meint — eine Pascal'sche Wette sozusagen, weil es alles zu gewinnen u n d nichts m e h r zu verlieren gibt; ein reines >Trotzdem< des Höffens auf Gnade, zu der es keinen sichtbaren, beschreibbaren Weg gibt. 4 7 U n d es gibt keine kausale Logik des Handelns, kein mit einem

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Vgl. Hirschberg (wie Anm. 41), insbes. 352—359. So auch die Zielrichtung von Walter Haugs Deutung (wie Anm. 22), der diesen »weglosen Status« vor allem auf die Figur Parzival als neuartige Darstellung »des zugleich bösen und guten Menschen« (214), des >elsternfarbenen< Menschen des Prologs bezieht. Insofern mag man meine Überlegungen als Ausweitung und strukturelle Abstrahierung von Haugs Deutung im Hinblick auf die narrative Gesamtkonzeption verstehen, was Haug freilich schon andeutet: »Hier gibt es keinen Weg, über den der Widerstand linear auszufalten wäre. [...] Es gibt prinzipiell keinen Weg mehr. Deshalb werden die objektiven Wegschemata von Wolfram zwar zitiert und dem Helden auch von außen - insbesondere über den

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permanenten, konsistenten Körper auszustattendes Konzept, das dies plausibel motivieren könnte — Parzival bleibt unsichtbar und schattenhaft. Die Wiederaufnahme in die Huld findet im Erzählen einfach statt, sie wird schlicht gesetzt: Das Schwert zerbricht, und auf Munsalvaesche wird - im selben Moment, so kann man es sich am schönsten zurechtdenken 48 — die Inschrift auf dem Gral gelesen. Statt einer kohärenten Motivation wird uns ein mythisches Analogon geboten: Der keusche Sünder ist der Erwählte, der Schwestersohn ist der Königserbe. Es konfligieren hier die beiden fundamentalen Prinzipien des Erzählens: Geschehenslogik und Erzähllogik, kausale und finale Motivation, Motivation von vorne und von hinten. Man mag sagen, das sei im vormodernen Erzählen, zumal im höfischen Roman, immer so. 49 Sicherlich — doch Wolfram hat, so scheint mir, durch die O r i entierung an feudalen, sozio-kulturellen Denk- und Wahrnehmungsmustern eine besonders eindringliche Form gefunden, dies darzustellen und als narrative Aporie offen zu legen. Wolfram inszeniert die Erlösung und Erwählung als ein Ritual - ein Ritual, das eben genau das als spontan inszeniert, was vorher schon feststeht. Für die Rezipienten ist dies durchschaubar, aber so funktionieren höfische R i t u ale. Anfortas bittet Parzival, ihn sterben zu lassen, denn sein ritueller Körper darf nicht wissen, was alle wissen und was sein geschehenslogischer, todkranker Körper wissen muss: Dass Parzival die Frage jetzt gleich stellen wird. 50 Parzival wirft sich dreimal in Richtung des Gral auf die Knie - ein deditio-Ritual

als Demutsgeste, das

den Herrscher angeblich spontan gnädig stimmen soll, genauso wie die rituellen Tränen, die Parzival vergießt 51 - , und er stellt die Frage, die er schon dem Wort-

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Artushof und über Trevrizent — untergeschoben, aber nur zu dem Zweck, sie zusammenbrechen zu lassen« (213). So auch Bumke (wie Anm. 23), 94, und Schu (wie Anm. 29), 413. Dazu und zur von mir verwendeten Terminologie Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, Frankfurt a.M. 1976 [zuerst Berlin 1932], und Marias Martinez, Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen 1996. Auch Cornelia Schu (wie Anm. 29) nennt Parzivals Berufung zum Gralkönig »ein hervorragendes Beispiel für eine Doppelmotivation« in diesem Sinne (314, Anm. 5). Der Todeswunsch des Anfortas wird breit auserzählt: einmal in einer Rede an die Gralgesellschaft (787,4—788,12), einmal in direkter Rede an Parzival unmittelbar vor der Erlösungsfrage (795,1—14). Joachim Bumke schreibt dazu: »[...] man geht mit ihm [Anfortas] um, wie mit einer Marionette. Offenbar hat man den Inhalt der Gralinschrift vor Anfortas verheimlicht.« (»Parzival und Feirefiz« [wie Anm. 29], 239). Man darf bezweifeln, ob solche handlungslogischen Überlegungen noch angemessen sind. Angemessener scheint mir, die Irritation als bewusstes Ausstellen der konfligierenden Erzähl- und Figurenkörper-Konzepte zu begreifen: Das Marionettenhafte scheint mir genau der Effekt moderner Wahrnehmung eines radikal rituellen Körpers zu sein. Parzivals Worte »op diu gotes güete an mir gesige« (795,22) kann man als geradezu topischen performativen Sprechakt der Unterwerfung nach dem Muster >Mache mit

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laut nach kennt u n d auf die er mittlerweile schon sechsmal hingewiesen wurde. 5 2 A b e r er stellt sie e b e n so, als ob es eine spontane Frage sei. U n d n a c h d e m A n f o r tas wieder gesund ist, wählt die Gralgesellschaft Parzival z u m König, so w i e m a n j a auch Anfortas einst z u m Gralkönig wählte — als ob da etwas zu w ä h l e n sei, n a c h d e m die Schrift auf d e m Gral erschienen ist. 53 N a i v - m ä r c h e n h a f t , belustigend wird das n u r d e m erscheinen, der d e n Charakter feudaler R i t u a l e u n d ihre Anpassungsfähigkeit nicht kennt. 5 4 W u n d e r n darf m a n sich aber schon, mit welcher R i g i d i tät dies ausgespielt wird.

mir, was du willst< begreifen, wie es Althoff beschrieben hat (»Huld« [wie Anm. 5], 212). Zum Weinen (»alweinde Parzival do sprach«, 795,20) als Bestandteil von höfischen Ritualen und Zeremonien vgl. Gerd Althoff, »Empörung, Tränen, Zerknirschung. Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters«, in: G. Α., Spielregeln der Politik (wie A n m . 5), 2 5 8 - 2 8 1 . 52

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Auf Notwendigkeit und Macht der Frage nach dem Leiden des Gralkönigs wurde er hingewiesen 1. von dem unsichtbaren Knappen am Morgen nach der ersten Gralbegegnung (247,27-28), 2. kurz darauf von Sigune (254,28-30 und 255,17-19), 3. von Cundrie bei der Verfluchung (316,3-317,2), 4. ein weiteres Mal von Sigune kurz vor der Begegnung mit Trevrizent (441,20-30), 5. von Trevrizent mit wörtlicher Formulierung einer Frage (»herre, wie stet iwer not?«, 484,27) und 6. ein weiteres Mal von Cundrie bei der Gralberufung (782,23—30). Parzivals Wahl zum vom Gral schon vorab bestimmten Gralkönig durch die Gralgesellschaft 796,17—21. Auch Anfortas, den ältesten Sohn und schon je an erster Stelle der dynastischen Erbfolge stehend, hatte man einst beim Tode seines Vaters förmlich zum König gewählt, sogar schon als Kind (478,17). Solche »Kombination von Erbund Wahlrecht entspricht der bei der deutschen Königswahl lange Zeit üblichen Praxis«, wie Eberhard Nellmann (wie Anm. 45), 687, treffend kommentiert und ist insofern gar kein »Widerspruch, der Wolfram unbekümmert ließ« (Ruh [wie Anm. 27], 101). Dazu auch Konstantin Pratelidis, Tafelrunde und Gral. Die Artuswelt und ihr Verhältnis zur Gralswelt im Parzival Wolframs von Eschenbach, W ü r z b u r g 1994, 47—50, u n d

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Joachim Schröder (wie Anm. 4), 316-317. Im Lichte der Ritualtheorie ist die Gralkönigswahl Parzivals sowie die »spontane Abwandlung< der Frage durch Parzival (»ceheim, waz wirret dier?« 795,29) gegenüber Trevrizents Vorgabe (»herre, wie stet iwer not?« 484,27) keineswegs dazu geeignet, den rituellen Charakter bzw. die Geltung des performativen Aktes irgendwie in Frage zu stellen, wiewohl die Verschiebung von dem distanzierten Neugierfrage-Charakter zum persönlicheren Mideidfrage-Charakter signifikant bleibt. Mir scheint aber in dieser zunächst überraschenden Formulierung mehr die Pseudo-Spontaneität und der spielerische Märchencharakter der Narration markiert als eine tiefergehende >Wandlung< Parzivals zur Humanität. (Vgl. auch den Kommentar von Eberhard Nellmann [wie Anm. 45], 693 und 775, zu diesen Stellen.) Rituale erfordern und ermöglichen jederzeit solche spezifischen Abwandlungen, insbesondere das Ritual der deditio. Dazu Gerd Althoff, »deditio« (wie Anm. 11), 111—113, und allgemein zur >Gemachtheit< und Variabilität feudal-höfischer Rituale und ihrer Darstellung (mit historischem Akzent) Althoff, Die Macht der Rituale (wie Anm. 10), insbes. 9-31 und 187-203, (mit literarhistorischem Akzent) Dörrich (wie Anm. 10), insbes. 1—63. Zum zeremoniellen und

l e b e n d e c b e g r a b n . Ein Versuch über Parzwals

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Unsichtbarkeit

Hier, am Ende, unterliegen die Körper der O r d n u n g der Rituale. Dass dies mit der O r d n u n g einer logisch-kohärenten Handlung bruchlos zu verfugen sei, wird gar nicht prätendiert. U n d ebenso wenig, dass es bruchlos mit j e n e n K ö r p e r n zu gestalten sei, die der Logik einer handelnden, intentionsgeleiteten Figur gehorchen, die als Funktion des Geschehens konstruiert ist. Auf Figurenebene bildet sich in Parzivals eigentümlicher Wahrnehmungsschwäche, so hat es Walter H a u g jüngst formuliert, das aporetische Verhältnis von menschlichem, willensgeleitetem Handeln u n d göttlicher, unverfügbarer Gnade ab. 55 Auf Erzählerebene ist es das Problem, dass sich das vorgegebene Erzählziel, das finale Paradigma sozusagen, nur unvollständig auf ein Syntagma projizieren lässt. Aus der Tatsache, dass Β nach Α k o m m t , folgt eben nicht, dass Β aufgrund von Α geschieht. Parzival hat gekämpft um u n d für den Gral und die Huld, und am E n d e b e k o m m t er den Gral und die Huld. Das heißt nicht, dass er das b e k o m m e n hat, weil er gekämpft hat. Aber ohne Kämpfen u n d D i e n e n kann er ihn wohl auch nicht b e k o m m e n . Dies ist, u m es boethianisch zu formulieren, von vorne betrachtet Fortunas Logik der Willkür, von hinten u n d o b e n betrachtet ist es Gottes Providenz 5 6 — oder eben die Perspektive des Erzählers Wolfram von Eschenbach, der von sich selbst am Ende sagt, dass er Schloss u n d Schlüssel der Geschichte im M u n d e habe und den Helden dorthin transportiert habe, »dar sin doch sselde het erdäht« (»wo sein Heil ihn hingedacht hat«). 57 Das an Parzival, was ihn innerhalb einer geschehenslogischen Abfolge zum Gralkönig macht oder qualifiziert, ist seinem K ö r p e r nicht beizumessen; dafür scheint es keine konzeptualisierbare, kohärent darstellbare a n t h r o p o m o r p h e Verfleischiichung zu geben. Aber siebzehn unerzählte Jahre auf einem Stein als buoze waren für Wolfram offenbar keine befriedigende Lösung. 5 8 Wolfram lässt seinen Helden >lebendig

rituell-formalen Charakter des Schlusses vgl. auch Bertau (wie Anm. 37), 1019-1023, s o w i e K a r l B e r t a u , Über Literaturgeschichte.

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Literarischer

Kunstcharakter

und Geschichte

in

der höfischen Epik um 1200, München 1983, 67-73, der von der »betrunkenen Opernhaftigkeit des Schlusses« und »zitierter Spontaneität« spricht (68). Walter Haug, »Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram«, in: Greenfield (wie Anm. 20), 37-65, insbes. 62-64.

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D a z u F r e d e r i k P. P i c k e r i n g , Augustinus oder Boethius? Geschichtsschreibung Dichtung im Mittelalter und in der Neuzeit, 2 B d e . , B e r l i n 1 9 7 6 .

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»[...] wände ich in dem munde trage / daz slöz dirre äventiure« (734,6-7); »niht mer da von nu sprechen wil / ich Wolfram von Eschenbach, / wan als dort der meister [Kyöt der Provenzäl] sprach. / siniu kint, sin hoch geslehte / han ich iu benennet rehte, / Parziväls, den ich hän bräht / dar sin doch saelde het erdäht.« (827,12-18). Hartmann von Aue, Gregorius, hrsg. von Hermann Paul, 13. Aufl. von Burghart Wachinger, Tübingen 1984 (ATB 2), V. 3101 ff. Das Motiv der 17 unerzählten Jahre scheint ein Legendentopos zu sein, es taucht schon in der französischen Alexiuslegende um

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und

epische

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Stephan

Fuchs-Jolie

begraben< sein: aufgelöst und zerlegt in diverse Bestandteile einzelner Rollen, so unsichtbar und doch vorhanden, so perspektivenlos und doch auf Hoffnung angewiesen wie einen Vasallen, der dazu verurteilt ist, seinen Körper vor dem Antlitz des Herrn zum Verschwinden zu bringen. Seine Konzeption des in Demut dienenden, auf verschiedene Weisen unsichtbaren, schattenhaften, wiederauftauchenden Helden geht mit der Nicht-Uberfuhrbarkeit von Handlung in Erwählung, mit der Spannung zwischen kausaler und finaler Erzähllogik offensiv um. Diese Logiken des Erzählens und die mit ihnen verbundenen Konzeptualisierungen von Figuren als Konstrukte von Körpern sind nicht ineinander zu überfuhren, die Lücke, die zwischen ihnen klafft, ist narrativ nicht auszufüllen. Und die Chiffre für diese Lücke der Unsagbarkeit ist die vielgestaltige Unsichtbarkeit des heldischen Körpers - und vermutlich ebenso die Unsichtbarkeit des Gralkörpers. 59 Doch darüber wäre gesondert nachzudenken.

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1040 verdoppelt auf (Das Leben des Heiligen Alexius, übers, von Klaus Berns, München 1968 [KTRMa 6]). Dazu Hans-Georg Soeffner, »Appräsentation und Repräsentation. Von der Wahrnehmung zur gesellschaftlichen Darstellung des Wahrzunehmenden«, in: Hedda Ragotzky, Horst Wenzel (Hrsg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, 43—63, der die »ungegenständliche Erscheinung des Grals als ein »von Gegenständlichkeit nahezu befreites Zeichen« beschreibt, an dem das Wesen von Repräsentation »exemplarisch vorgeführt« werde (60f.).

Joerg Ο. Fichte

Wunden, Blut und Blutsbande in Malorys Morte Darthur

Abstract: T h e purpose of this paper is to trace the structural impact of wounds, blood, and blood relationships in Malory s Morte Darthur. The topic first broached in the Balin episode foreshadows both the thematic and narrative development of the last three tales, »The Tale of the Sankgreal«, »The Book of Sir Launcelot and Queen Guinevere«, and »The Most Piteous Tale of the Morte Arthur Saunz Guerdon«. Internecine feuds that erupt for the first time in the Balin story are continued to the very end of the Morte Darthur, that is, Arthur's noble vision of a brotherhood of knights is destroyed by the dictates of an archaic concept of justice. So, a profusion of real blood is finally spilled on the battle field. In addition to their literal significance in the Morte Darthur, blood and wounds have a symbolic meaning. Wounds are often indicative of moral failure such as Gawain s, Percival's and Lancelot's wounds. Blood, finally, also betokens genealogy, especially in reference to Galahad and Modred, the two representatives of a holy and an unholy blood line, which is either sanctified or extirpated.

Angesichts der Tatsache, dass Untersuchungen von Körper, Körperlichkeit und Körperschaften in der Forschung zur englischen Literatur des Mittelalters seit mehr als zwanzigjahren eine wichtige R o l l e spielen, 1 ist es geradezu erstaunlich, dass eines der bedeutendsten und umfangreichsten englischen Werke des Spätmittelalters, Malorys Morte Darthur, v o n dieser Fragestellung w e i t g e h e n d unberührt geblieben ist. 2 Altere Studien thematisieren zuweilen Malorys Vorstellungen v o n aristokratischen Korporationen, ζ. B. der Tafelrunde, i m Zusammenspiel mit und i m G e g e n satz zur Zentralgewalt des Herrschers, also K ö n i g Artus. Sie untersuchen dabei die Verwendung v o n Körpermetaphern in zeitgenössischen politischen Traktaten u n d ihren Gebrauch i m Morte Darthur? Jüngere Arbeiten, die sich mit nichtverbaler Kommunikation befassen, bedienen sich insbesondere des umfangreichen Morte

1

2

3

Vgl. Darryll Grantley, Nina Taunton (Hrsg.), The Body in Late Medieval and Early Modern Culture, Aldershot u.a. 2000, besonders die Bibliographie 227-244. Die folgenden Studien verdienen Erwähnung: David McGuiness, »Purple Hearts and Coronets: Caring for Wounds in Malory«, Arthurian Interpretations 4 (1989), 43-54; Catherine Batt, >»Hand for Hand< and >Body for Bodyo Aspects of Malory's Vocabulary of Identity and Integrity with Regard to Gareth and Lancelot«, Modern Philology 91 (1994), 269-287; Paul Perron, »On Re-reading Malory's Le Morte d'Arthur. The Launcelot Episode«, Semiotica 108, 1/2 (1996), 65-82, und Andrew Lynch, Malory's Book of Arms: The Narrative of Combat in »Le Morte Darthur«, Cambridge 1997. Vgl. Elizabeth T. Pochoda, Arthurian Propaganda: »Le Morte Darthur« as an Historical Ideal of Life, Chapel Hill 1971.

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Joerg Ο. Fichte

als ergiebiger Quelle fur mittelalterliche Körpersprache. 4 Wird das Thema »Körper« jedoch in der jüngsten Forschung aufgegriffen, dann vor allem in Bezug auf geschlechtsdeterminierte Körper, d.h. weibliche und männliche Körper und ihre hetero- bzw. latent homosexuellen Beziehungen. Traditionelle Männer- und Frauenrollen im Morte Darthur sowie deren Verschiebungen im Geschlechterdiskurs sind folglich sowohl aus soziopolitischer Perspektive als auch unter dem Aspekt der Körperlichkeit untersucht worden. 5 Wie allgemein bekannt, beruht körperliches Wohlbefinden mittelalterlicher Auffassung zufolge auf der Ausgeglichenheit der vier Körpersäfte. Obwohl sich Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim galenischer Humoralpathologie zufolge in einem ausgewogenen Zustand befinden müssen, kommt den einzelnen Körpersäften unterschiedliche Bedeutung zu. Das sich daraus entwickelnde Viererschema begünstigte die Parallelisierung der verschiedensten Bereiche, die nicht nur die Medizin mit Physiologie, Pathologie, Pharmakologie und Diätetik betrafen, sondern auch die Himmelsrichtungen, die Elemente und die Jahreszeiten. Geschlecht und Alter werden durch die Körpersäfte bestimmt: das männliche Prinzip ist durch gelbe Galle, das weibliche Prinzip durch Schleim gekennzeichnet. Der Kindheit ist das Blut, der Jugend die gelbe Galle, dem Mannesalter die schwarze Galle und dem Greisenalter der Schleim zugeordnet. Die Dominanz eines Körpersaftes bestimmt also sowohl das Temperament des Menschen als Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker oder Phlegmatiker als auch das Lebensalter.6 Blut ist ein ganz besondrer Saft - diese Ansicht von Mephistopheles entspricht landläufiger mittelalterlicher medizinischer Auffassung. Blut ist das Lebenselixier und deshalb nicht nur ein Merkmal des heranwachsenden Menschen, sondern auch seiner gesunden Fortpflanzungsfähigkeit. Einer Theorie zufolge produzierte starkes männliches Blut starkes Sperma, das die Charaktereigenschaften des Vaters auf den Sohn übertrug, schwaches männliches Blut jedoch schwaches Sperma, das bei der Darthur

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5

Vgl. W e r n e r Habicht, Die Gebärde in englischen Dichtungen des Mittelalters, M ü n c h e n 1959,

und John A. Burrow, Gestures and Looks in Medieval Narrative, Cambridge 2002. Vgl. Andrew Lynch, »Gesture and Gender in Malory's Le Morte Darthur«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Arthurian Romance and Gender, Masculin/Feminin dans le roman arthurien medieval. Geschlechterrollen im mittelalterlichen Artusroman, Amsterdam, Atlanta 1995,

285-295; Kathleen Coyne Kelly, »Malory's Body Chivalric«, Arthuriana 6 (1996), 5 2 71, u n d D o r s e y A r m s t r o n g , Gender and the Chivalric Community 6

in Malory's

»Morte

d'Arthur«, Gainesville 2003. Vgl. Erich Schöner, Das Viererschema in der antiken Humoralpathologie, Wiesbaden 1964, 86-95.

Wunden, Blut und Blutsbande in Malorys M o r t e D a r t h u r

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Z e u g u n g durch weibliches Blut beeinflußt werden konnte. 7 Mit dieser hämatologisch fundierten Fortpflanzungstheorie könnte man die unterschiedlichen Charaktere von Galahad und Mordred erklären: der eine der Erbe von Lancelots Tugenden u n d der andere der Erbe von Morgauses U n t u g e n d e n . 8 Die besondere Stellung des Bluts innerhalb des Systems der Humoralpathologie erklärt die Wichtigkeit von Blutsbanden u n d Blutsbündnissen, aber auch von Blutrache und Blutfehden, sowie von allerlei R i t e n , die mit Blut verbunden sind, wie Blutopfer, Blutzauber, das Heilen mit Blut und das Trinken von Blut. 9 Manches davon mag archaisch erscheinen u n d deplaziert in einem höfischen R o m a n , doch Blut, das nicht nur im Kampf vergossen wird, spielt auch in Malorys Morte Darthur eine entscheidende Rolle. Es hat reale u n d symbolische Bedeutung sowie heilende und unheilstiftende Wirkung. 1 0 Blutsbande bestimmen den Lauf der Handlung. Lustvoller Inzest fuhrt zum Untergang des Artusreichs u n d providentiell sanktionierte Vereinigung zur Vollendung der Gralsqueste. Zwei illegitime Söhne, der unheilige Bastard Mordred, das letzte Glied in einer moralisch fragwürdigen Herrschergenealogie, u n d der heilige Bastard Galahad, ein Nachfahre Jesu Christi in der neunten Generation, besiegeln durch ihre Erbanlagen das Schicksal von Logres. Seliges und unseliges Blut, so will es die Erzählung, determinieren die Artusgeschichte. Diese Artusgeschichte blickte zu Malorys Zeit, d.h. zur Entstehungszeit des Morte Darthur u m 1470, bereits auf eine 335-jährige Geschichte zurück. Die Historia Regum Britanniae von Geoffrey of M o n m o u t h enthält einige »historische« Ereignisse, die auch imVulgata-Zyklus aus d e m ersten Drittel des 13. Jahrhunderts erscheinen. Es ist vor allem dieser erste große Zyklus bestehend aus fünf Prosaromanen, auf den Malory zurückgreift. D o c h er integriert auch den Prosa- Tristan in das Artusgeschehen u n d macht Anleihen an die Suite de Merlin und den Perlesmus, u m die französischen Hauptquellen seines Morte Darthur zu nennen, zu denen sich n o c h die mittelenglischen Alliterative Morte Arthure und Stanzaic Morte Arthur

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Danielle Jacquart, Claude Thomasset, Sexuality and Medicine in the Middle Ages, übers, von Matthew Adamson, Oxford 1988, 139-141. Zu den Gefahren, die die Liaison von Artus und Morgause in sich birgt, vgl. Dorsey Armstrong, »Malorys Morgause«, in: Bonnie Wheeler, Fiona Tolhurst (Hrsg.), On Arthurian

Women: Essays in Memory of Maureen Fries, Dallas 2001, 1 4 9 - 1 6 0 , hier: 156.

9

Vgl. Μ. Schrenk, »Blutkulte und Blutsymbolik«, in: Karl-Georg von Boroviczeny u.a.

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Zu Blut als Symbol fur Heilung und Verwundung vgl. Jill Mann, »Malory and the Grail Legend«, in: Elizabeth Archibald, Anthony S. G. Edwards (Hrsg.), A Companion to Malory, Cambridge 1996, 203-220, hier: 214. Zu Blut als symbolisches Kapital vgl. die unveröffentlichte Dissertation von Christina Francis, Risking the Body: Blood as Sym-

(Hrsg.), Einführung

in die Geschichte der Hämatologie, Stuttgart 1974, 1—17.

bolic Capital in Sir Thomas Malory's »Morte Darthur«, Arizona State University 2004.

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Joeig Ο. Fichte

gesellen. W e n n m a n also Malorys eigene Leistung bei der Bearbeitung seiner Vorlagen beurteilen will, dann muss m a n zunächst einmal sein Adaptationsverfahren untersuchen, d.h. wie u n d in welchem U m f a n g er seine Quellen benutzt u n d w o er n e u e Akzente setzt. 11 Für die hier geplante U n t e r s u c h u n g ist natürlich nur Malorys A n o r d n u n g u n d Verwendung seiner Vorlagen unter d e m Aspekt von »Wunden, Blut u n d Blutsbanden« von Interesse. 12 Malory misst dieser T h e m a t i k besondere B e d e u t u n g bei, i n d e m er einerseits die Balin-Geschichte aus der Suite de Merlin ü b e r n i m m t u n d an prominenter Stelle in seine einfuhrende Erzählung »The Tale of King Arthur« einbaut, und andererseits diese Episode mit der sehr viel späteren Gralsqueste u n d d e m darauffolgenden »Book of Sir Launcelot and Q u e e n Guinevere« verbindet, zwei Bücher im Morte Darthur, die z u m abschließenden B u c h »The Most Piteous Tale of the M o r t e Arthur Saunz Guerdon« überleiten. Blut als Körperflüssigkeit u n d als Zeichen dominiert diese Erzählungen u n d strukturiert den Verlauf der H a n d lung, d.h. der Blutdiskurs formiert sich in diesen B ü c h e r n zu einer Art von strukturellem und semiotischem Nexus. Die Balin-Geschichte mit der vorhergehenden »Herodes-Episode« aus der Suite de Merlin wird von Malory an der Stelle in seine Arthuriade eingebaut, als Artus' eben erst konsolidierte Herrschaft von innen u n d außen angefochten wird: von innen durch Mordred, von dem Merlin weissagt »ye have gotyn a childe that shall destroy you and all the knyghtes of youre realme« (Ihr habt ein Kind gezeugt, das E u c h u n d alle R i t t e r Eures Reichs zerstören wird) (I, 35), u n d von außen durch den römischen Kaiser, der den i h m zustehenden Tribut einfordert. 1 3 Da Mordred,

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Einen Eindruck von Malorys massiven Eingriffen in seine Quellen vermittelt bereits der stark reduzierte Umfang des Morte Darthur, der in der letzten Ausgabe von Vinaver und Field von 1990 drei Bände mit insgesamt 1260 Seiten umfasst. Derselbe Stoff wird einerseits in der siebenbändigen Vulgata-Ausgabe von Heinrich Sommer (Hrsg.), The Vulgate Version of the Arthurian Romances, Washington 1908- 1916, behandelt und andererseits in der neunbändigen Lancelot Propre-Edition von Alexandre Micha (Hrsg.), Lancelot: roman en prose du Xlle siede, Geneve 1978—1982, zu der dann noch die dreibändige Ausgabe der Gralsgeschichte von Eugene Hucher (Hrsg.), Le Saint-Graal ou le Joseph d'Arimathie: Premiere branche des Romans de la Table Ronde, Le Mans 1875, Albert Pauphilet (Hrsg.), La Queste del Saint Graal, Paris 1923 und Jean Frappier (Hrsg.), La Morte le roi Artu, Geneve 1964 hinzukommen. Im Morte Darthur erscheint das Wortfeld »Wunden« 287-mal und das Wortfeld »Blut« 227-mal, davon 84-mal in der Bedeutung von Blutsverwandtschaft und Adel. Vgl. Tomomi Kato (Hrsg.), A Concordance to the Works of Sir Thomas Malory, Tokyo 1974, 224-235 und 1555-1556. Alle Zitate sind der folgenden Ausgabe entnommen: The Works of Sir Thomas Malory, hrsg. von Eugene Vinaver, Überarb. von P. J. C. Field, 3 Bde., Oxford 1990.

Wunden, Blut und Blutsbande in Malorys M o r t e Darthur

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den Artus zusammmen mit allen Kindern des Adels, die im Mai geboren worden waren, ertränken wollte, auf wunderbare Weise gerettet wird, bleibt die innere Gefahr bestehen, ja sie verschärft sich sogar noch, da die Barone und Edlen des Landes Artus der Ermordung ihrer Kinder wegen grollen und König Royns gegen Artus zu Felde zieht. Zum Zeitpunkt, als Baiin in das Geschehen eingeführt wird, ist Artus' Reich folglich von innen und von außen bedroht. Baiin ist der erste Ritter, der als »passynge good knyght and the beste [...] and moste of worship withoute treson, trechory or felony« (sehr guter Ritter und der beste [...] und der ehrwürdigste ohne Verrat, Arglist oder Verbrechen) (I, 64) bezeichnet wird. Er hat das Potential, zum hervorragendsten Ritter der Tafelrunde zu werden und große Heldentaten zu verbringen, wenn er bereit wäre, auf das gewonnene Schwert zu verzichten. Eigensinn jedoch hält ihn davon ab. Seine Entscheidung, das Schwert zu behalten, löst eine Kettenreaktion unheilvoller Ereignisse aus, so dass Baiin nun unbeabsichtigt und ungewollt eine Blutspur hinterlässt. Er schadet allen, denen er helfen will, und erschlägt schließlich seinen eigenen Bruder im Zweikampf - ein Gefecht, bei dem er selbst ums Leben kommt. Baiin, der durch seine Tapferkeit Artus' Gegner König Royns gefangen nimmt und somit die äußere Gefahr abwendet, ist gleichzeitig eine tragische Figur, die aufgrund ihrer ersten Fehlentscheidung immer tiefer in den Sog der verhängnisvollen Ereignisse gerät. Seine persönliche Tragik besteht darin, dass er diese Entscheidung nicht als seine eigene, sondern als von Gott gewollt ansieht: »I shall take the aventure [...] that God woll ordayne for me« (Ich werde die Aventiure auf mich nehmen, die Gott für mich bestimmt hat) (I, 64). 14 Blut dominiert die Balin-Episode: das Blut Unschuldiger, das von Baiin vergossen wird. Er enthauptet nicht nur die Dame vom See mit dem durch besondere Gnade erworbenen Schwert und schließt sich durch diese Bluttat aus der Rechtsgemeinschaft der Artusgesellschaft aus, sondern er erschlägt auch im Zweikampf

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Über Balins Schuld oder Unschuld bzw. seine Entscheidungsfreiheit oder schicksalhafte Bestimmung ist viel geschrieben worden, wie auch darüber, dass die Verknüpf u n g der Balin-Episode mit der Gralshandlung den Protagonisten determiniert. Für letztere Lesart vgl. Lynch (wie Anm. 2), 22. Als Verfechterin des Zufallsprinzips vgl. Jill Mann, »>Taking the Adventurec Malory and the Suite du Merlin«, in: Toshiyuki Takamiya, Derek Brewer (Hrsg.), Aspects of Malory, Cambridge 1981, 71—91. Ralph Norris, »The Tragedy of Balin: Malorys Use of the Balin Story in the Morte Darthur«, Arthuriana 9 (1999), 52-67, hier: 52, folgend würde ich Malorys Version der Geschichte als »the story [...] of a medieval tragic hero« sehen, nicht aber, weil er »the dignity and the pathos of a tragic hero« (55) besitzt, sondern weil er glaubt, von Gott ausersehen zu sein. Davon steht nichts in Malorys Quelle, in der nur von Balins Interesse an dem schönen Schwert gesprochen wird. Vgl. Gaston Paris, Jacob Ulrich (Hrsg.), Merlin: Roman en prose du XHIe siecle, Paris 1886, I, 217: »Et eil Ii: dist que se la mors i devoit estre, si l'em porteroit il, car trop Ii samble l'espee boine et biele.«

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Joerg Ο. Fichte

Lanceor, der vom Artushof aufgebrochen ist, u m diesen Rechtsbruch zu sühnen. Der Tod Lanceors führt zum Selbstmord seiner Begleiterin (in der Suite de Merlin Lione genannt), die sich aus Gram über den Tod ihres Geliebten mit dem Schwert tötet. Wo immer Baiin auftritt, folgen ihm Tod und Verderben. Selbst Schutzbefohlenen kann er keine Sicherheit gewähren, so ζ. B. Harleus le Berbeus und Peryne de Mounte Belyarde, die der unsichtbare Ritter Garion heimtückisch ermordet. Garion verwundet noch einen weiteren Ritter, der jedoch durch das Blut seines Angreifers geheilt werden könnte. Die Spur fuhrt zu Pellams Palast: Garion, der unsichtbare Ritter, ist König Pellams Bruder. Ihn erschlägt Baiin nun aus Rache. Da dies beim Festmahl geschieht, will sich Pellam für die Schmach der öffentlichen Schande und den Tod seines Bruders rächen. Er verfolgt Baiin, der aus Notwehr den König mit der heiligen Lanze verwundet und durch den »dolerous stroke« (verhängnisvollen Streich) (I, 86) drei Königreiche vernichtet. In der Balin-Episode entfaltet sich die gesamte Artus- und Gralsgeschichte in einer Weise, wie sie imVulgata-Zyklus nicht vorgegeben ist. Malory fügt die Episode aus der Suite de Merlin in einem entscheidenden Augenblick ein, u m einerseits auf den unabwendbaren Untergang des Artusreiches zu verweisen und andererseits auf das Kommen des Gralsritters Galahad. Baiin, der sich von nun an »Balyne le Saveage« (Baiin der Wilde) (I, 86) nennt, ist der unheilvolle Vorbote des auserwählten Galahad. 15 Mit seinem Schwert tötet er wahllos Männer und Frauen, zerschlägt persönliche Bindungen und zerstört schließlich mit dem »dolerous stroke« drei Königreiche, bevor er im blutigen Zweikampf mit seinem Bruder fällt. Zurecht nennt er sich »Balyne le Saveage«, denn als ein von der Gesellschaft Geächteter zerschneidet er mit seinem Schwert alle sozialen Bande. Er ist Täter und Opfer zugleich, dessen Bestimmung es ist, nicht nur Unheil über andere zu bringen, sondern auch seine eigene Sippe auszurotten. Die beiden Brüder Baiin und Balan verbluten auf dem Kampfplatz. Mit ihrem Blut sühnen sie das unschuldige Blut, das Baiin unbedacht vergossen hat. Aus den Brüdern werden durch das gemeinsame »grete blood shedynge« (große Blutvergießen) (I, 89) im wahrsten Sinne des Wortes Blutsbrüder. N u r das Schwert bleibt zurück, das Merlin in einen Marmorstein steckt, aus dem es dereinst von Galahad zu Pfingsten gezogen werden wird. W i e Baiin vor ihm wird Galahad der beste Ritter sein — nach Lancelot der dritte im Morte Darthur, doch im Gegensatz zu Baiin und Lancelot ein Ritter ohne Fehl und Tadel.

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In der Suite de Merlin erhält Baiin den Beinamen von Merlin, nachdem er die Dame gegen alle Z u c h t und Sitte vor Artus' Augen enthauptet hat. Merlin nennt Baiin auch den besten Ritter der Welt. Paris und Ulrich (wie Anm. 14), I, 225: »Je vous [di],« fait Merlins, »(di) qu'il a a non Balaain[s] Ii sauvages, et est, che sai ge bien, Ii millours chevaliers dou monde, par coi j e le plaing.«

Wunden,

Blut und Blutsbande

in Malorys

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Morte Darthur

Die intertextuelle Verbindung der Balin-Episode mit der späteren Gralsqueste beruht jedoch nicht nur auf dem verhängnisvollen Streich und dem Schwert, sondern auch auf dem Brauch des Blutopfers, das zur Heilung einer Schlossherrin allen einkehrenden Mädchen abverlangt wird. Balins Begleiterin wird genötigt, eine Schüssel voll Blut zu spenden, »but hir bloode holpe nat the lady« (aber ihr Blut half der Dame nicht) (1,82). Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass Percevals Schwester sich der gleichen Prozedur unterwerfen und mit ihrem Blut die Dame zwar heilen, selbst aber durch den Aderlass sterben wird. Balins Begleiterin stirbt nicht; sie bewirkt aber auch nichts, ebenso wenig wie Garions Tod, dessen Blut angeblich den verwundeten Ritter hätte heilen sollen. In der Balin-Episode besitzt Blut keine heilende Wirkung, denn es herrscht eine Zeit des Unheils, nicht des Heils. Die Zeit des Heils beginnt erst am Ende der Gralsqueste, wenn das Wunder der Eucharistie seine heilbringende Wirkung zeigt und der auserwählte, reine Galahad zum Heiler und Erlöser wird. Mit dem Blut des Heilands, das aus der Lanze tropft, heilt Galahad den siechen König, und das eucharistische Blutwunder im Gralsreich Sarras verwandelt nicht nur die Hostie in den Leib des Herrn, sondern auch Galahads leiblichen Körper in einen Teil des mystischen corpus domini.16 In Balins Zeit des Unheils wird Blut jedoch nur unnötig im Kampf und Streit vergossen. Jedes Blutvergießen fuhrt zu Blutfehden, zur Destabilisierung der sozialen Ordnung und zur anschließenden Vernichtung des Familien- und Sozialverbands. Nicht von ungefähr beginnt die verhängnisvolle Fehde zwischen den Familien von König Pellynore und von König Lot in der Balin-Episode, nachdem Pellynore Lot im Kampf tödlich verwundet hat. Der Orkney-Clan unter der Führung von Gawain, der später Pellynore eigenhändig töten wird, lebt von nun an in erbitterter Feindschaft mit Pellynore und seinen Verwandten.17 Pellynores Sohn Lamerok wird ebenfalls heimtückisch ermordet, nachdem Gaherys bereits seine Mutter Margause, die er zusammen mit dem Blutsfeind Lamerok im Bett überrascht hatte, kaltblütig abgeschlachtet hat. Das Blutvergießen betrifft also nicht nur die Feinde von außen, sondern zerstört auch die eigene Familie. Es ist emblematisch für eine Gesellschaft, die in einem unheilvollen Clansdenken verharrt. Solange Blutsbande und Sippen-

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Trotz der Namensähnlichkeit ist König Pellam in der Balin-Episode nicht identisch mit König Pelles, dem Großvater Galahads in der »Tale of the Sankgreal«, der ebenfalls durch die heilige Lanze verwundet und von Galahad geheilt wird. In der Forschung ist diese Fehde seit langem als ein strukturgebendes Prinzip im Morte Darthur erkannt w o r d e n . Vgl. Charles M o o r m a n , The Book of King Arthur: The Unity of Malory's

Morte Darthur,

L e x i n g t o n 1 9 6 5 , 61; L a r r y D. B e n s o n , Malory's

»Morte

Darthur«,

Cambridge/Mass. 1976, 240, und Irene Joynt, »Vengeance and Love in >The Book of Sir Launcelot and Queen Guinevere«< in: Richard Barber (Hrsg.), Arthurian Literature, Woodbridge 1983, 91-112, hier: 111.

64

Joerg Ο. Fichte

Zugehörigkeit das Konzept eines auf ethischen G r u n d w e r t e n basierenden R i t t e r verbands in Frage stellen, ist die von Artus propagierte neue Gesellschaftsordnung gefährdet. O b w o h l es zunächst den Anschein hat, als ob es Artus gelänge, das sinnlose T ö t e n zu beenden, d e m vor allem auch wehrlose Frauen u n d M ä d c h e n z u m O p f e r fallen, bleibt die angestrebte O r d n u n g eine Wunschvorstellung. Immer w i e der folgen die R i t t e r d e m R u f des Bluts, der sie zur archaischen Blutrache treibt. Beispielhaft dafür ist Gawains monomanische Rachelust, die ihn nach dem Tod seiner Brüder durch Lancelot dazu veranlasst, den früheren Freund unbarmherzig zu verfolgen. Gegen j e d e Vernunft beharrt er auf d e m Kampf mit Lancelot, der letztlich z u m Untergang des Artusreichs führt. Z u spät erkennt der von Lancelot t ö d lich verwundete Gawain die Konsequenz seines irrationalen Handelns. Die anhaltenden Blutfehden haben Artus inzwischen j e d o c h so sehr geschwächt, dass er für den Kampf gegen seinen rebellierenden Sohn M o r d r e d unzureichend gerüstet ist. D e r Vater-Sohn-Kampf ist das letzte u n d gravierendste Beispiel e n d o gener Zerstörung, die bereits in der Balin-Episode durch den Bruderkampf präfiguriert wurde. Die Vernichtung des Herrschergeschlechts ist die unausweichliche Folge asozialen Handelns. D e r Tod des Vaters durch die H a n d des Sohns und der des Sohns durch die H a n d des Vaters stehen i m markanten Kontrast zur gemeinschaftlichen U b e r w i n d u n g des Irdischen von Vater u n d Sohn. Lancelot und Galahad transzendieren beide die Artusgesellschaft u n d erlangen durch diese Transzendenz eine neue Identität: Galahad als Vollender der Gralsqueste und Lancelot als frommer Einsiedler. Im Gegensatz z u m f r o m m e n , klerikalen Autor der Queste, der mit der Gralsqueste einen geistlichen G e g e n e n t w u r f zu den allzu weltlichen Wertvorstellungen des Artushofs schaffen wollte, wertet Malory das Artusethos u n d dessen hervorragendstenVertreter Lancelot nicht radikal ab. Lancelot wird zwar wegen seines e h e brecherischen Verhältnisses mit der Königin verwarnt, aber nicht verurteilt.Wie sattsam bekannt, strafft Malory seine Vorlage, i n d e m er den allegorischen Uberbau der Queste stark reduziert und die Perceval-Geschichte fast ganz streicht. Damit stehen Galahad u n d sein Vater Lancelot im Mittelpunkt des Geschehens, das bei Malory seinen Aventiurencharakter nie ganz verliert. Im Gegensatz zur Allegorie der Queste, in der die Suche nach dem Gral die Aventiure-Handlung ersetzt u n d somit einzig und allein auf das spirituelle Ziel verweist, läuft die Aventiure bei Malory mit, selbst w e n n sie wie in Gawains Falle negativ konnotiert ist. 18 Im Verlauf der Aven-

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Das Wesen der Aventiure-Handlung in der »Tale of the Sankgreal« im Vergleich zur Queste ist in der Forschung unterschiedlich bewertet worden. Ich neige dazu, die Gralssuche in Malorys Morte Darthur als eine besondere Form der Aventiure zu sehen, in der die Suche nach dem Gral sich mit der Suche nach Abenteuer verbindet und von manchen Rittern, wie ζ. B. Gawain, nur als Abenteuer wahrgenommen wird.Vgl. B e n -

Wunden,

Blut und Blutsbande

in Malorys

Morte Darthur

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tiure-Handlung kommt es zu bewaffneten Konflikten und Zweikämpfen, in denen die Beteiligten getötet oder verwundet werden. Obwohl viele dieser Episoden in der Queste vorgegeben sind, setzt Malory auch hier eigene Akzente, indem er u.a. sowohl die reale als auch die symbolische Bedeutung von Blut und Wunden stärker als in seiner Quelle hervorhebt. Auffällig ist zunächst, dass Blut in der Aventiure-Handlung nur die im Kampf verlieren, die nicht für die Gralsqueste geeignet sind. Gawain ζ. B. wird im Kampf mit seinem Waffengefährten Sir Uwayne an der linken Seite und später im Kampf mit Galahad am Kopf verwundet. Die Kopfwunde ist emblematisch, denn Gawain, der seinen gottgegebenen Verstand hätte nutzen sollen, ist dickköpfig und unbelehrbar, wie seine Reaktion auf die Ermahnungen des Einsiedlers zeigt. Während der Queste erschlägt er ungewollt einige Ritter der Tafelrunde wie auch Sir Uwayne, der durch Gawains Lanze tödlich getroffen wird. Dieses Missgeschick, das Gawain häufig widerfährt, ist der augenfällige Beweis dafür, dass er für die Gralsqueste ungeeignet ist. Das Blutvergießen disqualifiziert ihn für die Gralssuche, die keiner mit unschuldigem Blut an seinen Händen vollenden kann. Er ist einer der schwärzesten unter den 147 schwarzen Bullen, die ihm im Traum erscheinen und laut Aussage des Einsiedlers die 147 unvollkommenen Artusritter darstellen. Sie sind stolz, und es fehlt ihnen an Demut und Geduld. Diesen stehen im Traum die zwei weißen Bullen und der Bulle mit dem einen schwarzen Fleck gegenüber, d.h. Galahad, Perceval und Bors, die - mit Ausnahme von Bors, der einmal verführt wurde —, ihre Keuschheit bewahrt haben. Unter ihnen nimmt Galahad, der vom Einsiedler zuerst genannt wird, die herausragende Stellung ein. Galahad ist der Gegenpart zu Gawain. Dies zeigt sich auch dadurch, dass er während der Gralsqueste nie verwundet wird und somit keinen Tropfen Blut verliert. Im Gegensatz zu Gawain, der zusammen mit den Artusrittern Gareth und Uwayne seine Kontrahenten, die sieben Brüder, tötet, schlägt Galahad seine Gegner nur in die Flucht. Zwischen diesen beiden Polen loziert Malory die anderen Ritter, die er in der »Tale of the Sankgreal« besonders hervorhebt. Solange Lancelot nicht von seiner Bestimmung abweicht und die Gralssuche keusch und demütig verfolgt, wird er nicht in die Wirren der Aventiure verstrickt. Er eifert der Vollkommenheit seines Sohns nach, mit dem er ein halbes Jahr auf dem Boot verbringt, wo aus der gene-

son (wie Anm. 17), 222, und Sandra Ness Ihle, Malory's Grail Quest: Invention and Adaptation in Medieval Prose Romance, Madison 1983, 162. Für eine gegensätzliche Meinung vgl. Dhira B. Mahoney, »The Truest and Holiest Tale: Malory's Transformation of La Queste del Saint Graah, in: James W. Spisak (Hrsg.), Studies in Malory, Kalamazoo 1985, 1 0 9 - 1 2 8 , hier: 123, oder Elizabeth S. Sklar, »Adventure and the Spiritual Semantics of Malorys >Tale of the SankgrealHerr, Ihr könnt tun was Ihr wollt*, sagte die Königin, >aber meinem Ratschlag zufolge sollt Ihr nicht gegen Euren König und gegen Eure Gemeinschaft sein, denn hier sind viele tapfere Ritter, die Eure Blutsverwandten sindThe Healing of Sir Urry< (>Die Heilung von Sir Urryconte fantastique< Smarra ou les demons de la nuit (1821), the >modernity< of medieval literature is evident in Le Bel Inconnu (Renaut de Beaujeu), Le Dit de la Panthere (Nicole de Margival) and the Vita Nuova (Dante Alighieri). Independently of genre (arthurian or non-arthurian texts), the narration manifests a >logical structure< bringing the hero step by step in contact with the >dame< of the Other World. O n the one hand, the sense of aventure is always fateful. O n the other hand, the female figure rests anonymous and nameless. Several physical and metaphysical aspects of the feminine body influence the male protagonist from the beginning: During her absence, she sends >strange< signs (spaces, figures, voices), when she personally appears, she evocates ambivalent effects (fulfilment and humiliation), especially in the way she speaks.The dialogue with the »apparition of the beautiful· reflects, inhibits and stimulates the poetological process of the narrator and the lyrical self. U n eclair...puis la nuit! - Fugitive beaute Dont le regard m'a fait soudainement renaitre, N e te verrai-je plus que dans l'eternite? (Charles Baudelaire, A une passante) Sognarono d'inseguirla. Gira gira ognuno la perdette. (Italo Calvino, Le citta invisibili)

Einleitung I m E p i l o g des Bel Inconnu v o n R e n a u t de B e a u j e u ( u m 1290) - e i n e m h ö f i s c h e n A r t u s r o m a n m i t o f f e n s i c h t l i c h e n R e f e r e n z e n u n d D i f f e r e n z e n zu C h r e t i e n d e Troyes — w e n d e t sich das lyrische Ich mit einer u n g e w ö h n l i c h e n Bitte an die s c h ö n e U n b e k a n n t e , der er die E r z ä h l u n g w i d m e t . N a c h d e m sich der A u t o r erstmals b e i m N a m e n g e n a n n t hat, »RENALS DE BIAUJO

m o l t vos prie« 1 , v e r n e i g t er sich v o r

Ich zitiere im Folgenden nach der Ausgabe: Renaut de Beaujeu, Le Bei Inconnu. Roman d'aventures, hrsg. von G. Perrie Williams, Paris 1983, mit der Sigle BI, hier: V. 6249 (alle folgenden Hervorhebungen stammen von mir).

76

Laetitia

Rimpau

der D a m e seines Herzens, »Bele, vers cui mes cuers s'acline« (BI,V. 6248), und bittet sie bei Gott, ihn keinesfalls zu vergessen, »Por Diu que ne l'obh'es mie.« (BI,V. 6250) Soweit die höfische Konvention. In den nächsten Zeilen schon ändert sich der Tonfall, aus der Bitte wird eine Bedingung. Entweder die D a m e g ö n n e i h m weiterhin ihren Anblick, »Mais p o r u n biau sanblant mostrer« (BI,V. 6255), dann k ö n n e er weitererzählen u n d seinen Helden Guinglain in die A r m e der nackten Fee zurückbringen. Sollte sie sich aber dazu entschließen, i h m ihre Präsenz zu entziehen, bliebe i h m nur eins: die Rache. U n d diese R a c h e hieße Verweigerung des Lustprinzips f ü r alle Beteiligten. Er, der Dichter, w ü r d e sich das Schweigen (also die Höchststrafe für einen Sprachmenschen) auferlegen, »Quant vos plaira, dira avant, / U il se taira ore a tant.« (BI,V. 6253f.) Seinen R i t t e r Guinglain w ü r d e er dazu verurteilen, mit der ungenügsamen Wirklichkeit einer Vernunftehe Vorlieb zu n e h m e n und d e m Liebesglück entsagen zu müssen, »Que ja mais n'avera s'amie. / D'autre vengeance n'a il mie« (BI,V 6261f.). U n d , das wird nicht explizit gesagt, aber implizit gemeint: D e r D a m e wäre durch den Kommunikationsbruch die Freude an der Unterhaltung g e n o m m e n . In den beiden letzten Versen schließlich deutet sich ein möglicher Ausgang an. Ausdrücklich betont das lyrische Ich, so lange hartnäckig im Schweigen zu verharren, bis die D a m e wieder erschiene, »Que ja mais j o r n ' e n parlerai / Tant que le bei sanblant avrai.« (BI,V. 6263—6266) Aus diesen Zeilen klingen weder Melancholie, Zweifel oder gar Resignation, sond e r n ausschließlich Gewissheit. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die >Bitte< von der D a m e erhört wird. Erste Auffälligkeit. Die Schönheit ist ein Attribut der drei narrativen Instanzen — von Autor-Ich, Adressatin u n d Held. Subtil ist die A n o r d n u n g der W o r t e >schön< u n d >Schein< . In den vier, hier hervorgehobenen Textstellen 2 sind auf ersten Blick ein Wechselspiel mit d e m Adjektiv >biaubel< (je alternierend zwei Mal), auf den zweiten Blick ein spielerischer U m g a n g mit dem >Schönen< als nomen erkennbar. -

Das A u t o r - I c h trägt das >schöne Spiel· (>biau juschöner Sohn< gerufen, »Que Biel fil m'apieloit ma mere« (BI,V. 117),

2 3

»BIAU JU«, »Bele«, »biau sanblant« und »bei sanblant«. Vgl. hierzu Jeri S. Guthrie: »The beaujeu of Renaut de Beaujeu concerns such a poetically subversive rhetoric. [...] In the Bel Inconnu, the lyric of the auto-referential segments ultimately leaves Guinglain, the reader and the poet himself in endless anticipation of t h e biau sanblant, t h e beau sens blanc o f t h e text.« (J. S. G., » T h e je[u] in Le Bel

Inconnu: Auto-Referentiality and Pseudo-Autobiography«, Romanic Review 75 [1984],

145-161, hier: 148)

Aspekte der >schönen Erscheinung
der Schöne Unbekannte^ »Li Biaus Desconeüs ait non« (BI,V. 131), und die unbekannte Dame, für die der Sänger singt, wird nicht als Dame, sondern als >Schöne< angeredet. 4

Zweite Auffälligkeit. Der Wechsel von An- und Abwesenheit der >Erscheinung< ist hier eng an den Rhythmus der Narration gebunden. Im Moment des Erscheinens setzt die Erzählung ein, während der Anwesenheit wird sie entfaltet, und Erfüllung ist auf allen Ebenen garantiert: Der Dichter spielt seine Wortspiele, der Held erreicht das Land seiner erotischen Träume, die Dame amüsiert sich, indem sie dem Text lauscht. Die Dauer jedoch ist für alle Beteiligten begrenzt. Der lineare Vorgang der Erzählung erreicht sein Ende, der Held fällt aus der Utopie in die Wirklichkeit, die Zuhörerin verabschiedet sich, das Autor-Ich fällt in eine Sinnkrise. Aus dem Wissen um den Verlust des Gewinns entsteht eine Spannung, die den poetologischen Prozess zu bedingen scheint. An das Erscheinen und die >Erscheinung< der Dame sind nicht nur die literarische Produktion, sondern auch ihre Rezeption gebunden. In diesem Sinne muss mit der Formulierung >biau sanblant< und >bel sanblant< mehr als nur der »schönefn] Schein« des Blicks5 und die körperliche Anwesenheit der Dame gemeint sein. Die Inszenierung des weiblichen Körpers 6 geht hier, so meine ich, über sozial und historisch verankerte Körperbilder im Mittelalter und damit über das herkömmliche »Spannungsverhältnis zwischen Körper und Geist bzw. Seele«7 hinaus. Die >schöne Erscheinung< ist in den verschiedenen Aspekten ihres stets wirkmächtigen Körpers doppeldeutig: Sie ist irdische Gestalt und transzendierende Kraft, unsichtbar Anwesende oder sichtbar Abwesende, und ihre Sprache wirkt auf das lyrische Ich stets schicksalhaft.

4

5

6

7

Auch im Prolog wird das Wort >Dame< umgangen. Die Demonstrativpronomen >cele< und >celi< (1, 6) ersetzen die direkte Anrede und unterstreichen die Distanz. Renaut de Beaujeu, Der schöne Unbekannte. Ein Artusroman, aus dem Afrz. übers, und mit einem Nachwort versehen von Felicitas Olef-Krafft, Zürich 1995, 216. Vgl. zum weiblichen Körper als »Kulturträger« den Beitrag von Barbara Haupt, »Der schöne Körper in der höfischen Epik«, in: Klaus Ridder, Otto Langer (Hrsg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18.-20. März 1999), Berlin 2002, 47-73, hier: 57. Klaus Ridder und Otto Langer im Vorwort des Kongressbandes (wie Anm. 6), 10.

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Rimpau

In einem chronologischen Dreischritt werde ich an folgenden Texten des ausgeh e n d e n 13. Jahrhunderts die Ambiguität der >schönen Erscheinung< 8 erörtern u n d ihre Funktion als ästhetische Kategorie geltend machen - im bereits erwähnten arthurischen R o m a n Le Bei Inconnu von R e n a u t de Beaujeu, d e m allegorischen R o m a n Le Dit de la Panthere von Nicole de Margival (1290-1300) u n d in der »autobiographischen« Minnedichtung 9 , der Vita Nuova von Dante Alighieri (1293-1300). Die Struktur der Texte ist, jenseits der Gattungen, von der schicksalhaften Begegn u n g ^ 0 eines männlichen Ich u n d einer D a m e bestimmt — von den Phasen ihrer Ankündigung, den Abschnitten der Begegnung u n d d e m Augenblick ihres Verlusts. A u c h jenseits der StofEkreise (matiere de Bretagne, allegorisches Bestiarium, p r o venzalische Minnelyrik) ist in den Texten ein vergleichbarer poetologischer Diskurs erkennbar: D e r weibliche K ö r p e r ist nicht nur ein Zeichenträger, sondern er strukturiert die narrativen Texte u n d damit die Poetik maßgeblich. 1 1

Z u r Ä s t h e t i k d e r >schönen E r s c h e i n u n g < A m Anfang stehen einige, kurze Überlegungen z u m sehr komplexen Begriff der >schönen Erscheinungde< l'imaginaire qui merite attention et intuition.« 31 D e m Dante-Text wird, soweit ich es überblicken kann, weder formal noch inhaltlich, sein logischer Aufbau abgesprochen: »Das Buch ist also vom Ziel her inszeniert. Dies verleiht ihm eine,

28

29

30 31

Michel Meslin, »Lieux imaginaires«, in: Μ . M . (Hrsg.), Le merveilleux. L'imaginaire et les croyances en Occident, Paris 1984, 5 2 - 8 3 , hier: 55. Pierre Gallais, La Fee ä la Fontaine et ä l'Arbre: un archetype du conte merveilleux et du recit courtois, Amsterdam/Atlanta 1992, 3 3 2 (Hervorhebung von mir). Ebd., 130 (Hervorhebung von mir). Philippe Walter, Le »Bei Inconnu« de Renaut de Beaujeu. Rite, mythe et roman, Paris 1996, X und 131.

Aspekte

der >schönen Erscheinung
reveLe baiser de la reine< et >le cri de la feeFrage< oder >Ahnung< an (H. [wie Anm. 39], 12f.).Wehle hingegen liest die gesamte Vita Nuova als »Struktur einer Verstehensbewegung« (W- [wie Anm. 9], 41). Charles Nodier, Smarra, Trilby et autres contes, hrsg. von Jean-Luc Steinmetz, Paris 1980, 75. Ebd., 74.

Aspekte der >schönen Erscheinung
Vorhangje m'etais cache sous le role obscurmärchenhaften Raum* der Natur zurück. Er stellt den Grenzbereich zur Anderen Welt dar. Verzauberte Wälder zu durchqueren, fließende Wasser zu überqueren oder an ihnen entlang zu laufen, setzt den >Verlauf< des Dichtungsprozesses ins Bild. Die Natur ist die Gegenwelt zur Zivilisation und damit zum rational Erklärbaren. Sie bildet gewissermaßen die körperhafte BühneErscheinung< umgeben. Bleiben wir in der Sprache des T h e a ters: Solange die Hauptfigur nicht auftritt, wirken Bühnenbild und Beleuchtung als atmosphärische Elemente. - »Eintritt ins Imaginäre — >cette foret fameuse par les prestiges des magiciennesLogik< der Struktur die Figuren, die die erste, direkte Verbindungslinie zur >Erscheinung< herstellen können - Boten und Botinnen. Sie gehören der überwirklichen Welt an und haben die Rolle, die Protagonisten auf die richtige >Spur< zu bringen. Dies tun sie, indem sie Aufga-

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Laetitia Rimpau

ben stellen oder dabei behilflich sind, sie zu lösen. Ein wiederkehrendes Merkmal in allen Texten ist die G r u p p e der >drei Botinneno In Gestalt von drei Feen, drei Allegorien oder drei Passantinnen treten sie plötzlich auf u n d wirken - wie die drei antiken Parzen — schicksalhaft. In allem, was sie sind, tun u n d sprechen — sie bestimmen den W e g des Protagonisten. In der Sprache der B ü h n e : Die N e b e n f i guren binden den Helden in ein N e t z von Bedeutungen ein. — »Die drei Parzen — >Theis,Thela'ire et M y r t h e sont attentivesBegegnung< sind die akustischen Signale, die der Protagonist auf seinem W e g w a h r n i m m t : Geräusche oder Gesänge, Stimm e n oder Schreie, Melodien oder Musik betten die H a n d l u n g in eine >StimmungErscheinung< kündigt sich hier nonverbal oder als >Stimme< an. Ihre W i r k u n g auf den Helden ist ambivalent: Es regen sich N e u g i e r u n d Angst. Die akustischen Zeichen wirken dynamisch, steigern sie nicht nur die Spannung, sondern auch den R h y t h m u s der Erzählung. Ein abruptes E n d e markiert die Phase der akustischen A n k ü n d i g u n g - plötzlich wird es still. In der Sprache der B ü h n e : Das Orchester spielt zur Ouvertüre auf, einzelne Instrumente geben ihren Solopart, Motive u n d T h e m e n deuten auf die bevorstehende aventure hin. - »Gesang der Musen - Geschrei der Bestie? — >L'echo d ' u n e idee indefinissableDame< sind durch zwei Eigenschaften charakterisiert: die Farben Weiß u n d R o t . Gewänder, Schleier,Tücher u n d andere Stoffe, die sie umhüllen, sind weiß, transparent oder purpurrot. D e r nackte Körper, der durch sie hindurch scheint, ist ebenso weiß oder gar schneeweiß. Die Haare sind blond oder von goldenen Bändern durchflochten. Lippen u n d Wangen h i n gegen sind so rot wie das Herz, das sie — symbolisch - entweder verbirgt, in den H ä n d e n hält oder gibt. Entscheidend ist auch hier das Zweigesicht: Die >Erscheinung< tritt als Licht- und Schattenfigur auf. In göttlicher Gestalt ist ihr K ö r p e r makellos schön, wirkt ihre heilbringende Ausstrahlung W u n d e r u n d in Blick, Gestik u n d Gang ist sie >beatificatason corps...les blancs petales imbibes de carminschönen

Erscheinung

87

5. Sprache Die aventure des Protagonisten ist von Anbeginn als schicksalhaft definiert. Schicksalhaft hier vor allem in Bezug auf Sprache u n d Gestik. Was in der Figurengruppe der drei Botinnen (und ihrer Botschaft) angelegt wird, k o m m t durch die >Erscheinung< zur vollen Entfaltung: Die >Dame< besitzt das Wissen u m das Wort, aber auch u m die Abhängigkeit des Protagonisten (und Dichters) von demselben. Das ist ihr Spielvorteil: Sie ist es, die dem Helden N a m e n und Identität offenbart, die ihn durch ihren süßen G r u ß beglückt und z u m Schreiben inspiriert. Sie ist es aber auch, die ihn durch ihren verweigerten G r u ß , durch ihre Missachtung und ihr Schweigen in eine tiefe Sinnkrise stürzt. Aus der Spannung dieses unterbrochenen Dialogs gehen die Möglichkeiten u n d Grenzen von Sprache hervor. — »Schicksalhafter Diskurs — >Viens, m e dit-elle, - V a , j e te l'ordonneSüße Rede-

weißen und roten Blüten -

Meroes

Sylphen

Meroe Weißes Gewand

blättern

Biss des

Hält das Herz

Lachen des

Polemon Fluss Peneios Stern

Liebschaften

3 Musen -

Luftchor

Nachtmahrs

Myrthe

-

Thelaire

Gesang des

-

Theis

Vogels

Nachtmahrs

Schrei des Smarra ou les

Vogels

demons de Li nuit (1821)

Rot

Weiß

Gesang der

Fee Blanches

R o t e Lippen

Nachtigall

Mains

Lilienweiße

Mantelsaum aus

Hände und Brüste

Kuss des

Blondes Haar

Drachens

Renaut de Beaujeu Artushof in

Musik

Cariion

der Jongleure

Autor-Ich (Prolog) Tal -

Bei lnconnu

Gefahrliche

-

Guinglain

Furt

Dame

Wald

Botin Helie

3 Feen - Blanchemal

Schreie im

Hermeliniel)

- As Blanches

Wald

Kranz aus

Lachen der

Rosen

Diener

Mains Mond

- Esmeree La Blonde

Stimme in der Kammer Im Wachtraum:

L·? Bei lnconnu ( - 1290)

>Süße Rede< der Fee

Wassertosen Rot

Weiß

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Aspekte der >schönen Erscheinung< (VOR-) Z E I C H E N Autor/

(Natur-)

Figuren

Raum

BEGEGNUNG

Boten

Akustik

Kleidung

Körper

Sprache

Bote Amor

Gebrüll der

Dame

Wunderbarer

>Süßer Atem-

wilden

Panthere

Blick

der

Rötlich-

Süßer Atem

Panthere

weißes Fell

Lichtgestalt

Nicole de Margival Soissons

Autor-Ich

Wald

(Prolog) Tal -

ErzUhler-

der Dornen

Tiere

Ich

3 Allegorien - Esperance

Musik und

Drache

Traum-Ich

-

Dous Pen-

Gesang der

ses

Jongleure

Knurren der Panthere

Dame

-

Dous Souvenir

Vogelgesang

Ije Dit de la Panthere (-1290/ 1300)

Rot

Weiß

Dante Alighieri

Autor-Ich

Namenlose

(ProÖmium)

Stadt

Stimme

Herrin

Huldvoller

Beatrice

Blick

Purp ur-

Sittsamer

ge wand

Gruß

Schneeweißes Gewand -

Isst das Herz

ErzählerIch

— Traum-Ich

Bote Amor Weg vor der Stadt

Dame

Im Wachtraum:

Spott von

Rotes Linnen Weißer

Beatrice

Dame

Engel Schreiende

Wunder-

Engel

Schleier

3 Passan-

von Beatrice Im Traum: Singende

tinnen Fluss

same -

Dame

Vita Nuova (1293-1300)

> Huldvoller Graß*

Rot

Weiß

Laetitia Rimpau

90

D i e R a h m u n g als p o e t o l o g i s c h e s P r i n z i p Grundlegend fiir alle hier erörterten Texte ist die Rahmung als poetologisches Prinzip 4 7 : Sie umspannt die Binnenerzählung, die wiederum als Spiegelung des autopoetischen Projektes gelesen werden kann — ein Autor-Ich steht in einem imaginären Dialog mit der >Dameprofaner< und >sakraler< Welt noch sichtbar gemacht werden, wird bei Dante der Wechsel von der irdischen in die überirdische Dimension bewusst kaschiert 5 0 und die Rationalisierung des Märchenhaften vollzogen. A u f diese E n t wicklung weist Philippe Menard hin:

47

48 49

50

Vgl. den Beitrag der Vf., »Die aventure der escriture. Zu einem poetologischen Strukturprinzip der Lais von Marie de France«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven, Tübingen 2003, 249—280. Nodier (wie Anm. 45), 78. Vgl. Auch Joachim Poeschke, der auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Traumdarstellungen in der Malerei von Mittelalter und Renaissance hinweist: »nicht geändert aber hat sich das ununterschiedene Nebeneinander von Wirklichkeit und Traum, die völlig gleiche körperliche Präsenz von Träumenden und Geträumtem.« (J. P., »Dürers >Traumgesichtschönen

Erscheinung

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Un dernier element est tres caracteristique de la technique medievale: l'humanisation, la rationalisation des merveilles. Les auteurs fran^ais attenuent et estompent les prodiges. Iis emploient tres rarement le mot de fee et se contentent de termes neutres comme dame ou damoiselle. Iis presentent souvent de maniere indirecte et allusive les phenomenes extraordinaires, comme pour les voller et leur eviter la pleine lumiere.51 Ein weiterer, zentraler Aspekt der Struktur ist die an sie gebundene Poetologie. Bei Nodier erläutert das Autor-Ich im Vorwort die Absicht, gesteigerte Formen der Imagination zu behandeln u n d in der phantastischen Traumwelt eine Wahrheit (oder Wahrhaftigkeit) ergründen zu wollen. »II m e restait plus«, heißt es in der zweiten Preface, »que de decouvrir dans l ' h o m m e la source d ' u n fantastique vraisemblable ou vrai« 52 . Das gilt auch für die mittelalterlichen Textbeispiele: Im Prolog wird die Spur für die Poetik gelegt, die sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text zieht u n d am Ende wieder aufgegriffen wird. Halten wir fest: Die R a h m u n g macht deutlich, dass die histoire nur scheinbar im Dienst der höfischen Liebesaventure steht, in der Tiefenstruktur geht es u m die Darstellung von Dichtungstheorie — Rolle von Werk und Autor spiegeln sich im Handlungsverlauf, F o r m e n der Gattungen (Lyrik, conte d'aventure, R o m a n ) werden thematisiert, Werte des adäquaten Sprechens (Mündlichkeit/Schriftlichkeit, D i c h tungssprache/Volkssprache) werden diskutiert. Diese Aspekte sind von der Forschung bereits aufgegriffen worden: I m Bei Inconnu ist es die narrative Strategie eines »writing frame« 53 , im Dit de la Panthere das »Abenteuer der Buchstaben« 5 4 u n d die Vita Nuova ist in toto als »Struktur einerVerstehensbewegung« 5 5 zu lesen. I m Folgenden sollen sie in einenTraditionszusammenhang gestellt werden.

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Philippe Menard, »Le monde medieval. Les curiosites profanes«, in: Meslin (wie Anm. 28), 33. Nodier (wie Anm. 45), 74. »As an initial programmation of the narrative to follow, the prologue manifests the compositional mode of the text, combining orality in a conte-source and written validation, the histoire/roumant. The combination of enunciation and writing frame the narrative, as the epilogue reiterates non written communication: for a gesture from his lady the poet will sing again (the verbs are parier and dire).«, vermerkt Guthrie (wie Anm. 3), 151. Hülk (wie Anm. 39), 206. Hülk schreibt weiter: »Die >panthere d'amors< ist ein >dit< und außerhalb seiner nichts. Insofern ist der Dit de la Panthere d'Amors ein poetologischer und erkenntniskritischer Text, der in seinen Verschachtelungen, seinen mises en abyme [...] und dem Auseinanderklaffen von Traum und Realität, der abgründigen Heterogenität seiner ganzen Bewegung die Offenheit aller Zeichenverkettungen demonstriert.« (Ebd., 147) Wehle (wie Anm. 9), 41. Wehler weiter: »Was solchermaßen zu ermitteln war, sei im folgenden Lektürevorschlag zusammengefaßt: Mit der VN. kommt der Minnesang zu

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Rimpau

D i s k u r s d e r V e r s c h l e i e r u n g - »Je m ' e t a i s c a c h e sous le r o l e obscur« Die schlechte A u f n a h m e von Smarra b e i m Publikum veranlasste Nodier, sich in der zweiten Preface zu rechtfertigen — die Erzählung sei nur eine Etude, ein Lehrstück fiir j u n g e Leser, die »se f o r m e n t a ecrire la langue litteraire« 56 , u n d er selbst nur ein lernwilliger Schüler 5 7 . H i n t e r d e m Topos der Bescheidenheit verbirgt sich die selbstbewusste S t i m m e des Autors: Zwölf Jahre nach d e m Erstdruck lüftet N o d i e r die Maske des Pseudonyms u n d fuhrt literarische wie persönliche 5 8 Gründe an, die Phantasmagorien des Traumerlebens schreibend ergründen zu wollen. Sei es als Vor- oder Nachwort, Prolog oder Epilog — die R a h m u n g ist das narrative Kennzeichen dieser Art von »autobiografia poetica« 59 . W ä h r e n d bei N o d i e r die Stimme des Autors im Verlauf der Erzählung verschwindet, ist sie in den m i t telalterlichen Texten, als K o m m e n t a t o r im Handlungsverlauf, spätestens aber am E n d e der R a h m u n g wieder präsent. 6 0 W i e schon i m Epilog bezieht sich i m Bei Inconnu das Autor-Ich auch im Prolog auf >jeneschönen

Erscheinung
Dameechoartig< auf den Prolog: »De ce lieu second, la cour arthurienne rassemblee ä Carlion offre l'illustration des l'oree du recit. Cour bruissant de melodies [...] eile prolonge le prologue comme une chambre d echos.« (W.-B. [wie Anm. 36], 142) Im Gegensatz zu Chretien de Troyes Erec et Enide findet das kollektive Fest der joie nicht am Ende der aventure-Kette, sondern am Anfang statt. Die Figura etymologica des Verbs >canter< unterstreicht, dass hier der Akzent auf dem poetischen Akt liegt (Hervorhebungen von mir).

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Das »dire beles aventures« trifft den Kern des poetischen Auftrags: W i e eine Staffel wird die >schöne aventum aus dem Prolog in die Binnengeschichte zu den J o n g leuren getragen. U n d das Spiel mit den Spiegelungen setzt sich fort: Kurz darauf erscheint der unbekannte Ritter, der >Bel Fil< war und nun >Li Biaus Descouneüs< wird, um seine Abenteuer-Fahrt auf der Suche nach der (verlorenen) >schönen Erscheinung< anzutreten. Niemand anders als das Autor-Ich mit Namen >de Beau Jeu< verbirgt sich hinter dieser Figur. Ahnliche Merkmale autopoetischer R a h m u n g finden sich im Dit de la Panthere von Nicole de Margival. D e r Dit 6 7 , eine Liebesallegorie mit didaktischen Implikationen, legt die Traumstruktur offen, verschleiert aber die Figur der >ErscheinungDame< hier in Gestalt eines weiblichen Panthers 6 8 auf. Im Prolog wird eine Adressatin genannt, »A dame bele et bone et sage, / Noble de euer et de lignage,« 69 heißt es in den ersten beiden Versen. Im Vergleich zum Bei Inconnu jedoch ist sie nicht nur schön, sondern auch edel, gebildet und adeliger Herkunft. Im Folgenden wird die Form der Anrede (wie im Bei Inconnu) durch Personal- und Demonstrativpronomina - »pour Ii« (DP,V. 9), »a lui« (DP,V. 13), »Cele« (DP,V. 25) — ersetzt. Diejenige, der das Werk gewidmet ist, auf die der Dichter ganz ausgerichtet ist, sie bleibt konturlos und anonym. U n d sie muss es aus der Logik ihrer Funktion - ein stimulierendes Bild und kein Mensch zu sein. Das Wesen der poetischen Figur ist und bleibt ein unpersönliches. Dieser Faktor trifft auch hier den Kern des Projekts. D i e >dame bele< motiviert die ecriture in j e d e m Abschnitt, »Cele pour qui fu commencie / Et moiennee et parfornie« (DP,V. 25f.). D e r Dreischritt Anfang - Mitte — Ende bezieht sich hier nicht auf eine Abfolge der Gattungen, sondern auf die Werkphasen. Im Gegensatz zum Bei Inconnu ist das Ich nicht selbstbewusst, sondern ausgesprochen ängstlich: D e r Dichter, der es nicht wagt, den >süßen Namen* der D a m e zu schreiben (»Cilz qui son dous non n'ose escrire«; D P , V 3), der sich - aus Sorge vor übler N a c h rede — nicht traut, sie zu grüßen (»Aus mesdisans ouvrir la voie, / E n lieu de salu Ii envoie«; DP,V. 5f.), der davor zurückschreckt, der Dame das Werk direkt zu senden (»Toutevoies ne l'ose mie / Droitement a lui envoier«; DP,V. 12f.) und der doch

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Zur Gattung des Dit vgl. Monique Leonard, Le dit et sa technique litteraire: des origines ä 1340, Paris 1996 und Bernard Ribcmont, Ecrire pour dire: etude sur le dit medieval, Paris 1990. Ich folge Hülk (wie Anm. 39) und spreche im Folgenden von der Panthere. Zitate nach der Ausgabe: Nicole de Margival, Le Dit de la Panthere, hrsg. von Bernard Ribemont, Paris 2000 (Classiques franfais du Moyen Age), mit der Sigle DP, hier: V. lf.

