Kriton: Übersetzung und Kommentar [1 ed.]
 9783666304361, 9783525304365

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PLATON Werke Übersetzung und Kommentar

Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz herausgegeben von Ernst Heitsch, Carl Werner Müller und Kurt Sier

I3 Kriton

Vandenhoeck & Ruprecht

PLATON Kriton

Übersetzung und Kommentar von Wolfgang Bernard

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30436-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Gesamtherstellung:

Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII Die Datierung des Kriton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

VIII Das Thema des Kriton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

VIII Bezüge zu anderen Dialogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IIIV Das athenische Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

IIIV Die Religiosität des Platonischen Sokrates im Kriton . . . .

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IIVI Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

IVII Die Rede der Gesetze und das Sokratesbild . . . . . . . . . . . .

49

VIII Bemerkungen zur Textgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

43a1–44b5

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

44b5–46a8

Kritons Argumente für eine Flucht . . . . . . . . . . . . .

62

46b1–54d1

Sokrates’ Entgegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

46b1–48b10 Widerlegung Kritons: Teil 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

48b11–49e8 Widerlegung Kritons: Teil 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

49e9–54d1

Widerlegung Kritons: Teil 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

50a6–54d1

Widerlegung Kritons durch die Rede der Gesetze

98

54d2–e2

Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Vorwort

Gerne hätte ich in der Titelei den Zusatz „unter Mitwirkung von Steffen Kammler und Jenny und Frank Görne“ hinzugefügt, wenn es nicht den fragwürdigen Usus gäbe, hinter solchen Formulierungen die eigentli­ chen Autoren eines Buches zu verstecken. Den vorliegenden Text habe ich aber Wort für Wort selbst verfasst und verantworte ihn darum auch alleine, die Genannten haben mir aber trotzdem in einer für das Gelin­ gen des Projekts entscheidenden Weise geholfen. Die Übersetzung haben Steffen Kammler und Jenny und Frank Görne in viele Stunden dauernden Sitzungen anhand des griechischen Originals eingehend mit mir zusammen durchgearbeitet. Für die anderen Teile haben die beiden Erstgenannten mir schriftlich Korrekturen und Verbesserungsvorschläge gemacht. Im Mündlichen wie im Schriftlichen sind mir dabei nicht vor­ formulierte Zusätze oder Einfügungen, sondern Arbeitsinstruktionen und -anregungen übermittelt worden, deren Umsetzung dann an mir lag. Auf diese Weise stammen alle Formulierungen letzten Endes von mir (die einzige Ausnahme sind einzelne Übersetzungsvorschläge, da haben alle Beteiligten Beiträge geliefert, ohne dass wir genau protokolliert hät­ ten, wer welchen Begriff oder welche Wendung bereitgestellt hat). Jenny Görne und Steffen Kammler haben mir auch bibliographische Listen zugearbeitet, ausgewählt und durchgearbeitet habe ich die Litera­ tur aber selbst. Ich bin bei all dem davon ausgegangen, dass man nur die Gesamtverantwortung für eine Arbeit tragen kann, wenn man sie sich in allen Teilen zu eigen macht. Aber dennoch hätte ich ohne die Unterstüt­ zung der drei Genannten dieses Buch nicht nur nicht annähernd in der­ selben Qualität fertigstellen können, sondern es wäre mir mit größter Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht gelungen. Darum gebührt mein ers­ ter und größter Dank meinen Freunden Jenny, Frank und Steffen. Ebenso möchte ich den Herausgebern des „Deutschen Platon“, Ernst Heitsch, Carl Werner Müller und Kurt Sier, für die Aufnahme dieser Schrift in ihre Reihe danken. Herrn Heitsch und Herrn Sier bin ich zudem für eine Reihe von wichtigen Hinweisen zu Dank verpflichtet, da sie das Manuskript vor der Drucklegung eingehend geprüft und mich so vor vielen Irrtümern und Ungeschicklichkeiten bewahrt haben. Es ist

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Vorwort

mir ein großes Anliegen, Herrn Heitsch darüber hinaus besonders herz­ lich für die erhebliche Unterstützung zu danken, die ich von ihm über Jahrzehnte erfahren habe, ohne die ich vermutlich meinen Weg in die Wissenschaft gar nicht erst hätte finden können. Angesichts dessen ist das hier vorgelegte Buch die bescheidenste Gegengabe, die man sich denken könnte. Meinem Lehrer Arbogast Schmitt gebührt ebenfalls großer Dank, auch wenn ich über den Kriton mit ihm nie im Detail gesprochen habe, denn die hier vorgelegte Interpretation fußt entscheidend auf der von ihm über Jahrzehnte erarbeiteten Platondeutung, wie ich sie aus seinen Publikationen und aus seinen Seminaren und Vorlesungen gelernt habe. Sodann habe ich Jenny Görne, Steffen Kammler und Franziska Schwab auch sehr herzlich für ihre Hilfe beim Korrekturlesen der Druckfahnen zu danken, letzterer zudem für die Unterstützung beim Erstellen des Indexes. Schließlich danke ich den Mitarbeitern des Verlags für die freundliche und kompetente Betreuung und die gute Zusammenarbeit während der Drucklegung. Als bester Schlusssatz jeder Einleitung zu einer philologischen Arbeit erscheint mir, was Stefan Radt im Dankwort seiner kommentierten Aus­ gabe von Strabons Geographika1 zitiert: „The flaws and faults that remain are all my own work“.2 Rostock, im Oktober 2015

Wolfgang Bernard

1 Vgl. Stefan Radt (Hrsg.), Strabons Geographika, Band 1. Prolegomena, Buch I-IV: Text und Übersetzung, Göttingen 2002, S. VI. 2 Vgl. Donald Russell, Dio Chrysostom Orations VII, XII and XXXVI, Cambridge 1992, S. VII.

ÜBERSETZUNG

KRITON Sokrates und Kriton

SO.: Warum bist du zu dieser Stunde gekommen, Kriton? Oder ist es nicht noch früh am Morgen? KR.: Allerdings. SO.: Welche Uhrzeit denn? KR.: Kurz vor Tagesanbruch. SO.: Ich wundere mich, wieso der Gefängniswärter bereit gewesen ist, aufzumachen! KR.: Er kennt mich inzwischen, Sokrates, weil ich oft hierher gekom­ men bin, und er hat von mir auch schon manche Gefälligkeit empfan­ gen. SO.: Bist du eben erst gekommen oder schon länger da? KR.: Schon ziemlich lange! b SO.: Wieso hast du mich dann nicht gleich geweckt, sondern hast stumm bei mir gesessen? KR.: Beim Zeus, Sokrates, selbst wäre ich ja auch nicht gerne in einem solchen Zustand von Schlaflosigkeit und Schmerz, aber ich staune schon lange über dich, weil ich wahrnehme, wie süß du schläfst. Und ich habe dich absichtlich die ganze Zeit nicht geweckt, damit du deine Zeit so angenehm3 wie möglich verbringst. Ich habe dich ja auch schon früher dein ganzes Leben lang oft glücklich gepriesen für deine Charakterart, am meisten aber in dem gegenwärtigen Unglück, wie leicht und sanft du es trägst.

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„Angenehm“ ist hier die Übersetzung für das griechische Wort ἡδύς (hēdýs), das kurz vor­ her in der Verbindung mit „schlafen“ durch „süß“ übersetzt wurde. Das Wort bezeichnet alles, was angenehme, positive Empfindungen verursacht, also in irgendeinem Sinn mit Lust verbunden ist. Sokrates schläft trotz seines bevorstehenden Todes völlig entspannt und mit allen Anzeichen wohliger Empfindung. Und Kriton und seine Freunde wollen ihm seine letzten Stunden und Tage ebenfalls so angenehm wie möglich machen.

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Übersetzung

SO.: Es wäre ja auch unangemessen, Kriton, in meinem Alter unwillig zu sein, wenn man nunmehr sterben muss. KR.: Auch andere, Sokrates, geraten in deinem Alter in solches Unglück, aber ihr Alter befreit sie nicht davon, über das gegenwärtige Geschick unwillig zu sein. SO.: Das stimmt. Aber warum bist du denn nun so früh am Morgen gekommen? KR.: Sokrates, ich bringe eine schlimme Nachricht, nicht für dich, wie mir scheint, aber für mich und alle deine Freunde schlimm und schwer, die ich, wie es mir vorkommt, gewiss besonders schwer tragen würde. SO.: Und welche? Ist das Schiff aus Delos zurück, nach dessen Ankunft ich sterben muss? KR.: Es ist noch nicht zurück, aber nach meinem Eindruck wird es heute kommen, nach dem, was Leute, die von Sunion gekommen sind und es dort verlassen haben, melden. Es ist also aufgrund dieser Nach­ richten klar, dass es heute kommen wird, und es wird also notwendig am morgigen Tage, Sokrates, dein Leben enden. SO.: Dann möge es auf diese Weise gut sein, Kriton; wenn es so den Göttern lieb ist, sei es so! Allerdings glaube ich durchaus nicht, dass es heute kommen wird. KR.: Woraus leitest du das ab? SO.: Ich will es dir sagen! Ich muss ja doch am Folgetag nach dem, an welchem immer das Schiff kommt, sterben. KR.: Das sagen jedenfalls die hierfür Zuständigen. SO.: Da glaube ich nun keineswegs, dass es am gegenwärtigen Tag kommen wird, sondern anderntags. Ich leite das aus einem Traum ab, den ich kurz zuvor in dieser Nacht gehabt habe. Und da hat es sich gut getroffen, dass du mich nicht geweckt hast! KR.: Und was war nun der Traum? SO.: Es erschien mir eine schöne und wohlgestalte Frau in einem wei­ ßen Gewand, die kam zu mir, nannte mich beim Namen und sagte: „Sokrates, möchtest am dritten Tag in die schollige Phthia gelangen!“4 KR.: Was für ein merkwürdiger Traum, Sokrates! SO.: Doch wohl eindeutig, wie mir scheint, Kriton. KR.: Allzusehr, wie es scheint. Aber, Sokrates, du Mann des Daimo­ nion, folge mir auch noch in dieser späten Stunde und rette dich! Denn

4 Die Göttin zitiert hier Homers Ilias (9, 363), Phthia ist die Heimat des Achill, so dass der Satz suggeriert, dass Sokrates durch seinen Tod heimkehren wird (vgl. unten den Kommentar zu 44b2). Der Homervers ist in der Vossschen Übersetzung wiedergegeben.

Übersetzung

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wenn du stirbst, erleide ich mehr als ein Unglück: abgesehen davon, dass ich eines solchen Freundes beraubt bin, wie ich gewiss niemals mehr einen finden werde, werden viele, die mich und dich nicht genau c kennen, auch noch meinen, dass ich, der ich in der Lage gewesen wäre, dich zu retten, wenn ich bereit gewesen wäre, eine Geldsumme aufzu­ wenden, dies unterlassen hätte. Und was wäre schon ein schändlicherer Ruf als der, dass gemeint wird, man habe das Geld höher geschätzt als die Freunde?! Denn die Leute werden nicht glauben, dass du selbst nicht bereit warst, von hier fortzugehen, während wir eifrig darauf hinwirk­ ten. SO.: Aber seit wann, glückseliger Kriton, liegt uns so viel an der Mei­ nung der Leute? Denn die vorzüglichsten Menschen, auf welche zu ach­ ten angemessener ist, werden glauben, dass so gehandelt worden ist, wie ja auch gehandelt wurde. KR.: Aber du siehst doch, Sokrates, dass man auch die Meinung der d Leute notwendig berücksichtigen muss. Gerade die gegenwärtigen Umstände machen klar, dass die Leute nicht bloß die kleinsten Übel her­ vorrufen können, sondern geradezu die größten, wenn einer bei ihnen verleumdet ist. SO.: Ich wünschte, Kriton, die Leute wären in der Lage, die größten Übel zu bewirken, damit sie auch in der Lage wären, die größten Güter hervorzurufen, dann wäre alles gut! Nun sind sie aber zu beidem nicht in der Lage. Denn sie vermögen einen weder vernünftig noch unver­ nünftig zu machen, sondern sie bewirken, was immer sie gerade bewir­ ken.5 e KR.: Nun, das mag so sein! Sag mir aber Folgendes, Sokrates! Machst du dir etwa Sorgen meinethalben und wegen deiner übrigen Freunde, dass, wenn du hier herauskommst, die Sykophanten uns Ärger machen durch die Behauptung, wir hätten dich hier durch unlautere Mittel herausgeholt, und wir gezwungen sind, entweder womöglich unser gan­ zes Vermögen oder eine große Summe zu verlieren oder außerdem auch noch anderes zu erleiden? Wenn du nämlich etwas derartiges fürchtest,

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Der letzte Halbsatz wird in vielen Übersetzungen durch „sie handeln zufällig“ oder „belie­ big“, „they act at random“, o.ä. wiedergegeben. Das ist aber nicht der Sinn der griechischen For­ mulierung ποιοῦσι δὲ τοῦτο ὅτι ἂν τύχωσι. Vgl. vielmehr den Übersetzungsvorschlag von Penner (1997), 154: „The result they produce is just whatever chances.“. Er präzisiert dadurch Burnets Kommentar zur Stelle (44d9), welcher nur auf den Aspekt der Gleichgültigkeit abhebt. Penner arbeitet heraus, dass die Wirkung des Tuns „der Leute“ (beziehungsweise „der Vielen“) deswegen sowohl wirr als auch letztlich unbedeutend ist, weil sie über keine klaren Kriterien für gut und schlecht und damit auch nicht für Schädigen und Nützen verfügen (Penner [1997], 153 f.).

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schlag dir das aus dem Kopf! Denn es ist doch nur gerecht, wenn wir dadurch, dass wir dich retten, in eine solche Gefahr geraten und wenn nötig in eine noch größere. Nein, folge mir und handle nicht zuwider! SO.: Sowohl deswegen mache ich mir Sorgen, Kriton, als auch wegen vielem anderen. KR.: Davor hab wirklich keine Furcht – es ist ja auch gar nicht viel Geld, was bestimmte Leute haben wollen, um dich nach seinem Erhalt zu retten und von hier fortzubringen. Siehst du zweitens nicht, wie billig diese Sykophanten sind und dass man für sie nicht viel Geld bräuchte? Und dir steht mein Geld zur Verfügung, genug, wie ich glaube. Drittens: wenn du dir um mich Gedanken machst und glaubst, ich sollte mein Geld dafür nicht aufwenden, sind diese Fremden hier bereit, es aufzu­ wenden. Einer hat auch schon für genau dies genug Geld beschafft, Sim­ mias, der Thebaner. Aber auch Kebes ist dazu bereit und ganz viele andere. Folglich, wie ich sage, lass nicht aus Furcht davor davon ab, dich zu retten, und lass dich auch nicht, wie du vor Gericht sagtest, von der Sorge beeinträchtigen, dass du nicht wüsstest, wie du mit dir selbst umgehen solltest, wenn du fortgingst. Denn auch an vielen Orten ander­ wärts, wohin auch immer du gelangst, wird man dich lieben. Und wenn du nach Thessalien gehen möchtest, dort habe ich Gastfreunde, die dich sehr schätzen und dir Sicherheit bieten werden, so dass dir niemand in Thessalien etwas zuleide tun wird. Außerdem, Sokrates, scheinst du mir da auch keine gerechte Sache in Angriff zu nehmen, an dir selbst Verrat zu üben, wo du doch gerettet werden könntest, und du bist eifrig darauf bedacht, dass mit dir solches geschehe, wie es wohl auch deine Feinde eifrig betreiben und betrieben haben, die dich vernichten wollen. Außerdem scheinst du jedenfalls mir auch deine eigenen Söhne zu verraten, die du doch sowohl großziehen als auch fertig bilden und erziehen könntest, du aber willst dich davon­ machen und sie zurücklassen, und soweit es auf dich ankommt, wird es ihnen so ergehen, wie immer es sie trifft. Es wird sie aber so treffen – so ist es wahrscheinlich –, wie es gewöhnlich in Fällen der Verwaisung mit Waisen geschieht. Denn man sollte entweder keine Kinder zeugen oder auch die Mühen des Großziehens, der Bildung und Erziehung mit auf sich nehmen. Du jedoch scheinst mir das Bequemste zu wählen. Man muss aber das wählen, was auch ein guter und tapferer Mensch wählen würde, zumal wenn man für sich beansprucht, in seinem ganzen Leben um das ethisch Gute bemüht zu sein. Wie jedenfalls ich mich sowohl für dich als auch für uns, deine Angehörigen und Freunde, schäme, dass man meinen könnte, die ganze Sache mit dir sei aufgrund einer Feigheit unsererseits zustande gekommen, sowohl der Eintritt in das gerichtliche Verfahren, wie er geschah, obwohl die Möglichkeit bestand, sich nicht

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darauf einzulassen, als auch die gerichtliche Auseinandersetzung selbst, wie sie sich vollzog, und schließlich also dies hier, gleichsam das lächer­ lich-absurde Ende der Geschichte, dass man meinen kann, durch unsere Schlechtigkeit und Feigheit hätten wir die Chance verpasst, da wir dich nicht gerettet haben, und du dich selbst auch nicht, obwohl es machbar und möglich war, wenn wir auch nur ein bisschen was taugten. Davor also nimm dich in Acht, Sokrates, dass die Dinge nicht zusätzlich zu ihrer Schlechtigkeit auch noch schändlich sind für dich und für uns! Sondern überleg, nein, für das Überlegen ist jetzt nicht mehr die Stunde, sondern dafür, überlegt und einen Plan gemacht zu haben: und es gibt nur einen Plan! Denn in der kommenden Nacht muss das alles erledigt sein. Wenn wir noch länger herumwarten, ist es unmöglich und nicht mehr machbar. Nein, folge mir unbedingt, Sokrates, und handle mir nur nicht zuwider! SO.: Mein lieber Kriton, dein Eifer ist sehr wertvoll, wenn er denn irgendeine Richtigkeit besitzt. Wenn aber nicht, dann ist er, je größer er ist, umso schlimmer. Wir müssen also untersuchen, ob man das tun soll oder nicht. Wie ich nicht erst jetzt, sondern schon immer so bin, dass ich nichts anderem von dem in mir folge als dem Argument, welches immer mir, wenn ich nachdenke, das beste scheint. Ich kann also die Argu­ mente, die ich früher vorgetragen habe, nicht jetzt über Bord werfen, da mir dieses Unglück zugestoßen ist, sondern sie scheinen mir im Grunde so wahr wie immer, und ich achte und ehre dieselben wie vorher auch schon. Und wenn wir im gegenwärtigen Zeitpunkt kein besseres vorzu­ tragen haben, dann wisse wohl, dass ich dir bestimmt nicht nachgeben werde, auch nicht wenn uns, wie ein Monster die Kinder, die Macht der Leute6 noch mehr einschüchtert, die Gefängnis und Tod verhängt und Entzug des Vermögens. Wie also könnten wir es am angemessensten prüfen? Wenn wir zuerst einmal dieses Argument wieder aufgreifen, das du vorträgst über die Meinungen. War die Rede jeweils richtig oder nicht, dass man auf manche Meinungen achten soll, auf andere hingegen nicht? Oder war sie, bevor ich sterben musste, richtig, jetzt jedoch ist es also sonnenklar geworden, dass sie leer gesprochen war, nur um irgend­ etwas zu sagen, und in Wahrheit Spielerei und Geschwätz war? Ich für mein Teil begehre zu untersuchen, Kriton, gemeinsam mit dir, ob mir das Argument irgendwie weniger wahr erscheinen wird, da ich in dieser Lage bin, oder genauso wahr, und ob wir uns von ihm verabschieden 6 „Die Leute“ heißen Griechisch immer οἱ πολλοί (hoi polloí), „die Vielen“, so dass die Rede von der „Macht der Leute“ zugleich impliziert, dass sie ihre Macht eben dadurch besitzen, dass sie viele sind und man selbst nur einer, was aber eben mit der sachlichen Richtigkeit der vertrete­ nen Position in keiner Weise zusammenhängt.