Aspekte der >schönen Erscheinung
Begehren des Anderen< wird formuliert, aus Schutz die Distanz aber vorgezogen u n d das Werk als Ersatz vorgeschoben. Aus i h m soll die D a m e alles das offengelegt erfahren, was direkt nicht gesagt w e r d e n kann: »Apertement savoir porra / Q u e p o r s'amor a este faite: / Car de tel chose a dedens traite / Q u e veoir porra clerement / Q u e e'est fait p o r Ii proprement« (DP,V. 2 8 31). Insofern zeigt sich hier der Prozess der ecriture selbst im Prüfstand.Während bei R e n a u t schon am Anfang die Meisterschaft gefeiert wird, versteckt sich das Ich hier hinter der 3. Person (bis Vers 35) u n d gibt sich erst im U b e r g a n g zur Traumhandlung als lyrisches Ich zu erkennen: »Que por Ii l'ai empris a faire« (BI,V. 36) u n d »Seignor, j'ai oy des m'enfance« (BI,V. 41). Schließlich versteckt es sich auch i m Werk selbst, das, zugleich verbindend u n d trennend, zwischen Ich u n d Adressatin gestellt wird. Bei R e n a u t de Beaujeu ist die D a m e , o h n e dass es explizite G r ü n d e dafür gibt, einfach nicht da. Bei N i c o l e de Margival ist sie nicht da, weil sie ein gefurchtetes O b j e k t ist. Das A u t o r - I c h geht ihr bewusst aus d e m Wege. D e r gemeinsame N e n n e r der beiden Texte ist die Abwesenheit, die Fixierung auf die Vorstellung u n d damit auf das Erinnerungsbild — im Dit de la Panthere fällt bereits am A n f a n g der Begriff der »ramembrance« (DP,V 80). Ein weiterer Hinweis auf die spirituelle aventure. In der >Logik< imaginärer Strukturen erlebt das Ich die >Erscheinung< (wenn auch in K l a m m e r n vermerkt) just in der N a c h t vor Maria H i m m e l f a h r t : »(Ce fu la veille N o t r e D a m e , / Q u ' o n appella Γ Assumption)« (DP,V. 50f.). D i e Vita Nuova v o n D a n t e Alighieri beginnt mit e i n e m P r o ö m i u m , das zwei Sätze umfasst. In diesen Sätzen wird (in Prosa) das dichterische Projekt entworfen. Seine Essenz — eine Poetik der E r i n n e r u n g , Sinnbild dieser Poetik ist (die hier abwesende) Beatrice. N i c h t nur der Prolog, s o n d e r n auch die gesamte Vita Nuova ist Spiegel eines Prozesses, in d e m Erinnerungsbilder in Sprache, dann in Dichtungssprache u m g e f o r m t werden. I m Z e n t r u m dieser geistigen B e w e g u n g steht das »imaginäre Ich«. W ä h r e n d bei R e n a u t u n d N i c o l e die >Dame< als Adressatin genannt wird, ist sie in Dantes Prolog ganz ausgespart. D i e Leerstelle der weiblichen Figur wird durch verschiedene Aspekte der ecriture ersetzt. I m Vergleich zu R e n a u t u n d N i c o l e n e n n t sich das A u t o r - I c h im Verlauf des gesamten Textes nicht b e i m N a m e n , dafür ist der I c h - B e z u g hier n o c h stärker: Als »Biographie der Innerlichkeit« 7 0 oder »innere

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Friedrich (wie Anm. 9), 95.

Laetitia Rimpau

96

Biographie« setzt der Text von Anfang an den Akzent auf seine »geistige Struktur«71. Diese bezieht sich nicht auf die äußere Wirklichkeit, sondern ausschließlich auf das »Innere des Erzählers«72. Vor dem Hintergrund stilnovistischer Liebesmystik legt die Vita Nuova vor allem eine »Wissenschaft vom poetischen Wort« 73 offen.

Aus der Abfolge der beiden Sätze und ihrer SchlüsselbegrifFe gehen Elemente dieser > Wissenschaft vom poetischen Wort< hervor. In ihnen liegt auch das Wesen der Erscheinung verborgen. Zunächst der volle Wortlaut des Proömiums, den ich in sieben Sequenzen (Zeilen) unterteilt habe: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

In quella parte del libro de la mia memoria dinanzi a la quale poco si potrebbe leggere si trova una rubrica la quale dice: Incipit vita nova.74 Sotto la quale rubrica io trovo scritte le parole le quali e mio intendimento d'assemplare in questo libello e se non tutte, almeno la loro sentenzia. (VN, 87) 75

In der Gedankenabfolge der Sätze spiegelt sich ein dem Dichtungsprozess entsprechender Verlauf. Er ist in drei inhaltliche Abschnitte gegliedert: Phase I (Zeile 1— 3), Mittelachse (Zeile 4), Phase 2 (Zeile 5-7). Reduziert man in einem folgenden Schritt jede Sequenz auf ihre SchlüsselbegrifFe (Substantive und Verben), dann ergibt sich die folgende Reihung: 1. memoria (libro) 2. 3. 4. 5. 6. 7.

71 72

73 74

75

leggere trova/dice Incipit trovo/scritte assemplare (libello) sentenzia

= = = = = = =

Erinnerung (Buch) lesen (er)finden/sprechen beginnen (er)finden/schreiben verknüpfen (Büchlein) Sinngewebe.

Auerbach (wie Anm. 9), 76. Siehe das Nachwort in Dante Alighieri, Das neue Leben (VITA NOVA), übers, von Hannelise Hinderberger, Zürich 1987, 86. Wehle (wie Anm. 9), 40. Die zentralen zwei Worte »vita nuova« liegen hier im Zentrum der Sequenz (umrahmt von j e drei Zeilen). Die Struktur bestätigt hier den Sinn (oder umgekehrt), das Buch (Sinn) wird selbst wie ein Buch von zwei Seitendeckeln eingerahmt. Dante Alighieri, Vita Nuova, hrsg. von Giorgio Petrocchi, komment. von Marcello Ciccuto, Mailand 7 2001. Alle folgenden Angaben mit der Sigle V N beziehen sich auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe.

Aspekte der >schönen Erscheinung
trovare< u n d >dire< verweisen vor allem auf den Akt der poiesis — das F i n d e n / E r f i n d e n poetischer Sprache. Die kursivierte, lateinische Mittelachse markiert das M o m e n t der Verwandlung (»Incipit«), d.h. den Ubergang aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Ubertragen auf den p o e t o logischen Prozess: Die geistigen Stränge müssen aufgegriffen und zu einem Sinngewebe (im Sinne von Chretiens bele conjointure) verknüpft werden. Das N e u e dieses Abschnitts: Die Sprache wird materialhaft, zum sichtbaren Zeichen auf Pergament. Insofern erscheint es schlüssig, dass nicht m e h r nur von >jenemdiesemReisende< in das Schattenreich der Unterwelt, den mythischen Wirkungsbereich der >ErscheinungErscheinung< abzustecken: ein Terrain der Unübersichtlichkeit u n d der Flusslauf in R i c h t u n g Inferno. Im arthurischen Bei Inconnu verlässt der Schöne U n b e k a n n t e den Artushof u n d reitet 8 0 zunächst im Galopp durch ein Tal (BI,V. 279), k o m m t dann zur gefährlichen Furt (BI,V. 321-324) 8 1 u n d erreicht bei A n b r u c h der N a c h t den Wald (BI, V. 593—596). Die Sequenzen markieren den räumlichen Dreischritt von Abstieg in die Unterwelt — Strom des Vergessens — Märchenwald des Traums. Gerade im Wald wird der Traumdiskurs eindeutig u n d wirkungsvoll inszeniert: -

Im Ubergang v o m Tag zur N a c h t (Zeitwende) — »Vait s'en Ii jors, vient Ii seris.« (BI,V. 620)

-

Die Reisenden müssen n ü c h t e r n bleiben (Ritus des Ubergangs) — »N'ont que mangier a eel souper; / La nuit lor covint endurer.« (BI,V. 609f.)

-

Das Mondlicht unterstreicht die kosmische Dimension (Traumgeschehen) — »De la nuit ert grant masse alee, / Si ert ja la lune levee.« (BI,V. 621f.)

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79 80 81

Roloff (wie Anm. 76), 148. »On disait avec raison, sois-en sure, que ces nocturnes terreurs [...] n'etaient qu'un resultat naturel de mes etudes obstinees sur la merveiUeuse poesie des anciens, et de l'impression que m'avaient laissee quelques fables fantastiques d'Apulee saisit l'imagination d'une etreinte si vive et si douloureuse [...].« (Nodier [wie Anm. 45], 83) Ebd., 87. In Begleitung des Knappen Robert und der Feen-Botin Helie. Flussüberquerung und Ritterkampf leiten den Prozess der Bewusstmachung ein: Die Gefährliche Furt ist der Unterweltsstrom Lethe, und der Name des wilden Ritters jenseits des Ufers, Bli-ofc/i'er-is, figuriert das Vergessen.

Aspekte der >schönen Erscheinung< -

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D e r R i t t e r schläft n e b e n der Botin aus der A n d e r e n Welt (Fee als V e r k ö r p e r u n g des Imaginären) - »Li Descouneüs se d o r m o i t / Sor l'erbe fresce, u il gisoit; / Dales lui gist la damoissele, / Deseur son bra$ gist la pucele« (BI,V. 623—626) 82 .

-

D e r Schlaf wird v o m Gesang der Nachtigall begleitet (poetische Dimension) — »Li uns dales l'autre d o r m o i t , / Li lousignols sor eis cantoit.« (BI,V 627—628)

Halten wir fest: D i e R a u m a c h s e f u h r t nach u n t e n (Abstieg), der Sieg über den R i t t e r BlioWims u n d die U b e r q u e r u n g der Furt (Unterweltsfluss) d e u t e n auf den Prozess des ü b e r w u n d e n e n Vergessens (und damit auf Bewusstwerdung) hin. D e r Schlaf n e b e n der Fee (Arm in A r m ) setzt die unmittelbare Verbindung mit d e m Imaginären ins Bild. U n d der Vogelgesang schließlich unterstreicht die poetische u n d poetologische D i m e n s i o n aller folgenden Ereignisse. D e r Gesang der N a c h tigall begleitet die Schlafenden - o h n e das Wissen der Protagonisten. N u r für den H ö r e r / L e s e r ist diese >Stimme< vernehmbar, sie weist schon auf das E n d e voraus: auf die vollendete Poesie eines versierten Dichters. D i e Traumallegorie ist stärker an der klassischen Liebeskasuistik orientiert: D e r Lieb e n d e i m Dit de la Panthere ist kein R i t t e r u n d die aventure nur die seines Autors. U n d sie beginnt - im Unterschied zur Artusliteratur nicht als Jagd, sondern - medias in res mit der A n k u n f t i m Wald. D e r Protagonist des R a h m e n s liegt i m Bett in Soissons, sein T r a u m - I c h wird von Vögeln geraubt u n d in einen Wald getragen: »En cele nuit m e fu avis / Q u e fui par oisiaus ravis / Et portez en u n e forest / Q u i lors etoit et encore est.« (DP,V. 55—58) W i e am Beispiel der Nachtigall im Bei Inconnu gezeigt, der Vogel ist auch hier Bild des Poeten, j e d o c h in anderer Akzentuierung. D i e poetologische aventure steht hier von A n f a n g an im Z e i c h e n von Widerstand u n d Passivität — der Schlafende wird geraubt (er bricht nicht aus eigener Initiative auf), u n d er wird auf Flügeln getragen (er verhält sich passiv). Aus der Vogelperspektive blickt er auf den O r t des Geschehens — zunächst auf die Tiere in Wald u n d Tal. D e r Blick von >oben< eröffnet hier eine Schau auf das gesamte Projekt mit all seinen Möglichkeiten u n d Hindernissen: auf ein staffageartiges Bestiarium wilder u n d zahmer Bestien und, abgelegen, auf das Wundertier: »A l'entree d ' u n e valee / Q u i estoit d'orties fermee, [...] D ' u n e chose m e merveilloie, / Q u a n t cele beste regardoie« (DP,V. 85—98). Die >schöne Bestie< steht am Eingang eines Dornentais u n d zieht den Betrachter magisch an. D i e aventure in der Allegorie ist nicht m e h r die des R i t t e r r o m a n s — w e d e r Furt n o c h R i t t e r oder R i e s e n müssen ü b e r w u n d e n werden, die H ü r d e besteht in der u n ü b e r w i n d b a r scheinenden Distanz zur Panthere.

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Wolf-Bonvin (wie Anm. 36), 15Iff.

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Laetitia

Rimpau

Halten wir fest: Im Dit de la Panthere gleicht der Abstieg in das Tal dem Eintritt in den gefahrvollen Schlund 8 3 der Unterwelt. Im Unterschied zum Bei Inconnu ist die zeitliche Situierung hier mythisch, d.h. zeitlos (keine Zeit- und Lichtsignale), das Element des Wassers ist ganz ausgespart und die Berührung mit dem >imaginären Körper< (hier in Gestalt der Panthere) findet ausschließlich durch (den distanzierten) Blick statt. Der R a u m wird hier nicht aktiv durchmessen, sondern kontemplativ betrachtet. Das imaginäre Abenteuer ersetzt die (Waffen)Tat, auf diese Weise wird die erste Weiche für eine >geistige Struktur gelegt. Auf ersten Blick scheint in der Vita Nuova der Naturraum ganz zu fehlen — die Handlung ereignet sich in R ä u m e n einer namenlosen Stadt.Während in der Divina Commedia der Natureingang (Wald und Wasser) Teil des Traumdiskurs es bleibt, ist er in der >Minnedichtung< ausgespart. Zwei Mal jedoch lässt das Ich die Stadtmauern hinter sich und geht an einem Flusslauf entlang. Beide Episoden stehen in Zusammenhang mit Eigenschaften der >schönen Erscheinungc als Unterweltsgöttin erniedrigt sie (Abstieg), als Muse erweckt sie den Poeten (Aufstieg). Die erste Reise aus der Stadt erfolgt widerwillig. Der Liebende folgt der (falschen) Dame, die ihm bislang als Vorwand gedient hat, aufs Land. Während er (wohl allein) an einem Fluss spazieren geht, erscheint ihm Gott Amor in Gestalt eines Pilgers. Ε p e r o lo dolcissimo segnore, lo quale mi segnoreggiava per la vertu de la gentilissima donna, ne la mia imaginazione apparve c o m e peregrino leggeramente vestito e di vili drappi. Elli m i parea disbigottito, e guardava la terra, salvo che talora Ii suoi occhi mi parea che si volgessero ad uno fiume hello e corrente e chiarissimo, lo quale sen gia lungo questo c a m m i n o la ov'io era. (VN, 116f.) 8 4

Die Szene steht i m Zeichen von Kaschierung und Erniedrigung: Gott A m o r i m ärmlichen Gewand — verleitet den Liebenden z u m >Falschspielschönfließend< und >klarschöne Erscheinung< bereits an. Sie repräsentiert, insbeson-

83 84

Brennesseln, Wurzeln u n d D o r n e n (DP,V. 8 6 - 8 7 ) . H e r v o r h e b u n g e n v o n mir.

Aspekte der >schönen Erscheinung
große< Klarheit des bewegten Wassers bezieht sich jetzt auf die (göttliche) Gabe, die Flut der Bilder in Dichtungssprache verwandeln zu k ö n n e n . Diese Gabe ist, darin liegt die notwendige Paradoxie, an den Verlust der >schönen Erscheinung< gebunden. N a c h d e m >Musenkuss< stirbt Beatrices Vater, k u r z darauf Beatrice — ihre absolute Abwesenheit scheint die Bedingung für die Poetik der E r i n n e r u n g zu sein.

D i e drei P a r z e n — »Theis, Thela'ire et M y r t h e s o n t attentives« Bevor der Protagonist der >Erscheinung< begegnet, trifft er auf Boten 8 5 , die ihn in die Unterwelt fuhren oder begleiten. Ein konstantes Merkmal m ö c h t e ich an dieser Stelle herausgreifen: die drei Botinnen. Sie stehen mit der Anderen Welt in Verbindung, sie sind weise u n d weisen — d e m antiken Orakel vergleichbar — d e m Initianden (direkt oder indirekt) den Weg. D u r c h sie wird das eigentliche Erscheinen der >Erscheinung< eingeleitet u n d in seiner Dimension angedeutet. Damit ist ein, vielleicht der zentralste Aspekt der Poetik der >Erscheinung< angesprochen, die schicksalhafte Macht der Sprache. Schicksalhaft aufgrund ihres überlegenen Wissens u n d der Fähigkeit, mittels der Sprache wirkmächtig zu agieren. D e n n durch ihr R e d e n (oder Schweigen) bildet sich nicht nur das Bewusstsein, sondern vor allem das Sprachbewusstsein des Helden. Die Eigenschaft des w i r k e n d e n Wortes< kündigt sich schon durch den Auftritt der drei Botinnen an (eine Variante: die >Erscheinung< selbst ist unter ihnen). O b

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Männliche, weibliche Gestalten oder Tiere.

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Laetitia Rimpau

als Musen (Nodier),Feen (Renaut), Allegorien (Nicole) oder Passantinnen (Dante), sie treten als Trias auf, sie sind >schön< u n d überlegen. Da sie d e m Wirkungsbereich des Imaginären angehören, stellen sie die erste, direkte Verbindungslinie zur >Erscheinung< her. Sie entsprechen d e m Dreigestirn der antiken Parzen 8 6 , damit j e n e n mythischen Gottheiten, die über Leben u n d Tod, Glück oder Unglück des Menschen bestimmen.Wörtlich g e n o m m e n , die Botinnen stellen keine Linie, sondern erste Verbindungsfäden im Textgewebe her, insofern haben sie aktiven Anteil an der Genese des Werks. 8 7 In der phantastischen Erzählung von N o d i e r sind es, g e m ä ß des gewählten Zeit- u n d Raumkonzepts, die drei griechischen Musenschwestern 8 8 —Theis,Thela'ire u n d Myrthe: »Et maintenant, voici les soeurs de M y r t h e qui ont prepare le festin.« 89 Sie tauchen am Anfang u n d E n d e der Traumhandlung im Zauberwald auf, 9 0 musizieren, tanzen und fuhren dem Fremden die rauschhaften und abgründigen Aspekte der aventure vor. Z u Beginn stimmen sie auf die »sinistres enchantements« 91 ein, kurz vor dem Erwachen verstärken ihre Freudenschreie den Schrecken der »terreurs nocturnes« 9 2 . D u r c h den Auftritt der drei >Parzen< wird d e m Protagonisten das Ausmaß der bevorstehenden aventure mit der Zauberin M e r o e vor Augen gefuhrt — eine aventure der Erniedrigung u n d E r h ö h u n g . D e r Bei Inconnu ist als arthurischer R o m a n strukturell wie inhaltlich vom Märchen geprägt, daher treten hier drei Feen (nicht gleichzeitig) auf. Sie wirken aber als eine »entite feminine« 9 3 schicksalhaft auf den Schönen U n b e k a n n t e n : U b e r die M u t t e r Blanchemal erfährt man nichts Genaues, die Geliebte As Blanches Mains verfugt über die größte Macht, »Et tote vostre destinee; / Je resavoie par m o n sens« (BI,V.

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Zur Transformation der Figur vom Mythos zum Volksglauben vgl. vor allem Alfred Maury, Les Fees du Moyeri Age, Paris 1843, Reprint, Α. M., Croyances et Ligendes du Moyen Age, Geneve 1974, 1-67; Harf-Lancner (wie Anm. 33), 17-25. Für Maury gehören Parzen, Feen, Elfen als »croyances poetiques« dem Fundus dichterischer Imaginationen an (wie Anm. 86), 50. Musen gab es in der griechischen Mythologie (vor Hesiod) drei: Melete (Übung, Praxis), Mneme (Gedächtnis, Erinnerung) und Aoede (Lied). In Delphi nannte man sie nach den drei Saiten der frühen Leier: Nete (Unten), Mese (Mitte) und Hypate (Oben). Siehe Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, hrsg. von Michael Grant und John Hazel, München 101994, 288. Nodier (wie Anm. 39), 97. Ebd., 97f. und 118f. Ebd., 101. Ebd., 118. Dubost (wie Anm. 25), 50.

Aspekte

der >schönen

Erscheinung
zweite Begegnung< mit der >Erscheinung< — n i m m t innerhalb des gesamten R o m a n s eine Schlüsselstellung. In ihr sind alle drei Feen, auf verschiedenen Ebenen, präsent. N a c h d e m der R i t t e r mit d e m Fier Baisier, d e m Drachenkuss, den Zauber gebannt hat, hört er plötzlich eine Stimme: A tant a une vois o'i'e Qui bien Ii dist apertement Dont il estoit et de quel gent. (BI,V. 3212-3214) 95 Laut schallt sie durch den R a u m . Es ist die Stimme der Fee-Geliebten As Blanches Mains, die d e m unbekannten R i t t e r seine Identität offenbart: seine Vorgeschichte, seinen N a m e n , den Sinn seines Tuns: En haut crie, non pas en vain: »Li fius a mon signor Gavain [...] Guinglains as non en batestire. Tote ta vie te sai dire: Mesire Gavains est tes pere; Si te dirai qui est ta mere:

Fius es a Blancemal le fee; Armes te donnai et espee, Au roi Artus puis t'envoia, Qui cest afaire te donna De secorre la dameissele. Bien as conquise ta querele.« (BI,V. 3215-3242) Daraufhin verstummt die Stimme, alles scheint gesagt, und Guinglain bleibt allein zurück, wie es heißt: Α tant s'en est la vois alee, Quant ele ot sa raisson finee; Et eil remaint, grant joie fist De ςο qu'il ot que la vois dist (BI,V 3243-3246).

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Für Dubost ist der Name »un cliche de conte merveilleux« (D. [wie Anm. 25], 54), und Wolf-Bonvin sieht sie als »Fee et reine« mit »les deux faces d'une femme unique« (W-B. [wie Anm. 36], 220). Diese und alle folgenden Hervorhebungen von mir.

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Laetitia

Rimpau

Die verschränkte Wirkung, die von der Trias der Feen ausgeht, deutet auf das Erfullungserlebnis hin: Die (dritte und vollendete) Begegnung mit der >ErscheinungErscheinung< verschärft die Erwartung auf die (Wieder-)Begegnung. Sie gibt sich allwissend und als Gönnerin: Indem sie dem jungen Ritter über seine Ursprünge aufklärt, bindet sie ihn auch intellektuell an sich. Indem sie sich zur Verantwortlichen für des Ritters Waffentat macht, nimmt sie das Ende (Guinglains Tabubruch) bereits vorweg. Die zweite Parze ist als Klangkörper anwesend, obgleich der Ritter nur ihre Stimme hört, scheint sie physisch präsent. 102 3. Die Fee Blanchemal:Während Esmeree in der Nähe ist, Blanches Mains in der Nähe scheint, werden Name und Identität von Blachemal nur genannt. Ihre

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Die Geliebte Blanches Mains und die Mutter Blanchemal, beide begleiten den Helden seit jeher. Esmeree La Blonde wird in der folgenden Sequenz als Königstochter vorgestellt (BI, V. 3309), durch die Verzauberung in den Drachen und andere Körperattribute ist sie jedoch als Fee (des melusinischen Typs) ausgewiesen. Auch sie wird über die Zukunft des Helden (vielleicht weniger erfolgreich) wie Mutter und Geliebte bestimmen. Zum melusinischen Feen-Typus vgl. Harf-Lancner (wie Anm. 33), 83-117. Der Fier Baisier ist Inbegriff gewaltsamer körperlicher Berührung. Als Parze kommt ihr die Funktion zu, den Faden (zur Feenwelt) abzuschneiden. Jetzt ist das Gehör passives Sinnesorgan und die Wahrnehmung des Wunderbaren distanziert. Die direkte Rede verstärkt den Eindruck von Authentizität. Die Akzente der Offenbarungsrede liegen auf den poetologischen relevanten Verben >dire< und >donnerSprache/Text< und >Gabe/Talentschönen Erscheinung
Auftritt< der drei Botinnen wird die ganze Dimension der aventure mit der >Erscheinung< umrissen: als körperliche Erfahrung (Kuss), als diskursive Begegnung (Stimme), als Gedankenexperiment (Erinnerung). Ubertragen auf das poetologische Projekt: Alle Facetten betreffen Teilaspekte des Dichtungsprozesses. D e r Kuss betrifft die körperliche Seite der Sprache, die Z u n g e n - und Lippenbewegung (Sprachorgane), die Stimme meint die akustische Seite der Sprache als Lautbildung (Sprechakt) u n d die E r i n n e r u n g bezieht sich auf die Inhalte des Sprechakts (Gedanken). Im Sinne der Gattung Traumallegorie treten im Dit de la Panthere drei Allegorien auf. N a c h einem vergeblichen Versuch, sich der Panthere zu nähern, verletzt sich der Liebende beim Sturz in die D o r n e n h e c k e u n d wird auf einer Bahre zu Amors Liebeshof getragen (DP,V. 711—734). D o r t wird i h m zur Pflege die »noble c o m paignie« (DP,V. 785) von drei D a m e n zur Seite gestellt. Sie heilen den Verwundeten, ermutigen den Verunsicherten u n d begleiten ihn schließlich z u m Schloss der Fortuna (DP,V. 1941ff.): Esperance, Dous Penses u n d D o u s Souvenir. Durch welche Eigenschaften u n d Funktionen zeichnet sich die weibliche Triade im Dit de la Panthere aus? 1. D a m e H o f f n u n g : Cele noble compaignie: Esperance, qui ne fault mie A ceulz qui de bon euer aimment, Et qui de bon euer le reclaimment (DP,V. 785-788), 2. D a m e Süße Gedanken: Dous Penses, ses loiax amis, Qui tout son euer a en vous mis, T'ira compagnie tenir (DP,V. 789-791), 3. D a m e Süße Erinnerung: Aveques le Dous Souvenir Menra, qui si a point le sert Que moult grant loier en desert. (DP,V. 792-794)

103

Die Rolle der Mutter entspricht der Parze, die den Faden erzeugt.

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Laetitia Rimpau

Vor dem Hintergrund, dass das Ich die Panthere verloren hat, verkörpern die drei Allegorien die geistigen Fähigkeiten, das Verlorene wieder und ganz zu gewinnen. Im Unterschied zum Bei Inconnu wird das Erleben der »Erscheinung* als rein geistiges Abenteuer betrachtet. Es ist ein Zeit umfassendes (und vielleicht daher zeitloses) Abenteuer: des hoffenden Denkens (Zukunft), des aktuellen Denkens (Gegenwart) und des erinnernden Denkens (Vergangenheit). Diese verdichteten Eigenschaften machen deutlich, dass die drei Parzen als schicksalhafte Macht wirksam sind. Denn an das Werden, Sein und Vergehen der >Erscheinung< ist das lyrische Ich existentiell gebunden. In der Logik der Funktion tragen die drei Damen dann auch Sorge für die Regeneration des Angeschlagenen, der durch den Sturz sein Selbstwertgefiihl verloren hat. Sie unterhalten - sie erzählen, belehren und ermuntern ihn, seinen Dit vorzutragen: »Ou moult d'esbatement me firent, / Et moult de biaus examples dirent. / Lors moult doucement m'apelerent / Entr'euls .iii. et m'amonnesterent, [...] J e leur dis c'un dit fait avoie, / O u ma volonte demoustroie.« (DP,V. 811—820) Insofern hat das Dreigestirn auch hier unmittelbar mit dichterischer Selbstwerdung zu tun: Sie umgarnen das Dichter-Ich mit Ideenfäden, die zur Entstehung seines Textgewebes (Dit) beitragen. Der Vita Nuova sind das Märchenhafte (Fee) und Allegorische (Bestiarium) in dem Sinne genommen, dass Dante das Uberwirkliche in einen (scheinbar) realen R a u m verlegt. Die Ortlosigkeit ist vielleicht das deutlichste Merkmal der namenlosen Stadt, ihrer Architektur und Bewohner 1 0 4 . Dante gelingt es durch den Kunstgriff der Anonymität (und damit der Allgemeingültigkeit), die »spiritualen Geschehnisse zuweilen heraus in räumliche Szenen« 105 zu übertragen und »jene esoterischen Vorgänge in einer Weise darzustellen [...] daß sie als echte Wirklichkeit aufgenommen werden müssen« 106 . »Räumliche Szenen« und »echte Wirklichkeit« sind hier Begriffe, die — mit Winfried Wehle — ein »räumliches Gleichnis« für ein »dichtungstheoretisches System« 107 darstellen. Vor diesem Hintergrund ist der Auftritt der drei Passantinnen auf >einer Straße< am Anfang der Vita Nuova auch gleichnishaft zu lesen. W i e bereits für den Bei Inconnu erläutert, auch hier ist die >Erscheinung< selbst als wirksames Prinzip (innerhalb der Trias) präsent. Und wie im Bei Inconnu und im Dit de la Panthere erfüllen die drei Parzen auch hier ihre Mission als schicksalhafte

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D i e gesamte Vita Nuova ist in eine Aura der A n o n y m i t ä t getaucht, von der nicht nur das A u t o r - I c h , sondern auch B e a t r i c e (sie!) betroffen sind. Ich gehe i m Z u s a m m e n hang der E r s c h e i n u n g a u f diesen Aspekt ein.

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Friedrich (wie A n m . 9), 1 0 6 .

106

Auerbach (wie A n m . 9), 7 6 .

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W e h l e (wie A n m . 9), 7 9 .

Aspekte

der >schönen

Erscheinung
Erscheinung< in ihrer poetologischen Wertigkeit betreffen. Was für den Bei Inconnu gilt, trifft auch auf die Vita Nuova zu. Die Sequenz der ersten Begegnung gleicht einer Wieder-Begegnung, denn bekannt ist i h m die j u n g e Frau schon seit der Kindheit. 1 0 8 Die Ouvertüre des Erscheinens findet auf der Straße, also im öffentlichen R a u m statt. 109 Diese Straßenszene n i m m t innerhalb des gesamten Werks eine Schlüsselstellung ein. Hier w i e d e r u m ein Prosasatz, aus dessen Aufbau verschiedene Aspekte der >Erscheinung< abzulesen sind. W i e am Beispiel des Proömiums, ich unterteile diesen Satz in Sequenzen und reduziere diese im Folgenden auf seine Schlüsselbegriffe und Funktionen (hier kursiviert). 1. Poi che fuoro passati tante die, 2. che appunto erano compiuti Ii nove anni appresso l'apparimento soprascritto di questa gentilissima, 3.

n e l'ultimo

di questi die a v v e n n e ,

4. che questa mirabile donna apparve a me 5. vestita di colore bianchissimo, 6. in mezzo a due gentili donne, 7.

le quali e r a n o dipiü

lutiga

8.

e passando p e r u n a via,

etade;uo

9. voise Ii occhi verso quella parte ov'io era molto pauroso, 10. e p e r la sua ineffabile

cortesia,

11. la quale e oggi meritata nel grande secolo, 12. mi salutoe molto virtuosamente, 13. tanto che me parve allora vedere tutti Ii termini de la beatitudine. (VN, 94) Daraus ergibt sich eine R e i h u n g , in der z u m einen alle zeitlichen Kategorien (Vergangenheit, Gegenwart u n d Zukunft) angesprochen sind, z u m anderen auch alle Aspekte von Beatrices Erscheinung genannt werden: ihre äußere Erscheinung (Kleidung), ihr Körper (Bewegungen) sowie ihr Geist (Blick) u n d ihre Sprache (Gruß).

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109

110

Im Unterschied zum Bei Inconnu und dem Dit de la Panthere erinnert sich das DichterIch hier bewusst an die erste Begegnung in der Kindheit und erwähnt nachfolgende Treffen in der Jugend. Der Schöne Unbekannte hingegen hat die Fee ganz vergessen, und das Traum-Ich aus dem Dit erinnert sich nur an einen Ausspruch aus seiner Kindheit, nach dem in Träumen Wahrheit enthalten sei (DP,V. 41-43). Das letzte Mal erscheint ihm Beatrice (nur in der Vorstellung) auf der Straße. In Begleitung nur einer Frau, die aber >zwei Namen< trägt. Insofern wiederholt sich die Dreizahl im Abschlussbild wieder: Giovanna, Primavera und Beatrice schreiten auf das männliche Ich zu (VN, 190f.). Hier gemeint: Beatrices Jugend. Wie schon im Proömium beobachtet, findet sich auch hier der Zeitaspekt des Neuen (Sinnbild der Metamorphose) als Inbegriff des Werkes selbst im Zentrum der Sequenz, d.h. umrahmt hier von je sechs Zeilen.

108

Laetitia Rimpau

Das Ich n i m m t diese »mirabile donna« als ganzheitliche, aber auch als Grenzerfahrung wahr. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Tage Jahre Der Tag Zweite Erscheinung Kleidung Drei Passantinnen Die Jüngste Schreiten Blicke Gestik Tote im Jenseits Gruß Grenzzustand

= = = = = = = = = = = = =

Gegenwart Vergangenheit (Kindheit) Gegenwart Gegenwart - Kleidung - Raum (Zentrum) - Körper - Körper - Geist - Körper/Sprache Zukunft — Sprache alle Aspekte der Erscheinung.

Fassen wir zusammen: Die drei Parzen wirken hier (im Gegensatz z u m Bei Inconnu u n d Dit de la Panthere) als Schreitende, d.h. in der Bewegung aus der Distanz. Indem sie an d e m Betrachter vorübergehen, wird das Vergängliche der Erfahrung im F o r t schreiten bereits vorweggenommen. In der Trias wird auch hier das Werden, Sein u n d Vergehen verkörpert - also j e n e Eigenschaften des E p h e m e r e n u n d der Totalität, die die >Erscheinung< charakterisieren.Vergleichbar mit den Allegorien im Dit de la Panthere: Die drei Passantinnen repräsentieren w i e d e r u m drei Kategorien der Zeit: Bezogen auf die erste Erscheinung in der Kindheit (die Vergangenheit), bezogen auf die zweite Erscheinung auf einer Straße (die Gegenwart) u n d bezogen auf den v o r w e g g e n o m m e n e n Tod (die Zukunft). Die A n o r d n u n g der >wundersamen Dame< in der Mitte der Schreitenden weist auf ihre Z e n t r u m s f u n k t i o n hin — in ihr fokussiert u n d bündelt sich das dichterische Streben. Dass sie von zwei älteren Frauenfiguren eingerahmt wird, zeigt sie als Sinnbild eines e r n e u e r n d e n Prinzips (Metamorphose). Abschließend: In der Triade weiblicher Figuren ist Beatrices Trinität angelegt: z u m einen in der schicksalhaften Verkörperung der Zeit, z u m anderen i m ebenso schicksalhaften Zusammenspiel von Körper, Geist u n d Sprache — durch die Komplexität dieser >inneren Schau< wird das lyrische Ich z u m Grenzgänger des poetisch Möglichen.

Aspekte

der >schönen Erscheinung
Erscheinung< vor ihrem eigentlichen Erscheinen durch Stimmen, Geräusche, Gesang oder andere Klangsignale angekündigt oder sie verweisen in ihrer Abwesenheit auf sie. Bezeichnend ist eine wiederkehrende Ambivalenz. In den >Stimmen< liegt eine variantenreiche Klangskala verborgen: Sie reicht vom Schreckenslaut (Schrei) bis zum kunstvollen Lied (Gesang). Auch in der Kategorie von Körperlichkeit, die nicht materiell definiert ist, ist die grundlegende Zweiseitigkeit der poetischen Figur angelegt die Ideenwelt umfasst gleichermaßen Ideal u n d Abgründigkeit. In Smarra wird die Wende v o m Wachzustand in den Schlaf bereits im ersten Satz durch die zwölf Schläge der T u r m u h r angekündigt — Mitternachtsstunde ist Geisterstunde. 1 1 1 M i t d e m Schließen der Augen beginnt fur Lorenzo die Trenn u n g von der A u ß e n - u n d die Fixierung auf die Innenwelt. Akustisch umgesetzt in der Verbindung von bekannten u n d unvertrauten Geräuschen — das Pfeifen des Windes und das befremdliche M u r m e l n einer Stimme. Der Ubergang in die Traumwelt wird bei N o d i e r explizit als Ubergang in die Welt der Imagination und ihre Geräusche werden als das Undefinierbare der >Seelenstimme< beschrieben. Diese steht ganz im Zeichen der >Luftschönen Erscheinung< an, der z u m Inbegriff der poetischen Sprache wird. U n d »la perfection des esprits« 116 kann ebenfalls als Hinweis auf den Erkenntnisgew i n n des poetologischen Experiments gesehen werden. N a c h d e m das Flügeldröhnen u n d Stimmengewirr der Sylphen allmählich verklungen sind, tritt ein neues akustisches Element auf den Plan — ein luftiger Chor, von d e m sich die Imagination tragen lässt, sie »vole de surprise en surprise« 117 , dies so lange, bis »l'instant ou le chant d ' u n oiseau matinal« 118 den M o r g e n ankündigt. D e r Gesang des Vogels ist das abschließende Bild der gefundenen Dichtungssprache.Von i h m erschreckt j e d o c h sind die Nachtgeister, für die der Morgengesang ein »cris precurseur« 1 1 9 , ein Warnschrei ist, durch ihn lösen sie sich ins Nichts auf. Fassen wir zusammen: Die fünf Erscheinungsbilder der >Geist-Stimme< (Wind, Sylphen, Luftchor, Gesang u n d Schrei des Vogels) bringen, in spiralförmiger Steigerung, eine Pendelbewegung zwischen a n o n y m e m Kollektiv u n d b e n a n n t e m M y t h e m , zwischen poetischem Zauber u n d angstvollem Schrecken z u m Ausdruck. A u c h im Bei Inconnu findet sich ein breites Spektrum akustischer Signale, das v o m elementaren Tosen des Wassers bis z u m kunstvollen Gesang der Spielleute reicht. W i e im Z u s a m m e n h a n g der poetologischen R a h m u n g dargestellt, wird die aventure von Musik u n d Gesang der Jongleure in Carlion feierlich eröffnet (BI, V. 21—24). U n d während des räumlichen Ubergangs (ins Imaginäre) begleitet der Gesang der Nachtigall R i t t e r u n d Fee (BI,V 627—628) im Schlaf — unterbrochen wird dieser von Schreien aus d e m Wald: En la forest οϊ un brait Lone a quatre arcies de trait. Molt est doce la vois qui crie; Ce sanble mestier ait d'aie: Molt forment crie et pleure et brait Come la riens qui painne trait, Et demenoit molt grant dolor; Diu reclamait le Creator. (BI,V. 631-638)

114 1,5 116 117 118 119

Ebd. Ebd. Ebd., 85. Ebd. Ebd. Ebd.

Aspekte der >schönen Erscheinung
Aufldärung< ( S t i m m e der Fee). D r i t t e n s , die K u n s t als s e k u n d ä r e Kulturleistung. In der M u s i k u n d i m G e s a n g der Spielleute spiegelt sich das p o e t i s c h e S p r e c h e n s p r i c h w ö r t l i c h als eines, das seinen U r s p r u n g i m g e s u n g e n e n W o r t hat. Vor d e m H i n t e r g r u n d kollektiver K u n s t d u r c h l ä u f t der P o e t v e r s c h i e d e n e Stadien der S p r a c h f i n d u n g u n d e n t w i c k e l t sein ganz p e r s ö n liches W e r k — »Cascuns ovre de son mestier.« (BI,V. 2899) I m Bei Inconnu, a u c h i m Dit de la Panthere w i r d die aventure a m A n f a n g akustisch d u r c h ein Kollektiv i n a u g u r i e r t — hier zunächst d u r c h die (wilden) T i e r e i m Wald, die »Faisans par le bois grans tempestes.« (DP,V. 68) Das ängstliche Ich ü b e r g e h t diese Geräusche, reagiert aber u m so erfreuter, als er — n a c h d e m die T i e r e p l ö t z lich v e r s c h w u n d e n sind — in d e r F e r n e eine M e l o d i e h ö r t : » Q u a n t j e d e d e n s le bois oy / Tel chose qui m o l t m ' e s j o i , / C a r j'o'i si g r a n t m e l o d i e / C ' o n q u e s tele n e f u oye: / E n citoles et e n vieles / O y faire notes nouveles« (DP,V. 1 5 3 - 1 5 8 ) . Es sind A m o r s Spielleute, die feierlich z u m Liebeshof z i e h e n . W ä h r e n d das Fest i m Bei Inconnu an e i n e m O r t (Hof) stattfindet, ist die I n s z e n i e r u n g des Festzuges i m Dit

120

121

Die Ohnmacht gegenüber der elementaren Wortgewalt wird hier als Illusion gezeigt - ein Hinweis fur den souveränen Umgang mit Sprache. Im übertragenen Sinn die Befreiung des Wortes aus seiner Gefangenschaft.

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Laetitia Rimpau

dynamisch — er ist zunächst nur akustisch präsent, in Folge rückt er allmählich in die Gegenwart seines Betrachters. Auffallend ist an der »grant melodie« das ungehört Neue, ein Klangereignis, das nicht der Stadt, sondern dem Zauberwald (sie!) zugehörig ist. Aus der akustischen Wahrnehmung leitet unser aufmerksamer Hörer detaillierte Beschreibungen der Instrumente ab. Sein Wissen wendet er sogleich an — wir haben es mit einem Intellektuellen zu tun — denn »Chevretes, buisines, tabors, / Dont moult me plaisoit Ii labors.« (DP,V. 163—164) Die Faszination geht so weit, dass er sich auf die Wiese legt und — mit aufgestützten Armen — dem nahenden Festzug >entgegen< hört und schaut: Et qui bien me devoit seoir, Lors me prist grant fain de veoir [...] Quele part la vois de ceulz oye, Por torner la tout droit ma voie. Forment alay, plu n'y tardai, Devers le bois, si regarday, Et vi venir la compaignie Q u e tant avoie couvoitie, [...] ^ Si m'aprochai d'iex .i. petit, Car j'avoie grant appetit Et grant desirrier de savoir Se par l'un d'eulz porroie avoir La droite interpretation [...]. (DP,V. 181-203) 1 2 2

Welche Funktion haben die akustischen Zeichen? Wie nimmt sie das Ich wahr? Zunächst lenkt die Musik von der Melancholie ab, in die das Ich durch den ersten Verlust der Panthere zu fallen droht. Sie unterhält, interessiert und fasziniert ihn schließlich so sehr, dass er von der »grant melodie« ganz in den Bann gezogen ist. In den Begriffen »grant fain« (DP,V 182), »grant appetit« (DP,V 200) und »grant desirrier« (DP,V. 201) bündelt sich der Drang, nicht nur mehr zu hören, sondern auch mehr zu sehen (DP,V. 182) und zu wissen (DP,V. 201). Aus dem anfänglichen Hörerlebnis wird ein Sinnbedürfnis — durch Amor, Hermeneut und Semiotiker avant la lettre, wird es im Folgenden eingelöst. So scheint es in der >Logik der Struktur< zu liegen, dass mit dem Einzug des Festzugs auch der des Frühlings vollzogen wird: »Par la chantoient Ii oisel / Α haute vois si doucement / Come se Diex y

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Hervorhebungen von mir.

Aspekte

der >schönen

Erscheinung

113

fust proprement.« (DP,V. 282-284) A m Anfang steht auch im Dit bereits der E n d p u n k t - das Bild des idealen, göttlich begnadeten Sängers. Auf den ersten Blick scheinen in der Vita Nuova alle märchenhaften Zeichen eliminiert zu sein — weder gibt es das Motiv des >Frühlingseingangs< n o c h vernimmt das lyrische Ich Stimmen oder Geräusche, die eine Aura des Unwirklichen haben. Irritationen und Zweifel durch phantastische Elemente sind ausgespart. Alles scheint sich auf der >realen< Ebene (sensus litteralis) abzuspielen und daher auch >erklärbar< zu sein. D e n n o c h : Überlegungen dieser Art gehen — im Kontext der Allegorese — in die falsche R i c h t u n g . Richtiger müsste man in Bezug auf Dantes Text sagen: Eigentlich geht es in der Vita Nuova u m nichts anderes als u m >Stimmen< — die von Amor, die der Dame(n), die des Erzählers. 1 2 3 U n d u m nichts anderes als u m Klangbilder — Experimente mit lyrischer Sprache in Vers u n d Prosa. A m Beispiel von zwei Details m ö c h t e ich das Ausmaß von akustischen E i n d r ü cken zeigen, die nicht unmittelbar zu lokalisieren, d.h. nicht direkt auf einen sichtbaren >Urheber< zurückzufuhren sind. N a c h d e m der Liebende Beatrice das zweite Mal in der Kirche gesehen hat, hört er eine Frauenstimme, im zentralen Traum von Beatrices Tod hört er Engelsstimmen. Es handelt sich u m zwei F o r m e n auditiver W a h r n e h m u n g , in denen die Kausalität von W i r k u n g und Ursache nicht unmittelbar gegeben ist — durch beide >Stimmen< spricht hier die >ErscheinungStimmung< in die andere geworfen. Innerhalb der Erzählzeit gibt es vier Begegnungen im öffentlichen (oder privaten) Raum, in der Abfolge von Straße, Kirche, Palazzo und Straße.

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Laetitia

Rimpau

die Frau hinter ihr) schaut, fühlt sich jene angesprochen, »la quale mi mirava spesse volte« (VN, 104), und dreht sich um. Die Folge dieses (scheinbaren) Missverständnisses — der Blickwechsel fällt auf und wird, nach Ende der Messe beim Hinausgehen, sogleich — wahrscheinlich von einer Frauenstimme — kommentiert: Onde molti s'accorsero de lo suo mirare; Ε in tanto vi fue posto mente, che, partendomi da questo luogo, mi sentio dicere appresso di me: »Vedi come cotale donna distrugge la persona di costui« [...]. (VN, 104)125

Da die Beobachtete mit Namen genannt wird 126 , geht die Taktik hier auf — die allgemeine Aufmerksamkeit ist auf die Frau >in der Mitte< gelenkt. Nach den klassischen Regeln der Geschlechterrollen gilt: Diese Frau ist an allem Schuld und der arme Mann das Opfer. So kommt es, dass sich der Erzähler mit einiger Genugtuung aus dem sakralen Raum entfernt: »Allora mi confortai molto, assicurandomi che lo mio secreto non era comunicato« (VN, 104). Und er beschließt, das Spiel der Täuschung ab nun (und für Jahre) zu seinem Prinzip zu machen: »E mantenente pensai di fare di questa gentile donna schermo de la veritade« (VN, 104).Was zunächst als gute Strategie scheint, stellt sich im Folgenden als Falle dar — Beatrice kommt die falsche Rede zu Ohren und verweigert ihren Gruß. Berücksichtigt man diese (fatale) Auswirkung, dann stellt die unbekannte Stimme eine wesentliche Weiche: Zum einen bestärkt sie den Liebenden in der Rolle als Falschspieler, zum anderen legt sie seine Karten als Falschspieler offen. In diesem Sinne verstanden, kann die Stimme die von Beatrice sein, die bereits verbal auf die Charakterschwäche des Liebenden verweist: »>Vedi come cotale donna distrugge la persona di costui«< hieße aus dieser Perspektive, dass die (lächerliche) Erfindung eines Vorwands die zerstörerische Komponente seines Handelns und die niedere Qualität seines Charakters anspricht. In die >Strategie< ist die >Strafe< eingebunden. Denn: Die Fixierung auf die falsche Frau ist der Grund für den Verlust der richtigen. Und genau das wird von der >anonymen< Stimme zum Ausdruck gebracht. Ein weiteres Detail (in der Rubrik auditiver Zeichen) soll das Behauptete unterstreichen: In der Prosa- und Lyrikversion des Traums von der >toten Beatrice< kommt

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Aus Gründen der Übersicht unterteile ich den Prosatext wiederum in Sequenzen (Zeilen). Entweder kennt sie der Erzähler und erkennt ihren Namen oder er schließt aus dem unbekannten Namen, dass Beatrice nicht gemeint ist.

Aspekte der >schönen Erscheinung
StimmenHilfe in der Höhe< ist - wie die lebendige Beatrice auch - e n d gültig verloren. D o c h der Poet hat sie gewonnen: Sie gerinnt zur E r i n n e r u n g u n d steht dem männlichen Ich n u n jederzeit als >abrufbares< Bild zur Verfugung. Insofern hat es der Dichter einfacher als der Liebende.

Schneewittchen-Dornröschen — »son corps...les blancs petales imbibes de carmin« W ä h r e n d in der ersten Phase die (Vor-)Zeichen auf die Abwesende verweisen, ist der eigentliche Auftritt der >Erscheinung< zeichenhaft. Zeichenhaft insofern, als dass sie in all ihren Aspekten das Individuelle überschreitet: W e n n sie überhaupt einen N a m e n trägt, ist er unpersönlich 1 2 7 , K ö r p e r u n d Kleidung sind schemenhaft in die Farben R o t u n d Weiß getaucht. »Beide Farben weisen auf Sinnliches und Spirituelles, auf Leben u n d T o d hin.« 128 Diese wiederkehrenden Attribute scheinen

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In Smarra trägt die geflügelte Zauberin den Namen der ägyptischen Göttin Meroe. In den mittelalterlichen Texten bleibt die Figur der >Erscheinung< unpersönlich. Im Bei Inconnu wird die Fee zunächst nur Dame, erst nach der OfFenbarungsszene Fee »Blances Mains« (BI,V. 3272) genannt. Ihr Name entspricht den Körperattributen und damit ihrer Funktion als >weiße Göttinvon vielen* gegeben, »la quale fu chiamata da molti Beatrice«, da diesen vielen >kein anderen Name einfällt, »Ii quali non sapeano che si chiamare.« (VN, 88) Der Erzähler übernimmt ihn vorbehaltlos und geht mit keinem weiteren Wort darauf ein. Anders gesagt: Eigentlich ist Beatrice eine namenlose Figur. Die Anonymität dieser Frauenfiguren unterstreicht ihre Funktion als imaginäres Objekt. Frank-Rutger Hausmann, »Anfänge und Duecento«, in: Volker Kapp (Hrsg.), Italieni-

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Laetitia Rimpau

für ihre Doppelnatur signifikant zu sein: Einerseits zeichnet sich die >Erscheinung< durch ihre sinnlich-erotische Körperpräsenz aus. In der Farbe R o t bündeln sich alle Eigenschaften der Materie — des Sichtbaren und Lebendigen (Blut als dynamisches Prinzip). Andererseits ist sie auch ein Licht- und Geistwesen, das durch seinen strahlenden Glanz, seine Transparenz oder Helligkeit auffällt - sie hat blondes Haar, besonders weiße Haut, durchsichtige Kleidung. La blondeur toute solaire de Blonde soulignerait en outre la veritable appartenance de cette fee [Blonde Esmeree, L.R.] au m o n d e celeste et lumineux. [...] Blonde a d'ailleurs une dame de compagnie n o m m e e H e b e dont le n o m rappeile celui du soleil en grec (helios). Elle se relie ainsi ä l'univers solaire de sa maitresse. 129

Die Farbe Weiß bezieht sich auf Aspekte des Spirituellen — auf die metaphysische Welt der toten Seelen 130 und der Geister. Es ist für unsere These aufschlussreich, dass die Begriffe >schön< und >Schein< in ihrer Etymologie genau den Lichtaspekt enthalten: »>Schein< meint demnach erstens i. S. von >splendor< oder >lumen< und i. S. des Verbs >lucere< das Leuchten und Glänzen« 131 , und auch das >Schöne< weist »Korrespondenzen zu hell, durchsichtig und klar«, und im »Konnotationsspektrum von hell stehen Licht, Glanz, Blendung, Gold und Schein« 132 . In Kleidung und Körper kommt das Doppelwesen der >schönen Erscheinung< zum Ausdruck: Sie tritt in irdischer Gestalt auf, gehört aber der überirdischen Welt an. Daraus leitet sich das Charakteristikum der schicksalhaften Begegnung< her: sie bleibt temporär. Allen männlichen Protagonisten geht das weibliche Gegenüber (auf die ein oder andere Art) verloren. Gerade dieser Verlust verleiht der Begegnung ihre ästhetische Intensität und poetologische Qualität: D e n vergänglichen Augenblick so bewusst zu erleben, dass er erinnert werden und in ein Sprachbild gefasst werden kann. Im Ausgangstext Smarra bereiten die drei Musen das Bedeutungsfeld unter anderem dadurch vor, dass sie Granatblüten und Rosenblätter auf schäumende Milch streuen 133 , das Hexengebräu kündigt die Zauberin Meroe an, und das umfassendste

129 130

131 132 133

sehe Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar 2 1994, 1 - 2 9 , hier: 19. Siehe auch Wolf-Bonvin (wie Anm. 36), 164-168. Walter (wie Anm. 31), 148. Das plötzliche Erscheinen der Weißen Frau ist im deutschen Volksglauben das Z e i chen des bevorstehenden Todes. Siehe Maury (wie Anm. 86), 25. Früchtl (wie Anm. 19), 367. Reschke (wie Anm. 19), 392. Nodier (wie Anm. 45), 98.

Aspekte

der >schönen Erscheinung
Dame< in Erscheinung tritt, wird sie auch durch Farbzeichen angekündigt. Diese sind als Teilaspekte ihres Körpers auf Boten, O b j e k t e u n d R ä u m e bezogen. Die Verbindung der Botin Helie zur Fee-Geliebten spiegelt sich in ihrem Körperbild — sie gleicht weißen u n d roten Sommerblüten, »Face ot blance con flors d'este, / C o m e rose ot vis colore« (BI,V. 139f.). Ebenso der Wohnraum, der die Fee wie eine äußere Schale umgibt: Die Insel ist golden, Palast u n d T ü r m e sind aus w e i ß e m u n d rotem M a r m o r (BI,V 1889—1999), und der Palisadenritter hat ein Pferd mit roter Seidendecke, auf der zwei weiße H ä n d e abgebildet sind: »Covers d ' u n b o n pale vermel« und »Par mi ot unes blances mains; / D ' u n samit blanc con flors de rains« (BI,V. 2055-2058). Das erste Erscheinen der >schönen Erscheinung< schließlich ist wie ein W u n d e r inszeniert. D e r R i t t e r erlebt es wie eine mystische Erleuchtung. Mit d e m Eintritt des Feenkörpers ist der Saal plötzlich wie von Licht durchströmt: Ceste ne trove sa parelle, Tant estoit biele a grant mervelle.

134 135 136 137 138 139 140

Ebd., 107. Hier das Traum-Ich zweiten Grades. Nodier (wie Anm. 45), 104. Ebd., 119. Ebd., 104. Ebd., 119. Ebd., 105.

Laetitia Rimpau

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Sa biautes tel clarte jeta, Quant ele ens el palais entra, C o m la lune qu'ist de la nue. Tele mervelle en en a eüe (BI,V. 2219—2224).

Mondlicht und Wolke zeigen sie als Königin der Nacht, als Lichtkörper in der Dunkelheit. Insofern repräsentiert sie (wie die Fee im Lai Lanvat) in ihrer Idealität eine Gegenwelt zum Artushof. Darum verwundert es nicht, wenn der Schöne Unbekannte beim Anblick ihres strahlenden Körpers fast in Ohnmacht fällt: »Li Descouneüs, quant le vit, / Qu'il cha'i jus a bien petit.« (BI,V. 2225f.) Obgleich auch Renaut de Beaujeu mit Superlativen nicht geizt, die Fee As Blanches Mains überschreitet die Grenze menschlicher Schönheit.Von Naturas Hand geschaffen, ist sie ein Meisterwerk, so vollkommen, dass sie an die Venusstatue von Pygmalion erinnert: »Si l'avoit bien Nature ouvree / Et tel biaute Ii ot donnee« (BI,V. 2227f.). 1 4 1 Nachdem die Aura der Fee angesprochen ist, folgt die ausfuhrliche Beschreibung ihres Körpers: Que plus bei vis ne plus bei front N'avoit feme qui fust el mont. Plus estoit blance d'une flor, et d'une vermelle color Estoit sa face enluminee; Molt estoit biele et coloree. (BI,V. 2 2 2 9 - 2 2 3 4 )

Die blütenweiße Haut des Gesichts mit dem strahlenden, roten Teint wird durch die weißen Zähne, Arme, Hände, Brüste und die blonden Haare im >Kontrast< zum roten Kussmund aufgegriffen (BI,V. 2 2 3 5 - 2 2 4 4 ) . Es ist auffallend, dass im Bei Inconnu der schreitende, weiß-rote Körper zuerst nackt und eigentlich nur nackt beschrieben wird. 142 Nur beiläufig und am Ende werden ein Mantel mit Hermelinsaum 143 und ein Kranz aus Rosen auf dem offenen Haar erwähnt (BI,V. 2 2 4 7 - 2 2 5 4 ) . Halten wir fest: Der Ritter nimmt die Fee hier so wahr, wie er sie sich wünscht, als erotisches Objekt, das sogleich lächelnd auf ihn zukommt und die Arme um ihn schlingt.

141

142

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Insofern wäre sie nicht nur ein Meisterwerk, sondern ein Kunstwerk, enstanden aus der >göttlichen< Phantasie seines Schöpfers. In V. 2246 ist vordergründig von der Schönheit des Samtstoffes die Rede, »Onques si biele n'ot sous nue«, die es unter diesem Himmel gäbe, das Wort »nue« spielt aber auch auf die Nacktheit der Feenkönigin an. Als Sommerfell rot und weiß.

Aspekte der >schönen Erscheinung
Erscheinung< im Dit eindimensional, d.h. auf ihre Sprach-Funktion reduziert. Alle erotisierenden Elemente fallen weg, attraktiv ist die >Dame< als Geistwesen — symbolisert durch Blick u n d Atem. Auch dieser Aspekt von >Schönheit< überschreitet menschliche Dimensionen, »A ce c'on peüst bien descrire / Sa biaute, tant y a a dire. / D ' u n e chose m e merveilloie, / Q u a n t cele beste regardoie« (DP,V. 95—98). U n d auch sie ist eine Lichtgestalt im D u n k l e n (des Waldes): »Qu'ele n'eüst de lor coulour, / Tant recevoit eile du lour« (DP,V. 101f.), deren besondere Anziehungskraft von ihrem A t e m ausgeht, »Por l'amor de sa douce alaine, / Car douce estoit et b o n e et saine.« (DP,V. l l l f . ) Er ist ein Aspekt der >schönen Erscheinungmaßvoll< gesprochenen Wortes. W i e A m o r es ausdrückt, »L'alaine qui est douce et bonne, / Q u i au malades sante donne, / [...] C e senefient les paroles, / Q u i ne sont ne nices ne foles« (DP,V. 493-500). W ä h r e n d die Erotisierung des weiblichen Körpers i m Bei Inconnu ausgespielt, im Dit de la Panthere ausgespart wird, k o m m t sie in der Vita Nuova in anderer F o r m vor - im Traum. Z u m einen tritt Beatrice in öffentlichen R ä u m e n der Stadt, zum anderen in den intimen T r a u m - R ä u m e n ihres Erzählers auf. Beide F o r m e n des >Erscheinens< stehen, besonders in der hier betrachteten Episode, in engem Zusammenhang. W ä h r e n d im Bei Inconnu Ritter und Fee gemeinsame Nächte verbringen, treten die weiblichen Figuren i m Dit u n d in der Vita Nuova niemals allein auf: Die Panthere ist von anderen Tieren im Wald oder von Fortunas Hofstaat und Beatrice von einer oder mehreren D a m e n umgeben, w e n n sie auf der Straße, in der Kirche oder im Palazzo erscheint. D i e fehlende Intimität wird bei Nicole u n d Dante durch Träume kompensiert. Z u r Begegnung im öffentlichen R a u m : D e r Betrachter n i m m t Beatrices Kleid u n g ausschließlich in den ersten Begegnungsszenen wahr: als sie (ihm) das erste Mal in der Kindheit >erscheint< u n d als er sie nach Jahren auf der Straße wiedersieht. Die Farben der Gewänder entsprechen — eindeutiger als in den beiden vorherigen Texten — ihrem Zweigesicht: Als Mädchen tritt sie rot gekleidet, »Apparve vestita di nobilissimo colore, umile e onesto, sanguigno« (VN, 89), als Jugendliche hingegen weiß gekleidet auf, »questa mirabile donna apparve a m e vestita di colore

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Laetitia Rimpau

bianchissimo«. (VN, 94) Beide Farben sind durch den Superlativ (»nobilissimo« und »bianchissimo«) in ihrer Intensität gesteigert — das Blutrot ins tiefrote Purpur, das Weiß in seine reinste Form. Während es in der >Erscheinung< des Mädchens nur um Farbe und Form der Kleidung geht 144 , spielt in der Begegnung mit der jungen Frau ihr Körper eine zentrale Rolle: Denn sie »volse Ii occhi« und »mi saluto molto virtuosamente« (VN, 94) - Blick und Gruß sind fur den Erzähler der Vita Nuova genau so folgenreich wie die Umarmung, die der Schöne Unbekannte durch die Fee erfährt. Durch den (nahen oder fernen) Kontakt mit der >Erscheinung< wird der Pakt mit dem Überwirklichen geschlossen. Ins Metaphysische übertragen, fugen sich hier Materie und Geist, Leben und Tod als Grundstoffe der >schönen Erscheinung< zu einer Einheit. Schreitend trägt Beatrice hier das vor, was sie repräsentiert — ein geistiges Prinzip. 145 Direkt an das erste Wiedersehen gebunden ist eine Traumvision, in dem der Erzähler Beatrice - jetzt an der Seite von Amor — als nackten Körper >schaut Totem als Speise aufzwingt. Zögerlich und widerwillig isst sie es aus seiner Hand. 146 In diesem symbolischen Akt wird die Einheit des Gegensätzlichen aufs Neue vorgeführt: Indem die Tote (Weiß) das Leben (Rot) verspeist, ist sie Sinnbild einer poetischen Figur, die aus der paradoxen Notwendigkeit von Statik und Dynamik lebt.

144 145

146

»[...] cinta e ornata a la guisa che a la sua giovanissima etade si convenia« (VN, 89). In den folgenden beiden Begegnungen spielt das äußere Erscheinungsbild keine Rolle mehr. In Smarm hält Meroe das ausgerissene Herz des toten Träumenden wie eine Trophäe in die Luft.

Aspekte der >schönen Erscheinung
Viens, me dit-elle, [...] viens visiter l'empire que je donne ä mon epoux [...].«Te voilä, dit-elle, m o n eher Smarra, le bien-aime, l'unique favori de mes pensees amoureuses [...].«süße Rede< der Fee ist dadurch charakterisiert, dass sie das, was sie verspricht, nicht halten kann. Sprache steht hier i m Zeichen der Illusion: -

»Li miens amis«, das Possessivpronomen unterstreicht den intendierten (aber verfrühten) Akt absoluterVereinnahmumg,

-

»Conquis m'aves«, geht einen Schritt zu weit in der Annahme, dass er sie bewusst erobert habe (was noch nicht der Fall ist),

-

»vostre serrai«, verspricht etwas, was zu diesem Zeitpunkt n o c h nicht eingelöst werden kann.

>Schöner Schein< und >Sein< des Gesagten stehen zu diesem Zeitpunkt n o c h nicht im Einklang mit der Entwicklung von Held u n d Fee. Die Maßlosigkeit ihrer R e d e spiegelt sich in der Maßlosigkeit seines Verhaltens: Auch sein abverlangter Kuss ist Ausdruck vorschneller Besitzergreifung. Die Dissonanz zwischen der Sprache des Begehrens u n d seiner Erfüllung ist hier klar erkennbar. Die andere D i m e n s i o n schicksalhafter Sprache k o m m t in der (bereits k o m mentierten) Episode des Fier Baisier z u m Tragen: D e r Drache (als feuerspeiendes Tier dämonisches Gegenbild zur Fee) raubt d e m R i t t e r den Kuss — die D r a c h e n zungen berühren seinen M u n d u n d damit sein Sprechorgan. Ein anderer Aspekt

153

Ebd., 109.

Aspekte

der >schönen

Erscheinung
Dame< zu gewinnen. Das entgegengesetzte Prinzip dieser >sages paroles< wird vom Drachen, also dem Fabeltier vertreten, das durch den Atem der Panthere in die Flucht getrieben wird (DP,V. 521f.) 155 . Als solcher ist er nur in der Möglichkeit anwesend, als agierendes Prinzip jedoch abwesend. Poetologisch gewendet: Während die Lichtgestalt Panthere das ideale schöpferische Prinzip einer klaren, rational gesteuerten Sprache repräsentiert, tritt das feuerspeiende Tier als mögliche Verkörperung von »Orgueil«, »Envie«, »Despit« und »Vilonnie« (DP,V. 533f.) auf. Gemeint ist eine von missgünsti-

154

Zur Panthere als Allegorie des göttlichen Wortes siehe Pierre de Beauvais, Bestiaire (~1217) und Richard de Fournival, Le Bestiaire d'amour (~1250), in: Gabriel Bianciotto (Hrsg.), Bestiaires du Mayen Age, Paris 1980, 45-48 und 125-168, hier: 144f. Allgemein zur Symbolik der mittelalterlichen Bestiarien: Francesco Zambon, L'alfabeto simbolico

155

Zur Panthere als Uberwinderin des Drachens siehe Pierre de Beauvais (wie Anm. 154), 45 und 47.

degli animali.

I bestiari del medioevo, M i l a n o 2 0 0 1 .

126

Laetitia Rimpau

gen E m o t i o n e n geprägte Sprache. Im Verlauf der gesamten Handlung k o m m t dieser negative Pol gar nicht erst z u m Zuge, angedeutet wird er nur durch das Knurren der Panthere selbst, als ihr der Liebende zu nahe tritt: »Car m e pesast se grouci'er / Le ve'isse ne corrouc'ier.« (DP,V. 705f.) Festzuhalten ist: Die sprachliche Auseinandersetzung mit der >Erscheinung< bleibt im Dit de la Panthere relativ statisch u n d an dem Regelwerk des Maßvollen orientiert. W i e in der Vita Nuova im Z u s a m m e n h a n g der drei Parzen bereits erläutert, Beatrices G r u ß während der ersten Wiederbegegnung ist der Ausgangspunkt ihrer W i r k macht — er versetzt den Betrachter in einen Taumel der Glückseligkeit. Zunächst grüßt sie ihn tugendhaft, »mi salutoe molto virtuosamente« (VN, 94), diese Tugendhaftigkeit begründet ihre Funktion als »la donna de la salute« (VN, 95), als Figur seiner Erlösung. Obgleich nichts über die genauen sprachlichen Inhalte der Anrede gesagt wird, ist sie für das männliche Gegenüber der Inbegriff huldhafter Gunst. Diese Gnade, die i h m durch ihre >Zugewandtheit< zu Teil wird, spiegelt sich auch im anschließenden Wachtraum. D o r t erinnert er Beatrice als »la quäle«, die »m'avea lo giorno dinanzi degnato di salutare.« (VN, 95) Ist es die Schreitende, die ihren Beobachter zum Auserwählten macht? O d e r ist es das Ich selbst, das sich zu solchem stilisiert? Festzuhalten ist: Das Grußritual bildet die Grundpfeiler einer A m o r p o e tik, die paradoxerweise davon lebt, dass diese zusammenbrechen. D i e Kehrseite der >dialogischen< Medaille ist Beatrices verweigerter G r u ß . Betrachtet man den Text als ein N e t z von Funktionen, dann folgt in der Logik (der Proppschen Märchenstruktur) auf die Fülle der Mangel. Die Angebetete hat — wie die Fee im Bei Inconnu — mit ihrer Geste der Gunst die höchsten Erwartungen beim Erzähler ausgelöst — seine Erlösung. D i e Ü b e r h ö h u n g ins Absolute deutet bereits auf ein Missverhältnis zwischen Wunsch- u n d Realitätsprinzip u n d damit auf die notwendig folgende Desillusionierung hin. Das scheinbar >zufällige< Zusammentreffen inmitten der Hochzeitsgesellschaft markiert den Tief- und W e n d e p u n k t der Handlung. D e r Schreck des U n v e r h o f f ten lässt den Liebenden erbleichen u n d symbolisch sterben: Allora fuoro si distrutti Ii miei spiriti per la forza che Amore prese veggendosi in tanta propinquitade a la gentilissima donna, che non ne rimasero in vita piü che Ii spiriti del viso, e ancora questi rimasero fuori de Ii loro istrumenti, perö che Amore volea stare nel loro nobilissimo luogo per vedere la mirabile donna. (VN, 138) Körper u n d Gesichtszüge erstarren, das Gesicht wird totenbleich, die Lebensgeister, so heißt es, scheinen sich verabschiedet zu haben. D e r eigentliche, symbolische Todesstoß erfolgt aber dadurch, dass Beatrice (und die anderen Frauen) die äußere Verwandlung bemerken und scherzhaft kommentieren: »Io dico che molte di queste

Aspekte der >schöneti Erscheinung
schönen Erscheinung< kann die Dynamik hervorgehen, die die Verwandlung des Erzählers einleitet. In der Logik der imaginären Struktur stellt dieser Tiefpunkt der Handlung die Weiche flir das zukünftige DichterIch. Daher ist es kein Zufall, dass während u n d nach der Szene i m Palazzo erstmals von »la cagione del mio trasfiguramento« (VN, 139) u n d »la nuova trasfigurazione« (VN, 143) die R e d e ist. D e r endgültige Verlust von Beatrice kündigt sich an. Erst durch ihre absolute Abwesenheit entsteht das, was die eigentliche Grundlage der gesamten Vita Nuova bildet: das Erinnerungsbild der >schönen Erscheinungschönen Erscheinung< ist, in allen Facetten ihrer Körperlichkeit, die Ambiguität. Da sie ein poetisches Prinzip repräsentiert, vereinen sich in ihrer (unsichtbaren u n d sichtbaren) Gestalt die gegensätzlichen F u n k tionen: Sein und Schein,Vergänglichkeit und Ewigkeit, Leben u n d Tod. Als F o r m imaginierter Weiblichkeit ist sie Teil eines literarischen Traumdiskurses — ein inneres Bild, das in äußere Zusammenhänge (von R a u m , Zeit und Handlung) gestellt wird. O b als Fee, Panthere oder als >donna angelicataschöne Erscheinung< ist ein Figurentypus, der, das wird in allen Texten sichtbar, an die Genese poetischer Sprache gebunden ist. Ihre R e d e wirkt produktiv wie destruktiv, in j e d e m Fall aber schicksalhaft auf das lyrische Ich. Dieses ist in allen drei gewählten Beispielen von der Wirkmacht des weiblichen Wortes abhängig. Die zweideutige Sprache beeinflusst das dynamische oder retardierende M o m e n t poetischer Produktion. Festzuhalten ist: Alle Phasen der Begegnung mit den phantastischen Figuren avant la lettre bilden die Grundlage einer Poetik, die in der Tradition onirischer Diskurse steht. Die Ambivalenz ist die der möglichen Traumgesichter, die schon bei H o m e r — theatralisch inszeniert — durch zwei T ü r e n schreiten: Die >wahren< erscheinen in der hornfarbenen, die >falschen< in der elfenbeinernen Tür. 1 5 6 D e n n , mit Jacques Le GofF:

156 p r ; t z Schalk, »Somnium und verwandte Wörter in den romanischen Sprachen«, in: F. S., Exempla romanischer Wortgeschichte, Frankfurt a.M. 1966, 295-337, hier: 298.

128

Laetitia

Rimpau

Le reve forme un ensemble qui agit par l'union de la vision et de la parole, de la vue et de l'ou'ie. Les apparitions oniriques parlent et leurs paroles, claires ou obscures, font evidemment partie du message.157 Bei Renaut, Nicole und Dante spiegeln sich in den Aspekten des abwesenden und anwesenden weiblichen Körpers Facetten einer generierenden Poetik: Sprache, Dichtung und Text im Spannungsfeld von Täuschung und Sichtbarwerdung. 158

157 158

Le Goff (wie Anm. 13), 268. Früchtl (wie Anm. 19), 367.

II. Emotion - Begehren - Sexualität

Elisabeth S c h m i d

Lüsternheit. Ein Körperkonzept im Artusroman

Abstract: In the generic system o f German courtly literature, especially Arthurian Romance reserves a space to display the charms o f the female body. It starts with Hartmann von Aue who, independently o f his model, exhibits the interplay o f bare spots and clothing as an erotic appeal. This effect is amplified as well as increased by Wolfram von Eschenbach for example in his production o f Jeschute as damsel in rags. On the other hand, the shameless exposing o f the female body in so called virtue tests in Heinrichs von dem Türlin Crown may be seen as an progression o f Wolframs procedures, for instance the metaphorical stripping o f lady Antikonie by comparing her to a hare roasted on a spit. Whereas in the case ofWolfram the literary skill of the poet allows us to enjoy the otherwise crass lasciviousness o f some o f his jokes, in the case of Heinrich the stylistic crudeness does nothing to moderate the pornographic effects. In this, as it follows from the contribution o f Friedrich Wolfzettel in this volume, the German type o f Arthurian romance persues a peculiar course. Moreover the massive sexual transgressions present in the Crown (dating from the first decades of the 13 th century) doesn't fit in the history o f literature which generally attributes such an development to a later period and a different social context.

Lüsternheit: W e r a u f der S u c h e nach der historischen R e i c h w e i t e des Begriffs das Grimmsche

Wörterbuch

konsultiert, findet, dass das Adjektiv >lüstern< von L u t h e r in

die deutsche Schriftsprache eingeführt wurde. B e l e g e scheint es allerdings vor d e m 18. J a h r h u n d e r t k a u m zu geben. D a b e i erscheint G o e t h e als K r o n z e u g e für den Wortgebrauch. Das Adjektiv >lüstern< (appetens, avidus) meint als Attribut zu e i n e m persönlichen Substantiv »nach e i n e m genusz begehrlich«; verbunden mit speziellen Verben (ζ. B . >lüstern machenlüstern< als die Anziehungskraft des erregenden Objekts; >lüstern< wird auch mit menschlichen O r g a n e n verbunden, »z. B . ein lüsternes auge«; >lüsternFrau< oder anders gesagt: »Der Textkörper ist das D o u b l e des Phallus, nicht die Frau.« 14 Des Weiteren kennzeichnet es die Schreiber dieser Gedichte, dass sie auch dort, w o sie den K ö r p e r der Frau mit Komplimenten überziehen, viel m e h r an der E n t faltung ihrer eigenen rhetorisch poetischen Kompetenz interessiert sind als an der

11

Hartmut Böhme, »Erotische Anatomie. Körperfragmentierung als ästhetisches Verfahren in Renaissance und Barock«, in: Claudia Bentheim, Christoph Wulf (Hrsg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie,

12 13 14

Vgl. ebd., 239. Vgl. ebd., 236. Ebd., 238.

H a m b u r g 2001, 2 2 8 - 2 5 3 .

138

Elisabeth Schmid

Schönheit der Frauen selbst; es ist ihre eigene Zergliederungskunst, welche die M ä n ner preisen; insofern ist diese Haltung »im M e d i u m des weiblichen Körpers r a d i kal narzißtischnormalhetero-sexuellen lat. villanus = Bauer) entspringt. Für Karl Lachmann sind es allerdings zwei überschüssige Verse, »ein albernes Wortspiel« 16 , das er gern z u m Verschwinden gebracht hätte u n d wenigstens einklammerte. Ich pflichte ihm nicht bei: Die Stelle ist witzig. Zugleich ist nicht zu bestreiten, dass die ganze Veranstaltung unsere Aufmerksamkeit auf die Kunst ihres Erzeugers lenkt, zu deren Preis sie gereichen soll.

II. R e i z e n d e E i n z e l t e i l e I m achten B u c h des Parzival w i m m e l t es geradezu von Tiermetaphern, auch w e r den hier, wie seinerzeit R ü d i g e r Schnell gezeigt hat, Vogeljagd u n d Minnejagd vielfältig ineinander gespiegelt. 17 Die Textpassage, u m die es hier geht, steht im

15 16 17

Ebd., 237. Karl Lachmann, »Vorrede«, in: Wolfram (wie Anm. 9), IX. Rüdiger Schnell, »Vogeljagd und Liebe im 8. Buch von Wolframs Parzival«, PBB 96 (1974), 246-269.

Lüsternheit. Ein Körperkonzept

im

Artusroman

139

Z e i c h e n von Gawans Liebeshunger u n d z u d e m u n t e r d e m Aspekt der verkehrten Welt, d e n n unmittelbar davor werden als Vergleichsgröße f ü r die K ö n i g i n A n t i k o nie die M a r k t w e i b e r von Dollnstein zur Fastnachtszeit (»diu k o u f w i p ze Tolenstein / an der vasnaht«; 409,8f.) herangezogen. U n d das k a m so: N a c h d e m sich Gawan der K ö n i g s t o c h t e r o h n e U m s c h w e i f e sexuell g e n ä h e r t hatte, w u r d e er ertappt von e i n e m Ritter, der Alarm schrie. Z u s a m m e n mit der treu zu i h m steh e n d e n D a m e hat Gawan Z u f l u c h t in einen T u r m g e n o m m e n . In dieser Gefahr zeichnet sich n u n die D a m e durch virile Tatkraft aus. W ä h r e n d sie schwere Schachfiguren auf die angreifende M e u t e schleudert u n d die Angreifer mit ihren W ü r fen z u m Straucheln bringt, k o m m t es Gawan zu, das Schachbrett als Schild zu halten: Antikonien riuwe wart ze Schanfanzün erzeiget unt ir hoher muot geneiget, in strit si sere weinde: wol si daz bescheinde, daz friwentlich liebe ist stete, waz Gäwän do taste? swenne im diu muoze geschach, daz er die maget reht ersach; ir munt, ir ougen, unde ir nasen. baz geschict an spizze hasen, ich waene den gesäht ir nie, dan si was dort unde hie, zwischen der hüffe und ir brüst, minne gerende gelust künde ir lip vil wol gereizen. im gesäht nie ämeizen, Diu bezzers gelenkes pflac, dan si was dä der gürtel lac. daz gap ir gesellen Gäwäne manlich eilen. (409,16-410,6) (In Schanfanzün wurde Antikonies Schmerz offenkundig und ihr Stolz gebeugt; sie weinte bitterlich im Kampfund zeigte so, dass zärtliche Freundschaft Treue kennt. Und was tat Gawan? Wenn immer er einen Augenblick der Muße hatte, schaute er das Mädchen an, ihren Mund, die Augen, die Nase. Nie saht ihr einen Hasen am Bratspieß, der eine elegantere Figur machte, glaube ich, als sie, an jener Stelle, dort zwischen Hüfte und Brust. Ihr Leib konnte sehr wohl Gelüste nach ihrer Liebe reizen. Keine Ameise könntet ihr finden, die eine bessere Taille hatte, als sie dort, wo ihr Gürtel lag. Das gab ihrem Geliebten Gawan mannhafte Kräfte.)

140

Elisabeth Schmid

Die hier erzielten komischen Effekte b e r u h e n auf dem Prinzip der Verkehrung: W ä h r e n d , wie bereits in Erec et Enide18 vorgebildet, der R i t t e r in der Kampfpause seine Geliebte anschaut, u m aus ihrer Schönheit Kraft für neue Taten zu schöpfen, gilt hier der b e w u n d e r n d e Blick eines passiven Betrachters der kampfestüchtigen Dame. D a f ü r wird uns dessen W a h r n e h m u n g der Geliebten im Schema der descriptio präsentiert (ir munt, ir ougen und ir naseri), was d o c h üblicherweise, w e n n ich recht sehe, das Geschäft des Erzählers ist. Dieser n u n bemächtigt sich des Frauenkörpers im einem Akt phallischer Aggression. N a c h d e m er diesen im Bild des Hasen am Spieß stillgestellt hat, isoliert er, ausdrücklich zu unserer Anschauung, das Lendenstück (zweimal werden wir als Zuschauer angesprochen: den gesäht ir nie, ir engesäht nie. Das Lendenstück ist, v o m Bildspender gesprochen, ein oraler Leckerbissen; auf das Vergleichsobjekt, den Leib der Menschenfrau bezogen, handelt es sich u m eine unausgesprochene Einladung, uns die entsprechende weibliche K ö r perzone nackt vorzustellen. D e n n , das braucht im Kontext des Spießbratens nicht eigens thematisiert zu werden: D e m Hasen ist das Fell abgezogen, er ist gehäutet, das Fleisch liegt bloß. Das nachgeschobene Ameisenbild scheint das davor in Gang gesetzte krasse Phantasma z u r ü c k n e h m e n zu wollen, indem es suggeriert, dass der Hase wie die Ameise nur dazu dienen, die Schlankheit von Antikonies Taille ins Licht zu setzen. Es ist aber eventuell auch möglich, den Hinweis auf die Stelle, da dergürtel lac, als Verdeudichung der ersten Anzüglichkeit zu lesen (d.h. als Versuch, d e m naiven Verständnis auf die Sprünge zu helfen). D e n n wie wir an einem Beispiel aus der Krone sehen werden, konnte wenige Jahrzehnte später die R e d e v o m Gürtel als metonymische Verhüllung für den weiblichen Unterleib eingesetzt w e r den. D a n n hätte die N a c h d o p p e l u n g die Funktion, dafür zu sorgen, dass die angelegten Pointen auch wirklich zünden. Allen bisher ins Visier g e n o m m e n e n Beispielen ist gemeinsam, dass sie auf vielfältige Weise in den narrativen Kontext eingebunden sind. A u c h kann der aufschein e n d e Körperreiz oder der isolierte Körperteil im N u einer Gesamterscheinung integriert werden, die im H a n d u m d r e h e n wieder ins Geschehen verwickelt ist u n d sich damit in eine Person verwandelt, die unser Interesse u n d unsere Anteilnahme weckt. Auch entschärfen flankierende rhetorische und poetische M a ß n a h m e n (Spiritualisierung, Neutralisierung, Ästhetisierung, Komik) das sexuell R e i z e n d e u n d federn ab, was dazu angetan sein könnte, Anstoß zu erregen.

18

Vgl. Chretien de Troyes, Erec und Enide, übers, und eingel. von Ingrid Kasten, München 1979 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), V. 911-916.

Lüsternheit.

Ein Körperkonzept

im

Artusroman

141

Das ist anders in den beiden Tugendproben der Krone19, die als unterhaltsame E i n lage des Artusfests eine gewisse Selbständigkeit behaupten. Dabei geht es darum, mittels eines magischen Requisits namentlich die Tugendhaftigkeit der D a m e n am Artushof im M e d i u m ihres Körpers zu ermitteln. Eine solche Tugendprobe k e n nen wir auch aus d e m Lanzelet des Ulrich von Zatzikhoven, u n d Heinrich von d e m T ü r l i n seinerseits hat offenbar die kurze Verserzählung Le conte du mantel mautaillie20 auf Mittelhochdeutsch bearbeitet. 2 1 In der Krone w i e d e r u m bildet die in der zweiten R o m a n h ä l f t e angesiedelte sog. Handschuhprobe das Pendant zu einer Becherprobe i m ersten Teil: Dabei werden die zu Tage tretenden B e f u n d e von Keie kommentiert u n d jedenfalls in der Handschuhprobe des öfteren durch ein Lachen des intradiegetischen Publikums quittiert. 2 2 U n d natürlich bietet bereits die Mantelprobe im Lanzelet, insofern der U m h a n g zu kurz ausfallen kann, gelegentlich den Anlass, weibliche Körperteile, die nach d e m Gebot der Schicklichkeit bedeckt sein sollten, in den Blick zu rücken. 2 3 A u c h wird in der Becherprobe wiederholt der weibliche Schoß erwähnt, in den sich der Wein ergießt, n a m e n t lich der von Ginover. 2 4 D o c h das in der Handschuhprobe angestellte Experiment ist dezidiert dazu eingerichtet, am weiblichen K ö r p e r Blößen zur Schau zu stellen. A u f folgende Weise ist die H a n d s c h u h p r o b e mit der H a n d l u n g verbunden: Ein unsichtbar machender Handschuh wird dem Artushof zugespielt: Der G e w i n ner der Tugendprobe soll auch den zweiten b e k o m m e n , wodurch ihm die beneidenswerte Gabe verliehen wäre, sich völlig unsichtbar zu machen. Das Z a u b e r requisit w u r d e indessen in böser Absicht geschickt, es geht darum, zwei für den Fortbestand des Artushofs unerlässliche Glückstalismane zu entwenden. Als der G e w i n n e r ermittelt ist, gibt der vermeintliche Abgesandte der Frau Saelde vor, der Artusgesellschaft die richtige Anwendungsweise der H a n d s c h u h e vorfuhren zu wollen. Z u diesem Zweck lässt er sich die Talismane aushändigen, streift zuerst

19

20 21

22

23

24

Heinrich von demTürlin, Diu Crone, hrsg. von Gottlob H. F. Scholl, Stuttgart 1852 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart XXVII). Vgl. Le conte du mantel mautaillie, hrsg. von F. A. Wulff, Romania 14 (1885), 343-380. Heinrich von dem Türlin, Der Mantel, hrsg. von Otto Warnatsch, Breslau 1883 (Germanistische Abhandlungen 2). Vgl. Heinrich (wie Anm. 18),V. 23468-23470 undV. 23719-23721. Allerdings zeigt an dieser Stelle der Erzählerkommentar zu Keies Verhöhnung von Artus' Mutter Igerne (»Daz er sie also swachet / Vil maneger do erlachet / Dem ez doch niht ze muote was«), dass das konformistische Lachen des Publikums anderen Beweggründen als dem Witz der Darbietung geschuldet sein kann. Vgl. dazu besonders V. 23564-23574. Vgl. Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, hrsg. von Karl A. Hahn [1845]. Mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Frederick Norman, Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke, Reihe:Texte des Mittelalters), u.a.V. 5950-5954 undV. 6059-6065. Vgl.V. 1273-1279, V. 1450-1455, V. 1554-1561.

142

Elisabeth

Schmid

den einen Handschuh über, dann den andern, und entschwindet mit seiner Beute. Folgendes ist die Versuchsanordnung: D e r Handschuh soll die Kraft haben, die zu der bekleideten Hand gehörige Körperhälfte des Trägers zum Verschwinden zu bringen, und zwar unter der Bedingung, dass an dessen Tugendhaftigkeit nichts, aber auch gar nichts, auszusetzen ist. Umgekehrt soll der Handschuh j e d e n Verstoß in Gedanken, Worten und Werken als B l ö ß e am Körper anzeigen. Dabei ist es Keies Amt, die sichtbar gemachte Körperzone als Ausdruck eines charakteristischen Fehltritts des Bloßgestellten zu deuten. Getestet werden Damen und R i t ter, und von allen Teilnehmern erweisen sich lediglich König Artus und Gawein als tadellos. Dabei betreffen die am männlichen Körper benannten Entblößungen entweder lediglich Stellen, die ohnehin nicht durch Kleidung verhüllt wären (ζ. B. Hand und Fuß,V. 24526f.), oder aber die obere Körperhälfte (einmal wird die Brust genannt,V. 24546f., einmal die Zone von Brust bis Gürtel,V 24476ff.). D e r am meisten dekouvrierende Befund trifft Kalogrenant insofern, als sich dessen Hinterseite bis zu den Füßen entblößt darbietet, was auf sein missglücktes Brunnenabenteuer verweist; den R ü c k w e g mußte er zu Fuß antreten (vgl.V. 24629—24651). Gegenüber von 10 Männern werden 16 Damen auf die Probe gestellt. In einigen Fällen werden einzelne erogene Zonen angeleuchtet: Das Rückendekollete (»Swaz die Schulter bevie«, V. 23817), eine Kombination von Fuß und Hüfte (»Diu h u f und der vuoz«,V. 23850), die Wade vom Fuß bis zur Kniekehle (»Die waden an dem beine / Von dem vuoz üf die büege«,V. 24176f.), der Haaransatz am Nacken (»der hals mit dem häre«,V. 2 4 2 3 3 ) . Es kommen somit Körperteile zur Sprache, die üblicherweise in der Ordnung der descriptio ausgespart werden. Hier ist vielleicht neben der sexuellen Stimulierung auch das Ausbrechen aus dem Beschreibungsschema als gesuchter Effekt zu vermuten. Auffällig häufen sich j e d o c h die Stellen, die in nur dürftiger metonymischer Umschreibung bzw. metaphorischer Verhüllung die Aufmerksamkeit auf den genitalen Bereich lenken. So heißt es von einer D a m e namens Flursensepin (Flor-Sense-Pein?): Niuwan von unheile Beleip ir des libes Ze sehene, da man wibes Niht offenliche ze sehen gert (V. 23974-23978). (Zu ihrem Pech blieb an ihrem Leib allein die Ortlichkeit sichtbar, die man an der Frau nicht in der Öffentlichkeit zu erblicken wünscht.) Bei einer andern, Parkie mit Namen, ist vom zur Schau gestellten nider teil die R e d e , doch die folgenden Ausführungen legen es nahe, hier das Hinterteil zu verstehen: »Ir beleip schinbaere / Uzgenomenlich [d.h. speziell] daz nider teil« (V. 2 4 0 3 1 f.). Wieder eine andere, sie heißt Filleduoch, ist zu gleichen Teilen zweigeteilt »als ein ei« (V. 2 4 2 0 5 ) .Vom Gürtel aufwärts ist sie verschwunden, andernteils abwärts:

Lüsternheit. Ein Körperkonzept im Artusroman

143

»Niderhalp anderswä / Sach man sie mit alle« (V 24209f.). Zu Lanzelets Freundin, die hier mit dem N a m e n Jahpie versehen ist, wird vermerkt: Bloz bleip diu stat in der mitten, Da mit minne wirt gestriten, Gar ze tal unz üf daz knie (V. 24137-39). (Nackt blieb die Stelle in der Mitte, dort wo der Streit mit der Liebe ausfochten wird, vollends hinunter bis auf das Knie.)

In diesen Fällen k o m m e n die weiblichen Körper lediglich als mit Personennamen versehene Exponenten der Geschlechtsorgane zur Sprache, die dazu angetan sind, eine normal-heterosexuelle phallische Lüsternheit zu reizen. Da sie auch in der Handlung der Krone kaum mehr als Namen sind und sich auch keine intertextuelle Referenz rekonstruieren lässt, hören wir aus den Kommentaren Keies immer nur die monotone Weise, die uns bedeutet, dass der intendierte Clou der Veranstaltung die Verhöhnung des weiblichen Geschlechts ist. Einige Namen, wie Ginover, Laudine, Enite, haben intertextuelles Potential. Doch bleiben die Andeutungen nebulös, zu vage, um eine bestimmte Pointe zünden zu können.Vielmehr soll die durch die bekannten Namen aufgerufene Intertextualität wohl per se für das dubiose Vorleben dieser Damen in vergangenen Romanwelten sprechen. Z u m Schluss seien drei Beispiele vorgestellt, welche das Darstellungsprinzip des Kronedichters gut illustrieren, die aber auch zeigen, dass man nicht sehr weit k o m m t , w e n n m a n versucht, den diffusen Charakter der Anspielungen durch konkrete literarische Bezüge zu klären. Der Name von Gaweins Mutter zum Beispiel, Orcades, geht auf die Chretien-Fortsetzungen zurück. 2 5 Die intertextuelle Referenz bildet jedoch eher Wolframs Parzival, wo Gawan von Keie als M u t t e r söhnchen verspottet wurde (»der eret ouch die muoter sin: / vaterhalb solter eilen hän. / kert muoterhalp, her Gäwän«; Pz. 299,9f.). Als Orcades den Handschuh anzieht, sitzt er ihr wie angegossen: nur dass ihre Brust hervorblitzte (»Wan daz ir blacte diu brüst«). Sogleich schreibt Keie dieses Phänomen dem Umstand zu, dass Gawan in seinen ersten Lebenstagen daran gesogen hatte: N u tuot war, wie küene si ist: Sie wil sich niht verbergen län,

25

Vgl. Elisabeth Schmid, »Text über Texte. Z u r Crone des Heinrich von dem Türlin«, GRM 44 (1994), Anm. 16.

144

Elisabeth

Schmid

Als an den andern ist getan. Ob ich es rehte merke, So hat Gawein sine sterke Und manheit dar üz gesogen; Hän aber ich dar an gelogen, So gap sie griffe suoze, Die nach der minne gruoze Geziehent unde stent Und in des herzen grunt gent. Der ist einz oder beidiu war. Sie erbiutet sich den griffen gar, Swie halt umb diese var. (V. 23732-23745) (Nun nehmt zur Kenntnis, wie kühn sie ist: sie will sich nicht verstecken lassen, wie es bei den andern geschehen ist. Habe ich recht, so hat Gawein aus ihr seine Kraft und seine Männlichkeit gesogen. Habe ich aber damit gelogen, so ergab sie sich süßen Griffen, die dort angewandt werden, wo man die Minne willkommen heißt und die bis auf des Herzens Grund gelangen. Davon ist eines wahr oder beides; so oder so, sie bietet sich dem Angriff dar.) Blanscheflur, der N a m e v o n Parzivals Freundin w i e d e r u m , stammt v o n C h r e t i e n . D o c h w e n n wir nach einer Erklärung suchen, w a r u m gerade diese Figur mit solcher Gehässigkeit bedacht wird, bietet sich n o c h a m ehesten an, dass sie als F r e u n din von Wolframs Gralhelden, den der Erzähler ebenfalls nach Kräften verunglimpft, in Sippenhaft g e n o m m e n ist. Do sie in leite an dir hant, Er tet in allen bekant, Wie si was gewesen unz her. Daz reht teil verswante er, Daz es da niht mer schein, Wan vorn daz reht bein Mit alle unz an den nabel üf. (V. 23869-23875) (Als sie ihn ihrer Hand angelegt hatte, machte er ihnen allen bekannt, wie sie bisher gewesen war. Die rechte Seite brachte er zum Verschwinden, so dass sich davon nichts offenbarte als vorne das rechte Bein in seiner Gänze, bis hinauf zum Nabel.) U n d Keies K o m m e n t a r : Dirre juncvrouwen hat gevrumt, Daz ir Parziväl entsluoc, Wan sie vil küme daz vertruoc, Daz er sie so lange wert. Sehet, wes der minne heimlich gert,

Lüsternheit. Ein Körperkonzept im Artusroman

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Daz sie sich so biutet vür! Daz selbe ich an dem beine spür: Daz hebt sie ungenot enbor; Sie wollte, daz ir bürgetor Waere alle wege entslozzen. Sie ist des gar verdrozzen, Daz sie vor niht het genozzen. (V. 23880-23891) (Dieser Dame kam zugute, dass ihr Parzival enteilte. Denn sie konnte es kaum ertragen, dass er sie so lange verteidigte. Seht, wie begierig die Heimlichkeit der Liebe ist, dass sie sich dergestalt darbietet. Das lese ich auch an ihrem Bein ab, das hebt sie ohne N o t hoch. Sie wünschte, dass ihr Burgtor ständig aufgesperrt wäre. Es ist ihr überaus ärgerlich, dass sie nicht früher auf ihre Kosten gekommen ist.) Im Fall von Sgoidamur, der Schwester von Gaweins Freundin Amurfina, etabliert der Erzähler einen Konnex v o n sexueller Hyperaktivität und intellektueller Beschränktheit. Ein intertextueller B e z u g und die Geschichte der Figur in der Handlung der Krone selbst könnte die Verbindung v o n D u m m h e i t und sexueller Willfährigkeit eventuell motivieren. D e n n das Geschwisterpaar Amurfina und Sgoidamur bildet einen R e f l e x auf die Töchter des Grafen v o m Schwarzen D o r n aus d e m Iwein, und auch hier läuft die jüngere Gefahr, v o n der älteren übertölpelt zu werden. N u n tritt in der Krone nicht Iwein, sondern Gawein für Sgoidamur, das Pendant der jüngeren Schwester, ein. D e s w e g e n würde sie i h m angehören, würde Gawein, seinerseits an Amurfina gebunden, sie nicht an einen andern, ebenfalls übrig gebliebenen Liebhaber, abtreten (vgl.V. 1 3 7 5 1 - 1 3 8 6 0 ) . Sgoidamur, diu reine jugent Den hantschuoch an streich, Der ir also wol geleich, Daz ir dar an niht gebrast: Wan vil kleines males last An dem verswinden sie twanc; Da ir vil harte wol gelanc, Da schein ir des gürtels vane. (V. 23782-23789) (Die schöne junge Sgoidamur streifte den Handschuh über, der passte ihr so gut, dass ihr daran nichts fehlging: nur ein Fleck von geringer Ausdehnung hinderte sie am Verschwinden. Dort, wo sie so überaus gut geraten war, dort leuchtet die Schnalle ihres Gürtels in hervor.) U n d Keies Kommentar dazu: Des mac wol vröude hän Ir süezer amis, Gasozein,

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Elisabeth

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Hete sie niwan daz alein In ir kintheit versezzen, Daz sie sich liez mezzen Undewendic des gürtels so dicke, Als hie schinet ze blicke. Waz mag aber gewerren daz, Ob man sie zuo dem gürtel maz ? Daz was kleiner schänden meil. Sie ist snel umb daz nider teil Und laz umb daz houbet; Wirt si nider wol betoubet, So wird sie umb daz houbet snel, Und habet ez niht vür ein spei: So getar wem wol ir vel. (V. 23795-23810) (Daran wird ihr süßer Freund Gasozein seine Freude haben. Hätte sie nur allein dieses versäumt, dass sie sich in ihrem kindischen Unverstand so häufig unterhalb des Gürtels ausmessen ließ, wie es sich hier blicken lässt. Aber was tut das schon, dass man ihr am Gürtel Maß nahm, das war ein kleiner Schandfleck. Sie ist beweglich mit dem Unterleib und träge mit dem Kopf.Wird sie unten so recht um die Besinnung gebracht, so kommt ihr Bewegung in den Kopf. Das braucht ihr nicht für ein Märchen zu halten: So kann sich ihr Leib durchaus bewähren.) Das in der Handschuhprobe angewendete sprachlicheVerfahren dürfen wir als >pornographisch< bezeichnen, ζ. B. entsprechend der Definition des Duden-Universalwörterbuchs, das den Begriff als »sprachliche u . / o d . bildliche Darstellung sexueller Akte unter einseitiger B e t o n u n g des genitalen Bereichs« 26 näher bestimmt. Die vom Text eingeschlagene Strategie ist doppelt infam. In der ersten Etappe exponiert sie, z u m Z w e c k der sexuellen Aufreizung, Blößen am Körper der Frau; dabei verweist die Darstellung, eben indem sie die partielle Sichtbarkeit inszeniert, auf die Gestalt im Ganzen; auch tritt die R e d e grammatikalisch im weiblichen Geschlecht, als R e d e von einer Person auf. Dadurch wird erreicht, dass nicht nur der Frauenkörper entblößt, sondern die weibliche Person bloßgestellt wird. In der zweiten Etappe, der K o m m e n t i e r u n g , lastet der Text die sexuelle Stimulierung, auf die es die Strategie abgesehen hat, als Geilheit der zur Schau gestellten Frauenfigur an. Dabei ist die R e d u k t i o n der Frau auf ihre Hyperaktivität u n d sexuelle Willfährigkeit zugleich (als Ü b e r m a ß an Wollen u n d Willenlosigkeit) ein Widerspruch. U n d doch dienen beide Strategien gleichermaßen der Vernichtung der Frau als moralischer Person.

26

»Pornographie«, in: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 2., völlig neu bearb. und stark erw. Aufl., Mannheim u.a. 1989, 1166.

Lüsternheit. Ein Körperkonzept

im Artusroman

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III. R a t l o s i g k e i t z u m Schluss Das Ausmaß der rhetorisch-sexuellen Beschlagnahme des weiblichen Körpers, wie wir sie in der Krone antreffen, erscheint mir beispiellos in der zeitgenössischen Literatur. In welchen literarhistorischen bzw. kulturhistorischen Kontext ist diese Erscheinung zu rücken? Ist die sich darin aussprechende Frauenverachtung etwas grundsätzlich anderes als das sadistische Phantasma, das sich in Wolframs Gleichnis vom Hasen am Bratspieß äußert? Deuten die Lizenzen, die sich der Krone-Dichter offensichtlich erlauben konnte, auf eine Veränderung kultureller N o r m e n hin oder äußert sich darin lediglich eine individuelle Spezialität? Bekanntlich kommen im späteren Mittelalter in den Fabliaux und in der Märendichtung die Körperteile, die unter der Gürtellinie liegen, zunehmend zur Sprache. Auch zeigt ζ. B. Edith Wenzel in ihrem Aufsatz mit dem Untertitel »Zum >Eigenleben< von Geschlechtsteilen in mittelalterlicher Literatur« 27 , dass es im Spätmittelalter Textsorten gibt, die das Uberschreiten sprachlicher Tabugrenzen mit Lust und Bedacht praktizieren. Aber erstens hat diese Entwicklung erst im 14. und recht eigentlich erst im 15.Jahrhundert Konjunktur und zweitens sind diese Texte auch literatursoziologisch anders gelagert. Auch zielen die genitalen Phantasien in Fastnachtsspiel und maere, wenn ich recht sehe, nicht hauptsächlich auf die sexistische Bemächtigung des weiblichen Körpers ab, wie sie uns in diesem Produkt der höfischen Kultur deutscher Zunge begegnete. Oder lässt sich am Ende Lüsternheit als Körperkonzept gar nicht historisieren, sondern wäre als anthropologische Konstante zu betrachten, und das von mir Zusammengelesene auf Grund nicht zu klärender Umstände gerade zwischen 1215 und 1220 bzw. um 1230 aufs Pergament geraten?

27

Edith Wenzel, »Zers u n d fud als literarische Helden. Z u m >Eigenleben< von Geschlechtsteilen in mittelalterlicher Literatur«, in: Bentheim, Wulf (wie A n m . 11), 274—293.

Ulrich Ernst

Haut-Diskurse. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters Abstract: This essay provides a comprehensive survey of the multiple functions of dermatological connotations in medieval and especially arthurian literature, combining a semiotic approach with modern discursive theories. Current concepts of the body, real or symbolic, are reexamined in the light of a variety of connotations ranging from medical to aesthetic aspects.

Vorbemerkung: Haut und Körperkult Haut ist in der Gegenwart nicht zuletzt dank einer massiven Werbung in den Medien ein wichtiger semiotischer Faktor für das allseits erstrebte gesunde, jugendliche und schöne Aussehen. Schon die H a u t des Kleinkindes wird mit O l und Babycreme behandelt, später rückt der Heranwachsende mit diversen Mitteln der pubertätsbedingten Akne zu Leibe und nicht erst, w e n n im Alter das Gesicht vielleicht mit R u n z e l n übersät ist, sondern schon in mittleren Jahren, w e n n sich erste Fältchen zeigen, greift man zu Anti-Aging-Cremes, HautstrafFung und Facelifting. Die in den Medien angeprangerte Zellulitis wird mit unterschiedlichen M e t h o den, u.a. Massage und Jogging, bekämpft, u n d für die in einer Sport- u n d Urlaubsgesellschaft nötige Gesichtsbräunung sorgen nicht zuletzt zahllose Sonnenstudios, die ungeachtet der Gefahr einer Austrocknung der Haut oder gar des Risikos eines Hautkrebses von immer m e h r Menschen frequentiert werden. U n t e r den kosmetisch behandelten Hautpartien dominiert nicht nur das Gesicht, das mit Make-up, Auftragen von R o u g e , Lipgloss u n d Lidschatten gestylt wird, sondern auch andere Körperoberflächen werden, beispielsweise durch Bodypainting, geschmückt, das sich sogar als m o d e r n e Kunstform etabliert hat. N u n ist der gegenwärtige K ö r p e r k u l t alles andere als neu, reicht vielmehr zurück bis in die Antike, in der sich auch schon auf der Ebene der Literatur ein kosmetischer Diskurs konstituiert hat. So konnte sich bereits das Mittelalter über die antiken Schminkkünste anhand von Ovids Ars amatoria informieren, in der detailliert nachzulesen ist, wie beispielsweise eine Frau durch Kreide weiße H a u t farbe oder durch andere Künste rote Wangen b e k o m m e n , kahle Stellen neben den Augenbrauen ausfüllen, mit Schönheitspflästerchen die Wangen betonen und die

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Ulrich Ernst

Augen mit Asche oder Krokus umranden kann. 1 Angesichts der in der Gegenwart nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern praktizierten Epilation sei der Hinweis auf Plinius den Alteren gestattet, der in seiner Naturalis historia2 von einer Psilotrum genannten Salbe berichtet, die zur Entfernung der Körperhaare auf die Haut aufgetragen wurde (135)3. Auch die Kritik an verschiedenen Formen des Körperschmucks lässt sich bis in das Altertum zurückverfolgen, geißelt doch schon der Kirchenvater Hieronymus in aller Schärfe das Tragen von Ohrschmuck, einer Früh- bzw. Sonderform des Piercings.4 Gleichwohl zieht der rezente Schönheitskult eine exorbitante, unvergleichlich große Aufmerksamkeit auf sich, da seine Ausbreitung in den Massenmedien einen Verstärkungseffekt erzeugt. So nimmt es nicht wunder, dass sich auch die kulturwissenschaftliche Forschung dieses Phänomens angenommen hat, wie zwei einschlägige Untersuchungen von Didier Anzieu 5 und Claudia Benthien 6 dokumentieren, die allerdings auf die Neuzeit ausgerichtet sind und in den Fällen, in denen sie darüber hinausgehen, eher noch die Antike als das Mittelalter berücksichtigen. Da somit im mittelalterlichen Bereich ein Forschungsdesiderat besteht, soll im Folgenden aus der Sicht des Literaturwissenschaftlers ein Blick auf die mittelalterlichen Quellen geworfen und das mediävale Verständnis von Haut in groben Zügen rekonstruiert werden, wobei der Akzent auf der höfischen Erzählliteratur um 1200 liegt. Die Studie, die an die neuere Forschung zum Paradigma >Körper< in der Mediävistik anschließt,7 versucht, allerdings mit stark individueller Handhabung und in

1

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3

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Ovid, Ars amatoria, hrsg. und übers, von Michael von Albrecht, Stuttgart 1992, III, 1 9 9 204: »Scitis et inducta candorem quaerere creta; / sanguine quae vero n o n rubet, arte rubet; / / arte supercilii confmia nuda repletis / parvaque sinceras velat aluta genas. / / nec pudor est oculos tenui signare favilla / vel prope te nato, lucide Cydne, croco.« Plinius, Naturalis historiae libri XXXVII, hrsg. und übers, von R o d e r i c h König, X X X I I , M ü n c h e n 1995. Vgl. Emmerich Paszthory, Salben, Schminken und Parfüme im Altertum, Herstellungsmethoden und Anwendungsbereiche im östlichen Mediterraneum. Fs.für Rolf Sammet, Mainz 1990 (Antike Welt; 21, Sondernr.), 59. Hieronymus, Epistulae, hrsg. von Isidorus Hilberg, Pars III, W i e n 1996 (CSEL 56,1), 127,3: »[...]auribus perforatis R u b r i Maris pretiosissima grana suspendere.« Didier Anzieu, Das Haut-Ich, Frankfurt a.M. 1991. Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte — Körperbilder - Grenzdiskurse, R e i n b e k 1999. Vgl. Horst Wenzel, »Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am H o f und in der höfischen Literatur«, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, 178-202; Ernst H . Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, M ü n chen 1990 [engl.: The King's Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, 1957]; Klaus Schreiner, Norbert Schnitzler (Hrsg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und

Haut. Semiotik der Körperobetfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters

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besonderer Engfiihrung zu den ausgewählten Quellen, zwei methodische Ansätze, Diskurstheorie 8 und Semiotik 9 , miteinander zu verknüpfen.

I. Defizitäre H a u t : Verletzung u n d K r a n k h e i t 1. Mythische Patina Zahlreiche Phantasmen von Haut bewegen sich in archaischen und häufig noch magischen Diskursen, die sich in vielen semiotischen Facetten in der Literatur niedergeschlagen haben. So ist die Vorstellung von unverwundbarer Haut schon mythischer Provenienz und begegnet erstmals in der Antike, und zwar prononciert im Kontext der Jugendgeschichte Achills. Der Sage nach taucht Thetis Achill nach der Geburt in den Styx, um ihn in toto unverwundbar zu machen, was ihr jedoch nicht gelingt, da die Ferse, an der sie ihn hält, nicht benetzt wird. Nach seiner Tötung Hektors im trojanischen Krieg trifft ihn hier der in der Gestalt des Paris agierende Apoll tödlich mit einem Pfeil, wie ζ. B. der antike Mythograph

Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, München 1992; Hildegard Elisabeth Keller, Wort und Fleisch. Körperallegorien, mystische Spiritualität und Dichtung des St. Trudperter Hoheliedes im Horizont der Inkarnation, Bern 1993; Joachim Bumke, »Höfische Körper — Höfische Kultur«, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a.M. 1994, 67—102; Christine Ruhrberg, Der literarische Körper der Heiligen. Leben und Viten der Christina von Stommeln (1242—1312), Tübingen 1995; Wolfgang Haubrichs, »Bilder, Körper und K o n strukte. Ansätze einer kulturellen Epochensemantik in der philologischen Mediävistik«, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 25, 100 (1999), 28-57; Caroline Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters, übers, von Brigitte Große, Frankfurt a.M. 1996; C. Stephen Jaeger, »Charismatic Body - Charismatic Text«, Exemplaria 9, 1 (1997), 117-134; Piero Boitani,Anna Torti (Hrsg.), The Body and the Soul in Medieval Literature, Woodbridge 1999; Karina Kellermann, »Entstellt, verstümmelt, gezeichnet - Wenn höfische Körper aus der Form geraten«, in: Iris Denneler (Hrsg.), Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt a.M. 1999, 39-58; Klaus R i d der, O t t o Langer (Hrsg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur, Berlin 2002; Vf., »Differentielle Leiblichkeit. Z u r Körpersemantik im epischen Werk Wolframs von Eschenbach«, in: Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz, Klaus Ridder (Hrsg.), Wolfram von Eschenbach - Bilanzen und Perspektiven, Berlin 2002 (Wolframstudien XVII), 1 8 2 222; Karina Kellermann (Hrsg.), Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung, Berlin 2003 (Das Mittelalter 8,1). Vgl. Jürgen Fohrmann, »Diskurstheorie(n)«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), 372-374. Vgl. Michael Titzmann, »Semiotik«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2003), 418- 421.

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Ulrich Ernst

Hyginus in seinen Fabulae berichtet: »Hectore sepulto cum Achilles circa moenia /Troianorum vagaretur ac diceret se solum /Troiam expugnasse, Apollo iratus Alexandrum / Parin se simultans talum, quem mortalem / habuisse dicitur, sagitta percussit et occidit.« 10 Dass die Thematik von der Unverwundbarkeit der Haut des Achill im Antikenroman des Mittelalters in modifizierter Form fortlebt, demonstriert das Beispiel fur die Magie des Festmachens im Trojanischen Krieg des Konrad von Würzburg 1 1 , in dem die wegen der Unheilsprophezeiungen des Proteus beunruhigte Thetis erklärt, sie habe einen Zauberbrunnen aufgespürt, in dem sie ihren Sohn baden wolle, um ihn unverwundbar zu machen: »ich sol sin edel verch bewarn / vor siegen und vor Stichen. / schon unde listeclichen / hän ich funden im ein bat. / ein brunne stet an einer stat, / zuo dem ich in nü fueren sol. / ich weiz an allen zwivel wol, / ob er dar inne wirt gebadet, / daz im kein wäfen denne schadet.« (V. 13628-13636) Zu den ethnologischen Phantasmen von gepanzerter Haut sind die monströsen >HornleuteNigra sum et formosaFeirefiz, der zweier varwe wasgemischten Charakter< vorstellt (1,3-9), 58 der seine Dichtung konzeptionell bestimmen soll. 59 Hautfarbe wird damit für den Leser zum Wegweiser durch den verschlungenen Text und zu einem wichtigen Schlüssel für die Interpretation des gesamten Romans. Die exzeptionelle schwarz-weiße Hautfärbung trägt Feirefiz im Orient göttliche Verehrung ein, die sich das Mittelalter im Rekurs auf die Antike euhemeristisch erklären konnte: »man bett in an als einen got. / sin vel hat vil spashen glast: / er ist aller mannes varwe ein gast, / wiz unde swarz [ist er] erkant.« (328,14—17) Auch am Ende des Parzival wird das Hautthema variiert: Einerseits wird das Kussmotiv der Belacane-Handlung wieder aufgegriffen, wenn der kleine Loherangrin f r e m delt* und seinen Onkel Feirefiz wegen dessen absonderlicher Haut nicht küssen will (805,29f.), andererseits alludiert Wolfram auf die literarische Symptomatik des amor hereos, wenn Feirefiz' weiße Hautpartien ganz blass werden, als er in Liebe zu Repanse de Schoye entbrennt: »des plankiu mal gar wurden bleich.« (811,19) Welche Bedeutung Wolfram der Hautfarbe in seinem R o m a n beimisst, lässt sich auch im Zentrum der Dichtung an der Wirkung des Grals exemplifizieren; denn derjenige, der den Gral schaut, mag er das auch zwei Jahrhunderte tun, verliert nicht seine strahlende Hautfarbe, nur seine Haare ergrauen: »sin varwe im nimmer ouch zerget: / man muoz im sölher varwe jehn, / da mit ez hat den stein gesehn, / ez si maget ode man, / als do sin bestiu zit huop an, / sash ez den stein zwei hundert jär, / im enwurde denne grä sin här.« (469,18—24) Wolfram invertiert hier an der Gestalt des alten Gralkönigs Titurel die Topik des puer senex zu der des senex puer, dessen Haut im Widerspruch zu seinem Alter nicht ausgetrocknet und entfärbt ist, sondern ihre jugendliche Glanzschönheit bewahrt hat. Wie sich abschließend festhalten lässt, werden im Parzival mit Hilfe der visuellen Semiotik der Haut ethnographische Perspektiven eröffnet, A u t o - und Heteroste-

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Vgl. Dietrich Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100-1500), Diss. Berlin 1968,Τ. I, 276f.;T. II, 590. Vgl. H. B.Willson, »Colour and Form in the Prologue to Wolframs Parzival«, Nottingham Medieval Studies 11 (1967), 3 - 1 8 .

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Ulrich Ernst

reotypen im Umgang mit dem Fremden skizziert, in Umrissen eine Gegenästhetik zu okzidentalen Schönheitsvorstellungen entworfen und ansatzweise ein Toleranzkonzept 60 auf der Folie einer frühen Globalisierung im Zeitalter der Kreuzzüge entwickelt. Da kann eine erotische, fast >kolonialistische< Faszination des Fremden in Gestalt der Haut nicht ausbleiben, zugleich die Tendenz zur Visualisierung soweit gehen, dass das Wappen als zweite Haut hervortritt. Darüber hinaus zeichnet sich auch ein theologischer Horizont ab, erscheint doch Belacane als profane Gegenfigur zur Braut des Hoheliedes, die sich mit den Worten charakterisiert: »nigra sum sed formosa« (Ct 14). Bernhard von Clairvaux spricht in der 25. Predigt zum Hohelied von der schwarzhäutigen Braut, die in ihrem Innern und nur für Gott sichtbar schön ist: »etsi nigra foris, sed intus formosa, ut ei placeat cui se probavit [...] Felix nigredo, quae mentis candorem parit, lumen scientiae, conscientiae puritatem« 61 , und Alanus ab Insulis, im Alter ebenfalls Zisterzienser, unterwirft das Hohelied einer mariologischen Exegese. 62 Die Identifizierung Marias mit der Braut des Hoheliedes erklärt u.a. eine Aufwertung der schwarzen Hautfarbe im religiösen Kontext des Hochmittelalters, die sich nicht zuletzt im Aufkommen der »schwarzen Madonnen< zeigt, die bis in die Gegenwart ein fascinosum für die Pilger darstellen. 63

3. Genealogischer Diskurs und Teratologie Die Problematik der Fremderfahrung beschränkt sich in Wolframs Parzival nicht auf die Gahmuret-Vorgeschichte, sondern infiltriert im Medium der Hautsemiotik auch den arkanen Bereich des Grals.Wolframs Gestalt der Cundrfe 6 4 besitzt anders als Chretiens Gralsbotin neben bizarren, fast >dominahaften< Eigenschaften — sie fuhrt, wie der Erzähler, garniert mit Anzüglichkeiten, bemerkt, eine Peitsche mit seidenen Schnüren und einem Griff aus R u b i n (314,2—4) — theriomorphe Züge, darunter auch deviante oder, was die Idee des humanuni betrifft, transgressive Haut-

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Vgl. Ulrich Müller, »Toleranz im Mittelalter? Eine Skizze zu den Beziehungen z w i schen d e m christlich-lateinischen O k z i d e n t u n d d e m islamischen Orient«, Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 20 (1994), 2 0 9 - 2 3 6 . Bernhard von Clairvaux, Sermones super cantica canticorum, in: B. v. C., Sämtliche Werke lateinisch-deutsch, hrsg. von Gerhard B. Winkler, Bd.V, Innsbruck 1994, 380; vgl. Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, M ü n c h e n 1994, 244f. Vgl. Friedrich Ohly, Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis 1200, Wiesbaden 1958, 1 9 9 - 2 0 2 . Vgl. Schreiner (wie A n m . 61), Kap. 6 (Schwarze M a d o n n e n ) , 214ff. Vgl. Katharine Pappas, »Die häßliche Gralsbotin Cundry. Ü b e r Verhüllung u n d E n t hüllung im Parzival Wolframs von Eschenbach«, in: U l r i c h M ü l l e r (Hrsg.), Verführer, Schurken, Magier, St. Gallen 2001 (Mittelalter M y t h e n 3), 1 5 7 - 1 7 2 .

Haut. Semiotik

der Körperoberfläche

in der Erzählliteratur

des hohen

Mittelalters

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qualitäten, hat sie doch ζ. B. Hände »als eines äffen hüt« (314,5) und Fingernägel wie Löwenkrallen (314,7—9). Ebenso wie im Fall von Cundries Bruder Malcreatiure, der gleichfalls aus Indien stammt, bietet Wolfram eine eigene Ätiologie für ein solches abnormes, difformes und animalisches Aussehen, wird dieses doch heilsgeschichtlich-genealogisch oder vielleicht genauer: genetisch erklärt.Wolfram bringt nämlich die beiden aus dem Orient stammenden Figuren mit Enkelinnen Adams in Verbindung, dessen Töchter gegen den Rat des Vaters ein embryo toxisches Kraut aßen, das zurTeratogenese, zu missgestalteten Kindern führte: »den rät er selten gein in liez, / vil würze er se miden hiez / die menschen fruht verketten / unt sin geslähte unerten / [...] / sus wart verkert diu mennischeit.« (518,17—20 und 29) W i e auch sonst häufig verifizierbar, greift Wolfram bei theologischen oder die Theologie tangierenden Fragen auf die frühmittelhochdeutschen geistlichen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts zurück. Nach der Wiener Genesis, die vermutlich von Ausführungen Isidors von Sevilla beeinflusst worden ist, 65 entstehen durch den Ungehorsam der Adamstöchter nach eigenmächtigen Abtreibungsversuchen mit Hilfe von Pharmaka >Monster< mit asymmetrischen Gliedmaßen, Kynokephalen, Akephalen, Panotier, Skiapoden und Menschen, die, der Bipedie entratend, animalisch auf allen vieren gehen: »Adam hiez miden würze, / daz si inen newurren an ir geburte, // sin gebot si verchurn, / ir geburt si flurn. // dei chint si gebären / dei unglich wären: // sumeliche heten houbet sam hunt; / sumeliche heten an den brüst den munt, //an den ahselun dei ougen, / dei muosen sich des houbtes gelouben; // sumeliche heten so michel ören / daz si sich da mite dachten. // Etlicher het einen fuoz / unt was der vile groz: // da mite liuf er so balde / sam daz tier dä ze walde. // Etlichiu bar daz chint / daz mit allen vieren gie sam daz rint.« (646-654) 6 6 Auch wegen flagranter verbaler Korrespondenzen wird man supponieren dürfen, dass Wolfram in diesem Konnex die Wiener Genesis unmittelbar als Prätext genutzt hat. 67 Für die Hautthematik von besonderem Belang ist das Faktum, dass sich bei einer von Isidor nicht verzeichneten Gruppe der Enkel Adams die Abnormitäten in einem formidablen Hautbild niederschlagen: »sumeliche flurn begarewe / ir scönen varwe: // si wurten swarz unt egelich, / den ist nehein liut gelich.« (655f.)

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Isidor von Sevilla (wie Anm. 24), Τ. II; XI, 3,Iff. Vgl. ζ. B. R u d o l f Wittkower, »Die Wunder des Ostens: Ein Beitrag zur Geschichte der Ungeheuer«, in: R . W., Allegorie und der Wandel der Symbolik in Antike und Renaissance, Köln 1983, 8 7 - 1 5 0 . Vgl. R o y A. Wisbey, »Wunder des Ostens in der Wiener Genesis und in Wolframs Parzivah, in: Leslie Peter Johnson (Hrsg.), Studien zur frühmittelhochdeutschen Literatur. Cambridger Colloquium 1971, Berlin 1974, 202ff.

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Ulrich Ernst

W i e bei Wolfram wird das missgestalte Aussehen auf die Sündhaftigkeit der Vorfahren, hier der Mütter, zurückgeführt, erscheint letztlich unter dem Aspekt der Theodizee wieder als poena peccati. In der >Reiseder Schwarze< betrachtet. 6 9 Diese Anschauung liegt auch der dichotomistischen Lehre zugrunde, die Herzeloyde bei Wolfram d e m kleinen Parzival vermittelt: Gott, ein Inbild derTreue, ist »liehter denne der tac.« (119,19), der treulose Höllenfürst hingegen »swarz« (119,21). Angesichts der im Mittelalter fast selbstverständlichen binären Identifizierung von hell mit gut auf der einen, dunkel mit böse auf der anderen Seite frappiert es nicht, dass schwarze Haut im Kontext mit Hässlichkeit 70 j e d e r -

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Brandati. Die mittelhochdeutsche Reisefassung, hrsg. von Reinhard Hahn, Christoph Fasbender, Heidelberg 2002. Vgl. Franz Joseph Dölger, »Sonne und Sonnenstrahlen als Gleichnis in der Logostheologie des christlichen Altertums«, in: Antike und Christentum 1, 4 (1929), 271—290, und F. J. D., Die Sonne der Gerechtigkeit und der Schwarze, M ü n s t e r

70

3

1979.

Zum Phänomen der Hässlichkeit im höfischen Roman existiert eine ganze Reihe von Studien, von denen einige hier genannt seien: Barbara Seitz, Die Darstellung häßlicher Menschen in der mittelhochdeutschen

erzählenden

Literatur von der Wiener Genesis bis

zum Ausgang des 13. Jahrhunderts, Tübingen 1967; Fritz Peter Knapp, »Die häßliche Gralsbotin und die victorinische Ästhetik«, Sprachkunst 3 (1972), 1—10; Roy A. Wisbey, »Die Darstellung des Häßlichen im Hoch- und Spätmittelalter«, in: Wolfgang Harms, L. Peter Johnson (Hrsg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters, Berlin 1975, 9-34; Michael Dallapiazza, »Häßlichkeit und Individualität. Ansätze zur Uberwindung der Idealität des Schönen in Wolframs von Eschenbach Parzival«, DVjs 59 (1985), 400-

Haut. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters

171

zeit zur D i s k r i m i n i e r u n g v o n politischen u n d religiösen G e g n e r n eingesetzt w e r d e n k a n n , w i e an zwei Paradigmata d e m o n s t r i e r t w e r d e n soll. Dass a u f g r u n d der politischen Rivalität z w i s c h e n d e m A b e n d l a n d u n d Byzanz in d e r Kaiserfrage das Porträt des o s t r ö m i s c h e n Basileus in literarischen Z e u g n i s s e n des Westens regelrecht >eingeschwärzt< w i r d , beweist L i u t p r a n d v o n C r e m o n a , der in seiner Legatio ad Imperatorem71

den oströmischen Herrscher Nikephoros unter

A u f b i e t u n g aller n u r denkbarer, u.a. a u c h p h y s i o g n o m i s c h e r T o p o i u n d M e t a p h e r n m i t ästhetisch, ethnisch u n d moralisch abqualifizierenden I m p l i k a t e n als >Dunkelmann< charakterisiert: » h o m i n e m satis m o n s t r u o s u m . . . colore A e t h i o p e m , >cui p e r m e d i a m nolis o c c u r r e r e noctemEmotionen< in der öffentlichen Kommunikation des Mittelakers«, Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), 60—79. Le Roman d'Eneas, hrsg. und übers, von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972. Vgl. zu diesem Komplex die profunde Arbeit von Paul Michel, >Formosa deformitas Heiligkeit< in legendarischen Texten von der Spätantike bis zur frühen Neuzeit«, in: Ridder, Langer (wie Anm. 7), 275-307. Horaz, Oden und Epoden, hrsg. und übers, von Bernhard Kytzler, Stuttgart 7 2000, 8,Iff. Dass sich mit dem hohen Alter das Antlitz des Menschen verdüstert, belegt auch die Wiener Genesis, wo es heißt: »Do Ysaac eraltote / daz gesüne ime tunchlote [...]« (1115). 2

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Perspektive auf das P h ä n o m e n H a u t als I n d i k a t o r v o n Lebensalter, ein T h e m a , das s c h o n in d e n Carmina des P r o p e r t z 8 5 b e g e g n e t , der i m R e k u r s auf das Bild d e r gläs e r n e n E p i d e r m i s v o n einer alten Frau sagt, d u r c h ihre d ü n n e H a u t ließen sich die K n o c h e n zählen: »per t e n u e m ossa [...] sunt n u m e r a t a cutem.« ( 4 , 5 , 6 4 ) , u n d w o h l erstmals in der d e u t s c h e n Literatur a m Beispiel eines g e r o n t o l o g i s c h e n S y m p t o m katalogs i m altsächsischen Heliand exemplifiziert wird. H i e r ä u ß e r t sich Zacharias angesichts der B o t s c h a f t des Engels, er u n d seine Frau Elisabeth w ü r d e n i m h o h e n Alter n o c h e i n e n S o h n b e k o m m e n , entschieden ungläubig u n d u n t e r m a u e r t seinen S t a n d p u n k t d u r c h e i n e n H i n w e i s a u f ihrer b e i d e r h o h e s Alter, das einer F r u c h t b a r keit i m W e g e stehe, mittels e i n e r A u f z ä h l u n g physischer S y m p t o m e : »flesk is u n c antfallan, / fei u n s c o n i , / / is u n c a lud giliden, / lik gidrusnod.« (153f.) 8 6 W ä h r e n d in diesem K ö r p e r b i l d das Fleisch eingefallen, die H a u t u n s c h ö n , das g l ä n z e n d e A n g e s i c h t g e s c h w u n d e n u n d der Leib e i n g e s c h r u m p f t ist, t a u c h e n in parallelen T e x t e n d e r lateinischen Literatur des Frühmittelalters w e i t e r e H a u t s y m p t o m e auf, so in d e m Traktat De duodecim abusivis saeculi, w o i m 2. Kapitel (Senex sine religione) die b l e i c h e Farbe u n d die t r o c k e n e H a u t des Greises h e r v o r g e h o b e n w e r d e n : »facies in p a l l o r e m m u t a t o r , [...] cutis arescit.« 87 N e b e n K a h l k ö p f i g keit, G r a u h a a r i g k e i t o d e r W e i ß h a a r i g k e i t erscheint als A l t e r s s y m p t o m i m m e r w i e der die runzelige H a u t , die ζ. B. a u c h I n n o z e n z III. i m Senilitätenkatalog seiner Schrift De contemptu mundi z u s a m m e n m i t der V e r k r ü m m u n g d e r Gestalt e r w ä h n t : »Facies rugatur, et statura curvatur.« 8 8 A n diesem Diskurs ist a u c h die Lyrik b e t e i ligt, beklagt d o c h in Oswalds v o n W o l k e n s t e i n G e d i c h t Ich sich und hör das lyrische Ich, n a c h d e m es in der J u g e n d gesündigt hat, dass d e r Leib diesen M u t w i l l e n e n t geltet »mit plaicher varb u n d ä u g e n rot, / g e r u m p f e n , g r a w [...].« (1,1 l f . ) 8 9 R ü c k b l i c k e n d lässt sich bilanzieren, dass auf die Gestalt der Sibylle einerseits k ö r p e r l i c h e

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Sextus Propertius, Sämtliche Gedichte, hrsg. und übers, von Burkhard Mojsisch u.a., Stuttgart 1993. Heliand, hrsg. von Otto Behaghel, 9. Aufl. von Burghard Taeger, Tübingen 1984, 153f.; vgl. zu der Stelle und zu dem Komplex der Alterstypologie Ute Schwab, »Zur zweiten Fitte des Heliand«, in: Ursula Hennig, Herbert Kolb (Hrsg.), Mediavalia litteraria. Fs.für Helmuth de Boor, München 1971, 67-117, hier: lOlf. Pseudo-Cyprianus, De XII abusivis saeculi, hrsg. von Siegmund Hellmann, Leipzig 1910, 34f. Innozenz III., De contemptu mundi, 1,9, PL 217, 706C. Zur Altersphysiologie und -pathologie vgl. Daniel Schäfer, »>De senectuteMuskelmann< mit abgezogener Haut in den Händen oder auch mit Schindmesser dargestellt.94 Bartholomäus ist ein christliches Pendant zu dem antiken Satyr Marsyas, der, wie Ovid berichtet, 95 enthäutet wurde, weil er den Gott Apollo im Wettstreit beim Spiel auf Tritonias R o h r flöte besiegt hatte: »clamanti cutis est summos direpta per artus, / nec quicquam nisi vulnus erat; cruor undique manat / detectique patent nervi trepidaeque sine ulla / pelle micant venae; salientia viscera possis / et perlucentes numerare in pectore fibras.« (VI, 387-391) 96 Wenn in der hochmittelalterlichen Epik häufig die äußere Schönheit gegenüber der inneren abgewertet und damit ein Bruch mit der höfischen Konkordanzästhetik vollzogen wird, der sogar so weit gehen kann, dass äußere Hässlichkeit mit innerer Tugend kombiniert ist, so spiegelt sich darin möglicherweise der Einfluss zisterziensischen Gedankenguts. So insistiert Bernhard von Clairvaux in seinen Predigten zum Hohelied 97 darauf, dass die leibliche Schönheit schon allein wegen ihrer Vergänglichkeit der seelischen Schönheit nicht zu vergleichen ist, da die blendende Reinheit der Haut einmal verglühen wird und dem geschminkten Gesicht letztlich die Fäulnis droht: »Non comparabitur ei quantalibet pulchritudo carnis, non cutis utique nitida et arsura, non facies colorata vicina putredini [...], quae omnia sunt ad corruptionem.« (XXV, 6) Die christliche Apologetik des Hässlichen,

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Ebd., 301. >Elsässische Legenda Aurea', Bd. 1: Das Normalcorpus, hrsg. v o n Ulla Williams, W e r n e r W i l l i a m s - K r a p p , T ü b i n g e n 1980, 547; vgl. J a c o b u s de Voragine, Die legenda aurea, übers, von R i c h a r d Benz, Darmstadt 1984, 628. M . Lechner, »Bartholomäus (Apostel u n d Märtyrer)«, in: Lexikon der christlichen Ikonographie 5 (1973), 3 2 0 - 3 3 4 , hier: 323. O v i d , Metamorphosen, hrsg. u n d übers, von Michael von Albrecht, Stuttgart 1994. Ebd., 307: »Während er n o c h schrie, w u r d e i h m die H a u t o b e n über die Glieder abgezogen, u n d alles war eine einzige W u n d e : Überall strömt Blut hervor, offen liegen die Sehnen da, u n d o h n e H a u t pulsieren die b e b e n d e n Adern. M a n k ö n n t e im Innern die zuckenden O r g a n e u n d an der Brust die durchscheinenden Fibern zählen.« Bernhard von Clairvaux (wie A n m . 61).

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die in bahnbrechender Weise Augustin an den Märtyrern oder auch an Christus selbst exemplifiziert, 98 wird ebenso wie die Kritik der Kirchenväter an der weiblichen Putzsucht im Hochmittelalter nicht nur rezipiert, sondern erfährt auch eine neue Akzentuierung durch die Zisterzienser, die äußere Schönheit als bloße Fassade, bloße Tünche ansehen und allem Körperkult und überflüssigem Luxus von Schmuck und Kleidung dezidiert ablehnend gegenüberstehen.

Exkurs: Gender-Differenz: Präputium u n d H y m e n Zwei Formen von Haut, die in der kulturwissenschaftlichen Forschung zum Körperparadigma bislang wenig berücksichtigt worden sind, verdienen nicht zuletzt unter Gender-Aspekten besonderes Interesse: die männliche Vorhaut und das weibliche Jungfernhäutchen. Die Zirkumzision ist ein religionsgesetzliches Präzept des Judentums und nach Gn 17,10—14 ein Signum für den Bund zwischen Gott und seinem Volk Israel," mit der Konsequenz, dass Unbeschnittenheit zwangsläufig Exklusion vom Kult impliziert (Ex 12, 48). Auch der islamische Kulturkreis kennt den Purgationsritus der Beschneidung, die in Differenz zum Judentum ζ. B. auch bei Mädchen in der rigiden Form einer Entfernung der Klitoris praktiziert wird. Von den Judenchristen wird die Beschneidung gleichfalls als religiöses Ritual verstanden, das Paulus früh spirituell als »circumcisio cordis« (Rm 2,29) und >Christus-Beschneidung< in Form der Taufe (Col 2, llf.; vgl. Gal 2,1—10) interpretiert. Mit dem Ende des Alten Testaments ist für die christliche Kirche die Beschneidung, die den Kirchenvätern als Sakrament des Alten Bundes gilt, abgeschafft und den Christen untersagt, da an ihre Stelle ein neuer rite de passage, nämlich die Taufe, getreten ist. Sofern Christus nach jüdischer Sitte am 8. Tag nach seiner Geburt beschnitten wurde (Lc 2,21), lebt die Beschneidung gleichwohl im liturgischen Gedächtnis fort, feiert doch die Kirche in Gallien und Spanien schon im 6. Jahrhundert die Circumcisio Domini am 1. Januar, und in R o m wurde seit dem 11. Jahrhundert diese Tradition übernommen. Im Mittelalter wird nicht nur des Festes der Beschneidung in der Liturgie gedacht, sondern die Circumcisio Domini avan-

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Vgl. Hans Robert Jauß, »Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur«, in: H. R . J. (Hrsg.), Die nicht mehr schönen Künste, München 1968, 143-168, hier: 157f. Zu dem gesamten Themenfeld vgl. die Studie von Andreas Blaschke, Beschneidung. Zeugnisse

der Bibel und verwandter Texte, T ü b i n g e n 1998 (zu d e n patristischen Texten,

ebd., 485f.); vgl. auch Leo Scheffzyk, »Beschneidung«, in: Lexikon des Mittelalters 1 (1980), 2058f.

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eiert auch in der Bibelepik zu einem wichtigen literarischen T h e m a im R a h m e n der Kindheitsgeschichte Christi 1 0 0 u n d erfährt schließlich im geistlichen Schriftt u m überhaupt vielfältige allegorische Interpretationen, deren Signifikate an der Schwelle zur Neuzeit in der großen Kollektion des Hieronymus Lauretus inventarisiert worden sind. 101 Im 12. Jahrhundert, einer Zeit räumlicher u n d geistiger Ö f f n u n g , zieht die Beschneidung als jüdischer Ritus die Aufmerksamkeit der christlichen, an Toleranz interessierten Intellektuellen auf sich u n d wird z u m Gegenstand eines die R e l i gionen übergreifenden Gesprächs, wie es der Dialogus inter philosophum, ludaeum et Christianum des Petrus Abaelardus 1 0 2 dokumentiert, in dem dieses T h e m a im K o n nex mit der Frage derVernunftbegründung undVernunftwidrigkeit des mosaischen Gesetzes zwischen dem Philosophen und dem Juden diskutiert w i r d (37ff.). Stärker in den Bahnen der theologischen Tradition beschäftigt sich Bernhard von Clairvaux in drei Predigten z u m Fest der Beschneidung des Herren mit den verschiedenen Aspekten des Rituals, in der ersten thematisiert er die >causa circumcisionis< und das >vocabulum Iesuspiritualis circumcision 1 0 3 Die liturgische Erinnerung hält im 13. Jahrhundert Jacobus deVoragine in seiner Legenda aurea wach, die einen umfangreichen Abschnitt über das Fest der Beschneid u n g des H e r r n birgt, das nach A u f f a s s u n g des u m scholastische Systematik b e m ü h t e n Verfassers durch vier D i n g e geheiligt w i r d : »Das erste ist, daß heute acht Tage seit der Geburt des H e r r n verflossen sind; das andere ist, daß Christo heute ein neuer u n d heilbringender N a m e ward gegeben; das dritte ist, daß heute zum ersten Male sein Blut vergossen ward; das vierte ist das Zeichen der Beschneid u n g selbst« 104 . A u c h Reliquienkult u n d Frauenmystik sind betroffen, empfängt doch die heilige Katharina von Siena aus dem 14. Jahrhundert in einer Vision von Christus einen Teil seiner Vorhaut, die sie ähnlich einem R i n g als Signum einer mystischen Ehe über den Finger zieht: »O dolcissimo amore Gesu, in segno che tu

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Ein frühes Beispiel bietet das Kapitel I, 15 (De circumcisione pueri et de purgatione Sanctae Mariae) bei O t f r i d v o n Weißenburg, Evangelienbuch, hrsg. von Wolfgang Kleiber, T. 1 - 2 , T ü b i n g e n 2004. 101 Hieronymus Lauretus, Silva allegoriarum totius sacrae scripturae, Barcelona 1570, Nachdr. d e r 10. Ausgabe K ö l n 1681, hrsg. von Friedrich Ohly, M ü n c h e n 1971, 785. 102 p e t e r Abaelard, Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen, hrsg. u n d übers, von Hans-Wolfgang Krautz, Frankfurt a.M. 2 1996. 103 B e r n h a r d von Clairvaux, Sermones per annum, in: B e r n h a r d (wie A n m . 61), Bd. VII, Innsbruck 1996, 2 8 2 - 3 1 7 . 104 Jacobus deVoragine (wie A n m . 93), 9 3 - 1 0 2 , hier: 98f.

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l'avevi presa per sposa, in capo degli otto di tu le donasti l'anello della santissima e dolcissima carne tua, nel t e m p o della santa circuncisione!« 105 In der frühmittelhochdeutschen Wiener Genesis106, wird die alttestamentliche Beschneidung, die Abraham den Juden vermittelt hat, im M o d u s der Aktualisierung in Beziehung zu d e m zeitgenössischen Ritus der mittelalterlichen J u d e n gesetzt, den diese gegenüber d e m christlichen Sakrament der Taufe ihrerseits als überlegen ansehen: »Do Abram die gots getougen / so vlizzicliche hete vor ougen, / / do lerte er in die site / daz er sich an siner scante besnite, / / u n d e swaz mannes geburte / in sineme c h u n n e wurte, / / daz die alle sich same besniten, / allez unreht vermiten. / / der site ist hiute / under judiskem liute, / / u n d e ist ire geloube / iz si in bezzere denne diu touffe.« (865—870) Das geschichtstypologische Verhältnis zwischen alttestamentlicher Beschneidung u n d neutestamentlicher Taufe spricht auch Gyburg im Willehalm Wolframs von Eschenbach an, w e n n sie vor d e m von Petrus Abaelardus eröffneten H o r i z o n t eines Dialogs der Religionen und Kulturen gleichermaßen die Gemeinsamkeit wie auch die Differenz zwischen J u d e n t u m u n d Christentum in dieser Frage betont: »der j u d e n touf hat sunder site / den begen si mit einem snite.« (307,23f.) 1 0 7 Als O b j e k t des religiösen Kults firmiert i m Mittelalter nicht nur das Präputium, sondern auch das H y m e n , was gleichfalls frömmigkeitsgeschichtliche Ursachen u n d Implikationen hat. D i e Verehrung der Jungfräulichkeit, die an die Unversehrtheit des weiblichen H y m e n s geknüpft ist, gewinnt im Christentum besondere R e l e vanz in Verbindung mit Maria, f ü r die als Gottesmutter seit d e m Konzil von E p h e sus 431 die virginitas ante partum, in partu et post partum als D o g m a reklamiert wird. Ratramnus von Corbie entwirft in der Karolingerzeit eine Mariologie, die den physischen Vorgängen der Mutterschaft Mariens großes Interesse entgegenbringt, da es i h m darum geht, im Sinne einer antidoketistischen Haltung die natürliche Mutterschaft Mariens zu beweisen. Ähnlich wie Maria Christus virginal empfangen hat, gebiert sie ihn auch im Stande der Jungfräulichkeit, j e d o c h erfolgt die Geburt weitestgehend nach der lex naturae, d e n n auch f ü r sie gilt: »non parit femina, nisi per vulvam, n o n exit infans, nisi per uteri ianuam.« 1 0 8

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Epistolario Di Santa Caterina di Siena, hrsg. von Eugenio Dupre Theseider, R o m 1940, vol. 1, Nr. XXXVIIII (Adressatin: Königin Johanna II. von Neapel), 158; vgl. Caroline Walker Bynum, Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters, übers, von Brigitte Große, Frankfurt a.M. 1996, 67 und 98. Die frühmittelhochdeutsche Genesis, hrsg. und komm, von Kathryn Smith, Berlin 1972. Vgl. zur Typologie von jüdischer Beschneidung und christlicher Taufe Rudolf Suntrup, »Zur sprachlichen Form der Typologie«, in: Klaus Grubmüller u.a. (Hrsg.), Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters, München 1984, 23-68, hier: 64. Ratramnus, De eo quod Christus ex Virgine natus est, PL 121, 91B; vgl. Leo Scheffczyk,

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Das Wunder der Jungfräulichkeit der Gottesmutter wird in der mittelalterlichen Literatur in vielen Bildern evoziert, welche die virginitas intacta zumeist nur diskret andeuten, wie ζ. B. im frühmittelhochdeutschen Arnsteiner Marienieich109: »Sint du daz kint gebasre, / bit alle du waere / / luter unde reine / van mannes gemeine. / / swenen so daz dunket unmugelich, / der merke daz glas daz dir is gelich / / . daz sunnen liet scinet durch mittein daz glas, / iz is alinc unde luter sint al iz e des was.« (16,1-4) Neben dem Bild des Glases, das unversehrt das Licht hindurchlässt, werden auch alttestamentliche Figuren beschworen: ζ. B. der von Moses erblickte brennende Dornbusch (Ex 3,2), der, weil seine Schönheit behaltend, als Typus für Maria gilt, über die im Rekurs auf die florale Metaphorik gesagt wird: »Dines mageduomes bluome grünet ie noch, / du heizes inde bis muoder ie doch« (22,1), oder als weitere Präfiguration die verschlossene Pforte des Ezechiel, die allein Gott offenstand: »Du porze beslozzen, / gode alleineme offen, / / der Ezechieli erscein, / si was ouch diner zeichen ein.« (24f.) n 0 Mariologische Aussagen begegnen auch in den höfischen Romanen, ohne dass sie von der neueren Forschung sonderlich beachtet werden, heißt es doch etwa im Willehalm Wolframs im Zusammenhang mit der Ensarkose des Logos (Io 1,14): »das wort vil kreftecliche vart / zer magde vuor (diu ist immer maget) / diu den gebar, der unverzaget / sin verh durh uns gap in den tot.« (31,8—11) In kodierter Form erscheint der Gedanke der Jungfrauenschaft in Parzivals Gespräch mit Trevrizent, in dem der Einsiedler den Ritter mit einem Rätsel 111 konfrontiert, nach dem einer von Adams Söhnen seine Großmutter entjungfert hat: »[··.] siner anen nam er magetuom.« (1, 23, 26) Der Eremit muss das Rätsel selbst lösen, da Parzival dazu nicht imstande ist: Als Adams Mutter wird die Erde entschlüsselt, die anfangs jungfräulich war, bis ihr Kain durch die Ermordung Abels die Jungfernschaft geraubt und damit den bis in die Gegenwart fortdauernden Hass der Menschen untereinander begründet hat: »diu erde Adämes muoter was: / von erden fruht Adam genas. / dannoch was diu erde ein magt: / noch hän ich iu niht

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Das Mariengeheimnis in Frömmigkeit und Lehre der Karolingerzeit, Leipzig 1959, 137—151, hier: 139. Arnsteiner Marienieich, in: Friedrich Maurer (Hrsg.), Die religiösen Dichtungen des 11. und 12. Jahrhunderts, Bd. 1, Tübingen 1964, 433-452. Eine Vielzahl von Belegen zur allegorischen Tradition bietet die Arbeit von Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters, Nachdr. Darmstadt 1967 (zum Glas: 71—74; zum Dornbusch: 12-14; zur Pforte Ezechiels: 26-28); das Motiv der Jungfräulichkeit in der hochmittelalterlichen Literatur behandelt die Studie von Maria E. Müller, Jungfräulichkeit in Versepen des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1995. Tomas Tomasek, Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994, 213f.

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gesagt / wer ir den m e g e t u o m benam. / Käins vater was Adam: / der sluoc Abeln u m b krankez guot. / do üf die reinen erdenz bluot / viel, ir m a g e t u o m was vervarn: / den nam ir Adämes barn. / do h u o p sich erst der menschen nit: / also wert er i m m e r sit.« (464,11-22) In diesem geschichtstheologischen Konstrukt, das eine T h e o r i e zur Genese der menschlichen Aggression u n d eine Erklärung zur K o n stituierung einer civitas Dei mit d e m Stammvater Abel u n d einer civitas diaboli mit dem Stammvater Kain im augustinischen Sinne bietet, erscheinen typologisch der erste Adam u n d der zweite Adam, Christus, als Söhne von Jungfrauen: »in der werlt doch niht so reine ist, / so diu magt an valschen list. / nu prüevt wie rein die meide sint: / got was selbe der meiden kint. / von meiden sint zwei mennisch k o m n . / got selbe antlütze hat g e n o m n / nach der ersten meide fruht.« (464,23—29) A u c h bei diesemTheologumenon mit Z ü g e n eines archaischen Deflorationsmythos greift Wolfram wieder auf einen Prätext der volkssprachigen religiösen D i c h t u n g vorhöfischer Prägung zurück, nämlich auf die Kaiserchronikn2\

»diu erde was mage-

traine, / si genam toten lichnamen nie nehainen, / n o c h enphie nie mennischen pluot, / unze Käin sinen p r u o d e r resluoch. / daz pluot daz von im ran, / der erde iz ir m a g e t u o m benam.« (V. 9568-9573) 1 1 3 R e i n h e i t erscheint bei Wolfram positiv konnotiert als Freiheit von sexueller Befleckung, die ihrerseits als Akt der Gewalt betrachtet wird. D e r Verlust der Virginität der Erde wird in heilsökologischer F o r m im ersten M o r d gesehen, bei d e m Kain die Erde mit d e m Blut des Bruders Abel besudelt. Die Geburt Adams aufg r u n d einer Parthenogenese bot eine Analogie zur Jungfrauengeburt Christi, die sich in die theologisch etablierte Adam-Christus-Typologie einbinden ließ. Kains Gewalttat gegen seinen Bruder erscheint nicht nur als Entjungferung, sondern, da die Erde seine A h n i n ist, auch als Inzest. D a m i t wird, exemplifiziert am T h e m a Jungfräulichkeit, der ethische Kodex von Familie u n d Verwandtschaft auf zweifache Art gebrochen: durch B r u d e r m o r d u n d Inzest. 114 Kain w i e d e r u m erscheint in der Perspektive Trevrizents als Vorläufer u n d typus des gewaltbereiten Parzival, der mit Ither seinen Verwandten getötet hat.