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werden oder ihm folgen. Die Rede war doch wohl, wie ich glaube, jeweils diese, vorgetragen von Leuten, die glaubten, damit recht zu haben, wie ich sie gerade eben vorgetragen habe, dass man von den Meinungen, die die Menschen haben, manche hochschätzen müsse, andere hingegen nicht. Scheint dir bei den Göttern, Kriton, diese Rede nicht richtig? Denn du bist, menschlich betrachtet, außerhalb der Not­ wendigkeit, morgen sterben zu müssen, und das gegenwärtige Unheil sollte dein Urteil nicht trüben. Schau also! Scheint dir die Rede nicht hinreichend, dass man nicht alle Meinungen der Menschen ehren soll, sondern manche ja, andere hingegen nicht, und auch nicht die aller Men­ schen, sondern die mancher Leute ja, die anderer hingegen nicht? Was willst du dazu sagen? Ist diese Rede nicht richtig? KR.: Doch. SO.: Man muss folglich die guten Meinungen ehren, die schlechten hingegen nicht? KR.: Ja. SO.: Und gut sind die derer, die Verstand haben, schlecht hingegen die derer, die keinen haben? KR.: Wie sollte es anders sein? SO.: Auf denn, wie wurde folgende Rede wiederum vorgetragen? Ein Mann, der trainiert und dies ernsthaft betreibt, achtet der auf Lob, Tadel und Meinung jedes Menschen, oder allein jenes Einen, der eben ein Arzt oder Trainer ist? KR.: Nur auf die jenes Einen. SO.: Man soll folglich den Tadel fürchten und das Lob begrüßen, das von jenem Einen kommt, nicht jedoch das der Leute.7 KR.: Offensichtlich. SO.: So also muss er handeln, trainieren, essen und trinken, wie immer es dem Einen richtig scheint, dem Kompetenten und Kundigen, mehr als, wie allen anderen. KR.: So ist es. SO.: Gut. Folgt er aber dem Einen nicht und achtet seine Meinung und sein Lob nicht, sondern ehrt das der Leute, die nicht kundig sind, wird er sich dann nichts Schlechtes zuziehen? KR.: Doch! SO.: Und was für ein Schlechtes ist das, wohin richtet es sich und was betrifft es bei dem, der nicht folgt?

7 Hier besteht im Griechischen, weil der hier mit „die Leute“ übersetzte Ausdruck οἱ πολλοί (hoi polloí) wörtlich „die Vielen“ bedeutet, zusätzlich der Kontrast zwischen dem einen Wissen­ den und den vielen Unwissenden.

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KR.: Offenbar seinen Körper. Den ruiniert er nämlich. SO.: Da hast du recht. Ist es folglich auch mit dem anderen, Kriton, ebenso, damit wir nicht alles einzeln durchgehen, und so also beim Gerechten und Ungerechten, beim Hässlichen und Schönen und beim Guten und Schlechten, auf das sich unsere Überlegung jetzt bezieht, ob d wir der Meinung der Leute folgen sollen und sie fürchten, oder der des Einen, wenn es einen Kundigen gibt, den man mehr respektieren und fürchten muss als alle anderen? Und wenn wir diesem nicht folgen wol­ len, werden wir jenes verderben und schädigen, was durch das Gerechte besser wird,8 durch das Ungerechte hingegen vernichtet wird. Oder ist das Unsinn?9 KR.: Ich jedenfalls halte das für richtig, Sokrates! SO.: Auf denn: wenn wir das, was durch das Gesunde besser wird, durch das Ungesunde hingegen verdorben wird, ruinieren, indem wir nicht der Meinung der Kundigen folgen, ist dann für uns das Leben e lebenswert, nachdem es verdorben worden ist? Und das ist ja doch wohl der Körper; oder nicht? KR.: Ja! SO.: Ist also das Leben lebenswert für uns mit einem schlechten und verdorbenen Körper? KR.: Keineswegs. SO.: Aber mit jenem als einem verdorbenen ist also für uns das Leben lebenswert, dem das Ungerechte schadet, das Gerechte hingegen nützt? Oder glauben wir, es sei geringerwertig als der Körper, was immer von 48a dem unseren es nun ist, auf das sich die Ungerechtigkeit und die Gerech­ tigkeit beziehen? KR.: Keineswegs! SO.: Sondern wertvoller? KR.: Viel! SO.: Mithin dürfen wir uns überhaupt nicht so darum sorgen, mein Bester, was die Leute von uns sagen werden, sondern was immer der über das Gerechte und Ungerechte Kundige sagen wird, der Eine, und die Wahrheit selbst. Folglich war erstens in dieser Hinsicht dein Vor­

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Im Griechischen heißt es hier wörtlich „was durch das Gerechte besser wurde“, ein Beispiel für das sogenannte philosophische Imperfekt. Das Imperfekt ist dabei nicht etwa auf den vom Verb bezeichneten Sachverhalt gerichtet, da es um eine gar nicht zeitbezogene Sachaussage geht, sondern im Hinblick darauf gewählt, dass man diese Frage in einem früheren Gespräch (oder sel­ tener in einem früheren Teil des laufenden Gesprächs) geklärt hatte, was unterstreicht, dass es sich um eine durch gemeinsames Nachdenken gewonnene gemeinsame Überzeugung handelt. 9 ἢ οὐδέν ἐστι τοῦτο; könnte auch heißen „Oder ist das nichts?“, sc. das, was durch Gerech­ tigkeit schlecht gemacht wird, also „ist die Seele gar nichts?“

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schlag nicht richtig, da du vorschlugst, wir müssten uns um die Meinung der Leute sorgen bezüglich des Gerechten, Schönen und Guten und des jeweiligen Gegenteils. „Aber“, könnte einer sagen, „die Leute sind doch imstande, uns zu töten!“ KR.: Auch das ist offensichtlich! Das könnte er nämlich sagen, Sokra­ tes! Was du sagst, ist wahr.10 SO.: Aber, du Staunenswerter, diese Argumentation, die wir durchge­ gangen sind, scheint mir jedenfalls unverändert wahr, so wie vorher. Und prüfe auch folgende, ob sie uns noch Bestand hat oder nicht, dass nicht das Leben am höchsten zu schätzen ist, sondern das gute Leben. KR.: Die hat allerdings Bestand. SO.: Und dass „gut“, „schön“ und „gerecht“ dasselbe ist, hat das Bestand oder nicht? KR.: Es hat. SO.: Folglich ist auf der Grundlage dessen, worüber wir uns einig sind, dies zu betrachten, ob es gerecht ist, dass ich versuche, mich von hier davonzumachen, ohne dass mich die Athener freilassen, oder nicht gerecht. Und falls es sich als gerecht erweist, wollen wir es versuchen, falls aber nicht, wollen wir es lassen. Die Betrachtungen hingegen, die du anführst, bezüglich des finanziellen Aufwands, des Rufs und des Großziehens der Kinder, das sind doch wohl wahrhaftig die Sorgen jener, oh Kriton, die leichthin töten und die auch wieder zum Leben erwecken würden, wenn sie dazu imstande wären, ohne jeden Verstand, der Leute eben. Wir hingegen, da die Argumentation in dieser Hinsicht stringent ist, haben doch wohl nichts anderes zu betrachten, als das, was wir gerade eben gesagt haben, ob wir gerecht handeln werden, sowohl wenn wir die mit Geld entlohnen, die mich hier herausholen sollen, und auch mit Dank, als auch wenn wir uns selbst herausholen und herausge­ holt werden, oder ob wir in Wahrheit Unrecht tun werden, wenn wir all dies tun. Und wenn sich erweist, dass wir damit Unrecht täten, dann müssen wir doch wohl nicht weiter nachdenken, weder ob wir sterben müssen, indem wir verbleiben und Ruhe halten, noch ob wir sonst irgendetwas eher erleiden müssen, als Unrecht zu tun. KR.: Meiner Meinung nach hast du damit recht, Sokrates. Aber schau, was wir tun sollen! SO.: Lass uns, mein Guter, gemeinsam prüfen, und wenn du bei mei­ ner Rede in irgendeiner Hinsicht zu widersprechen hast, so widersprich, 10

Die Herausgeber weisen den letzten Satz („Was du sagst, ist wahr“) teils Kriton, teils So­ krates zu, ohne klare Aussagen zu machen, ob hier schon vom Handschriftenbefund her Diskre­ panzen bestehen oder ob es sich um eine reine Diskussion unter den modernen Editoren handelt. Das Argument von Burnet im Kommentar zur Stelle, dass der Satz, wenn man ihn Kriton zuweist, dessen Eifer unterstreicht, scheint mir gut. Möglich sind aber wirklich beide Versionen.

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und ich werde dir folgen. Wenn aber nicht, dann hör auch auf, du Glück­ licher, mir immer wieder dasselbe Argument vorzutragen, dass ich mich von hier gegen den Willen der Athener davonmachen müsse. Denn ich lege großen Wert darauf, dich davon zu überzeugen, so zu verfahren,11 aber nicht gegen deinen Willen. Schau aber folglich, ob der Ausgangs­ 12 49a punkt der Untersuchung deiner Meinung nach angemessen formuliert wird, und versuch, auf das Gefragte zu antworten, wie immer du am ehesten glaubst. KR.: Das will ich versuchen! SO.: Sagen wir, dass man auf keine Weise willentlich Unrecht tun darf, oder dass man auf bestimmte Weise Unrecht tun darf, auf bestimmte wieder nicht? Oder ist das Unrechttun in keiner Weise gut oder schön, worüber wir auch schon in der vorausgegangenen Zeit viel­ fach Einigkeit erzielt haben? Oder – wie eben schon einmal gesagt13 – sind uns alle jenen früheren Übereinstimmungen in diesen wenigen Tagen im Rinnstein gelandet und haben wir schon lange, Kriton, als Männer in unserem Alter bei unseren ernsthaften Unterredungen mitei­ b nander nicht gemerkt, dass wir uns gar nicht von Kindern unterschei­ den? Oder verhält es sich ganz unbedingt so, wie wir es damals gesagt haben? Ob die Leute zustimmen oder nicht und ob wir noch Schlimme­ res als dies erleiden müssen oder Milderes, ist trotzdem das Unrechttun für den, der Unrecht tut, nun einmal sowohl schlecht als auch schändlich in jeder Weise? Sagen wir ja oder nein? KR.: Wir sagen ja! 11 Die Übersetzung folgt 48e4 der in der großen Mehrzahl der Handschriften überlieferten Version πεῖσαί, die viele Herausgeber für sachlich unmöglich halten. Die Übersetzung geht davon aus, dass mit ταῦτα πράττειν „so zu handeln“ im Sinne von „immer nur mit Zustimmung des Gegenübers zu agieren“ gemeint ist. Ich danke Markus Kersten, der seine Deutung der Stelle an anderem Ort darlegen wird, für eingehende Diskussionen, die mein Verständnis dieser Passage sehr gefördert haben, auch wenn wir uns am Ende nicht ganz einig geworden sind. 12 Zugleich „Prinzip“, ἀρχή (archē) bedeutet ja beides. Durch die Übersetzung lässt sich der methodische Aspekt dessen, was Platon Sokrates hier sagen lässt, nicht klar herausarbeiten. Mit dem Ausgangspunkt der Untersuchung ist hier nicht etwa der zeitliche Ausgangspunkt gemeint, sondern der sachliche, und dieser wiederum ist im Sinne Platons, wenn man ein wahres Ergebnis erreichen möchte, nicht beliebig wählbar, beziehungsweise von den Gesprächspartnern durch eine subjektive Übereinkunft beliebig festlegbar. Vielmehr ist zu klären, welches Allgemeine (mögli­ cherweise können es auch mehrere sein) für die zu diskutierende praktische, also das Einzelne betreffende Frage relevant ist. Dies ist die entscheidende Frage, denn die praktischen Antworten ergeben sich hieraus. Insofern bildet die Erkenntnis, dass man niemals Unrecht tun darf, auch nicht, wenn man selbst welches erlitten hat, den Ausgangspunkt der folgenden Argumentation im Sinne ihres Prinzips, aus dem deduktiv das Ergebnis abgeleitet werden kann, dass Sokrates nicht aus dem Gefängnis fliehen darf, wenn das Unrecht wäre. 13 49a7 ὅπερ καὶ ἄρτι ἐλέγετο wird von den meisten Herausgebern athetiert, die Überset­ zung stellt es mit Meiser hinter ἢ.

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SO.: Man darf folglich unter keinen Umständen Unrecht tun?14 KR.: Durchaus nicht! SO.: Man darf folglich auch nicht, wenn man Unrecht erlitten hat, im Gegenzug Unrecht tun, wie die Leute glauben, da man ja unter keinen Umständen Unrecht tun darf? c KR.: Anscheinend nicht! SO.: Wie also? Darf man andere schädigen, Kriton, oder nicht? KR.: Das darf man keinesfalls, Sokrates! SO.: Wie nun? Im Gegenzug andere zu schädigen, wenn man selbst geschädigt worden ist, ist das, wie die Leute sagen, gerecht, oder ist das ungerecht? KR.: Durchaus nicht! SO.: Denn Menschen zu schädigen unterscheidet sich doch wohl nicht vom Unrechttun. KR.: Wahr sprichst du! SO.: Man darf folglich nicht im Gegenzug Unrecht tun und auch kei­ nen einzigen der Menschen schädigen, auch nicht wenn man sonst etwas d von ihnen erlitten hat. Und pass auf, Kriton, dass du, wenn du dem zustimmst, nicht gegen deine Meinung zustimmst! Denn ich weiß, dass das nur die Meinung bestimmter Weniger ist und sein wird. Für die, die dieser Meinung sind, und für die, die es nicht sind, gibt es keine gemein­ samen Pläne, sondern notwendig müssen sie einander wechselseitig ver­ achten, wenn sie die Pläne der jeweils anderen sehen. Prüfe also auch du sehr gut, ob du gemeinsam teilhast und derselben Meinung bist und wir von dort mit unserer Beratung den Ausgang nehmen wollen, dass weder Unrecht tun jemals richtig ist noch im Gegenzug Unrecht tun noch sich, wenn man geschädigt wird, wehren, indem man im Gegenzug schädigt, oder gehst du von der Fahne und hast nicht gemeinsam teil an diesem e Ausgangspunkt? Denn das ist schon immer und so auch jetzt noch meine Meinung, wenn du aber nunmehr anderer Meinung bist, sag es und erläutere es! Wenn du aber bei dem Früheren bleibst, dann höre das darauf Folgende! KR.: Aber ich bleibe doch dabei und bin derselben Meinung! So sprich nur! SO.: So will ich also wiederum das darauf Folgende sagen, vielmehr will ich fragen: Muss man, was immer man jemandem verspricht, wenn es gerecht ist, tun oder darf man betrügen? KR.: Man muss es tun!

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Die Herausgeber versehen diesen und den folgenden Satz des Sokrates in der Regel mit einem Punkt. Mir scheinen beides Fragen zu sein, so suggestiv sie auch gestellt sein mögen.