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Die Kaiserchronik, hrsg. von Edward Schröder, Hannover 1892. Zur Tradition und theologischen Deutung vgl. Meinolf Schumacher, Sündenschmutz und Herzensreinheit. Studien zur Metaphorik der Sünde in lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters, München 1996, 126, 335f. Z u einem neuen Forschungsinteresse am Phänomen des Inzests vgl. den Sammelband von Jutta Eming u.a. (Hrsg.), Historische Inzestdiskurse, Köngstein/Taunus 2003.

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III. H a u t als I n d i k a t o r f ü r >Idealität< 1. Aspekte des anthropologischen Diskurses Sucht man sich dem Phänomen Haut im Mittelalter unter einem anthropologischen Blickwinkel zu nähern, 1 1 5 so kann man statuieren, dass dem Zeitalter durchaus bewusst ist, dass sich der Mensch durch seine Haut vomTier unterscheidet. Schwere Deformationen der Haut, in den Texten partiell durch Tiervergleiche markiert, die im Schrifttum der Physiognomik vorgebildet sind, können ein Indiz dafür sein, dass eine Person nicht dem Bild des Menschen als göttlicher Schöpfung entspricht. Es verwundert daher nicht, dass die mittelalterliche Beschäftigung mit der Haut auch in einem anthropologischen Diskurs erfolgt, wie ihn exemplarisch Isidor in seinen Etymologiae entwickelt, wo er im 1. Kapitel des XI. Buchs, das bezeichnenderweise mit De homine et partibus ejus überschrieben ist, auf Formen, Schichten und Beschaffenheiten der menschlichen Haut eingeht: »Cutis est quae in corpore prima est, appellata quod ipsa corpori superposita incisionem prima patiatur [...] Idem et pellis, quod externas iniurias corporis tegendo pellat, pluviasque et ventos solisque ardores perferat. Pellis autem mox detracta: subacta iam corium dicitur. C o r i u m autem per derivationem caro appellavit, quod eo tegatur: sed hoc in brutis animalibus proprium. Pori corporis Graeco nomine appellantur, qui Latine proprie spiramenta dicuntur, eo quod per eos vivificus spiritus exterius ministretur.« 116 Zuvor werden in demselben Kapitel die fünf Sinne des Menschen traktiert, unter denen als letzter der Tastsinn genannt wird, von dem es heißt, anders als die lokal gebundenen anderen Sinne verteile er sich über alle Glieder, sei in der Lage, Dinge festzustellen, die zu beurteilen die übrigen Sinne nicht fähig sind, und gliedere sich in zwei Formen auf, eine extrinsische und intrinsische: »Tactus, eo quod pertractet et tangat et per omnia membra vigorem sensus aspergat. N a m tactu probamus quidquid caeteris sensibus iudicare non possumus. D u o autem genera tactus sunt: nam aut extrinsecus venit quod feriat, aut intus in ipso corpore oritur.« 1 ' 7 Da der

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Vgl. Claudia Benthien, »Hand und Haut. Z u r historischen Anthropologie von Tasten und Berührung«, Zeitschrift für Germanistik N. F. 8, 2 (1998), 335-348. Isidor von Sevilla (wie Anm. 24), Τ. II; XI, 1, 78-81. Ebd., XI, 1,23f. Z u den fünf Sinnen vgl. auch G u d r u n Schleusener-Eichholz, Das Auge im Mittelalter, Bd. 1, M ü n c h e n 1985, 198-237; R o b e r t Jütte, Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, M ü n c h e n 2000, bes. das Kap. »Die traditionelle O r d n u n g der Sinne«, 29-139; Ulrike Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie. Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000, bes. 4 3 - 7 0 (zum Tastsinn bei Thomas von Aquin und seinen Vorgängern); Eckart Scheerer, »Sinne«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 9 (1995), 824-840.

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Mensch nach mittelalterlicher Auffassung als Mikrokosmos mit d e m Makrokosmos eng vernetzt ist, werden die Sinne bestimmten Elementen zugewiesen - das haptische Vermögen ζ. B. der Erde —118, u n d in diesem konnektiven Weltentwurf wird auch die Stellung des Menschen in der Seinshierarchie, genauer: in Relation zu den Tieren reflektiert, da diese speziell im Hinblick auf einzelne Sinnesvermögen d e m Menschen durchaus überlegen sind, gilt doch, wie Konrad von M e g e n berg konstatiert, ζ. B. die Spinne als das taktil begabteste Lebewesen: »etleich sprechent, daz uns mangeu tier übertreffen an den fünf Sinnen: der per oder der eber an dem gehoerd, der luhs an d e m gesiht, der äff mit d e m versuochen in d e m m u n d , der geir mit d e m smack (wan der smeckt daz äs gar verr), diu spinne mit der gerüerde.« 119 N a c h Thomasin von Zerklaere ist der H a u t der Tastsinn zugeordnet, d e m unter den menschlichen Sinnen besonderes Gewicht zukommt, da, anders etwa als beim Gehör, Geschmack, Geruch oder Sehvermögen, der Mensch ohne die Intaktheit des haptischen Sinns nicht lange existieren kann. 1 2 0 Das Versiegen des menschlichen tactus wird somit zum signum mortis. Im Verhältnis des Menschen zu den Tieren bezeugt Konrad von Megenberg schließlich die anthropologische Auffassung, dass die Haut des Menschen in Differenz zu der der Tiere sehr d ü n n u n d verletzlich ist, was seinen G r u n d darin hat, dass dieser als homo faber im Gegensatz zu den Tieren die kompensatorische Fähigkeit besitzt, sich auch mit Kleidung, gleichsam einer zweiten Haut, vor Schädigungen undVerletzungen zu schützen: »des menschen vel ist d ü n n u n d mag leicht versert werden, daz ist dar umb, daz der mensch kan im selber ander decke machen, da mit er sich bewart, des andreu tier niht künnen.« 1 2 1 Für den mittelalterlichen Hautdiskurs ist unter anthropologischem Aspekt auch die Frage der Genese von g r o ß e m Gewicht, die mit Hilfe der christlichen Schöpfungstheologie beantwortet wurde. So erklärt der Autor der Wiener Genesis bei seiner ausführlichen Darstellung der Erschaffung des Menschen die Entstehung der

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Isidor, Differentiae, PL 83, 83B. Konrad von Megenberg, Das Buch der Natur, hrsg. von Franz Pfeiffer, Hildesheim 1971 (Nachdr. der Ausgabe Stuttgart 1861), 118. Thomasin von Zirclaria, Der Welsche Gast, hrsg. von Heinrich Rückert, Berlin 1965 (Nachdr. der Ausgabe Leipzig 1852), V. 9483—9496: »Nu merket daz dehein man / an den vümften sin niht leben kann, / der wir da heizen gerüerde. / er mac leben an gehoerde, / an smac, an wäz und an gesiht, / aver an gerüerd niemen geschiht / daz er müge lange leben: / er muoz dermit sinn lip geben. / dar umbe sprach ein wise man / von dem man vil dinges kann: / >von den vieren lebt man wol, / aver von dem vümftn man leben sol, / wan deheiner niht enmac / an gerüerde leben einen tacEr küsse mich mit dem Kuß seines Mundes< (Osculetur m e osculo oris sui, Cant 1,1). Metaphorik, k o m munikative und herrschaftliche Funktion einer symbolischen Handlung«, in: Hedda Ragotzky, Horst Wenzel (Hrsg.), Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen, Tübingen 1990, 89—132, und K. S., »>Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküßt< (Ps. 84, 11). Friedensstiftung durch symbolisches Handeln«, in: Johannes Fried (Hrsg.), Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und späten Mittelalter, Sigmaringen 1996, 37-86. Vgl. Lechtermann (wie Anm. 122), 257f. Z u den antiken Quellen der Schönheitsbeschreibung vgl. die Arbeit von Karl Jax, Die

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panegyrischen Körperekphrastik bietet bereits Isidors Definition des Charakterismos: »Characterismus, descriptio figurae alicuius expressa, ut [...] : >Omnia M e r c u rio similis, vocemque coloremque, / et crines flavos et m e m b r a decora iuventavornehme Blässe< ein Indikator fur hohen Stand ist, verwundert es nicht, dass Gottfried von Straßburg das Hautmodell auch auf ein männliches Wesen transferiert, nämlich auf Tristan bei dessen erster Begegnung mit Marke: »dar zuo was ime der lip getan / als ez diu Minne gebot. / Sin munt was rehte rosenrot, / sin varwe lieht, sin, ougen clär / [...] sin arme und sine hende / wol gestellet unde blanc.« (V. 3332—3334; 3338f.) Die rote Farbe ist hier aber nicht Ingredienz einer Farbmixtur wie bei den Hautekphrasen weiblicher Körper, sondern wird einzig durch den roten Mund vertreten, der als erotischer Schlüsselreiz fungiert. Unter Genderaspekten ist in jedem Fall festzuhalten, dass die weiß-rote Farbe als Schönheitsattribut des Mannes bereits im Hohelied vorgebildet ist, in dem der Bräutigam als »Candidus et rubicundus« (5,10) apostrophiert wird. Exzeptionell umfangreich für einen hochmittelalterlichen Artusroman ist die Deskription der Florie, der Nichte Jorams, in Wirnts von Gravenberg Artusroman Wigaloisuo, in dem die Farbwerte und die Farbskala der Haut eine gravierende Rolle spielen. Nachdem zunächst die Kleidung der edlen Jungfrau beschrieben wird, darunter ein Pelzwerk aus Hermelin, in das aus einer Fischhaut (»hiute vischin«;V.

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Hieronymus (wie Anm. 4); vgl. auch Karl-Wilhelm Weeber, Alltag im alten Rom, Zürich 1995, 241f. Tertullian, De cultu jeminarum (ha toilette des femmes), hrsg. und übers, von Marie Turcan, Paris 1971 (Sources chretiennes 173). Vgl. Wilhelm Kölmel, »Natura: genitrix r e r u m — regula m u n d i . Weltinteresse und Gesellschaftsprozeß im 12. Jahrhundert«, in: Albert Z i m m e r m a n n , Andreas Speer (Hrsg.), Mensch und Natur im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 21, 1), Berlin 1991, 43-56; Christoph Huber, »Die personifizierte Natur. Gestalt und Bedeutung im Umkreis des Alanus ab Insulis und seiner Rezeption«, in: Wolfgang Harms, Klaus Speckenbach (Hrsg.), Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion, Tübingen 1992, 151-172; Mechthild Modersohn, Natura als Göttin im Mittelalter. Ikonographische Studien zu Darstellungen der personifizierten Natur, Berlin 1997, bes. 29ff. Z u m neuen Naturverständnis der Schule von Chartres vgl. A. Speer, »Natur«, in: Lexikon des Mittelalters 6 (1993), 1040-1043, hier: 1041; vgl. auch die Arbeit von Winthrop Wetherbee, Platonism and Poetry in the Twelfth Century. The Literacy Influence of the School of Chartres, Princeton 1972, bes. 187ff. W i r n t von Grafenberg, Wigalois, hrsg. und übers, von Sabine und Ulrich Seelbach, Berlin 2005.

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809) von Irland Bilder des Monds und der Sterne eingearbeitet sind, wendet sich die Ekphrasis der korporalen Erscheinung zu. Der Dichter betont auffällig diverse Hautdetails, das goldfarbene und gelockte Haar mit einem schmalen Scheitel, an dem die weiße Haut hervorschimmert, die feingewölbte Stirn, deren Haut sich nicht nur durch Glätte und Reinheit, sondern auch durch eine feine Farbmischung auszeichnet: »ir här daz was kleine, / goltvar unde reit; / ir Scheitel wiz und niht ze breit. / diu stirne was ir sinwel. / eben und lüter was ir vel, / von rosen varwe wize / getempert mit vlize« (V. 868-874), und schließlich die rosigen und weißen Wangen, die so perfekt sind, als hätte Gott selbst die Farben gemischt: »diu hiufelin [warn ir] rosenvar, / daz antlütze lüter gar / von roete und von wize,/ als si got mit vlize / gemischet het begarwe.« (V. 895—899) Durch das pikturale Muster auf der Kleidung und durch die Vorstellung eines göttlichen >Visagisten< betont der Dichter, der alle Register rhetorischer Schönheitsbeschreibung zieht, den Charakter der Frau als Ikone, als Kunstwerk. 141 Die Perspektive wird im Folgenden insoweit ausgeweitet, als nicht nur die Haut des Gesichts, sondern die des gesamten Körpers höchsten ästhetischen Maßstäben von Glanz, Weichheit und Ebenheit entspricht: »mit also liehter varwe / was ir lip über al / linde und eben hin zetal.« (V. 900-902) Nachdem vorher schon von Gott als >Maler< die Rede war, 142 wird die optimale Perfektheit, die Idealität von Flories Haut noch durch die Einfuhrung einer Personifikation, des Wunsches, besonders unterstrichen: »daz was da wol erzeiget: / der Wunsch hat sich geneiget / vil gar in ir gewalt.« (V. 903-905) Auch in der anschließenden Schilderung werden charakteristische Farbdetails, die koloristische Spannung zwischen dem rosenfarbenen Mund und den weißen Zähnen (V. 917—921) sowie der hermelinweiße Hals erwähnt, um den allerdings ein breiter Zobel geschlagen ist, weshalb der Erzähler - ein für ekphrastische Exkurse typisches Fiktionssignal - sich auf einen >Gewährsmann< berufen muss (V. 927-933). Die gesamte Ekphrase bekundet den Einfluss der hochmittelalterlichen Poetiken mit ihrem detailliert ausgearbeiteten Deskriptionspräzepten, sodann den schon bei den klassischen Autoren registrierbaren Versuch, die schematischen Beschreibungen durch kleine, zum Teil erzählerbezogene Exkurse aufzulockern und die Personalpanegyrik stilistisch stark an das Postulat der Evidenz zu binden, und lässt

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Zum Vergleich körperlicher Schönheit mit Kunstwerken vgl. Ovid (wie Anm. 95), 12, 397f. Zur Vorstellung von Gott als Maler vgl. die Hinweise von Friedrich Ohly, »Deus geometra. Skizzen zur Geschichte einer Vorstellung von Gott (1982)«, in: F. O., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und Bedeutungsforschung, hrsg. v o n U w e R u b e r g ,

Dietmar Peil, Stuttgart 1995, 555-598, hier: 556f.

Haut. Semiotik der Körperobeifläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters

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schließlich durch die Introduktion Gottes als pictor sowie der Personifikation des Wunsches, vielleicht einer Chiffre für die platonische Idee, den Einfluss der Schule von Chartres erkennen. In der Synopse zeigt die Semiotik der Haut im Kontext mit Beschreibungen der höfischen Dame im mittelalterlichen Roman eine Reihe interessanter Verweisstrukturen und Diskursanhindungen. So fungiert die weiße Hautfarbe beispielsweise implizit als visuelles Standesabzeichen und Differenzierungsmerkmal gegenüber Vertreterinnen des Bauernstandes, die wegen der Feldarbeit eine sonnenverbrannte Haut davontragen. Wenn die mittelalterlichen Autoren Haut als soziales Differenzierungsmerkmal einsetzen, bewegen sie sich in einer weit zurückreichenden Diskursgeschichte. Für die Ausdifferenzierung des Hautbildes nach Schichten und Berufsgruppen liefert nämlich bereits Ovid einen instruktiven Beleg, wenn er konstatiert, dass die schneeweiße Hautfarbe Seeleuten, Bauern und Sportlern, die im Freien ihrer Beschäftigung nachgehen, schlecht zu Gesicht steht, während von einem Verliebten gemäß antiker Liebeskasuistik und Liebespathologie erwartet wird, dass er bleich aussieht.143 Haut ist, wichtig für den Heiratsmarkt, insbesondere die höfische Partnerbörse, indes nicht nur ein ständisches Abzeichen, sondern auch ein erotisches Signal. Da in den klassischen Schönheitsbeschreibungen zumeist ledige Frauen im Kontext mit einer Brautwerbung Objekt des männlichen Blickes sind, ergibt sich auch eine latente Semiotik der weißen Haut in Richtung auf virginale Reinheit, was dynastischen Erwartungen und adliger Heiratspolitik entspricht. Die weiße Haut der Braut spiegelt ein vor zuviel Öffentlichkeit geschütztes Leben im Haus unter Kontrolle der huote: wichtig für die Sicherung von legitimem Nachwuchs. Unter dem Aspekt der Partnerwahl in der aristokratischen Schicht garantiert das Hautbild der potentiellen Heiratskandidatin die Standesgleichheit als Grundlage für eine endogame Verbindung. Durch den Schuss Röte wird zudem die Impression von einer frischen Hautfarbe erzeugt, die ihrerseits wieder den Eindruck von Gesundheit ausstrahlt. Schönheit und Gesundheit gehören per se in den Kontext genealogischen bzw. genetischen Denkens: Schönheit entfacht sexuelles Begehren, Gesundheit lässt Fruchtbarkeit und gesunden Nachwuchs erwarten, die unabdingbar für den Fortbestand von Dynastien sind, die ihre Identität in Stammbäumen finden. Aristokratische Schönheit, die auch immer Hautästhetik ist, besitzt zudem einen hohen Stellenwert im Rahmen politischer Repräsentation und einer auf Ostension und Visualität angelegten höfischen Festkultur, in die das Herrscherpaar involviert ist.

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O v i d (wie A n m . 1), I, 7 2 3 - 7 3 8 .

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Bestimmte körperliche R e i z e können die erotische Attraktivität verstärken, ζ. B. der Glanzfaktor der Haut, der als Blickfang fur den Betrachter dient, wie in Wolframs Artusroman in Parallelfiihrung sowohl an der Figur des Parzival (186,4f.) wie auch an der der Condwiramurs (186,19f.) demonstriert wird. 144 Die weiße Farbe der Haut kann zudem den Charakter der Nacktheit 145 betonen oder durch Transparenz der Kleidung im Spannungsfeld von Exhibitionismus undVoyeurismus als erotisches Stimulans wirken, wie die in der Vergangenheit wenig beachtete Beschreibung der Antigone im Roman de Thebes146 zeigt: »D'une pourpre ynde fu vestue / tout senglement a sa char nue; / la blanche char desouz paroit; / Ii bliauz detrenchiez estoit / par menue detrencheüre / entre qu'a val a la ceinture. / Mout s'entravindrent les colors, / c'est Ii indes et la blanchors.« (V. 4051—4058) 147 Für das subtile Zusammenspiel von Nacktheit und Bekleidung rät schon Ovid in seinem Leitfaden für Liebende: Wer eine gute Farbe hat, liege oft mit entblößter Schulter da, 148 und empfiehlt modisch j e nach Hauttyp, dass etwa eine bleiche Frau Gewänder mit purpurnen Längsstreifen trägt und eine zu dunkle Frau ihre Zuflucht zum >pharischen Fisch< nimmt. 1 4 9 Das säkulare Schönheitsideal erhält im Mittelalter auch eine religiöse Dimension, durch die der höfische Körper im Zuge eines Gattungstransfers in die sacra poesis zum charismatischen Körper mutiert. In diesem Kontext wird das Modell des rhetorischen Schönheitspreises auf Körperdarstellungen Christi und Marias projiziert, die den Typus gnadenhafter Körperlichkeit repräsentieren. Eine einlässliche Hautbeschreibung des zwölfjährigen Jesus im Tempel, die Topoi und Metaphern höfischer Körperekphrastik kumuliert, liefert die Vita beatae virginis Marie et salva-

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Zu dem gesamten Komplex vgl. Ingrid Hahn, »Parzivals Schönheit. Z u m Problem des Erkennens und Verkennens im Parzival«, in: Hans Fromm u.a. (Hrsg.), Verbum et Signum. Fs.für Friedrich Ohly, Bd. 2: Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter, München 1975, 2 0 3 - 2 3 3 , hier: 206f. (u.a. zu Wolframs Vorstellung vom liehtem vel; 501,20£); vgl. auch die Studie von Michaela Fabrizia Cessari, Der Erwählte, das Licht und der Teufel. Eine literarhistorisch-philosophische Studie zur Lichtmetaphorik in Wolframs »Parzival«, Heidelberg 2000.

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Zur Nacktheit vgl. auch Gabriele Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, Hildesheim 1985, 2 1 7 - 2 1 9 . Roman de Thebes, hrsg. und übers, von Felicitas Olef-Krafft, München 2002. Übers., ebd., 201: »Auf der nackten Haut trug sie indigoblauen Purpur und nichts darunter. Die Weiße des Fleisches schimmerte durch, denn feine Schlitze durchzogen die Tunika bis zum Gürtel hinab. Das ergab eine prächtige Harmonie in den Farben blau und weiß.«

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Ovid (wie Anm. 1), II, 504: »cui color est, umero saepe patente cubet.« Ebd., III, 269f.: »pallida purpureis tangat sua corpora virgis, / nigrior ad Pharii confuge piscis opem.«

Haut. Semiotik der Körperobetfläche

in der Erzählliteratur

des hohen Mittelalters

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toris rhythmica in einem eigenen Abschnitt (De colore cutis corporis Jesu): »Cutis sui corporis lactei coloris / Fuit atque candidi lilii candoris. / Tarnen aliquantulum ipsum per ardorem / Sol decoloraverat maiorem ad decorem. / In eo sol rubedinem modicam paravit, / Que iuncta cum albedine plus ipsum decoravit. / Album iunctum rubicundo magis elucebat / In Christi corpusculo, plus ipsum hoc decebat. / Unde sicut lilium in statu iuvenili / Candebat Jesus, sed fuit etate sub virili / Fuscatus aliquantulum solis per ardorem, / Qui iam in ipso fecerat triticeum colorem. / Ita fuit Candidus atque rubicundus / Dilectus Jesus, sicut flos campi stat iocundus.« (3134—3147) 150 Auffällig ist der Hinweis auf die sonnengebräunte Tönung der Haut Christi, die auch Eingang in die ähnlich angelegte descriptio corporis im

Marienleben

des Schweizers Wernher gefunden hat, die gleich zu Anfang mit dem lateinischen Dictum »Speciosus pre filiis hominum« (5758) an Ps 45,3 anknüpft. 151 Durch die Hinweise auf die makellose weiße Haut des Jesusknaben und seinen gebräunten Teint als Erwachsener, der sich im Zuge seines öffentlichen Wirkens als Prediger und Lehrer häufig im Freien aufhält, wird der Lebensalteraspekt prononciert, zugleich die Schönheit Christi figural mit der Adams auf eine Stufe gestellt. Neuere Forschung sucht die Braunfärbung der Haut Christi, die mit seiner Gewohnheit erklärt wird, bei Sonnenschein ohne Kopfbedeckung umherzuwandeln, mit dem braunen Teint des Protagonisten im Lancelotzyklus in Verbindung zu bringen und hieraus ein typologisches Verhältnis zu erschließen. 152

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Vita beate virginis Marie et salvatoris rhythmica, hrsg. von Adolf Vögtlin, Tübingen 1888. Schweizer Wernher, Marienleben, hrsg. von Max Päpke, Arthur Hübner, Zürich 2 1967, V. 5767—5800: »Sin hut was vinen lylien glich, / Nüvallem schnewe und milch: / Nut wais ich das wisser si / Und uns mit varwe wone bi / Als man wol sieht du sunder drü; / Und was doch schoener denne su / Und was wissi geliehen mag. / Dar uff ain klainü roeti lag / Von der sunnen schin gesprait / Wa er blos was an klait: / Also macht in der sunnen schin / An bloesi dennocht schoener sin, / Wan schoenes rot uf wis gesprat / M e desterschoener varwe hat, / Als sam ain fines waissen körn / Das allen bresten hat verlorn. / Was im des ieman geliehen mag, / Dennocht er grosser schoeni pflag: / Injugent was er lylien wis, / Ain man er was inbruner wis. / Du bnini im von der sunnen kam, / Wan er vil wandlot dar an / Mit blossem houpte unverdacht. / Da von du sunne in brunne macht / Und roetelocht inwissi klar, / Froelich und wunneklich gar; / Als ain veltbluom der ie die nam, / Von allem laide wol schaiden kann / Und in mit sechen macht fro, / Also was er mit schoeni do. / Was man von im alles sait / Von aller schoeni gelichait, / So seit man och er wer alsam / Schoen glich als Adam.« Kristine K. Sneeringer, »Lancelots Skin: Α Foundation for Typological Interpretation«, Neophilologus 80, 3 (1996), 4 2 5 - 4 3 3 .

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4. H a u t als Spiegel von E m o t i o n e n Bekanntlich entwickelt sich seit d e m 12. Jahrhundert i m Abendland ein vehementes Interesse an Psychologie, das zur Adaptierung verschiedener antiker Seelenlehren fuhrt, der platonischen von den drei Seelenteilen (epithymetikon, t h y m o eides,logistikon),der aristotelischen von den drei Seelenformen (anima vegetativa, a. sensitiva, a. rationalis), der augustinischen von den drei Seelenfakultäten ( m e m o ria, intelligentia, voluntas) u n d der galenischen von den drei Hirnventrikeln (cellula phantastica, c. logistica, c. memorialis). 1 5 3 N i c h t zuletzt durch so unterschiedliche Strömungen wie den Minnesang u n d die Mystik, denen beiden eine Tendenz zur Introspektion u n d Internalisierung innewohnt, bildet sich ein neues Bewusstsein von der Bedeutung psychischer Vorgänge. D i e n t die H a u t in der Physiognomik als Indikator für bestimmte individuelle Charaktere oder ethnische Gemeinschaften u n d fungiert sie in ihrer unterschiedlichen Farbnuancierung als physisches S y m p t o m im R a h m e n einer humoralpathologisch fundierten, aber auch psychologierelevanten Temperamentenlehre, so fällt Hautveränderungen und -Verfärbungen in den höfischen R o m a n e n häufig auch die Aufgabe zu, seelische R e g u n g e n u n d Affekte abzubilden. 1 5 4 D i e höfischen Dichter greifen, bei d e m Blick auf die H a u t descriptio superficialis u n d descriptio intrinseca verknüpfend, in situativen Personenbeschreibungen zur psychologischen Veranschaulic h u n g u n d Vertiefung gern auf dieses semiotische Potential zurück, wie an einigen Passagen aus d e m Erec Hartmanns von Aue 1 5 5 exemplifiziert werden soll. So wird Erec ζ. B. schamrot wegen des männlichen Ehrverlustes, 1 5 6 den i h m der Z w e r g durch den unritterlichen Peitschenhieb unter den Augen der Königin zufügt, vor allem auch deswegen, weil er mangels R ü s t u n g diese Schmach nicht vergelten kann: »schamvar wart er under ougen.« (V. 112) N a c h d e m schon O v i d schamhaftes Erröten bei einer Jungfrau als liebreizend bewertet, 1 5 7 wird von H a r t m a n n ein Farbwechsel Enites bei ihrer E i n f ü h r u n g in die Gesellschaft am Artushof

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Vgl. die Arbeit v o n E . R u t h Harvey, The Inward Wits. Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance, L o n d o n 1975.

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Zu dem gegenwärtigen Forschungsinteresse an seelischen Prozessen vgl. den Sammelband von Claudia Benthien u.a. (Hrsg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln 2000. Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Manfred Günter Scholz, übers, von Susanne Held, Frankfurt a.M. 2004. Zum Schamgefühl im Mittelalter vgl. David Nicholas Yeandle, »The Concept of Shame in Wolfram's Parzival«, Euphorion 88 (1994), 302-338; Burkhardt Krause, »Scham und Selbstverhältnis in mittelalterlicher Literatur«, in: Martin Kintzinger u.a. (Hrsg.), Das

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Andere Wahrnehmen. Fs. für August Nitschke, K ö l n 1991, 1 9 1 - 2 1 2 . 157

Ovid, Amores, hrsg. und übers, von Michael von Albrecht, Stuttgart 1997, 2,5,34-37:

Haut. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur

des hohen Mittelalters

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beschrieben: Vor der T ü r z u m Saal, wo die erlauchte Versammlung auf sie wartet, schwindet auf einmal die Rosenröte aus ihrem lilienweißen Gesicht, und sie wird aus Verlegenheit abwechselnd weiß und rot; als die Debütantin jedoch den R a u m betritt, gewinnt sie ihre alte Hautfarbe zurück und ist schöner denn je. Der Erzähler lobt nachdrücklich das durch den Farbwechsel dokumentierte jungmädchenhafte Schamgefühl von Erecs junger Braut: »ei, wie wol ez ir gezam, / do ir varwe wandel nam! / von grozer schäme daz geschah.« (V. 1730—1732) In beiden Fällen folgt die Codierung der Emotionen nicht nur situativen Vorgaben, sondern auch geschlechtsspezifischen Rollenbildern. Mit der Schamröte kontrastiert das Erbleichen vor Schmerz oder aus Angst. Als die gefangenen Witwen in der Joie de la ofrf-Episode an ihr schmerzvolles Schicksal erinnert werden, prägt sich ihr >herzeleid< sogleich in ihren Gesichtern aus: »daz bluot ir hiufelin entweich: / do wurden nase und wengel bleich« (V. 8318f.), und als Enite bewusst wird, wie riskant das Abenteuer für Erec ist und welche Gefahren diesem drohen, verliert sie alle Lebensfreude, die Farbe entweicht aus ihrem Gesicht, und sie fällt, kraftos und totenbleich, in Ohnmacht: »diu kraft ir zuo der varwe entweich, / und wart totvar und bleich / und viel vor leide in unmaht.« (V. 8824—8826) Wie schon an diesen wenigen Exempla zu ersehen, 158 erweisen sich die psychologisierenden Hautbeschreibungen der höfischen Dichter einerseits als höchst subtil, da sie Nuancen von R e g u n g e n und Emotionen dem Leser nahebringen, andererseits als überaus komplex, insofern sie am Schnittpunkt zweier Tendenzen der höfischen Kultur, einerseits der zur Internalisierung und andererseits der zur Visualisierung, 159 Relationen zwischen Körper und Seele, Außen und Innen, Stand und Individuum spiegeln, die sich, wie bei Enites Debüt in der höfischen Gesellschaft zu beobachten, auch im Spannungsraum von Öffentlichkeit, Teilöffentlichkeit und Privatheit abspielen. 5. Der ästhetische Diskurs Uberblickt man die Stellungnahmen zur Ästhetik vom Ende der Antike bis zum Ausgang des Mittelalters, so ergeben sich zwei basale Komponenten in der Bestimmung des Schönen, eine, die sich auf die harmonische Gestalt und eine andere, die

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»conscia p u r p u r e u s venit in ora p u d o r . / quale c o l o r a t u m T i t h o n i c o n i u g e c a e l u m / subrubet, aut sponso visa puella novo; / quale rosae fulgent inter sua lilia mixtae.« Weitere Belege bei D i e t m a r Peil, Die Gebärde bei Chretien, Hartmann und Wolfram, M ü n c h e n 1975, 323. Z u m m ö g l i c h e n Verständnis von H a u t als Grenzdiskurs vgl. Claudia B e n t h i e n , Irmela M a r e i K r ü g e r - F ü r h o f F (Hrsg.), Uber Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart 1999, Vorwort, 7 - 1 6 .

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sich auf die Farbgebung stützt. Setzt man die Körperbeschreibungen der Dichter zu den Texten der mittelalterlichen Ästhetik 160 in Beziehung, so kristallisiert sich folgender Befund heraus: Die poetischen Deskriptionen unverletzter, intakter und harmonisch gebauter Körper, die jeweils einen Teil der Schönheitsekphrasen ausmachen, entsprechen den ästhetischen Idealen von Unversehrtheit und rechter Proportion, während die Deskriptionen der Haut, die ebenfalls ein relevanter Bestandteil der frauenorientierten Personenbeschreibung sind, dem Postulat nach strahlender Farbe Rechnung tragen. Schon in der Patristik betrachtet Basilius von Caesarea leibliche Schönheit als Produkt »der gegenseitigen Proportion der Teile und der an ihnen erscheinenden gesunden Farbe«161, und nach Augustinus basiert »jede körperliche Schönheit auf der Proportion der Teile und zugleich einer angenehmen Hautfarbe.« 162 Von Augustin beeinflusst ist auch die Bestimmung des Schönen, die Matthaeus von Vendome, allerdings mit dem Zusatz eines elegantia-Ideals, in seiner ars versißcatoria vornimmt: »forma elegans et idonea membrorum coaptatio cum suavitate coloris.«163 Selbst wenn das traditionelle korporalistische Schönheitsideal nach dem Konzept Bernhards und der Zisterzienser entkörperlicht, internalisiert und ethisiert werden soll, bleibt es, suppliert um elegante Aufmachung und Anmut der Bewegungen, mit den zentralen Qualitäten somatischer Vollkommenheit und attraktiver Hautfarbe gleichwohl als solches präsent, wie man den Ausführungen des Thomas von Citeaux im 7. Buch seines Hoheliedkommentars 164 entnehmen kann: »Triplex est pulchritudo: prima est quando est sine macula, secunda in qua est quaedam gustus et ornatus elegantia, tertia quaedam membrorum et coloris in se trahens intuentium affectus gratia.« (309 C/D) Dass gerade die Lichtästhetik die mittelalterliche Vorstellung von schöner Haut prägt, manifestiert sich in den epischen Texten in der Figur des Heiligen, der wie

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Vgl. hierzu die Studien von Wilhelm Perpeet, Ästhetik im Mittelalter, Freiburg i. Br. 1977, und von Rosario Assunto, Die Theorie des Schönen im Mittelalter, übers, von Christa Baumgarth, Köln 2 1987 (Nachdr. 1996), sowie den Band von Umberto Eco (Hrsg.), Die Geschichte der Schönheit, übers, von Friederike Hausmann, Martin Pfeiffer, München 2004. Basilius von Caesarea, Homiliae in Hexaemeron (Homelies sur l'hexaemeron), hrsg. und übers, von Stanislas Giet, Paris 2 1968, II, 7; dt. Ubers, nach Wladysiaw Tatarkiewicz, Geschichte der Ästhetik, übers, von Alfred Loepfe, Bd. 2: Die Ästhetik des Mittelalters, Basel 1980, 32. Augustinus, De civitate Dei, hrsg. von Bernardus Dombart, Alphonssus Kalb, Turnhout 1955 (CCSL 47,48); XXII, 19; Übers, nach Tatarkiewicz (wie Anm. 161), 75. Matthaeus von Vendome (wie Anm. 129), 1, 68; 134. Thomas von Citeaux, Commentaria in Cantica canticorum, PL 206; vgl.Tatarkiewicz (wie Anm. 161), 217.

Haut. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters

der Protagonist im Annoliedib5

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eine gnadenhafte Glanzschönheit besitzt (33,11-16;

34,10-14), oder in der Figur des Herrschers, wie er ζ. B. im Rolandslied166 greifbar wird, in d e m Karl den Großen nicht nur die Aureole des Heiligen, sondern auch der splendor imperii umgibt: »sin antlizze was zierlich. / mit volleclichen ougen / ne m o c h t e n si in nicht gescouwen. / diu liuchte gab in den widerslac / sam der sunne u m b e mitten tac« (V. 692—696), während der Verräter Geneion den Typus luziferischer Schönheit repräsentiert: »sin varwe, diu bran / sam die Hechten viures flammen.« (V. 1659f.) Die dualen N o r m e n , die leibliche Schönheit bestimmen, nämlich H a r m o n i e der Glieder und farblicher Glanz, 1 6 7 gelten unter umgekehrten Vorzeichen auch für Hässlichkeit, die sich in der Disproportion der Körperteile und in schwarzer, glanzloser Haut manifestiert. Die Koexistenz hässlicher u n d schöner Figuren sowie das Konzept hässlicher Figuren, verknüpft mit innerer Schönheit, erklärt sich in den höfischen R o m a n e n nicht zuletzt aus der augustinischen Kontrastästhetik, die, das Hässliche als Teil eines übergreifenden Schönen legitimierend, noch in Aussagen Bernhards von Clairvaux über Gesichts- u n d Schmuckfarben nachhallt: »Non o m n e denique quod n i g r u m est, continuo et d e f o r m e est. Nigredo, verbi causa, in pupilla n o n dedecet; et nigri quidam lapilli in ornamentis placent, et nigri capilli candidis vultibus etiam decorem augent et gratiam. Sic tibi q u o q u e facile advertere est in rebus innumeris.« 1 6 8 Die hochmittelalterliche SchönheitsaufFassung, die sich in den Antiken- u n d Artusromanen niederschlägt, m ö g e n zwei programmatische Äußerungen des T h o mas v o n A q u i n aus seiner Summa theologica dokumentieren.Während ersieh in dem ersten Passus 169 auf keine Autorität beruft: »Nam ad pulchritudinem tria requiruntur. P r i m o quidem, integritas sive perfectio: quae enim diminuta sunt, hoc ipso turpia sunt. Et debita proportio sive consonantia. Et iterum claritas: unde quae habent colorem nitidum, pulchra esse dicuntur« (I, 39,8), knüpft er mit der zweiten Passage 170 expressis verbis an eine Aussage im 4. Kapitel der Schrift De divinis nominibus des Ps.-Dionysius Areopagita an: »sicut aeeipi potest ex verbis Dionysii [...] ad ratio-

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Das Annolied, hrsg. und übers, von Eberhard Nellmann, Stuttgart 5 1999. Der Pfaffe Konrad (wie Anm. 22). Z u m Zusammenhang von Glanzschönheit und mittelalterlicher Sehtheorie sowie zu positiven Aspekten dunkler Farbe in der Schönheitsbeschreibung vgl. auch Klaus Ostheeren, »Toposforschung und Bedeutungslehre. Die Glanzvorstellung im Schönheitskatalog und die mittelenglischen Farbadjektive blak und broun«, Anglia 89 (1971), 1-47. Bernhard von Clairvaux (wie Anm. 61), 376. Thomas von Aquin, Summa theologiae, hrsg. von Petrus Caramellus, Pars Prima et Prima Secundae, Turin 1952. Ebd., Pars IP II a e , Turin 1962.

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nem pulchri, sive decori, concurrit et claritas et debita proportio: dicit enim quod Deus dicitur pulcher sicut uttiversorum consonatiae et claritatis causa. Unde pulchritudo corporis in hoc consistit quod homo habeat membra corporis bene proportionata, cum quadam debiti coloris claritate.« (II-II, 145, 2) Sofern schließlich in den Ekphrasen der höfischen Romane Gott als Maler erscheint, der auf seiner >Palette< die Hautfarben mischt, ist an einen Grundgedanken mittelalterlicher Ästhetik zu erinnern, nämlich die theozentrische Schönheitsauffassung, nach der alles irdische Schöne letztlich seinen Grund in der Transzendenz hat und von Gott stammt, der als art if ex171 schon bei der Schöpfung planvoll nicht nur opera distinctionis, sondern auch opera ornatus schafft.172 Eine ausschließlich auf dieTopik der poetischen Hautbeschreibungen fokussierte Betrachtungsweise, welche die Grundlagen der mittelalterlichen Ästhetik nicht berücksichtigt, würde daher zu kurz greifen.

Schluss: H a u t als Schrift Versucht man unter zeichentheoretischen Aspekten die verschiedenen Qualitäten der Haut in der Literatur noch einmal festzumachen, so bietet es sich an, von Homer auszugehen, fungiert doch etwa in der Odyssee173 die Narbe des Odysseus semiotisch als Gnorisma, mit dessen Hilfe der Heimkehrer von der Amme Eurykleia erkannt wird (23,73—75f.),174 während sich später, etwa bei Hyginus, die »Achillesferse« im Kontext mit unverwundbarer Haut als magisch-mythischer Signifikant begreifen lässt. In Verbindung mit physischen oder psychischen Krankheiten ordnen sich die Proprietäten der Haut noch einem anderen Zeichensystem zu, nämlich der auf antiken Grundlagen aufbauenden medizinischen Symptomatologie, die im Mittelalter über die Vermittlungsprozesse der Schulen von Salerno und Toledo auch Spuren in der höfischen Erzählliteratur hinterlässt. Seit den Anfängen des Christentums firmiert die Haut als res significans im Rahmen der mehrstufigen Allegorese, offenbart sich gelegentlich aber auch in legendarischen Kontexten als Zeichen im Sinne von miraculum. Die Ambivalenz der

171

Vgl. Ernst R o b e r t Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 8 1973, 527-529.

172

Vgl. Vf., Der Liber Evangeliorum Otjrids von Weißenburg. Literarästhetik und Verstechnik im

173 174

Lichte der Tradition, Köln 1975, 260f. Homer, Odyssee, hrsg. und übers, von Anton Weiher, München 12 2003. Z u der Anagnorisis-Szene vgl. Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 4 1967, Kap. 1: »Die Narbe des Odysseus«. Zur männlich positiv und weiblich negativ konnotierten Semiotik der Narbe vgl. Dagmar Burkhart, »Narbe, Archäologie eines literarischen Motivs«, arcadia 40 (2005), 30—60, hier: 39f.; zum Narbenzeichen vgl. Hartmann, Iwein (wie Anm. 31), V. 3378ff.

Haut. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters

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Signifikanten eröffnet, wie gerade unterschiedliche Bewertungen der schwarzen Hautfarbe dokumentieren, Deutungsperspektiven nicht nur in bonam partem, sondern auch in malam partem. Instruktiv ist die von Augustinus in De doctrina christiana i 7 5 entwickelte Zeichentheorie (II, 2ff.), die sich auch auf die mittelalterlichen Schönheitsbeschreibungen a n w e n d e n lässt, da hier der Aspekt der natürlichen Schönheit (signa naturalia) mit der Vorstellung künstlicher Schönheit, etwa mittels Schminktechnik (signa data), kontrastiert wird u n d reichlich signa translata, insbesondere H a u t m e t a p h e r n antiker Provenienz wie Schnee, Lilie, Milch, R o s e etc., eingesetzt werden. 1 7 6 W e n n das mittelalterliche C a r m e n figuratum Darstellungen mit beschrifteten K ö r p e r n präsentiert, wie die Figura I in den Kreuzgedichten des Hrabanus M a u rus demonstriert, 1 7 7 mutiert Haut semiotisch zur Schrift, wird figuriert als Projektionsfläche einer religiösen Botschaft: N u r teilweise mit einem Perizonium bedeckt, erscheint die Körperoberfläche des Christus mit ausgebreiteten H ä n d e n als von Buchstaben übersät, die nicht nur im Nexus mit d e m linearen Text, sondern gerade auch mit d e m verschlüsselten Intext Sinnpotential generieren. 1 7 8 D a der mittelalterliche K o d e x aus Haut, genauer: aus Tierhaut besteht, ergibt sich einerseits ein Z u s a m m e n h a n g mit der Christologie, andererseits auch eine Verbindungslinie zur Mariologie, insofern die Gottesmutter in verschiedenen m i t telalterlichen Texten allegorisch als beschriebene Handschrift gedeutet wird. 1 7 9 Beschriftete Haut begegnet darüber hinaus vor allem in der mystischen Literatur,

175

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178

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Augustinus, De doctrina christiana, hrsg. von Guilelmus M . Green, W i e n 1963 (CSEL 80). Z u r augustinischen Z e i c h e n t h e o r i e vgl. Nikolaus Staubach, »Signa utilia — signa inutilia. Z u r T h e o r i e gesellschaftlicher u n d religiöser Symbolik bei Augustinus u n d im Mittelalter«, Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), 19—49; vgl. auch Joachim B u m k e , Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im »Parzival« Wolframs von Eschenbach, T ü b i n g e n 2001, 56—58. Vgl. Sextus Propertius (wie A n m . 85), 2,3, 10—12: »lilia n o n d o m i n a sint magis alba mea; / ut Maeotica nix minio si certet Hibero, / u t q u e rosae p u r o lacte natant folia.«; vgl. auch die »lacteolae [...] puellae« bei Catull, Sämtliche Gedichte, hrsg. u n d übers, von Michael von Albrecht, Stuttgart 2 20 03 , 55,17. Z u r Vermittlung der Bildlichkeit an das Mittelalter vgl. zahlreiche Belege in den Carmina burana, Bd. I: Text, 2. Die Liebeslieder, hrsg. von O t t o Schumann, Heidelberg 2 1971, ζ. B. 78, 2 , l f . : »Prudens est m u l t u m q u e formosa, / pulchrior lilio vel rosa.« Vgl. auch Hildegard Elisabeth Keller, »Kolophon i m H e r z e n . Von b e s c h r i f t e t e n M ö n chen an den R ä n d e r n der Paläographie«, Das Mittelalter 7, 2 (2002), 157-182. Vgl. Vf., Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters, Köln 1991, 2 7 7 - 2 8 0 . Z u Maria als K o d e x u n d Papyrusrolle vgl. Klaus Schreiner, »...wie Maria geleicht einem puch. Beiträge zur B u c h m e t a p h o r i k des h o h e n u n d späten Mittelalters«, Börsenblatt für den Buchhandel 23 (1970), 6 5 1 - 6 6 4 .

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u n d zwar in einer Weise, die sich als eine Spielart von T ä t o w i e r u n g interpretieren lässt, welche auf sakrale Sprachzeichen zurückgreift, hat doch ζ. B. der Mystiker Heinrich Seuse, offenbar ergriffen vom Gedanken der compassio, nach eigener Aussage in seine Brust Schriftzüge des nomen sacrum IHS geritzt. 1 8 0 M i t der ästhetisierenden u n d höfisierenden Betrachtung der H a u t des Christusknaben in der Bibelepik kontrastiert die als memoriale Textur imaginierte >Narbenschrift< des Schmerzensmannes im K o n n e x mit d e m Blut- u n d W u n d e n k u l t der spätmittelalterlichen Leidenstheologie. 1 8 1 D i e Blutspuren auf der H a u t werden sinnbildlich als R u b r i k a t e einer Pergamentschrift verstanden 1 8 2 oder anders ausgedrückt: Die Stigmata Christi, bildlich auch überliefert in der Ikonographie der arma christi, erweisen sich, die mediale Funktion von H a u t aktivierend, als ein Text, der abbreviatorisch, kryptogrammartig u n d fast magisch die Geschichte der Passion erzählt. Die Vorstellung von H a u t als Schrift ist im Mittelalter nicht auf religiöse Texte beschränkt, sondern k o m m t reflexhaft auch i m Parzival W o l f r a m s v o n Eschenbach z u m Ausdruck, wird doch hier die gescheckte H a u t des Feirefiz mit einem Pergament verglichen, das mit schwarzen Lettern auf w e i ß e m G r u n d beschrieben ist: »als ein geschriben permint, / swarz u n d blanc her unde da« (747,26f.), w o m i t der Autor an die Anschauung v o m Buch der Natur 1 8 3 anknüpft, dessen Teil auch der lesbare Mensch ist. Kann man auch Feirefiz' Hautschrift als bloßes E r b m e r k mal lesen, so lässt sich die extrovertierte Kodierung vielleicht doch p r o g r a m m a tischer als Konzept einer Globalisierung 1 8 4 interpretieren: Botschaft f ü r eine Verb i n d u n g von O r i e n t u n d Okzident im R a h m e n einer weltweiten Völkerfamilie und, n i m m t man Wolframs Willehalm hinzu, fundiert durch den Gedanken einer universalen Gotteskindschaft.

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184

Vgl. Urban Küsters, »Der lebendige Buchstabe. Christliche Traditionen der Körperschrift im Mittelalter«, in: Horst Wenzel u.a. (Hrsg.), Audiovisualität vor und nach Gutenberg, Wien 2001, 107-118; vgl. auch Alois Hahn, »Handschrift und Tätowierung«, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Schrift, München 1993, 201-217. Vgl. Urban Küsters, »Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters«, in: Jan-Dirk Müller, Horst Wenzel (Hrsg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent, Stuttgart 1999, 81-109, hier: 83-85. Vf., »Farbe und Schrift im Mittelalter - Unter Berücksichtigung antiker Grundlagen und neuzeitlicher Rezeptionsformen«, in: Testo e immagine nell' alto medioevo, Spoleto 1994 (Settimane di studio della fondazione centro italiano di studi sull'alto medioevo XLI), Τ. 1, 343- 415, hier: 376-381. Vgl. die neuere Arbeit von Lutz Danneberg, Die Anatomie des Text-Körpers und NaturKörpers. Das Lesen im >liber naturalis< und >supernaturalisKleidung< zu betrachten und gegebenenfalls mit moralischreligiösen Wertzuweisungen in Zusammenhang zu bringen« 18 sei. Die mit sexueller Lust19 konnotierte Nacktheit, könnte man ergänzen, ist in einer solchen, implizit augustinischen Perspektive ein Zustand des Mangels und der geistigen Verwirrung, unvereinbar mit dem domestizierten höfischen Körper, den Wolfgang Beutin 20 auch als den heroischen Körper von anderen Gattungen absetzt. Nacktheit als Ausdruck des Wahnsinns und des Ausschlusses aus der gesellschaftlichen Ordnung erscheint als Phantasma der »deserialisation«21, wie es vor allem die Werwolf-Varianten nahelegen. 22 Der nackte Mensch ist der zum Tier gewordene Mensch. Der implizit gattungsspezifische Ansatz Beutins legt darüber hinaus nahe, auch das Problem des mittelalterlichen Gattungssystems einzubeziehen, wenn es darum geht, das von Umberto Eco als »Lendendenken« 23 bezeichnete, zivilisationsge-

15

16

17 18

19

Hans Peter Duerr, Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Bd. 1: Nacktheit und Scham, Frankfurt a.M. 1994 [1988], bes. 318; vgl. auch das Kap. »Das Mittelalter und die Entblößung des Leibes«, 283-291. Vgl. Robert Jütte, »Der anstößige Körper. Anmerkungen zu einer Semiotik der Nacktheit«, in: Schreiner, Schnitzler (wie Anm. 8), 103—130. Regnier-Bohler (wie Anm. 5), 53. Klaus Schreiner/Norbert Schnitzler, »Historisierung des Körpers.Vorbemerkungen zur Thematik«, in: Schreiner, Schnitzler (wie Anm. 8), 5—22, hier: 14. Vgl. J o h n W. Baldwin, The Language of Sex. Five Voices from Northern France around

1200,

Chicago, London 1994, Iff.: »Pierre the Chanter and the Augustinian Tradition«. 20

W o l f g a n g B e u t i n , Sexualität und Obszönität. Eine literaturpsychologische Studie über epische Dichtungen des Mittelalters und der Renaissance, W i i r z b u r g 1990, bes. 64ff.

21

Regnier-Bohler (wie Anm. 5), 58. Vgl. Franfois Suard, »Bisclavret et les contes du loup-garon: essai d'interpretation«, in:

22

Melanges de langue et litterature fran(aises du MoyenAge

et de la Renaissance, offerts ä Char-

les Foulon, Rennes 1980, 267-276. 23

U m b e r t o Eco, Über Gott und die Welt. Essays und Glossen, übers, v o n B u r k h a r t K r o e -

ber, München 1985, 220-224.

206

Friedrich Wolfzettel

schichtliche Problem des voyeuristischen Blicks genauer zu verorten. Letzterer ist ja offensichtlich als Kehrseite des Sehtabus und der Abwertung des Körpers interpretierbar und durchzieht im Übrigen die gesamte abendländische Kultur. 24 Wie Aime Petit 25 in einem quantitativen Vergleich des Begriffsfeldes der sexuell konnotierten Nacktheit bei Chretien und im antikisierenden R o m a n zeigen konnte, geht nämlich der Artusroman in der Unterdrückung erotischer Nacktheit noch weiter als letzterer; mythische Szenen wie die der Wassernixen oder der Blumenmädchen im Alexanderroman (V. 2904ff.,V. 3318) wären hier ebenso undenkbar wie die Pygmalionszene von Jean de Meun. Umgekehrt bildet, wie wir noch sehen werden, kaum zufällig gerade der byzantinische C7ige.s-R.oman, der weder strukturell noch thematisch als echter Artusroman gelten kann, eine bezeichnende Ausnahme, auf die wir zurückkommen werden. Ahnliches gilt für den nur lose arthurisierten Th'siara-Roman, dessen zentrale Episode der Entdeckung der Liebenden im Wald geradezu als emblematischer Ausdruck der nur halb gelungenen Verdrängung interpretiert werden kann. Das nackte Schwert zwischen den fast nackten Leibern vonTristran undYseut in der Beroulschen Version verweist zugleich auf das Tabu der Nacktheit und auf frühere, nicht eigens beschriebene Szenen ihrer vollkommenen Realisierung. Über die Entdeckung der Nacktheit in der Dornröschen-Episode im späten Roman de Perceforest wird noch zu sprechen sein. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang der Roman de l'Escoufle26 von Jean Renart, der aufgrund seiner aufdringlichen Tristan-Reminiszenzen beinahe als parodistische reecriture bzw. als realistische Replik auf die arthurische Tradition verstanden werden könnte. Der R o m a n geht in der nonchalanten Evokation erotischer Nacktheit bezeichnenderweise besonders weit und schreckt dabei auch nicht vor Zweideutigkeiten zurück. Eben noch hat der junge Held des nach dem Muster des sog. idyllischen Romans 2 7 konstruierten Werks jeden sinnlichen Kontakt mit der gleichaltrigen Aelis geleugnet: »Ainc voir ne send sa char nue / Α sa honte, n'a son damage« (V. 3028f.), da erinnert sich die Geliebte wenig später nach

24

25

26

27

Vgl. ζ. B. Claudia Öhlschläger, Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text, Freiburg i. Brsg. 1996 ( R o m b a c h Litterae 41). A i m e Petit, »Nu et nudite dans les romans antiques«, in: Le Nu et le Vetu au Moyen Age (XIF - ΧΙΙΓ siecles). Actes du 25e Colloque du CUERMA, 2-3-4 mars 2000, Aixen-Provence u.a. 2001 (Senefiance 47), 2 8 3 - 2 9 8 . Zitate nach der Ausgabe von Franklin Sweetser: Jean R e n a r t , L'Escoufle, roman d'aventure. N o u v . ed. d'apres le ms. 6565 de la Bibliotheque de Γ Arsenal, G e n e v e 1974 (Textes litteraires franfais 211). M y r r h a Lot-Borodine, Le roman idyllique au Moyen Age, Paris 1913, Nachdr. Geneve 1972, Kap. IV, 1 8 9 - 2 3 2 .

Der defiziente

arthurische

Körper: Nacktheit

als

Gattungs-Paradigma

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einer unruhigen Nacht an seine Berührungen: Nackt erhebt sie sich in ihrem Bett (»ele s'est nue / Levee en son lit en estant«,V. 3280f.) und ruft: Ahi! Guilliaumes, biax amis, Tantes fo'ies aves mis Vos beles mains, qui si sont blanches A cest bei ventre et a ces hanches Et taste m o n cors en tos sens! (V. 3283-3287)

Guillaumes Verhalten erinnert offensichtlich an die eingangs evozierte Pygmalionszene, die durch das Uberschreiten des lustvollen Blicks gekennzeichnet ist. Nicht zufällig trägt die Heldin die beiden fast magischen Objekte, R i n g undTasche, die selbst sexuelle Konnotationen tragen, auf der gemeinsamen Flucht mit dem Geliebten »a sa char nue« (V. 4477); deren Übergabe bildet die Voraussetzung für frei geschenkte Sexualität. Der »roman rose«28 kann mithin in bewusst ironischer Anspielung auf die höfische Tradition Dinge an- und aussprechen, die im Artusroman undenkbar wären. Die Nacktheit ist in diesem postarthurischen Realismus eine unmittelbare Funktion der diskordanten Poetik, auf die R o g e r Dragonetti 2 9 hingewiesen hat. Es scheint also, dass erotische Nacktheit auch als ein gattungsspezifisches Grenzphänomen anzusehen ist. Da, wo sie im arthurischen Kontext auftaucht, verweist sie auf die Ränder des Gattungssystems oder ist, wie in dem noch zu behandelnden Chevalier ä l'epee, kritisch parodistischen Zielen untergeordnet. In einer solchen Perspektive gattungsgeschichtlich »verordneten Verdrängung möchte man der Szene der verliebten demoisele im Chevalier de la Charrette30 eine emblematische Bedeutung zumessen. Die Romanfigur, die an die vor allem aus der späten Chanson de geste bekannte, topische Gestalt der aufdringlich Liebenden erinnert, wird hier von Lancelot abgewiesen und legt sich »tote nue« (V. 1263) ins eigene Bett, während sie auf dem Nachtlager des Helden »n'oste mie sa chemise« (V. 1203). In dieser Form trotzig solipsistischer Frustration dient die ausdrückliche N e n n u n g der Nacktheit als Signal der ironischen Marginalisierung und Abwertung einer im erotischen Kontext offenbar unzulässigen Grenzüberschreitung. In der großen mythischen Liebesszene zwischen Lancelot und Guenievre wird das

28

V g l . M i c h e l Z i n k , Roman

rose et roman rouge: le Roman

de la rose ou de Guillaume

de

Dole, Paris 1979. 29

R o g e r D r a g o n e t t i , Le mirage des sources. L'art du faux

dans le roman medieval, Paris 1 9 8 7 ,

59ff. 30

Zitate nach d e r Ausgabe von M a r i o R o q u e s : Les romans de Chretien de Troyes. E d . d'apres la copie de G u i o t (BN, fr. 794), Bd. 3: Le Chevalier de la Charrete, Paris 1965 ( C F M A

86), V. 1263.

208

Friedrich Wolfzettel

Motiv dagegen ebenso ausgespart bleiben wie später im Lancelot en prose, wo schon die nackte Hand der Königin, »la soe main et tote nue« 31 der erotischen Spannung Genüge tut. Offensichtlich stört unverstellte Nacktheit im arthurischen Kontext. In ihrem Beitrag über Körperlichkeit in der höfischen Literatur hat Silke-Katharina Philipowski 32 von dem »diaphanen« oder »gläsernen« arthurischen Körper gesprochen, der immer schon in den kollektiven Körper eingebunden sei und dergestalt dem Ideal höfischer Offenheit und Berechenbarkeit nicht Abbruch tun dürfte. Der gläserne Körper aber ist zugleich ein idealer Körper, dessen Körperlichkeit weitgehend negiert wird. Er ist in paradoxerWeise ein höfisch und ritterlich überformter, gleichsam unsichtbar gemachter Körper, dessen Nacktheit nur als problematisches Grenzphänomen begriffen werden kann. Das Bestreben des arthurischen Dichters besteht darin, den Körper als O b e r fläche zu begreifen 33 , Nacktheit als Ausdruck des Mangels und der Defizienz zu schmücken, zu tarnen und zu verhüllen. Der geharnischte Ritter ist ohnehin die Negation des Körpers. Ausdruck höchster erotischer Gewagtheit ist, wie R o m a i n e Wolf-Bonvin 3 4 gezeigt hat, das durchscheinende H e m d der Frau, »un vetement sans l'etre«, das nie den Blick auf Körperlichkeit als solche freigibt, sich gleichsam als >Schirmecran< hat Jean Rousset bei M a d a m e de Lafayette u n d Paul C l a u del untersucht: Forme et signification. Essai sur les structures litteraires de Corneille ä Claudel, Paris 1969, 17ff. u n d 171ff.

Der defiziente arthurische Körper: Nacktheit

als

Gattungs-Paradigma

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scheint, wie schon angedeutet, ebenfalls an den R ä n d e r n des arthurischen Gattungssystems angesiedelt ist. Chretiens Roman de Cliges, von der Kritik seit jeher als experimenteller R o m a n 3 6 eingestuft, benützt den arthurischen R a h m e n nur, u m den »translatio«-Gedanken im Hinblick auf eine erträumte Versöhnung abendländischer »chevalerie« mit orientalischem, aus der Antike ererbtem Wissen neu zu instrumentalisieren. Gleichzeitig impliziert die arthurische Vorgeschichte nach Catherine Gaullier-Bougassas auch die Regeneration des Ostens durch den Westen u n d ein Programm der kulturellen Appropriation. 3 7 Michelle A. Freeman 3 8 ist der S y m b o lik des programatischen Prologs nachgegangen, in d e m der Autor die E r n e u e r u n g der »parole remese« 39 und die erneute Entfachung der bereits erloschenen »vive brese« (V 44) verkündet. Die damit verbundene Dialektik von Licht u n d D u n k e l heit, Sonne u n d Nacht, durchzieht den ganzen R o m a n 4 0 , aber erst in dem nichtarthurischen, byzantinisch kolorierten zweiten Teil erscheint dann die Nacktheit der Fenice - ähnlich wie in der Pygmalion-Episode — als mise en abyme einer Poetik des Aufdeckens u n d der Wiederentdeckung, die im klassisch arthurischen R o m a n offensichtlich nicht zu leisten wäre. Karl Uitti hat den R o m a n daher zu R e c h t nicht der arthurischen, sondern der romance-Tradition

zugeordnet — zusammen mit

Floire et Blancheflor, Amadas et Idoine und anderen — u n d die paradoxe »profundity« 41 gerade in der fehlenden Tiefe u n d einer virtuos ausgespielten Literarität gesehen. 4 2 Die Umstände der Handlung, die Wiederauferstehung der — nach dem Phoenix benannten — Heldin Fenice nach ihrem freiwilligen Scheintod u n d die Verwandlung des scheinbar toten Körpers in einen neuen und strahlenden erotischen K ö r per, legen dabei gewagte Analogien zu dem zentralen christlichen C r e d o nahe 4 3

36

Pierre Nykrog, Chretien de Troyes. Romancier discutable, Geneve 1996 (Publications romanes et franfaises CCXIII), 81-109; Jean Frappier, Chretien de Troyes, Paris 1968, 104.

37

C a t h e r i n e Gaullier-Bougassas, La Tentation de l'Orient dans le roman medieval, Paris 2 0 0 3

38

Michelle A. F r e e m a n , The Poetics of >translatio studii< and >conjointurearthurisch< sind, die Gattungstradition jedoch parodistisch oder ironisch relativieren: den halb burlesken Gauvain-Roman Le Chevalier α l'epee und die Dornröschen-Episode im Roman

46

K a t h r y n Gravdal, Ravishing Maidens. Writing Rape in Medieval French Literature and Law, Philadelphia 1991, 58.

212

Friedrich Wolfzettel

de Perceforest. Beide Beispiele bestätigen die These, dass erotische Nacktheit nur an den Rändern des arthurischen Gattungssystems zu finden ist. Der Kurzroman Le Chevalier ä l'epee, der mit dem ironischen Tadel an Chretien, Gauvain vergessen zu haben, einsetzt, beschreibt ein missglücktes Liebes- und Eheabenteuer Gauvains unter deutlich misogynen Vorzeichen, die von vornherein eine positive Wertung der Nacktheit ausschließen. 47 Freilich scheint die Forschung mit dieser wenig anfangen zu können. Keith Busby vermerkt lediglich »a few licentious overtones« 48 und legt ein »fabliau-like innuendo« 49 im zweiten Teil der Erzählung nahe. Der Kurzroman als solcher aber nähert sich, anders als die Herausgeber Johnston und Owen 5 0 betonen, einem höfischen Fabliau, mit dem der Verfasser erheblich von dem Vorbild Chretiens abweicht. Die Handlung wird in gewisserWeise zum grotesken >TraumNacktheitsprobe< verstehen. N o c h in der ironischen Infragestellung aber bewährt sich das Ethos der Gattung; zwar bewahrt Gauvain gegenüber der aufdringlich verliebten demoisele seine — keineswegs über alle Versuchungen erhabene —Tugend nur gegen seinen Willen. Der Ausgang der eher grotesken Episode unter Zurücklassung des Liebesobjekts scheint aber doch den Sieg der Gattung über den Versuch der parodistischen Infragestellung 52 zu dokumentieren.

51

52

Z u diesem M o t i v vgl. Claude Roussel, »Aspects du pere incestueux dans la litterature medievale«, in: Danielle Buschinger, Andre Crepin (Hrsg.), Amour, mariage et transgressions au Moyen Age, G ö p p i n g e n 1984, 47—62. Es v e r w u n d e r t nicht, dass auch in d e m parodistischen R o m a n Hunbaut (13. Jh.) — M a r i e - L u c e C h e n e r i e spricht in der Anthologie La Legende arthurienne, hrsg. von D a n i elle Regnier-Bohler, Paris 1989 (coli. B o u q u i n s R o b e r t Laffont), 535f., von »tout un courant heroi'-comique dans le roman arthurien en vers du X I I F siecle« — gleich zweimal von einer nackten Bettgespielin die R e d e ist. N i c h t parodistisch, doch ebenfalls

214

Friedrich Wolfzettel Die virtuell inzestuöse K o m p o n e n t e der hier zur Schau gestellten Nacktheit

kennzeichnet auch die erste schriftlich überlieferte Variante des Dornröschenstoffs im Roman de Perceforest,53 Die Suche des jungen Troylus nach der verlorenen Geliebten Zellandine führt diesen in einen tiefen Wald und zu einem h o h e n Turm, in dem der Vater das in einen todesähnlichen Schlaf gefallene M ä d c h e n nackt aufgebahrt hat. Er hat sich damit z u m H ü t e r u n d H e r r n des Liebesobjekts gemacht, das er eifersüchtig bewacht. Troylus wird von d e m Wundervogel Zephyr (der aus d e m Märchen von Amor und Psyche stammt) in die Schlafkammer getragen u n d vereint sich, von Venus selbst dazu ermuntert, mit der schlafenden Geliebten. W i e d e r u m wird die nackte Geliebte z u m Schauobjekt, dessen Faszination durch die scheinbare Todesstarre n o c h erhöht wird. Elizabeth Bronfen 5 4 hat das Motiv des toten weiblichen Körpers in Kunst u n d Literatur des Abendlandes verfolgt. Die Szene i m Perceforest, die die genannte Tradition vorwegzunehmen scheint, fungiert dabei zugleich als Epiphanie und als Tabuverletzung: Troylus zieht die Vorhänge des Bettes zurück »et vey illecq gisant la personne du m o n d e qu'il aimoit le mieulx, toute nue, pourquoy le euer et les membres lui attenrirent, tellement qu'il fut constraint de soy seoir sur l'esponde du lit.« (S. 289) Vor der Liebesvereinigung steht das voyeuristische Staunen. Entscheidend ist jedoch, dass die mythologische Einbettung des Märchenstoffs im R a h m e n des nur noch vage arthurischen Geschichtsromans für die Ironisierung des U n e r h ö r t e n sorgt. Die Transgression des Liebesverbots setzt das — pervers konnotierte — väterliche Gesetz außer Kraft. Ahnlich wie im Cliges bezeichnet die erotische Nacktheit selbst die U b e r w i n d u n g illegitimer Herrschaft und die Epiphanie der Wahrheit und hat wenig mit dem arthurischen Sagenkreis zu tun. Erst im Laufe des umfangreichen R o m a n s wird sich zeigen, dass diese Wahrheit mit einer geschichtsphilosophischen Konstruktion der englischen Besiedlungsgeschichte zwischen Alexander d e m Großen u n d d e m Artusreich verbunden ist u n d - avant la lettre — aufklärerische Konnotationen trägt. 5 5

53

54

55

untypisch ist Le Chevalier as deus espees (Anfang 13. Jh.), in dem das Motiv im Übrigen folgenlos bleibt. Die nicht als geschlossene Erzählung überlieferte Geschichte ist abgedruckt bei Jeanne Lods, Le Roman de Perceforest, Geneve 1951, Appendice, 283-295.Vgl. hierzu vor allem Jacques Barchilon, »L'histoire de La Belle au bois dormant dans le Perceforest«, Fabula 31 (1990), 17—23, sowie Esther Zago, »Some Medieval Versions of Sleeping Beauty: Variations on a Theme«, Studi francesi 69 (1979), 417-431. Elizabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, übers, von Thomas Lindquist, München 1994 (engl. Original London 1992). In funktionsgeschichtlicher Perspektive hierzu Vf., Le Conte en palimpseste. Studien zur Funktion von Märchen und Mythos im französischen Mittelalter, Stuttgart 2005, Kap. 7, 144ff.: »La Belle Endormie: le conte merveilleux populaire mis au service des ideologies courtoises«.

Der defiziente arthurische Körper: Nacktheit als

Gattungs-Paradigma

215

Das Stichwort >Perversion< gibt Gelegenheit, an eine phantasmagorische Szene des Livre de Caradoc (in der Continuation

Gauvain56)

zu erinnern, in der die ero-

tische Nacktheit in einer perversen Erlösungszeremonie zum Lockpfand einer begehrenden Schlange wird. Nicht um Parodie, sondern um den Sündenfall der arthurischen Welt geht es in diesem Roman, in dem die Erlöserin zugleich die Züge Evas trägt. Die in der Handlung getilgte sexuelle Bedeutung des Begehrens wird so über den Umweg des diabolischen Schlangenmotivs doch noch restituiert, zugleich aber die arthurische Gattung als solche von dem Unsagbaren entlastet. Caradoc Briebras, aus der ehebrecherischen Liebe zwischen dem Zauberer Eliavres und Ysave, der Nichte Arthurs, hervorgegangen, hat die R e c h t e seines offiziellem Vaters, Caradoc deVannes, gegen den Zauberer verteidigt und das Verhältnis der Mutter entlarvt. Zur Strafe hat sich aufWunsch der Mutter und Betreiben des Zauberers eine Schlange in den rechten Arm des Helden verbissen, die nur durch das Opfer einer Jungfrau entfernt werden kann. Guinier, die Braut Caradocs, ist zu diesem Opfer bereit. Die Liebesprobe, die deutliche Parallelen zu Hartmanns Der Arme Heinrich aufweist, trägt innerhalb der Liebe- und Treue-Thematik des Romans die Züge eines Exempels: Das Opfer Guiniers soll alle »falschen Liebenden« mit Scham erfüllen. Der Freund Caradocs und Bruder Guiniers, Cador, überredet den dahinsiechenden Liebenden, der sich in eine Waldeinsiedelei geflüchtet hat, diese Probe zuzulassen, und daraufhin wird ein magisches Arrangement inszeniert: Bei Vollmond muss Caradoc sich bis zum Hals in einen mit Essig gefüllten Bottich knien, während Guinier daneben, »tote nue sans plus d'error« (V. 11460), in einen Milchzuber steigt, von dem aus sie die Schlange ermuntert, sich an ihrer rechten Brust festzubeißen. Die Nacktheit des Mannes ist verborgen, die der Jungfrau offenbar. Die erotische Szene der nackten Heldin, welche die Aufmerksamkeit auf ihre weißen Brüste und ihr — im Vergleich zu Caradoc — weiches Fleisch zieht, erfährt eine besondere Steigerung durch die liturgischen Gesänge der dem Ereignis beiwohnenden Einsiedler, die Gott um ein Wunder anflehen. Ähnlich wie in manchen weiblichen Heiligenlegenden, die sich durch erotische Uberdeterminierung auszeichnen 5 7 , dient die gesteigerte Erotik scheinbar dazu, die mehr als latente Sexualität zu entschärfen, die in der Lockwerbung der »pucele« an die Schlange zum Ausdruck kommt. 5 8 Und ebenfalls in Analogie zur hagiographischen Tradition ist

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Zitate nach der Ausgabe von William R o a c h und R . H. Ivy: Continuation of the Perceval, Bd. 2, Philadelphia 1965 (American Philosophical Society). Es handelt sich um den ausfuhrlichen Text Ms. E. Gaunt (wie Anm. 47), 213. Matilda Tomaryn Bruckner, »Rewriting Chretien's Conte du Graal - Mothers and Sons: Questions, Contradictions, and Connections«, in: Douglas Kelly (Hrsg.), The Medieval

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Friedrich Wolfzettel

der anschließende Schlangenbiss als »contemplation of violence against the female body« 59 zu verstehen. Doch zunächst zum Körper, der sich selbst zum Schauobjekt machenden Heldin: »Car esgardes or mes mamelles, C o m sont blanches, tandres et beles, Esgarde ma blanche poitrine Qu'est plus blanche que flor d'espine.« (V. 11475)

U n d weiter, mit ironischem Verweis auf die Magerkeit und Unattraktivität des ausgemergelten Körpers von Caradoc: »Vien t'an a moi et si te pran. [...] Car j e suis blanche, grasse et tandre. Bien te porras an moi antandre.« (V. 11484£F.)

Matilda Tomaryn Bruckner hat auf die typologische Dialektik dieser Szene zwischen Versuchung und Erlösung, Prostitution und Selbstopfer, aufmerksam gemacht. Gegenüber der lasterhaften Mutter Caradocs vertritt die jungfräuliche Heldin als neue nackte Eva zugleich eine erlösende, Muttergottes-ähnliche Rolle. »A virginal Guignier immersed in milk appears as the very image of the good mother, pure and white, w h o will fool the snake eager to suck at her breast and give Caradoc a new life at the very m o m e n t when he was about to die, sucked by the evil mother's serpent« 60 . Eben die ambivalente Dialektik der Nacktheit scheint jedoch für den Artusroman charakteristisch. Die strahlende Nacktheit der sich zugleich opfernden und anbietenden Heldin soll gerade nicht als solche zum Sieg gelangen. Guiniers Bruder wird mit dem »nackten Schwert« die Schlange von der Brust der Schwester trennen und dabei eine Brustwarze abschlagen, die später durch eine goldene Spitze ersetzt werden wird. Die ritterliche Geste eliminiert nicht nur das Böse an sich, sie straft symbolisch auch die opferbereite Nacktheit. Auch der durch die Schlange geschädigte Held — mit dem sprechenden Beinamen Briebras - wird die Folgen der Verstümmelung seines Arms zu tragen haben. Der künstliche bzw. der lädierte Körper sind die Folgen einer symbolischen Kastration, welche keine erlöste Nacktheit

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>Opussublimereliquat< de la scene du bain nu« gedeutet, das ursprünglich die erotische Begegnung rahme. 7 4 Jacques Ribard 7 5 hat in sein e m »essai d'interpretation polysemique« des Lai de Lanval als G r u n d p r o b l e m die unfruchtbare Opposition zwischen der einsamen Welt des Protagonisten u n d der kollektiven Welt des Artushofes geltend gemacht; die Flucht Lanvals ebenso wie die Graelents in die Jenseitswelt der Fee indiziert die unmögliche Beziehung zwischen beiden Sphären u n d fungiert als Ausdruck einer blockierten psychischen Situation. Das Motiv des Schönheitswettbewerbs in Graelent demonstriert aber die Ü b e r l e genheit der mythisch erotischen Feenwelt über die exhibitionistische Eitelkeit des Hofes, die der ihrerseits exhibitionistischen Erotik der Fee in Lanval merkwürdig nahe k o m m t . In der halb verhüllten, erotisierten F o r m reich verkleideter Nacktheit bleibt die solipsistische Phantasie des Helden den äußerlichen Werten des Hofes verbunden, an denen er schließlich scheitert: »cette renaissance, au sens etymologique du terme«, kommentiert Michele Koubichkine die Verquickung von Erlösung u n d Zwang, »porte en germe des risques d'aneantissement.« 7 6 Die partielle N a c k t heit der erotischen Fee hat alle mythischen Kennzeichen eingebüßt u n d fungiert in widersprüchlicherWeise als Synekdoche des nackten Körpers u n d als M e t o n y m i e des reichen Kleiderschmucks, der die natürliche Nacktheit d o c h wieder verdeckt u n d vermittelt. Die höfisch-arthurische Adaptation des folkloristischen Materials n i m m t bereits neuzeitliche F o r m e n >erotischer< Mediatisierung vorweg. Das zweite Beispiel betrifft das geläufige Motiv der nächtlichen erotischen Initiation. Sowohl die Liebesszene zwischen Melior u n d Partonopeu im Partonopeu de Blois als auch die beiden Besuche von Guinglain bei der Fee as Blanches Mains auf der lie d ' O r im Bei Inconnu situieren sich in einer mythischen Anderwelt, die die Nacktheit als Tabubruch ausweist. Ahnlich wie in den o b e n behandelten Lais scheint d e n n o c h ein wesentlicher Unterschied zwischen d e m mythisch-märchenhaften Dekor des byzantinischen R o m a n s 7 7 , der den passiven, erotisch beschenkten j u n g e n H e l d e n herausstellt, u n d d e m Feenambiente des arthurischen R o m a n s zu

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Tom Peete Cross, »Celtic Elements in Lanval and Graelent«, Modem Philology XII (19141915), 585-644. Frappier (wie Anm. 67), 236. Jacques Ribard, »Le Lai de Lanval: essai d'interpretation polysemique«, in: Melanges offerts ä Mme Jeanne Wathelet-Willem, Liege 1978, 529-544. Michele Koubichkine, »A propos du Lai de Lanval«, Le Moyen Age LXXVIII (1972), 467-488, hier: 475. Hierzu Helaine Newstead, »The Traditional Background of Partonopeus de Blois«, PMLA LXI (1946), 916-946, und bes. Gallais (wie Anm. 69), 73ff.