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SO.: Von daher schau also! Indem wir uns von hier davonmachen, ohne die Stadt davon zu überzeugen, schädigen wir damit irgendwen, und dabei auch noch die, die man am wenigsten schädigen darf, oder nicht? Und bleiben wir damit bei dem, wovon wir übereinkamen, dass es gerecht ist, oder nicht? KR.: Ich vermag, Sokrates, nicht zu antworten auf das, was du fragst. Denn ich bin mir darüber nicht klar. SO.: Betrachte es auf folgende Weise! Wenn zu uns, die wir vorhätten, von hier davonzulaufen, oder wie immer man das bezeichnen muss, die Gesetze kämen und das Gemeinwesen der Stadt aufträte und sie fragten: „Sag mir, Sokrates, was hast du vor zu tun? Du gedenkst durch die Tat, zu der du dich anschickst, uns, die Gesetze, zu vernichten und die gesamte Stadt, soweit es an dir liegt, nicht wahr? Oder meinst du, jene Stadt könne noch bestehen und nicht vom Umsturz zerrüttet sein, in wel­ cher immer die gefällten Urteile keinerlei Kraft haben, sondern von Pri­ vatleuten außer Geltung gesetzt und vernichtet werden?“ Was sollen wir darauf sagen, Kriton, und auf anderes derartiges? Denn viel könnte jemand vorbringen, zumal ein mit der Verteidigung beauftragter Redner, zugunsten dieses Gesetzes, das zugrunde gerichtet wird, welches anord­ net, dass die getroffenen Urteile gültig sind. Vielleicht sollen wir ihnen entgegnen: „Die Stadt hat uns nämlich Unrecht getan und das Urteil nicht richtig gefällt!“? Sollen wir das sagen, oder was sonst? KR.: Das, beim Zeus, Sokrates! SO.: Was nun, wenn die Gesetze sagen: „Sokrates, war das auch Teil der Vereinbarung zwischen uns und dir, oder vielmehr sich an die Urteile zu halten, welche immer die Stadt fällt?“ Wären wir nun ver­ wundert über das, was sie sagten, so würden sie vielleicht sagen: „Oh Sokrates, wundere dich nicht über das Gesagte, sondern antworte, da du dich ja auch des Fragens und Antwortens zu bedienen pflegst. Also los, aufgrund welchen Vorwurfs gegen uns und die Stadt schickst du dich an, uns zu vernichten? Haben wir dich nicht zunächst einmal gezeugt, und durch uns nahm dein Vater deine Mutter und zeugte dich? Sag also, hast du an diesen von uns, an den Gesetzen über die Ehe etwas zu kriti­ sieren, dass sie sich nicht gut verhalten?“ „Nein“, würde ich sagen. „Aber an denen über das Großziehen, die Bildung und Erziehung des Geborenen, die auch dir zuteil geworden ist? Oder haben die Gesetze von uns, die für diesen Zweck eingerichtet sind, keine guten Anordnun­ gen gegeben, indem sie deinen Vater aufforderten, dich in den Musen­ künsten15 und in sportlichen Übungen auszubilden?“ „Doch!“, würde

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Der Begriff der μουσική (mousikē) ist kaum übersetzbar. Auch wenn unser Wort „Musik“

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ich sagen. „Gut! Da du aber geboren, großgezogen und gebildet und erzogen wurdest, könntest du da erstens behaupten, dass du nicht unser warst, sowohl unser Abkömmling als auch unser Knecht, du selbst und deine Vorfahren? Und wenn das so ist, glaubst du dann, du hättest glei­ ches Recht wie wir, und was immer wir uns anschicken, dir zu tun, glaubst du, davon sei es gerecht, dass auch du das im Gegenzug tust? Oder hattest du folglich zwar gegen deinen Vater nicht gleiches Recht und gegen einen Herrn, wenn du einen gehabt hättest, so dass du, was immer du erlitten hättest, auch im Gegenzug hättest tun dürfen, weder, 51a wenn du verunglimpft wurdest, im Gegenzug widersprechen, noch wenn du geschlagen wurdest, im Gegenzug schlagen, noch vieles andere derartige. Aber gegenüber deiner Vaterstadt und den Gesetzen soll es dir folglich erlaubt sein, so dass, wenn wir uns anschicken, dich zu vernich­ ten, in der Meinung, das sei gerecht, auch du dich anschicken willst, uns, die Gesetze, und deine Vaterstadt, soweit du es vermagst, im Gegenzug zu vernichten, und sagen willst, indem du dies tätest, tätest du Gerechtes, der du dich wahrlich um das ethisch Gute sorgst? Oder bist du so ‚weise‘, dass dir entgangen ist, dass die Vaterstadt wertvoller ist als Mutter und Vater und die übrigen Vorfahren zusammen und erhabe­ b ner und heiliger und in höherem Ansehen sowohl bei Göttern als auch bei Menschen, die Verstand haben, und dass man die Vaterstadt mehr respektieren und ihr mehr nachgeben und sie besänftigen muss, wenn sie zürnt, als den Vater, und sie entweder überzeugen oder tun, was immer sie anordnet, und erleiden, wenn sie etwas zu erleiden anordnet, indem man Ruhe hält, gleichviel ob man geschlagen oder inhaftiert wer­ den soll, und wenn sie einen in den Krieg führt, wo man verwundet wer­ den oder sterben wird, so ist das zu tun und so verhält sich das Gerechte, und man darf nicht nachgeben oder zurückweichen oder den Posten ver­ lassen, sondern sowohl im Krieg als auch im Gericht als auch überall c sonst muss man tun, was immer Stadt und Vaterstadt anordnen, oder sie überzeugen, welcher Natur das Gerechte ist. Nicht fromm ist es hinge­ gen, Mutter oder Vater gewaltsam zu zwingen, und noch viel weniger die Vaterstadt?“ Was sollen wir darauf entgegnen, Kriton? Dass die Gesetze die Wahrheit sagen, oder nicht? KR.: Meiner Meinung nach schon! SO.: „Schau nun aber, Sokrates,“ würden die Gesetze vielleicht sagen, davon kommt und das Wort im Griechischen auch genau diese Bedeutung haben kann, bezeichnet er häufig – und so auch hier – in Diskussionen, in denen es um Bildung und Erziehung geht, alle Lehrinhalte, für die eine der Musen zuständig ist. Deshalb wäre auch „musische Künste“ noch zu eng, weswegen der Kunstbegriff „Musenkünste“ gewählt wurde, weil es im Grunde kein deut­ sches Wort für den gemeinten Sachverhalt gibt.

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„ob wir darin die Wahrheit sagen, dass du im Begriff bist, uns nicht Gerechtes zu tun mit dem, was du jetzt vorhast zu tun. Denn wir, die wir dich gezeugt haben, großgezogen, gebildet und erzogen, die wir dir Anteil gegeben haben an allem Schönen, wo wir dazu imstande waren, dir und allen anderen Bürgern, erklären dennoch öffentlich, aufgrund der Tatsache, dass wir es jedem Athener, der will, gestattet haben, sobald er volljährig geworden ist und die politischen Angelegenheiten in der Stadt und uns, die Gesetze, sieht, dass es, wem immer wir nicht gefallen, gestattet sei, sein Eigentum zu nehmen und fortzugehen, wohin immer er will. Und keines von uns Gesetzen steht im Weg oder verbietet es, gleichviel ob einer von euch in eine Kolonie gehen will, wenn wir und die Stadt ihm nicht gefallen sollten, oder anderswohin gehen und sich dort ansiedeln möchte, so lassen wir ihn dorthin gehen, wohin immer er will, unter Mitnahme seines Eigentums. Wer immer von euch jedoch dableibt, sehend, auf welche Weise wir die Urteile fällen und ansonsten die Stadt verwalten, von dem sagen wir, dass er nunmehr durch sein Handeln uns sein Einverständnis erklärt habe, dass er das tun werde, wozu immer wir auffordern, und wir sagen, dass der, der nicht gehorcht, dreifach Unrecht begeht, weil er uns als seinen Erzeugern nicht gehorcht und weil als seinen Erziehern nicht und weil er, nachdem er uns sein Einverständnis gegeben hat, er werde gehorchen, weder gehorcht noch uns überzeugt,16 wenn wir etwas nicht gut tun, wo wir doch eine Alternative eröffnen und nicht aggressiv anordnen, zu tun, was immer wir befehlen, sondern ihm die Wahl zwischen zwei Möglich­ keiten lassen, entweder uns zu überzeugen oder es zu tun, er aber keines von beidem tut. Wir sagen also, dass auch für dich, Sokrates, diese Anklagepunkte einschlägig sein werden, wenn du wirklich tust, woran du jetzt denkst, und für dich nicht am wenigsten von den Athenern, son­ dern am meisten von allen.“ Wenn ich also sagte: „Ja und warum?“, würden sie mich wohl zu Recht attackieren mit dem Argument, dass ich nun einmal am meisten von allen Athenern ihnen diese Einverständnis­ erklärung erteilt habe. Denn sie würden sagen: „Oh Sokrates, wir haben gravierende Beweise dafür, dass sowohl wir als auch die Stadt dir gefal­ len haben. Denn niemals hättest du dich, verglichen mit allen anderen Athenern, außerordentlich viel hier in deiner Heimatstadt aufgehalten, wenn sie dir nicht außerordentlich gefallen hätte, und weder zum Besichtigen von Sehenswürdigkeiten bist du jemals aus der Stadt gegan­

16 51e7 ist im Deutschen nicht adäquat wiederzugeben. Das griechische Wort πείθειν (peíth­ ein) heißt im Aktiv „überzeugen, überreden“, im Medium/Passiv „gehorchen, folgen, sich über­ zeugen/überreden lassen“.

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gen, außer ein einziges Mal zum Isthmos, noch sonst irgendwohin, es sei denn im Rahmen eines Feldzugs, noch hast du jemals sonst eine Aus­ landsreise unternommen wie die anderen Menschen, und es hat dich auch kein Verlangen nach einer anderen Stadt oder anderen Gesetzen ergriffen, sie kennenzulernen, sondern wir und unsere Stadt waren dir genug. So sehr hast du uns vorgezogen und dein Einverständnis erteilt, nach unserer Vorgabe Bürger zu sein, insbesondere hast du auch Kinder in ihr gezeugt, was doch bedeutet, dass dir die Stadt gefallen hat. Sodann bestand auch noch bei dem Prozess selbst für dich die Möglichkeit, Exil als Strafe zu beantragen, wenn du gewollt hättest, und ebendas, was du jetzt gegen den Willen der Stadt vorhast, damals mit ihrem Willen zu tun. Du aber hast dich damals damit gebrüstet, es würde dir nichts aus­ machen, wenn du sterben müsstest, sondern du zogst, wie du behaupte­ test, dem Exil den Tod vor. Jetzt aber schämst du dich weder vor diesen Worten noch scherst du dich um uns, die Gesetze, indem du dich anschickst, uns zu vernichten, und handelst, wie der schlechteste Sklave handeln würde, indem du im Begriff bist, davonzulaufen wider die Ver­ einbarungen und Einverständniserklärungen, gemäß denen du eingewil­ ligt hast, bei uns Bürger zu sein. Zuerst also beantworte uns eben dies, ob wir die Wahrheit sagen, wenn wir behaupten, du hättest dein Einver­ ständnis erklärt, nach unseren Vorgaben Bürger zu sein, durch dein Han­ deln und nicht durch deine Worte, oder nicht die Wahrheit.“ Was wollen wir darauf sagen, Kriton? Sollen wir nicht zustimmen? KR.: Notwendig, Sokrates! SO.: „Dann verletzt du offensichtlich,“ würden sie wohl sagen, „die Vereinbarungen mit uns selbst und die Übereinkünfte, obwohl du nicht unter Zwang zugestimmt hast, noch getäuscht, noch gezwungen worden bist, in kurzer Zeit zu überlegen, sondern während siebzig Jahren, in denen du die Möglichkeit gehabt hättest, fortzugehen, wenn wir dir nicht gefallen hätten und du der Ansicht gewesen wärst, die Überein­ künfte seien nicht gerecht. Du aber hast weder Sparta vorgezogen noch Kreta, von denen du ja bei jeder Gelegenheit sagst, sie hätten gute Gesetze, noch sonst irgendeine der griechischen Städte noch auch der nicht-griechischen, sondern du bist weniger aus ihr fort im Ausland gewesen als die Lahmen, die Blinden und die sonstigen körperlich Behinderten. So außerordentlich hat dir verglichen mit den anderen Athenern die Stadt und doch offensichtlich auch wir, die Gesetze, gefal­ len. Denn wem würde wohl eine Stadt ohne ihre Gesetze gefallen? Jetzt aber willst du nicht bei dem bleiben, worüber wir übereingekommen sind? Doch, wenn du uns folgst, Sokrates! Und dann wirst du dich nicht lächerlich machen, indem du die Stadt verlässt. Denn schau doch, was du, wenn du diese Übertretung begehst und

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einen derartigen Fehler machst, dir selbst und deinen eigenen Angehöri­ gen und Freunden Gutes tust. Denn dass deine Angehörigen und Freunde Gefahr laufen werden, auch selbst exiliert und der Stadt beraubt zu werden oder ihr Vermögen zu verlieren, ist geradezu klar. Du selbst aber wirst erstens, wenn du in eine der nächstgelegenen Städte gehst, nach Theben oder Megara – denn beide haben ja gute Gesetze –, Sokra­ tes, als Feind ihres Staates dorthin kommen, und soweit sie sich Gedan­ ken machen um ihre eigene Stadt, werden sie dich argwöhnisch betrach­ ten, weil sie dich für einen Verderber der Gesetze halten, und du wirst die Richter in ihrer Meinung bestätigen, so dass sie meinen, das Urteil richtig gefällt zu haben. Denn wer ein Verderber der Gesetze ist, von dem meint man doch wohl, dass er ganz unbedingt ein Verderber junger und unverständiger Menschen ist. Willst du also die Städte mit guten Gesetzen und die besonnensten Menschen meiden? Und wenn du das tust, wird dir dann das Leben lebenswert sein? Oder willst du dich die­ sen nähern und ohne Scham im Gespräch Argumente vortragen – wel­ che Argumente, Sokrates? Etwa dieselben wie hier, dass das ethisch Gute und die Gerechtigkeit am meisten wert sind für die Menschen, und das dem Gesetz Gemäße und die Gesetze? Und glaubst du nicht, dass Sokrates’ Tun als hässlich erscheinen wird? Das ist doch wohl anzuneh­ men! Sondern du willst dich aus dieser Gegend fortmachen und nach Thessalien gelangen zu den Freunden Kritons? Denn dort sind ja Unord­ nung und Zügellosigkeit am größten, und vielleicht würden sie mit Lust von dir hören, auf wie lächerliche Weise du aus dem Gefängnis fortge­ laufen bist, in einer Verkleidung oder mit einem Kittel oder sonst etwas, womit sich Leute, die davonlaufen, zu verkleiden pflegen, und nachdem du dein Aussehen verändert hattest. Dass du aber als alter Mann, als nur noch wenig Lebenszeit übrig war nach aller Wahrscheinlichkeit, gewagt hast, so gierig das Leben zu begehren, und dabei die wichtigsten Gesetze verletzt hast, das wird keiner sagen? Vielleicht, wenn du keinen verärgerst. Wenn aber doch, wirst du viel deiner Unwürdiges zu hören bekommen, Sokrates. Indem du allen Menschen schmeichelst, wirst du also dein Leben verbringen, und als ihr Knecht – was tätest du dabei anderes, als es dir in Thessalien gutgehen zu lassen, als ob du zum Diner nach Thessalien gereist wärst? Und jene Argumente über die Gerechtig­ keit und das übrige ethisch Gute, wo werden die uns hingekommen sein? Dann willst du also um deiner Kinder willen leben, damit du sie großziehst, bildest und erziehst? Wie aber? Willst du sie nach Thessalien fortbringen und dort großziehen, bilden und erziehen und sie so zu Fremden machen, damit sie auch in diesen Genuss kommen? Oder das zwar nicht, aber wenn sie hier großgezogen werden, werden sie, wenn du am Leben bist, besser großgezogen, gebildet und erzogen werden,

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obwohl du nicht mit ihnen zusammen bist? Denn deine Angehörigen und Freunde werden sich um sie kümmern. Wenn du also nach Thessa­ lien fortreist, werden sie sich kümmern, wenn du hingegen in den Hades fortreist, werden sie sich nicht kümmern? Wenn denn die irgendetwas taugen, die behaupten, deine Angehörigen und Freunde zu sein; das ist doch wohl anzunehmen! Nein Sokrates, gehorche uns, deinen Erziehern, und setze weder deine Kinder noch das Leben noch sonst irgendetwas über das Gerechte, damit du, wenn du in den Hades kommst, dies alles zu deiner Verteidigung gegenüber den dortigen Herrschern vorzubrin­ gen hast! Denn es zeigt sich, dass es, wenn du das tust, weder hier für dich besser ist, und auch nicht gerechter oder frommer, und auch für kei­ nen anderen von den Deinen, noch wird es, wenn du dort angekommen bist, für dich besser sein. Sondern jetzt gehst du fort als jemand, dem Unrecht angetan worden ist, wenn du fortgehst, und zwar nicht von uns, den Gesetzen, sondern von Menschen. Wenn du dich hingegen auf so schändliche Weise davonmachst, indem du im Gegenzug Unrecht tust und im Gegenzug schädigst und dadurch deine eigenen Versprechen und die Vereinbarungen mit uns verletzt und denen Schlechtes antust, denen du es am wenigsten solltest, dir selbst, deinen Verwandten und Freun­ den, deiner Vaterstadt und uns, dann werden wir dir böse sein, solange du lebst, und dort werden unsere Brüder, die Gesetze im Hades, dich nicht wohlwollend empfangen, weil sie wissen, dass du versucht hast, auch uns zu vernichten, jedenfalls soweit es an dir lag. Nein, lass dich nicht eher von Kriton überzeugen zu tun, was er sagt, als dass du dich von uns überzeugen lässt!“ Das, mein lieber Freund Kriton, sei gewiss, meine ich wahrhaftig zu hören, so wie die korybantisch Verzückten die Flöten zu hören meinen, und in mir hallt dieses Echo dieser Worte dröhnend wieder und bewirkt, dass ich die anderen nicht zu hören vermag. Nein, sei gewiss, was das angeht, was jetzt meine Meinung ist, wenn du daran vorbei redest, wirst du vergebens reden. Trotzdem, wenn du glaubst, noch etwas ausrichten zu können, so sprich! KR.: Aber, Sokrates, ich weiß nichts zu sagen! SO.: Lass es also, Kriton, und wir wollen auf diese Weise handeln, da der Gott auf diese Weise leitet!

EINLEITUNG

Vorbemerkung Wer einen Kommentar verfasst, muss sich einen bestimmten Leser vor­ stellen. Der vorliegende Kommentar wendet sich an einen Leser, der möglicherweise sehr wenig Vorkenntnisse hat (über den Kriton, über Platon, über griechische oder speziell platonische Philosophie, ja über die antike Kultur und Geschichte insgesamt). Deshalb erklärt der Kom­ mentar so manches, das Kenner der Antike und ihrer Philosophie wis­ sen. Der Kommentar setzt auch nicht voraus, dass man irgendwelche Kenntnisse der altgriechischen Sprache besitzt. Er versucht aber, wo immer möglich die Dinge so darzulegen, dass auch jemand ohne Vor­ kenntnisse sich ein eigenes Urteil über den jeweiligen Sachverhalt bil­ den kann. Man könnte sagen, ein Kommentar für Menschen, die noch nicht viel über die Sache wissen, aber die es trotzdem gerne genau wis­ sen wollen. Weil der Kommentar sich aber nicht primär an die Fachleute richtet, ist zur Verbesserung der Lesbarkeit die Diskussion mit der For­ schung in die Fußnoten verlegt (was nicht heißen soll, dass dort für „normale Menschen“ nichts Interessantes steht).