Der defiziente arthurische Körper: Nacktheit als

Gattungs-Paradigma

221

bestehen, der den suchenden u n d frustrierten Helden thematisiert. W i e im Cliges ist die erotische Transgression an das byzantinisch orientalische Ambiente gebunden. 7 8 Kennzeichnend ist bereits die geschlechtsspezifische Verteilung der Rollen. W ä h r e n d die nächtliche Liebesszene im Partonopeu, Catherine Gaullier-Bougassas zufolge »l'une des premieres scenes erotiques du genre romanesque en fran^ais« 79 , die sexuelle Initiation d e m byzantinischen »roman idyllique« entsprechend auf beide »enfants« bezieht, so dass die Beinahe-Vergewaltigung der j u n g e n Fee erst im Nachhinein in einen Liebespakt, freilich mit Sehtabu, mündet, bleibt die entsprechende arthurische Szene w i e d e r u m durch das M o t i v der verschleierten, erotisch vermittelten und lange hingehaltenen Verführung der überlegenen Fee bestimmt. Interessanterweise ist die N a c k t h e i t Meliors, deren nächtliche B e g e g n u n g mit Partonopeu nicht o h n e humoreske Z ü g e geschildert wird, zunächst eine gefühlte Nacktheit: »Tant l'a soef et eras trove / que tot en a le sens müe« (V. 1275f.) 80 , heißt es, bevor von den geraubten »flors del pucelage« (V. 1304) die R e d e ist; und im Z u s a m m e n h a n g mit d e m an Amor und Psyche erinnernden Schautabu sagt dann die längst versöhnte Heldin: D e m o i feres vostre delit; Cascune nuit tot a loisir M e pores avoir et sentir, Mais n e vorroie estre veüe... (V. 1444ff.)

Abgesehen von dieser Abwandlung des Tabumotivs ist eine gewisse Analogie zum Lai de Graelent unübersehbar. Trotz des betont mythisch-märchenhaften Dekors — Zaubernachen, verlassener Märchenpalast undTischlein-deck-dich-Effekt — betont der Autor gerade nicht die anderweltlichen, sondern die natürlichen Umstände der sexuellen Begegnung, die als entscheidender Beginn der Initiation des noch u n e r fahrenen enfant fungiert. Das mythische Ambiente dient allein als Schutzraum der angedeuteten Nacktheit, die nicht beschrieben zu werden braucht. »Mais ne vorroie estre veüe« — der Satz der Heldin k ö n n t e auch als Verweigerung eines Voyeurismus verstanden werden, der im Bei Inconnu eine Erotik der Frustration und der missglückten Individuation signalisiert.Während nämlich die Entdeckung der Nacktheit im byzantinischen R o m a n den Weg zu den weiteren Abenteuern des Erwachsen-

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Z u dieser V e r k n ü p f u n g von Erotik u n d O r i e n t vgl. C a t h e r i n e Gaullier-Bougassas, La tentation de l'Orient darts le roman medieval. Sur l'imaginaire medieval de 1'Autre, Paris 2003 (Nouvelle Bibliotheque du M o y e n Age 67), 57ff. u n d 8 4 - 8 9 . Ebd., 59. Zitate nach der Ausgabe von Joseph Gildea: Partonopeu de Blois. A French Romance of the Twelfth Century, 2 Bde., Villanova/Penns. 1967.

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Friedrich Wolfzettel

Werdens bis zum schließlichen Happy End weist, bleibt der »schöne Unbekannte« bekanntlich — nicht unähnlich Lanval zwischen der Fee und der Königin - zwischen den widerstrebenden Loyalitäten zur Fee as Blanches Mains und zur Blonde Esmeree gefangen, und nichts deutet darauf hin, dass der erotische Konflikt nach den archetypischen Gesetzen einer ritterlichen enfance gelöst werden kann. W i e derum übernimmt die sich zugleich anbietende und verweigernde Fee ähnlich wie im Lanval auch eine mütterliche Rolle, welche die Liebe in ein inzestuöses Licht rückt. Schließlich klärt sie ja den Helden über seine Mutter, die Fee Blancemal, auf, deren N a m e nicht zufällig ihrem eigenen ähnelt. 81 Das Erwachen des Helden nach seiner zweiten Begegnung mit der Feengeliebten wird daher einer Vertreibung aus dem unmöglichen Paradies (V. 5397) gleichen und die Entlassung in ein betont glückloses »Happy End« sozialer Integration am Artushof einleiten. 82 Die gegenseitige Schaulust — »L'uns Γ autre molt volentiers voit« (V. 2428) 83 ist mithin weniger Ausdruck geglückter Sexualität als ein Ersatz für diese selbst. Die partielle Entblößung des weiblichen erotischen Körpers wird dabei durch das Motiv der Verhüllung und Verschleierung wieder zurückgenommen, und das formelhafte »nu a nu« (V. 2435) scheinbarer Unmittelbarkeit bleibt durch die Erwähnung des Hemdes - »que rien n'i avoit / Entr'els, non plus que sa cemisse« (V. 2436) - dennoch durch das ecran-Motiv mediatisiert. Das erotische Signal des aufgelösten Haars — »Sans guinple estoit, eschevelee« (V 2395) — steht im K o n trast zu dem R e i c h t u m des »mantiel« mit Hermelinpelzbesatz und dem Gold der Schnallen; die Keuschheit des weißen Hemdes verdeckt nicht zur Gänze die Körperformen mit dem noch weißeren Fleisch: Les ganbes vit, blances estoient, Qui un petit aparissoient; La cemisse brunete estoit Envers les janbes qu'il veoit. (V. 241 Iff.)

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Z u einer psychoanalytischen D e u t u n g vgl. die Einleitung von Felicitas Olef-Krafft zu der von ihr besorgten deutschen Ausgabe: R e n a u t de Beaujeu, Der schöne Unbekannte. Ein Artusroman, Zürich 1995. Alain Guerreau, »Renaud de Β age: Le Bel Inconnu. Structure symbolique et signification sociale«, Romania 102 (1982), 28-82, und Jeanne Lods, »Le baiser de la reine et le cri de la fee. Etude structurale du Bei Inconnu de R e n a u d de Beaujeu«, in: Melanges de langue et de litterature franfaise au Moyen Age offerts a P. Jonin, Aix-en-Provence 1979 (Senefiance 7), 413-426. Simon Gaunt (wie Anm. 47), 103-113, spricht in genderspezifischer Perspektive von einem Konflikt zwischen dem männlich konnotierten Machtbereich der höfischen Gesellschaft und der antisozialen Sphäre individuellen Begehrens. Zitate nach der Ausgabe von G. Perrie Williams: R e n a u t de Beaujeu, Le Bei Inconnu, Paris 1983 (CFMA 38).

Der defiziente

arthurische

Körper: Nacktheit

als

Gattungs-Paradigma

223

Nur »ein wenig« sind die Schenkel sichtbar, während sich das dunkle Geschlecht unter dem Hemd abzeichnet und dessen Weiß in Braun verwandelt. Das nicht weniger als dreimal genannte Hemd wird hier zum Symbol des Schirms, der sich zwischen den nackten Körper und den sehnsüchtigen Liebenden schiebt und Schaulust zum Ersatz für die unmögliche Unmittelbarkeit der Befriedigung macht. Nicht zufällig wird in der Liebesszene des zweiten Inselbesuchs, als sich die Fee dem Geliebten endlich hingibt, von all dem deskriptiven Aufwand des ersten Teils nicht mehr die Rede sein. Freilich liegt dazwischen auch die Erlösungsszene im Schloss der Blonde Esmeree. Der erotisierte Drachen, der den Helden mit seiner vorgestreckten Zunge küssen will, ist aber das märchenhafte Pendant der Animalität und Nacktheit, die durch die Entzauberung symbolisch überwunden wird. Es gibt keine Epiphanie der Nacktheit in diesem erotischen Roman eines Manns zwischen zwei Frauen. Hat sich die verführerische Halbnackte dem Helden entzogen, so lernt er danach nur die schreckliche, tierische Seite der Nacktheit kennen, die es zu überwinden gilt. Zwischen Verlockung und Diabolisierung hat die Nacktheit im Zivilisationsprojekt >Artusroman< offensichtlich keinen festen Ort. Im Extremfall weist sich arthurische Erotik so als gesteigerte Form eines »erotisme« aus, der als Funktion der Verdrängung des Mythischen im Sinne Georges Batailles84 zu interpretieren wäre. Ahnlich wie im höfischen Register der Lyrik erzwingt das aufgeschobene Begehren Strategien der Vermittlung, welche die erotische Nacktheit als solche nur in mediatisierter, ja pervertierter Form zur Sprache bringen. Das mythische Schautabu existiert indessen nur scheinbar nicht mehr; in Wirklichkeit ist es zu einem ohnmächtigen Voyeurismus geworden, durch den das Angeschaute immer nur verschleiert erscheint und letztlich ungreifbar wird. In der genannten Szene wird sich die Fee dem Geliebten in eben dem Augenblick prüde entziehen, als dieser »un dof baissier prendre cuida« (V. 2448). Liebesakt und triumphierende Nacktheit schließen sich im arthurischen Gattungssystem offensichtlich tendenziell aus.

IV. Streifen wir abschließend die mit Narrheit konnotierte männliche Nacktheit, insofern es auch um erotische oder voyeuristische Komponenten geht. Nacktheit bezeichnet im höfisch-arthurischen Kontext, wie wir gesehen haben, grundsätzlich eine problematisch konnotierte Ursprünglichkeit, die auch als Form der

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G e o r g e s Bataille, L'erotisme,

Paris 1 9 5 7 .

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Friedrich

Wolfzettel

Regression erscheint. I m Fall der m ä n n l i c h e n N a c k t h e i t ist das v o n R e g n i e r B o h l e r so g e n a n n t e »fantasme de deserialisation« 8 5 j e d o c h völlig eindeutig. A m Beispiel der Geschichten sog. wilder Kinder, w i e in Valentin et Orson oder Tristan de Nanteuil,

hat die französische Forscherin 8 6 die Analogien zwischen der

Nacktheit u n d der W i l d h e i t als zivilisatorischem Z u s t a n d herausgearbeitet. Tatsächlich bedeutet die N a c k t h e i t die radikale Vereinzelung, den Verlust gesellschaftlicher E i n g e b u n d e n h e i t , u n d scheint so schlechthin unvereinbar mit m i t telalterlichem D e n k e n überhaupt u n d arthurischem D e n k e n i m Besonderen. D e r traumatisierte Liebende, der i m Dit du Prunier87 auf die Stufe scheinbar paradiesischer N a h r u n g s s u c h e u n d Nacktheit regrediert, stirbt an dieser an den R o u s seauschen U r z u s t a n d e r i n n e r n d e n Vereinzelung, die nichts mit e i n e m prälapsarischen Z u s t a n d gemein hat. D e r jeweils f ü r drei Tage verzauberte Held des Lai du Bisclavret weist Nacktheit überdies als magischen A u s n a h m e z u s t a n d aus, der i h n jeweils von der Frau u n d der Gesellschaft isoliert. »Dame, fet il, ieo vois tuz nuz« (V. 70) 8 8 , heißt es in der Beichte, die er seiner Frau gegenüber ablegt u n d die i h n teuer zu stehen k o m m e n wird. Es ist überdies ein Zustand, der gleichsam tabuisiert ist. D i e Tatsache, dass die Frau sich selbst v o n diesem Z u s t a n d überzeugen will u n d die Kleider des nackten W e r w o l f s e n t w e n d e t , e r i n n e r t in kurioser Weise an das u m g e k e h r t e V o y e u r - M o t i v i m Lai de Graelent u n d in den Varianten der Schwanenrittersage. Aber von den erotischen K o n n o t a t i o n e n der Ü b e r t r e t u n g des Schautabus ist nichts geblieben. D i e Regression in die N a c k t heit w i r d als Verzauberung begriffen, die erst mit der W i e d e r g e w i n n u n g der Kleider ü b e r w u n d e n ist u n d deren S t ö r u n g die neugierige Frau in diesem Fall m i t d e m Verlust ihrer Nase bezahlt. Einzig diese F o r m der symbolischen Kastration verweist auf den sexuellen C h a r a k t e r des Tabus, das den W e r w o l f als W i l den M a n n den weiblichen Blicken entzieht. Nacktheit ist weniger ein paradiesischer als ein animalischer Zustand, und nichts unterscheidet wahrscheinlich das mittelalterliche Imaginaire m e h r von der rinascimentalen Wiedergeburt siegreicher Nacktheit als eben diese Animalisierung, die in den R e s t e n märchenhafter Uberlieferung wie in der Geschichte von Jean de l'Ours 8 9 z u m Ausdruck k o m m t . D e r Wilde M a n n , auch die wilde Frau des Mittel-

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Regnier-Bohler (wie Anm. 5), 58. Danielle Regnier-Bohler, »Exil et retour: La nourriture des origines«, Mediemles 5 (1983), 67-80. Emile Roy (Hrsg.), Le Dit du Prunier, Dijon 1929. Zitate nach der Ausgabe von Rychner (wie Anm. 72). Daniel Fahre, »L'Ours ravisseur dans les Mirabilia et les Histoires naturelles«, Via Domitia XV (1970), 54-67.

Der defiziente arthurische Körper: Nacktheit als Gattungs-Paradigma

225

alters, die sog. silvanPtragen immer auch dämonische Konnotationen und stellen die Antithese zur menschlichen, insbesondere zur höfischen Gesellschaft dar. In ihnen ist die tierische Nacktheit zugleich als Einsamkeit konnotiert, die dem archetypischen O r t des Waldes zugeordnet ist. Es ist eine Nacktheit, die immer auch als hässlich und abstoßend dargestellt wird und die Erlösungsbedürftigkeit der Nacktheit voraussetzt.Wie im Bisclavret geht es um einen Zustand, der die Verborgenheit sucht und mit dem Verlust gesellschaftlicher Identität einhergeht. Aus der höfischen Perspektive des arthurischen Romans stellt Nacktheit mithin zuallererst das Skandalon der Regression dar, welches nur durch das Motiv des Wahnsinns erklärt werden kann. Im R a h m e n einer Diskussion der anthropologischen Natur-Kultur-Antithese hat Le Goff im Übrigen gezeigt, dass diese auch symbolische Nacktheit nicht mit dem weitergehenden Motiv des »homme sauvage« identisch ist.91 Die einmalige Verwirrung Yvains im Chevalier au lion oder die mehrfache folie Lancelots im Lancelot en prose binden die — männliche — Nacktheit an den Wahnsinn des von einer besonderen Form der von Liebeskrankheit, »rage« und »melencolie« (V 3001) 92 , ergriffenen höfischen Helden, die im Fall des Löwenritters auch mythenpsychologisch gedeutet werden könnte. 9 3 Anders als Lancelot wird freilich nurYvain als wirklich nackt geschildert, und nur seine Nacktheit stellt zugleich ein Phänomen derVerdinglichung durch den fremden Blick dar, zunächst durch den Einsiedler, »quant vit celui qui nuz estoit« (V. 283ff.), dann auch durch die »demoiselles«: »Vers l'ome nu que eles voient« (V. 2888). Der eindringliche Blick des einen Fräuleins — »mes molt le regarda einfois« (V. 2890) — entspringt hier wohl nicht erotischer Neugierde, sondern betrifft das Problem der Identität: »que rien nule sor lui vei'st / qui reconuistre Ii feist« (V. 289lf.). Der nackte Körper hat mithin seine Identität verloren, da mit der Kleidung alle Zeichen der Kenntlichkeit abgelegt sind. Der Bruch der Kommunikation mit der höfischen Gesell-

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Vgl. Richard Bernheimer, Wild Men in the Middle Ages. A Study in Art, Sentiment, and Demonology, Cambridge/Mass. 1952. Das Kapitel »The Erotic Connotations«, 121ff., bleibt unergiebig. Jacques Le Goff, »Levi-Strauss en Broceliande. Esquisse pour une analyse d'un roman courtois«, in: J. L. G., Un autre Moyen Age, Paris 1999 (Quarto Gallimard), 581-614. Vgl. Heinrich Schipperges, »Melancolia als ein mittelalterlicher Sammelbegriff für Wahnvorstellungen«, Studium Generale 20, 11 (1967), 723-736. Zitate nach der Ausgabe von Mario Roques: Les Romans de Chretien de Troyes, Bd. 1: Le Chevalier au Lion (Yvain), Paris 1978 (CFMA 89). So von Michel Stanesco, »Le Chevalier au lion d'une deesse oubliee: Yvain et >Dea Lunaemilitia christianacaro< in die Gruppe der Feinde aufgenommen worden ist, aber eine >res< für die Vernichtung der >caro< nicht aus der Waffenallegorese zur Verfugung gestanden hat, so kann jetzt korrigierend ergänzt werden, daß das Mittelalter sich diese >res< schafft, indem sie das Pferd des Ritters in die Allegorese hineinnimmt« (129). Zur Veranschaulichung der Beziehung von >Es< und >Ich< im Rahmen seines seelischen Schichtenmodells fuhrt auch Sigmund Freud ein Pferdegleichnis an: »Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten«: S. F., Neue Folge der Vorlesungen

zur Einführung

in die Psychoanalyse

Frankfurt a.M. 1999, 1-208, hier: 83.

( 1 9 3 2 ) , i n : S. F., Gesammelte

Werke, B d . 15,

360

Irmgard Gephart

Ein geistesgeschichtlich zentrales Bild hierzu liefert das platonische Rossegleichnis mit seinem Doppelgespann eines widerborstigen, hässlichen und eines edlen, lenkbaren Pferdes. 12 Im Verhältnis zum Rosselenker als dem vernunftbegabten Seelenanteil stehen beide Pferde f ü r triebhaft-emotive Sphären, die einmal positiv u n d einmal negativ besetzt sind. Das schlechte, ungebärdige Ross von schwarzer Farbe kennt dabei weder Zurückhaltung n o c h Scham u n d reißt in seinem grenzenlosen Begehren, die Lust des >Lieblings< zu genießen, den R e i t e r gewaltsam mit sich fort. Erst wiederholte harte M a ß n a h m e n vermögen, es zu zügeln, aber letztlich wird es doch von D e m u t u n d Furcht übermannt. Anders das weiße, fügsame Pferd, welches Besonnenheit und Scham kennt, und nicht mit Schlägen, sondern mit W o r t e n gelenkt wird. Die Metapher stellt eine Integrationsleistung von Vernunft u n d Trieb vor, in der auch den instinktnahen Kräften, sofern sie sich der Vernunft unterordnen, ein wesentlicher Anteil am Erreichen des >Schönen und Gutem z u k o m m t . 1 3 Insofern ist eine doppelte Konnotation, die mit d e m kulturellen Bild von Ross u n d R e i t e r verbunden ist, auch mit der Beziehung Enites zu den Pferden verbunden: einerseits die erhabene Position des Reiters bzw. der R e i t e r i n , welche die H e r r schaft über das Tier ausübt, u n d andererseits, gleichsam im Blick von u n t e n nach oben, das Animalisch-ungebärdige, das als Tierkörper nach einer zügelnden H a n d verlangt und sich unterzuordnen hat.

IV. Blicken wir n u n m e h r zurück auf die Gestaltung des Pferdethemas i m Erec, so springt die N ä h e zwischen der M e t a p h o r i k von Ross u n d R e i t e r u n d d e m zentralen Triebkonflikt des R o m a n s ins Auge. D i e Schlüsselstelle des R o m a n s bildet ja das sog. verligen des frisch vermählten Königspaares in Karnant, das sich, statt u m

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Piaton, Phaidros, 246a; 247c; 253d—254e, in: P., Sämtliche Werke, nach der Übers, von Friedrich Schleiermacher hrsg. von Walter F. Otto u.a., Bd. 4, Hamburg 1991, 27/28, 34/35. Piaton wird gerne im Hinblick auf seine Negativeinschätzung der Affekte benannt, die, im sterblichen Teil der Seele verortet, eine Gefahr für den Höherstrebenden darstellten (vgl. u.a. Timaios 69c-d). Dass allerdings schon bei Piaton die Grundlagen einer Affektenlehre zu finden sind und der Gegensatz von Affekt und Vernunft relativierbar ist, macht Knut Eming (»Die Unvernunft des Begehrens. Piaton über den Gegensatz von Vernunft und Affekt«, in: Stefan Hübsch, Dominic Kaegi [Hrsg.], Affekte, Heidelberg 1999, 11—32) zum Gegenstand seiner Abhandlung: »Zwischen dem Begehren und der Vernunft kann es einen Zusammenhang der Fortsetzung derart geben, daß die Vernunft die Mächtigkeit der Affekte auf ihr gemäße Ziele lenkt, wodurch gerade die Affektivität für die Wirklichkeit des Guten zur Voraussetzung wird« (31).

Enite und die Pferde

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eine angemessene Hofhaltung zu sorgen, endlich dem hingibt, wonach es vor der Hochzeit so ungeduldig verlangt hatte. Hartmann stellte uns das wartende Paar in aller Deutlichkeit als zwei hungrige Habichte vor (V. 1861-1869), die nur durch die Kontrollinstanz des Artushofes davon abgehalten werden, den anderen vorzeitig als Beute zu verschlingen. In Karnant angekommen werden also Erec und Enite erst einmal von den übermächtigen Kräften ihrer triebhaften >Seelenanteile< fortgerissen — oder anders formuliert: Sie lassen die Pferde mit sich durchgehen. Beachtenswert ist nun, dass Vorausdeutung und spätere Korrektur dieser Fehlleistung im Rahmen der Metapher folgerichtig über die Pferde stattfindet, bei Hartmann noch differenzierter und einseitig pointierter als bei Chretien.Vor allem der erniedrigende Pferdedienst Enites auf der Aventiurenfahrt erscheint damit nicht nur als beliebige Strafaktion für eine adlige Frau, sondern trägt mit den Pferden eine tiefere Symbolik in sich. Hinter dem Bezug auf die Übertretung des Schweigegebots seitens Erecs steht schließlich die Verfehlung Enites, welche die vornehmliche Aufgabe der höfischen frouwe, die Selbsterziehung und mehr noch, die Erziehung des Mannes, verfehlt hat. Denn die höfische Gesellschaft — schauen wir etwa auf den Minnedienst — gruppiert sich in wesentlichen Teilen um die Frau als Medium der Triebregulation. 14 Wenn Enite demnach wiederholt mit der schwierigen Aufgabe des Knechtsdienstes an Pferden aus den Händen von Männern betraut wird, verweist dies zunächst einmal auf ihr eigenes noch ungeklärtes Verhältnis zu den männlichen Triebansprüchen. Von daher trägt Enite nicht nur Verantwortung für eine aus den Fugen geratene Situation, weil auch sie >wolltefaithful animal· einerseits und dem >leacherous beast< andererseits aus, wofür sie mehrere Zeugen mittelalterlich-antiker Philosophie von Aristoteles über Konrad von Megenburg bis zu Hugo von St. Victor anfuhrt (272). Meine Beobachtung einer grundsätzlichen Ambivalenz sehe ich bei Combridge bestätigt, kann ihr aber nicht in ihrer These folgen, dass Hartmann mit einer Steigerung von >faithfulness< auf eine Unterstellung von >wantonness< gegenüber Enite seitens Erecs antwortet. Der Charakter einer grundsätzlichen Ambivalenz der Pferde reicht m. E. strukturell über den Gegensatz zwischen den Pferden der Knechtschaft einerseits und den idealen Pferden als Geschenk andererseits hinaus und erschöpft sich nicht in einer bloßen Abbildfunktion fur Enite.

Enite

und die Pferde

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die R e d e , was die Position des u n b e w a f f n e t e n E r e c u n t e r s t r e i c h e n m a g . 1 7 D i e Vers o r g u n g v o n Erecs Pferd stellt jedenfalls n o c h n i c h t die A n f o r d e r u n g dar, die später m i t der F ü h r u n g d e r acht P f e r d e an E n i t e herantritt, die als R o s s e b e z e i c h n e t w e r d e n (V. 3273, 3433). U m so auffälliger ist d a n n der W a n d e l d e r u n g e s t ü m e n R o s s e an der Seite Enites zu g e f u g i g e n . N a c h der Krise in K a r n a n t f i n d e t E n i t e in d e n R ä u b e r a v e n t i u r e n G e l e g e n h e i t , das u n t e r Beweis zu stellen, was sie in K a r n a n t v e r s ä u m t hatte, n ä m l i c h m ä ß i g e n d e n Einfluss auf die k r e a t ü r l i c h e n Kräfte, die ihr hier in Gestalt der P f e r d e b e g e g n e n , zu n e h m e n . U n d markanterweise findet dies e b e n n i c h t als ein A k t der Herrschaftsausü b u n g statt, w i e sie es i m m e r w i e d e r an sich selbst d u r c h die M ä n n e r erfährt, s o n d e r n als e i n e A r t B e g e g n u n g , bei der die P f e r d e ihr e n t g e g e n k o m m e n u n d auf die ihr wesensmäßige Sanftheit reagieren. E n i t e w i r k t d a m i t edukativ, o h n e zu erziehen. Ihre W i r k u n g e n t s p r i n g t n i c h t e i n e m b e w u s s t e n E i n f l u s s n e h m e n , s o n d e r n e i n e r H i n g a b e an die v o n a u ß e n auferlegte Situation, die sie mittels einer ihr e i g e n t ü m lichen Sanftheit b e a n t w o r t e t u n d bewältigt. W a n d e l b a r u n d ansprechbar erschein e n dabei die Pferde. Sie setzen sich zu E n i t e in B e z i e h u n g , w o E n i t e gleichsam n u r in ihrer e i g e n e n D e m u t r u h t . U m das E i g e n t ü m l i c h e dieser K o n s t r u k t i o n d e u t l i c h w e r d e n zu lassen, sei n o c h einmal an die Kernaussage des C h r e t i e n ' s c h e n Erec e r i n n e r t . H i e r ist der K o n f l i k t des Paares wesentlich u m die Tatsache h e r u m a u f g e b a u t , dass Erec die A u f k l ä r u n g ü b e r die u n h a l t b a r e Situation d u r c h E n i d e als K r ä n k u n g erlebt.Von d e r j e n i g e n , die i h m d o c h Anlass f ü r seine gesellschaftliche E n t f r e m d u n g war, ü b e r seine V e r f e h l u n g aufgeklärt zu w e r d e n , evoziert U n v e r s t ä n d n i s u n d Aggression. 1 8 D i e f r a n z ö sische E n i d e w i e d e r u m h a d e r t i m m e r w i e d e r - n i c h t m i t d e r Tatsache des >Verliegens< — s o n d e r n damit, dass sie g e s p r o c h e n hat. E n t s p r e c h e n d w a r t e t auf sie e i n e B e w ä h r u n g s p r o b e , in d e r sie n e u e r l i c h als W a r n e r i n zu f u n g i e r e n hat. D e r gesellschaftliche A n s p r u c h an die h ö f i s c h e D a m e , als M i n n e h e r r i n o d e r E h e f r a u regulier e n d auf die M ä n n e r e i n z u w i r k e n , w i e es das g a n z e S z e n a r i u m n a h e legt, w i r d also a u c h hier v o n b e i d e n v e r k a n n t . Bei H a r t m a n n j e d o c h ist das verligen n i c h t m e h r n u r e i n e k o r r e k t u r b e d ü r f t i g e situative Verfehlung, s o n d e r n E x e m p l u m f ü r ein g r u n d sätzliches Versagen b e z i e h u n g s w e i s e t u g e n d h a f t e B e w ä h r u n g . W e n n er die s y m b o lische Verweisstruktur u m E n i t e u n d die P f e r d e dergestalt ausbaut - u n d zwar n i c h t n u r in B e z u g auf die P f e r d e g e s c h e n k e , s o n d e r n a u c h m i t Enites R o l l e als P f e r d e k n e c h t —, so g e w i c h t e t dies die Position Enites i m R a h m e n e i n e r Situation, die f ü r

17

Vgl. Lewis (wie Anm. 7), 15-16.

18

Vgl. u. a. Erich Köhler, Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik, 2., erg. A u f l . , T ü b i n -

gen 1970, 144ff.

364

Irmgard Gephart

misslungene Triebregulation steht, neu. Gleichzeitig werden der Enitefigur personale Autonomie und Subjektivität zugunsten der Einschreibung idealer Demut und Sanftheit genommen, die insbesondere in ihren Kontakten mit den Pferden paradigmatisch vorgeführt wird. U n d jene ideellen Wesenszüge sind es dann, die sowohl auf Pferde als auch Männer besänftigend, d.h.: regulierend wirken. D e r von der höfischen Gesellschaft an die Frau herangetragene Anspruch der Affektregulation im Dienste des Mannes wird somit an die Frau nicht als bewusstes, sondern als unbewusstes Wesen gebunden. Ihre >besänftigende< Wirkung übt sie nicht als Einsichtige aus, sondern als ein Wesen, das damit einem inneren Gesetz gehorcht. Im Umgang mit den Pferden absolviert Enite demnach nicht nur eine Strafaktion, die ihren höfischen Fall markiert, sondern sie bewährt sich im Umgang mit den Tieren als höfische Dame, deren bloße Präsenz eine positive Wirkung zeitigt. So wie die Frau dem Mann als Verführerin eine Projektionsfläche zum Zwecke der Selbstexkulpation bietet, wird sie hier als Besänftigende zum Hoffnungsträger für die Bewältigung des eigenen, noch ungelösten Konflikts gemacht. Nachdem Enite ihre triuwe durch die Warnung vor dem Grafen Galoein erneut unter Beweis gestellt hat, wird sie schließlich durch Erec von der Last des Pferdedienstes befreit, indem er die restlichen sieben Tiere an den Wirt verschenkt — eins hatte er bereits dem Knappen des Grafen überlassen (V. 3559 ff., 4005ff.). Enites Bewährung besteht nunmehr darin, dass sie gegen den Willen Erecs die Führung f ü r Erec übernommen hat. Insofern spiegelt, wenn man so will, das eigentümliche Szenarium nach dem Aufbruch, bei dem Erec seine Frau mit der Auflage, unter allen Umständen zu schweigen, vor sich herreiten lässt, noch einmal die vormaligen Bedingungen am Hof. Zwar geht es jetzt u m ein Arrangement der Trennung, entscheidend ist aber, dass Enite diesmal nicht gefügig ist, sondern gegen den erklärten Willen Erecs in dessen Interesse agiert und redet. Die vorgebliche >Strafe< des Pferdedienstes lässt sich dabei auch so lesen, dass Enite, nachdem sie eine bewusste Kommunikationsleistung des Redens und Warnens erbracht hat, nunmehr auch mit der Führung wilder Pferde betraut werden kann. Sinnbild für einen neuen geläuterten Zustand Enites ist nun das Pferd, das sie aus den Händen von Guivreiz' Schwestern empfängt. Es hat eine gänzlich weiße und eine gänzlich schwarze Seite, die durch einen grünen Strich getrennt sind und löst das auf der Flucht von Limors, dem Schloss des Grafen Oringles, abhanden gekommene Pferd ausTulmein ab (V. 7264—7797). Hartmann betont freilich, wo Chretien noch auf eine Kontinuität in der Ersatzfunktion des Pferdes abhebt (V. 7272—7273), das unvergleichlich Höherwertige des neuen (V. 7286—7289). Anders als bei dem Pferd inTulmein tritt Enite nun auch erstmals bildlich als Reiterin in Erscheinung (V. 7791ff.). Die Fokussierung auf die Knechtsfunktionen zeigte Enite ja bei aller Idealität als Gefährdete gegenüber den kraftvollen Tieren und Unterlegene gegen-

Enite und die Pferde

365

über den Männern. Nunmehr sitzt sie a u f dem Pferd in der Haltung derjenigen, die sich die Kräfte des Tieres Untertan gemacht hat. Die markante Zweifarbigkeit des Tieres bezeichnet sowohl Differenz wie Integration, die Differenz von weiß und schwarz, sanft und wild, weiblich und männlich, aber auch die Vermittlung dieser Polaritäten durch eine grüne Linie und die integrative Beherrschung beider Teile durch die Reiterin, die auf dem Pferd sitzt. Folgerichtig nimmt Enite das Pferdegeschenk auch in eigener Verantwortlichkeit an (V. 7283—7284) — ohne Erec als restriktiv-vermittelnde Instanz wie noch in Tulmein. Und anders als ihre Erniedrigung, die sie durch Männer erleidet, findet ihre Selbstherrschaft nun Ausdruck darin, dass sie das Pferd von Frauen erhält. Ja, die beiden Schwestern werden von Hartmann namentlich als Personen von großer Tugend eingeführt (V. 77717787). Das Pferd stellt jetzt nicht mehr Prüfung und Aufgabe in einem männlich dominierten Kontext dar, sondern steht für eine erworbene Qualität im Rahmen eines weiblichen Lebenszusammenhangs. 19 Freilich haftet diesem Pferd auch etwas defizitär Unmännliches an, hatte Guivreiz es doch einem Zwerg entwendet und an seine Schwestern weitergegeben, weil der Sattel für einen erwachsenen Mann zu klein war (V 7395-7436).

V. Schauen wir also zurück auf die Paardynamik des Romans, so erscheinen die Pferde als eine wichtige Instanz der symbolischen Vermittlung mit einer grundsätzlich ambivalenten Wertigkeit. Sie sind sowohl Spiegelfläche triebhafter, gesellschaftsfeindlicher Anteile als auch selbstbeherrschter Sanftheit. Im Bild des platonischen Rossegleichnisses treten sie sozusagen abwechselnd als schwarze, widerständige und weiße, fügsame Rosse auf. Der fügsame willige Pferdekörper ist dabei unmissverständlich einer fügsamen, sanften Enite zugeordnet. Als zweimalige Besitzerin solcher Pferde liegt diese Beziehung offen zu Tage und bestätigt fürs Erste eine höfische Konvention idealisierender geschlechtsspezifischer Zuschreibung. Für Enites Verhältnis zu den >schwarzen, widerborstigem Rössern gilt hingegen, dass Enite mit ihnen eine bis dahin versäumte Leistung der Triebregulation abverlangt wird. Im Rahmen dieser ist es ihr sozusagen auferlegt, die >schwarzen< in >weiße< Pferde zu verwandeln, teils

19

Mit den Attributen des Pferdes, seinen Farben, seiner Gestalt, seiner Herkunft und seiner Ausrüstung ist überdies eine weitere Symbolebene verbunden, die in der Literatur eine detaillierte Ausdeutung erfahren hat. Vgl. vor allem Petrus W. Tax, »Studien zum Symbolischen in Hartmanns Erec«, ZfdPh 82 (1963), 29-44, und Heimo Reinitzer, »Über Beispielfiguren im Erect, DVjs 50 (1976), 597-639, hier: 615ff.

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Irmgard

Gephart

als bewusste Lenkerin derselben, teils aus einer Position heraus, in der sie selbst die unbewussten Züge eines weißen, anpassungswilligen Rosses zeigt. Bemerkenswert ist hier nunmehr, dass eine tiefere Beziehung Erecs zu den Pferden auf den ersten Blick verdeckt bleibt. Seine Person bleibt gleichsam hinter den Körpern der Pferde verborgen. Wenn er Enite die Pferde der Räuber aufbürdet, tritt er nicht aus seiner Herrscherrolle heraus, und sein triebhaftes, unbeherrschtes Ich, das in Konflikt mit den gesellschaftlichen Ansprüchen geraten war, bleibt in Gestalt der Tiere veräußerlichtes Objekt. Auf der Aventiurenfahrt erhält Erec nun die Gelegenheit, Räuber und zwielichtige Grafen, die als begehrliche Männer in Erscheinung treten, zu besiegen und mit ihnen auch die eigenenTriebimpulse.Der siegreiche Kampf mit dem männlichen Bösen meint dabei auch die Uberwindung eigener Schattenwelten. Schwierige Selbstanteile gibt er überdies mit den Pferden seiner Ehefrau weiter. Enite drängt der Kontakt mit den fremden Rössern zunächst in eine Knechtsrolle, von der Erec allerdings grundsätzlich verschont bleibt. Zwar wird er im zweiten Guivreiz-Kampf unterliegen und hat über verschiedene Stationen hinweg an seinen Wunden zu leiden, eine >Verknechtung< seiner königlichen Erscheinung aber ist tabu. Wo Enite einem Wandel zwischen Knechtschaft und Erhöhung unterworfen wird, den sie an und mit den Pferden durchlebt und in dem sie zunächst in eine untergeordnete Abhängigkeit von wilden, männlichen Triebwelten hineingestellt wird, tritt Erec nie aus seiner königlichen Rolle heraus. Seine Triebwelt wird abgespalten und nur symbolisch vermittelt über die Pferde bzw. die Räuber und andere Negativgestalten ins Spiel gebracht. So bleibt seine herrscherliche Aura, die keine Ambivalenzen zulässt, auch in der Thematisierung von niederen Triebregionen unangetastet. Der animalische Schatten des königlichen Körpers wird nur für den sichtbar, der genauer hinsieht. Als solcher aber ist der enge Konnex zwischen Mann und Pferd, als sowohl glanzvolles wie problematisches Spiegelverhältnis männlicher Kraft und Wildheit, im Roman sehr präsent, und Enites Verhältnis zu den Pferden gewinnt seinen tieferen Sinn erst vor dem Hintergrund der imaginären Verbindung zwischen Erec und den Pferden. Die Figur Enites wiederum wird zwar keinem so weitreichenden Tabu unterworfen wie Erec und ist Trägerin ambivalenter Zuschreibungen. Dafür erscheint sie jedoch generell depersonalisiert, um nicht zu sagen: devitalisiert. Abwechselnd zum dämonisierten und idealisierten Objekt gemacht, ist sie bei Hartmann am Ende kaum mehr als eine Projektionsfläche Erecs.20 Immer wieder von >bösen< Männern in eine Opferrolle gestoßen, dient sie in dieser den >guten< Männern vornehmlich dazu, moralisch wertvolle Qualitäten des Schutzhandelns und des Mitleidens unter

20

Vgl. Bennewitz (wie Anm. 8), 13-14.

Enite und die Pferde

367

Beweis zu stellen, sofern sie nicht als Erzieherin in Anspruch genommen wird. Die, wenn man so will, >zivilisiertebesänftigende< Qualität Enites gebunden wird, die es lernt, Pferde und Männer zu fuhren und zu regulieren. Wo triebgebundene männliche Aggressivität konstitutioneller Bestandteil einer kriegerischen Gesellschaft ist, wird offenbar die soziale Rolle der Frau kompensatorisch in den Dienst eines gesamtgesellschaftlichen Gleichgewichts genommen. Die Leerstelle, die allerdings im poetischen R a u m dort entsteht, wo die idealen Körper der adligen Protagonisten nur bedingt als Zeichenträger einer problematischen Triebhaftigkeit verfügbar sind, wird im Erec-Roman durch die Körper der Pferde ausgefüllt, auf denen sich die mehr oder minder kreatürlichen oder zivilisierten Eigenschaften ihre Besitzer abbilden.

Stefanie Schmitt

Riesen und Zwerge: Zur Konzeptualisierung des gegnerischen Körpers im Wigalois Wirnts von Grävenberg und seinen frühneuzeitlichen Bearbeitungen Abstract: Generally speaking, the body of the Arthurian knight is perceived only by his cultural exterior appearence: his weaponry. In W i r n t of Gravenberc s Wigalois, this aspect changes with regard to the opponents of the Otherworld w h i c h do not fit into the courtly ideal of a knight because of their being giants or dwarfs. T h e descriptions of these figures show the contrast between their uncourtly bodies and their courtly armaments.

Der Körper 1 des arthurischen Ritters ist wie der der höfischen Dame (auf den ich hier nur am Rande eingehe) ein semiotisch aufgeladenes kulturelles Konstrukt; seine hervorstechenden Eigenschaften sind Schönheit und Idealität. Primär richtet

Z u m Körper in der deutschen Literatur des Mittelalters vgl. Klaus R i d d e r , Otto Langer (Hrsg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Z e n t r u m für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18.—20. M ä r z 1999), B e r lin 2002; Ingrid Bennewitz, Ingrid Kasten (Hrsg.), Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur, Münster 2002; Ingrid Bennewitz, Helmut Tervooren (Hrsg.), »Manlichiu wtp, wipltch man«. Zur Konstruktion der Kategorien >Körper< und >Geschlecht< in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin 1999. Zur h ö f i schen Epik vgl. insbesondere ζ. B. Barbara Haupt, »Der schöne Körper in der höfischen Epik«, in: R i d d e r , Langer (wie oben), 47—73; Klaus Ridder, »Gelehrtheit und H ä ß l i c h keit i m höfischen R o m a n « , in: ebd., 75—95; Ingrid Kasten, »Häßliche Frauenfiguren in der Literatur des Mittelalters«, in: Bea Lundt (Hrsg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, M ü n c h e n 1991, 2 5 5 - 2 7 6 ; Karina Kellermann, »Entstellt, verstümmelt, gezeichnet - W e n n höfische Körper aus der Form geraten«, in: Iris Denneler (Hrsg.), Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt a . Μ . u.a. 1999, 3 9 - 5 8 ; R o y A. Wisbey, »Die Darstellung des Häßlichen im H o c h - und Spätmittelalter«, in: Wolfgang Harms, L. Peter Johnson (Hrsg.), Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger C o l l o q u i u m 1973, Berlin 1975, 9 - 3 4 . Übertrieben ist die Position von Silke Philipowski, die den Körper als »erste, letzte und gültige Kategorie einer höfischen Logik« untersucht (S. P., »Geste und Inszenierung. Wahrheit und Lesbarkeit von Körpern i m h ö f i schen Epos«, PBB 122 [2000], 4 5 6 - 4 7 7 , Zitat: 467). - Kritische Auseinandersetzung mit d e m >Körperdiskurs< in den Literaturwissenschaften bei Caroline B y n u m , » W a r u m das ganze Theater mit d e m Körper? Die Sicht einer Mediävistin«, Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 4 (1996), Η. 1, 1 - 3 3 ; Gideon Stiening, »Body-lotion. Körpergeschichte und Literaturwissenschaft«, Scientia poetica 5 (2001), 1 8 3 - 2 1 5 .

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Stefanie

Schmitt

sich die Aufmerksamkeit jedoch nicht auf den Körper des Ritters selbst, sondern auf seine Rüstung und damit dessen kulturell bedingte Außenseite. König Joram, der als Provokateur eine zentrale Rolle für die Handlungsauslösung im Wigalois2 spielt, wird bei seinem ersten Auftritt als »schcener riter« (V. 261) mit meliertem lockigem Haar (V. 267) in einem prächtigen scharlachroten Gewand eingeführt. Bei seinem zweiten Auftritt bestimmt die glänzende, farbenfrohe Rüstung die Wahrnehmung des als »tugenthaft« (V. 390) charakterisierten Fremden: sin zimier was ein kröne; ein groz rubin dar inne lac; diu krone lühte als der tac von golde und von gesteine. sin angest diu was kleine, sin wäpenroc von borten was; ein samit grüene alsam ein gras was ze der banier gesniten. sus kom der riter dar geriten. üf sinem schilte lac ein ar; der was von rotem golde gar, daz ander von lazüre. (V. 395—406)

Jorams Helm wird von einer mit Gold und Edelsteinen verzierten Krone geschmückt, auf sein Oberkleid sind kostbare Borten genäht, sein Banner ist aus grasgrünem Samt gefertigt und sein lasurblauer Schild trägt einen rotgoldenen Adler. Als >schön< gilt dieser Ritter offenbar weniger aufgrund bestimmter Merkmale seines Körpers als vielmehr wegen seiner ungemein prächtigen Ausstattung. 3 Wahrgenommen wird der Körper dieses Ritters hier also nur indirekt in seiner kulturellen Verbrämung. Der ritterliche Körper selbst rückt im Wigalois erst in Ausnahmesituationen in den Blick, wenn nämlich der nach dem Drachenkampf vor Erschöpfung ohnmächtige Wigalois durch das arme Fischerpaar seiner Rüstung beraubt wird. Die Schönheit seines mit den Attributen »wünniclich« (V. 5434), »süberlich« (V. 5435) und »süeze« (V. 5435) versehenen schneeweißen Leibes und seines lockigen blonden

2

3

Alle Zitate aus dem Wigalois aus: Wirnt von Gravenberc, Wigalois. Der Ritter mit dem Rade, hrsg. von J. Μ. N. Kapteyn, Bonn 1926. Vgl. ähnlich auf die Rüstung fokussiert auch die Beschreibung von Iders vor dem Sperberkampf in Hartmanns Erec,V. 732—745, bei der Hartmann den Kontrast zwischen der prächtigen Ausstattung Iders und der armseligen Rüstung Erecs (V. 746750) herausstellt (Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner, Tübingen 1985 (ATB 39)).

Riesen und Zwerge

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Haares4 bewahren ihn davor, von der Fischersfrau umgebracht zu werden. Anders als der Körper des wahnsinnigen Iwein, der schwarz und ganz und gar unhöfisch wird, 5 verliert der Körper von Wigalois nicht seine Schönheit und alle Attribute von Adel, Höfischheit und Reichtum. Das könnte damit zusammenhängen, dass es bei Wigalois nicht wie bei Iwein eine innere Krise gibt, die sich am Körper ausdrückt, 6 sondern nur die Erschöpfung nach dem Drachenkampf als vergleichsweise >äußerlichen< Grund für Ohnmacht. 7 Im Wigalois gibt es, wie in anderen Dichtungen auch, Figuren, deren Körper aufgrund übermäßiger oder geringer Größe von vornherein nicht dem höfischen Ideal entsprechen, bei denen der kulturelle Code also nicht erfüllt wird. Es wäre zu erwarten, dass solche Abweichungen in den Fokus gerückt werden, doch das ist normalerweise nicht der Fall. Bei den beiden Riesen etwa, die das vom Artushof geraubte höfische Fräulein misshandeln und sich dadurch als unhöfisch qualifizieren, richtet sich die Aufmerksamkeit nur auf die für den Kampf relevanten Eigenschaften: auf ihre Stärke (V. 2065) und den Ast, den einer der beiden als Stegreifwaffe benutzt (V. 2114-2136). 8 Der Umgang mit den abweichenden gegnerischen Körpern verändert sich im Wigalois, wenn die Riesen und Zwerge einer Gegenwelt angehören, in der eigene Gesetzmäßigkeiten gelten. Um sich hier behaupten zu können, muss der Protagonist eigens ausgerüstet und initiiert werden. Anders als sonst verfügen Riesen und

4

3

6

Vgl. Wirnt von Gravenberg, Wigalois,V. 5434-5444. Bei Wigalois' Erwachen (V. 5793f.) werden nur seine Nacktheit und sein blutverschmiertes, verfilztes Haar erwähnt. Hartmann von Aue, Iwein, hrsg. von G. Ε Benecke und K. Lachmann, neu bearb. von Ludwig Wolff, 7. Ausg., Berlin 1968, V. 3347-3349; V. 3356-3359. Zu Iweins Wahnsinn vgl. Walter Blank, »Der Melankoliker als Romanheld. Z u m deutschen Prosalancelot, Hartmanns Iwein und Wolframs Parzival«, in: Andre Schnyder u.a. (Hrsg.), »1st mir getroumet min leben?« Fs. Karl-Ernst

7 8

Geith, G ö p p i n g e n 1998, 1 - 1 9 , hier:

10-15; Dirk Matejovski, Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung, Frankfurt a.M. 1996, 122-146; Wolfram Schmitt, »Der >Wahnsinn< in der Literatur des Mittelalters am Beispiel des Iwein Hartmanns von Aue«, in: Jürgen Kühnel u.a. (Hrsg.), Psychologie in der Mediävistik, Göppingen 1985, 197-214. Vgl. Matejovski (wie Anm. 6), 148-150. Auch bei den beiden Riesen, die Erec besiegt, um Oringles zu befreien (Hartmann von Aue, Erec [wie Anm. 3],V 5381-5390), und beim Riesen Harpin aus dem Iwein (wie Anm. 5),V. 5017—5022, werden abgesehen von ihrer Größe keine körperlichen Eigenschaften erwähnt. An beiden Stellen wird jedoch die Differenz zum Ritter herausgehoben, wenn das Fehlen ritterlicher Ausrüstungsgegenstände und die Bewaffnung mit Keulen angeführt werden. Bei diesen Riesen setzt der kulturelle Code den Maßstab fur die Abweichung. Etwas anders im Riesenkampf auf der Burg zum Schlechten Abenteuer: Hier wird die enorme Bewaffnung der beiden Riesen zwar erwähnt, doch im Kampf spielt nur die typische Keule eine Rolle (ebd.,V. 6676-6686).

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Stefanie

Schmitt

Zwerge nun über eine Ritterrüstung als kulturell bestimmte Außenseite, die freilich ihre Besonderheiten haben kann. Körperliche Merkmale selbst werden nur bei auffälligen Abweichungen in den Blick g e n o m m e n . Ich m ö c h t e im Folgenden zeigen, wie die Körper der gegenweltlichen Gegner in Wirnts Wigalois über den kulturellen C o d e des Ritters gestaltet werden. Zieht m a n die beiden frühneuzeitlichen Bearbeitungen: den Prosa- Wigoleis (Erstdruck 1479) u n d Ulrich Füetrers strophischen Wigoleis (entstanden wohl zwischen 1478/1481 und 1484) z u m Vergleich heran, so zeigt sich, dass dieses kulturell bedingte Muster ausfällt. A n den drei Wigalois-Fzssungen

lässt sich also die Veränderung literarischer Körperkonzepte u n d

ihre B i n d u n g an Darstellungstraditionen aufzeigen. N a c h d e m Wigalois eine R e i h e von äventiuren bestanden u n d sich dadurch auch in den Augen der zunächst sehr widerstrebenden Botin Nereja für die Befreiung von Korntin qualifiziert hat, wird er von d e m in ein schönes Tier verwandelten König Lar in eine Gegenwelt eingeführt. Ausgestattet ist er gegen deren W i d r i g keiten u n d den Kampf gegen das Teuflische mit einem Zauberbrot, einem an seinen Speer gebundenen geweihten Brief u n d einer Zauberblüte. 9 Wigalois begegnet hier zunächst d e m Drachen Pfetan, dann der Riesin R u e l , d e m Zwerg Karrioz, d e m kentauren-ähnlichen U n g e h e u e r Marrien u n d schließlich seinem Hauptgegner R o a z . D a sich weder der Drache n o c h das U n g e h e u e r auf höfische Körperkonzepte beziehen lassen, berücksichtige ich nur den Z w e r g u n d R o a z sowie in einem Seitenblick die Riesin R u e l .

I. D e r Z w e r g Karrioz, der die mit 60 Speeren gespickte Brücke nach Glois hütet, wird zunächst scheinbar gemäß d e m bekannten Muster als ein z u m Kampf gerüs-

Wirnt von Gravenberg, Wigalois, V. 4321—4534. - Zur Konfrontation mit dem Teuflischen, die den ganzen zweiten Teil des Wigalois prägt, vgl. Klaus Grubmüller, »Artusroman und Heilsbringerethos. Zum Wigalois des Wirnt von Gravenberg«, PBB Tüb. 107 (1985), 218-239, hier: 229-237; zur besonderen Qualität von Wigalois' äventiure als Beseitigung einer Störung der kosmischen Ordnung Cora Dietl, »Wunder und zouber als Merkmal der äventiure in Wirnts Wigalois?«, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven,Tübingen

2003, 297—

311, v. a. 302: »Wigalois' äventiure, die im Zentrum des Romans steht, hat es mit einer sehr viel grundlegenderen Störung der höfischen Ordnung zu tun als die >normalen< [sie!] äventiure der >normalen< Artusritter. Sie ist von Anfang an überschattet von den Motiven Tod und Teufel. Diese beiden sind keine Störungen nur der höfisch-arthurischen Ordnung, sondern der menschlichen und kosmischen Ordnung.«

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teter R i t t e r mit einer prächtigen Ausstattung vorgestellt: 10 sein Pferd ist mit einer Decke aus j e zur Hälfte grasgrünem u n d blutrotem Samt bedeckt, sein leuchtend weißer, mit einem schmalen goldenen Streifen umrandeter Schild zeigt am Buckel eine kunstvolle goldene Blume und bildet eine golden und lasurblau glänzende Säule ab, auf der z u m Zeichen der religiösen Zugehörigkeit des Zwerges Mahmet sitzt. N i c h t recht zur bis dahin ganz dem höfischen C o m m e n t entsprechenden Ausstattung passen will das Löwenfell, das an seinem Halsberg befestigt ist. Der durch eine rotgoldene Leiste zweigeteilte H e l m glänzt von Gold u n d Edelsteinen in jeder Größe, u n d obenauf befindet sich ein R u b i n , der größer ist als ein Ei. N a c h d e m der Blick des Rezipienten durch die Beschreibung zunächst von der Pferdedecke über Schild u n d Halsberg aufwärts zum prachtvollen H e l m gefuhrt w o r den ist, wird er anschließend wieder nach unten, ze tal, und damit auf den K ö r p e r gerichtet. In krassem Gegensatz zur Pracht der R ü s t u n g steht die körperliche Statur dieses >RittersBeweis< dieser Körperkraft ist die Fähigkeit, mit bloßen H ä n den einen Löwen zu fangen, die durch das Löwenfell am Halsberg f ü r j e d e n sichtbar gemacht wird.

10

Wirnt von Gravenberg, Wigalois, V. 6549-6614.

374

Stefanie Schmitt

Die Erscheinung des Zwerges zeichnet einen Widerspruch zwischen der höfischen Außenseite, der wertvollen Rüstung, und der körperlichen Beschaffenheit, dem zwergenhaften zottigen Leib, aus. Die Beschreibung stellt erst die fur die Darstellung eines kampfbereiten und -fähigen Ritters relevanten Aspekte in den Vordergrund und wendet sich dann den Abweichungen zu, als deren Ursache die Abstammung von der wilden Frau benannt wird. Dass das Höfische tatsächlich nur die Außenseite ist, wird auch später im Kampf deudich, wenn Karrioz nach den Speeren zu einem Kolben als unhöfischer Waffe greift (V. 6669). 11 Die zunächst in den Vordergrund gestellte Vorbildlichkeit des Zwergenritters entpuppt sich als trügerisch, was an seinem Anblick sichtbar wird: Es besteht ein Widerspruch zwischen seiner höfischen Ausstattung und seinem (dadurch teilweise verdeckten) unhöfischen Körper. Dieser Kontrast geht in den frühneuzeitlichen Fassungen verloren, denn Wirnts detaillierte Beschreibung der Rüstung wird in der Prosafassung auf die Bemerkung reduziert, dass der Zwerg »wol verwapnet / vnd vast kostlich gezymieret« (Fiiii) sei;12 bei Ulrich Füetrer fehlt selbst das. Den Akzent setzen beide Dichtungen auf die Diskrepanz zwischen der geringen Körpergröße und der enormen, nämlich 40 Männern entsprechenden Stärke von Kariös. 13 Die als erstaunlich (als wunder) gekennzeichnete Abweichung von >normaler< menschlicher Statur wird in der Prosafassung auf die Abstammung von einer wilden Frau und die Geburt im absolut außerhöfischen Bereich (»an wilden enden eines wuesten walds«, Fiiii) zurückgeführt: »darumb was nit wunder ob die natur sein lidmaß vnd gestalt geformieret vnd ander würckung geben hett / dan andern menschen« (Fiiii). Ein an Größe und Kraft >normaler< menschlicher Körper löst das um 1500 offenbar nicht mehr gleichermaßen wie im 13.Jahrhundert gültige kulturelle Konstrukt des Ritters als Maßstab ab. Festzuhalten ist, dass der Zwerg bei Wirnt über die Beschreibung seiner Rüstung am kulturellen Muster des Ritters teilhat, dass aber gleichzeitig die dazu im Widerspruch stehenden Merkmale seines Körpers hervorgehoben werden. Die Abweichung vom kulturellen Code liegt, anders als bei den eingangs erwähnten Riesen, in seiner Körperlichkeit, nicht im Fehlen der Rüstung. In den frühneuzeitlichen Fassungen verschiebt sich der Akzent: Im Vordergrund steht nicht der Widerspruch zwischen der Rüstung als Teil des kulturellen Codes und der Statur,

11

12

13

Stephan Fuchs, Hybride Helden: Gtvigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. fahrhundert, Heidelberg 1997, 164. Alle Zitate nach: Wigoleis. Mit einem Vorwort von Helmut Melzer, Hildesheim, N e w York 1973. Wigoleis, Fiiii; Ulrich Füetrer, Von Wigoleis, in: U. F., Das Buch der Abenteuer, Teil 2, hrsg. von Heinz Thoelen, Göppingen 1997, Str. 3004—3320, hier: Str. 3229 (alle weiteren Zitate nach dieser Ausgabe).

Riesen und Zwerge

375

sondern der Kontrast zwischen zwei Körpereigenschaften: zwischen der geringen Körpergröße und der übergroßen Kraft.

II. Auch beim Riesen R o a z , der für das Desaster auf Korntin verantwortlich ist, fällt zunächst der Unterschied zu den oben erwähnten Riesendarstellungen auf. W i r n t hebt nicht nur seine übermäßige G r ö ß e hervor (»michel als ein gigant«,V. 7354), sondern beschreibt ihn ausfuhrlich als einen in Rittermanier bewaffneten Riesen mit besonders gefährlichen Waffen: 1 4 Z u R o a z ' A u s r ü s t u n g gehören ein tödlich scharfes Schwert, das so breit ist wie eine Handspanne; ein mit einem goldenen, von Edelsteinen verzierten Buckel versehener, mit einem goldenen u n d blauen Drachen bemalter Schild, der groß genug wäre, u m von einem normalen M a n n auf d e m R ü c k e n getragen zu werden, und der aufgrund seiner Festigkeit als Brücke taugen würde; ein mit H o r n besetzter, glänzender Brustharnisch mit in Gold gefassten Einlegearbeiten aus R u b i n u n d anderen Edelsteinen; ein mit einer goldenen Leiste verzierter H e l m aus indischem Stahl, das härter als Glas sei, auf dem ein in Email gefasster Diamant sitzt, der einen goldenen, lebensecht scheinenden Drachen trägt.Vergleichsweise unspektakulär ist die E r w ä h n u n g seiner hochwertigen Eisenhosen. D e r Gegner wird durch die Beschreibung als hervorragend ausgerüsteter Riesenritter inszeniert; er >passt< ins kulturelle Muster des Ritters.Trotzdem weicht auch er von ritterlicher N o r m ab: durch die U b e r g r ö ß e seiner Ausrüstung, nicht durch ihr Fehlen, und durch die fremdartigen Materialien: das heidenische were der Hornplatten auf seinem Harnisch und den harten indischen Stahl seines Helmes. Wichtig ist, dass der Riese durch diese Beschreibung nicht wie die meisten anderen Riesen (vgl. etwa Harpin) als unhöfisch charakterisiert wird. 1 5 Wer einen an K ö r p e r u n d R ü s t u n g so mächtigen Gegner wie R o a z besiegen will, braucht exorbitante kämpferische Fähigkeiten, die Wigalois in der nach dem Muster des Ritterkampfes gestalteten Auseinandersetzung unter Beweis stellt, indem er ihn schließlich besiegt: 16

14 15

Vgl. Wirnt von Gravenberg, Wigalois, V. 7353-7394. Vgl. Kerstin Schmitt, »Kontrollverlust und Fragmentierung. Männlichkeit und Monster in Strickers Daniel von dem Blühenden Tal«, in: Martin Baisch u.a. (Hrsg.), Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit

16

in der Literatur des 13. Jahrhunderts,

Göttin-

gen 2003, 51-76, hier: 57. Zum Kampf gegen Roaz vgl. die überzeugende Interpretation von Stephan Fuchs (wie Anm. 11), 173-182.

376

Stefanie Schmitt her Gwigälois den heiden mit des swertes orte nam. dö er im so nähen kam, er kloup im brünje und isengwant; durch die brüst er im zehant sluoc eine starke wunden, da von er überwunden sich dem tode muose ergeben. (V. 7655—7662)

Anders als andere Riesen wird Roaz also bei Wirnt als Riesenritter in das kulturelle Muster integriert; die Abweichung davon liegt im Hyperbolischen seiner Ausrüstung und nicht, wie bei Karrioz, im Widerspruch zwischen höfischer Außenseite und unhöfischem Körper. Da Roaz' Körper sich nur in seiner Größe vom dem eines >normalen< Ritters unterscheidet, ist auch nur dies erwähnenswert. In den frühneuzeitlichen Fassungen verschwindet auch bei Roaz der Ritter als literarisch und kulturell gebundenes Darstellungsmuster. Die ritterliche Ausrüstung des Riesen ist nicht mehr der Rede wert, man erfährt im Prosaroman lediglich wie bei Karrioz, dass er »wol verwapnet« (Giiiiv) sei. Der Akzent verlagert sich auf ein moralisches Defizit, wenn die »hofFart« (Giiiiv) bzw. »hochvart« (Füetrer, 3260) des Riesen betont wird. Roaz erscheint als Verkörperung von superbia, ein Aspekt, der bei Wirnt nicht vorhanden ist. Es ist konsequent, dass in der Prosafassung Roaz' Überheblichkeit im Kampf mehrfach zur Schau gestellt wird, wenn er seinen Gegner geringschätzig behandelt (Hiv). Hier wird gegen Ende des 15. Jahrhunderts noch einmal eine besondere Form der Auslagerung des Bösen in die Gegenwelt im nachklassischen Artusroman greifbar: Der Protagonist muss nicht das Schlechte in sich bewältigen, denn er ist ja von vornherein der ideale Held, sondern es tritt ihm in Gestalt des Gegners gegenüber und wird selbstverständlich besiegt.17

III. Einen kleinen Seitenblick möchte ich noch auf die Beschreibung der Riesin Ruel werfen, bei der der Kontrast zur höfischen Dame ins Zentrum rückt. 18 Bei Wirnt

17

18

Vgl. zum krisenlosen Helden und zur Auslagerung des Bösen in die Gegenwelt ζ. B. Walter Haug, »Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer >nachklassischen< Ästhetik«, DVjs 54 (1980), 204-231, insbes. 211;W H., »Über die Schwierigkeiten des Erzählens in >nachklassischer< Zeit«, in: W. H., Burghart Wachinger (Hrsg.), Positionen des Romans im späten Mittelalter',Tübingen 1991,338-365,insbes. 343-345. Wirnt von Gravenberg, Wigalois,V. 6287-6353.Vgl. Werner Schröder, »Der synkretisti-

Riesen und Zwerge

377

dient bekanntlich das mit den Vergleichsfiguren Larie,Enite u n d j e s c h u t e evozierte, mit bestimmten körperlichen Merkmalen (!) verbundene höfische Schönheitsideal als Folie, von der sich die Gestalt der Riesin R u e l abhebt. Das gänzliche Fehlen von Schönheit u n d höfischem B e n e h m e n sticht bei diesem ungestalten Wesen mit dicken Beinen und k r u m m e n Füßen (V. 6348) ins Auge: Ihr buckliger, auf der Brust n o c h einen H ö c k e r tragender Körper ist schwarz und zottig wie der eines Bären, das lange Haar hängt ihr verfilzt auf die H ü f t e n hinunter, ihr Kopf ist groß, in ihrem behaarten Gesicht sitzen eine platte Nase und zwei funkelnde Auglein mit langen grauen Brauen, sie hat große Z ä h n e in einem breiten M u n d und Schlappohren wie ein H u n d (V. 6287—6300). D e r die descriptio unterbrechende Hinweis des Erzählers, dass Larie dreimal so schön sei (V. 6301—6303), kann nur ironisch gemeint sein; gleiches gilt für die Überlegung, dass derjenige, der von R u e l »hohen muot« (V. 6307) gewinne, Enite als zweifellos schönste Frau am Artushof nicht kenne (V. 6308-6313). Ganz unvereinbar mit d e m hier aufgerufenen Schönheitsideal sind auch Ruels zwei großen Taschen gleich an den Seiten herunter hängende Brüste u n d die Greifenklauen an den mit harten Ballen versehenen Händen. 1 9 Als wäre der Kontrast n o c h nicht deutlich genug, bietet der Erzähler n o c h die schöne Jeschute aus Wolframs Parzival auf, die R u e l so ähnlich sei wie eine Biene einer Geiß (V. 6339): während R u e l ungeheuerlich (»ungehiure«,V. 6340) sei, sei Jeschute alles fremd, das »vrouwen libe ie missezam« (V. 6342). So wie sich die Beschreibungen des Zwergs Karrioz u n d des Riesen R o a z am Konzept des Ritters orientieren, so wird auch Ruels Gestalt im Kontrast zu einem kulturell kodierten Körperkonzept plastisch: dem schönen, durch seine Beschaffenheit minne hervorrufenden Frauenkörper. Mehrfach ruft der Erzähler die absurde Vorstellung von R u e l als höfischer amie auf, nicht o h n e hervorzuheben, dass von ihr nur »sürez truten« (V. 6324) zu erwarten sei u n d dass die Minnegemeinschaft mit ihr u n a n g e n e h m e Folgen habe: ein kurziu naht diu machet in alt swer bi ir solde sin gelegen; so süezer minne künde si pflegen (V. 6350—6352).

sehe Roman des Wirnt von Gravenberg. Unerledigte Fragen an den Wigalois«, Euphorion 80 (1986), 235-277, hier: 253-255; Barbara Seitz, Die Darstellung häßlicher Menschen in mittelhochdeutscher erzählender Literatur von der Wiener Genesis bis zum

Ausgang

des 13. Jahrhunderts, Diss.Tübingen 1967, passim; Grubmüller (wie Anm. 9), 231 f.; Jutta Eming, »Studien zum Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum Bei Inconnu, z u m Wigalois u n d z u m Wigoleis vom Rade«, Trier 1999, 198f. 19

Zur Darstellungstradition Wisbey (wie Anm. 1), 27-29.

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Stefanie Schmitt

Der Kontrast zu Aussehen und Verhalten einer höfischen Dame könnte nicht eindrucksvoller illustriert werden. Durch die Vergleiche mit Larie, Enite und Jeschute rücken bei Wirnt die Defizite gemessen am idealen Körper der höfischenfrouwe in den Blick, während die Tiervergleiche (zottig wie ein Bär, Greifenklauen, Schlappohren wie ein Hund) das Monströse betonen. Deudich wird dabei auch ein Unterschied zwischen den kulturellen Konzepten des männlichen und des weiblichen Körpers: Während beim Ritter in der Regel die Rüstung als kulturell kodierte Außenseite im Vordergrund steht, richtet sich der Blick bei der höfischen Dame vorrangig auf bestimmte, stereotyp wiederkehrende und daher kulturell festgelegte körperliche Eigenschaften. 20 W i e schon bei den Beschreibungen von Zwerg und Riese fehlt auch bei R u e l das höfische Gegenbild im Prosa- Wigoleis1'1 wieder ganz, übrig bleibt nur das Monströse der Riesin, die gleich als Teufelin (»valamitin«, Fii) eingeführt wird. In ihrem wie bei einem Affen behaarten Gesicht sitzen riesige Augen und ein breiter Mund, aus dem an beiden Seiten wie bei einem Eber ein Zahn heraussteht, ihr Körper ist von zottigem schwarzem Fell überzogen wie bei einem Bären. Ganz kurz blitzt am Ende der Beschreibung der schöne Frauenkörper als Gegenbild auf, wenn der Erzähler das völlige Fehlen von »hüpschem« und »lopliche[m] an allem irem leib« (Fii) festhält. Auch bei Füetrer fällt die Orientierung am höfischen Körperkonzept weg. Angesichts der von Anfang an verwendeten Bezeichnung »valatein« (3219,7) für die Riesin erscheint auch Wigoleis' Zögern, ob er einer Frau gegenüber sein Schwert gebrauchen dürfe, fast unangemessen (3220), ist sie doch als Frau kaum zu erkennen. Hervorgehoben werden wieder die Eberzähne, das Affengesicht mit tiefliegenden Augen und das schwarze zottige Fell des sich wie ein Bär bewegenden Wesens (3221). Menschliche Züge treten ganz zurück, es entsteht eher der Eindruck, als habe Wigoleis es mit einem wilden Tier zu tun.

IV. Ich versuche eine Auswertung. Die körperliche Statur des nicht mit ritterlicher Norm übereinstimmenden Gegners wird im Wigalois erst in einer Gegenwelt einer genaueren Betrachtung unterzogen. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auf die

20 21

In diese Richtung weisen auch die Befunde von Haupt (wie Anm. 1). Alois Brandstetter, Prosaauflösung. Studien zur Rezeption der hofischen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman, Frankfurt a.M. 1971,40—53, interessiert sich in seinem Vergleich der Beschreibungen nur für rhetorisch-stilistische Abweichungen.

Riesen und Zwerge

379

Abweichungen vom dominierenden kulturellen Muster: die Übergröße und die fremdartigen Materialien von R o a z ' Rüstung bzw. die zwergenhafte Statur und den behaarten Körper von Karrioz, der zudem im Widerspruch zu seiner prächtigen höfischen Ausrüstung steht. Dabei wird noch einmal deutlich, dass der Ritter (wie schon bei Joram) primär über seine Außenseite, nämlich die Rüstung, und eigentlich nicht in seinen körperlichen Merkmalen wahrgenommen wird. Diese werden nur >auffällig< und dann erwähnenswert, wenn die Rüstung fehlt (wie beim ohnmächtigen Wigalois) oder wenn er Eigenschaften aufweist, die im Widerspruch zur höfischen Außenseite der Rüstung stehen (wie das zottige >Fell< von Karrioz) .Wichtiger als der Körper selbst ist beim R i t t e r seine kulturell bestimmte Außenseite. Das scheint bei weiblichen Körpern anders zu sein. Die ganz auf körperliche Merkmale konzentrierte Beschreibung der Ruel und die bekannten Beschreibungen schöner Damen im höfischen R o m a n 2 2 zeigen, dass es zwar auch hier ein kulturell bestimmtes Körperkonzept mit stereotypen Eigenschaften gibt, dass dieses j e d o c h viel stärker am Körper selbst und erst sekundär an seiner kulturellen >Verhüllung< durch Kleidung orientiert ist. An anderen Artusromanen wäre zu prüfen, ob sich die Befunde des Wigalois bestätigen lassen. Für den Daniel des Strickers möchte ich das kurz andeuten. Auch hier werden die Körper der aus der N o r m fallenden Gegner vor allem dann interessant, wenn sie aus dem gegenweltlichen Land Clüse stammen und wenn sie mit Bezug auf das Konzept des Ritters dargestellt werden können (die offensichtliche Faszination des bauchlosen Ungeheuers gehört in den Bereich des Monströsen und lässt sich daher nicht mit höfischen Körperkonzepten in Zusammenhang bringen). Bei der Riesenfamilie bildet die Abweichung vom >typischen< Ritter das Beschreibungsprinzip. D e r die Provokation König Matürs überbringende Botenriese unterscheidet sich natürlich durch seine Größe und Stärke (vgl.V. 4 1 1 ) 2 3 vom >normalen< Ritter; entscheidend aber ist, dass er keine ritterliche Rüstung trägt, »gewaefenes blöz« (V. 412) ist. Das Fehlen von Helm, Halsberg und Schild wird einzeln vermerkt, ebenso das Kamel als Reittier anstelle eines Pferdes. Er trägt ein kunstfertig gewirktes Gewand aus Gold und Seide und hat eine Haut, die härter als Horn sei (V. 433) — und funktional gesehen die Rüstung kompensiert. 2 4

22

23

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Vgl. die Beispiele bei Haupt (wie Anm. l).Vgl. auch die Beiträge von Elisabeth Schmid und Irmgard Gephart in diesem Band. Der Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal, 2., neubearb. Aufl. hrsg. von Michael R e s ler, Tübingen 1985. Schmitt (wie Anm. 15), 57, arbeitet das als Besonderheit aller Riesen im Daniel heraus.

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Schmitt

Das Erscheinungsbild des Riesenvaters, der irritierenderweise als weder zu klein n o c h zu groß beschrieben wird (V. 6910), also nicht die körperliche Statur eines Riesen hat, prägt die Abweichung vom höfischen Muster: Er trägt nur ein seidenes Gewand, nicht mehr, so dass sein Körper wohl weniger >verhüllt< ist als üblich: »swaz anders ieman ane hat, / des gienc er alles sament blöz« (V. 6908f.);mit seiner klaren Gesichtsfarbe u n d gut sitzendem lockigem, grau-weiß meliertem Haar besitzt er sogar Attribute höfischer Schönheit. 2 5 Die Abweichung liegt in der Unvollständigkeit seiner Ausrüstung u n d in d e m gänzlich unhöfischen, eher an die Stange eines Riesen erinnernden Holzstab als Waffe, mit d e m er sich einen W e g durch die Festgesellschaft bahnt. Weil die R ü s t u n g u n d damit die kulturell konstruierte A u ß e n seite des Körpers fehlt, richtet sich die Aufmerksamkeit auf diesen selbst — und es zeigt sich, dass hier keine Ritterfigur auftritt. Das Fehlen der R ü s t u n g bei Riesenvater u n d -söhn k ö n n t e damit zusammenhängen, dass im Daniel weniger der ritterliche Kampf als vielmehr intellektuelle Überlegenheit, list, das Mittel der Wahl zur Beseitigung des Gegners ist. Daher muss dieser nicht primär nach dem kulturellen Muster des Kämpfers kodiert werden, das j e d o c h die Bezugsgröße bildet, die eine Differenz erst erkennbar macht. 2 6 A u c h über die unterschiedlichen Abweichungen, die bevorzugt in einer Gegenwelt mit anderen R e g e l n verortet werden, kann also eine p e r m a n e n t e Verständigung über die gültige ritterliche N o r m stattfinden. Diese Bezugsgröße ist aber an eine bestimmte literarhistorische E p o c h e gebunden, an eine Zeit der vorherrschenden O r i e n t i e r u n g an einem höfischen Wertesystem, u n d wird in den frühneuzeitlichen Fassungen des Wigalois aufgegeben. Das lässt sich sicher nicht nur mit der allgemein bekannten Tendenz zum Verzicht auf Digressionen u n d z u m faktenorientierten Erzählen in den Prosaauflösungen m i t telalterlicher Versromane erklären; 27 dahinter steht auch der Verlust des höfischen

25

26

27

Vgl. ebd., 72, 75; Matthias Meyer, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahr-

hunderts, Heidelberg 1994, 50. Schmitt (wie Anm. 15), 73, sieht in der Konfrontation mit dem Riesenvater als >unritterlichem< Gegner eine Bedrohung ritterlicher Männlichkeit: »Einmal mehr erweisen sich die Standards ritterlich-männlichen Verhaltens als nutzlos im Kampf mit einem unhöfischen, mit besonderen Kräften ausgestatteten Gegner. Ohne die Insignien ritterlicher Männlichkeit, wie Rüstung, Schwert und Pferd reduziert sich der Kampf mit dem alten Mann auf die Kraft und Schnelligkeit des bloßen Körpers. Abermals erscheint ritterliche Männlichkeit bedroht, defizitär und bedarf einer Modifikation durch die list Daniels und eines Hilfsmittels, das durch eine Frau zur Verfugung gestellt wird.« Vgl. Brandstetter (wie Anm. 21), 136-152; Jan-Dirk Müller, »Volksbuch und Prosaroman im 15./16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung«, IASL Sonderheft Forschungsreferate 1 (1985), 1-128, hier: 51 (mit weiteren Literaturhinweisen).

Riesen und Zwerge

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Werte- und Normensystems als selbstverständlicher Referenz. Als neue Bezugsgröße kann (muss nicht), wie bei der Beschreibung von Kariös im Prosa- Wigoleis, eine allgemeine menschliche N o r m eingeführt werden. Ist das nicht der Fall, erscheinen die gegnerischen Körper in den frühneuzeitlichen Fassungen entweder konzeptlos, wild, tierhaft wie Ruel, oder verschwinden fast vollständig, wie Roaz.

Martin Baisch/Matthias Meyer

Zirkulierende Körper. Tod und Bewegung im Prosa-Lancelot

Abstract: D e a d bodies circle t h r o u g h the narrative world of t h e Prose-Lancelot. T h e article follows t h e trajectories of three i m p o r t a n t dead bodies that, in o n e case, span t h e entire expanse o f t h e text, in t h e o t h e r offer i m p o r t a n t aspects of its i n t e r p r e t a t i o n , n a m e l y Galahot, t h e Lady o f Challot and t h e wife of t h e jealous h u s b a n d . T h e article e m p h a sizes t h e aspect o f how, w h y and w h e n d e a d bodies interact w i t h t h e w o r l d they left b e h i n d and h o w this interaction turns bodies into signs and by w h i c h (conventional verbal) signs it is s u r r o u n d e d .

Nach ihrem Tod geraten im Prosa-Lancelot die Körper einer ganzen R e i h e von männlichen wie weiblichen Figuren in Bewegung. Sie zirkulieren so lange im R o m a n geschehen, bis sie eine vorerst letzte Ruhestätte gefunden haben, bis sie auf ihren Fahrten Sinnangebote konstituieren oder Sinnzusammenhänge knüpfen, die sie als Lebende k a u m in Gang setzen konnten. Diskutiert werden in ganz unterschiedlichen Episoden des R o m a n s j e differierende Möglichkeiten des toten Körpers im Akt gesellschaftlicher Kommunikation, beobachtbar ist dabei ein Handeln mit d e m Körper u n d durch den Körper. K ö r p e r im Stadium von Tod u n d N a c h t o d k o m munizieren objekthaft durch ihre Materialität, ihre bloße Fleischlichkeit; sie k o m munizieren aber auch über Schrift, über den Toten beigegebene Briefe, die diese z.T. selbst verfasst haben und die im R o m a n so vorgetragen werden, als wären ihre >Autoren< noch am Leben. Des Weiteren n e h m e n Inschriften Bezug auf die toten Körper. Deren >Schweigen< wird so in R e d e übersetzt, wobei durchaus semantische Spannungsverhältnisse zwischen K ö r p e r und Schrift generiert werden. »Die Verkettung von Tod, Grabinschrift, Geschichtserfahrung, endgültiger Bestattung und erneuter Verschriftlichung formiert sich zur Erfahrung des Todes im M e d i u m der Schrift, die abgeschlossene (historische) Ereignisse enthüllt u n d sukzessiv an eine weitere Öffentlichkeit vermittelt.« 1 Im Folgenden soll näher danach gefragt werden, wer zu diesen toten K ö r p e r n spricht und zu w e m diese K ö r p e r sprechen und wer anstatt dieser Körper spricht. In den zu untersuchenden Kommunikationssituationen wird auch das Problem der Verfügbarkeit bzw. der Unverfügbarkeit des Körpers aufgeworfen. So stellt sich in den Sprechakten, welche die toten Leiber

J u d i t h Klinger, Der mißratene Ritter. Konzeptionen von Identität im »Prosa-Lancelot«, M ü n c h e n 2001 (Forschungen zur G e s c h i c h t e der älteren deutschen Literatur 26), 479.

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begleiten, ebenso die Frage nach der Widerständigkeit des Körperlichen, das sich den narrativen Sinnzusammenhängen entzieht, verweigert oder diese unterminiert. Schrift andererseits changiert zwischen einer Position der Autorität, »der alle Protagonisten uneingeschränkt vertrauen«, und jener »ihrerVerfügbarkeit für Betrug und Lüge«.2 Weiter ist danach zu fragen, weshalb die toten Körper im Prosa-Lancelot in Bewegung geraten. Worin besteht die Funktion solcher Bewegung? Kann man sie als Chiffre verstehen, die den Weg in die >Verstehbarkeitlebendig< bleiben muss, da er am besten die ihm zugeschriebene Funktion erfüllen kann.

I. D e r Eifersüchtige oder: die B u ß f a h r t mit Leiche Lancelot — unterwegs zur Karrenburg — trennt sich auf einer Waldlichtung von einer ihn begleitenden jungen Frau: Sie haben eine Stimme gehört, die um Hilfe ruft. Der Held reitet so schnell er kann los, hält dann aber inne, um noch einmal der Stimme zu lauschen, welche Maria um Beistand anfleht. In der Nähe entdeckt Lancelot ein Zelt; er wird Augenzeuge einer von außergewöhnlicher Aggression und Gewalt geprägten Szene: Ein Ritter schlägt auf eine fast nackte Frau ein und zieht sie an den Haaren neben seinem Pferd her. 3 Die wunderschöne Frau bittet Lancelot erneut um Hilfe. Daraufhin wendet Lancelot sich an den prügelnden Ritter und fordert Gnade für die Frau. Als der fremde Ritter aber nicht auf die Bitten Lancelots eingeht, droht Lancelot ihm. Rasch zieht dieser sein Schwert und schlägt der Jungfrau den Kopf ab: Er zog das schwert und schlug die jungfrauw durch das heubt, das er irs ab det springen, und warffes Lancelot under die äugen und sprach: »Ritter, haltent uch das, und wißent das ichs uch zu leyd han gethan.« (LuGrl, 712)

2 3

Ebd., 484. »Da vor hielt ein gewapenter ritter und ein jungfrauw neben im genczlich nackett, on ir hemd. Er schlug sie fast und zog sie mit dem hare neben sym roß und det ir alle die schände an die er künde, sunder sie zu döten.« (Lancelot und der Gral I. Prosalancelot III. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hrsg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017—8020 der Bibliotheque de l'Arsenal Paris, übers., komment. und hrsg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt a.M. 2003, 710 [= LuGrl])

Zirkulierende Körper. Tod und Bewegung im Prosa-Lancelot

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Aus Furcht vor einem Ehrverlust gerät Lancelot in großen Zorn: Er will Rache nehmen an dem »wunderlichen ritter« (LuGrl, 712). So zieht er auch sein Schwert und rennt den Ritter an. Doch der will sich dem Kampf nicht stellen, sondern wendet sich um und flieht auf seinem Pferd. Eine wilde Jagd setzt so zu Tagesanbruch ein auf, wie der Text betont, herausragenden Pferdekörpern. 4 Bald erreichen sie die Burg des fremden Ritters. Als Lancelot durch das Burgtor hindurch will, stürzt das Falltor hinunter und trennt Lancelots Pferd in zwei Teile. 5 Die Parallele zum Yvain/Iwein ist überdeutlich. Neben der offenkundigen Funktion, bekannte Aventiuren in den Text zu integrieren (und sie auf die neue Hauptfigur zu übertragen), erhält hier Iweins problematische Jagd einen handfesten Grund. Dennoch bleibt der Kern der Szene unverändert - auch in diesem Fall handelt es sich um einen >Kampf ohne Zeugenunmöglichen< Gegner macht. Zum anderen wird, auf der Folie des Iwein-Askalon-Kampfes, dessen Verlauf in den Text hineingeschrieben und der Ringkampf als reguläre letzte Stufe des ritterlichen Zweikampfs an das Ende dieser Sequenz gesetzt. Lancelot aber tötet den Ritter nicht (wie ein ritterlicher Zweikampf, der bereits die Ebene des R i n g -

»wann sin roß wol zwo mylen gelauffen mocht in eim athem - on alleyn das syn pfert schwerer was wann des vorlauffenden ritters« (LuGrl, 712). - Es sind Passagen wie diese, welche die in der Mediävistik ubiquitäre These von der Einheit von R i t ter und Pferd resp. v o m Doppelkörper brüchig werden lassen - denn die Textstelle beleuchtet weniger den equestrischen Doppelkörper als vielmehr einen technischen Vergleich zwischen zwei Fortbewegungsmitteln; vgl. auch Anm. 7. »Und die schoßport kam so nah das sie sym roß durch die lenden schneyd, so das ein halb teyl darinn kam, das ander daruß beleib. U n d Lancelot hett keyn ungemach, noch syn sattel ward nye zurbrochen, noch das schwert kam im nye uß der hant, dann er stieß es inn die scheyde und lieff im alles nach und sprang all gewapent off des ritters roß hals [...].« (LuGrl, 714) »Und Lancelot warff im den heim von dem heubt und gab im groß schleg von dem heubt an biß an syn schenckel und bracht yn darzu das er keyn wort gesprechen kund anders dann gnad bitten [...].« (LuGrl, 714)

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kampfes erreicht hat, selten z u m Tode fuhrt), sondern er fordert eine B u ß e für den M o r d an der Jungfrau: »Du hast die jungfrauw getöt zu unschulden und mir zu leyd, das ich nye umb dich verdient. Darumb wil ich das du solch büß tragest das alle die jungfrauwen in der weit, die da von hören sagen, sprechen, du habst gnung gethan, und mich nit schelten sollent. [...] Als du der jungfrauwen das heubt abgeschlagen hast und sie getöt, also soltu das heubt nemen und an dynen hals hencken und den corpor fur dich legen und inn Konig Artus hoff ryten. Und als du dar körnst, so soltu dich myner frauwen der konigin presentieren, auch den frauwen und jungfrauwen allen, und din ubeldat erkennen und solt yne die dot jungfrauwe zeugen und wysen. Und dann soltu yne din schwert geben, und wollen sie dich doten, das mustu liden.« (LuGrl, 716) Uberlebt der R i t t e r seine Bußfahrt an den Artushof, dann soll er an den H o f von König Baudemagus ziehen u n d sich den dortigen D a m e n stellen. U n d w e n n diese den mörderischen R i t t e r »also ledig sagen« (LuGrl, 716), soll er sich an den H o f des Königs von Norgales begeben. W e n n er auch diesen Besuch heil übersteht, habe er von Lancelot nichts m e h r zu befürchten. 7 D o r t , w o sonst im Prosa-Lancelot das Schild der R i t t e r hängt, nämlich am Hals des Ritters, wird nun der Kopf der toten Frau angebracht. 8 D e r Kopf der Jungfrau wird damit z u m Zeichen, das die Identität seines Trägers markiert. Gleichzeitig wird hier die archaische Geste, den abgeschlagenen Kopf eines Gegners am Sattelgürtel zu tragen (wie sie in der mittelhochdeutschen Literatur etwa das Eckenlied zeigt) aufgerufen, ü b e r f o r m t u n d resemantisiert: Das Siegessymbol wird z u m Stigma. D e r Eifersüchtige reitet derart schwer beladen nach Camalot und bahnt sich dort am H o f seinen W e g z u m König. Als die Königin und ihr Gefolge erscheinen, legt der R i t t e r wortreich u n d

Daraufhin schenkt der Ritter Lancelot sein Pferd; am Falltor begutachtet Lancelot dagegen sein totes halbiertes Pferd. Gemeinsam reiten sie an den Ort, an dem der Ritter die Frau getötet hat. Dieses Verhalten zeigt deutlich, dass das Problem der Episode nicht etwa nur die unreglementierte Gewalt gegenüber einer wehrlosen Frau gewesen ist, sondern - vielleicht sogar primär - ein Problem der ritterlich-kämpferischen Kommunikation. Unaufgelöst bleibt an dieser Stelle, dass ein Ritter mit zwei halben toten Pferden empfindlich in seiner Korporalität getroffen ist, da der Ritter als >Pferdemann< seine Identität nicht ohne sein Reittier definieren kann. Es ist sowieso auffällig, dass die allgemein angenommene Einheit von Ritter und Pferd für Lancelot weniger zu gelten scheint als fur andere Vertreter des arthurischen Rittertums (vgl. Udo Friedrich, »Der Ritter und sein Pferd. Semantisierungsstrategien einer MenschTier-Verbindung im Mittelalter«, in: Ursula Peters (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450, Stuttgart, Weimar 2001, 245-267). »Lancelot nam das heubt und band es dem ritter an syn hals, so das es im bynach uff syn fuß ging. Er gebot es im also zu füren; und er antwurt, er wolt es gern thun. Darnach nam er den cörper und leyt yn vor yn off des roß hals.« (LuGrl, 718)

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ausfuhrlich Bericht darüber ab, was ihm zugestoßen ist. Der tote Körper der Jungfrau bedarf eines aussagekräftigen Kommentars. Er gibt zu, mit der von ihm getöteten Frau verheiratet gewesen zu sein. 9 Alles habe er für sie getan, so der R i t ter weiter, sie aber habe ihn betrogen — zudem ausgerechnet mit dem Mann, den er am meisten schätze: »wann ich hett yn lieb vor allen mannen und sie vor allen frauwen« (LuGrl, 738). Es wundert dann wenig, dass der Ritter in einen unmäßigen Z o r n verfällt und den Betrüger erschlägt. Die Frau prügelt er aus dem Zelt. In diese Szene gerät, wie erwähnt, Lancelot, der die Konstellation dieses Minneund Gewaltkasus nur allzu gut kennt. Als der Ritter seine lange Erzählung beendet hat, übergibt er sein Schwert und sich selbst der Gnade der Königin, die fragt, ob der Ritter zu töten oder am Leben zu lassen sei. Der König stellt die Schwere und Abscheulichkeit der Taten heraus, plädiert dann aber dafür, sich bei dem Ritter zu erkundigen, wer ihn an den Artushof geschickt habe. Dass dies der Ritter gewesen sei, der auch das Schachbrett gesandt habe, löst allgemeine Heiterkeit aus. Der Hof lacht - der Hof trauert nicht angesichts eines Ritters, dem ein weiblicher Kadaver, als unüberbietbares Zeichen männlicher Aggressivität, am Hals hängt. Weil Lancelot ihn geschickt hat, wird der Ritter am Leben gelassen; die Buße, die Lancelot ihm auferlegt hat, wird am Artushof anerkannt. Die Königin händigt dem Ritter sein Schwert aus und spricht ihn vor der höfischen Öffentlichkeit frei. Mehr noch: Man unterstützt den fremden Ritter auf den weiteren Stationen seines Bußritts. Denn dieser befurchtet, doch noch zu Tode zu kommen, weil er den Gestank des Frauenkadavers nicht auszuhalten vermag. So widersetzt sich die Körperlichkeit der toten Frau der Logik der Bußregelung, die Lancelot in Gang gesetzt hat und die am Artushof auch von seinen weiblichen Mitgliedern akzeptiert wird. Der perfide Gestank des verwesenden Fleisches, den zu ertragen ja auch als eine Form von Strafe aufgefasst werden könnte, hebt jene Form von Körperkommunikation auf, welche nun durch die Ratschläge des Königs allererst aufscheint. Dieser befiehlt nämlich, »das geweid uß zu werffen und alles das sie im lib hett« (LuGrl, 742). Der Körper der getöteten Frau wird >entkörperterträglichschöne Leich< als Zeichen einer guten Geschichte mit sich führt. Aus der Perspektive der — toten — Frau formuliert: Sie ist von einem der Untreue fähigen Subjekt zu einem kostbaren Objekt, einem Zeichen des Zustands ihres lebendigen Ehemannes geworden. Dabei geht letztlich die ursprünglich von Lancelot intendierte Funktion, Zeichen für die Mordtat des Eifersüchtigen zu sein, außer Blick und wird im Akt der Einbalsamierung überschrieben. Auffällig ist in dieser Szene aber auch, wie die Aussage des Ritters, dass der Gestank des Körpers unerträglich sei, den König zu dem Kommentar verleitet, dass Lancelot durch die von ihm geforderte Buße gezeigt habe, dass er, wie kein anderer Ritter, die Frauen liebe und sich um sie bemühe (LuGrl, 742). Dieses Lob Lancelots fuhrt zu einem Geplänkel zwischen dem König und der Königin: Denn Ginover, die nach innen lacht, fragt den König, ob sie nicht Verlangen zeigen sollte nach einem so vortrefflichen Ritter. Lachend entgegnet Artus, dass er gegen Lancelot als Geliebten nichts hätte, wenn die Königin eine andere wäre. Erneut lacht der gesamte Hof. Deutlich wird, dass in der Geschichte des Eifersüchtigen ein alternatives Ende von Lancelots Liebesgeschichte durchgespielt wird. Der Text rückt die Bestrafung des Eifersüchtigen, seine Bußfahrt, durch Lancelot in den Mittelpunkt und inszeniert diesen als Verteidiger der Frauen und gerechten Richter. Dabei geraten die verwerfliche Tat und das Schicksal der Jungfrau und ihres Mörders in den Hintergrund. Gleichzeitig ist die Geschichte der Prozess einer erfolgreichen, wenn auch wohl nicht intendierten Umsemantisierung: Der Körper, von Lancelot ohne genaue Kenntnis der Umstände gedacht als Zeichen eines Fehlverhaltens und als Bußinstrument, wird durch die vollständig erzählte Geschichte zu einer impliziten Rechtfertigung des Ehebruchs. So kann im höfischen Geplänkel, im parlierenden Gelächter, die Königin ihre eigene Verfehlung bannen. 10 Die Besuche des Ritters bei König Baudemagus und bei der Königin von Norgales und ihren Töchtern werden im Text rasch abgehandelt; sie sind aus der Sicht des Eifersüchtigen erfolgreich. Der Ritter lässt den Leichnam der jungen Frau, wo auch sonst, in der Kapelle eines Einsiedlers am Rande eines Waldes begraben. Mit dem Begräbnis ist der Transformationsprozess des Körpers abgeschlossen, ist

10

Dieses Verfahren ist im Text mehrfach zu beobachten; paradigmatisch die Szene im Krieg gegen Galahot, in der Artus, Gawein und Ginover darüber plaudern, was sie geben würden, um den (einmal mehr offiziell unerkannten) Lancelot fur sich zu gewinnen.

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in diesem Fall auch dessen G e s c h i c h t e zu E n d e - ein nicht zwangsläufiges Ende, w i e der nächste Fall zeigt. D i e Episode ist eng in die verzweigte Rechtfertigungsstruktur des E h e b r u c h s im Prosa-Lancelot

eingebunden. Sie verweist für unser T h e m a aber a u f ein grundsätz-

liches Problem: D i e K o m m u n i k a t i o n ü b e r das Z e i c h e n eines toten K ö r p e r s ist nur begrenzt steuerbar. L a n c e l o t intendiert e i n e B u ß f a h r t und inszeniert eine R e c h t fertigung seines E h e b r u c h s . H i e r ergänzen sich b e i d e K o m m u n i k a t i o n s f o r m e n , so dass Lancelot m i t e i n e m K ö r p e r z e i c h e n eine doppelte Botschaft überbringen kann (eine Botschaft, die nur erzeugt wird, weil offenkundig der E h e b r u c h zu den gängigen Institutionen der höfischen W e l t im T e x t g e h ö r t — und weil er, w i e auch im vergleichbaren Fall von Tristan und Isolde, zu zwei von einander getrennten Sprachsystemen a m betroffenen H o f fuhrt).

II. Galahot In seinen U n t e r s u c h u n g e n zum M o t i v der »unendlichen Fahrt« bestimmt M a n fred Frank das M o t i v der Lebensreise in seinen verschiedenen, antiken, christlic h e n , romantischen und m o d e r n e n Ausprägungen. »Drei Phasen artikulieren [in der »metaphorische[n] Tradition der Lebensreise«] die B a h n des endlichen Lebens: etwas ist Ursprung, H e i m a t , Ausgangspunkt: der feste und bleibende Wohnsitz des M e n s c h e n w e s e n s ; etwas ist Ziel; und dazwischen dehnt sich eine B e w e g u n g , die den einen P u n k t mit d e m anderen verbindet« 1 1 . J e nach Ausprägung der L e b e n s reise ist das Z i e l verortet, es gibt also zielgerichtete, spiralförmige oder zyklische K o n s t r u k t i o n e n . D o c h ist der Grundprägung dieses R e i s e m o t i v s inhärent, dass die Lebensreise m i t d e m T o d endet, oder dass sich ihr zumindest nur n o c h eine letzte, terminierte R e i s e anschließt. Dieses abstrakte Grundschema kann man nun, a u f dem W e g zur Literatur hin, weiter füllen: E i n Protagonist (die männliche F o r m steht hier einerseits exemplarisch, sie trifft gleichwohl den Großteil der literarischen Fälle) befindet sich in e i n e m Ausgangspunkt, den er entweder freiwillig verlässt oder aus d e m er gestoßen wird. D i e Differenz ist weniger grundlegend, als die D i c h o t o m i e suggeriert: Grundlage der Verlassens des Ursprungs ist eine Diskrepanz zwischen d e m Protagonisten und seiner — auch metaphorischen — H e i m a t , die entweder von außen an den Protagonisten herangetragen o d e r von i n n e n heraus erfahren wird. N i c h t selten wird diese Diskrepanz ausgelöst durch ein B e g e h r e n , das in der H e i -

11

Manfred Frank, Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt a.M. 1979, 42.

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mat nicht erfüllt werden kann. Es folgt ein Weg der Suche, der kaum anders als im Happy Ending enden kann, denn entweder wird das Ziel erreicht, das Begehren gestillt (auch wenn es dann schnell zur neuen Heimat werden und wieder verlassen werden kann), oder aber die Suche fuhrt zur Desintegration des Protagonisten, der an Seele und Körper (oder wie auch immer, zeitgebunden, diese Dichotomie der Identität gefüllt wird) zerbricht, bis schließlich der Lebensweg im Tod des Körpers zu Ende kommt, ein Tod, der zum Stillstand, zum Ende des Weges, und damit auch zur lang ersehnten und zuvor nie gefundenen Ruhe führt. 12 Dieses Schema ist strukturidentisch mit Galahots Weg im Prosa-Lancelot. Unterschiede ergeben sich erst, wenn man näher an die Texte herangeht. Einer dieser Unterschiede liegt im Ende des Lebenswegs. Galahots Lebensweg ist nicht mit seinem Tod zu Ende. Nicht nur wird über sein Grab, seine Grabinschrift ausführlich berichtet, sein Weg endet nicht mit seinem Begräbnis, sein Körper wird exhumiert und umgebettet, damit seine Liebe — was immer das heißen mag — zu und mit Lancelot schließlich im Tod ihre Erfüllung findet. 13 Zwei Dinge können schon jetzt festgehalten werden: 1. Das - konventionelle und mit einer langen Tradition behaftete - Motiv der Liebeserfüllung imTode wird hier anders als in seiner klassischen Variante der Besiegelung eines gemeinsamen Liebestodes14 nicht allein als Verklärung und zur auktorialen Sanktionierung verwendet, sondern als Dialog zwischen den Liebenden über den Tod hinweg inszeniert; 2. der bedeutsame Lebensweg endet nicht mit dem Begräbnis, sondern er wird verlängert, und diese Verlängerung ist nicht nur metaphorisch oder symbolisch, sondern ganz körperlich zu verstehen. Es scheint fast so, als ob die kinetische Energie, welche die Ritter in ihrer Lebensform der Suche auszeichnet, mit dem Tod noch nicht zum Ende gekommen ist.

12

13

Literarische Gestaltungen dieses Schemas finden sich zahlreich — von den diversen Reinkarnationen des Dr. Faust über Peer Gynt bis hin zum Hairy Ape Eugene O'Neills, um nur einige herausragende Beispiele zu nennen. Zum Thema der Beziehung Galahot-Lancelot stammt die klassische Untersuchung von Jean Frappier, »Le personnage de Galehaut dans le Lancelot en prose«, RPh 17 (1963-1964), 535-554. Vgl. weiterhin Reginald Hyatte, The Arts of Friendship. The Idealization

of Friendship

in Medieval and Early Renaissance

Literature, Leiden, N e w York,

Köln 1994 (Brills Studies in Intellectual History 50), 102- 121; R . H., »Recoding Ideal Male Friendship as fine amor in the Prose-Lancelot«, Neophilologus 75 (1991), 505518; Matthias Meyer: »Causa amoris? Noch einmal zu Lancelot und Galahot«, in: Kurt G ä r t n e r u.a. (Hrsg.), Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloquium, T ü b i n g e n 1996, 2 0 4 - 2 1 4 . 14

Locus classicus im Mittelalter ist das Wunder von Rebe und Rose - wenn es denn in den Tristan-Versionen erscheint.

Zirkulierende

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Galahots in zwei zentralen Träumen vorhergesagter Tod 1 5 ist im Text ein Prozess des körperlichen und psychischen Verfalls: Galahots akute Melancholie, die mit fortschreitender Isolation einhergeht, hat Andrea Sieber analysiert. 16 Die psychische Situation führt zu einer »unbewußt bleibenden autoaggressiven Reaktion« 1 7 wie etwa zum Traum v o m eigenen geöffneten Bauch mit den zwei Herzen, deren eines sich in einen Leopard verwandelt, das andere aber »dorret in sim libe« 18 . N a c h der Liebesidylle in Sorelois beginnt mit d e m Verfall von Galahots Burgen auch sein eigenes Sterben. Dieses Sterben ist getreu d e m vorgestellten Schema als Prozess des Verfehlens des Objekts der Suche/des Begehrens inszeniert. Die größte N ä h e zu Lancelot erreicht er, als er ihn tot wähnt und in einer Stadt »Ascalon die Verwende« (LuGinll, 290,35) auf einen »groß dancz« (LuGinll, 292,2) trifft, der u m Lancelots Schild ausgeführt wird. Galahot bemächtigt sich dieses Zeichens seines Freundes und wird dafür von einer U b e r m a c h t von 40 R i t t e r n verfolgt. D e r nun folgende Kampf ist in seiner motivlichen Struktur eine Verschränkung zahlloser, auf die Geschichte von Lancelot und Galahot bezogener Einzelmotive. Es ist auffällig, dass das D u r c h b o h r e n mit Lanzen dabei eine zentrale R o l l e spielt: Gleich zu Beginn durchbohrt Galahot einen seiner Verfolger vollständig (LuGinll, 2 9 2 , 3 1 34). Als nächstes wird berichtet, wie ein Knappe d a r u m bittet, von Galahot schnell z u m R i t t e r gemacht zu werden, damit er i h m gegen die U b e r m a c h t beistehen kann. Kurz darauf wird Galahot durch eine Lanze in der Seite verwundet, er zieht die Waffe selbst heraus, und über und über blutend kämpft er besonders eifrig weiter, »da er den lip duwer verkeuffen wolt, wann er d o t w u n t w o n d sin« (LuGinll, 294,19f.). Hier vermischen sich Lancelots Initialtat (das Herausziehen der Lanze aus d e m am Artushof a n g e k o m m e n e n mysteriösen Lanzenritter) und seine verzögerte Ritterwerdung und werden auf Galahots Tod projiziert. D e r Kampf wird, bevor Galahot sterben kann, abgebrochen, seine Identität wird geklärt, er erhält den Schild und erfährt, dass während des Kampfes neue Nachrichten eingetroffen sind, denn Lancelot wird nun nicht mehr für tot gehalten, allerdings ist sein Aufenthaltsort i m m e r noch unbekannt.

15

16

Vgl. Klaus Speckenbach, »Die Galahot-Träume im Prosa-Lancelot und ihre Rolle bei der Zyklusbüdung«, Wolfram-Studien 9 (1986), 119-133. Andrea Sieber, »Lancelot und Galehot - Melancholische Helden?«, in: Martin Baisch u.a. (Hrsg.), Aventiuren

17 18

des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit

in der Literatur des 13.

Jahrhunderts, Göttingen 2003 (Aventiuren 1), 209-232. Ebd., 225. Lancelot und Ginover. Prosa-Lancelot I und II, hrsg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt a.M. 1995, 10,22 (= LuGinluII).

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Galahots nächster Auftritt im Text ist bereits seine Sterbeszene. Zuvor ist festzuhalten, dass auch Lancelot sich in dieser Sequenz in einem Zustand fortschreitender Desintegration befindet.Vor der eben beschriebenen Szene ist er in Gefangenschaft von Morgane. Zwar kann er sich befreien, doch zeigt ihn ein erster Turnierbesuch in einem Zustand verminderter ritterlicher Potenz: Als Gawein und Iwein 19 in einem Turnier einen Ritter sehen, der im permanenten Seitenwechsel den Turnierverlauf erzwingt, kämpfen sie, die richtigerweise Lancelot in diesem Ritter vermuten, jeweils auf der gegnerischen Seite, und Lancelot muss nun die narzisstische Kränkung hinnehmen, zum ersten Mal in seinem Leben nicht mehr den Kampfverlauf bestimmen zu können - angesichts der späteren Kampferfolge und des finalen Lancelot-Gawein-Kampfes ein Motiv ohne jede Plausibilität, das als Projektion von Galahots Sterben auf Lancelot zu werten ist. Aus dessen Perspektive formuliert: Lancelot zeigt unwillkürlich (körperlich ausgedrückte) Empathie mit dem fatalen Verfall seines Freundes. Deutlich tritt das narrative Schema vom gemeinsamen Liebestod hervor, dass Lancelot zwar nicht auf den Weg zu Galahot (und damit in den Tod!20) bringt, wohl aber auf dessen Burg Sorelois. Dort aber findet er nicht den gesuchten Freund. Obwohl er auf der Burg gut empfangen wird, hilft das nichts, einzig Galahots Anwesenheit hätte, so heißt es im Text, ihm von Nutzen sein können. 21 Der folgende Wahnsinnsausbruch wird als »krancken

19

20

Iweins Anwesenheit könnte die - auffallig benannte - Stadt Askalon erklären, in der Galahot beinahe zu Tode kommt und die an das geteilte Pferd aus der Episode um die Frau des Eifersüchtigen erinnert, denn um autoaggressive Eifersucht geht es schließlich auch beim Tod Galahots. Das permanente Verfehlen der beiden kann man verschieden interpretieren: Es kann ein Zeichen der nicht mehr funktionierenden zwischenmenschlichen Bindung sein eine Interpretation, die mir angesichts des am Textschluss erreichten Ziels des gemeinsamen Begräbnisses unwahrscheinlich zu sein scheint - , oder aber es reflektiert ein Problem des Motivs des gemeinsamen Liebestods. Der Text arbeitet in Bezug auf Lancelot und Galahot eindeutig mit diesem Motiv, das aber auch, wie Tristan und Isolde zeigen, in seiner Logik impliziert, dass Lancelot, wenn er den Freund noch erreichen würde, mit und über ihm sterben müsste. Der weitere Verlauf des Textes zeigt, wie diese Möglichkeit immer wieder präsent gehalten wird, ohne sie zu realisieren. Somit wird in der Beziehung Lancelot-Galahot auch in Bezug auf das (gemeinsame) Sterben mit der Semantik der höfischen sexuellen und unbedingten Liebe gespielt; das Motiv wird quasi permanent am Rande der Existenz gehalten, ohne dabei jedoch marginalisiert zu werden. Zum Liebestod in der Beziehung Galahot—Lancelot vgl. Cornelia R e i l , Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen

Prosa-

Lancelot, Tübingen 1996 (Hermaea 78), hier: bes. 177-181, über den Liebestod und das Phänomen der unbedingten Liebe. 21

»Das künde yn alles geheißen nit das er ie fro kund werden, er hett dann Galahut selb gehabt, das er yn getröstet hett von syner frauwen, da von er gern mere vernomen hett.« (LuGinll, 306,31-34)

Zirkulierende

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an dem libe« (LuGinll, 306,35f.) und als durch Wachen und Fasten hervorgerufene >Verstandesendeerung< (eine Parallele zur im Traum geschauten >Herzentleerung< Galahots) inszeniert. Nach einem Blutsturz stürzt sich Lancelot aus dem Fenster, verschwindet und Galahot erscheint in Sorelois, um zu sterben. Zwar sendet Galahot noch seine Leute nach Lancelot aus, doch erfolglos. Er bleibt in Kontemplation des Schildes seines Freundes und stirbt an der Wunde, die er beim Erobern dieses Schildes erhalten hat, nicht ohne dass sein Körper, gemäß der Traumvision, die diesen Sterbeprozess lange vorher eingeleitet hat, durch »sere dorren und abegan« (LuGinll, 310,5) ausgemergelt wird - ein Körper, der >als Sohn der schönen Riesin< immer auch überdimensionale Züge getragen hat. Galahots Sterben »entspricht den Normen, die beim Tod eines mittelalterlichen Adligen gelten«, und trägt deutliche Züge des »Schauspiel des Fürstentodes«22, wie Steinhoff mit einer Formulierung Dubys in seinem Kommentar zur Stelle festgehalten hat. Damit ist der Lebensweg dieses am Schluss so exemplarischen Fürsten normgemäß abgeschlossen — und es ist ein positiver Schlusspunkt unter sein Leben gesetzt, der jede Kritik letztlich verstummen lässt. Umso erstaunlicher ist die Fortführung des Handlungsstranges. Wie bei Galahot nicht anders zu erwarten, schaltet er sich wieder in die Handlung ein, als Lancelot einmal mehr in eine Episode involviert ist, die mit seiner Liebe zu Ginover verknüpft ist: die Befreiung von Meleagants Schwester, die als Befreierin Lancelots (und damit indirekte Mörderin ihres Bruders) zum Tode verurteilt werden soll. Die Inszenierung der Auffindung folgt dem üblichen Muster: Lancelot will auf dem Weg zur Befreiungstat in einem Kloster übernachten, dort betritt er noch vor dem Essen die Kirche, um zu beten. Im Niederknien sieht er zur Rechten ein kostbar verziertes Gitter, dahinter einen von fünf Rittern bewachten, ebenfalls überaus kostbaren Sarkophag. Die Mönche hätten den Ritter auch ohne das fromme Gebet beherbergt und beköstigt, und so macht die Passage deutlich: Es ist Lancelots Wunsch zu beten, der ihn zu Galahot fuhrt. Das Gespräch mit den Wächtern weist auf eine Prophezeiung hin, dass der begrabene Ritter bald gegen den Willen der Mönche entführt würde, der Dialog, in dem die Identität des reichen Toten umkreist wird, fuhrt zur schnippischen Kleriker-Reaktion, dass Lancelot wüsste, wer dort hegt, wenn er nur die Grabinschrift lesen würde, was der gebildete Ritter tut 23 : »Hie liegt Gallehault ain söhne der ryßin, der umb Lanntzelot willenn gestorbenn ist.« (LuGinll, 658,31—32) Verglichen mit den zahlreichen Grab-

22 23

LuGinll, 1004, Kommentar zu 310,6-12. Es gibt zahlreiche parallele Szenen, in denen ein Ritter erst nach Aufforderung sich auf seine Lesefähigkeit besinnt.

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inschriften im Text ist die Grabinschrift Galahots nüchtern und präzise. O f t sind Grabinschriften tendenziöse Interpretationen des Todes, in denen die Figuren ihr Leben und Sterben reinterpretieren. Galahots Grabinschrift bildet im mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot eine Ausnahme aus diesem textumfassenden Kommunikationssystem. Der Autor der Inschrift sowie ihre Zielrichtung sind unklar, sie werden im Text - sit venia verbo — ausdrücklich verschwiegen. Eines scheint jedoch klar zu sein: Sie stammt nicht von Galahot selbst, denn in seiner Sterbeszene wird nichts über Galahots Grabinstruktionen verlautet - was nicht nur den Autor der Inschrift im Dunkeln lässt, sondern auch diese Episode u m so erstaunlicher macht. Außerdem ist festzuhalten, dass Galahot als Autor unwahrscheinlich wird, weil der lebende Galahot alles daran gesetzt hat, dem Freund Lancelot die eigene psychische Befindlichkeit, seine Kenntnis des angekündigten Todes sowie Lancelots kausale Involvierung vorzuenthalten. Erst im parallelen, aber nicht gemeinsamen Verfall wissen beide, dass die Gegenwart des anderen überlebensnotwendig ist, können sich aber nicht mehr erreichen, sondern reiten ziellos aneinander vorbei. Als nun Lancelot Galahots nicht intendierte Botschaft posthum erreicht, folgt der psychische Zusammenbruch. Lancelot jedoch interpretiert fälschlich die Grabinschrift als Aussage Galahots und ist zu einem Akt der Reziprozität bereit: »Da sagt er hieruff, das es nicht gut were, er stürbe dann auch umb seinent willenn.« (LuGinll, 660,14—16). Lancelot plant den Selbstmord, er plant ihn aus emotionaler Betroffenheit, aus »leidt unnd trawren« (ebd., 26f.). N u r im Tod - und, so muss man in der Situation ergänzen, nur im Tod vereint mit Galahot — glaubt Lancelot sein Lebensziel erreichen zu können, »dann ich wirdt inn dießer weldt kein friede oder ruhe habenn« (ebd., 27f.). Auch wenn Lancelot jetzt dieses Ziel noch nicht erreicht hat, so ist doch die Verbindlichkeit, die diese Reaktion auf die vermeintliche Äußerung Galahots erhält, bemerkenswert, denn mit Lancelots Aussage ist der Schluss derTrilogie aufgerufen.Was aber mehr ist: Erst nachdem eine Botin der Dame vom See Lancelot den Auftrag gegeben hat, Galahots Leichnam zur Dolorosen Garde zu bringen, weil dort beide einst gemeinsam begraben werden, lässt Lancelot von seinem Selbstmordplan ab, da »ime dieß zu hörenn überauß sehr gefellig were« (LuGinll, 662,15f.). Der letzte kritische Moment ist erreicht, als Lancelot die Wächter besiegt und damit das Geleit für die Überführung gesichert hat und nun die Leiche Galahots erblickt: Er öffnet unter größter Kraftanstrengung (so, dass nicht viel fehlt, und er wäre daran zerbrochen, wie es im Text heißt — es geht hier u m einen Test, der Lancelots anderen Grabaventiuren mindestens gleichgeordnet ist) den Sarkophag, dass »ime der schweyß vonn dießem heben über all seinen leib ablieffe« (LuGinll, 666,18f.). D o c h nicht nur physische Anstrengung lässt Lancelot in Schweiß ausbrechen - auchTrauer ist dabei, wie der merkwürdig verzahnte Folgesatz deutlich macht: »Aber kein trawren was über das so er hette, da er sähe Gal-

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lehauts inn seinem gantzenn harnischt alsa liegenn, wie er dann bey lebenn geweßen was.« (Ebd., 19-22) Lancelots in Anstrengung und Trauer zerfließender Leib betrachtet Galahots toten Körper (so ist der Genitiv zu erklären), danach sieht er das Schwert des Freundes und hätte, wäre nicht die Botin der Dame vom See gewesen, unweigerlich Selbstmord begangen. Leib, Harnisch und Bewaffnung bilden eine Einheit. Die Leibes- und Liebesgeschichte von Lancelot und Galahot findet ihr Ende erst mit dem Ende des Textes, aber hier wird sie bereits in Gänze sichtbar. 24 Doch mit seinem Tod und derTranslation seiner Leiche ist Galahot nicht aus

24

Eine alternative Interpretation der gesamten Passage, die zu einer anderen B e w e r t u n g der Beziehung Lancelot—Galahot f u h r e n muss, w ü r d e die Grabinschrift als objektives Statement lesen, das von Lancelot als solches gesehen wird. Darauf reagiert Lancelot weniger mit Schuldbewusstsein (zumindest nicht mit einem, das psychologisiert w e r den darf als Ausdruck einer emotionalen Verflechtung), als mit der Einsicht, dass der Vorwurf stimmt. Diese Erkenntnis löst bei ihm erneute Trauer aus, die in den üblichen veräußerlichten Gesten mittelalterlicher institutionalisierter Trauer entäußert wird — ein Verhalten, das nicht mit einer vertieften emotionalen (Liebes-)Bindung verwechselt werden darf. Eine solche Interpretation erscheint aus diversen G r ü n d e n problematisch: 1. Sie erklärt nicht etliche überschüssige Details der Szene: Zerknirschung,Trauer (auch übermäßige) k ö n n t e n durch den Vorwurf erklärt werden, nicht aber das Streben nach Reziprozität, also der explizite Todeswunsch Lancelots, den zu verhindern i m m e r h i n eine der höchsten Instanzen der Erzählung b e m ü h t wird. H i n z u k o m m t , dass Lancelots bisherige u n d zukünftige Verhaltensmuster als R e a k t i o n auf aggressive A n w ü r f e (und d a r u m handelt es sich bei der Grabinschrift) zorn ist, der in dieser Szene zwar im Z u s a m m e n h a n g mit den bewachenden R i t t e r n , nicht aber mit Galahot, d e m Sarkophag oder der Inschrift erscheint. 2. Sie erklärt nicht Lancelots Interesse an der Bestatt u n g Galahots in Dolorose Garde. 3. H i n t e r einer solchen Interpretation steht eine Interpretationshaltung, die a u f g r u n d einer konstruktivistischen E m o t i o n s t h e o r i e die vollständige Alterität mittelalterlicher E m o t i o n e n einfordert. D i e Beziehung zwischen Lancelot u n d Galahot wird so zu einer B e z i e h u n g zwischen zwei A l p h a - M ä n n c h e n , die sich als herausragende Exemplare der G a t t u n g gegenseitig anerkennen u n d attrahieren (vgl. Arbeitsgruppe Gender, »Begehrende K ö r p e r u n d verkörpertes Begehren. Interdisziplinäre Studien zu Performativität u n d gender«, Pamgrana 13,1 [2004], 251— 309, bes. 290—294.). N e b e n des grundsätzlichen Problems der durch einen konservativen Impetus getragenen Enterotisierung steht ein weiteres Problem: In m e h r oder m i n d e r starkem M a ß e sind auch h e u t e n o c h die meisten westlichen Gesellschaften homosozial u n d homoerotisch organisiert, von anderen ganz zu schweigen. Dass eine solche Organisation nicht zu d e n für das Mittelalter erwarteten enterotisierten Verb i n d u n g e n fuhrt, zeigt sich nicht n u r in gegenwärtigen, sondern auch in vergangenen Zeiten, wie ein Blick in die Literatur zeigt. Im Ü b r i g e n bleibt das Faktum der ü b e r mäßigen Trauer Lancelots bestehen. Selbstmordabsichten gehören nicht zu den ritualisierten Trauergesten. U n d selbst w e n n es so wäre, sitzt m a n einem konstruktivistischen Fehlschluss auf, w e n n m a n a n n i m m t , die veräußerlichten E m o t i o n e n der Trauer seien konventionalisierte Zeichen, nach deren Abschluss m a n wieder in d e n Normalzustand zurückkehrt, d e n n es ist durch die klinisch-psychologische Emotionsforschung e r w i e sen, daß E m o t i o n e n durch körperlichen Ausdruck erzeugt werden (vgl. etwa R o b e r t

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der Geschichte verbannt, denn Lancelot setzt einen Nachfolger ein: Er n i m m t das Schwert Galahots u n d bittet die Botin der D a m e v o m See, dieses B o h o r t zu übergeben.Viele der narrativen Funktionen Galahots werden n u n auf B o h o r t übertragen, der als Figur stärker im Hinblick auf das Gralsabenteuer entworfen ist. Schlussendlich ist es dieser Akt der Einsetzung Bohorts, der dessen R o l l e am Ende des Zyklus vorbereitet: Er ist der letzte Überlebende, der Lancelot betrauert, der die Grablegung Lancelots an der Seite Galahots beobachtet u n d sich dann in die Klause zurückzieht, in der auch Lancelots Seele von den Engeln in den H i m m e l gefuhrt wurde, wie der Erzbischof in einem beseligenden Traum gesehen hat. Die Episode, in der Lancelot Galahots Leichnam findet, ist eine emotional orientierte Episode. Stärker repräsentativ ist dagegen Galahots zweite Bestattung, sie ist das auf Lancelot bezogene Äquivalent zum repräsentativen Sterben Galahots. Z w a r glauben auch hier die Burgbewohner, Lancelot k ö n n t e vor Trauer sterben, doch ist die emotionale Betroffenheit viel weniger Z e n t r u m der Darstellung. In dieser Szene findet Galahot nun auch symbolisch seinen Platz in der den R o m a n i m m e r stärker ü b e r w u c h e r n d e n Welt der Gräber u n d der Toten: M a n sucht für ihn den kostbarsten Sarkophag der Burg, der weder aus Gold n o c h aus Silber gemacht ist, sondern nur aus eng gefugten Edelsteinen besteht, so dass niemand glauben kann, dass es sich dabei u m Menschenwerk handelt. G e m ä ß der ambivalenten Stellung Galahots im R o m a n k o n z e p t ist es ein Sarkophag für einen heidnischen König, der aber genau zu der Zeit bestattet wurde, zu der Josef von Arimathia die Dolorose Garde besuchte. So wird der Sohn der schönen Riesin d o c h n o c h per Assoziation in die Gralswelt hineingeholt, w e n n auch nur an ihren R a n d . M a n sollte vielleicht betonen, dass nach der chrisdich-mystisch durchdrungenen Welt der Queste, nach dem ideologisch ambivalenten Untergangspathos der Mort Artu die letzte Weissagung, die im Romanzyklus erfüllt wird, diejenige ist, die die Botin der D a m e v o m See getroffen hat. Lancelot stirbt in einer Klause und wird nicht etwa dort, unter geistlicher O b h u t begraben, sondern nach Josegarte 25 gebracht, wie

Levenson, Paul Ekman, Wallace V. Friesen, »Voluntary Facial Action Generates Emotion- Specific Autonomic Nervous System Activity«, Psychophysiology 21 (1990), 363384, und ähnliche Untersuchungen). - Am Schluss des Textes, dem endlich erreichten Liebestod, scheitern diejenigen Interpretationen, die hier eine Bindung sehen, »die durch die einzig zulässige Liebe — die zu Gott — ausgelöscht w[ird]«; in diese Richtung interpretiert Katharina-Silke Philipowski, Minne

25

und Kiusche im deutschen

»Prosa-Lan-

celot«, Frankfurt a.M. u.a. 2002 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Bd. 1842), das Zitat S. 188; ähnlich bereits Hartmut Freytag, »Höfische Freundschaft und geistliche amicitia im Prosa-Lancelot«, Wolfram-Studien 9 (1986), 195—213. Zu Freytag vgl. auch Reil (wie Anm. 20), 175. Es ist auffällig, dass diese Burg, die ihre Bezeichnung im Text häufiger wechselt als

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im P r o s a - L a n c e l o t

man ihm versprochen hatte. Gemäß des die Mechanik der Ereignisse betonenden eher schmucklosen Darstellungsstils des Zyklus-Schlusses wird von der Trauer der Bewohner und der Bohorts wenig berichtet. Man erfährt aber noch - und das ist entscheidend —, dass Lancelot neben Galahot in das erneut geöffnete Grab gelegt wird. Außerdem wird die Grabinschrift zitiert: »Hie lyt Galaat von der Ferren Inseien und herre Lanczlot von dem Lach, der da was der beste ritter der ye in das konigrich von Logres kam, sunder alleyn Galaat syn son.«26 So sachlich, so bar jeder Emotionen ist diese Grabinschrift, dass dagegen Galahots erste Grabinschrift, die Lancelot als Ursache fur den Tod Galahots nennt, wie ein emotionaler Exzess wirkt. Mit dem Erreichen der endgültigen Ruhestätte der beiden ritterlichen Hauptfiguren des Romans ist auch die kinetische Energie gestillt, die sich grundlegend als eine emotionale erweist und die lebende wie tote Körper in einer scheinbar endlosen Suche getrieben hat. Auf diese letzte Ruhestätte des Textes bewegt sich, im Sterben durch narrative Welten getrennt, das zentrale Paar des Textes zu. Beide kommen - und das ist eine absichtsvoll inszenierte Parallele — als Tote auf der den Beginn der eigentlichen Lancelot-Handlung initiierenden Totenburg an. In der Grabinschrift, mit der nicht mehr gelogen wird, die keinen rhetorischen Zweck mehr hat, kommt das Verweissystem der Gräber zu einem Ende. Dort findet ein Paar seine Erfüllung, das den ganzen Text über nie das Liebespaar sein konnte, das es eigentlich sein müsste und das es auch im Sterben nicht ist. Die Reisen der toten Körper vereinigen das Paar, das nun ganz fraglos das sein kann, was es ist: das beste ritterliche Liebespaar und wie die Grabinschrift implizit betont - die besten Ritter, die von außen (aus dem See oder von der Fernen Insel) gekommen sind, das Artusreich von innen und von außen bedrohten 27 und nun dessen Ende bezeichnen.

nötig wäre, von Lancelot (fälschlich) Dolorose Garde genannt wird, als er dort Galahot bestatten lässt, aber mit ihrem Freudenamen Josegarte (Joyeuse Garde) benannt wird, wenn der tote Lancelot zum Grab Galahots heimkehrt. Vgl. Nikola von Merveldt, Translatio und Memoria.

Zur Poetik der Memoria

des »Prosa- Lancelot«,

Frankfurt a.M. u.a.

2004 (Mikrokosmos 72), 171. 26

27

Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus.

Nach der Heidelberger

Handschrift

Cod.

Pal. germ. 147, hrsg. von Reinhold Kluge, übers., komment. und hrsg. von Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt a.M. 2004, 1028 (= Suche). Außerdem kommt in dieser Grabinschrift eines der Namensspiele des Textes zu seinem Ende: Lancelot, der eigentlich Galaad heißen sollte, liegt hier mit seinem geliebten Freund, einem weiteren Galaat (hier auch so geschrieben), und es wird auf seinen Sohn Galaad verwiesen. Auch im Namen also ist Galahot heimgeholt in die Familie Lancelots; so auch von Merveldt (wie Anm. 25), 178. Von Merveldt hebt besonders auf die Geschichten generierende Kraft der Galahot-Überfuhrung ab, die die Überleitung zur Gralsqueste wesentlich gestaltet (vgl. ebd., 176f.). Vgl. Meyer (wie Anm. 13), 211-214.

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III. D i e D a m e von Challot Abschließend und kontrastierend zu den Beobachtungen zum Tod und Nachtod Galahots soll eine weitere Figur in den Blick rücken, die nicht nur ebenfalls große Liebe zu Lancelot empfindet, sondern wie Galahot an dieser Liebe stirbt und als Tote weiter versucht, auf das Geschehen Einfluss zu nehmen. Die Dame von Challot allerdings muss, anders als Galahot, die Erfahrung machen, vom besten Ritter der Welt nicht geliebt zu werden und fiir diesen Umstand auch keinerlei Kompensationsstrategien (die sich bei Galahot finden Hessen) zu besitzen. Das Begehren der Jungfrau von Challot hatte begonnen, als sie den verwundeten Lancelot auf der heimischen Burg pflegte. Ihr Verlangen nach einer Reziprozität der Gefühle weist der Ritter auf eine Art zurück, »die unverblümter nicht hätte ausfallen können« 28 . Die Jungfrau entscheidet sich für ihren Tod und sagt ihr Sterben — betont auch durch eine der seltenen auktorialen Prolepsen 29 — bald voraus. 30 Eines Tages steht König Artus gedankenverloren an ein Fenster gelehnt, als plötzlich auf dem Fluss ein prachtvolles und wunderbares Schiff auf die Burg zusteuert. Sofort holt der König Gawan herbei, um das mit prächtigen Stoffen bedeckte Schiff näher in Augenschein zu nehmen. Im Innern des mirakulösen Schiffes befindet sich ein herrliches Bett, und in diesem Bett liegt eine Leiche. Das Totenschiff birgt ein Fräulein, dem noch im Tode anzusehen ist, dass es von großer Schönheit gewesen sein muss. Bald erkennt Gawan, dass es sich bei der Toten um diejenige Frau handelt, »die er aufgrund mehrerer verstreuter Hinweise für Lancelots Geliebte gehalten hatte« 31 . D e m Körper beigegeben ist in einem Beutel am Gürtel ein Brief. In dem Schreiben, das die Erzählung erstaunlicherweise in direkter R e d e wiedergibt, schildert die Jungfrau von Challot die Umstände, die zu ihrem Tod gefuhrt haben:

28 29

30

31

Elisabeth Schmid, »Wahrheitsspiele in der MortArtm, CRM 49 (1999), 3 7 3 - 3 9 0 , hier: 388. »Also bewiset die jungfrauwe iren dot. Und ir geschähe als sie gesagt hett, wann one zwyvel, sie starb umb Lancezlots willen, also als die abenture erzelen sol sere kurczlich.« (Suche, 610) »Nicht in der Terminologie der Liebe, sondern in den Begriffen der Wahrheit«, so Schmid (wie Anm. 28), 388, ist die Reaktion der Dame von Challot beschaffen, als sie die Position von Lancelot entgegennimmt: »Sicherlich herreir hant mir als viel gesagt das ich ein teyl weiß uwers herczen, und das ist mir sere leyt das es yczu also ist, wann mit den reden alleyn so thund ir mich nahen dem tode sere kurczlich. U n d hettent ir mir das gesagt ein wenig men verdeckt, so hettent ir mir myn hercz gesaczt in ein solch suchten von aller gut hoffenung, also das mich die hoffenung het thun leben in allen den freuden und in aller sußikeit als keyn mynnende hercz möcht leben.«< (Suche, 608f.) Von Merveldt (wie Anm. 25), 240f.

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Allen fürsten von der tafeirunden enbudet diße jungfrauw von Challot yren grüß! Ich thu myn clage zu uch allen und doch nit das ir mir es gebeßern mögent.Wann darumb das ich uch erkenne vor die besten lüde von der werk und auch die edelsten, darumb so lassen ich uch wissen zu aller erst das ich zu mynem ende komen bin von getruwer lieben. U n d ob ir fragen tumb wes willen ich diße not gelitten hann, des antworten ich uch das ich gestorben bin umb des biederbsten mannes willen von der weit und umb den obersten, das ist herre Lanczlot von dem lach, der da ist der biderbeste man den man weiß oder den ich ye erkante. U n d ich künde yn nye so viel gebieten weynende oder schryende mit heißen trehen das er sich wolt erbarmen über mich, und das ist mir also sere zu herczen gangen das ich zu m y m e m ende bin komen umb myne getruwe mynne. (Suche, 692) In dieser B o t s c h a f t w e n d e t sich das Fräulein an alle R i t t e r d e r T a f e l r u n d e . Sie erklärt, dass sie aus L i e b e z u m b e s t e n M a n n d e r W e l t g e s t o r b e n sei: L a n c e l o t v o m See. 3 2 U n d sie b e k e n n t , dass sie diesen R i t t e r d u r c h k e i n e m o t i o n a l - e x p r e s s i v e s M i t t e l dazu b r i n g e n k o n n t e , dass er sich i h r e r e r b a r m t e . Ihre w a h r h a f t i g e u n d n i c h t e r w i d e r t e L i e b e h a b e i h r das H e r z g e b r o c h e n u n d das L e b e n g e n o m m e n . 3 3 D e r S p r e c h akt d e r T o t e n vollzieht sich i m G e s t u s d e r ( z u r ü c k g e n o m m e n e n ) Klage, A n k l a g e o d e r A n r u f u n g , w e l c h e r — als Strategie d e r A u t h e n t i s i e r u n g des G e s a g t e n - d u r c h i n d e x i k a l i s c h e A u s d r ü c k e (>ichuchirmirzu aller erstWahrheitsspiele< h a t Elisabeth S c h m i d j e n e s e m i o t i s c h e V o r g ä n g e b e z e i c h n e t , w e l c h e e i n e n >Sog falsch g e d e u t e t e r Zeichen< a m E n d e des P r o s a r o m a n s auslösen.

32

33

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Vgl. Schmid (wie Anm. 28), 388: »Allen Rittern der Tafelrunde tut das Fräulein durch seinen Brief kund, daß es aus Liebe gestorben sei, aus Liebe zum besten Mann der Welt [...], der zugleich der gemeinste aller Männer sei (le plus vilain, M A 71,18): Lancelot del Lac. Durch nichts habe es ihn bewegen können, sich seiner zu erbarmen. [...] Das sei ihm so zu Herzen gegangen, daß es aus wahrhafter Liebe gestorben sei [...].« Die Episode, in welcher (der vergiftete) Lancelot auf die Fähigkeiten des heilkundigen Fräuleins angewiesen ist, deutet eine Möglichkeit an, Lancelot lieben zu dürfen. Das Fräulein, das in den Helden verliebt ist, besitzt und behält einen jungfräulichen Status und darf deshalb Lancelot lieben, ohne seine Bindung zur Königin zu gefährden. Vgl. von Merveldt (wie Anm. 25), 248: »Der Brief, von der Jungfrau selbst als Anklage gegen Lancelot verfasst, untergräbt außerdem die Sinnhaftigkeit des Liebestods. Wenn ein Liebestod der rechtlichen Instanz des Artushofes als Anklage vorgelegt wird, so verliert er seine transzendierende, sinnstiftende Dimension, die er innerhalb der Tristm-historia ü b e r n o m m e n hat.« Vgl. hierzu Arbeitsgruppe Wissen(schaft), »Diskursivierung des Performativen«, Paragrana 13,1 (2004), 81-127.

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Statt neuer Abenteuer also birgt das Schiff das corpus delicti und eine Schrift. Briefe [das zeigt sich in der MortArtu immer wieder] lassen sich falschen; doch hier beglaubigt ein Opfer die Schrift, [...] definitiv durch seine Leiche. Die Wahrheit jedoch ist dialektisch. Denn nichts könnte andererseits für die Königin unumstößlicher Lancelots Liebe zu ihr beweisen als die Leiche der Rivalin. 36

Beobachtbar ist in dieser Szene auch das Wechselspiel von Ermächtigung und E r mächtigung der Figur durch den Redeakt. Was der lebendige Körper der Jungfrau nicht erreicht, nämlich, dass Lancelot sich seiner erbarmt, erreicht der tote Körper zwar auch nicht, doch ermöglicht der Brief der Jungfrau, auch und gerade über die indexikalische Strategie einen anderen Status zu erlangen. Sie ermächtigt sich qua (öffentlichem) Redeakt — und das dadurch, dass sie behauptet, die Identität eines Opfers zu besitzen: Lancelots abwehrendes Verhalten gegenüber ihrem aktiven Begehren nimmt die Frau zum Anlass, aus dem Grab heraus sich als Objekt zu definieren. Nachdem Artus und Gawan den Brief gelesen haben, tadelt der König Lancelot für ein treuloses Verhalten, das zum Liebestod einer Adligen geführt hat, während Gawan einsieht, dass er die Indizien falsch gedeutet hatte, als er am Hof behauptet hatte, Lancelot sei bei einer Frau, die er liebte. Die Nachricht vom Tod der Jungfrau von Challot verbreitet sich rasch am Hof. Als die Königin davon erfährt, macht sie sich ob ihrerVerdächtigungen gegenüber Lancelot schwere Vorwürfe.37 Artus ordnet an, den Leichnam in den offiziellen Gedächtnisraum von Sankt Stefan zu überfuhren und ihr Grab mit einem Epitaph zu versehen, das »die warheit von irme tode« (Suche, 692) bezeugen soll.38 Die Schrift verweist allerdings in ambivalenter Weise auf den tragischen Liebestod, wenn es heißt: »Alhie lyt die jungfrauwe von Challot, die umb Lanczlots mynne gestorben ist.« (Suche, 696)39 Michael Waltenberger hat auf die doppelte Semantik der Inschrift hingewiesen: »Je nach Zuordnung

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Schmid (wie Anm. 28), 388. »Vermaledyte unselige, wie getörste du es gleuben das als biederbe als Lanczlot ist gewest solt ungetruwe syn und das er eyn ander solt lieb gehabt hann dann mich, warumbe hann ich mich verraten und geschant!« (Suche, 694) Artus äußert gegenüber Gawan: »Sie was eyn edel wip und von hohem geschlecht und der schönsten jungfrauwen eyne von der weit. Laßent sie uns thun begraben in das gröst mönster zu Sant StefFan und laßent uns off ihr grab buchstaben schreiben die da bezugent die warheit von irme tode, also das alle die nach uns koment ir gedenkken.« (Suche, 692) Die parallele Formulierung macht die Differenz zur Grabinschrift Galahots deutlich: Hier wird von minne gesprochen, folgend dem Brief der Dame von Challot, und man kann das Resultat nur als einzige Kommunikationskatastrophe beschreiben; dort steht das neutrale willen, und als Resultat folgt der verschobene Liebestod.

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des Namens >Lanczlot< als genitivus obiectivus oder subiectivus nämlich ergeben sich zwei verschiedene Lesarten: Im ersten Fall entspricht dabei die Aussage, die Jungfrau sei wegen ihrer Liebe zu Lancelot gestorben, der öffentlichen Wahrheitskonstruktion; der zweite Fall dagegen deutet als (mittelbaren) Grund für ihren Tod Lancelots Liebe zu Ginover an.« 40 Daher postuliert diese Inschrift »flir die Allgemeinheit bei Hofe« eine Verfehlung Lancelots, »die der Brief behauptet und der Leichnam beglaubigt«; fur den Leser des Romans umschreibt die Inschrift »lediglich das Resultat eines komplexen und ambivalenten Handlungszusammenhangs. Die Ambiguität der Schrift läßt ihm einen Freiraum, den er aufgrund seines privilegierten Wissens auffüllen kann.« 41

IV. Spiegelungen Parallelen zur Geschichte der Dame von Challot ergeben sich unter verschiedenen Aspekten zum Tod der namenlosen Burgherrin von Bielot (Suche, 949ff.): Die Ritter, die Gawans toten Körper nach Camelot bringen sollen, machen Zwischenstation auf der Burg Bielot. Der Burgherr, signalisiert der Text, hasste Gawan, weil er ein besserer Ritter war als er selbst. Doch es steckt noch mehr dahinter: Als Gawans Leichnam in einem Burgsaal aufgebahrt wird, stürzt die Burgherrin herein und bricht in große Klage aus. Es scheint, »als ob sie unsinnig were, und kußte yn als sie mohte und kam von irselber über der liehen.« (Suche, 948) Die Edelfrau wird — in dieser isolierten und unkommentierten Episode — aufgrund ihrer Liebe zu Gawan von ihrem Ehemann erschlagen. Sie spricht den Toten direkt an und offenbart ihr Begehren wie ihre Trauer: A h herre Gawin, wie groß schade ist es von u w e r m tode und sunderlichen allen frauwen und mir besunder! Wann ich Verliese zu vil sere an uch, m e dann keyn ander. Wann ich han den liebsten man an uch verloren den ich hett in der weit; das wißent alle lut wol das ich nye keynen man lieb gewan dann yn allein, und gewinnen auch n u m m e r keynern l i e b e m als lang als ich leben. (Suche, 948)

Als der Burgherr dieses Bekenntnis seiner Ehefrau hört, erschlägt er diese aus Eifersucht. Indem die Burgherrin den todbringenden Schlag empfängt, ruft sie aus:

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Michael Waltenberger, Das große Herz der Erzählung. Studien zur Narration und Interdiskursivität im »Prosa-Lancelot«, Frankfurt a.M. u.a. 1999 (Mikrokosmos 51), 147. Ebd.

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Martin Baisch /Matthias Meyer Ach lieber herre Gawin, nu bin ich dot u m b uwern willen! U m b gott, ir herren die hieinnen sint, ich bitten uch das ir mynen lichnam mit uch furent, und furent mich dar da ir herrn Gawin furent und begrabent mich by yne, also das alle die j e n e die unser greber besehent wißent das ich umb synen willen dot bin. (Suche, 948)

Sterbend fordert die Burgfrau die Überführung ihrer Leiche — an der Seite von Gawan will sie begraben sein. Der Burgherr hingegen wird von einem Artusritter erschlagen, seine Leute fliehen vor der Gefolgschaft Artus'. Die Leichen von Gawan und der Burgherrin werden nach Kamalot überfuhrt und dort feierlich im SanktStefans Münster beigesetzt. Während Gawan zu seinem Bruder Gaheries gelegt wird, wird das Grab der Edelfrau ganz in der Nähe errichtet. Die Inschrift betont, dass der Grund für den Tod der Burgherrin bei Gawan liege: »Hy lyt die frauwe von Belot, di ir man dot schlug umb herrn Gawins willen.« (Suche, 950) Stärkere Parallelen ergeben sich freilich zur Geschichte der Schwester Parcevals, die hier nur angedeutet werden können. Von königlicher Abstammung und jungfräulich wie die Mutter Gottes ist es diese weibliche Figur, ohne die Bohort, Parceval und Galaad heute noch auf der Suche wären. Die >Auserwählten< werden durch sie auf dem Schiff König Salomos zusammengeführt. In dem wunderbaren Schiff befindet sich ein kostbares Bett, dessen Spindeln aus dem Baum des Paradieses gemacht wurden, deren Geschichte und Funktion innerhalb der Heilsgeschichte ausführlich berichtet wird. Dort liegt auch das Schwert Davids bereit, dessen Herkunft und Bedeutung von Parcevals Schwester erläutert wird. Diese fertigt aus Gold, Seide und ihrem wundervollen Haar einen neuen Gürtel an und legt ihn Galaad um. Deutlich wird hier die »erzählerische Funktion« der Schwester Parcevals »als Interpretations- und Lenkungsfigur«42, ohne die Galaad als der sehnlich erwartete und lang angekündigte Erlöser sein Werk nicht tun kann. Nachdem die Schwester Parcevals derart ihre epischen Pflichten (scheinbar) erfüllt hat, kündigt sie ihren Tod an und findet diesen in einem absurden Abenteuer. In der Nachfolge Christi opfert sie ihr Blut für eine aussätzige, also wohl sündhafte Burgherrin — wohl wissend, dass sie dabei den Tod erleiden wird: Zur Ader gelassen leert sich ihr Herz von ihrem Blut und sie stirbt. Tatsächlich wird die namenlose Burgherrin, nachdem sie mit dem Blut der Jungfrau gewaschen wurde (Suche, 468), auch geheilt. Dann aber zerstört ein schreckliches Unwetter die Burg und all ihre Einwohner (Suche, 472). Den Gralrittern verkündet eine Stimme, dass der Sturm als Zeichen

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Von Merveldt (wie Anm. 25), 231. Vgl. hierzu auch Monika Unzeitig-Herzog, Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im »Prosalancelot«, Heidelberg 1990.

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göttlicher Strafe fiir das Opfer der Jungfrau zu werten ist. 43 Die Heilung der üblen Sünderin entspricht damit nicht dem Willen Gottes. Seltsamer ist noch die Tatsache, dass Parceval und Galaad in den R u i n e n des Schlosses die Gräber von zwölf weiteren königlichen Jungfrauen finden, die sich vergeblich geopfert haben. Die Gefährten bringen auf Bitten der Schwester Parcevals ihren balsamierten Leichnam auf ein Schiff, 44 das ihn nach Sarras bringen wird. Damit gewinnt die Schwester Parcevals einen Trostpreis bei der Gralsuche: »admission to Sarras, albeit dead.« 45 Mit dem Tod ist die Geschichte der Schwester Parcevals aber noch nicht zu Ende: »The most mobile corpse in the story« 46 tritt erneut eine Schiffsreise an, auf der er den zweiten Teil der Queste durchquert. Parceval legt seiner toten Schwester einen Brief bei, der ihre familiäre Zugehörigkeit und ihre wundersame Geschichte berichtet. 47 Die Gralsritter inszenieren, wie von Merveldt konstatiert, die toten Uberreste der Schwester Parcevals als Reliquie, »indem sie der Leiche mit materieller Pracht eine Art Reliquiar errichten und eine schriftliche Erzählung nach dem hagiographischen Schema von Vita und Passio verfassen.« 48 Erster Leser des Totenberichts wird Lancelot, den eine Stimme auf das Schiff befohlen hat und der in der toten Schwester Parcevals eine neue Gefährtin findet, die ihn eine lange Zeit begleiten wird (Suche, 478): »Das erbauliche exemplum des jungfräulichen Lebens soll Lancelot lehren, in Wort und Werk keusch zu bleiben; sein erhitztes Fleisch soll dem erstarrten,blutleeren Leichnam gleich werden [,..].« 49 Als eine >arthurische Maria
Schrift< in Mittelalter und Früher Neuzeit,

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Stuttgart, W e i m a r 1996 ( G e r m a n i -

stische Symposien. Berichtsbände 17). Wegweisend: Paul Zumthor, »Körper und Performanz«, in; Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, 703713. Prinzipiell auch: Jutta Eming, Ingrid Kasten, Elke Koch, Andrea Sieber, »Emotionalität und Performativität in narrativen Texten des Mittelalters«, Paragrana 10,1 (2002), 215-233. H o r s t Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild, Kultur

und Gedächtnis im

Mittelalter,

München 1995, insbes. 370-380. 6

7

Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, F r a n k -

furt a.M. 2003. Gerd Althoff, »Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters«, Frühmittelalterliche tik im Mittelalter. Kommunikation

Studien 31 (1997), 3 7 0 - 3 8 9 ; G. Α., Spielregeln der Poliin Frieden und Fehde, D a r m s t a d t 1997.

Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec

407

text einer ritualisierten Sprache der Gesten, 8 der Emotionsforschung 9 oder auch etwa in Hinblick auf Sozialisationskriterien des Höfischen 1 0 oder die Fiktionalitätsdebatte 11 nutzbar gemacht — u m nur einige wenige Beispiele zu nennen. Doch bereits diese wenigen Beispiele zeigen, in welch weitgestreutem Feld an Bezügen und Perspektiven das Thema Körperkultur zum Tragen kommt. Es zeigt sich zugleich die Gefahr, dass ein gemeinsamer Nenner aller Bemühungen kaum mehr gefunden werden kann, damit aber die heuristische Prägnanz des Themas >Körper< in der disparaten Perspektivenpluralität verloren zu gehen droht. Dieser Gefahr wirkt die doppelte Themeneingrenzung des Bandes entgegen: (2) Es geht nicht u m Körper an und für sich, sondern um Körperkonzepte. Die Eingrenzung auf Körper konzepte entspricht methodischer Notwendigkeit. Geht man aus von der prinzipiellen »Textualität der Geschichte«, einer Geschichte also, die »nicht mehr Bedingung, sondern Teil des >texte general·« 12 ist, von dem D e r rida festhält: »II n'y a pas de hors-texte« 13 , so ist heuristisch vorauszusetzen, dass Aufschlüsse über die Auffassungen des Körpers nicht auf >direktem< Weg, nicht als Faktenensemble außerhalb von Texturen zu gewinnen sind und die Quellen, insbesondere die literarischen Textzeugnisse, Körperauffassungen immer bereits eingebunden in einen und d.h. abhängig von einem konzeptuellen Entwurf zur Anschauung bringen. Diese konzeptuellen Vorgaben der jeweiligen Quelle konturieren die Körperauffassungen in unterschiedlicherweise, geben ihnen ihre spezifische cou-

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12

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Vgl. Margreth Egidi u.a. (Hrsg.), Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild,Tübingen 2000 (Literatur u n d Antropologie 8). Einschlägig: B u m k e (wie A n m . 2). Barbara Haupt, »Der schöne K ö r p e r in der höfischen Epik«, in: Klaus Ridder, O t t o Langer (Hrsg.), Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999), Berlin 2002, 4 7 - 7 4 ; Vf., »Der H o f als erweiterter Körper des Herrschers. Konstruktionsbedingungen höfischer Idealität am Beispiel des Rolandsliedes«, in: Christoph H u b e r , H e n r i k e Lähnem a n n (Hrsg.), Courtly Literature and Clerical Culture, Höfische Literatur und Klerikerkultur, Litterature courtoise et culture clericale. Selected papers from the Xth Triennial Congress of the International Courtly Literature Society, Universität Tubingen, Deutschland 28. Juli—3. August 2001, T ü b i n g e n 2002, 7 7 - 9 2 . Etwa: O t t o N e u d e c k , »Das Spiel mit den Spielregeln. Z u r literarischen Emanzipation von F o r m e n k ö r p e r h a f t ritualisierter K o m m u n i k a t i o n i m Mittelalter«, Euphorion 95 (2001), 2 8 7 - 3 0 3 ; Karina Kellermann, »Entblößungen. Die poetologische Funktion des Körpers in T u g e n d p r o b e n der Artusepik«, Das Mittelalter 8 (2003), 1 0 2 - 1 1 7 . M o r i t z Baßler, »Einleitung: N e w Historicism — Literaturgeschichte als Poetik der Kultur«, in: Μ . B. (Hrsg.), New Historicism, Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u.a., Frankfurt a.M. 1995, 7 - 2 8 , hier: 12. Jacques Derrida, Crammatologie, übers, von Hans-Jörg R h e i n b e r g e r , Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1974 (frz. 1967), 247: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht«.