I Die Datierung des Kriton Platons Kriton spielt im Jahr 399 v. Chr. Sokrates erwartet im Gefängnis seine Hinrichtung, die sich aufgrund kultischer Verpflichtungen Athens verzögert. Während das dramatische Datum also eindeutig ist, wissen wir im Grunde nichts über den Zeitpunkt der Abfassung des Dialogs. Das ist eine für altgriechische Texte durchaus nicht seltene Konstella­ tion, antike Nachrichten über die Abfassungszeit bestimmter Schriften sind selten, und Anhaltspunkte im Text selbst sind ebenfalls oft nicht vorhanden oder umstritten. Im Falle Platons bemüht sich die Forschung mindestens seit dem 19. Jahrhundert um Datierungen für seine Werke.17 17

Zur Problematik vgl. Platon betreffend Howland (1991), 200–203. Howlands Skepsis gegenüber Datierungsbemühungen, insbesondere auch solchen, die mit stilometrischen Argumen­ ten arbeiten, berührt sich in vielem mit der von mir hier vorgetragenen Position, ebenso wie die Ausführungen von Denyer (2001), 17 ff. Für einzelne Dialoge Platons lassen sich freilich – mit unterschiedlicher Sicherheit – schon gewisse Hinweise auf ein vermutliches Abfassungsdatum gewinnen, vgl. z. B. Heitsch (2008), doch das ergibt noch keine Chronologie, die man dann inter­ pretativ benützen könnte, um einen bestimmten Dialog wie den Kriton relativ zu anderen einzu­ ordnen oder Entwicklungen von Platons Denken zu beschreiben. Zudem hat sich auch bei den

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Dabei hat sich schon vor einigen Jahrzehnten aufgrund statistischer Auswertung bestimmter stilistischer Merkmale, was man als stilometri­ sche Untersuchungen bezeichnet,18 ein Konsens herausgebildet, dass Platons Schriften in drei Gruppen einzuteilen seien, die seitdem als die frühen, mittleren und späten Dialoge bezeichnet werden, über die rela­ tive Datierung innerhalb der Gruppen hingegen besteht keine Einigkeit. Der Kriton wird gewöhnlich unter die frühen Dialoge gerechnet. Der Verfasser des vorliegenden Kommentars gehört zu der Minderheit von Philologen, die von dieser kanonisch gewordenen Einteilung in drei Gruppen im Sinne von drei Phasen der schriftstellerischen Tätigkeit Pla­ tons aus allgemeinen methodischen Gründen nicht überzeugt sind. Es ist hier nicht der Ort, dies in extenso zu verhandeln, aber einige Argumente seien doch kurz vorgetragen. Zunächst besteht bei statistisch feststellbaren Häufigkeitsunterschie­ den immer das methodische Problem, dass mit statistischen Methoden nur der Unterschied ermittelt werden kann, nicht jedoch der Grund für den Unterschied. Untersucht man beispielsweise, wie konsequent Platon in verschiedenen seiner Schriften das Aufeinandertreffen von Vokalen, den sogenannten Hiat, vermeidet,19 dann erhält man für seine Schriften deutlich unterschiedliche Werte, die sich in zwei oder drei Gruppen, die jeweils eine ähnliche Größenordnung haben, zusammenfassen lassen. Das könnte ein Indiz für eine unterschiedliche Abfassungszeit sein, es könnte aber auch ganz andere Gründe haben.20 Etwas polemisch über­ spitzt könnte man sagen, die Stilometrie gleicht dem Versuch, das Bau­ jahr von Gebäuden durch die Untersuchung der Frage zu ermitteln, in welchem Prozentsatz sie welche Materialien enthalten.21 vielen Platoninterpreten, die an der Einteilung in frühe, mittlere und späte Dialoge festhalten, die Einsicht durchgesetzt, dass die heute allgemein zur „ersten Gruppe“ gerechneten Dialoge, darun­ ter der Kriton, nur schwer bis gar nicht datierbar sind, für den Kriton wird aber immer weniger angenommen, dass er ein besonders früher Dialog sei; vgl. dazu Heitsch (2014), 3. 18 Grundlegend hierzu noch immer Brandwood (1990) (seine Arbeiten zum Thema hatte Brandwood freilich schon mit seiner Londoner Dissertation von 1958 begonnen), der die Ergeb­ nisse der in diesem Felde aktiven Forscher seit dem 19. Jhdt. konzis zusammenfasst; s. ferner Nesselrath (2006), 59 ff.; eine grundsätzliche Gegenposition bei Howland (1991), dagegen Nes­ selrath (2006), 62 Anm. 51. 19 Genauer gesagt geht es um den sogenannten Hiat in der Wortfuge, also dann, wenn einem Wort, das auf Vokal endet, ein Wort folgt, das mit Vokal beginnt (einschließlich Anlaut mit „h“). 20 Dies alles sind Argumente, die Howland (1991) ausführlicher darlegt. Er wendet zudem ein, dass es sich bei den meist verwendeten Kriterien um stilistische Details handelt, die einer bewussten Kontrolle des Autors unterliegen könnten, was zusätzliche methodische Probleme auf­ wirft. Zudem treten auch innerhalb desselben Werks erhebliche Schwankungen der stilometri­ schen Werte auf, was die Interpretation der Daten erschwert. Vgl. ferner Denyer (2001), 17 ff. 21 Diese Analogie lässt sich sogar vertiefen, denn natürlich ist die Wahl von Baumaterialien in

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Wenn man Unterschiede in den statistisch ermittelten Daten zwischen verschiedenen Dialogen feststellt, bleibt zudem die Frage, wodurch die Annahme gesichert ist, dass es sich dabei um Veränderungen im Sinne linearer Entwicklungen oder zumindest zu unterschiedlichen Zeiten klar verschieden entwickelter Neigungen, Tendenzen oder Vorlieben bei einem Autor,22 in diesem Fall Platon, handelt, dass er also bestimmte Wortreihenfolgen (usw.)23 in einer bestimmten Phase seines Lebens liebt, in anderen nicht und dies der Grund für die unterschiedliche Häu­ figkeit ist. Aber nehmen wir an, es seien wenigstens grobe Datierungen im Sinne von zwei oder drei Gruppen für Platons Dialoge mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit feststellbar. Was wäre damit für die Interpretation, insbesondere die philosophische Interpretation eigentlich gewonnen? Die Antwort auf diese Frage hängt wiederum davon ab, ob man Ent­ wicklungshypothesen für die Deutung des Platonischen Werks zugrunde legt oder nicht, ob man also annimmt, Platons Denken habe sich im Laufe seines Lebens in einer bestimmten, für uns erkennbaren Weise entwickelt. Teile der Forschung nehmen dies an, in Verbindung mit der ungesicherten Chronologie bewegt man sich hier aber gefährlich dicht an einer petitio principii, an einem Zirkelschluss, bei dem man zuerst bestimmte Werke für früher als andere erklärt, dann (vermeintliche oder tatsächliche) Unterschiede zwischen in diesen Werken vertretenen phi­ losophischen Positionen als durch die unterschiedliche Abfassungszeit verursacht erklärt, und daraus wiederum ableitet, dass sich Platons Mei­ nung über die Frage entsprechend gewandelt und sein Denken sich also entwickelt habe. Es ist problematisch, Entwicklungen zu behaupten, wenn Datierungen so wenig gesichert sind, aber selbst wenn sie es wären, wäre damit immer noch nicht bewiesen, dass der Grund für den konstatierten Unterschied eine Entwicklung von Platons philosophi­

Teilen tatsächlich von der Zeit beeinflusst, in der ein Gebäude erstellt wird, aber es gibt eben immer auch andere Faktoren, so etwa den Gebäudezweck, die Gebäudegröße, die zur Verfügung stehenden Finanzen, Vorlieben des Architekten, des Auftraggebers oder der Bauleute, und darü­ ber hinaus auch Zufälle. 22 So auch Ledger (1989), 174 f. Brandwood (1990) hält umgekehrt die These für absurd, dass Platon Hiat, also das Aufeinandertreffen von Vokalen aufeinander, ohne für uns erkennbare Gründe in manchen Schriften konsequenter, in anderen weniger konsequent vermieden haben könnte und die entsprechende Statistik also nicht für Datierungszwecke nutzbar sei. „This is to attribute to an elderly philosopher the disposition of a young woman pleased with a new hat, who then tires of it and lays it aside, only to rediscover its charm after a brief passage of time“ (249 f.). 23 Wobei zu den „Wörtern“, um die es in der Argumentation konkret geht, vor allem auch die in der griechischen Sprache häufigen, den Sinn des Satzes „einfärbenden“ Partikeln gehören.

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scher Position ist. Diese Frage ist jedenfalls vom Datierungsproblem methodisch zu trennen.24 Für die Datierung des Kriton sei also festgehalten, dass die in diesem Kommentar dargelegten Forschungsergebnisse von der inhaltlichen Seite nichts für eine (relative) Datierung ergeben (zum Verhältnis zu anderen Schriften Platons vgl. den folgenden Abschnitt). Hinsichtlich der Frage von Gruppen von Dialogen wiederum schiene es sicherer, wenn wir rein dem Phänomen nach zwischen Dialogen Platons, die beim Leser nur wenig Vorkenntnisse in Platonischer Philosophie voraussetzen, solchen für Leser mit gewissen Vorkenntnissen und Dialo­ gen für Leser mit erheblichen Vorkenntnissen unterschieden.25 Wenn man in dieser Weise auf ungesicherte Annahmen über Entwicklungen in Platons Denken verzichtet, wird man sich in der Interpretation auf Pla­ tons jeweilige schriftstellerische und philosophische Absichten konzent­ rieren.26 Für den Kriton würde sich jedenfalls aus der in diesem Kom­ mentar vorgetragenen Interpretation ergeben, dass er eher mehr voraus­ setzt, als oft angenommen wird. Wenn „früh“ als Attribut eines Dialogs „voraussetzungsarm“, „für den Leser vergleichsweise wenig anspruchs­ voll“ heißen soll, dann wäre der Kriton eher zu den mittleren Dialogen zu rechnen. In unserer Überlieferung findet sich der Kriton in einer Tetralogie zusammen mit dem Euthyphron, der Apologie und dem Phaidon, einge­ reiht vor dem Phaidon . Der antike Biograph Diogenes Laertios teilt uns

24 Rapp (2006) analysiert die Geschichte der auf Entwicklungshypothesen aufbauenden Aris­ totelesinterpretation seit Werner Jaeger und weist auf verschiedene methodische Probleme (z. B. Interdependenz von Chronologie und Entwicklungshypothesen, 192 f.) hin, zudem macht er auf die methodische Gefahr aufmerksam, angebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Schriften vorschnell zu konstatieren und dann im Lichte einer Entwicklungstheorie zu deuten (193 ff.). Viele seiner Überlegungen sind wegen ihres allgemeinen methodischen Charakters mutatis mutandis auf die Platoninterpretation übertragbar und müssten auch hier eher zu einem zurück­ haltenden Umgang mit solchen Entwicklungsannahmen führen. 25 Auch darüber, wäre in der Forschung vermutlich keine Einmütigkeit zu erzielen, aber die Diskussion würde zu konkreten Interpretationsfragen führen. 26 Zu den methodischen Grundvoraussetzungen des Interpretierens Platonischer Dialoge und zur Geschichte der Platondeutung vgl. Radke-Uhlmann (2006), 1 ff. und 243 ff. Für eine ohne den Entwicklungsgedanken arbeitende Deutung von Platons Dialogen vgl. Kahn (1996). Kahn argu­ mentiert 38 ff. und 59 ff. für eine Gesamtinterpretation des Platonischen Werks, die ohne Entwick­ lungshypothesen auskommt, die chronologische Einteilung in drei Gruppen von Dialogen aus sti­ lometrischen Gründen aber trotzdem akzeptiert (44). Kahn geht davon aus – und dies teile ich, ohne im Einzelnen in allem mit ihm übereinzustimmen –, dass Platon alle seine Schriften aus einer einheitlichen philosophischen Position heraus verfasst hat und teils aus didaktischen Grün­ den, teils auch aus einer gewissen begründeten Vorsicht der zeitgenössischen Öffentlichkeit seine Auffassungen in wohlüberlegten Einzelschritten mitgeteilt hat (65 ff.).

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mit (3, 56–58), laut dem Philosophen Thrasyllos (gest. 36 n. Chr., Freund und Berater des Kaisers Tiberius) habe Platon seine Werke nach Art der Tragiker in Vierergruppen herausgegeben. Wir sind aber heute sehr skeptisch, dass die Einteilung in Tetralogien wirklich auf Platon selbst zurückgeht. Dies ist für die Interpretation des Kriton insofern von besonderem Belang, als die Zusammenordnung mit dem Euthyphron, der Apologie und dem Phaidon allem Anschein nach primär darauf beruht, dass ihr dramatisches Datum sich um den Prozess und die anschließende Inhaftierung und Hinrichtung des Sokrates gruppiert. Der Euthyphron spielt unmittelbar vor dem Prozess, die Apologie während des Gerichtsverfahrens, der Kriton in der Zeit der Inhaftierung und des Wartens auf die Hinrichtung und der Phaidon an Sokrates’ letztem Lebenstag. Hätte Platon selbst die vier Dialoge zusammen herausgege­ ben, dann wäre dies ein starker Hinweis darauf, dass eine Schilderung der Art und Weise, wie Sokrates zu Tode kam und wie er sich dabei ver­ hielt, zumindest ein zentraler Teil seiner Autorenintention war. Die ganze Geschichte von Platon, der seine Werke in Tetralogien herausgibt, weil die Tragödiendichter das auch so tun, scheint aber aus antiken Nachrichten herausgesponnen, dass Platon in seiner Jugend Tragödien verfasst habe, die er später verbrannt habe (Diogenes Laertios 3, 5 unter Verweis auf ältere Quellen). Wenn also die gemeinsame Eingruppierung der vier Dialoge, die in der Zeit des Gerichtsprozesses gegen Sokrates und seines Gefängnisaufenthaltes spielen, in eine Tetralogie nicht sicher von Platon stammt, kann das nicht als Argument dafür verwendet wer­ den, dass es Platon hier primär oder doch wenigstens zentral um eine historisch akkurate Darstellung des Sokrates und der Begebenheiten, die zu seinem Tode führten, gegangen ist. Natürlich ist der Platonische So­ krates, so wie wir ihn im Kriton erleben, beeindruckend in seinem kon­ sequenten Festhalten an dem, was er als gut und richtig erkennt. Er erweist sich dabei als zugleich besonnen, tapfer, weise und gerecht.27 Das ist aber nicht das Darstellungsziel des Dialogs, denn eine solche Deutung würde das, was in ausführlicher und differenzierter Argumen­ tation diskutiert wird, nämlich ob Sokrates sich jetzt seiner Verurteilung entziehen darf, zum Nebenthema degradieren, genauer, das eigentliche Thema des Dialogs würde so zu einem bloßen Mittel, um die Tugend­ haftigkeit des Sokrates zu demonstrieren. Man kann folglich auch nicht restlos sicher sein, dass die im Kriton erzählte Begebenheit historisch ist. Es darf als wahrscheinlich gelten, dass es einen Versuch gegeben hat, Sokrates zur Flucht aus dem Gefäng­

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Im Sinne der vier Tugenden, die der Philosoph in sich vereint, gemäß Politeia Buch 4.

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nis zu überreden, aber ob und wie der historische Kriton, ein alter Freund des Sokrates, daran beteiligt war, wissen wir nicht genau.28 Die Platonische Dialogfigur Kriton freilich unternimmt einen solchen Ver­ such, vermag aber die Platonische Dialogfigur Sokrates nicht zu über­ zeugen. Wenn also im Folgenden von „Kriton“ und „Sokrates“ die Rede ist, sind damit in der Regel ebenjene Dialogfiguren gemeint, und nicht die historischen Personen, über die wir gerne mehr und Genaueres wüss­ ten. Hinsichtlich des Verhältnisses des Kriton zu anderen Schriften Platons ist hervorzuheben, dass die Argumentation des Sokrates implizit eine differenzierte Staatstheorie von der Art, wie sie uns in Platons Politeia („Staat“) oder Politikos („Staatsmann“) begegnet, voraussetzt, wie ich an verschiedenen Stellen des Kommentars plausibel zu machen versu­ che, eine Staatstheorie, die zudem in exakt der in der (gewöhnlich zur mittleren Gruppe der Dialoge gerechneten) Politeia vorgetragenen Form auf einer bestimmten Seelentheorie beruht, gemäß der Gerechtigkeit nichts anderes ist als eine naturgemäße innere Ordnung der Seele und Ungerechtigkeit eine mehr oder weniger ausgeprägte Störung dieser Ordnung29. Ferner liegt der Widerlegung von Kritons Argumentation und der Zurückweisung seines Anliegens die gleiche methodische Auf­ fassung davon zugrunde, wie man Sachverhalte erkennt und Beweise führt, die in anderen, gemeinhin nicht als „früh“ angesehenen Schriften Platons explizit dargelegt wird.30 Der Kriton ist zudem keineswegs „aporetisch“, sondern er hat im Gegenteil ein definitives Gesprächser­ gebnis, allerdings sind die Verhältnisse in mehrfacher Hinsicht anders, man könnte fast sagen umgekehrt, als in anderen Dialogen Platons. 28

Xenophon, Apologie 23, berichtet ebenfalls von einem solchen Versuch, ohne einen Urhe­ ber zu nennen. Diogenes Laertios (3, 36) zitiert einen gewissen Idomeneus, der behauptet, ein Mann namens Aischines habe getan, was Platon dem Kriton zuschreibe. Zwischen Platon und diesem Aischines habe eine Rivalität bestanden, aufgrund deren Platon Kriton als Urheber des fraglichen Tuns fingiert habe. 29 Vgl. dazu Bernard (1998) und unten den Kommentar zu 47d4. 30 Analoges hat die Forschung in den letzten Jahren auch für andere Dialoge, die gemeinhin gerne als „Frühdialoge“ bezeichnet werden, nachweisen können, für die Apologie vgl. Heitsch (2002), 177 ff. Wenn man nicht nur darauf schaut, was Sokrates in einem Dialog explizit sagt, sondern zu ergründen versucht, was Sokrates eigentlich denken oder wissen muss, um das Gespräch so zu führen, wie er es führt, kann man selbst bei den sogenannten aporetischen Dialo­ gen, in denen seine Gesprächspartner aufgeben, bevor eine adäquate Antwort auf das gestellte Problem gefunden worden zu sein scheint, nicht mit Grund davon ausgehen, dass sie von einem Autor stammen, der selbst noch über keine rechte Antwort verfügt. Um aus der vermeintlich noch undifferenzierten Position ein Datierungsargument zu gewinnen, muss man darüber hinaus die Zusatzannahme machen, dass Platon während der Zeitspanne der Abfassung und Veröffentli­ chung seiner Schriften eine entsprechende Entwicklung durchlaufen habe.

II Das Thema des Kriton

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Denn zumindest am Anfang ist es hier Kriton, der Sokrates von etwas überzeugen will, und da Kriton kein theoretischer Philosoph ist, sondern ein im irdischen Leben stehender Freund des Sokrates, ist sein Anliegen ein ganz konkretes. Sokrates soll mit seiner Hilfe aus dem Gefängnis fliehen. Allerdings ahnt Kriton, dass Sokrates nicht leicht für so einen Plan zu gewinnen sein wird, und er weiß, dass Sokrates nur mit Argu­ menten für etwas gewonnen werden kann. Sokrates stellt dann aber die Diskussion sofort auf eine weitaus allgemeinere philosophische Grund­ lage, der Bezug zum konkreten Anliegen bleibt dabei freilich immer erhalten. Jedenfalls bleibt im Blick auf entwicklungsgeschichtliche Hypothesen bemerkenswert, dass der Autor des Kriton die in der Politeia dargeleg­ ten methodischen und sachlichen Auffassungen darüber, was Gerechtig­ keit im Individuum und im Staat ist und bewirkt, teilt und diese für die Argumentation, die zur Zurückweisung von Kritons Fluchtplan führt, teils explizit, teils implizit als Voraussetzungen verwendet, so dass der Kriton nicht als „Frühdialog“ gelten kann, wenn damit gemeint ist, dass er Zeugnis einer noch nicht entwickelten philosophischen Position sei.

II Das Thema des Kriton Da Platon aufgrund seines außergewöhnlichen dramatischen Talents seine Dialoge so schreibt, dass sich der Inhalt des Besprochenen schein­ bar ganz natürlich, wie es in Gesprächen zu geschehen pflegt, im Laufe des Dialogs weiterentwickelt und verschiebt, und da die Dialoge nicht wie ein Traktat vom Autor selbst mit Zwischentiteln systematisch struk­ turiert worden sind, besteht in der Forschung bei vielen Dialogen nicht einmal wirklich Konsens, welches Thema sie eigentlich behandeln, obwohl das die Grundfrage der Interpretation ist, von der für die Deu­ tung des Einzelnen wie für die Gliederung vieles abhängt. Der hier vorgelegte Kommentar kommt zu dem Ergebnis, dass das eigentliche Thema des Kriton die Frage ist, was die These, dass man nur durch konsequent gelebte Gerechtigkeit zu einem guten Leben kommt, methodisch und sachlich für das Handeln im menschlichen Leben bedeutet.31 Expliziert wird das am Beispiel einer existentiellen Entschei­ 31

Stokes (2005) ist ebenfalls bestrebt, durch seine Interpretation die kompositorische Einheit des Kriton herauszuarbeiten. Er hebt dabei zutreffend hervor, dass die Besonderheit dieses Dia­ logs ist, dass es wirklich um eine partikuläre Frage geht, darum, was Sokrates jetzt, in dieser bestimmten Situation tun soll. Ich würde seiner Schlusszusammenfassung (199 f.) insoweit zustimmen, dass die Bedeutung der Gerechtigkeit für eine solche Entscheidung im Kriton hervor­

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dung, die Sokrates im Angesicht seiner nahenden Hinrichtung zu treffen hat. Platon scheint dabei methodisch vor allem darauf hinweisen zu wol­ len, dass man im Blick auf das Handeln dazu neigt, sich zunächst auf­ grund von etwas, das einem aus emotionalen Gründen wichtig ist (im Falle Kritons hier, dass sein zu Unrecht verurteilter Freund Sokrates weiterlebt), für ein Handlungsziel zu entscheiden (hier: Sokrates muss gerettet werden, es muss ihm also die Flucht aus dem Gefängnis ermög­ licht werden, wozu er wiederum dazu überredet werden muss, bei die­ sem Plan mitzumachen), und dann im zweiten Schritt rationale Argu­ mente zu suchen, mit denen man vor sich selbst und anderen begründen kann, warum das verfolgte Ziel richtig ist. Platon lässt Kriton hier genau so vorgehen und auf entschiedenen Widerstand des Sokrates treffen, der darauf besteht, dass die meiste Denkkraft darauf zu verwenden ist, erst einmal zu erkennen, welche allgemeinen Einsichten für die aktuell zu treffende Entscheidung relevant und damit in Anschlag zu bringen sind, und dann im zweiten Schritt die anstehende Entscheidung an diesen all­ gemeinen Erkenntnissen als Maßstab und Kriterium zu prüfen und zu messen ist. Der Sache nach geht es dabei primär um die Frage, welche Implikatio­ nen es hat, dass ein gutes Leben nur unter konsequenter Beachtung des Gerechten möglich ist. Dabei arbeitet Sokrates im Kriton heraus, dass ein gerechter Mensch niemandem schadet, auch nicht denen, die ihm selbst schaden oder geschadet haben, gleich, ob dies Einzelpersonen sind oder ein ganzes Staatswesen. Da er zu zeigen vermag, dass es den Rechtsstaat und damit die Basis des Zusammenlebens in der Gemein­ schaft untergräbt, wenn Einzelne nach Gutdünken Gerichtsurteile beachten oder nicht beachten, ergibt sich, dass Sokrates nicht auf Kri­ tons Fluchtplan eingehen könnte, ohne dabei ungerecht zu handeln. Denn Sokrates würde sich selbst und allen Athenern schaden, wenn er

gehoben ist, aber in der Zuspitzung, die Stokes dem Thema gibt, scheint mir das Richtige doch nicht getroffen, denn er meint, man erkenne in dem Dialog, dass es hier darum gehe, dass Kriton erkennen müsse, dass im vorliegenden Fall nur „the hero’s choice, that of death over the betrayal of ideals“ (200) gewählt werden könne. Der Gedanke eines Verrats von Idealen ist dem modernen Idealismus zuzurechnen, und es entspricht ihm nichts im Kriton . Vielmehr ist Sokrates erstens überzeugt, dass seine Flucht reale Schädigungen und Schäden hervorrufen würde, und zweitens geht es nicht um das Festhalten an Idealen, sondern um das Festhalten an dem, was man als rich­ tig erkannt hat. Auch die Konsequenz, die Stokes (200) aus seiner Kriton-Lektüre zieht, dass nämlich, da hier gezeigt werde, dass man die Gerechtigkeit sogar über den Tod stellen müsse, mithin die Gerechtigkeit auch allem anderen vorgezogen werden müsse, ist angesichts der Argu­ mentation des Sokrates sowohl hier wie in anderen Dialogen nicht haltbar. Denn Sokrates insis­ tiert, dass ein Philosoph erkennen muss, dass der Tod nicht das größte Übel ist, sondern dass jede Form moralischer Schlechtigkeit, nicht nur die Ungerechtigkeit, ein größeres Übel ist.

II Das Thema des Kriton

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aus dem Gefängnis flöhe und sich so der Vollstreckung des Urteils ent­ zöge. Den Athenern würde er schaden, weil er, der für sich in Anspruch nimmt, immer gerecht zu handeln, demonstrieren würde, dass man Ent­ scheidungen der Gemeinschaft nur beachtet, soweit einem das keine Nachteile einbringt, während man sie missachtete, wenn man dadurch für sich Vorteile gewinnen kann; sich selbst würde Sokrates schaden, weil er durch das ungerechte Handeln seine eigene Seele in Unordnung brächte und zudem in schlechte Gesellschaft geriete (er müsste ja aus Athen fort zu Leuten fliehen, die sein Verhalten und die dahinter ste­ hende Haltung für richtig halten, vgl. 53c/d). Der Kriton ist hingegen nicht eine generelle Diskussion der Frage, ob es ein politisches Widerstandsrecht oder ähnliches gibt. Denn Sokrates ist nicht in einer totalitären Diktatur in einem Schauprozess zum Tode verurteilt worden, sondern im demokratischen Athen, wenngleich des­ sen Gerichtswesen samt den zugehörigen Gesetzen und Verfahrensvor­ schriften große Mängel hatte, die ein solches Fehlurteil wie das gegen Sokrates begünstigten. Vielmehr geht es im Kriton konkret um die Frage, ob man als Bürger eines Staatswesens, das trotz vorhandener Mängel als zumindest grundsätzlich akzeptabel im Sinne einer Rechts­ staatlichkeit gelten kann und dessen Vorzüge man über lange Zeiträume genießt, immer dann, wenn das Ergebnis staatlichen Handelns einem falsch erscheint, durch eigenes Handeln die Wirksamkeit der Gesetze und Verordnungen unterlaufen darf (oder womöglich sogar soll). Für die Bewertung der Problemlage tritt komplizierend hinzu, dass es im vorlie­ genden Fall um einen dem Handelnden selbst drohenden Nachteil geht, nicht um einen Nachteil für Dritte, was eher zu Zurückhaltung mahnen könnte, dass aber andererseits dieser Nachteil, die bevorstehende Hin­ richtung, einen großen und irreversiblen Schaden erzeugt, was solche Zurückhaltung nicht leicht macht. Dass die im Kriton vertretene Position generell auf eine positivisti­ sche Befolgung formaler Rechtsregeln und blinde Unterwürfigkeit unter „den Staat“ hinauslaufe, ist schon wegen des spezifischen Charakters des diskutierten Themas eine kaum zulässige Verallgemeinerung. Es liegt darin aber auch eine generelle Verkennung der Grundanliegen der Platonischen ethischen und politischen Philosophie. Platon wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass im irdischen Leben Ein­ zelsituationen komplex und nur begrenzt vorhersehbar sind und man darum im Handeln schwierige Abwägungen vornehmen muss, und so steht eben Sokrates im Kriton nicht vor der Frage, ob er, verurteilt von den Schergen eines totalitären Systems, trotzdem tapfer und gleichmütig in den Tod gehen oder sich retten und an die Spitze einer Widerstands­ bewegung treten soll, sondern wie er damit umgehen soll, dass er im

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Rahmen eines grundsätzlich rechtsstaatlichen Verfahrens als Bürger eines demokratischen Staates aufgrund eines Fehlurteils rechtskräftig zum Tode verurteilt worden ist (vgl. 54b8 f., wo die Gesetze zu Sokrates sagen: „Sondern jetzt gehst du fort als jemand, dem Unrecht angetan worden ist, wenn du fortgehst, und zwar nicht von uns, den Gesetzen, sondern von Menschen“; auch in der Apologie hofft Sokrates, nach sei­ nem Tod auf Palamedes, Aias und andere zu treffen, „die durch ein ungerechtes Urteil umgekommen“ [41b3] sind).

III Bezüge zu anderen Dialogen 1) Das Verhältnis von Individuum und Staat gemäß dem Kriton Sokrates argumentiert gegenüber Kriton sehr deutlich mit einem Vor­ rang der Allgemeinheit, der Gemeinschaft, vor dem Einzelbürger. Dies kommt zum Ausdruck in der Rede der Athenischen Gesetze (50a8 ff.). Diese greifen ja Sokrates scharf an, mit dem Argument, er sei nur mit ihrem Schutz aufgewachsen und habe unter diesem Schutz gelebt, er habe sich niemals über sie beklagt, zudem habe er die konstitutionelle Möglichkeit gehabt, Kritik an ihnen zu äußern und zu versuchen, sie zu ändern. Jetzt, wo es zum ersten Mal in seinem Leben zu einem Ergebnis gekommen sei, das ihm nicht genehm sei, wolle er sie vernichten. Nun ist aber klar, dass in dieser fingierten scharfen Rede der Gesetze die Gesetze das sagen, was der Platonische Sokrates denkt, während der von den Gesetzen so hart angegriffene Sokrates das vertritt, was in Wahrheit Kriton vorgeschlagen hat.32 Und was der Platonische Sokrates hier teils implizit, teils explizit vorträgt, entspricht sehr stark dem, was auch in Platons Politeia die Basis weiter Teile der Argumentation des Sokrates bildet, nämlich die Überzeugung, dass sich menschliche Indi­ viduen nicht erst sekundär aufgrund eines Vertrages, dem man beitreten kann oder nicht, zu einer Gemeinschaft zusammenschließen (vgl. ins­ bes. Politeia Buch 2, 369b ff.), sondern dass man ohne die beständige Hilfe einer menschlichen Gemeinschaft im Grunde nicht einmal phy­ 32 Dass die Rede der Gesetze Sokrates’ eigene Meinung wiedergibt, ist mit gutem Grund die Meinung der meisten Interpreten des Kriton . Dagegen wird von einer Minderheit, zuletzt etwa von Weiss (1998), die These vertreten, das in der Rede der Gesetze Gesagte entspreche nicht So­ krates’ Meinung und stehe im Widerspruch zu dem von ihm vorher Gesagten. Das hätte erhebliche Folgen für die Gesamtinterpretation und für das Verständnis der Einheit und Argumentations­ struktur des Kriton; der vorliegende Kommentar versucht deutlich zu machen, dass die Forschung diese These zu Recht zurückgewiesen hat.

III Bezüge zu anderen Dialogen

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sisch überleben, auf keinen Fall aber seine menschliche Individualität in der für einen Menschen angemessenen Form entwickeln kann.33 Auf einen Athener wie Sokrates bezogen heißt das just das, was die Gesetze im Kriton 50d ff. eben auch zu Sokrates sagen, dass nur durch sie Sokrates’ Eltern heiraten und einen Sohn zeugen konnten, nur durch sie Sokrates die Erziehung und Ausbildung erhalten hat, die er erhalten hat, usw. Daraus folgt keine blinde Unterwürfigkeit gegenüber den jeweils bestehenden Gesetzen, aber es ergibt sich, dass man als Indivi­ duum, wenn man gerecht sein und weder sich noch anderen schaden will, sehr sorgfältig überlegen muss, bevor man ein Gesetz übertritt, besonders wenn man es zu eigenen Gunsten tut, wie es Sokrates im vor­ liegenden Fall täte, wenn er durch Bestechung aus dem Gefängnis ent­ käme. Eine ähnliche Haltung, also große Vorsicht und Zurückhaltung beim Umgang mit Fehlentwicklungen im eigenen Staatswesen wird auch am Ende des 7. Briefs von Platon deutlich angeraten (331c6–d5). Der Kriton arbeitet aber noch in viel grundlegenderer Weise mit den­ selben Auffassungen von Individuum und Gemeinschaft, wie sie in der Politeia dargelegt sind. Kennzeichnend für letztere ist eine weitrei­ chende Analogie zwischen der inneren Struktur der Seele eines einzelnen Menschen und der Struktur eines Staates, sowohl der beste Staat als auch alle seine Verfallsformen werden anhand einer solchen Analogie analy­ siert und beschrieben.34 Die Forschung hat bisher kaum herausgearbeitet, dass auch im Kriton implizit mit dieser Analogie und dem damit eben­ falls verbundenen Gedanken operiert wird, dass man manchmal „im Großen“, also im Staat, das Gerechte leichter erkennen kann als „im Kleinen“, also beim einzelnen Bürger oder Individuum, wobei Gerech­ tigkeit gerade als die optimale innere Struktur von Einzelseele und Staat aufgefasst wird. In der Politeia geht es allgemein um Gerechtigkeit, im Kriton geht es darum, ob Sokrates mit Kritons Hilfe aus dem Gefängnis fliehen soll, und Sokrates insistiert gegenüber Kriton methodisch und sachlich darauf, dass geprüft werden muss, ob eine solche Flucht ein Unrecht wäre, das andere schädigt, oder nicht (48b11–c1). Und kurz davor hat Sokrates für sich als zentrale Voraussetzung seines Denkens und Handelns reklamiert, dass er immer dem besten Logos folgt (46b), dem, was man denkend bei ruhiger Betrachtung als das Richtige erken­ nen kann. Das heißt aber nichts anderes, als dass Platon hier im Kriton vorführt, wie ein im Sinne der Terminologie der Politeia aristokratischer

33 Zu der Platons Staatstheorie zugrunde liegenden Auffassung von Individualität vgl. Schmitt (2003), 381 ff. 34 Vgl. dazu Bernard (1998), 27 ff.

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Mensch, also ein Mensch, der konsequent vom Denken geleitet ist, in einer schwierigen Situation Entscheidungen trifft. Und wie in der Poli­ teia die Verhältnisse im Staat betrachtet werden, weil man dort das Rich­ tige leichter erkennt als beim Individuum (368c ff.), so verwendet Sokra­ tes hier im Kriton die Rede der Gesetze (50a ff.), um für Kriton und den Leser durch das Herstellen der großen Zusammenhänge und das Einord­ nen des individuellen Tuns in einen größeren Zusammenhang35 das Richtige leichter erkennbar zu machen.

2) Die implizit im Kriton von Sokrates verwendete Methode der Argumentation oder Beweisführung Man hat in diesem Dialog eine andere Situation als in anderen Werken Platons. Normalerweise will Sokrates (oder allgemein der das Gespräch Führende, der die Fragen stellt) seine Gesprächspartner zu bestimmten Erkenntnissen bringen, indem er sie selbst zu diesen gelangen lässt, was man als dialektische Methode bezeichnet. Dabei wird immer von dem ausgegangen, was der Befragte für richtig hält, und so lange gefolgert, bis man entweder zum richtigen Ergebnis gelangt (weil die gemeinsam gewählten Prämissen richtig waren) oder zu etwas, das der Befragte selbst als nicht richtig erkennt, so dass er danach bereit ist, seine teil­ weise falschen Voraussetzungen zu korrigieren. Bei solchen Gesprächen kommen daher unterwegs durchaus auch nur teilweise richtige oder sogar weitgehend falsche Argumente vor, und dies wird nicht immer richtiggestellt. Im Kriton geht es aber nicht nur um Erkenntnisgewinn, sondern hier muss eine Entscheidung über ein einzelnes Handeln von großer Tragweite getroffen werden, so dass hier über dialektische Argu­ mentation hinaus echte Beweisführung gefordert ist, bei der ein dialek­ tisches Verfahren allein nicht mehr ausreicht. Sokrates möchte zwar auch hier, dass Kriton ihm zustimmt, und er stellt sich in seiner Argu­ mentation auch teilweise auf ihn ein, aber letztlich müsste er das, was er als richtig erkennt, auch tun, wenn Kriton bei seiner eingangs geäußer­ ten Meinung bliebe. Daher hat die Argumentation des Sokrates hier an vielen Stellen durchaus die Stringenz einer Beweisführung (natürlich nur, insoweit sich die Richtigkeit von Einzelnem überhaupt beweisen lässt). 35

Die Gesetze verweisen dabei einerseits auf die Wirkung, die eine Flucht des Sokrates auf das athenische Staatswesen hätte, insofern die Gültigkeit der Gesetze unterlaufen und damit die Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit unterminiert wäre (50a/b), zum anderen verweisen sie 54c auf negative Wirkungen für Sokrates über den Tod hinaus (was zusätzlich noch eine Parallele zur Funktion des Er-Mythos im 10. Buch der Politeia bietet).