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Annette

Gerok-Reiter

leur, fächern sie auf oder fragmentieren sie in unterschiedliche Aspekte, 1 4 d.h. sie bringen sie erst in ihrer jeweiligen Eigenart hervor. 1 5 Die eine KörperaufFassung hinter der textuellen Repräsentation also gibt es nicht, es gibt allenfalls eine Vielfalt an Körperauffassungen in Abhängigkeit vom jeweiligen konzeptuellen Entwurf der zugrundeliegenden kulturellen oder literarischen Textur. Welche konzeptuellen Vorgaben aber wirken bei der Darstellung von K ö r p e r n im literarischen Medium? Welche Bedingungen und Maßstäbe sind für die literarische Konstruktion tragend? W i e differenzieren sich j e n e Bedingungen und M a ß stäbe in räumlicher oder diachroner Perspektive? U n d was sagen j e n e historisch differenten Konstruktionsbedingungen, die bei der Inszenierung des Körpers in der literarischen Darstellung zur A n w e n d u n g k o m m e n , — in umgekehrter R i c h tung gefragt - dann wieder über die Körperauffassungen aus? 16 N o c h i m m e r stecken diese Fragen ein allzu weites Feld ab. (3) Hier hilft die zweite Eingrenzung weiter: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Mit der gemeinsamen Basis der Gattung ist eine Plattform anvisiert, die die Vielfalt der Ergebnisse bündeln und vergleichbar m a c h e n soll. 17 Vorausgesetzt ist damit die Annahme, dass den diversen Ansätzen, nach d e m K ö r p e r zu fragen, möglicherweise durch den R e k u r s auf die eine Gattung ein Schnittpunkt eingeschrieben ist, von d e m aus sie — methodisch gerechtfertigt - in Bezug zueinander gesetzt werden k ö n n e n . Dies aber wäre die Voraussetzung dafür, u m Korrespondenzen,Variationen oder Diskrepanzen innerhalb der verschiedenen Körperauffassungen trotz u n d bei aller historischen Differenzierung systematisch auswerten zu k ö n n e n . Gibt es aber denn, so muss von hier aus gefragt werden, solch konzeptuelle Vorgaben, Kategorien oder Parameter des arthurischen R o m a n s , die einerseits gattungsspezifisch sind, andererseits in besondererWeise als Basis oder Schnittstelle der Auseinandersetzung u m Körperkonstruktionen dienen können?

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Vgl. Klaus Ridder, »Vorwort«, in: Ridder, Langer (wie Anm. 10), 9-11, hier: 11. Kellermann (wie Anm. 1), 5. Vgl. auch Philipp Sarasin, »Mapping the body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und >ErfahrungRückkoppelung< zwischen »Philologie und Anschauung«: Wolfgang Haubrichs, »Bilder, Körper und Konstrukte. Ansätze einer kulturellen Epochensemantik in der philologischen Mediävistik«, LiLi 25 (1995), 28—57, hier: 28-31. Zur Notwendigkeit der gattungs- und typenspezifischen Differenzierung: Ridder (wie Anm. 14), 9f.

Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec

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II. Konzeptuelle Vorgaben - semiotische Probleme D e r arthurische R o m a n basiert in der Prägung Chretiens und der Fortschreibung Hartmanns auf einer Grundkonstellation, die gleichsam die Achse des neuen E n t wurfs ausmacht. Sentenzartig wird diese Grundkonstellation im Iwein-Prolog

for-

muliert: Swer an rehte güete wendet sin gemüete, d e m volget saslde u n d ere. des git gewisse lere k ü n e c Artus der guote, [...] (V. 1 - 5 ) 1 8

D e m Bestreben nach güete, initiiert durch das gemüete, e i n e m i n n e r e n V e r m ö g e n

also, entspricht ein Außeres, sInnen< u n d >Außen< in der gelehrten Diskussion der Zeit« einschließlich der n e u e n volkssprachlichen Poetik vgl. grundsätzlich: Joachim B u m k e , Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkennen im »Parzival« Wolframs von Eschenbach, T ü b i n g e n 2001 (Hermaea. Germanistische Forschungen N F 94), 15—27, zur K o r r e spondenzvorstellung insbes. 21 f.

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Außen« kann die eloquentia corporis eine »Orientierung und Verständigung« 20 im gesellschaftlichen Kontext sicherstellen. Es ist bekanntlich das antike Prinzip der Kalokagathia in christlicher Anverwandlung, das hier zum kategorialen Anhaltspunkt sowohl für die Beurteilung des Helden in der Artusrunde als auch für seine Beurteilung durch den Rezipienten wird. 2 1 Besonders deutlich wird die kategoriale Dimension dieses Prinzips wiederum dort, wo es die Krise bestimmt, im Parzival: D e r schöne, doch schuldbeladene Held ist fast ein größeres Skandalon als die hundsschnäuzige, doch redliche Gralsbotin. Es ist wohl die Leistung des Chretienschen Entwurfs und der Hartmannschen Adaptation, das Prinzip der Adaequatio und der Kalokagathia als Steuermodus des narrativen Entwurfs sowie der Figurenzeichnung eingesetzt und facettenreich entfaltet zu haben mit Wirkmächtigkeit bis in den R o m a n des 14. und 15. Jahrhunderts. Die literarhistorische Durchschlagskraft dieses Steuermodus' beruht dabei, so meine ich, auf einer doppelten Akzentuierung, mit der der arthurische R o m a n in j e unterschiedlicherweise auf die zwei nächstliegenden Körperdiskurse reagiert, die außerhalb des literarischen Kontextes von eminentem Einfluss waren. A u f beide außerliterarischen Körperkonzepte sei kurz eingegangen. Das Kalokagathiakonzept, das die Figurenzeichnung des arthurischen R o m a n s über weite Strecken organisiert, steht zunächst in Spannung zur Leib-Seele-Hierarchisierung der christlich-theologischen Tradition. 2 2 War das Verhältnis Leib-Seele

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21

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Elke Brüggen, »Inszenierte Körperlichkeit. Formen höfischer Interaktion am Beispiel der Joflanze-Handlung in Wolframs Parzivah, in: Müller (wie Anm. 3), 205—221, hier: 220. Detaillierte Beispiele bei Haupt (wie Anm. 10); zur Relevanz des Kalokagathia-Ideals in Hinblick auf die mittelalterliche face-to-face-Kommunikation vgl. Kellermann (wie Anm. 11), 110; wichtig auch die Präzisierung ebd., Anm. 30: »Kalokagathia in christlichem Verständnis heißt: Es gibt keine einfache Parallelität von schön und gut, sondern es gibt eine gute Seele, die sich im schönen Körper zeigt, und eine böse Seele, die sich im hässlichen Körper zur Anschauung bringt«; dazu auch Karina Kellermann, »Entstellt, verstümmelt, gezeichnet. Wenn höfische Körper aus der Form geraten«, in: Iris Denneler (Hrsg.), Die Formel und das Unverwechselbare. Interdiziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt a.M. 1999, 39-58, hier: 41-47. Das Kalokagathia-Ideal bestätigt sich letztlich auch in den Gegenentwürfen, Ausnahme- oder Randerscheinungen des höfischen Romans, insofern die Opposition erst auf der Folie des Ideals sprechend wird: Vgl. dazu Paul Michel, >Formosa Deformitasprivate< und >öffentlicheinnere< und >äußereindividuelle< und >soziale< Komponenten [...] eine historisch argumentierende Anthropologie suspendieren muß«, betont Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes,Tübingen 1998, 2 1 2 - 2 1 6 , hier: 212; der Zusammenhang zwischen beiden Polen bleibt zunächst immer »anschaubar« (ebd.). Erst von hier aus lässt sich die Einsicht der volkssprachigen Literatur u m 1200, dass Innen und Außen auseinander treten können, als »große Entdeckung« (214) einschätzen und in ihrer literarhistorischen Konsequenz begreifen: »Entzifferung einer sich dissimulierenden Körpersprache gehört [...] zu den Konstitutionsbedingungen des neuzeitlichen R o m a n s « (216). Grundlegend: Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 2 2 1998, insbes. Bd. 1, 167-394, Bd. 2, 9 7 131; vgl. auch Peter Dinzelbacher, »Gefühl und Gesellschaft im Mittelalter. Vorschläge zu einer emotionsgeschichtlichen Darstellung des hochmittelalterlichen Umbruchs«, in: Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller (Hrsg.), Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität ΒίεΙφΙά (3. bis 5. November 1983), Düsseldorf 1986, 213-242; Peter Czerwinski, Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung,

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eine neue höfische Sprache und mit dieser Sprache eine differenziertere Möglichkeit,Vorgänge wahrzunehmen und zu beschreiben, die sich der Körpersprache an der Oberfläche schließlich auch entziehen, stattdessen auf Selbsterkenntnis und rationale Analyse auch der inneren Bewegkräfte zielen. 26 So ist zunächst festzuhalten, dass die Bedingung der im frühen arthurischen Roman propagierten Idealität die Entsprechung von Innen und Außen ist, eine Ausbalancierung, in der beide Seiten in einem ausgewogenen Verhältnis zur Ruhe kommen. Dieses Ideal der Ausbalancierung bildet gleichsam den organisatorischen Maßstab des konzeptuellen Entwurfs des frühen arthurischen Romans. Doch dieser literarisch entworfene Maßstab der Ausbalancierung steht in prekärer Spannung zu außerliterarischen Körperdiskursen. Fordert christliche Spiritualiät das »Schwinden des Leibes«27, so folgt adlig-feudale Herrschaftsmentalität dem »Gebot der Manifestation«28 und der Behauptung des Körperlichen. Man wird den literarischen Versuch, den Glanz des Körpers zur Erscheinung zu bringen und ihn zugleich zu disziplinieren, nur dann richtig würdigen können, wenn man wahrnimmt, dass mit ihm eine zwischen dem christlich-theologischen und dem feudalrealistischen Pol bis zum Zerreißen gespannte dritte Körperkonzeption entworfen wird, die sich allerdings im narrativen Verlauf weit eher nach der einen oder nach der anderen Seite auszurichten scheint, als dass sie die als Ideal postulierte Balance wirklich halten könnte. Hinter der Schwierigkeit, die Balance zu halten, steht jedoch ein semiotisches Problem, das der Korrelationsvorstellung der Innen-Außen-Adaequatio notwendig eingeschrieben ist, bisher jedoch in der traditionellen ßp-se/e-Diskussion keine Beachtung gefunden hat. Es lässt sich am besten an den Implikationen der körperlichen Repräsentationsfunktion festmachen, die Gerd AlthofF als substantiellen Bestandteil mittelalterlicher Politik herausgearbeitet hat. 29 Wenn die körperliche Inszenierung in ihrer politischen Repräsentationsfunktion eindrucksvoll die »Notwendigkeit des Sichtbarwerdens aller Bedeutung durch Zeichen«30 belegt und unterstreicht, so ist doch, wie Wolfgang Haubrichs betont, zugleich hervorzuheben, dass mit der Repräsentationsfunktion des Körpers seine Realpräsenz wieder in Frage

Frankfurt a.M., New York 1989;Joachim Bumke, »Höfischer Körper - Höfische Kultur«, in: J o a c h i m H e i n z l e (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären 26 27 28 29 30

che, Frankfurt a.M., Leipzig 1999, 67-102. Bumke (wie Anm. 19), 15-21, 27. Haubrichs (wie Anm. 16), 54. Ebd. AlthofF (wie Anm. 7). Haubrichs (wie Anm. 16), 48.

Epo-

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gestellt ist zugunsten einer lediglich symbolischen Präsenz: Das heißt, der »Notwendigkeit des Sichtbarwerdens aller Bedeutung durch Zeichen« ist die Notwendigkeit des »Zeichenwerdenfs] des Sichtbaren«31 komplementär an die Seite zu stellen. Damit aber ergibt sich, bezogen auf die Innen-Außen-Entsprechung bzw. auf das Kalokagathia-Prinzip des frühen arthurischen Romans, die Frage, ob sich in diesem Korrelationskonzept eben dieselbe allenfalls symbolische Präsenz des Körpers, des Außen ausdrückt — als Möglichkeit der Disziplinierung des Körpers - ; oder ob umgekehrt — im Zuge der Aufwertung der glanzvollen Erscheinung in der Literatur - dem Körper denn doch eine neue Realpräsenz zugeschrieben wird. Vor diesem Hintergrund möchte ich in Anknüpfung an die richtungweisenden Begriffe »Realpräsenz« und »symbolische Präsenz« im Problemaufriss von Karina Kellermann 32 folgende Fragen stellen: Welche Qualität der Körperlichkeit zwischen symbolischer Repräsentanz und realer Präsenz manifestiert sich in der jeweiligen Körperkonzeption des Textes. Welche Strategien des Erzählens fuhren zum Ausschlag nach der einen oder nach der anderen Seite oder organisieren die Verflechtung der unterschiedlichen Möglichkeiten? Gibt es dabei wiederkehrende Verfahrensweisen, die für ein narratives Muster der Körperinszenierungen sprechen, oder ist von einem sehr breiten und wechselnden Repertoire an Kategorien oder Inszenierungstypen auszugehen? Wie also greifen das Adaequatiomodell, dichotomische Wertungsnormen und eine Semiotik der Repräsentation in den Körperkonzeptionen ineinander? Ich möchte diesen Fragen anhand von vier Szenen des Erec Hartmanns von Aue nachgehen.

III. D e r diaphane K ö r p e r - Enites Beschreibung V. 323ff. der megede lip was lobelich. der roc was grüener varwe, gezerret begarwe, abehaere über al. dar under was ir hemde sal und ouch zebrochen eteswä: so schein diu lieh da

31 32

Ebd. Kellermann (wie Anm. 1), 5f.: »Wir wissen zwar, dass jede Darstellung des Körpers diesen erst hervorbringt, der Körper in Text und Bild also immer diskursiv ist, selbst dann, wenn seine Authentizität behauptet wird. Aber wir wissen nicht oder nur sehr ungenau, in welche symbolische Funktion er im jeweiligen kulturellen Referenzsystem eintritt und wie die R ü c k b i n d u n g an den materiellen Körper aussieht.«

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durch wiz alsam ein swan. man saget, daz nie kint gewan einen lip so gar dem wünsche gelich: und wsere si gewesen rieh, so gebraeste niht ir libe ze lobelichem wibe. ir lip schein durch ir salwe wät alsam diu lilje, da si stat under swarzen dornen wiz. ich wasne, got sinen vliz an si hate geleit von schcene und von saelekeit. (V. 323-341) 3 3

Ausgangspunkt der Darstellung ist offensichtlich Enites körperliche Erscheinung. Uber die körperliche Erscheinung wird die Figur in die Handlung eingeführt.Wer Enite ist — dies heißt soviel wie: wie sieht Enite aus. Die Beschreibung ihres Aussehens folgt dabei jedoch nicht wie bei Chretien 34 der gängigen Regel des Sidonius Apollinaris von oben nach unten oder — wie Aphthonius es bereits formuliert hatte: »άπό κεφαλής έπι πόδας«35 — vom Kopf zu den Füßen, sondern der narrativen Choreographie von außen nach innen (Kleid — Hemd - l(ch), eine Perspektivierung des Blickweges, die durch die durchlöcherte Kleidung deutlich unterstützt wird: Flucht- oder Zielpunkt ist zweifelsohne der weiße Leib Enites. Viermal in 18 Zeilen taucht das Wort Up auf, einmal lieh. Ein Teil der Forschung hat aus diesem narrativen Spiel mit Kleidung und Leib, Blick und Durchblick geschlossen, dass es in dieser Passage primär um die körperbezogene, erotische Ausstrahlung Enites gehe, 36 die wiederum zum Anlass der »totalen Fixierung von Bewusstsein

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Zitiert nach: Hartmann von Aue, Erec, hrsg. von Manfred Günter Scholz, übers, von Susanne Held, Frankfurt a.M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5). Chretien de Troyes, Erec und Enide, übers, und eingel. von Ingrid Kasten, München 1979 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 17), V. 401-441. Zur Beschreibung insgesamt: Manfred Scholz, Kommentar zu V 323ff., in: Hartmann von Aue (wie A n m . 33); Gabriele Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters, Hildesheim, Z ü r i c h , N e w York 1985, 8 0 - 8 3 ; Elke B r ü g g e n , Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13.

35 36

Jahrhunderts, Heidelberg 1989, 76f. Z u m Verhältnis der Schilderungen bei Chretien und Hartmann knappe, doch wesentliche Hinweise bei U w e Ruberg, »Bildkoordinationen im Erec Hartmanns von Aue«, in: Gedenkschrift für William Foerste, hrsg. von Dietrich Hofmann unter Mitarbeit von Willy Sanders, Köln, Wien 1970, 477-501, hier: 490f. Zitiert nach: Edmond Faral, Les arts poetiques du Xlle et XHIe siecle, Paris 1924, 80. Ursula Schulze, »amis unde man. Die zentrale Problematik in Hartmanns Erec«, PBB 105 (1983), 14-47, hier: 17-23.

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und Verhalten auf minne und gemach«2,1 in Karnant werde. In dieser Argumentation

wurde auf Enites Zuordnung zum animalischen Körper, bildhaft in ihrem Pferdedienst, der die Szene umrahmt, hingewiesen. 38 Das Bild des Schwans wurde auf Leda bezogen, 39 die Farbgebung schwarz-weiß-grün 40 sowie die zerrissene Kleidung 41 als Sinnbild einer Defizienz gedeutet, die Enite aufgrund unregulierter sexueller Wünsche zukomme. Enite werde dargestellt in der traditionellen Rolle der Frau als Verführerin. 42 Bei den zentralen Fragen: >Wofür steht Enites lip< und >Worauf zielt das narrative Spiel von Blick und Durchblick« sind jedoch folgende Aspekte zu bedenken: Zum einen hat das Wort lip bekanntlich einen weiten Bedeutungsspielraum zwischen Person, Leben und Leib. 43 Eindeutig auf den Leib weist die Semantik jedoch nur inV. 336; zusammen mit lieh inV. 329 also nur zweimal. Die drei anderen Verwendungen (V. 3 2 3 , 3 3 2 , 334) ließen sich auch auf die Person insgesamt beziehen. InV. 323 und 334 liegt die allgemeine Bedeutung näher. 44 Zum anderen: Selbst wenn man diese semantische Differenzierung nicht aufgreifen möchte, dirigieren Kontext und Tropen das Verständnis dessen, was hier mit Up bezeichnet wird, nicht primär oder ausschließlich in Richtung einer dominanten Sexualität. So zeigt der unmittelbar vorausgehende Dialog Enite als bescheidene Tochter, die die Aufträge des Vaters voll Sorgfalt erfüllt. Der Pferdedienst symbolisiert in dieser Szene denn

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Ebd., 22. Zur Diskussion siehe in diesem Band den Beitrag von Irmgard Gephart, »Enite und die Pferde. Animalischer und zivilisierter Körper in Hartmanns von Aue Erec«. Schulze (wie Anm. 36), 18. Die Farbzusammenstellung versteht Heimo Reinitzer, »Uber Beispielfiguren im Erec«, DVjs 50 (1976), 597—639, hier: 619ff., als Anspielung auf die luxuria; nur die Farbe Schwarz bewertet negativ: Rosemary Combridge, »The Use o f Biblical and Other Learned Symbolism in the Narrative Works o f Hartmann von Aue«, in: Timothy McFarland, Silvia Ranawake (Hrsg.), Hartmann von Aue. Changing Perspectives. London Hartmann Symposium 1985, Göppingen 1988, 2 7 1 - 2 8 4 , hier: 274f. Otfrid Ehrismann, »Enite. Handlungsbegründungen in Hartmanns von Aue Erec«, ZfdPh 98 (1979), 3 2 1 - 3 4 4 , hier: 325. Enite werde dargestellt als »Mariens Antityp Eva« — mit Relativierung dieser Position (ebd.). Reinitzer (wie Anm. 40), insbes. 6 1 0 - 6 1 3 . Vgl. zu Reinitzers extremer Perspektive jedoch bereits die Kritik von Schulze (wie Anm. 36), 22£, Anm. 25. Die Relationen zwischen den verschiedenen Bedeutungen klärend: Burkhardt Krause, »Lip, min lip und ich. Zur conditio corporea mittelalterlicher Subjektivität«, in: Waltraud Fritsch-Rößler (Hrsg.), Uf der maze pfat. Fs. für Werner Hofmann zum 60. Geburtstag, Göppingen 1991 (GAG 555), 3 7 3 - 3 9 6 . Dem trägt auch die Ubersetzung von Susanne Held Rechnung: »Das Mädchen war entzückend anzusehen« (V. 323); »wäre sie reich gewesen, / dann hätte ihr nichts / zu einer vollkommenen Ehefrau gefehlt« (V. 3 3 3 - 3 3 5 ) .

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auch k a u m sexuelle Affinität, sondern Beherrschung der größeren Kraft - u n d dies mit leichter H a n d : Gott selbst wäre mit einem solchen Pferdeknecht zufrieden gewesen, heißt es im Folgenden (V. 356-358) in fast ironischer Überspitzung.Vor allem aber eröffnet die Symbolik der Farben grün u n d weiß sowie der Bilder des Schwans u n d der Lilie - auch dies w u r d e in der Forschung wiederholt hervorgehoben — Konnotationen zum moralischen, heilsgeschichtlichen und mariologischen Bereich, 4 5 wodurch »auf der Bildebene ein Spannungspol hinzugewonnen« 4 6 wird, der bei Chretiens descriptio corporis in diesem M a ß sicherlich nicht vorgegeben war. Zweimal wird z u d e m der Up mit d e m Attribut lobeltch in Verbindung gebracht. I h m darf somit ein öffentlicher R a u m der A n e r k e n n u n g sicher sein. Ja, Enites Schönheit gründet, so heißt es ausdrücklich, in Gott. E b e n deshalb kann sie mit d e m Begriff scelekeit korreliert werden, der die beatitude Gottes in sich schließt. 47 U n d schließlich: Von einem Verlangen Erecs, das durch Enites A u f m a c h u n g geweckt werden könnte, ist in dieser Szene mit keinem Wort die R e d e . Selbst dann, als Erec Enite von Koralus als Begleiterin und schließlich zukünftige Gattin erbittet, tut er dies nicht entbrannt in Liebe oder Verlangen, sondern weil er fur seinen R e c h n u n g s ausgleich mit Iders im Sperberkampf — nach der R ü s t u n g -

auch eine adäquate

Partnerin braucht (V. 495—510). 48 Adäquat aber ist Enite, weil ihre körperliche

45

Unter verschiedenen Gesichtspunkten vgl. Thomas Cramer, »Soziale Motivation in der Schuld-Sühne-Problematik von Hartmanns Erec«, Euphorion 66 (1972), 97-112, hier: 101;Wiebke Freytag, »Zu Hartmanns Methode der Adaptation im Erec«, Euphorion 11 (1978), 227-239, hier insbes.: 234f.; Ehrismann (wie Anm. 41), 325; EvaTobler, »Ancilla Domini. Marianische Aspekte in Hartmanns Erec«, Euphorion 80 (1986), 427—438, hier: 428-430; zu V. 336-338 insbes. Ruberg (wie Anm. 34), hier: 491: »Zugleich erhält das präzisierte Bild eine speziellere Analogie-Komponente, da es nach den Auslegungen von Cant. 2,If. in der Mariensymbolik als Zeichen von Schönheit und Sündenfreiheit verstanden wird.« Zur Anlehnung an das Hohelied vgl. auch Scholz (wie Anm. 34), Kommentar zu V. 323-341: »Die Protagonistin wird nach dem Modell nigra sum sed Jormosa (Ct 1,4 »ich bin braun, aber gar lieblich«) in die Dichtung eingeführt«; insges. vgl. auch ebd., Komm, zu V. 336—338; RudolfVoß, Die Artusepik Hartmanns von Aue. Untersuchungen zum Wirklichkeitsbegriff und zur Ästhetik eines literarischen Genres im Kräftefeld von soziokulturellen Normen und christlicher Anthropologie, K ö l n 1983, 10, sieht

Enite »bereits mit der ersten Erwähnung eine schier jenseitige Vollkommenheit zugeschrieben«. 46 47

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Ruberg (wie Anm. 34), 491. Vgl. R u h (wie Anm. 19), 14. Siehe Scholz (wie Anm. 34), Komm, zu V. 339-341: »Der Schlußvers der Beschreibung unterstreicht noch einmal das Vorhandensein einer doppelten Perspektive, der diesseitigen und der transzendenten«. Weiter: Freytag (wie Anm. 45), 235f.; Ehrismann (wie Anm. 41), 325. Ebenso: Voß (wie Anm. 45), 10, 12: Im Folgenden werde eine emotionale Bindung zwar deudicher (etwa V. 800ff.; 850fF.; 935fF„ 1317ff.; 13800".); erst beim gemeinsamen Ritt zum Artushof falle aber der Terminus >minnenur< körperlichen Bereich hinaus auf ethische, zugleich gesellschaftlich relevante Vollkommenheit verweisen (V. 333-335). Festzuhalten bleibt somit, dass in Enites Beschreibung offensichtlich die traditionelle Innen-Außen-Korrelation in der Weise anvisiert ist, dass es zu einem idealen Ausgleich kommt: Enite ist äußerlich schön und zugleich vollkommen tugendhaft — daran soll die Beschreibung, die Hartmann gibt, nicht Zweifel schüren, sondern sie soll ebensolche Zweifel aus dem Weg räumen. 4 9 Bei der Analyse der Erzählstrategien der Körperkonzeptionen ist somit zunächst zu warnen vor der Projektion deijenigen Lesarten, die mit der Lexik von Leib und nackter Haut einseitig das Konnotationsfeld von Sexualität — gar unregulierter, also negativ belegter — aufgerufen wissen. 50 Erzählstrategisch bleibt dennoch auffallend, dass der Ausgleich zwischen körperlichen und darüber hinausweisenden Qualitäten kaum mehr als Ausbalancierung von Kräften oder Möglichkeiten gefasst wird, die dichotomen R ä u m e n (Innen — Außen) zugeordnet sind, die Adaequatio vielmehr als Ineinander der metaphorisch divergenten Räume erscheint. Das heißt, das semiotische Kongruenzzeichen zwischen Innen und Außen wird in räumlicher Hinsicht gleichsam wörtlich genommen: Statt der räumlichen Zweischenkligkeit des üblichen Verweisbezugs liegt hier alles im Up beschlossen. Die Schönheit des Leibes verweist nicht auf die Schönheit der Seele in einem inneren, dahinterliegenden Bereich, sondern repräsentiert diese in sich selbst. Innerer und äußerer Bereich gehen, so gesehen, in der narrativen Engführung ineinander über. Die Personalitätskriterien sind der Oberfläche der weißen Haut eingezeichnet. Ebendies mag - irrtümlich - zur einseitig körperbezogenen Lesart geführt haben. Doch muss deutlich bleiben, dass der dichotome Bezug und somit das Repräsentationsverhältnis von lip und seelisch-ethischem Bereich selbst in der extremen Eng-

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Anm. 36), 20f. Eindeutig erotisch aufgeladen ist dann die Szenerie V. 1840ff., in der das einleitende Vergleichsbild des Engels abgelöst wird vom Vergleichsbild des Habichts und seiner Beute. Vgl. Otfrid Ehrismann, »Höfisches Leben und Individualität — Hartmanns Erec«, in: Walter Tauber (Hrsg.), Aspekte der Germanistik. Fs. für Hans-Friedrich Rosenfeld zum 90. Geburtstag, Göppingen 1989 (GAG 521), 99-122, hier: 109: »Das j u n g e Mädchen wird als die Schöngute [...] gesehen — gleichsam ein märchenhafter Standard«. Der Vergleich mit der blonden Iseut würde demgegenüber eine Problematik ins Spiel bringen, die Hartmann dezidiert vermeiden möchte. Die Tilgung der Tristan-Anspielungen sollte in diesem Kontext gesehen werden. Z u r Diskussion Scholz (wie Anm. 34), K o m m . zuV. 331 f. Z u m weiten Bedeutungsspektrum von Nacktheit bzw. nackter Haut vgl. in diesem Band die Beiträge von Friedrich Wolfzettel und Ulrich Ernst. Die spezifischen literarischen Inszenierungsstrategien von Lüsternheit erläutert in diesem Band Elisabeth Schmid.

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flihrung keineswegs aufgehoben wird. Im Gegenteil, die Verkürzung des Verweisweges wirkt eher als semiotisches Brennglas, das den Aspekt der Repräsentation gerade verstärkt. Zielt die Innen-Außen-Korrelation in der Regel auf ein Repräsentationsverhältnis des Inneren durch ein Außeres, des seelisch-ethischen Bereichs durch den Up (nicht umgekehrt!), so muss eine narrative Engführung dieser Spannung die Repräsentationsfunktion des Körpers in ihrer Zeichenhaftigkeit nurmehr potenzieren, ja in der Verschmelzung nahezu absolut setzen. Das aber heißt: Statt die reale Präsenz des Körpers mit den Konnotationen von Erotik und Sexualität aufzuladen, kommt es durch die Verkürzung des semiotischen Verweisweges zu einer Potenzierung der Zeichenfunktion des Leibes und ebendies relativiert die Semantik physischer Körperlichkeit. Oder anders formuliert: Enites narrativ inszenierter Körper steht zwar auf den ersten Blick — in realer Präsenz — für erotische Ausstrahlung, wird jedoch zugleich — berücksichtigt man das semiotische Arrangement — zum bloßen Verweiszeichen neben anderen Zeichen wie Farbsymbolik undVergleichslexik und verlässt in dieser Perspektive seinen ursprünglichen semantischen Geltungsbereich. Beide Lesemöglichkeiten werden nun in der angeführten Passage durch das Spiel mit Kleidung u n d Leib, mit Blick und Durchblick unterstrichen. Dieses Spiel bewirkt zunächst eine Doppelung der Innen-Außen-Relation. Denn nicht nur seelisch-ethischer Bereich und Up, sondern auch Up und Kleidung stehen in Bezug zueinander. Beide Relationsverhältnisse werden, so ähnlich sie ihrer Grundstruktur nach sind, in ihrer qualitativen Ausrichtung jedoch deutlich voneinander unterschieden. Perspektivieren seelisch-ethischer Bereich und Up ein Verhältnis der Adaequatio, der Amalgation, so Up und Kleidung ein Verhältnis der Differenz, des scharfen Kontrasts: Die zerschlissene armselige Kleidung Enites gewährt Durchblick auf ihren Leib, der der Kleidung in keiner Weise entspricht. Was auf erster Ebene als voyeuristischer Blick auf den nackten, erotisierten Körper gelesen werden kann, erschließt sich in semiotischer Perspektive als Hinweis darauf, dass hier der Körper selbst den Status des Inneren einnimmt, selbst zu einer inneren Qualität wird. Gegenüber einem inadäquaten Außen, der unansehnlichen Kleidung, amalgamiert sich der Leib gleichsam vollkommen mit dem ihm adäquaten Inneren. Die nackte Haut wird dabei zum Lesezeichen gerade der Transparenz, der grundsätzlichen Durchlässigkeit von seelisch-ethischem und körperlichem Bereich. Dieser Transparenz ist es schließlich zuzuschreiben, dass sich die Blickrichtung von außen nach innen überraschend umkehren kann, indem der Leib nun als Glanz des Inneren diesen Glanz nach außen zu tragen vermag: »ir lip schein durch ir salwe wät / alsam diu lilje, da si stät / under swarzen dornen wiz« (V. 336—338). Als Fazit wäre somit bis hierher festzuhalten: Entscheidende Parameter der Körperkonstruktion Enites sind der Bezug zwischen körperlichem und seelisch-

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ethischem Bereich, ergänzt durch eine Bestimmung der /ip-K leidung-Relation. Beide Relationen arbeiten — wenn auch in unterschiedlicherweise — mit InnenAußen-Konstellationen. Seelisch-ethische und körperliche Qualitäten werden traditionsgemäß in korrelative Zugehörigkeit versetzt, d.h. sie gehen ein Verweis- bzw. Repräsentationsverhältnis ein, bei dem der Verweischarakter die Dichotomie beider Qualitäten austariert. Der Verweisbezug wird jedoch in extremerWeise bis zu einer fast vollständigen Engfiihrung der Dichotomie, bis zum Ineinanderspiel von Außen und Innen zugespitzt, allerdings ohne dass der Spannungsbezug der Dichotomie als prinzipiell gültiger Bezugsmaßstab aufgehoben würde.Je mehr man in der Leserichtung jener Amalgation von seelisch-ethischem und körperlichem Bereich folgt, die durch die Opposition zu einem gänzlich differenten, zweiten Außen, der Kleidung, unterstützt wird, desto mehr wird man diese Amalgation - in ontologischer Hinsicht durch das christliche Primat der Seele — als Entkörperlichung, als Schwinden der Leiblichkeit des Leibes wahrnehmen, 5 1 desto mehr ist - in semiotischer Hinsicht durch das Primat der Zeichenfunktion des Äußeren - nicht von der Realpräsenz, sondern von der lediglich symbolisch-repräsentativen Präsenz des Körpers auszugehen. Vor dem Hintergrund dieser Analyse scheint es lohnend, folgende These zur Diskussion zu stellende enger seelisch-ethischer und körperlicher Bereich in der narrativen Inszenierung des arthurischen Romans u m 1200 aufeinander bezogen sind, umso eher (aber nicht notwendig) wird die reale Präsenz des Körpers überhöht, ergänzt oder in Frage gestellt zugunsten symbolischer Repräsentanz. Bestätigt sich dies im Umkehrschluss? Wird dort am ehesten Körperlichkeit ausschließlich im Sinn der Realpräsenz anzutreffen sein, wo eine Störung des seelisch-ethischen Bereichs vorliegt, w o der Verweisbezug unterbrochen ist? 52

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M i t prägnanten Beispielen aus der H o h e l i e d e x e g e s e spricht Hildegard Elisabeth Keller v o m d u r c h s i c h t i g e n FleischStörung< des I n n e n - A u ß e n - B e z u g s g e k e n n zeichnet ist, s o n d e r n weil C h r e t i e n d e n Z u s a m m e n h a n g zwischen k ö r p e r l i c h e m u n d e t h i s c h e m Aspekt weitaus w e n i g e r verflochten zur Darstellung bringt, i n d e m er K ö r p e r b e s c h r e i b u n g (V. 401fF.) u n d T u g e n d b e s c h r e i b u n g (V. 537fF.) hintereinander stellt. Anders in der Beurteilung: Schulze (wie A n m . 36), 19.

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IV. Der opake Körper: Aufbruch des Paares Nachdem Enite Erec die Vorwürfe des Hofes offenbart hat, antwortet Erec knapp: »der rede ist genuoc getan« (V. 3052). Und dann heißt es: zehant hiez er si üf stän, daz si sich wol kleite unde ane leite daz beste gewsete daz si iender haete. (V. 3053-3057)

Warum soll Enite nicht irgendein, sondern »daz beste gewaste« wählen? Dies irritiert in Hinblick auf die übliche Innen-Außen-Korrespondenz: In dem Moment, in dem die Schuld des Paares, insbesondere — in den Augen des Hofes — die Schuld Enites zutage tritt, veranlasst Erec Enite, diejenige Kleidung anzulegen, die — so scheint es - am wenigsten jenem Schuldstatus adäquat ist. 53 Der Sinn dieser prachtvollen Ausstattung 54 zeigt sich jedoch wenig später — und dies gerade nicht auf der Seite symbolischer Konstruktion, sondern auf der Seite handlungslogischer Ökonomie: Enite fungiert als »Lockvogel« 55 , der zum Streitobjekt werden und damit zum Kampf herausfordern soll, einem Kampf, in dem Erec sich bewähren will, indem er seine eigene Defizienz gleichsam spiegelbildlich im Gegner besiegen möchte. Diese Lockvogelfunktion unterstützt Enites Ausstattung, d.h. die Ausstattung gehört wesentlich mit zu jenem Arrangement, in dem Enite als Objekt der Begierde vorgeführt wird. U n d dieses Arrangement funktioniert denn auch im erhofften Sinn mit geradezu mechanischer Präzision. Der erste räuberische Angreifer verlangt als Beutesieg »niuwan daz wip« (V. 3212fF.), ebenso wie der Initiatior des zweiten Uberfalls es primär auf Enite abgesehen hat (V. 3332ff.), und auch der Graf lässt nicht ab von Enite, da er sie — zur Not auch mit Gewalt — zu seiner Frau zu machen gedenkt (V. 3668ff., 3828ff.).

53

54

55

Dies erscheint als Gegenbild zu jener Szene, als Erec zurückwies, Enite besser zu kleiden, da sich Lobenswertes unabhängig von der Kleidung zeige: V. 642—649. Vgl. auch dieselbe Ablehnung in dem Moment, als Erec, der nun bewährte Sieger des Sperberkampfes, mit der soeben erwiesenen Schönsten an den Artushof ziehen möchte: V. 1406ff. Zu den verschiedenen Forschungspositionen resümierend: Scholz (wie Anm. 34), Komm, zu V. 3053-3057. R u h (wie Anm. 19), 132.Vgl. auch Haiko Wandhoff, »Gefahrliche Blicke und rettende Stimmen. Eine audiovisuelle Choreographie von Minne und Ehe in Hartmanns Erec«, in: Müller (wie Anm. 3), 170-189, hier: 175f.

Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns

Erec

421

Damit wird mit Parametern der Körperkonzeption, die gegenüber der Szene zuvor nur leicht verschoben sind, eine gänzlich andere Körperinszenierung vorgestellt: Diente zuvor die durchlöcherte Kleidung dazu, den Blick auf den Körper als Repräsentanten eines Inneren zu lenken, so verfängt sich nun der Blick in einer Kleidung, die keine Differenz zum Körper eröffnet, keinen Durchblick auf den Körper als anderen gewährt, die vielmehr als zweite Haut mit der Schönheit Enites identisch scheint. Enite wird somit von einer konsequenten Außenperspektive her wahrgenommen, die eine Spannung zwischen körperlichem und seelischethischem Bereich gerade nicht einräumt. Für die Räuber ist Enite — unerachtet dessen, was sie selbst möchte — Beuteobjekt, als solches nur graduell von Pferden oder Rüstung unterschieden. Der Graf fragt Enite zwar nach ihrem Willen, erkennt diesen jedoch nicht an, als Enite sich ihm zu widersetzen droht. D.h. die Art, wie Enite wahrgenommen wird, reduziert sich auf bloße Oberflächensignifikanz, die sich in der Symbiose von schöner Kleidung und körperlicher Schönheit erfüllt. Waren zuvor seelisch-ethische und körperliche Qualitäten bis zur Identität aufeinander verwiesen — in Opposition zur Kleidung, so erscheinen nun Körper und Kleidung zu einer opaken Einheit adaptiert, die — gleichsam jeden tieferen Blick abfangend — krudes körperliches Begehren initiiert. 56 Konsequent dreht sich damit auch das Verhältnis von symbolischer und realer Körperpräsenz um. Konnte man in der anfänglichen Beschreibung Enites von einer semiotischen Verschmelzung des realen Körpers mit dem symbolischen sprechen — Bedingung der Möglichkeit der doppelten Lesart —, so ist das Ausblenden des Inneren in der narrativen Blickführung nunmehr der Ausdruck dafür, dass die begehrlichen Beobachter nichts anderes als den realen, den physisch reizvollen Körper gelten lassen.57

56

Von h i e r h e r lässt sich verstehen, dass Erec diese einseitige Oberflächensignifikanz f ü r andere inszeniert, u m im K a m p f gegen diejenigen, die d e n Aspekt der Körperlichkeit absolut setzen, die eigene Defizienz des verligens zu b e k ä m p f e n . H a i k o W a n d h o f f (wie A n m . 55) hat als Indikator dieser D e f i z i e n z die »optische[| Vereinseitigung« (187) des Paares ü b e r z e u g e n d herausgearbeitet. So bestehe die »Krise der Ehepartnerschaft« in der zunächst »einseitig auf d e n Gesichtssinn ausgerichteten G e m e i n s c h a f t des Paares« (181), die n u r d a d u r c h ü b e r w u n d e n w e r d e n k ö n n e , i n d e m zwischen »Präsenz u n d A b w e s e n h e i t , M i n n e u n d H e r r s c h a f t , Sehen u n d H ö r e n ein Ausgleich erfolgt« (188). S o m i t wäre auch bei der Lockvogelinszenierung, die die Oberflächensignifikanz u n t e r streicht, mit Schulze (wie A n m . 36), 30, von einer »Spiegelstrafe« zu sprechen.

57

D i e »Ver-Hüllung des K ö r p e r s d u r c h Kleidung« zielt hier somit gerade nicht auf j e n e s P r o g r a m m des »Unsichtbarmachen[s] W e i b l i c h k e i t in der deutschen Literatur des Mittelalters«, in: M ü l l e r (wie A n m . 3), 2 2 2 - 2 3 8 , hier: 225, f ü r die didaktische Literatur nachgewiesen hat. I m Spiel m i t V e r - u n d E n t h ü l l u n g des K ö r p e r s p r o duziert die fiktionale Literatur o f f e n b a r weitaus komplexere, ζ. T. konträre O p t i o n e n .

422

Annette Gerok-Reiter V. D e r l e e r e K ö r p e r - E r e c s S c h e i n t o d

N a c h d e m Kampf mit Cadoc bricht Erec zusammen. Enite hält ihn für tot. Im Tod treten Up und sele auseinander, der Spannungsbezug der D i c h o t o m i e wird aufgehoben. Konsequent erlischt damit für den K ö r p e r jegliche Möglichkeit der R e p r ä sentation. Er verweist auf nichts m e h r als auf sich selbst. E b e n deshalb treten im und am toten K ö r p e r die Bedingungen realer Körperlichkeit wie nirgends sonst zutage: Endlichkeit, Zerfall, Verwesung. Dieser Realität trägt das Bestattungsritual R e c h n u n g : Erec wird, wie sich im weiteren Verlauf herausstellt, von Kopf bis zu den Füßen mit Binden umwickelt (V. 6671ff.). M a n hat — mit Blick auf die D r a maturgie von Erecs W i e d e r b e l e b u n g — die Verhüllung symbolisch deuten w o l len: Erec als Postfiguration Christi oder als Lazarus-Analogie. Zumindest hat man eine gegenseitige Durchlässigkeit der Register »de la culture religieuse« und »du recit profane« 5 8 a n n e h m e n wollen.Von den Parametern der Körperkonzeption aus gesehen, liegt die profane Lesart j e d o c h zunächst näher. D e r tote Körper ist primär der entseelte Körper, ist bloßes Fleisch, reines Außen, ein A u ß e n o h n e Inneres, ist leere, verwesende Hülle. D e m trägt in realistischer Funktion die komplette Bedeckung R e c h n u n g . Dabei bilden - in narrationstechnischer Hinsicht interessant — der Leichnam als leere Hülle u n d die verhüllende Bedeckung des Leichnams wieder ein gedoppeltes, gleichsam opakes Außen, das nun j e d o c h nicht nur j e d e transzendierende W a h r n e h m u n g verwehrt, sondern hinter d e m hier in der Tat nichts m e h r zu finden ist. D e r U m g a n g mit der Trennung von lip u n d sele diesseits j e d e r Symbolik prägt d e n n auch das Verhalten des Grafen und Enites, w e n n auch mit ganz unterschiedlichen M ö g l i c h k e i t e n der R e a k t i o n . Graf Oringles hat in der A r g u m e n t a t i o n gegenüber Enite primär Erecs toten Körper im Auge. Erecs toter Körper, so kann er mit Fug u n d R e c h t behaupten, sei — vollkommen u n d besser als zuvor — durch seinen eigenen Up zu ersetzen, durch den Enite R e i c h t u m statt Armut, Glück statt Unglück, Schutz statt Unsicherheit, Macht statt Erniedrigung, Ehe statt Einsamkeit geboten würden:

58

Auch Enites positiv gewertetes Verhalten auf dem Aventiureweg steht in auffälligem Widerspruch zu jenem Soll-Katalog aus Thomasins Wälschem Gast (V. 405-470), der die Konstruktionen von Weiblichkeit normativ und restriktiv festlegt (ebd., 225—227). Parallelen ließen sich jedoch auftun zum Ratschlag an die jungen Männer, nicht allein auf die körperliche Schönheit einer Frau zu achten (V. 995 und 1304). Rene Perennec, Recherches sur le roman arthurien en vers en Allemagne aux Xlle. et XHIe. siecles, Premiere partie: Hartmann von Aue, Erec, Iwein. Adaptation et acclimatation, Göppingen 1984, 41. Vgl. auch Scholz (wie Anm. 34), Komm, zu V. 6669-6681.

Narrative

Steuermodi

körperlicher Präsenz

am Beispiel von Hartmanns

Erec

423

er sprach: »waz ist, daz ir saget? ane not ir iuch so sere klaget. ir habet verlorn einen man, den ich iu, ob mir's got gan, vil wol ersetze: vil gerne ich iuch sin ergetze mit libe und mit guote.« 59 (V. 6388-6394)

Diese ausschließlich körperbezogene Außenperspektive auf ihren Mann erwartet Oringles auch von Enite, deren Trauer, Klagen und personaler Erinnerung er keinerlei Bedeutung schenkt (V. 6395fF.). Schließlich wendet er dieselbe körperliche Außenperspektive auf Enite selbst an. So nimmt er - wie zuvor die Räuberbanden und der Graf — ihre Schönheit lediglich als visuelles Körper-Bild wahr, das für das Auge und zur Freude des Mannes geschaffen ist (V. 6160ff.), das durch Trauer keinen Makel erhalten soll (V. 6230f.) und das er entsprechend piaziert (V. 6430ff.): ir wart ein valtstuol vor gesät ze tische engegen, als er bat, daz er die vrouwen deste baz m ö h t e schouwen. (V. 6430—6433)

Die rein körperbezogene O b e r f l ä c h e n w a h r n e h m u n g , die keinerlei seelische Dimension zulässt, wird dann z u m Anlass der übereilten Hochzeit (V. 6324ff., 6 3 5 0 f f ) , spiegelt sich karikaturhaft in der Beschimpfung Enites als »übel hüt« (V. 6524) und erfüllt sich schließlich konsequent in der Gewaltanwendung ihr gegenüber (V. 6426ff., 6515ff., 6577ff.). Das Körperkonzept der Lüsternheit und das Körperkonzept der Gewalt haben dieselben Parameter. In ganz andererWeise versucht Enite sich auf die Trennung von Körper und Seele einzulassen, von der sie — wie sie meint — mit ErecsTod auszugehen hat. Zunächst wendet sie sich dem körperlichen Aspekt zu, indem sie den Gedanken festhält, »daz ein man und sin wip / suln wesen ein lip« (V. 5826f.), und darauf Gott bittet, ein hungriges Tier, sei es Wolf, Bär oder Löwe möge sie zusammen mit Erec auffressen: »daz sich so iht scheide / unser lip mit zwein wegen!« (V. 5837f.). 60 Dann jedoch konzentriert sie sich auf den seelischen Aspekt: »und ruoche got unser seien phlegen, die enscheident sich benamen niht, swaz dem libe geschiht.« (V. 5839-5841)

59 60

Siehe mit der entsprechenden Lexik ersetzen, ersetzen auch V. 6241-6250; 6463-6505. Der Singular unser Iiρ knüpft dabei offenbar an V. 5826f. und dessen Rekurs auf Gen 2,24 an.

424

Annette

Gerok-Reiter

D e r Wunsch, sich zu töten, zielt n u n m e h r darauf, zumindest eine Einigung der Seelen zu erzielen. So ruft sie den Tod herbei, m ö c h t e ihrem Leben mit Erecs Schwert selbst ein Ende setzen, alles im Bestreben: »swaz dem übe nü geschiht, ze ringer klage mir daz stät, wirt iedoch der sele rat.« (V 6001-6003) Die Körperdestruktion setzt sie fort, indem sie — während des Fests in Limors - noch einmal betont, j e d e r Verbindung mit einem M a n n entsagen zu wollen (V. 5875£f., 6416ff.), dann das Essen verweigert (V. 6513f.) u n d schließlich die Schläge des Grafen als Unterstützung ihres Destruktionswunsches auffasst: si waere gerner tot gewesen tüsentstunt dan genesen: und als si den slac emphie, wan er von mannes krefte gie, do hete si gedingen unde trost, si würde des libes belost, [...] (V. 6558-6563) 61 Enites Versuch, ihre Seele mit degenigen Erecs zu verbinden, fuhrt somit von ganz anderer Seite her und mit umgekehrter W e r t u n g zu einer H e r v o r h e b u n g des K ö r perlichen. Gerade die von ihr angestrebte A u f h e b u n g der D i c h o t o m i e von Up u n d sele bei sich selbst lässt den K ö r p e r als widerständigen, fesselnden, also realen K ö r per umso bewusster werden.

V I . D e r a u s g e d e h n t e K ö r p e r : J o i e de la curt W i e setzen sich die bisher g e f u n d e n e n Z u s a m m e n h ä n g e in j e n e r die Gesamtproblematik n o c h einmal resümierenden, gleichzeitig steigernden Szene um? 6 2

61

62

Eben deshalb weicht sie der Gewalt nicht aus, sondern sucht sie auf, ja provoziert sie: V. 6557ff. und 6577ff. Bezeichnenderweise sind es dann das Aufbegehren gegen jene körperliche Destruktion im Gedenken an Erec, sind es ihr Schrei und ihre Stimme (V. 6595ff.), die - gleichsam zwischen Körper und Seele vermittelnd — Erec aufwecken und die Wende hervorrufen. Mit der Stimme, dem akustischen Signal, wurde diese Szene zugleich eingeleitet. Dazu Wandhoff (wie Anm. 55), 183f., wobei zu präzisieren wäre, dass Oringles nur am Anfang Enites Stimme folgt, sogleich jedoch - parallel zum ersten Grafen — der visuellen Oberflächenwahrnehmung verfällt und alles, was Enite spricht, missachtet. R u h (wie Anm. 19), 138f.; Christoph Cormeau, »Joie de la curt. Bedeutungssetzung

Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec

425

Ich beschränke mich auf zwei Aspekte: Zum einen auf die Außen-Innen-Choreographie von Körperlichkeit in Bezug auf den Raum; zum anderen — abschließend — noch einmal auf die Außen-Innen-Choreographie von Kleidung, Körper und transzendierendem Bereich. Zum ersten Aspekt: Der Baumgarten ist zu finden, so heißt es, außerhalb von Stadt und Burg, über die König Ivreins herrscht, und jenseits des Flusses, der die Stadt begrenzt (V. 7834ff.). Ein Zugang zu ihm kann nicht auf unmittelbare Weise gefunden werden. Der Baumgarten liegt also gleichsam in einem absoluten »Außerhalb^ Erec begibt sich in dieses radikale >Außerhalb< in einem Gang, der in genauen Etappen als Ausgrenzungs- und Isolationsprocedere beschrieben wird, in dem die gewohnten Bindungen zurückgelassen werden, markiert durch Erecs Weg aus der Stadt heraus (V. 8680ff.), dem Zurücklassen der Stadtbewohner am Eingang zum Baumgarten (V. 8759ff.), schließlich seiner Trennung von Enite und König Ivreins vor dem Pfad, den Erec nur allein betreten darf (V. 8874ff.). 63 Uber den Baumgarten hat sich ein Bann der Angst gelegt. Dieser Bann der Angst geht von Mabonagrin aus. Kennzeichen Mabonagrins sind denn auch primär seine Größe und physische Stärke, die wiederholt hervorgehoben werden: Als starken Mann, der jedem, den er besiegt, den Kopf abschlägt, charakterisiert ihn Ivreins (V. 8474ff., 8514fF.). Ebenso präsentiert ihn der Erzähler: des boumgarten herre was lanc unde gröz, vil nach risen genoz. [...] ich waene, sin herze bluote, swenne er niht ze vehtenne vant: so mordic was sin hant. (V. 9011-9023)

Diese Stärke setzt Mabonagrin mit martialischer Grausamkeit ein, die Verstand und Tapferkeit zunichte machen. Nur ein Törichter könne sich auf einen solch aussichtslosen Kampf einlassen, beteuert Ivreins (V. 8480fF.); und Enite schwinden die

63

und ethische Erkenntnis«, in: Walter Haug (Hrsg.), Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978 (Germanistische Symposien Berichtsbände 3), 194—205, hier: 194-199; Wandhoff (wie Anm. 55), 186; Walter Haug, »Chretien de Troyes und Hartmann von Aue: Erec und des hoves vreuden, in: W. H., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, T ü b i n gen 2003, 205-222, hier: 219f. Gertrud Höhler, »Der Kampf im Garten. Studien zur Brandigan-Episode in Hartmanns Erec«, Euphorion 68 (1974), 371-419, hier: 379-382; Ernst Trachsler, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman, Bonn 1979, 201—204.

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Annette

Gerok-Reiter

Sinne angesichts des Schreckbildes der abgeschlagenen Köpfe (V. 8824). Mabonagrins Kraft, sein blutiger Kampfwille sowie seine Grausamkeit sind somit so furchteinflößend, dass sie allein eine ausreichende Grenze setzen: die Grenze der Angst, verursacht durch krude Körperlichkeit, die nichts außer sich selbst gelten lässt.64 In diesem radikalen >AußerhalbTextaußerhalbFest-stellung< ist insofern wörtlich zu nehmen, da die Absenz in Lettern fixiert und

4

D i e mediävistische Forschung beschreibt (in anderer A k z e n t u i e r u n g als in der vorliegenden Untersuchung) fur das Zeitalter des Ubergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit eine enge Verflechtung von K ö r p e r u n d Text u n d eine Funktionalisierung des Körpers als Teil der Zeichenvermittlung (vgl. Ursula Peters, »Historische A n t h r o p o l o g i e u n d mittelalterliche Literatur. S c h w e r p u n k t e einer interdisziplinären Forschungsdiskussion«, in: Johannes Janota, Paul Sappler, Frieder Schanze u.a. [Hrsg.], Fs.für Walter Haug und Burghart Wachinger, T ü b i n g e n 1992, Bd. 1, 63—86, hier: 71; Karina Kellermann, »Entstellt, verstümmelt, gezeichnet. W e n n höfische K ö r p e r aus der F o r m geraten«, in: Iris D e n n e l e r [Hrsg.], Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt a.M. 1999, 3 9 - 5 8 , hier:39f.). M a n weist ferner auf einen Z u s a m m e n h a n g zwischen d e m Medienwandel, einem veränderten Körperbewusstsein u n d n e u e n Sinnstrukturen hin (siehe insb. Hans U l r i c h G u m b r e c h t , »Beginn von >LiteraturAufiührung< u n d >SchriftAufführung< und >Schrift< in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 1996 [Germanistische Symposien Berichtsbände XVII], 190204; Christian Kiening, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a.M. 2003).

5

Z u r literarisch inszenierten Mündlichkeit vgl. Paul Goetsch, »Fingierte Mündlichkeit in der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen«, Poetica 17 (1985), 2 0 2 - 2 1 8 ; Klaus R i d der, »Fiktionalität u n d Medialität. D e r höfische R o m a n zwischen Mündlichkeit u n d Schriftlichkeit«, Poetica 34 (2002), 2 9 - 4 0 ; z u m Verhältnis Mündlichkeit/Schriftlichkeit u n d z u m medialen U m b r u c h vgl. W e r n e r R ö c k e , Ursula Schaefer (Hrsg.), Mündlichkeit — Schriftlichkeit — Weltbildwandel. Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, T ü b i n g e n 1996; U l r i c h Ernst, »Formen der Schriftlichkeit i m höfischen R o m a n des h o h e n u n d späten M i t telalters«, Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), 2 5 2 - 3 6 9 ; Christine Ehler, Ursula Schaefer (Hrsg.), Verschriftung und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Epochen, T ü b i n g e n 1998; Ursula Schaefer, » Z u m Problem der M ü n d l i c h keit«, in: Joachim Heinzle (Hrsg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a.M. 1994, 3 5 7 - 3 7 5 ; U. S., Edda Spielmann (Hrsg.), Varieties and Consequences of Literacy and Orality. Formen und Folgen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Franz H. Bäuml zum 75. Geburtstag, T ü b i n g e n 2001.

434

Christiane Ackermann

zudem auf unterschiedlichen Textebenen (im wahrsten Sinne des Wortes) ausbuchstabiert wird. Die vorgeschlagene Perspektivierung soll es ermöglichen, Aussagen über das Subjekt im literarischen Text zu treffen, das sich entwirft im Changieren seiner Position sowie im grundsätzlichen U m g a n g mit den Möglichkeiten, G e g e n wärtigkeit im Text zu erzeugen. Die Gegenwärtigkeit betrifft die Autor-/Erzählerebene, ist j e d o c h auch für die Figurenebene von Bedeutung. In beiden Fällen suggeriert der Körper Authentizität u n d lässt diese simultan unerreichbar erscheinen, auf beiden Ebenen geht es u m die Einheit von Zeichen u n d Aussage. Im Folgenden sind die Ich-Präsentationen u n d Körperinszenierungen sowie ihre Relation zueinander zu untersuchen; dies kann Aufschluss geben über die Subjekt-Gestaltung im Werk Wolframs. Zunächst richtet sich der Blick auf die Ich- und Körperdarstellung im Prolog (II); anhand der leuchtenden Schönheit Parzivals und der hybriden Gestalt Cundries wird daraufhin das komplexe Ausdrucksvermögen des Körpers beleuchtet (III), u m abschließend die Körperbeschreibungen u n d IchAussagen in ihrem Z u s a m m e n h a n g mit der Erzählstruktur zu diskutieren (IV).

II. Die Abwesenheit manipulieren D e r Prolog des Parzwal liefert den Auftakt für die recht eigene Erzählweise des Werks. Sie k o m m t in den Versen 1,26-30 pointiert z u m Ausdruck, in welchen das Ich sich in die A u t o r - R o l l e begibt: wer roufet mich da nie kein här gewuohs, inne an miner hant? der hat vil nähe griffe erkant. sprich ich gein den vorhten och, daz glichet miner witze doch. (1,26—30) Die Erzählinstanz bringt sich hier nicht nur selbst in der ersten Person Singular ein, sondern verweist zudem auf den eigenen K ö r p e r und mögliche aggressive H a n d lungen gegen ihn. Die Attacke muss j e d o c h ins Leere laufen, denn eine wirkliche Angriffsfläche bietet sich nicht. 6 D e r Sprecher in der Autorrolle deutet die A n w e -

6

Die nachfolgende Interpretation nimmt Kienings Deutung auf, der die Prologverse 1,26-30 als Spiel des schreibenden Subjekts mit seiner An- und Abwesenheit im Text und damit als Inszenierung von Autorschaft versteht (vgl. Kiening [wie Anm. 4], 199201). Kienings Überlegungen basieren z.T. auf einem Beitrag von Peschel-Rentsch. Dieser hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Autor über die Aggression gegen den Anderen konstituiere (vgl. Dietmar Peschel-Rentsch, »Wolframs Autor. Beobach-

Körperinszenierung.

Ich-Präsentation

und Subjektgestaltung

im

435

Parzival

senheit u n d Greifbarkeit seines Körpers an, die er gleich darauf wieder zurückzieht. Diese Inszenierung des nicht präsenten Körpers ist entscheidend für die Position des Sprechers. Die Präsentation des >auktorialen< Körpers wird zum Hinweis auf seine Abwesenheit. »Die >bloße< Innenseite« ist k a u m m e h r als ein Signifikant »ohne eindeutiges Signifikat« 7 . D e r Körper ist im Text nicht unmittelbar anwesend. Die H a n d illustriert die >Unan-Tastbarkeit< des Textproduzenten. D e r in Text transformierte Körper ist nur als Fragment (»mine hant«; 1,27) verfügbar. Als solches reflektiert er einen Mangel an Präsenz u n d demonstriert, dass der Aggressor dem Subjekt des Geäußerten nichts anhaben kann. D e n n er ist >lediglich< eine sprachliche Repräsentation im Text, er besitzt keine unmittelbare Gegenwärtigkeit. Die genannten Prologverse illustrieren so die eigentümliche Position des Ich im schriftlichen M e d i u m . Die Konkretisierung des Autors als Person >hinter< dem Text wird problematisiert und dabei deutlich: Im M e d i u m der Schrift ist der K ö r per k a u m zu fassen. Die Darstellungsweise von Ich und Körper im Parzival

hat historische B e d e u -

tung, denn diese Art der R e f l e k t i o n der Autorrolle ist neu für die volkssprachliche erzählende Literatur des Mittelalters. 8 Das literarische Spiel mit dem K ö r p e r kann k a u m getrennt gesehen werden von den medialen R a h m e n b e d i n g u n g e n der Zeit. Die Präsenz des Autors war möglich, gleichwohl keinesfalls zwingend. Die semi-orale Kultur zur Zeit Wolframs kennzeichnet das Ineinander und >Auseinander< von Körper u n d Schrift; die Literatur zeugt von einer »Ästhetik des Erscheinens, der es zugleich auf Gegenwärtigkeit ankommt« 9 . Zeichen sind darauf ange-

tungen zur Entstehung der Autor-Figur an drei beispielhaften Szenen aus Wolframs Parzival

[1988]«, in: D. P . - R . , Gott, Autor,

Ich. Skizzen

zur

Genese

von

Autorbewußtsein

und Erzähletfigur im Mittelalter, Erlangen 1991, 158-179, hier: 164; auch in: DVjs 64 [1990], 26-44); zu Kienings und Peschel-Rentschs Beitrag vgl. Ingrid Kasten, »Wahrnehmung als Kategorie der Kultur- und Literaturwissenschaft«, in: John Greenfield ( H r s g . ) , Wahrnehmung

im »Parzival«

Wolframs

von Eschenbach.

Actas do Coloquio

Interna-

cional 15 e 16 de Novembro de 2002, Porto 2004, 13-36, hier: 32-36; siehe in diesem Kontext auch Bertaus »IV. Versuch über die Struktur einiger Aggressionsphantasien«. Bertau unternimmt darin eine (freudianische) Lesart der Aggressionsphantasien und der Ich-Struktur in Wolframs Werk (vgl. Karl Bertau, Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität 7 8

und Ursprünglichkeit

in der Geschichte,

M ü n c h e n 1 9 8 3 , 137f.).

Vgl. Kiening (wie Anm. 4), 199. Zur Besonderheit der Wolframschen Autor-, Erzählerstilisierung vgl. Eberhard Neilm a n n , Wolframs

Erzähltechnik.

Untersuchungen

zur

Funktion

des Erzählers,

Wiesbaden

1973, 31; Klaus Ridder, »Autorbilder und Werkbewußtsein im Parzival Wolframs von Eschenbach«, in: Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hrsg.), Neue Wege der Mittelalter-Philologie: 9

Überlieferung, Werkbegriff, Interpretation.

loquium 1996, Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15), 168-194, hier: 168. Kiening (wie Anm. 4), 13.

Landshuter

Kol-

436

Christiane Ackermann

legt, den erzählten Gegenstand sinnlich erfahrbar zu machen. Das verschriftlichte W o r t macht dabei das Auseinandertreten von Zeichen u n d Referent 1 0 , von Text u n d Autor erfahrbar. Angesichts dieser Gegebenheiten lautet nun die erste These: Die Erzähltechnik des Parzival ist geprägt durch ein Spiel mit der Differenz von Subjekt der Ä u ß e r u n g (i. e. der Autor bzw. die Autorrolle) u n d Subjekt des Geäußerten (i. e. die Sprecherinstanz im Text). 11 Das Spiel mit den beiden Instanzen ergibt sich aus der Erfahrung mit d e m M e d i u m Schrift. Im M o m e n t der Fixierung des Ich auf Pergament ereignet sich eine Aufspaltung des Subjekts. Parallel zur Dissoziation von Autor und Text erhebt sich das auktoriale Ich im Text. Dieses gestaltet sich dann i m bzw. als Spannungsraum zwischen Mündlichkeit u n d Schriftlichkeit. Beide >Energiefelder< machen sich also im Text insbesondere in den ambivalenten Ich-Verweisen bemerkbar. Diese w i e d e r u m zeugen von d e m wiederholten Versuch, Gegenwärtigkeit im Text zu erzeugen, die zugleich in Frage gestellt wird. Gegenwärtigkeit, so verdeutlicht der Prolog, ist schriftlich schwerlich herstellbar. A u c h die weiteren Prologverse setzten dies ins Bild: wil ich triwe vinden aldä si kan verswinden, als viur in dem brunnen unt daz tou von der sunnen? (2,1—4) Das Ich bemerkt die Vergeblichkeit, dort triwe — feste B i n d u n g — zu finden, w o sie sogleich verschwinden muss. Für sich g e n o m m e n erscheinen die Verse rätselhaft. Als Weiterführung des vorangehenden Gedankens (also i m Sinne der U n n a h b a r keit des Körpers >hinter< d e m Text) machen sie j e d o c h Sinn, d e n n sie treffen eine Aussage über die Beständigkeit des Ich im Text, die flüchtig ist. Das Ich kann sich nicht als einheitliche, einförmige Größe im Text verankern, in i h m löst es sich auf wie das Feuer im B r u n n e n oder der Tau im Sonnenlicht. 1 2 D a m i t ist zugleich etwas über den Text als Präsentations- bzw. Erzählmedium ausgesagt, das einen linearen, eindeutigen Sinn nicht zulässt.

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Innerhalb der Textebene wäre hier richtiger von einem Auseinandertreten von Signifikant und Signifikat zu sprechen. Die Differenzierung der Sprechinstanzen orientiert sich an Emile Benveniste, der »ich als Referent« (Subjekt der Äußerung) und »ich als Referiertes« (Subjekt des Geäußerten) unterscheidet (Ε. B., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers, von Wilhelm Bolle, München 1974 [LTW 1428], 181). Er erklärt, dass das Subjekt des Geäußerten erst Bedeutung durch die es umgebenden Signifikanten erhält. Neilmann liest die Verse im Zusammenhang der von ihm diskutierten ungerechtfertigten Publikumskritik. 1,26—2,4 ist ihm zufolge eine Polemik gegen einen bestimmten Publikumstyp: »Gemeint sind vermutlich die ungerechten Kritiker, die ohne Grund das Werk herabsetzen« (Nellmann [wie Anm. 8], 9).

Körperinszenierung.

Ich-Präsentation

und Subjektgestaltung

im Parzival

437

Dies ist auch angesichts der viel diskutierten Bedeutungsdimension des Prologs bedenkenswert, welche die Kunst des nicht-linearen Erzählens verhandelt: Das Problem der Eindeutigkeit bzw. Uneindeutigkeit ist ja von Anfang an T h e m a des Parziwj/-Prologs. Das Werk eröffnet mit zwei Versen, die zunächst eine eindeutige Aussage treffen: »Ist zwivel herzen nächgebür, / daz m u o z der sele werden sur« (1,1—2). Die Eingangssentenz weist auf die Gefahr der Uneindeutigkeit hin. 1 3 D o c h schon das nachfolgende Elsterngleichnis dekonstruiert diese Eindeutigkeit und ergreift Position für die Ambivalenz 1 4 :

13

Vgl. die 2wiW/-Diskussion bei Brackert und Haug: Brackert sieht eine deutliche Beziehung zwischen den Eingangsversen und der Gesamtstruktur des Werkes. Er erklärt einen Zusammenhang zwischen dem zwivel des ersten Verses und dem nachfolgenden Elsterngleichnis. Hier wie dort gehe es um den schwankenden, den schwarz-weiß gemischten Menschentypus, der errettet werden kann. Der Prolog deute so auf den >schwankenden< Romanhelden Parzival. Mit dem zwivel fasse Wolfram eine Neuerung; er mache ihn zum Leitwort für den Roman, welcher »die Differenz zwischen dem unverzaget mannes muot« und dem wiederholten Scheitern am Aufgegebenen anzeigt (Helmut Brackert, »Zwivel. Zur Ubersetzung und Interpretation der Eingangsverse von Wolframs von Eschenbach Parzival«, in: Mark Chinca, Joachim Heinzle, Christopher Young (Hrsg.), Blütezeit. Fs. für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag, Tübingen 2000, 335-347, hier: 345). Haug fragt, ob nicht davon auszugehen sei, dass Wolfram die Bedeutung des zwtvels bewusst offen gelassen habe. Er nutze diese Offenheit, um die Rezipienten auf den Begriff und das darauf Folgende aufmerksam zu machen. Zwivel bedeute >Schwankenich wil iweren clären lip / läzen küssen min [altez] wip [...]«< (310,15—16); »liehter varwe und manlicher site« (329,9); »diu juncfrouwe an im ersach / durch isers räm vil liehtez vel: / do erkande si den degen snel« (440,26-28); »so daz sin vel gap liehten schin« (459,13). Ingrid Hahn, »Parzivals Schönheit. Z u m Problem des Erkennens und Verkennens im Parzival«, in: Hans Fromm, Wolfgang Harms, U w e Ruberg (Hrsg.), Verbum et Signum,

442

Christiane

Ackermann

Schönheit e n t h e b t das Körperliche der Materialität u n d versieht es m i t göttlicher Substanzhaftigkeit. D e r Text behauptet hier also die Wahrhaftigkeit des Körpers. D i e V e r w e n d u n g des Licht-Motivs basiert auf der christlichenTradition 2 0 , die zwar das göttliche Leuchten als Inbegriff der Schönheit darstellt, der es aber vor allem darauf a n k o m m t , Schein u n d Sein zu trennen. I m Mittelalter sind Gottes Lichtgestalt u n d das leuchtende Antlitz Christi Urbild der Schönheit. Das Strahlen des absolut S c h ö n e n emaniert aus e i n e m I n n e r n , das i m G r u n d e kein A u ß e n kennt, das reine Wahrhaftigkeit ist. Vor d e m H i n t e r g r u n d der christlichen Tradition scheint auch Parzivals K ö r p e r für Wahrhaftigkeit u n d Gegenwärtigkeit einzustehen. D o c h der

B d . 2: Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung.

Studien zu Semantik

und

Sinntra-

dition im Mittelalter, München 1975, 203—232, hier: 205. Auf die körperliche Leuchtkraft, die bei Wolfram mehr ist als bloßes Symbol der Schönheit, weisen bereits hin: Samuel Singer, Wolframs Stil und der Stoff des »Parzival«, Wien 1916; Alois M. Haas, »Der Lichtsprung der Gottheit (Parz. 466)«, in: Stefan Sonderegger, Alois M. Haas, Harald Burger (Hrsg.), Typologia litterarum. Fs.für Max Wehrli, Zürich 1969, 205-232; Julius Schwietering, »Wolframs Parzival (1941)«, in: J. S., Friedrich Ohly, Max Wehrli (Hrsg.), Philologische Schriften, München 1969, 314—325. Den Vergleich von Schönheit mit der Leuchtkraft eines Himmelskörpers kennt schon die Antike. In der mittelhochdeutschen Epik begegnet der Sonnen- und Mondvergleich häufig; im Nibelungenlied und im Tristan beispielsweise dient er der Beschreibung wahrer Schönheit der weiblichen Hauptfiguren (Das Nibelungenlied, nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Helmut de Boor, 21., rev. und von Roswitha Wisniewski erg. Aufl., Wiesbaden 1979, Vers 281,1-2; 283,1-3; Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hrsg. von Friedrich Ranke. Text. Nachdruck der unveränderten Ausgabe 1978, Hildesheim 2001, V. 82538293; vgl. hierzu Hahn [wie oben], 210). 20

Die Vorstellung von Gott als entmaterialisiertem Licht findet sich bereits im Alten Testament. Sie prägt sich allerdings in besonderer Weise im Neuen Testament aus; vgl. Franz Josef Dölger, Sol Salutis. Gebet und Gesang im christlichen Altertum, M ü n s t e r 1920

(Liturgiegeschichtliche Forschung 4-5); Peter Wapnewski, Wolframs Parzival. Studien zur Religiosität und Form, Heidelberg 1955 (Germanische Bibliothek: Reihe 3, Untersuchungen und Einzeldarstellungen); Ulrich Ernst, »Differentielle Leiblichkeit. Zur Körpersemantik im epischen Werk Wolframs von Eschenbach«, in: Haubrichs, Lutz, Ridder (wie Anm. 2), 182—222, hier: 184f. - Wapnewski erklärt mit der Lichtmetaphorik das Farbenspiel im Elsterngleichnis und die Zerrissenheit Parzivals: »Wir sehen also in der gnostisch-johanneischen Licht-Finsternis-, Schwarz-Weiß-Symbolik einen möglichen Ursprung fur Wolframs Farbenstil. Daß die Verwendung dieser Farben im Sinne einer Zuordnung zu dem göttlichen bzw. dem sündig-diesseitigen Bereich dem Mittelalter etwas durchaus Geläufiges war, erhellt schon aus den Zeugnissen [...]. Ich glaube, man muß in diesem Zusammenhang auch auf den R o t e n R i t t e r aufmerksam machen. [...] [Seine Farbe scheint] erst Leben und Funktion zu gewinnen, wenn man sie dem Schwarz-Weiß und seinen Welten gegenüberstellt.« Parzival »entringt sich den Dunkelheiten und macht sich auf den Weg nach dem Licht, der mit der Beichte anhebt, und der ihn mit einem neuen Gewand umgürten wird« (62—65).

Körperinszenierung.