III Bezüge zu anderen Dialogen

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Kriton hingegen geht bei seiner Argumentation am Anfang im landläufi­ gen Sinn rhetorisch vor, er sucht nach allen Argumenten, die für eine Flucht des Sokrates sprechen, und versucht zugleich alle für ihn vorher­ sehbaren Einwände zu entkräften. Er argumentiert mit dem Unrecht der Gerichtsentscheidung, er weist Sokrates darauf hin, wie viel Gutes er seinen Freunden noch tun kann, wenn er weiterlebt, er appelliert an seine Verantwortung als Vater, der doch seine Kinder nicht vor der Zeit zu schutzlosen Waisen machen will, umgekehrt spielt er die Nachteile des Unternehmens, die Kosten und Risiken, die Sokrates und allen beteiligten Freunden drohen würden, herunter und malt Sokrates in schönen Farben ein Leben im Exil aus. Das alles ist ein rhetorisch gut gemachter Appell mit schön als Steigerung aufgebauten Argumenten. Aber Kriton erreicht damit nichts bei Sokrates, und dessen Widerlegung beschränkt sich nicht auf das Inhaltliche, sondern sie fußt auf methodi­ schen Argumenten; dies ist auch ein wesentlicher Grund, warum Kriton am Ende nicht mehr gegenhalten kann. Das hier Gesagte ist aus mehre­ ren Gründen bedeutsam, einmal, weil die verwendete Argumentationsund Beweismethode36 dem entspricht, was in vielen anderen, gemeinhin nicht als früh geltenden Dialogen Platons (z. B. Politeia, Phaidon) dar­ gelegt oder zumindest ebenfalls als Methode eingesetzt ist, zum ande­ ren, weil man ohne Beachtung dieses Unterschieds den Sinn des von Sokrates im Kriton Gesagten und die dahinter stehende Haltung leicht missversteht. So könnte man etwa meinen, aus Sokrates’ Äußerungen spreche eine Haltung im Sinne eines „Meine Kinder werden schon alleine groß“, Sokrates spiele dieses Argument generell herunter oder sei zumindest persönlich am Großziehen seiner Kinder nicht sonderlich interessiert. In Wahrheit ist es aber, wie im Kommentar zur Stelle (45d1) zu zeigen sein wird, so, dass Sokrates lediglich argumentiert, dass man zuerst fragen muss, ob ein Handeln unter Gerechtigkeitsaspek­ ten als gut angesehen werden kann und ob jemand durch dieses Handeln geschädigt werden könnte, und dass man erst danach die Frage stellen kann, ob vielleicht besondere Einzelumstände trotzdem ein normaler­ weise zu vermeidendes Handeln rechtfertigen. Kriton hat Sokrates’ 36 Ein folgenreiches Missverständnis scheint mir hinsichtlich der Sokratischen Methode auch bei Stokes (2005), 12, vorzuliegen, der die These vertritt, Sokrates stelle Fragen, um nicht für die Antwort verantwortlich zu sein. Es geht aber bei der Platonischen Dialektik darum, dass Fragen­ der und Antwort Gebender sich gemeinsam erkennend bewegen. Diese Bewegung muss geleitet werden von dem, der etwas weiß, sie muss aber von seiner Seite in Frageform angestoßen wer­ den, damit der (noch) nicht Wissende in eigenem Nachdenken und Suchen auf die richtige Ant­ wort stößt, weil man nur selbst erkennend Erarbeitetes wirklich versteht und behält.

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Söhne aber ins Spiel gebracht, ohne die Frage, was im vorliegenden Fall gerecht ist, zuerst zu klären, er hat die Fürsorge für die Söhne also funk­ tional nicht an der richtigen Stelle argumentativ eingesetzt. Sokrates sagt nicht, dass seinen Söhnen durch seinen Tod keine Nachteile drohen oder dass ihm das als Vater gleichgültig ist oder gar sein darf, er sagt, dass diese Nachteile nicht so gravierend sind, dass sie es rechtfertigen würden, die Nachteile in Kauf zu nehmen, die dadurch entstünden, dass Sokrates sich in öffentlich sichtbarer Form widerrechtlich dem Zugriff der athenischen Gesetze entzöge (wobei noch hinzukommt, dass dies auch auf Sokrates’ eigene Söhne eine Wirkung haben könnte, die er nicht wollen kann). Es entspricht ganz der Platonischen Auffassung von der Gemischtheit der irdischen Welt aus Zufall, Entscheidung und Unabänderlichem, wie sie etwa in Politeia und Timaios dargelegt ist, wie Sokrates hier im Kri­ ton an die zu treffende Entscheidung herangeht. Er sucht zunächst nach dem Allgemeinen, dem die jetzige Situation und die von Kriton an ihn herangetragene Entscheidung am meisten entspricht, beziehungsweise die Gesichtspunkte, nach denen hier vorrangig entschieden werden muss. Danach ist er aber sehr wohl bereit, auch kontingente Faktoren zu diskutieren, weil eine einzelne Lebenssituation eben nicht auf ein einzi­ ges Allgemeines bezogen werden kann, sondern nach Platon differen­ ziert geprüft werden muss. Es könnte ja sein, dass Kriton recht hat und im vorliegenden Fall ein Unrecht begangen werden sollte, um noch grö­ ßeres Unrecht oder noch größeren Schaden zu verhindern. Sokrates legt also zuerst dar, warum es ein Unrecht für ihn wäre, jetzt davonzulaufen, (gipfelnd in der Rede der Gesetze ab 50a), und dann (ab 53a8 ff.) führt er aus, dass auch keine außerhalb dieses Gedankens liegenden Aspekte dies relativieren. Und damit zieht er nicht nur rhetorisch, sondern auch im Sinne einer (soweit im Bereich des Handelns überhaupt möglich) beweisenden Argumentation sozusagen die Schlinge zu, und darum kann Kriton am Ende nichts mehr erwidern. Zugleich ist die implizite Basis von Sokrates’ Argumentation im Kri­ ton wiederum nichts, was für eine frühe Datierung sprechen würde. Der Autor des Kriton verfügt über eine hochdifferenzierte Auffassung dazu, wie man ethische Einzelfragen theoretisch fundiert, differenziert ent­ scheidet, und die dabei zu Tage tretende Auffassung vom Verhältnis zwischen Einzelnem und Allgemeinem ist exakt die, die uns in vielen Dialogen Platons begegnet, die solche Fragen sehr viel expliziter oder auf theoretischer Stufe behandeln.37

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Insbesondere sind die Voraussetzungen des Prinzips, dass man sich immer nach der Kraft

IV Das athenische Rechtssystem

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IV Das athenische Rechtssystem Einige Besonderheiten des attischen Rechtssystems sind für das Ver­ ständnis des Kriton besonders bedeutsam.

1) Wieso sitzt Sokrates im Gefängnis und wann hätte er legal entkommen können? Vor einem athenischen Gerichtsverfahren sind Angeklagte normaler­ weise auf freiem Fuß, nur Ausländer werden häufig festgesetzt. Sokrates wird nach seiner Verurteilung zum Tode ins Gefängnis geworfen, um hingerichtet zu werden. Dies würde normalerweise umgehend gesche­ hen (da es keinerlei Berufungs- oder Revisionsmöglichkeiten, ja über­ haupt keine zweite Instanz in attischen Rechtsverfahren gibt, das gefällte Urteil also unmittelbar rechtskräftig ist). Die Hinrichtung verzö­ gert sich aber aus den am Anfang des Kriton (43d1) angedeuteten und im Phaidon (58a–c; vgl. auch 61a5) ausführlicher beschriebenen kul­ tisch-religiösen Gründen. Als athenischem Bürger hätte es Sokrates aber freigestanden, vor der Gerichtsverhandlung, ja sogar noch während der Gerichtsverhandlung vor der Fällung des Urteils die Stadt unbehelligt zu verlassen (worauf ihn die Gesetze 52c3 ff. auch hinweisen), also genau das zu tun, was ihm Kriton jetzt zu einem Zeitpunkt ans Herz legt, wo es nicht mehr legal ist, durch Bestechung aber offenbar immer noch de facto möglich wäre.

2) Hat Sokrates’ Verurteilung als Unrecht zu gelten und ergibt sich daraus ein Widerstandsrecht für ihn? Die von den (privaten) Anklägern gegen Sokrates erhobenen Vorwürfe, dass er neue Götter einführe und dass er die Jugend verderbe, sind in Wahrheit substanzlos, sie beruhen teils auf grotesker Verdrehung der Intentionen seines Tuns, teils auf mangelnder Unterscheidung seines Verhaltens und seiner Denkweise von der mancher Sophisten und ande­ des stärksten Arguments richtet (46b) und dass dies impliziert, dass man nicht auf Meinungen, auch nicht auf verbreitete und lautstark vorgetragene, achtet, sondern auf das, was der sagt, der ein echtes Wissen von einer Sache hat (46c–48a), andernorts deutlich gemacht, der Unterschied zwischen Meinung (δόξα dóxa) und Wissen (ἐπιστήμη epistēmē) etwa in Buch 5 der Politeia (475d ff.).

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rer Wanderlehrer und -prediger. Erst recht ist die dafür von den Anklä­ gern geforderte Todesstrafe völlig überzogen, selbst wenn man Sokrates nicht mag und seinem Tun kritisch gegenübersteht, etwa weil man phi­ losophisch/ideologisch anders denkt. Insofern hat das gegen Sokrates ergangene Urteil materiell als Fehlurteil zu gelten. Dies sieht Sokrates selbst so. Dass er in der Apologie (36d/e) als Gegenantrag zum Strafan­ trag der Anklage den Antrag auf lebenslange Speisung im Prytaneion – eine besondere Wohltat, die Athen Menschen gewährte, die sich beson­ ders um die Stadt verdient gemacht hatten – stellt, macht ja mehr als deutlich, dass Sokrates sich nicht im geringsten für schuldig hält und mithin den kurz vorher ergangenen Schuldspruch als völlig verfehlt und ungerecht ansieht. Und 40a2 f. sagt er dort nur zu den Richtern, die ihn freigesprochen haben: „ … ihr Herren Richter, denn indem ich euch ‚Richter‘ nenne, verwende ich die Bezeichnung korrekt …“ Und auch im Kriton selbst gehen Kriton wie Sokrates bei ihrer Argumentation selbstverständlich davon aus, dass Sokrates durch das Urteil ein Unrecht geschehen ist und seine Hinrichtung ein Unrecht darstellt – so argumen­ tiert Sokrates ja gerade, dass man Unrecht nicht mit Unrecht erwidern darf (49b10 ff.), was ja nur einschlägig sein kann, wenn seine Flucht aus dem Gefängnis so aufzufassen wäre; als Sokrates rhetorisch fragt, ob man den athenischen Gesetzen, die der Fiktion nach eben begonnen haben, ihm Vorwürfe wegen seiner geplanten Flucht zu machen, entgeg­ nen sollte, dass die Stadt ihm Unrecht getan habe und es sich um ein Fehlurteil handle, stimmt Kriton sofort emphatisch zu (50c1–3); Sokra­ tes lässt sodann kurz vor Schluss die Gesetze selbst zu ihm sagen, dass er das durch seine Hinrichtung entstehende Unrecht in Ruhe hinnehmen solle (54b8 f., allerdings mit der wichtigen Präzisierung, dass ihm Unrecht nicht vonseiten der Gesetze geschehen sei, sondern von Men­ schen). Das Gerichtsverfahren gegen Sokrates hat zudem gewisse Mängel, die für Gerichtsverfahren im damaligen Athen generell zu konstatieren sind, die aber im Kriton nicht diskutiert werden, so gravierend sie aus unserer Sicht auch sein mögen (Apologie 37a merkt Sokrates allerdings kritisch an, dass die Athener sich für einen Prozess immer nur einen Tag Zeit nehmen). Der Gerichtshof besteht nur aus Laienrichtern, diese hören sich je zweimal die Anklage und die Verteidigung an; auch die werden nicht von Juristen, sondern von Privatpersonen vertreten, die sich lediglich des Beistands eines Gerichtsredners versichern können, Sokrates aber verteidigt sich z. B. selbst. Danach entscheiden die Laien­ richter ohne Aussprache, sie können dabei nur für Verurteilung oder Freispruch stimmen. Es gibt keine Staatsanwaltschaft, keine öffentliche Beweissicherung, in den meisten Fällen keine Vernehmung durch

IV Das athenische Rechtssystem

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Beamte. Es hatte sich daher in Athen ein Netzwerk von sogenannten Sykophanten entwickelt, Personen, die ihr Geld damit verdienten, auf eigene Rechnung oder als Strohmann für andere Klage gegen Personen zu erheben oder andere zu denunzieren. Sodann gab es, wie schon oben erwähnt, keinerlei zweite Instanz, ein einmal getroffenes Urteil war gül­ tig. Diese und andere Mängel sind erheblich und nicht wenige von ihnen haben sich in Sokrates’ Prozess negativ ausgewirkt, aber sie entsprachen dem gesetzlichen Rahmen, den sich die Athener in freier Entscheidung selbst gegeben hatten. Diese Mängel werden im Kriton nicht diskutiert, aber die Gesetze weisen Sokrates darauf hin, dass es ihm freigestanden hätte, entweder ihren Geltungsbereich zu verlassen (51d) oder auf eine Gesetzesänderung hinzuwirken (51c1 und 52a1–3). Hierin liegt der entscheidende Grund, weshalb Sokrates kein Wider­ standsrecht beanspruchen kann (schon gar nicht bezogen auf sich selbst). Es handelt sich bei dem athenischen System nicht um ein Unrechtssystem. Die Gesetze, aufgrund deren Sokrates verurteilt wird, sind nicht in der Intention gegeben, kritische Intellektuelle ausschalten zu können, oder ähnliches, und viele der Verfahrensmängel beruhen auf der basisdemokratischen Einstellung der Athener, also gerade auf dem, was die Athener für gut und richtig halten und wozu sie sich aus freien Stücken und mit Mehrheit entschieden haben. Und die athenischen Gesetze können zu Recht darauf verweisen, dass es Sokrates freigestan­ den hätte, in der Volksversammlung zum Beispiel auf prozedurale Män­ gel des Gerichtswesens hinzuweisen und zu versuchen, eine Abstim­ mungsmehrheit für Änderungen zu gewinnen. Allgemein formuliert: es gibt in Athen legale Möglichkeiten für jeden Bürger, konstitutionelle, institutionelle oder prozedurale Missstände zu beheben. Aus dem Kriton lassen sich mithin keine Argumente für eine angebliche Staatshörigkeit oder Autoritätsgläubigkeit Platons entnehmen. Der Platonische Sokrates argumentiert im Kriton nicht rechtspositivistisch; es geht hier nicht um einen Unrechtsstaat und auch nicht um systematisches Unrecht, sondern es geht um einen Justizirrtum, um eine Fehlentscheidung, die zwar von manchen generellen Mängeln begünstigt, aber vom attischen Rechtssys­ tem nicht angestrebt worden war, sondern lediglich nicht verhindert und nachträglich leider nicht mehr korrigiert werden konnte. Gegen ein sol­ ches unsystematisches Unrecht im Einzelfall, gegen ein miscarriage of justice, gibt es kein Widerstandsrecht, und am allerwenigsten kann der Betroffene selbst so etwas für sich einfordern, denn selbst in ausgefeilte­ ren und besser balancierten Rechtssystemen als dem Athens gibt es Fehlentscheidungen, auch Fehlurteile in letzter Instanz. Wollte man daraus ein Widerstandsrecht ableiten, könnte es nirgendwo ein geordne­ tes Rechtswesen geben. In Systemen mit mehreren Instanzen ist die Ent­

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scheidung der obersten Instanz genauso bindend und unkorrigierbar wie in Athen die Entscheidung der ersten und einzigen Instanz. Selbstver­ ständlich ist es möglich und unter Umständen wohlbegründet, eine sol­ che Entscheidung für falsch und ungerecht zu halten, aber solange es sich dabei um einen isolierten Einzelfall handelt, erwächst daraus kein Widerstandsrecht. Trotzdem ist aber die Frage, wie man in einem solchen Fall vorzuge­ hen hat, besonders wenn die aufgrund des Fehlurteils verhängte Strafe die Todesstrafe ist, wodurch ja tatsächlich eine Ausnahmesituation ent­ steht. Kritons Intention, seinen unschuldigen Freund retten zu wollen, ist ja völlig nachvollziehbar. Dies bestreitet in unserem Dialog auch nie­ mand, und es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Platons Sokra­ tes, nachdem er geklärt hat, dass die Flucht aus dem Gefängnis ein Unrecht wäre und dass man Unrecht nicht mit Unrecht beantworten darf, die von Kriton vorher geltend gemachten Opportunitätsargumente dann sehr wohl auch noch diskutiert und erst nach ihrer Sichtung zu dem Gesamtergebnis kommt, dass er im Gefängnis bleiben und sich der Strafe unterziehen muss. Das bedeutet methodisch, dass man trotz der Richtigkeit der allgemeinen Auffassung, dass man kein Unrecht tun und Unrecht nicht mit Unrecht vergelten darf, in einem ungewöhnlichen Einzelfall wie dem vorliegenden auch nach Platon prüfen muss, ob womöglich durch die Flucht noch größeres Unrecht oder noch größerer Schaden vermieden wird und also ausnahmsweise doch anders zu ver­ fahren ist. Aus dem Kriton lässt sich also in gar keiner Weise und Hin­ sicht eine Ablehnung eines Widerstandsrechts ableiten, erstens, weil das hier nicht das Thema ist, und zweitens, weil das, was man aus der Argu­ mentation im Kriton per Analogie auch für eine Diskussion des Wider­ standsrechts in Anschlag bringen könnte, gerade nicht gegen ein solches spräche, sondern nur darauf hindeuten würde, dass Platon selbst immer für ein vorsichtiges Agieren des Bürgers in seinem Staat plädiert, bei dem man möglichen Nutzen und Schaden verantwortungsbewusst gegeneinander abwägt.