Ich-Präsentation

und Subjektgestaltung

im

Parzival

443

Text widersetzt sich dieser Gleichung mehrfach; Körper-Erscheinen und verfehltes Handeln stehen quer zueinander. 21 D e n Aussagewert von Parzivals Schönheit stellt die Gralsbotin Cundrfe mit ihrem Auftritt am Artushof explizit in Frage. Vorbereitet wird ihr Einwand mit den Versen, die vorgeblich die Vorzüglichkeit und Zuverlässigkeit der Schönheit Parzivals rühmen. Die Einfuhrung des jungen Helden an den Artushof erinnert nämlich nochmals an seine Bluttat an Ither, wenn der Erzähler ihn als »riter rot« (309,16) benennt und Ginover trotz ihrer Vergebungsworte bei dem Gedanken an den Tod Ithers Tränen vergießt. 22 So bleibt die Beschreibung Parzivals ambivalent, auch wenn der Text nachdrücklich die große Wirkung seiner außergewöhnlichen Schönheit hervorhebt: an disem ringe niemen saz, der muoter brüst ie gesouc, des werdekeit so lützel trouc, wan kraft mit jugende wol gevar der Waleis mit im brähte dar. swer in ze rehte wolde spehn, so hat sich manec frouwe ersehn in trüeberm glase dan wasr sin munt. ich tuon iu von sime velle kunt an dem kinne und an den wangen: sin varwe zeiner zangen waer guot: si möhte staste habn, diu den zwivel wol hin dan kan schabn. ich meine wip die wenkent und ir vriuntschaft überdenkend sin glast was wibes staste ein bant: ir zwivel gar gein im verswant. ir sehen in mit triwe enpfienc: durch diu ougen in ir herze er gienc. (311,10-28)

Die Bilder, welche hier für die Schönheit als Garant der Beständigkeit und Zuverlässigkeit herangezogen werden, sind vertraut; sie finden schon im Prolog Verwendung:^/ö5 und zwivel weisen zurück auf den Werkanfang. Seltsam nur, dass der klare Spiegel hier — mit welchem Parzivals Lippen verglichen werden — nun Nachweis für

21

22

Besonders offensichtlich ist der Widerspruch zwischen Parzivals Schönheit und seinem sündhaften Handeln. »von der suone wurden naz / der küngin ougen umbe daz, / wan Ithers tot tet wiben we« (311,1-3).

444

Christiane

Ackermann

seine >Aus-Strahlunghinwegschaben< - wie es mit einem Fehler auf Pergament geschieht (»diu den zwivel wol hin dan kan schabn«; 311,22). Dieses »Bild aus der Schreibstube« 24 deutet den Versuch an, (letztlich vermittels des Körpers) Wahrhaftigkeit im Text herzustellen entgegen ihrer Verflüchtigung im M e d i u m der Schrift. D o c h der Text stellt diese Möglichkeit w i e d e r u m selbst in Frage, denn der K ö r p e r bildet ebensowenig wie im Prolog eine stabile Größe, die Aussagekraft der Lichtgestalt ist nicht so eindeutig wie sie scheint. Vielmehr wecken die Verse Bedenken, ob Parzivals leuchtende Schönheit den zwivel tatsächlich vertreiben kann. In dieser Weise unterminiert der Text ganz en passant seine eigene, zunächst eindeutig und unproblematisch daherk o m m e n d e Aussage. Die Verse, welche durch die Wortwahl mit d e m Eingang des Werkes verbunden sind, praktizieren hier eine Offenheit der Bedeutung u n d des Erzählens, welche schon der Prolog programmatisch einfordert. Die Problematisierung linearer Sinnrelationen erfolgt dann explizit durch die Handlung: Parzival hat Platz g e n o m m e n in der Tafelrunde u n d zeichnet sich n o c h neben den besten R i t t e r n durch wahres Ansehen, Körperkraft u n d jugendliche

23

Gisela G a r n e r u s , Parzivals zweite Begegnung mit dem Artushof. Kommentar von Wolframs »Parzival« (280,1-312,1), H e r n e 1999, 250.

24

Wolfgang Mohr, Wolfram von Eschenbach: Aufsätze, Göppingen 1979 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 275), 232*. »Es ist naheliegend hier an den handwerklichen Prozeß der Fehlerbeseitigung auf dem Pergament zu denken.« Es wurde ein Schabeisen »benutzt, um Verschreibungen zu löschen oder den ganzen Text zu tilgen, damit das teure Material erneut beschreibbar wurde« (Garnerus [wie Anm. 23], 250f.; Hervorhebung: C.A.).

zu Buch

VI/1

Körperinszenierung.

Ich-Präsentation

und Subjektgestaltung

im

Parzival

445

Schönheit aus. Er glänzt als Ideal der Artusgesellschaft: »man und wip im wären holt. / sus het er werdekeit gedolt« (31 l,29f.). Es scheint, als sei die Inkongruenz äußerer und innerer Vortrefflichkeit, die sich noch bei Parzivals erstem Aufenthalt am Artushof so deutlich abzeichnete, überwunden. D o c h just im M o m e n t vorgeblicher Korrespondenz von Sein und Körpererscheinung wird die H a r m o n i e erschüttert. Dies geschieht durch eine Figur, die im grellen Kontrast zur vorbildlichen Schönheit des Helden steht. Wenn Cundrie vor der Tafelrunde auftritt und Parzival aufgrund seines Versagens auf der Gralsburg verflucht, problematisiert sie grundsätzlich die K o n g r u enz innerer und äußerer Qualität, die sie in ihrer R e d e ganz direkt in Frage stellt: gunert si iwer liehter schin und iwer manlichen lide. het ich suone oder vride, diu waern iu beidiu tiure. ich dunke iuch ungehiure, und bin gehiurer doch dann ir. [...] [...] groezer valsch nie wart bereit necheinem also schoenem man. (315,20-25; 316,18-19) Schmach u n d Schande spricht C u n d r i e über Parzivals strahlende Schönheit aus. Seine Hässlichkeit sei im G r u n d e größer als die ihre, trotz außergewöhnlicher Schönheit sei i h m äußerste Schlechtigkeit zu Eigen. M i t ihren W o r t e n negiert C u n d r i e das traditionelle Modell der Kalokagathia; leibliche Vollkommenheit ist nicht m e h r Zeichen innerer Vortrefflichkeit. Ihre Erscheinung widerspricht der courtoisen O r d n u n g , in der eigentlich »die Korrelation schön u n d höfisch, häßlich u n d unhöfisch« 2 5 gilt. Die Korrespondenz von A u ß e n und Innen bricht auf, der schöne Körper des Helden bedeutet Cundrie zufolge nicht transzendente Wahrhaftigkeit, sondern verdeckt ein sündhaftes Wesen, ermöglicht nicht Erkennen, sondern fuhrt zu Verkennen.

25

Annette Gerok-Reiter, »Auf der Suche nach der Individualität in der Literatur des Mittelalters«, in: Jan Aertsen, Andreas Speer (Hrsg.), Individuum und Individualität im Mittelalter, Berlin u.a. 1996, 748—765, hier: 756. Gerok-Reiter erinnert daran, dass die in der höfischen Epik der Zeit zum Ausdruck kommende »antike Gleichung >innen wie außen«< (757) nicht mehr für die christlich-theologische Tradition gelte und verweist mit Hans Robert Jauß auf die deformitas Christi als Grundlage der »Möglichkeit, daß etwas in häßlicher Gestalt erscheinen und doch von seelischer Schönheit sein kann« (Hans Robert Jauß, »Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen i n m i t t e l a l t e r l i c h e r L i t e r a t u r « , in: H . R . J. ( H r s g . ) , Die nickt mehr schönen Künste,

chen 1968 [Poetik und Hermeneutik III], 143-168, hier: 157).

Mün-

446

Christiane

Ackermann

Die Problematisierung linearer Relationen erschöpft sich durchaus nicht in Cundries Verfluchungsrede, sondern wird durch Brechungen verschiedener Art an und mit ihr zum Ausdruck gebracht. Die Gralsbotin widerspricht mit ihrem Körper nicht nur dem höfischen Schönheitsideal, sondern jeglicher Ganzheitlichkeit. Ihr Körper setzt sich aus heterogenen Elementen zusammen, die ein Bild größter Hässlichkeit ausformen: Cundrfe trägt einen langen Zopf, schwarz, widerwärtig und so hart wie Schweineborsten. Ihre Nase sieht aus wie die eines Hundes, zwei lange Eberzähne ragen aus ihrem Mund, ihre Brauen sind bis zum Haarband empor geflochten. Sie hat Bärenohren, ihr Gesicht ist gänzlich behaart, ihre Hände wirken wie AfFenfell und ihre Fingernägel wie Löwenkrallen (vgl. 313,17—314,9). Diese sind alles andere als von strahlender Schönheit: »die nagele wären niht ze lieht« (314,7). Deutlich wird so ein Gegensatz zum leuchtenden Antlitz des Protagonisten gesetzt und damit dessen Aussagewert mit jenem der ganz anders beschaffenen Gestalt Cundries kontrastiert. Allein ihr Außeres macht Cundrfe zu einem hybriden Wesen, einer Mischkreatur, in der Menschliches und Tierisches zusammenfließen. 26 Dabei artikuliert sich Hybridität nicht allein in der Körperlichkeit der Figur. Cundries ganze Erscheinung zeigt Gegensätze und integriert diese. Ihre Kleidung steht quer zu ihrer körperlichen Gestalt und markiert ihre Höfischheit. Die Gralsbotin ist mit kostbaren Gewändern nach der neuesten Mode ausstaffiert (vgl. 313,4—13; 778,17—23), selbst ihr Maultier glänzt in kunstvollem und kostbarem Reitzeug (vgl. 312,11—14). Das

26

Die ursprünglich biologische Verwendung des Begriffs >Hybrid< bezeichnet einen >BastardHybridität< ein zentrales Denkmodell des (post)-kolonialen Projekts von Homi K. Bhabha. Der Literaturtheoretiker befasst sich u.a. mit der Problematik der Identitätsherstellung im (post-)kolonialen Raum. Von Interesse dabei ist das Begehren der Furcht vor dem Fremden und das gleichzeitige Streben nach Anerkennung durch dieses (vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 [Stauffenburg discussion 5]). Der Ansatz Bhabhas könnte auch für die Darstellung des Fremden in mittelalterlichen Texten fruchtbar gemacht werden, eine entsprechende systematische Untersuchung für das deutsche Mittelalter steht noch aus. Diese hätte beispielsweise anzusetzen bei der Okkupation des unbekannten, fremden Raumes in Form literarischer Inszenierungen (vgl. beispielsweise die Orientdarstellung im Herzog Ernst), die als >Kolonialphantasien< beschreibbar sind, welche ganz eigene Bilder ζ. B. des Orients ausgeprägt haben (vgl. hierzu den Band von Jeffrey Jerome Cohen [Hrsg.], The postcolonial Middle Ages, New York 2000).

Körperinszenierung.

Ich-Präsentation

und Subjektgestaltung

im Parzival

447

höfische >Outfit< bildet einen Gegenentwurf zu Cundrfes Hässlichkeit, die sich drastisch von dem Ideal der höfisch schönen Frau unterscheidet. Die Figur überschreitet auf diversen Wegen übliche Demarkationslinien: Ihre Zugehörigkeit zum Gralskreis verleiht Cundrie Autorität, entsprechend niederschmetternd wirkt sich dann ihre Verfluchungsrede aus. 27 Dass eine so wirkungsmächtige Aussage von einer Frau getroffen wird, scheint ungewöhnlich. Gleiches gilt für ihre Kenntnis der Septem artes liberales.28 Stellen das Beherrschen von Fremdsprachen sowie Vertrautheit mit der Heilkunst für eine Dame keine Besonderheit dar 29 , so ist das artes-Wissen eigentlich eine Männerdomäne. Cundries Kenntnisse stehen quer zu ihrem weiblichen Geschlecht. Wohl deshalb ist sie mit derartiger Hässlichkeit versehen; sie markiert einen Widerspruch zu geschlechtsspezifischen Konventionen der Zeit. 3 0 Dieser Widerspruch wird jedoch nicht negativ bewertet, denn Cundrie ist insgesamt eine positive Figur von integrativer Kraft. Ihr hybrider Körper veranschaulicht einerseits geschlechtsspezifische Differenzen, irritiert diese andererseits und begeht eine Grenzüberschreitung — jedoch ohne Grenzen aufzulösen. Nicht nur bindet Cundrie Geschlechterdifferenzen zusammen, sie ver-

27

28 29

30

in dem munde niht diu lame / (wand er geredet ir genuoc), / vil hoher freude se nider sluoc. / [...] / sus kom geriten in den rinc / trürens urhab, freuden twinc ( 3 1 2 , 2 8 - 3 0 ; 314,11 f.). Vgl. N e l l m a n n i m S t e l l e n k o m m e n t a r S. 616 zu den Versen 312,19—25. A u c h die >Heidin< E k u b a spricht Französisch, u n d A r n i v e verfugt ü b e r heilkundliches Wissen (vgl. 5 7 4 , 5 - 8 ; 5 7 8 , 4 - 1 0 ) . D a z u N e l l m a n n : »Medizinische Kenntnisse w a r e n bei D a m e n des H o c h a d e l s damals verbreitet. Vgl. Isalde i m Tristrant, Guivreiz' Schwestern i m Erec« ( N e l l m a n n i m S t e l l e n k o m m e n t a r S. 7 2 3 zu Vers 578, 4). Kolb e r i n n e r t allerdings an heidnische, ebenfalls hässliche Frauengestalten i m altfranzösischen H e l d e n epos, die astronomisches u n d artes-Wissen h a b e n (vgl. H e r b e r t Kolb, Munsalvaesche. Studien zum Kyot-Problem, M ü n c h e n 1963, 38f.). Kasten erklärt die Klischeehaftigkeit der Verschränkung von weiblicher Gelehrsamkeit u n d Hässlichkeit mit Blick aufVeldekes Sibylle u n d Wolframs C u n d r i e (vgl. I n g r i d Kasten, »Häßliche F r a u e n in der Literatur des Mittelalters«, in: Bea L u n d t [Hrsg.], Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, M ü n c h e n 1991, 2 5 5 - 2 7 6 , hier: 270); vgl. auch D o r o t h e a B ö h land, »Integrative F u n k t i o n d u r c h exotische Distanz. Z u r C u n d r i e - F i g u r in Wolframs Parzival«, in: U l r i k e Gaebel, Erika Kartschoke (Hrsg.), Böse Frauen - Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Trier 2001 (Literatur, Imagination, Realität 28), 4 5 - 5 8 , hier: 47. Vgl. hierzu Kasten: »Im Falle C u n d r i e s k ö n n t e die F u n k t i o n des H ä ß l i c h e n [...] darin bestehen, gelehrtes Wissen als etwas N i c h t - W e i b l i c h e s zu klassifizieren u n d damit ausz u g r e n z e n oder, anders gesagt, die angebliche Unvereinbarkeit v o n Intellektualität u n d Weiblichkeit zu illustrieren u n d so ein Cliche zu prägen, das auch in d e r h e u t i g e n Z e i t gelegentlich n o c h wirksam ist« (K. [wie A n m . 29], 257). Kasten stellt die B e s o n derheit von Wolframs C u n d r i e u n d V e l d e k e s Sibylle heraus. Ihr zufolge sind diese E n t w ü r f e v o n Frauenfiguren als gelehrt, j u n g f r ä u l i c h , adlig u n d zugleich hässlich anders zu b e w e r t e n als die v o n hässlichen H e i d i n n e n in verschiedenen Chansons de geste o d e r >wilden< Frauen in spätmittelalterlicher Literatur (vgl. ebd., 2 7 3 - 2 7 6 ) .

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mittelt auch zwischen Artus- u n d Gralsbereich sowie zwischen christlicher u n d >heidnischer< Welt. Diese Vermittlung erfolgt etwa durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Welten oder auch w e n n sie Parzivals verwandtschaftliche Sippenbind u n g an den O r i e n t benennt (vgl. 317,3-10). Cundrie macht die >Bruderschaft< zwischen den Welten deutlich. N i c h t zufällig tritt im Parzival mit Cundrie ein hybrides Wesen als die Instanz auf, die auf die UnZuverlässigkeit von Körpererscheinung als Zeugnis fur Wahrhaftigkeit aufmerksam macht u n d dabei lineare Entsprechungen, wie die von Innen und Außen, oder selbstverständliche Grenzen, wie die zwischen den Geschlechtern, irritiert. D e r Gralsbotin k o m m t in verschiedener Hinsicht eine Zwischenstellung zu. 31 Mit ihrer ganzen Erscheinung >votiert< sie für Mehrstimmigkeit,Widersprüchlichkeiten, Brüche, Fragmentarisches u n d Ambivalenzen. In dieser Weise verdeutlicht die Figurenebene die Problematik eindeutiger Korrespondenzen, wie sie auf der Erzählebene bezüglich der Sprecherinstanz u n d Subjektposition zur Disposition gestellt wird. So gesehen findet sich im Text eine mehrschichtige Forderung nach Offenheit, die als grundsätzlicher Anspruch des Werkes erscheint.

IV. U n a b s c h l i e ß b a r k e i t u n d O f f e n h e i t d e r H a n d l u n g D e m Postulat der n o c h am Ende bestehenden Offenheit könnte man entgegenhalten, dass Parzival schließlich doch z u m Gral berufen wird, sich seine Bestimmung erfüllt u n d so eine K o n g r u e n z von Körpererscheinung u n d innerer Qualifikation letztlich gegeben ist. Es ist j e d o c h zu bedenken, dass das Werk nicht mit Parzivals B e r u f u n g zum Gral ausklingt. Es m ü n d e t mit der Geschichte u m Parzivals Sohn in eine neue Offenheit, die w i e d e r u m auf der Erzählebene widerhallt. Die dritte These lautet daher: Sowohl H a n d l u n g als auch Erzählweise bieten durchaus narrative Geschlossenheit an, folgen aber bis z u m Schluss d e m Prinzip der Offenheit. Die E b e n e n korrespondieren in dieser Hinsicht n o c h am E n d e der Dichtung. Mit Parzivals B e r u f u n g z u m Gral schließt sich zunächst der narrative Zirkel. D e r Handlungsverlauf hatte mit Parzivals Fehlverhalten u n d dessen Inkongruenz zur Körpererscheinung der Figur Fäden gespannt, die am Ende zusammengebunden werden. Die H a n d l u n g scheint ihren Zielpunkt erreicht zu haben. D e r Parzi-

31

Gerok-Reiter verweist auf die Beständigkeit des bipolaren Charakters Cundrfes als Neuerung Wolframs: »Das heißt, Cundrie ist zugleich häßlich und gut — und dies nicht nur in einer provisorischen Übergangsphase (Iwein) oder als Qualität des Alters (Sibylle in Veldekes >Eneideunexemplarischem< Weg vgl. auch H a h n (wie A n m . 19), 232; Walter Haug, »Parzival o h n e Illusionen«, DVjs 64 (1990), 199-217, h i e r : 2 1 5 f . Für eine Diskussion mittelalterlicher D i c h t u n g e n , deren E n d e kein harmonisches Schlussbild bietet, vgl. C o r i n n a Bieserfeld, Montage - Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu »Kaiserkronik«, »König Roter«, »Orendel«, »Barlaam und Josaphat«, »Prosa-Lancelot«, Stuttgart 2004.

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verkündet, Parzivals Weg nicht als mustergültig vorgeführt, Lohengrin muss den eigenen finden. Damit erscheinen auch Zeichen als nicht festschreibbar, der Weg des Subjekts entfaltet sich stets aufje neue, individuelle Weise. Sinn wird als immer wieder neu zu findender vorgestellt.33 Dieser Gestaltung des Endes als Wechsel von Geschlossenheit und Offenheit entspricht abermals die Erzählerebene, wenn der Sprecher seine Beteiligung am Abschluss der Geschichte hervorhebt, zugleich jedoch auf Kyot verweist als Vermittler der wahren Geschichte und des Endpunktes des Romans: ob vonTroys meister Cristjän disem maere hat unreht getan, daz mac wol zürnen Kyot, der uns diu rehten masre enbot. endehaft giht der Provenzäl, wie Herzeloyden kint den gräl erwarp, als im daz gordent was, do in verworhte Anfortas. von Provenz in tiuschiu lant diu rehten maere uns sint gesant, und dirre äventiur endes zil. niht mer da von nu sprechen wil ich Wolfram von Eschenbach, wan als dort der meister sprach. (827,1-14)

Die Auseinandersetzung mit den Vorlagen sowie der Rekurs auf die mündliche Ebene dienen dem Versuch, das eigene Erzählen zu qualifizieren. Das Ich grenzt sich vom Autor der (schriftlichen) Vorlage, Chretien, ab und macht Kyot zum zuverlässigen >Lieferanten< undVollender der Geschichte. Das Ich vermittelt sie direkt in mündlicher Form und benennt sich dabei abschließend noch einmal selbstbewusst als Wolfram von Eschenbach.

33

Zur Offenheit des Werks und des Sinns im Werkausgang vgl. Karl Bertau, Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter

und Geschichte in der höfischen Epik um

1200,

München 1983,73; Joachim Bumke, »Parzival und Feirefiz — Priester Johannes — Loherangrin. Der offene Schluß des Parzival von Wolfram von Eschenbach«, DVjs 65 (1991), 236-264, hier: 264; Alexandra Stein, >wort unde wercSänger< aber auch >ZaubererGauklerJongleur< bedeutet. Ein klarer Sinn scheint letztlich nicht fassbar (vgl. Lofmark [wie Anm. 35], 42f.). Solche Wortspiele binden die fiktive Quelle und den Sprecher im Parzival zusammen; Wie Kyot ist Wolfram ein conteur, ein Erzähler. Er liefert eine Geschichte, deren Glaubwürdigkeit immer wieder betont, jedoch auch in Frage gestellt wird. Insofern ist Wolfram parallel zu Kyot ein Gaukler, ein Jongleur der Zeichen, ein Sprachspieler, der sowohl die angeblichen Vorlagen als auch Identitäten zu Spielfiguren macht.

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tive Charakter der Quelle angedeutet wird, hat die Überblendung Folgen für das Verständnis der Autornennung. Die implizierte Gleichsetzung von Kyot und dem Sprecher wirft das Licht der Fiktion auf das Ich im Text, und seine Identität als Wolfram von Eschenbach wirkt brüchig. Dies wiederum problematisiert das Autor-Ich als außertextuelle Referenz, als Subjekt der Äußerung. Abermals wird deutlich: Textaußerhalb und -innerhalb stehen in keiner einfachen Verweisbeziehung. Im Rahmen der schriftlichen Niederlegung verwischt das Ich selbst die Spuren seiner Identität. Diese ist im Epilog ebensowenig konkret fassbar wie schon im Prolog. In diesem Zusammenhang zusätzlich zu bedenken ist schließlich das Beharren auf der eigenen Produktivität. Das Ich erklärt sich ja zu demjenigen, der die Genealogie der Parzival-Sippe präsentierte und ohne dessen Vermittlung sie nicht denkbar wäre: siniu kint, sin hoch geslehte hän ich iu benennet rehte, Parziväls, den ich hän bräht dar sin doch saelde het erdäht. [·••] guotiu wip, hänt die sin, deste werder ich in bin, op mir decheiniu guotes gan, sit ich diz maer volsprochen hän. ist daz durh ein wip geschehn, diu muoz mir süezer worte jehn. (827,15—30)

Der Sprecher verdeudicht, dass er Anteil an der identitätsstiftenden Familienbande sowie an der damit verknüpften narrativen Geschlossenheit hat. Er profiliert sich als Arrangeur, Sinnstifter und derjenige, der Parzival auf den Weg des Heils leitete und den Famlienverbund aufzeigte (»Parziväls, den ich hän bräht / dar sin doch saelde het erdäht«; 827,17f.). Auf diese Weise setzt sich das Ich nun wieder von der mit der Quellenfiktion einhergehenden Ambivalenz ab und beansprucht Autorschaft. Der dann folgende Hinweis auf die mündliche Ebene scheint ähnlichen Zwecken zu dienen, das Ich Authentizität suggerieren zu wollen. Mit dem Verweis auf die Frauen, die das eigene, mündliche Erzählen (vgl. »volsprochen«; 827,28) honorieren sollen, verschweigt das Ich seine schriftliche Existenz und sucht sich von einem nicht schriftlichen Textaußerhalb zu legitimieren. Zugleich ist Vers 827,29f. verstehbar als Anspielung auf eine mögliche Förderin von Romanliteratur und damit wiederum auf den Bereich des Schriftlichen. Innerhalb dessen ist die mündliche Artikulation Teil der Fiktion. 37

37

Dass das Dichten im Frauendienst ein Topos der höfischen Epiker war, tut der Argumentation keinen Abbruch. Im Gegenteil, die Erzählweise im Parzival zeigt ein

Körperinszenierung.

Ich-Präsentation

und Subjektgestaltung

im Parzival

453

Dabei bleibt der konkrete Ort mündlichen Erzählens vage, ähnlich der Identität der unbekannten Dame und vor allem ähnlich der Identität des Subjekts der Äußerung. Auch wenn das Ich sich als Produzent der Erzählung zu behaupten sucht, entzieht es sich wiederholt einer genauen Definierbarkeit und gestaltet sich dabei überdies — trotz der Betonung seiner selbst als Sprechenden — als letztlich dem Schriftlichen zugehörig. Das Subjekt der Äußerung ist, wenn überhaupt, allenfalls punktuell fassbar. Etwa wenn es - wie im Prolog — seinen Körper andeutet oder sich - wie u.a. im Epilog — mit seinem Namen präsentiert. Immer jedoch geht mit dieser Präsentation ein Entzug an Gegenwärtigkeit des Subjekts, des Ich als Autor einher. Der Hinweis auf das Subjekt der Äußerung ist stets zugleich Inszenierung seiner Abwesenheit, der Unmöglichkeit, eine letztgültige Geschlossenheit zu erreichen. Eine solche ist immer nur vorläufig und entpuppt sich als N e u b e ginn des narrativen Zirkels.

V. Fazit u n d j e weiter die W u n d e im Z e n t r u m des K ö r pers (>innerlich i m HerzenFremdkörper< im Text? Die >besta desassemelhada< in der altportugiesischen Demanda do Santo Graal

Abstract: T h e O l d P o r t u g u e s e Demanda do Santo Craal lacks, unlike any o t h e r version of t h e post-vulgata Queste, a description of t h e »Questing Beastbesta desassemelhadadissimilitudobesta< u n d ihr Verschwinden der A n k u n f t auf d e r Gralsburg u n d damit der Vollendung u n d R e v e l a t i o n der aventiuren v o n Logres unmittelbar voraus. Edina B o z o k y konstatierte: »La fin de la chasse ä la b e t e signifie la victoire sur l ' E n n e m i , sur l'enfer, sur le Diable. [...] E n effet, la q u e t e represente le c o n t r e p o i n t de la q u e t e du Graal.« (Ε. B., »La >Bete Glatissant< et le Graal. Les transf o r m a t i o n s d ' u n t h e m e allegorique dans quelques romans arthuriens«, Revue de l'histoire des religions 186, 2 [1974], 1 2 7 - 1 4 8 , hier: 144f.); A n t o n i o L. F u r t a d o n e n n t die S u c h e

456

Dietmar

Frenz

ter auf »perhaps the most extravagant of all Arthurian fancies«3, so James Douglas Bruce, reichen von verwunderter Faszination bis hin zu fataler Attraktion. Konstant bleiben indes, neben der schon erwähnten Flüchtigkeit, ein lautes, aus seinem Inneren dringendes Gebell sowie die romanimmanente typologische, allegorische oder ätiologische Deutung seiner Erscheinung, die die seneßance des Tiers zwischen den Polen der Figura Christi und einer Ausgeburt des Teufels verortet. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen sind mehrfach ausfuhrlich dargestellt worden, etwa von Edina Bozoky, Claude Roussel und Francis Dubost, und die zahlreichen teils bestechenden Parallelen in der orientalischen, slawischen und keltischen Literatur bzw. im antiken paganen und christlichen Mythos haben William Albert Nitze und zuletzt Antonio Furtado aufgezeigt.4 Ich möchte mich hier nun einem in diesen Untersuchungen kaum beachteten Aspekt widmen, nämlich dem einer bestimmten Bezeichnung unseres seltsamen Wesens und ihrer Bedeutung im Kontext der altportugiesischen Version der Post-Vulgata- Queste. Auffällig und in höchstem Maße bemerkenswert ist nämlich zunächst, dass in der Demanda do Santo Graal das Tier im Gegensatz zu früheren und späteren Versionen überhaupt nicht beschrieben wird, 5 sondern lediglich unter verschiedenen Bezeichnungen —

3

4

nach dem Tier »a subversive rendering of the Grail Quest« (A. L. F., »The Questing Beast as Emblem of the R u i n of Logres in the Post-Vulgate«, Arthuriana 9, 3 [1999], 27-48, hier: 46); Albert Pauphilet hatte sogar eine umgekehrte Abhängigkeit vermutet: »l'auteur de la Queste de Boron (= Pseudo-Robert de Boron) se faisait [...] de la quete du Graal l'idee la plus vague. II l'a quelque part comparee a la chasse de la >Beste Glatissant«. (A. P., »La Queste du Saint Graal du Manuscrit de la Β. N. fr. 343«, Romania 36 [1907], 606, hier: zit. nach Bozoky, 144). James Douglas Bruce, The Evolution of Arthurian Romance, Göttingen, Baltimore 1932, Bd. 1, 465. Vgl. Bozoky (wie Anm. 2) und Claude Roussel, »Le jeu des formes et des couleurs: observations sur >La beste glatissantbesta desassemelhada< in der altportugiesischen D e m a n d a d o Santo Graal

457

meist >besta ladrador< u n d >besta des(as)semelhada< - auftritt. I m Wesentlichen w e r den, n e b e n d e m Gebell, n u r die a u ß e r g e w ö h n l i c h e Schnelligkeit u n d Leichtigkeit erwähnt, die seine beständige, n u r durch kurze Pausen an Wasserquellen u n t e r b r o c h e n e Flucht charakterisieren. D e r Verzicht auf die überaus beliebte Beschreib u n g eines u n g e w ö h n l i c h e n Monsters, w i e sie ja in den spanischen Versionen der Demanda, die bekanntlich von der portugiesischen Fassung abhängen, wiederkehrt, scheint nach einer Erklärung zu verlangen.Vielleicht ist sie in der B e z e i c h n u n g des Tieres als >besta desassemelhada< zu finden: D e n n diese B e z e i c h n u n g könnte, u n d das versuche ich i m Folgenden zu zeigen, als Applikation eines Terminus t e c h n i cus der mystischen T h e o l o g i e des Pseudo-Dionysius gedeutet werden, die, so versucht es Kurt Flasch auf den P u n k t zu bringen, den Menschen auffordere, »sinnliche Z e i c h e n als Z e i c h e n zu n e h m e n u n d über alles G e g e b e n e z u m N i c h t - G e g e b e n e n aufzusteigen« 6 . Bei der Analyse der Gottessymbole heiliger Bildersprache w e r d e n diese n a c h d e m zentralen Aspekt ihrer Gottähnlichkeit o d e r - f e r n e klassifiziert (>similitudodissimilitudoDionysius Areopagitadissimilis< manifestierende Ersatz einer fiktionalen Strategie des E r k e n n t nisgewinns d u r c h deren theoretischen Ü b e r b a u e i n e m raffinierten gattungsüberschreit e n d e n Spiel verdankt, das sich v o r n e h m l i c h an E i n g e w e i h t e richtet.

458

Dietmar Frenz

auf sich zöge; die Löschung des Wunderbaren seiner zusammengesetzten N a t u r der Vorlage verwiese über die — freilich durch die Assemblage verfremdete — Mimesis der N a t u r hinaus wieder auf den theologischen Diskurs. Z u r Plausibilisierung dieser freilich spekulativen These ließen sich literarische Präzedenzfälle einer ähnlichen Verwendung philosophischer Begriffe, poetologisch auslegbare Anweisungen zu einem solchen Vorgehen aus dem theoretischen Schriftt u m sowie schließlich ganz allgemein die Stellung der >schönen< Literatur in der Diskussion theologischer und philosophischer Fragen anfuhren. Gegen sie könnten indes Einwände erhoben werden, die vor allem den semantischen U m f a n g des Wortes >desassemelhado< und die Möglichkeiten seinerVerwendung betreiFen; diese Aspekte k ö n n e n aber sprachgeschichtlich nur unzureichend erhellt werden, zumal das genaue Alter, die Abfolge u n d die Verfasserschaft der f r ü h e n altportugiesischen Prosatexte bislang nicht genau bestimmbar sind — Bedingungen also, die Spekulationen nachgerade herausfordern, aber andererseits auch notwendig machen, will m a n sich nicht mit harmonisierenden oder simplifizierenden Lektüren zufrieden geben. Bevor ich also meine These ausführe und ihre möglichen Implikationen erörtere, m ö c h t e ich einen kurzen Uberblick über die verschiedenen Bezeichnungen der >besta< u n d deren Bedeutungsspektrum in den altfranzösischen R o m a n e n u n d ihren romanischen Ubersetzungen und Bearbeitungen geben. 8

* * *

Des charakteristischen Gebells wegen - das in einigen R o m a n e n von tatsächlich in seinem Bauch befindlichen Welpen stammt, in anderen hingegen als gleichsam virtuelles Bellen bezeichnet wird —, dieses Gebells wegen also trägt das Tier häufig die Bezeichnung >beste glatissantla beste< u n d d e m selteneren >beste sauvage< in der Estoire del Saint Graal u n d der Post-Vulgata-Quesfe ist die der >beste diverse< bzw. >diverse beste«. 10 Bekanntlich werden mit d e m Tier des ßfoiVe-Prologs und dem bellenden Monster zwei unterschiedliche

8

9

10

Vgl. dazu auch Dubost (wie Anm. 4), Kap. 17: »La >beste diverse< ou >beste glatissant«< (500-524), I: »Les Appellations« (503-506). Erstmals wohl in der ersten Redaktion des Prosa-Tristan (vgl. Corral Diaz [wie Anm. 5], 89; Dubost [wie Anm. 4], 504). Erstmals wohl in der Suite du Merlin (vgl. Dubost [wie Anm. 4], 504) oder der Estoire del Saint Graal (vgl. Corral Diaz [wie Anm. 5], 89). Im Perceforest trägt das Tier, wie

Die >besta desassemelhada< in der altportugiesischen Demanda do Santo Graal

459

Wesen durch dieses Attribut gekennzeichnet. Das altfranzösische >divers< beinhaltet nun ein reiches Spektrum an Bedeutungen, das sein lateinisches E t y m o n nicht kannte - wenngleich >diversus< in seltenen Fällen tatsächlich auch >feindlich< bedeuten konnte —, von »verschiedene >andersunähnlichabweichend< nämlich bis hin zu >schlimmbösartiggrausambeste diverse* jeweils aktualisiert zu sein scheint, kann wohl keineswegs als ausgemacht gelten, wenn auch etwa in der Estoire oder der Suite du Merlin ein expliziter Bezug zu der aus Körperteilen zahlreicher realer Tiere assemblierten N a t u r des Monsters hergestellt wird; sein vor allem im Tristan und der

Queste

dezidiert zerstörerisches Wesen lassen an die letztgenannten Bedeutungen denken, während etwa die christologische Variante im Estoire-Prolog

diese Konnotation

wohl kaum dulden wird. 1 1

11

später im spanischen Tristan, auch einen Eigennamen: »Elle porte un nom, Dagglor oder Dogglor, appellation donnee par les Sarrasins, [...]« (Dubost, 506). In der Estoire heißt es (hier und im Folgenden, falls nicht anders angezeigt, meine Hervorhebungen): »Mais com plus l'esgardoie & iou plus m'esmerveilloie de lui. Car ele estoit diverse seur toutes austres bestes. Car ele estoit blanche comme noif & avoit test & col de berbis si avoit pie de chien & quisses & estoient noir comme carbon & si avoit le pis & le crepon & le cors de goupil & keue de lion. Ensi estoit la beste diverse [...]« (Estoire, hrsg. von H.-O. Sommer, Washington 1909, hier: zit. nach Dubost [wie Anm. 4], 521). Im Merlin: »Et ne demoura gaires que il vit venir une beste moult grant, ki estoit la plus diverse qui onques fust veue de sa figure qui tant estoit estraigne de cors et de faiture, et non mie tant defors comme dedens son cors.« (Merlin: Roman en prose du XHIe siecle, hrsg. von Gaston Paris/Jacob Ulrich, Paris 1886, hier: zit. nach Dubost, 511). Dubost fuhrt, mit Bezug auf die Estoire, dazu aus: »Dans la version publiee par H.-O. Sommer, on ne dit pas pourquoi la bete fait l'objet d'une battue. Le texte souligne simplement la >diversite< de l'animal, precision qui peut renvoyer ä l'etrangete de l'aspect et des formes. On serait alors en presence d'un monstre composite tel qu'il a ete decrit dans le prologue. Mais la >diversite< en question peut aussi s'appliquer au comportement de la bete: >... quant nous fumes reuenues a Orberike si o'ismes moult parier d'une beste qui estoit si diverse que nus hom tant l'auisast qu'il seust a dire de quel maniere ele estoit. Ele auoit toutes diversites tant qu'il avint .j. jour qu'ele fu assaillie.< La bete ä trois cornes n'a pas la >diversite< tranquille du monstre qui, dans le prologue, guidait le narrateur vers le livre et dont on ne saurait au juste en quoi elle consiste, declenche ici une poursuite acharnee. Selon d'autres versions, figurant dans trois manuscrits differents cites par Sommer, la bete >diverse< serait en fait un animal dangereux et devastateur, une >beste sauvageBeste diverse< wird auch hier mit >besta desassemelhada< (bzw., in der Kurzform, >dessemelhadadesassemelhado< aber wie schon >divers< auch >schrecklichunselig< u n d >bösartig< zu k o n n o tieren: N a c h d e m der in furchtbarer Ähnlichkeit (>semelhanfaaventurada< legen hier wohl die Konnotation >hässlich< oder >grauenhaft< nahe. In einer Vision Galvams (Kap. 153) scheint eine weitere semantische Möglichkeit auf; dort ist von 150 Stieren in einem Korral die R e d e :

22 23

24 25 26 27 28 29

Ebd., 240f. Vgl. Amadeu-J. Soberanas, »La version galai'co-portugaise de la Suite de Merlin. Transcription du fragment du X I V siecle de al Bibliotheque de Catalogne, ms. 2434«, Vox Romanica 38 (1979), 174-193. Die archaische Form des Adjektivs ist dieselbe für beide grammatikalischen Geschlechter. Vgl. Corral Diaz (wie Anm. 5), 85. Mehrmals begegnet im Text auch einfach >bescha< und >bestiabesta estranhabesta desassemelhadat in der altportugiesischen D e m a n d a d o Santo Graal

463

e os touros e r a m argulhosos e lou^äos maravilhosamente e todos e r a m dessemelhados, afora tres; destes, era üu ainda n e m b e m m a l h a d o n e m b e m sem malha, pero q u e parecia b r a n c o e que h o u v e r a j a malha. O s d o u s e r a m atam fremosos e tarn brancos q u e n o m p o d i a m mais seer. 3 0

Das Antonym zu >fremoso< scheint man hier zunächst ausschließen zu können, denn auch die restlichen Stiere sind ja »loufäos«, also wohl >schmuckanmutigstattlichlou$äo< hier nicht nur >bunt< bedeutet. Geht man abermals von einer Synonymendopplung aus, wird gerade diese Bedeutung nahegelegt: Denn die Auslegung des Traums durch einen Eremiten, die das Erscheinen der Sünde auf der Oberfläche des Körpers anspricht (die »argulhosos e desassemelhados« Stiere stehen für die sündigen Tafelrundenritter, die weißen für Boorz, Perceval und Galaaz), scheint nur >buntfleckig< oder >gescheckt< zuzulassen. 31 O b nun auf den Farbgegensatz oder das Fleckenmuster bezogen — beide Bedeutungen sind wiederum mit der »hybridem Natur, der >Andersartigkeit< der Bezeichneten verwandt. Freilich könnte die >Fleckigkeit< hier dann doch wieder >hässlich< konnotieren lassen, da ihr Ursprung ja in der Sünde liegt. Der nächste Gebrauch in der Demanda begegnet bezeichnenderweise einmal mehr im R a h m e n einer Epiphanie: In einem Wald gewärtigen die drei >weißen< Ritter Galvam, Boorz und Perceval einen weißen Hirschen, der von vier Löwen begleitet wird; in einer nahegelegenen Kapelle verwandelt sich der Hirsch vor ihren Augen in Christus, die Löwen aber e m quatro figuras desassemelhadas: üu e m figura de anjo, ο o u t r o e m f o r m a d e l e o m mil tanto mais f r e m o s o q u e ante era, ο o u t r o e m figura de aguia e ο o u t r o e m figura de boi. Ε havia cada üü deles quatro aas grandes a maravilha per q u e lhes semelhava q u e p o d i a m b e m voar, se quisessem. 3 2

Nachdem die fünf Gestalten durch das geschlossene Fenster entschwunden sind, legt ein Eremit das Wunder aus und kommt dabei auf das Christussymbol und dessen >similitudo< zu sprechen: »E porque este bento Senhor nunca houve magoa de pecado pareceu ele em semelhanfa de cervo branco sem toda magoa.« 33 An ihm erscheint also kein Makel der Sünde. >Hässlich< oder gar >bösartig< werden aber die

30 31

32 33

Ebd., 120. E b d . , 125: »E os t o u r o s e r a m argulhosos e desassemelhados, fora tres. Polos touros devedes vos a e n t e n d e r os c o m p a n h e i r o s da Tävola R e d o n d a , q u e per seu fornizio e p o r sua maa vida c a e r o m a m soberva e m o r t a l pecado, tarn m u i t o q u e seus pecados n o m se p o d e m absconder e m eles, ante p a r e c e m p o r defora assi q u e sam todos desassemelhados.« Ebd., 324. Ebd.

464

Dietmar

Frenz

Evangelistensymbole nicht dulden, auch >seltsam< wohl kaum, handelt es sich doch um anerkannte Symbole; >außergewöhnlich< scheint hier die richtige Ubersetzung zu sein. Oder heißt >desassemelhados< hier lediglich, dass sich vier sich >ähnelnde< Löwen in die vier >verschiedenen< Evangelistensymbole verwandeln? 34 Dies ist jedenfalls die normale Bedeutung des lateinischen Stammworts zu >desassemelhadodissimilisdiversus< - lediglich >unähnlichungleichartiganders< bedeuten konnte. 35 In den profanen Cantigas ist >des(as)semelhado< nicht ein einziges Mal belegt, und vielleicht wird es in den arthurischen Texten zum ersten Mal überhaupt gebraucht. Allerdings kann in der frühen Lyrik >semelhar< durchaus die Bedeutung von >bem parecerschön seindesassemelharhässlich< oder zumindest »unscheinbar sein< bedeuten müsse. Die Glossare der Demanda begnügen sich damit, >des(as)semelhado< vorsichtig das Bedeutungsspektrum von >divers< zuzuschreiben: während Augusto Magne als mögliche Bedeutungen ausweist: >Diferente dos outros individuos da mesma especie ou naturezaextraordinäriodescomunalmonstruosomonströsmißgestaltetdessemelhado< in der Demanda, und wieder in Zusammenhang mit einem Gesicht; auch hier - determiniert durch den Präpositionalausdruck - heißt es lediglich >andersiniqueunfairungerecht< an; Louis Quicherat (Thesaurus Poeticus Linguae Latinae, Überarb. hrsg. von Emile Chatelain, 31. Aufl., Paris 1922, Nachdr. Hildesheim 1967) fuhrt zudem >degenere< an, und das für den deutschen Sprachbereich erstellte Mittellateinische

Wörterbuch

bis zum

ausgehenden

13.

Jahrhundert

(begr. von Paul Lehmann, Johannes Stroux, hrsg. von der Bayr. Akademie d. Wiss., Bd. 3, Lfg. 5, München 2003) kennt auch >humilis< und >vilis< als Synonyme, die sowohl mit >unscheinbar< als auch mit »unansehnlich« wiedergegeben werden. 36

Vgl. etwa Aurelio Roncaglia, »Ecci venuto Guido 'n Compostello? (Cavalcanti e la Galizia)«, in: Ο Cantar dos Trobadores. Actas do Congreso celebrado en Santiago de

37

N e u e s (Glossario da Demanda 38

Compos-

tela entre os dtas 26 e 29 de abril de 1993, Xunta de Galicia 1993, 11-29, hier: 27. Augusto Magne, Glossario de la Demanda do Santo Graal, R i o de Janeiro 1944,164 bzw. 167; der erste (und einzig erschienene) Band seiner Überarbeitung bringt dazu nichts Α Demanda

do Santo Graal, B d . 1: Α-D,

do Santo Graal ( w i e A n m . 27), 5 4 6 .

R i o d e Janeiro 1 9 6 7 ) .

Die >besta desassemelhada< in der altportugiesischen D e m a n d a d o Santo Graal

465

Zeit, auf die Magne hinweist, >desassemelhado< lediglich in der B e d e u t u n g >andersverschieden< attestiert; es steht dort auch nie absolut, sondern nur mit Präpositionalausdrücken, also >desassemelhado a / d e [alguma coisa]divers< machen, bereits in langer Wortgeschichte erworben? Die Antwort muss wohl offen bleiben; die späteren Belege einer (noch) eingeschränkten Verwendung m ö g e n j e d o c h als Indiz dafür gelesen werden, dass der Gebrauch von >desassemelhado< in der Demanda ein spezieller ist, u n d sich hier eventuell neu erworbene Bedeutungen undVerwendungszusammenhänge erst noch verbreiten u n d durchsetzen mussten. In den spanischen Versionen der Demanda (Druck der ersten R e d a k t i o n 1515) begegnet man meistens der >best(i)a ladradoradesassemelhada< findet sich hingegen selten u n d nur in W e n d u n g e n wie »la mas desemejada bestia que nunca vio«. Dagegen n e n n t der spanische Baladro del sabio Merlin con sus profedas (Druck der ersten R e d a k t i o n 1498) das Tier abwechselnd >bestia ladradora< und >bestia desemejadaGaturas< trägt, ist das Tier wieder beschrieben; bemerkenswerterweise taucht hier das Adjektiv >diverso< auf. 4 0 In den libros de caballerias des 16. Jahrhunderts wird das

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»E asi pensando, oyo u n ladrido d e canes tan g r a n d e c o m o si fuesen veinte ο treinta canes e c u i d o q u e eran los suyos; e algo la c a b e f a e vio venir una vestia m u y grande, la mas desemejada q u e o m b r e n u n c a vio par de su figura. Ε lo mas d e las figuras os dire: ca ella avia la c a b e f a e el cuello de oveja, bianco c o m o nieve; e pies e m a n o s d e can, negras c o m o carbon; e avia el c u e r p o c o m o de raposo. [...] - Por b u e n a fee, agora veo la mayor maravilla q u e n u n c a vi, ca bestia tan desemejada c o m o esta es n u n c a della oi fablar, ca es estrana de fuera e de dentro, ca oyo e c o n o z c o bien q u e trae d e n t r o e n si fijos bivos q u e ladran c o m o canes. [...] D i m e se viste la desemejada vestia q u e lieva en si los ladridos de los canes.« (El baladro del sabio Merlin con sus profedas, hrsg. von Maria Isabel H e r n a n d e z , Bd. 2: Transcripciön del original e indice, G i j o n 1999, Kap. 19, 69f.).

40

»Sabed sefior, q u e esta es una bestia q u e ha n o m b r e Gaturas, y es la mäs diversa cosa de ver q u e n i n g u n a otra bestia.« (Tristan de Leonis y el Rey don Tristan el Joven, su hijo (Sevilla 1534), hrsg. v o n M a . Luzdivina C u e s t a T o r r e , M e x i k o - S t a d t 1999, 371). B e s o n ders interessant ist auch die Beschreibung des Tieres, das hier auch menschliche Anteile enthält (»y la cara y los cabellos c o m o muger«, ebd.); unklar erscheint m i r j e d o c h die E r k l ä r u n g der H e r a u s g e b e r i n z u m N a m e n i m Register, sofern sie sich d o c h o f f e n sichtlich auf >Gaturas< bezieht, u n d e b e n nicht auf >diversaCandramon< bzw. >Cassandron el Dessemejado< sowie i m Felix Magno (erste erhaltene Ausgabe 1543, aber vielleicht schon vor 1531) fur den Riesen Gavalion, der hier, wegen seines erschreckenden Äußeren und seiner Niederträchtigkeit, auch >el Diablo Desemejado< oder einfach n u r >el Desemejado< genannt, schließlich sogar als >bestia desemejada< bezeichnet wird. 4 1 Spätestens hier aber scheint sich die B e d e u t u n g von >desemejado< auf >schrecklichhässlich< oder >entstellt< verengt zu haben, wie sie auch der Diccionario de la lengua espanola der R e a l Academia für den heutigen Gebrauch ausweist. 42

* *

*

W i e immer die semantische Entwicklung des Adjektivs im Einzelnen aber auch ausgesehen haben mag, kann in seiner Wahl doch eine bewusste Applikation eines Begriffs apophatischen Denkens, wie es die negative T h e o l o g i e pseudo-dionysischer Prägung verkörpert, gesehen werden: Anstatt ein entsprechendes >diverso< einzuführen, k ö n n t e sich der R e d a k t o r der vulgärsprachlichen Entsprechung zu >dissimilis< bedient haben — eine N e u b i l d u n g erscheint aufgrund derVarianten ausgeschlossen —, das mit seinem A n t o n y m >similis< u n d den entsprechenden Ableitungen ein zentrales Begriffspaar bildet in den lateinischen Ubersetzungen u n d K o m m e n t a r e n Johannes' Scotus zur Symboltheorie des Areopagiten u n d auch ihrer Weiterentwicklung im Periphyseon, die trotz ihrer päpstlichen Verdammung im 13. Jahrhundert, so noch einmal Kurt Flasch, »ein ständiges Stimulans« 43 für die

que se le da en el Tristan estä mäs proximo al de los textos franceses y podria indicar una traduction mas temprana.« 41

42

43

Felix Magno I—II (Sevilla, Sebastian Trugillo, 1549),

h r s g . v o n C l a u d i a D e m a t t e , Alcalä d e

Henares 2001, 27f.: »un gigante, el mayor y mas espantoso [...] cosa tan desemejada de grande y fea [...] El gigante era muy grande demasiadamente y tan negro que bien conformava el nombre con la brava catadura y peores obras.«; eines seiner Fräulein heißt dann auch nur >la Doncella Desemejada< (210). >desemejado< = >desemejable< = >muy feoterribledesfigurado< (vgl. Diccionario de la lengua espanola, hrsg. von der Real Academia, 22. Aufl., Edition auf CD-Rom, Version 1.0, Madrid 2003). Geschichte

der Philosophie

in Text und Darstellung

( w i e A n m . 6), 1 3 6 . F ü r d i e F r a g e , o b

der portugiesische Redaktor diese philosophischen Theoreme gekannt haben konnte, erscheint es mir von Bedeutung, dass auch der Portugiese und spätere Papst Petrus Hispanus die Schriften des Areopagiten übersetzt und kommentiert hat. Freilich mag sich der Redaktor auch — eventuell mit dem zukünftigen König Alfons III., dem die

Die >besta desassemelhada< in der altportugiesischen Demanda do Santo Graal

467

mittelalterliche Philosophie darstellten. Scotus gebraucht etwa in seiner Ubersetzung und dem Kommentar der Himmlischen Hierarchie diese Begriffe nachgerade ad nauseam, um die Natur der biblischen Gottes- und Engelbilder zu klassifizieren und zu erklären. Dionysius fuhrt dort aus, dass die Symbole des Göttlichen in der Bildersprache der Propheten das Gestaltlose auf zwei Arten durch das Sinnfällige darzustellen versuchen: nämlich entweder durch adäquate Ähnlichkeiten oder aber durch unpassende Ungleichheiten: Q V O M O D O DVPLEX EST SANCTE MANIFESTATIONS MODVS.VNVS QVIDEM QVI SIC C O N S E Q V E N S PROPTER SIMILES PROVENIENTIUM SACRARVM FIGVRARVM IMAGINES, ALTER VERO PROPTER DISSIMILES FORMARVM FACTVRAS IN OMNIN O I N C O N S E Q V E N S ET INDECORVM FORMATVS. 4 4

Die erste Methode berge das Risiko, dass der Rezipient die Darstellungen (Gott als Sonne, Morgenstern, leuchtendes Feuer) mit dem Dargestellten verwechselt und somit auf einer Vorstufe der Erkenntnis verharrt (>Gott ist die SonneUnähnlichkeit< genügen und somit durch den Fachbegriff>dessemelhada< bezeichnet werden, ebenso die Bilder der Evangelisten in der Demanda. Die >besta ladrador< der Demanda ist - wie vielleicht auch die Stiere — nun ein Zeichen freilich nicht der himmlischen, sondern der höllischen Hierarchie. Andererseits ist der Einbezug der >besta desassemelhada< in die Abenteuer von Logres nicht unabhängig vom romanimmanenten göttlichen Heilsplan zu denken: 4 6 Man könnte also auch in ihm ein Symbol des Göttlichen sehen und

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Einfuhrung der Postvulgata auf die iberische Halbinsel nun gemeinhin zugeschrieben wird — in Frankreich aufgehalten haben und dort mit den Schriften Eriugenas oder auch anderer Philosophen (Thomas von Aquin etwa zitiert Dionysius öfter noch als Aristoteles), die sich dieser Begriffe bedienten, in Kontakt gekommen sein. Johannes Scotus Eriugena, Expositiones in Ierarchiam Coelestem, hrsg. von Jeanne Barbet,Turnholt 1975 (Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis 31), 30f. (Cap. II, 402ff.) »NIHIL E R G O INCONSEQVENS, SI E T CELESTES ESSENTIAS EX INCONVENIENTIBVS DISSIMILIBVS SIMILITVDINIBVS R E F O R M A N T SECVNDVM DICTAS CAVSAS« (ebd., 53; Cap. II, 1217-1219). Mit B e z u g auf die >diverse beste< des Esfoire-Prologs merkt Roussel (wie Anm. 4) an: » C e qui est peut- etre curieux, c'est qu'une telle fonction soit assumee par une teile

468

Dietmar Frenz

d e m Tier mithin die gleiche Behandlung angedeihen lassen. Will man dieser Argumentation nicht folgen, muss man sich fragen, wie das Diabolische symbolisiert werden sollte, u m seine wahre, transzendentale N a t u r erkennbar zu machen. M a n wird Luzifer als gefallenem Engel wie auch seinen Emanationen u n d Epiphanien wohl zunächst dieselbe Transzendenz zugesprochen haben, nur eben am anderen Pol der himmlischen Hierarchie, in weitestmöglicher E n t f e r n u n g zu Gott; auch er u n d seine Monster konnten also w i e d e r u m nur m e h r oder weniger passend durch Ähnlichkeiten bzw. Unähnlichkeiten dargestellt werden, die auf die übergeordnete Realität verweisen. Somit wäre auch hier alles >Unähnliche< angebracht. Da die Symbolik sich aber nicht nur auf den ontischen Status des Transzendenten beziehen sollte, sondern auch auf Gottes Allmacht u n d vermeintliche Güte, müssten die Symbole des Teufels von j e n e n Gottes wieder unterschieden werden. Die Aporie, die d e m symbolischen System hier eingeschrieben wird, hat Dionysius schlichtw e g übergangen. Eriugena aber legt u m den Preis eines inneren Widerspruchs fest: »similitudo enim facit animum D e o proximum, dissimilitudo longinquum.« 4 7 D e n n da Gott jegliche >Unähnlichkeit< fern sei, 48 die ja denn auch den »falsis cogitationibus phantasiisque carnaliter de Deo« 4 9 eignet, ist die Gottferne der O r t der >dissimilitudoUnähnlichkeit< mit der

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creature, comme si la >diversite< de son aspect, souvent connotee comme diabolique, manifestait ici, par ce defi aux lois de la nature, l'origine divine de la bete.« (59) In extenso: »Est igitur ordo et ascensio ad plenissimam ierarchie participationem. Primum quidem purgatio ab omni dissimilitudine que a Deo animum solet elongare; similitudo enim facit animum Deo proximum, dissimilitudo longinquum. Que dissimilitudo in multis perspicitur; est enim in impietate infidelium; est in errore hereticorum nec non in peruersitate schismatum; est in contagione uitiorum; est in falsis cogitationibus phantasiisque carnaliter de Deo et creaturis turpia sentientium, ceterisque id genus ex quibus omnibus purgari oportet eos qui ad diuinam similitudinem et unitatem incipiunt ascendere.« (Johannes Scotus Eriugena [wie Anm. 44], 63f. [Cap. III, 316ff.]) Etwa Cap. III, 235ff. (ebd., 61f.): »Diuina [...] beatitudo [...] sine ullius dissimilitudinis mixtura«. Wie Anm. 47.

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Natur, bereits a u f eine h ö h e r e R e a l i t ä t verweise. 5 0 D i e physische E r s c h e i n u n g des M o n s t e r s negiere die reellen E r s c h e i n u n g e n v o n F o r m , Wesenheit und Substanz, und transzendiere mithin durch seinen zusammengesetzten Charakter die tatsächlichen Differenzen der Sinneswelt: the monsters kinship to disorder and chaos lies in its function of deforming. In the monster of combination, for example, the absolute differentiation between forms of existence is denied. Similarly, in the monster of deprivation the coordination of pairs is negated, as we see in the one-eyed Cyclops or the single-footed sciapode. More extended annulments of the objective coordination in order are seen in the hermaphrodite's cancellation of sexual pairs and in the discoordination of temporal sequence represented in the multicephalic monster. 51 D i e s e von Dionysius und anderen b e s c h r i e b e n e erkenntnisleitende F u n k t i o n wäre mithin durch die Beschreibungen der >beste diverse< vermittels verschiedener K o m p o n e n t e n realer T i e r e 5 2 erfüllt. W i e s o also sollte der R e d a k t o r a u f sie verzichten? Vielleicht hat er sich am irritierenden gleichen Ä u ß e r e n der T i e r e des Prologs und der >besta ladrador< gestört; das Gebell der letzteren m a g i h m zur K e n n z e i c h n u n g ihrer >Unähnlichkeit< genügt haben (»ca es estrana de fuera e de dentro«53 wird es i m sp. Merlin h e i ß e n ) . D e n n w i e die mehrmals aus H i m m e l und S e e n buchstäblich in die G e s c h i c h t e eingreifenden mysteriösen H ä n d e erscheinen auch die S t i m m e n der W e l p e n im Inneren des Tieres j a gleichsam >ex machina< bzw. k o m m e n aus d e m Off und negieren einmal m e h r die v o n Williams genannte absolute U n t e r s c h e i dung der E x i s t e n z f o r m e n . M a n k ö n n t e aber auch a n n e h m e n , dass er j e n e n Aspekt der >bestaDoulce< nicht identifiziert werden (vgl. Dubost [wie Anm. 4], 929, Anm. 14: »Le Tristan en prose fran^ais hesitait pour sa part entre deux noms aux significations opposees: >Douce< et >Dolorbeste< figurieren. Wie Anm. 39.

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Aspekt des Zeigecharakters der Monster u n d Missgeburten verweist im Ü b r i g e n schon Isidor, i n d e m er den engen etymologischen Z u s a m m e n h a n g von M o n s t r u m u n d >(de)monstrare< betont: A u c h hier steht nicht der j e außergewöhnliche K ö r per des Monsters im Vordergrund, sondern seine Bezeichnung. 5 4 D e r Verzicht auf die Beschreibung des Monsters in der Demanda lenkte die Aufmerksamkeit ganz auf diese Bezeichnung, ein Vorgehen, das sich zumindest von so vielen vorausgegangenen Monsterbeschreibungen abhöbe; die häufigen Verwandlungen des Tieres im Laufe des 13. Jahrhunderts zeugen ja von den beständigen B e m ü h u n g e n , die Texte stets von n e u e m interessant zu machen. 5 5 D e r herausragenden Stellung der >besta ladrador< im R o m a n g e f u g e w ü r d e diese Substitution des Monsterkörpers durch den bloßen Zeichenkörper, des Symbols durch das Simulacrum, gerecht; ginge man n o c h zusätzlich von einer nicht etablierten absoluten Verwendung des Adjektivs aus, erschiene die >besta< infolge dieser semantisch-syntaktischen Insuffizienz, wie zuvor das assemblierte Monster in der Sinneswelt, auch als Fremdkörper im Textgewebe. Jedenfalls wird das gestaltlose Gedankliche zwar in materielle Sprachzeichen umgesetzt, bleibt aber Begriff o h n e Bild, bleibt Logos. D e r Sprache eignet aber Johannes Scotus zufolge dasselbe erkenntnisleitende Prinzip, das von den Bildsymbolen verkörpert wird; er schreibt diesen Aspekt der gesprochenen und ausdrücklich auch der geschriebenen Sprache in seinem philosophischen H a u p t werk, dem Periphyseon, zu: Nam et noster intellectus, cum per se sit invisibilis et incomprehensibilis, signis tarnen quibusdam et manifestatur et comprehenditur, dum vocibus vel literis [...] et dum vult, vocibus et literis incorporatur; et dum incorporatur, incorporeus in seipso subsistit56. Selbst in der Materialisierung durch gesprochene oder geschriebene W o r t e bleibt das D e n k e n demnach unkörperlich, immateriell: >corpus incorporalebesta desassemelhada
Inter mentem nostram, qua ipsum intelligimus Patrem, et veritatem, per quam ipsum intelligimus, nulla interposita creatura est.Ilha tornantecreanscreatus< als LeitdifFerenz divisionis naturae z u g r u n d e liegt. A u f g r u n d mangelnder Zeugnisse aus d e m portugiesischen Sprachraum m ö g e n literarische Präzedenzfälle zumindest für die Verwendung von Begriffen der mystischen Theologie aus Italien herangezogen werden. So verwendet e t w a j a c o p o n e daTodi in seiner Lauda Sopr' onne lengua Amore nicht nur die volkssprachlichen Entsprechungen der Termini technici >infigurabilis< (>senza figura< 61 ), >similitudo< (>simiglianzadissimilitudo< (>dissimiglianzaDissimiglianteunförmigresimillia[nte]< begegnet im Bestiario moralizzato aus dem 13. oder frühen 14. Jahrhundert. 6 3 Auch Dante, der mit den dionysischen T h e o r i e n bekanntlich vertraut war, verwendet die

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Vgl. Werner Beierwaltes, »Negati Affirmatio: Welt als Metapher. Zur Grundlegung einer mittelalterlichen Ästhetik durch Johannes Scotus Eriugena«, Philosophisches Jahrbuch 83 (1976), 237-265. The Portuguese Book ofJoseph of Arimathea (wie Anm. 15), lOOff. Vgl. den Stellenkommentar in Gianfranco Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Mailand, Neapel 1995 ('1960), Bd. 2, 148ff.Vgl. auch die Einführung, 62 f: »Dominante appare [...] il filone mistico che risale, nell'alveo agostiniano, al Pseudo-Dionigi l'Areopagita e al suo traduttore ed esegeta Giovanni Scoto Eriugena, e attraverso iVittorini giunge ai maggiori mistici francescani [...]«. V. 349—352: »tanto fai core unito / en divina amistanza, / non c'e dissimiglianza / de contradir Amore.« (Contini [wie Anm. 60], 161). XVIII: De l'orsa,V. 1-4: »Tanto fa l'orsa el parto divisato / k'a nulla creatura resimillia; / vedendolo cusi dissemegliato, / mantenente a la bocca lo ripiglia.« (Luigina Morini [Hrsg.], Bestiari medievali,Turin 1996, 502).

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volkssprachliche Entsprechung des erkenntnistheoretischen Begriffs >similis< (Pd. I, 103—105:»[...] Le cose tutte quante / hanno ordine tra loro, e questo e forma / che l'universo a Dio fa simigliante«). Aber auch der Autor eines fiktionalen narrativen Werks, das sich nicht explizit mit Theologie und Philosophie auseinandersetzt, w i e Dante dies tat, konnte sich fachsprachlicher Begriffe bedienen. Zumal die arthurische Literatur aber war spätestens seit der Bearbeitung durch R o b e r t de Boron in ein von Ansprüchen auf Imitation und Substitution geprägtes Verhältnis zu den >heiligen< Schriften getreten und hatte sich deren belehrende Absichten durchaus zu eigen gemacht. Ein Zitat aus Gutierre Diez de Games' El Victorial (ca. 1436) mag belegen, w i e eng der Zusammenhang von theologisch-szientistischerWeltbetrachtung und deren möglicher Diskussion, Erklärung,Vermittlung und Popularisierung anhand literarischer Figuren — sofern sie denn als solche aufgefasst wurden - , noch im 15. Jahrhundert gesehen wurde: Merlin fue un buen honbre e muy sabio. N o fue fijo del diablo, como algunos dizen, ca el diablo, que es espiritu, non puede engendrar. Provocar puede Cosas que sean de pecado, ca este es su οΑςίο. El es sustanfia yncorporea; non puede engendrar corporea. 6 4

Diez de Games müsste demnach auch die >besta< als >corpus incorporale< aufgefasst haben; ihre besondere Darstellung durch den portugiesischen R e d a k t o r hätte er vielleicht begrüßt. Selbst noch der Autor des Prologs zur spanischen Edition des Baladro, dessen Abfassung man wohl u m den Zeitpunkt der Drucklegung verorten muss, betont den Ritterbüchern und >heiligen< Schriften gemeinsamen Nutzen, wenngleich er die Unterschiede zwischen den beiden auch klar benennt: Ε pues en el mantenimiento corporal ay principales viandas e otras no tanto, como son fructas, asi en las escripturas cathölicas e caballerosas ay diferencia. Esto digo, muy esclarecido sefior, porque este Tractado de Merlin, cotejado con los que vuestro claro ingenio haya visto, asi de la doctrina catholica como en otras sciencias, levantados los manteles de las otras doctrinas, leeres por fructa este, para recreaciön de vuestro exercicio y condiciön cavallerosa. 65

U n d vielleicht muss er diesen Unterschied zwischen den >escripturas catholicas< und den >caballerosas< auch so sehr herausstellen, da i m Postvulgata-Zyklus diese Differenz explizit aufgehoben ist: So gibt sich nämlich die altfranzösische Estoire und mit

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Gutierre Diez de Games, El Victorial, hrsg. von Rafael Beitran Llavador, Salamanca 1 9 9 7 (Biblioteca Espanola del Siglo X V ) , Kap. 19, 325, hier: zit. nach Pedro M . Catedra, Jesus D. Rodriguez Velasco, »El baladro del sabio Merlin y su contexto literario y editorial«, in: El baladro del sabio Merlin con sus profecias (wie Anm. 39), X X X I I I . El baladro del sabio Merlin con sus profecias (wie Anm. 39), 4.

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ihr der Jose als >literalinspirierte< Schrift (»jou me'ismes l'escris de ma main« 66 ; »por que eu m e s m o por minha maäo as spriuy« 67 ) aus, als Abschrift eines von Christus selbst geschriebenen Büchleins — u n d erhebt damit sogar einen über die meisten biblischen Schriften hinausgehenden Anspruch; Christus (»Eeu sam a | quelle aque disse nicodemus mestre nö conhecemos que vos sodes« 68 ) gibt d e m Erzähler sogar eine Warnung vor den unheilvollen Kräften des Buches mit auf den Weg: Eem tal maneira | as deue ho home leer que as Diga por alingoa Do οοαςΐο. Asi que | hi estäo no as fale por alingoa por que se fossem | nomeadas todos hos meus alemetos Se moueriä 2 ho ςεο por ello | choraria 2 ho ar tremeria 2 a terra se abalaria 2 aaguaa mudaria | sua cor.Tudo isto he neste liuro Emais [...] 69 D e r topische Schlaf vor der Offenbarung 7 0 und, im Fall des Jose, auch der ausgewechselte Empfänger der Botschaft, weisen diesen Anspruch der unmittelbaren Verfasserschaft Christi natürlich als einen lediglich im Fiktionsrahmen erhobenen aus; darin aber erstreckt er sich auch auf die Darstellungen von M o n s t e r n transzendentalen Charakters, seien sie göttlichen oder teuflischen Ursprungs. Ein Begriff aus den Schriften des Dionysius, der als Paulusschüler galt, wäre einem solchen U n t e r fangen aber sicherlich angemessen; denn schließlich gilt: »afestoria] do greal[. [...] he de todas as estorias amais alta | e amelhor.« 71 D e r portugiesische Bearbeiter der Queste hätte somit gleichsam in Analogie zu dem rätselhaften Begriff, den der >Gral< ja bekanntermaßen für zumindest einen prominenten Bearbeiter darzustellen schien, einen überraschenden Effekt erzeugt, der im besten Fall eine Art Sogwirkung auf den Leser ausüben sollte, die ihn in den Text hineinziehen und über die Erkenntnis seiner Machart aus stets unzureichenden Signifikanten auch darüber hinaus bringen konnte: in die Realität der Transzendenz, oder zumindest in die der Bücher: D e n n die von der Forschung herausgearbeitete ideologische Ausrichtung der Demanda spricht nicht gerade für eine mit der >besta< verbundene ernstgemeinte erkenntnisleitende Absicht. Die zahlreichen, durchgängig feigen M o r d e u n d Vergewaltigungen des R o m a n s , »omnipräsente[s] memento mori«72, m ö g e n zwar auf die christliche Körperfeindlichkeit, die in den

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Estoire (wie A n m . 11), 519. The Portuguese Book of Joseph of Arimathea

(wie A n m . 15), 77.

Ebd., 78. Ebd., 77. Ebd., 77f.: »tomoume sono 2 deiteime adormir 2 nö | Jouue muito que huä voz me chamou tres vezes 2 disseme acorda. [...JEentäo acordeime«. Ebd., 77. Vgl. Gerhard Wild, »Säkularisierung und Dissoziation: Α Demanda do Santo Graal«, Zeit-

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materiellen K ö r p e r n n u r eine E n t f e r n u n g von G o t t sieht, von der der M e n s c h erlöst w e r d e n müsse, h i n d e u t e n d e n a c h d e m , ob m a n in der >besta< aber n u n eher das M o m e n t göttlicher Heilsplanung o d e r teuflischer Ausgeburt ü b e r w i e g e n lässt, k ö n n t e n sowohl das Konzept eines körperlosen Monsters als auch sein Gegenteil stimmig erklärt werden. H a t t e m a n f r ü h e r vor allem den Verzicht auf das in der Vulgata manifeste zisterziensische Askese-Ideal b e t o n t u n d seinen Ersatz durch >zirzenische< Ideale, also Schauwerte und Befriedigung der Leselust, konstatiert, so schlug zuletzt Gerhard W i l d vor, statt einer Resäkularisierung eine religiöse S c h w e r p u n k t verlagerung auf >einfache Formen< der Frömmigkeit zu sehen, »als A n g e b o t an ein Laienpublikum«, 7 3 das sich in den engen Bezügen zu religiöser Prosa in Märtyrerlegende u n d Mirakel zeige. In ein solches Werk, in d e m sich lediglich n o c h »Spuren j e n e r eher intellektuellen Frömmigkeit« der Vulgata zeigen, passte ein Kunstgriff wie der des körperlosen Monsters als erkenntnisleitendes M o t i v freilich nicht. Es sei denn, m a n wolle in diesem Einfall des portugiesischen Ubersetzers lediglich einen ironischen, sprachspielerischen Kniff sehen, einen gelehrten calembour für Literaten oder die Klerikerkollegen, wie sie im Mittelalter ja durchaus üblich waren. 7 4 Verwiesen w ü r d e der gebildete Leser durch die Verfremdung, durch das Ineinanderblenden v o n literarischem u n d philosophischem Diskurs hier allein auf die M a c h a r t von Texten. In diesem Fall wäre unser Beispiel aber vergleichbar mit j e n e m Effekt, der w o h l auch Sir T h o m a s Malory vorgeschwebt zu haben schien, als er in seiner Bearbeitung (Le Morte Darthur, ca. 1470) das seltsame T i e r >the Q u e s ting Beast< taufte. Dieses verweist nämlich gleichermaßen auf das Bellen des Tieres wie eben auch auf die B e w e g u n g der Jagd, mit d e m T i e r als O b j e k t u n d Subjekt zugleich, u n d letztlich auf die ritterliche Queste überhaupt u n d somit zurück auf den Text selbst. 75 Eine solche selbstbezügliche R e f e r e n z auf das B u c h in der erzähl-

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schriftfür romanische Philologie 105, 3 / 4 (1989), 3 2 2 - 3 3 6 , hier: 325; vgl. auch 327: »>[...] j e d o c h scheint der Verfasser des Post-Vulgataromans m e h r W e r t auf die G r a u s a m k e i ten u n d Greueltaten gelegt zu h a b e n , die der >Vorbildtext< der Queste del Saint Graal i m Interesse einer spirituell geprägten Didaktik seiner Zeit d e z e n t verschwieg.« Ebd., 330: »Diese schlichtere A u s p r ä g u n g v o n T u g e n d , M a r t y r i u m u n d W u n d e r k e n n zeichnet die H a n d l u n g der Demanda besser als das Fehlen des zisterziensischen Diskurses, der in d e n zahlreichen religiösen U n t e r w e i s u n g e n der Queste del Saint Graal hervortrat.« Vgl. etwa D o m e n i c o Polloni, »Amour« e »clergie«. Un percorso testuale da Andrea Cappellano all'Arcipreste de Hita, Bologna 1995. Vgl. F u r t a d o (wie A n m . 2), 45; M a l o r y v e r w e n d e t , seltener, a u c h die B e z e i c h n u n g >Beast GlatissantQuesting< gesehen: »J'adresse ici m e s plus chaleureux r e m e r c i e m e n t s ä m o n collegue et ami J e a n - M a r i e M a g u i n , fin connaisseur de Malory, qui a bien voulu eclaircir ä m o n i n t e n t i o n certains passages de ce texte et, en particulier, le sens d e l'expression: >the

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ten Welt u n d das Tier als dessen Zeichen aber war schon vorgezeichnet im P r o log zur Estoire del Saint Graal, in d e m auf der Suche des Autors nach d e m i h m von Gott anvertrauten B u c h dieses i m m e r wieder durch die >beste diverse* ersetzt zu sein scheint. 7 6 Dubost merkt dazu an: L'aventure fantastique est ici celle de l'ecriture interpretee comme un acte monstrueux, a l'image de la bete composite, une ecriture qui, ne pouvant etre originale, sera necessairement rhapsodique et >diversethe Beast for Questing< (la bete ä chasser).« (928, Anm. 4). Später heißt es dann: »Malory introduit la designation >Questing Beast