V Die Religiosität des Platonischen Sokrates im Kriton Religiosität spielt beim Verhalten des Sokrates und bei der literarischen Gestaltung des Kriton eine große Rolle. Sokrates, so erfahren wir am Anfang (43d7–44b4), hat einen prophetischen Traum gehabt. Eine schöne Frau in weißem Gewand hat ihm mit einem Homerzitat (Ilias Ι 363) gesagt, er werde „am dritten Tag in die schollige Phthia gelangen“

V Die Religiosität des Platonischen Sokrates im Kriton

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(Phthia ist die Heimat des Achill in der Ilias). Sokrates gewichtet diesen Traum höher als die rationalen Argumente Kritons, der aufgrund vor­ liegender Berichte davon ausgeht, dass Sokrates schon morgen sterben müsse, und Sokrates’ Sichtweise und Haltung ist in unserem Dialog letztlich die, die sich bewährt, sie wird von Sokrates mit ruhiger Zuver­ sicht vertreten und vom Autor des Dialogs diskret, aber nachdrücklich unterstützt durch die Art, wie er die Begebenheit erzählt. Sokrates hat diesen Traum gerade eben gehabt, bevor er, während Kriton schon still bei ihm im Gefängnis saß, erwachte. Kriton hatte Sokrates bewundert, wie völlig entspannt er unter den obwaltenden Umständen schlief (43b5 ff.). Diese Ruhe und die von den Umständen völlig unbeeinträch­ tigte Fähigkeit des Sokrates, rational und ruhig abwägend zu fragen, was jetzt zu tun ist, durchzieht den ganzen Dialog. Die Einführung des Traums lässt dabei über das Philosophische hinaus und parallel zu ihm eine religiöse Fundierung erkennen, ein Gottvertrauen. Göttliches wird zwar nach der Einleitung lange nicht mehr erwähnt, aber als letzten Satz des ganzen Dialogs sagt Sokrates „Lass es also, Kriton, und wir wollen so handeln, da der Gott auf diesem Wege leitet!“ (54e1 f.), Sokrates ver­ steht also das Ergebnis der Überlegungen ebenso als unter der Aufsicht und mit Hilfe des Gottes gewonnen wie am Anfang den Traum, den Kri­ ton merkwürdig (44b3), Sokrates hingegen „eindeutig“ (b4) findet. Es ist hier also gerade kein Gegensatz zwischen Rationalität und Religiosi­ tät aufgebaut, sondern Platon stellt in Sokrates eine rationale Religiosität dar, der Traum ist nicht wirr und aufgeregt, nicht das Produkt einer von Angst aufgewühlten Phantasie, der entspannt schlafende Sokrates hat einen Traum, der sich artikuliert in einem Dichterzitat äußert und einen klaren und verständlichen Sinn hat. Im folgenden diskutiert Sokrates ebenso entspannt, ohne unangemessene seine Einsicht trübende Emotio­ nen die Richtigkeit von Kritons Vorschlag; es ist Kriton, der von Unruhe erfasst ist, der aus Zuneigung zu seinem Freund zu etwas rät, das sich bei sorgsamer Erwägung dann doch nicht als der beste Rat erweist. So­ krates spricht die ganze Zeit nicht etwa emotionslos, nicht wie ein Unbe­ teiligter, das wird spätestens bei dem energischen Plädoyer der Gesetze deutlich, aber er diskutiert die Frage mit demselben Engagement und derselben inneren Freiheit, mit der Sokrates jede wichtige Frage disku­ tiert und jede Einzelfrage methodisch abgesichert behandelt. Und gerade bei diesem Vorgehen und in diesem Vorgehen erweist sich Platons So­ krates als vom Gott geleitet, und er sieht dies auch selbst so und spricht es aus.

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Einleitung

VI Gliederung Der Kriton beginnt mit einer Einleitung (43a1–44b5), die die Gesprächssituation beschreibt und Charakter und Denkweise der beiden Figuren dieses Dialogs, des Kriton und des Sokrates, bereits gut erken­ nen lässt. Sokrates wartet im Gefängnis auf seine Hinrichtung, Kriton hat ihn früh am Morgen vor der eigentlichen Öffnung des Gefängnisses für Besucher aufgesucht. Sokrates ist trotz seines nahenden Todes völlig ruhig, Kriton nicht. Er möchte Sokrates, wie er im folgenden Großab­ schnitt (44b5–46a8) darlegt, dazu überreden, mit seiner Hilfe aus dem Gefängnis zu entfliehen. Er kommt mit diesem Entschluss in das Gespräch hinein und hat die Flucht bereits vorbereitet. Er rechnet aber mit Widerstand vonseiten des Sokrates und versucht, rhetorisch alles aufzubieten, was irgendwie für eine Flucht sprechen könnte. Darauf rea­ giert wiederum Sokrates in einer ausführlichen Entgegnung (46b1– 54d1). Er widerspricht Kriton nicht nur der Sache nach, sondern er missbilligt auch das von Kriton angewandte Verfahren, sich darauf zu konzentrieren, Argumente für ein vorgegebenes Ziel zu finden, statt zuerst in Ruhe zu überlegen, welches Ziel als ein gutes und gerechtes anzustreben ist und zu welcher Vorgehensweise man sich daher ent­ scheiden soll. Die ausführliche Entgegnung des Sokrates hat drei Unter­ abschnitte. In Teil 1 (46b1–48b10) erinnert Sokrates Kriton daran, dass man immer auf die Meinung dessen hören muss, der etwas von einer Sache versteht, und nicht auf die der Masse, und dass das letzte und wichtigste Ziel nicht das Leben, sondern das gute Leben ist, gutes und gerechtes Leben aber identisch sind. In Teil 2 (48b11–49e8) spezifiziert Sokrates das Allgemeine, in dem Kriton und er übereinstimmen, im Blick auf das in Schritt 3 zu Prüfende. Er arbeitet heraus, dass die Über­ zeugung, dass man kein Unrecht tun darf, mit einschließt, dass man es auch dann nicht tun darf, wenn man selbst Unrecht erleidet oder erlitten hat, und niemanden schädigen, auch wenn man selbst geschädigt wird oder worden ist. In Teil 3 (49e9–54d1) zeigt Sokrates dann, dass eine Flucht aus dem Gefängnis tatsächlich jemanden schädigen würde und daher den gemeinsamen Überzeugungen widerspräche. Innerhalb dieses Teils lässt Sokrates ab 50a6 die Gesetze Athens als Redner auftreten und ihn wegen seiner Fluchtpläne scharf kritisieren. Die Gesetze legen dar, dass Sokrates alle legalen Möglichkeiten, sich zu retten, teils ausgeschöpft, teils nicht genutzt hat, dass er sich den athenischen Gesetzen freiwillig unterstellt hat, dass Athen ein Rechtsstaat ist, in dem Sokrates auch auf Gesetzesänderungen hätte hinarbeiten können, wenn er eine Regelung

VII Die Rede der Gesetze und das Sokratesbild

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für nicht gut gehalten haben sollte. Entsprechend bestehen die Gesetze auf der Gültigkeit des getroffenen Urteils und weisen Sokrates darauf hin, dass Recht und Staatlichkeit untergraben werden, wenn sich jeder aussuchen kann, welche gerichtlichen Entscheidungen er befolgt und welche nicht. Durch seine Flucht würde er also den Staat Athen, seine Rechtsordnung und damit letztlich alle Bürger Athens schädigen. Am Schluss widerlegen die Gesetze dann noch Kritons Sekundärargumente. In seiner knappen Schlussbemerkung (54d2–e2) erklärt Sokrates Kri­ ton nur noch, dass er von dem, was die Gesetze (der Fiktion nach, in Wahrheit ist es eben Sokrates selbst, der spricht) gerade gesagt haben, restlos überzeugt sei, so dass ein Versuch Kritons, ihm das auszureden, zwar erlaubt, aber nicht sonderlich erfolgversprechend sei, und als Kri­ ton „die Waffen streckt“, bemerkt Sokrates abschließend, dass also „der Gott auf diesem Wege leitet“, in dem Sinn, dass ruhige Überlegung zu dem Ergebnis führt, dass sein Tod nunmehr unvermeidlich ist.

VII Die Rede der Gesetze und das Sokratesbild Eine Minderheit in der Forschung vertritt die These, die Rede der Gesetze entspreche keineswegs Sokrates’ eigenen Auffassungen, sie stehe vielmehr zu diesen in einem gewissen Gegensatz. Gründe, die Interpreten zu solchen Thesen motivieren, sind meist das Bestreben, ein bestimmtes Sokratesbild zu bewahren, zu dem die Thesen der Gesetze nicht zu passen scheinen, oder Platon von staatstheoretischen oder poli­ tischen Auffassungen fernzuhalten, die sich aus den Argumenten der Gesetze ergeben sollen. Die Forschungsmehrheit teilt diese Thesen nicht, manche vertreten dabei so wie ich im vorliegenden Kommentar die Auffassung, dass Platon und seine Dialogfigur Sokrates auch keine staatstheoretisch anstößige Position vertreten und dass sich dies aus der Rede der Gesetze wie auch aus den vorher vorgetragenen Argumenten gleichermaßen ergibt. Andere sehen zwar ebenfalls keinen Gegensatz zwischen dem, was die Gesetze vortragen, und dem Vorausgegangenen, halten aber die ethische oder staatstheoretische Position, die hier wie dort vertreten werde, für äußerst kritikwürdig. Dies ist an den jeweiligen Orten des Kommentars näher dargestellt. Hier sei nur auf den Aspekt näher eingegangen, dass offensichtlich viele Interpreten gerne einen anderen Sokrates hätten, als wir ihn aus der Darstellung im Kriton gewinnen.38 Sokrates wird in der europäischen Moderne gerne als Gal­ 38

Deutlich ausgesprochen beispielsweise bei Weiss (1998), 161 ff., die ihr entsprechendes Kapitel „Restoring the Radical Socrates“ nennt.

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Einleitung

lionsfigur des Rationalismus wie auch des Individualismus verstanden. Er soll für kompromisslose Orientierung an der Vernunft stehen, sein Tod wird als Fanal für das Festhalten eines rationalen Menschen am für richtig Erkannten auch gegen gesellschaftliche Voreingenommenheiten gesehen. Von einem solchen Sokratesbild ausgehend ist es naturgemäß stoßend, wenn dieser lebenslange Advokat individualistischer Rationalität ein Plädoyer für Gesetzesgehorsam selbst dort, wo die Gesetze Unrecht pro­ duziert haben, halten soll. Man kann diese scheinbaren Gegensätze aber durch genaueres Differenzieren weitgehend auflösen. Erstens vertritt Sokrates in Platons Schriften keine cartesische Rationalität, und auch keine rousseausche Auffassung vom Verhältnis von Individuum und Staat,39 aber andererseits ist hier im Kriton auch nicht die Position eines unbedingten formalen Gehorsams gegenüber dem Buchstaben des aktual an einem Ort geltenden Gesetzes vertreten. Sokrates warnt aber davor, rechtsstaatlich getroffene Gerichtsentscheidungen, die rechtsgül­ tig sind, individuell eigenmächtig außer Kraft zu setzen. Wer individua­ listischere Auffassungen auf dem Gebiet der Staatstheorie oder der Ethik vertreten möchte oder Positionen, die dem Individuum Vorrang vor der Gemeinschaft geben, kann sich dafür zumindest nicht auf den Platonischen Sokrates berufen. Eine unaufgeregte Lektüre des Kriton ergibt aber auf jeden Fall, dass eine Frage wie die in diesem Dialog zur Debatte stehende nicht einfach zu beantworten ist.

VIII Bemerkungen zur Textgestaltung Die Ausgabe von Burnet und die von Nicoll unterscheiden sich nur an relativ wenigen Stellen in einer Weise, die einen Einfluss auf den Sinn und damit auf die deutsche Übersetzung hat. Nachstehend sind nur sol­ che Stellen aufgeführt, an denen die Übersetzung entweder aus wichti­ gem Grund dem einen im Gegensatz zum anderen Editor folgt oder einen anderen Text liest als beide. 43d4 f. folgt die Übersetzung Nicoll, der – anders als Burnet, der Hir­ schigs Tilgung folgt, – τῶν ἀγγέλων nicht athetiert.

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Zum Unterschied zwischen einem cartesischen Rationalitätsbegriff und einem platonischen vgl. Schmitt (2003), 189–206; zum Unterschied zu Rousseau vgl. ebda., 398 ff.

VIII Bemerkungen zur Textgestaltung

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44b4 folgt die Übersetzung der von Nicoll gewählten Lesart ὡς ἄτοπον (Burnet nimmt die Version ohne ὡς). 48b1 f. weist die Übersetzung den Kurzsatz ἀληθῆ λέγεις mit Burnet Kriton zu und nicht wie Nicoll dem Sokrates (s. Fußnote zur Stelle). 48e4 folgt die Übersetzung gegen Burnet und Nicoll der handschriftlich gut bezeugten Lesart πεῖσαί. Zur Begründung vgl. die Anmerkung zur Stelle. 49a7 athetieren Burnet und Nicoll Thomas Burgess folgend den Teilsatz ὅπερ καὶ ἄρτι ἐλέγετο. Die Übersetzung setzt ihn mit Meiser hinter das folgende ἢ. Es ist aber natürlich nicht auszuschließen, dass Burgess

recht hat, wenn er den Zusatz für eine Glosse, also eine Randbemerkung eines wohl antiken Lesers, hält, die versehentlich in den Text geraten ist. 49b8–11 versieht die Übersetzung die beiden Sätze des Sokrates jeweils mit einem Fragezeichen, während Burnet und Nicoll wie die meisten Herausgeber beide Male einen einfachen Punkt setzen. 49d5 kann man mit Burnet die Wortstellung ἀλλήλων τὰ βουλεύματα als die ungewöhnlichere im Vergleich zu τὰ ἀλλήλων βουλεύματα und damit als lectio difficilior betrachten. 53d5 setzt Nicoll anders als Burnet kein Komma hinter περιθέμενος, auch die Übersetzung hält dies für die bessere Aufteilung des Satzes. 54b5 f. ist die von Nicoll bevorzugte Wortstellung ταῦτα πάντα über­ setzt (Burnet hat die umgekehrte).

KOMMENTAR

43a1–44b5 Einleitung

Die Einleitung gibt uns den situativen Rahmen für das Gespräch zwi­ schen Sokrates und seinem alten Freund Kriton und gibt zugleich erste Hinweise auf dessen Denkweise. Kriton wird schon in der Apologie genannt, und zwar, als es nach dem Schuldspruch in Sokrates’ zweiter Verteidigungsrede darum geht, das Strafmaß zu bestimmen. Nachdem Sokrates gesagt hat, dass er mangels Eigentum leider nicht anbieten könne, eine Geldstrafe zu zahlen, fügt er dort 38b6 ff. hinzu, Platon, Kri­ ton und zwei weitere bedeuteten ihm gerade, er solle die Zahlung einer Summe von 30 Minen anbieten, für die sie garantierten. Kriton ist also in der Apologie im selben Atemzug mit Platon selbst genannt, in einem von Platon verfassten Text; auch dort ist Kriton bereit, sein Vermögen einzusetzen, um Sokrates vor Schaden zu bewahren. Um die Größenord­ nung der angebotenen Summe zu veranschaulichen, kann man darauf verweisen, dass das Tagegeld für die Laienrichter in Athen 3 Obolen betrug, 30 Minen sind immerhin das Sechstausendfache dieses Betrags. Das Gericht stimmte aber für die Todesstrafe. Deren Vollstreckung ver­ zögerte sich um rund einen Monat (s. zu 43d1), ein Versuch Kritons, Sokrates eine Inhaftierung während der Wartezeit zu ersparen, indem er dafür bürgte, dass Sokrates in Athen bleiben werde (Phaidon 115d6–8), war offenbar erfolglos. Damit gelangt man zu der Situation, die den Rahmen des Kriton abgibt: Sokrates befindet sich seit geraumer Zeit im Gefängnis, wo er von seinen Freunden besucht wird, aber der Tag der Hinrichtung naht. 43a4 Kurz vor Tagesanbruch Dies lässt sich zum einen ganz konkret so interpretieren, dass Kriton in der Nacht ins Gefängnis gekommen ist, damit Sokrates möglichst noch im Schutz der Dunkelheit mit ihm entkommen könnte. Zum anderen kann man das aber auch als beziehungsreiches Detail in dem Sinn anse­ hen, dass es im folgenden während des Gesprächs zwischen Kriton und Sokrates allmählich hell wird, dass also Sokrates nach und nach aus einer Situation der Dunkelheit, in der nicht erkannt worden ist, was hier zu tun richtig ist, zu der Erkenntnis hinführt, was das Gute und Richtige

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Kommentar

ist, so dass mit seiner fortschreitenden Argumentation die Helligkeit immer weiter zunimmt. 43a5 f. wieso der Gefängniswärter bereit gewesen ist, aufzumachen Wir erfahren aus Phaidon 59d, dass sich Sokrates’ Freunde in der Zeit seiner Gefangenschaft in der Nähe des Gefängnisses trafen und warten mussten, weil nicht früh geöffnet wurde. Schon die Tatsache, dass Kri­ ton außerhalb der normalen Öffnungszeiten Zutritt erhalten hat, deutet darauf hin, dass die Möglichkeit bestehen könnte, Sokrates durch Beste­ chung aus dem Gefängnis herauszuholen und außer Landes zu bringen, konkret zur damaligen Zeit: in nicht-athenisches Gebiet und auch nicht in eine mit Athen verbündete Stadt oder Region. 43b4 f. aber ich staune schon lange über dich Mit diesen ersten Details zeichnet Platon bereits den Charakter und die Denkweise des Kriton präzise. Er ist ein treuer Freund (er besucht So­ krates ständig), das Wohl des Sokrates liegt ihm sehr am Herzen (er macht sich beim Gefängniswärter beliebt, er lässt Sokrates aus Rück­ sicht schlafen und wartet), und er möchte ihn nicht verlieren. Kriton ist aber kein „bis in den letzten Winkel“ philosophischer Mensch wie So­ krates, sondern hängt in der Art am irdischen Leben und seinen Annehm­ lichkeiten, wie wir Menschen dies gemeinhin tun. Er bewundert Sokra­ tes, ohne ihn im letzten zu verstehen.40 Er beobachtet, wie ruhig und 40 Für das Gesamtverständnis des Kriton ist die Frage von recht zentraler Bedeutung, wie weit man Kriton als Sokratiker, als einen Menschen sehen kann, der unter Sokrates’ Einfluss sein Leben nach philosophischen Auffassungen gestalten möchte, die er mit Sokrates teilt, beziehungs­ weise inwieweit Kriton Sokrates’ Ausführungen zu folgen vermag, und auch die Frage des sich daraus ergebenden Verhältnisses zwischen Sokrates und Kriton. Teile der Forschung beurteilen Kriton eher negativ, er sei unphilosophisch und verstehe die Tiefe der sokratischen Argumentation nicht wirklich. Besonders weit geht hier Weiss (1998), 43 ff. u. 153 ff., die Kriton als „utterly unphilosophical“ (156) bezeichnet. Sie sieht ihn als typischen Vertreter des athenischen Establish­ ments seiner Tage, der persönliche Freundschaft über Recht und Gesetz und bürgerliche Pflichten stellt (45). Sie versucht, ihr Kritonbild zusätzlich durch Vergleich mit den anderen Dialogen zu untermauern, in denen er vorkommt, auch im Phaidon legt sie Kriton alles zum Negativen aus. Insgesamt interpretiert sie zu rationalistisch und ist bestrebt, interpretatorisch alles in klare JaNein-Entscheidungen zu bringen. Kriton versteht entweder, was Sokrates ihm erklärt, dann muss er sich auch wie er verhalten, oder er versteht es nicht, dann ist er eben unphilosophisch. Demge­ genüber versuche ich hier und im Folgenden plausibel zu machen, dass Kriton grundsätzlich die Auffassungen des Sokrates durchaus teilt und auch philosophisch leben möchte, und das schließt ein, dass ihm durch frühere Gespräche mit Sokrates offensichtlich klar ist, dass die traditionelle Ethik des „Den Freunden wohl, den Feinden wehe“ (vgl. Politeia 332b), in der die Freunde durch­ aus über den Staat gestellt werden und man gemeinsam den Feinden nach Kräften zu schaden ver­

43a1–44b5 Einleitung

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gelassen Sokrates seinen nahenden Tod hinnimmt, und dies hat zwar schon einen mäßigenden Einfluss auf seine eigene Reaktion, aber wie viele Freunde des Sokrates trägt er schwerer an der Sache als Sokrates selbst. Aus dem Phaidon ist klar ersichtlich, dass Kriton Sokrates’ engster persönlicher Freund ist. Er fragt Minuten vor Sokrates’ Tod, was Sokra­ tes für Wünsche habe bezüglich seiner Hinterbliebenen und seiner Bestattung (115b/c), er begleitet ihn, als er ein letztes Mal fortgeht, um sich zu waschen (116a), Sokrates spricht in Kritons Gegenwart ein letz­ tes Mal mit seinen Kindern (116b). 116e macht gerade Kriton dem So­ krates den Vorschlag, mit dem Trinken des Schierlingsbechers doch zu warten. Das sei erlaubt und üblich. Hier ist dieselbe Tendenz, sich den Freund physisch so lange wie möglich zu erhalten, erkennbar, die auch Kritons Verhalten im nach ihm benannten Dialog zugrunde liegt. Als Sokrates das ablehnt und kurz darauf den Becher leert, verlässt Kriton offenbar als erster vorübergehend den Raum, weil er die Tränen nicht zurückhalten kann (Phaidon 117d). Und bezeichnenderweise richten sich Sokrates’ letzte Worte an Kriton. Dem Toten verschließt Kriton Mund und Augen (118a). Eine enge freundschaftliche Beziehung zwi­ schen den beiden in ähnlichem Alter stehenden Männern ist also von Platon deutlich dargestellt. 43b5 wie süß du schläfst Sokrates hat keine Angst vor dem Tod. Dass das nicht nur eine Attitüde ist, wird hier gleich am Anfang dadurch klargemacht, dass er sich auch im Schlaf nicht unruhig von Albträumen geplagt herumwälzt, wie es in seiner Lage völlig verständlich wäre. Kriton hingegen ist von der Situa­ tion schwer belastet und beunruhigt, er fürchtet sich davor, seinen Freund zu verlieren; zugleich ist er erzürnt über die Ungerechtigkeit des sucht, dass also diese Ethik philosophischer Prüfung nicht standhält. Kriton wendet seine durchaus richtigen Überzeugungen aber in dem nach ihm benannten Dialog zunächst nicht an, sondern sucht sich rhetorische Scheingründe, warum es angeblich richtig sein soll, wenn sich Sokrates jetzt davonmacht. Als Sokrates dann aber auf das in früherer Zeit gemeinsam als richtig Erkannte rekurriert, kann Kriton nicht widersprechen und tut es auch nicht. Kriton erweist sich hier wie im Phaidon als weniger klar vom Logos bestimmt als Sokrates, soviel ist gewiss richtig, aber Sokra­ tes macht sich die Mühe, ihn zu überzeugen. Weiss übersieht, dass es nach Platon unter dem Ein­ fluss von Lust- oder Unlustempfindungen, die nicht aus dem Denken stammen, möglich ist, dass man an etwas nicht festhält, das man eigentlich als richtig erkennt; s. dazu Hatzistavrou (2013), 591 f. Weiss’ Abwertung von Kritons Erkenntnisfähigkeit hängt damit zusammen, dass es eine wichtige Prämisse für ihre These ist, dass das, was Sokrates später die Gesetze sagen lässt, gar nicht Sokrates’ eigene Meinung sei, sondern lediglich ein verzweifeltes rhetorisches Mittel, um den unphilosophischen Kriton irgendwie zu überzeugen. Vgl. dagegen van Ackeren (2008), 45 ff.

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Kommentar

Urteils und das seinem Freund Sokrates drohende Unrecht. Dieser Unterschied wird im folgenden tragend für die unterschiedliche Art der beiden Männer, zu ermitteln, was zu tun ist. Kriton ist aufgrund seiner Empfindungen bereits entschieden und sucht nur nachträglich nach rationalen Argumenten, um diese Entscheidung auch als richtig darzu­ stellen und Sokrates demgemäß zu überzeugen. Sokrates hingegen zeigt zwar sehr wohl Emotionen, zum Beispiel ist er erkennbar verärgert über das Fehlurteil gegen ihn, und die Masse der Menschen ist in seinem Werturteil nicht gerade gestiegen; so sagt er 48c4–6, die Leute töteten leichthin und würden ebenso schnell jemanden wieder zum Leben erwe­ cken, wenn sie denn könnten; und in der Apologie hatte er 40a2 f. bemerkt, nur die, die ihn freigesprochen hätten, verdienten die Bezeich­ nung „Richter“.41 Sokrates’ Emotionen sind aber dem von ihm in freiem Denken Erkannten angemessen, und weil bei ihm das Denken sein Emp­ finden bestimmt und nicht umgekehrt, kann Sokrates, wie es sachlich und methodisch richtig ist, von seinem Denken auch freien Gebrauch zur Problemlösung machen.42 Er überlegt in Ruhe, was jetzt richtig ist, er benützt nicht rationale Argumente, um zu einem vorgegebenen Ergebnis zu kommen. Natürlich weiß Kriton aber im Grunde, dass sein Vorschlag dem widerspricht, was Sokrates seit langem lehrt, er hofft ein wenig wider besseres Wissen, Sokrates dafür zu gewinnen. Sein großer

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Vgl. dazu Heitsch (2002), 162 f. (zu Apologie 39e1–41c7). Bemerkenswert sind hier die Unterschiede zwischen dem Platonischen und dem stoischen Ideal des Weisen, die in einer unterschiedlichen Erkenntnistheorie begründet sind. Der stoische Weise ist durch äußere Ereignisse emotional nicht anrührbar, sein Ideal ist die völlige „Unerschüt­ terlichkeit“ (ἀταραξία ataraxía), sein Ziel die vollständige Befreiung von den Affekten, weil ihm die Affekte in dem Sinne als irrational gelten, dass sie bar jeglicher Rationalität sind und das Denken gefährden. Wer sich einem Affekt überlässt (durch die sogenannte bewusste „Zustim­ mung“, συγκατάθεσις synkatáthesis), der wird dadurch durch und durch irrational und verliert die rationale Kontrolle über sich. Hingegen wird im Sinne Platons jede Erkenntnis, auch eine rationale, immer einen ihr gemäßen Affekt erzeugen, so kann man nicht erkennen, dass Sokrates zu Unrecht verurteilt worden ist, ohne zugleich beispielsweise Zorn auf seine Ankläger und auch seine Richter zu empfinden und Mitleid mit Sokrates. Ziel des Philosophen ist hier nicht eine Befreiung von den Affekten, sondern eine Kultivierung und Mäßigung derselben. Dazu gehört im vorliegenden Beispiel, dass man sich klarmacht, dass die Athener, die Sokrates verurteilt haben, ohne Aussprache allein aufgrund sich widersprechenden Parteienvortrags aus dem Stand am sel­ ben Tag entscheiden mussten, dass es ferner für Menschen, die sich damit nicht näher befassen, schwer gewesen sein dürfte, Sokrates von den zahlreichen damals aktiven „Sophisten“ klar zu unterscheiden, so dass viele seiner Richter wohl guten Glaubens einem Irrtum erlegen sind, und schließlich muss man auch sagen, dass Sokrates durch sein ungewöhnliches, weil von völliger Furchtlosigkeit vor dem Tode geprägtes Verhalten auch als hochmütig das Gericht gering achtend erscheinen konnte. All dies wird bei jemandem, dessen Zorn rein aus freiem Denken entspringt, diesen Zorn im vorliegenden Fall mildern. 42

43a1–44b5 Einleitung

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rhetorischer Eifer ist der von jemandem, der alles aufbietet, was er hat, weil er schon ahnt, dass es nicht leicht wird.43 Dass Kriton durchaus damit rechnet, Sokrates nicht überzeugen zu können, lässt sich im übri­ gen auch schon daraus andeutungsweise erkennen, dass er Sokrates nicht sofort geweckt hat, was ja die Zeit verkürzt, die für eine Flucht zur Verfügung stünde. 43d1 Ist das Schiff aus Delos zurück, nach dessen Ankunft ich ster­ ben muss? In der Einleitung des Phaidon (58a–c; vgl. auch 61a5) verweist Platon darauf, dass die Athener jedes Jahr ein Schiff nach Delos entsandten zur Erinnerung an die Fahrt des athenischen Heroen Theseus zum Minotau­ ros nach Kreta, mit der er zweimal sieben junge Athener rettete. Vorher hatten die Athener dem kretischen Ungeheuer jedes Jahr 14 Menschen als Opfer darbringen müssen. Theseus hatte Apollon eine jährliche Dankprozession zu Schiff nach Delos, dem Geburtsort Apolls und seiner Schwester Artemis, versprochen, wenn er selbst und die jungen Athener gerettet würden. Während der Zeit dieser Fahrt durften keine Todesur­ teile vollstreckt werden, weil die Stadt kultisch rein bleiben musste. Nun hatte Sokrates’ Prozess genau am Tage nach Beginn des Rituals stattge­ funden, die Vollstreckung des Todesurteils verzögerte sich infolgedes­ sen erheblich, laut Xenophon, Memorabilia IV 8, 2, um 30 Tage. 43d3 Leute, die von Sunion gekommen sind Die Insel Delos liegt südöstlich der Halbinsel Attika, Athen an der West­ küste Attikas, das Schiff musste folglich die Südspitze der Halbinsel, das Kap Sunion umrunden, um dann die Westküste entlang nach Norden zu segeln und in den athenischen Hafen, den Piräus einzulaufen. Offen­ sichtlich hatte das Schiff in Sunion angelegt und Leute an Land abge­ setzt, von denen Kriton jetzt die Nachricht erhalten hat, dass das Schiff noch heute zurückkehren wird. Daher befürchtet er, dass Sokrates mor­ gen hingerichtet werden wird. 44b1 eine schöne und wohlgestalte Frau in einem weißen Gewand Der Platonische Sokrates behandelt „Theologisches“ in der Regel „phi­ losophisch“.44 Er beschreibt hier seinen Traum nur dem Phänomen nach, 43

So auch Polansky (1997), 53 f. So spricht Platons Sokrates in Politeia Buch 6 und 7 von der „Idee des Guten“ und nicht von Gott, weil sich nach Platon Gott dem um Rationalität bemühten Philosophen als letzte Voraussetzung des Seins und des Denkens, also auch und gerade der Rationalität selbst, zeigt. Für 44

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Kommentar

ohne jeden Versuch, die weissagende Frau zu identifizieren. Er geht aber davon aus, dass sie ihm die Wahrheit prophezeit hat, so dass er den auf der menschlichen Ebene durchaus der Wahrscheinlichkeit entsprechen­ den Überlegungen Kritons nicht folgt. Also denkt Sokrates, dass es sich hier nicht um einen rein subjektiv erklärbaren Traum, sondern um eine echte Eingebung vonseiten eines höheren Wesens handelt, das weiß, an welchem Tag er sterben wird.45 44b2 Möchtest am dritten Tag in die schollige Phthia gelangen Das ist ein abgewandeltes Homerzitat aus Buch 9 der Ilias, Vers 363. Der Vers ist dort Teil der brüsken Zurückweisung des ihm überbrachten Wiedergutmachungsangebots des Agamemnon durch Achill. Er droht dabei erneut mit seiner endgültigen Heimfahrt. Wenn Poseidon gutes Segelwetter gebe, „könnte ich wohl am dritten Tag in die schollige Phthia gelangen“ (wo Achill zu Hause ist). Die Traumgestalt prophezeit also dem Sokrates seine baldige Heimkehr, und dies ist dem Verständnis des Platonischen Sokrates gemäß der Tod, durch den die Seele vom irdi­ schen Leib, der ihr Erkennen behindert, befreit wird (Phaidon 67d). Aus diesem Grund bezeichnet er im Phaidon an der eben genannten Stelle und 81a1 die Haltung des Philosophen als ein „Einüben des Todes“, ein „Sich Vorbereiten auf den Tod“.46 Dass durch den Traum und Sokrates’ Interpretation desselben der Tod als eine Heimkehr aufgefasst ist, ist im Rahmen des Kriton einer der ganz wenigen Hinweise auf den Gedanken der Unsterblichkeit der Seele oder der Seelenwanderung, anders als etwa im Phaidon wird hier primär innerweltlich, also staatsbürgerlich und ethisch argumentiert, ähnlich wie in der Politeia . Im Kriton wie in der Politeia wird erst am Ende des Dialogs der Blick auf das Einzel­ leben transzendierende Aspekte erweitert.47 In der Apologie ist hingegen die im Zusammenhang der Argumentation in der Politeia verfolgte Absicht, den letzten Ursprung des Wissens und der Erkenntnis wenigstens andeutungsweise fassbar zu machen, steht nicht im Vordergrund, ob man die Idee des Guten als eine Person auffassen und „Gott“ nennen muss. Ana­ log bleibt an der jetzigen Stelle offen, ob die Frau im weißen Gewand die Göttin der Weisheit (beziehungsweise platonisch korrekter ein Daimon, der dieser nahesteht) ist und also z. B. Athene genannt werden könnte (vgl. auch zu 44b5). Es besteht freilich in der Forschung keinerlei Kon­ sens zu Platons theologischen Auffassungen, insbesondere zu der Frage, ob er einen personalen Gottesbegriff hat. Die Auffassung von Taylor (1966), 169, dass Sokrates die Traumerscheinung auf das zurückkehrende Schiff beziehe und die weißen Gewänder die Segel seien, scheint mir ohne Basis im Text. 45 Zu Wahrträumen gemäß der Platonischen Philosophie vgl. Büttner (2000), 336 ff. 46 Zum Verhältnis des platonischen Philosophen zu seinem Körper und der daraus resultieren­ den Auffassung vom Tod vgl. Thiel (2001). 47 54b2–5 sprechen die Gesetze davon, dass Sokrates sich im Hades vor „den dortigen Herr­

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am Ende (40c ff.) ausdrücklich offengelassen, ob der Tod ein Zustand der Empfindungslosigkeit sei oder die Seele dabei an einen anderen Ort wechsele.48 Dies spricht dafür, dass die Ursache der Unterschiede nicht eine Veränderung von Platons Grundüberzeugungen zu diesen Fragen ist, sondern dass die Differenzen didaktisch und thematisch bedingt sind (in dem Sinne, dass sich Platon jeweils an eine mehr oder weniger philo­ sophisch fortgeschrittene Leserschaft wendet und seine Figuren in unterschiedlichen Kontexten sprechen), beziehungsweise im Falle der Apologie, dass es sich hier – auch der Fiktion nach49 – um eine Rede des Sokrates vor einer breiten Öffentlichkeit handelt. Außerdem ist es der Kern von Sokrates’ Argumentation oder Selbstdarstellung in der Apolo­ gie, dass er sich von anderen höchstens dadurch vorteilhaft unterschei­ det, dass er weiß, dass er nicht wissend ist, und sich das also auch nicht einbildet (21d), mit der Folge, dass er auch nicht bereit ist, alles Erdenk­ liche in Kauf zu nehmen, um seinen Tod zu vermeiden, so als wüsste er genau, wie die Dinge im Hades sind (29a/b). Denn nur dann wüsste er ja, dass der Tod das denkbar größte Übel ist, im Vergleich zu dem andere Übel, zum Beispiel das, durch unwürdiges Verhalten seine Ehre zu ver­ lieren, zu Recht als gering gelten können.

schern“ zu rechtfertigen haben werde, 54c5–8 sagen sie, ihre „Brüder, die Gesetze im Hades“ würden Sokrates nicht wohlwollend empfangen, wenn er jetzt aus dem Gefängnis flöhe; vgl. den Kommentar zu beiden Stellen. In der Politeia ist durch den Er-Mythos in Buch 10 dieselbe gedankliche Bewegung in noch sehr viel ausgeprägterer Form durchgeführt. 48 Zur Vorgeschichte der dort in der Apologie durch den Platonischen Sokrates erwogenen Möglichkeiten, was der Tod sein könnte, vgl. Heitsch (2002), 164 ff., zu der Zwischenstellung des hier im Kriton Angedeuteten zwischen Apologie und Menon, Gorgias oder Politeia Heitsch (2004), 184. Vgl. ferner die abwägende Darstellung bei Brickhouse/Smith (2004), 178 ff. 49 Einerseits hat eine solche öffentliche Rede des Sokrates (beziehungsweise drei, wenn man an die unterschiedlichen Phasen des Prozesses denkt) im historischen Gerichtsverfahren wirklich stattgefunden. Andererseits ist aber im vorliegenden Kontext nicht das Faktisch-Historische, son­ dern das Literarisch-Schriftstellerische entscheidend. Platon als philosophischer Schriftsteller mit den Fähigkeiten eines erstklassigen Dramatikers passt die Redeweise seiner Figuren optimal der jeweils von ihm fingierten Situation an. Daher muss man interpretatorisch davon ausgehen, dass Sokrates in der Apologie auch deswegen anders spricht als etwa im Kriton, weil er in letzterem Dialog unter vier Augen mit einem Freund spricht, in der Apologie hingegen vor einer breiten Öffentlichkeit, die zudem als Richter in seinem Verfahren fungiert (dass Sokrates den letzteren Umstand weitgehend ignoriert, ist dabei natürlich kein Hinweis auf mangelnde Fähigkeit des Schriftstellers Platon, Sokrates’ Rede situationsgemäß zu gestalten, sondern eine bewusste Cha­ rakterisierung, die Sokrates’ Unangepasstheit demonstriert).

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44b2 am dritten Tag Die Griechen rechnen immer den gegenwärtigen Tag mit. Heute ist dann der erste, morgen der zweite Tag. „Am dritten Tag“ ist damit gleichbe­ deutend mit „übermorgen“.

44b5–46a8 Kritons Argumente für eine Flucht In diesem Abschnitt bietet Kriton alles auf, was ihm an Argumenten zur Verfügung steht, um Sokrates dazu zu überreden, mit seiner Hilfe aus dem Gefängnis zu entfliehen und sich in Sicherheit zu bringen. Seine Argumentationsweise zeigt dabei schon, dass er mit diesem Anliegen bei Sokrates auf großen Widerstand zu stoßen erwartet. Kriton geht dabei so vor, wie es landläufiger Rhetorik entspricht. Er hat sich bereits entschieden, dass Sokrates unbedingt gerettet und also aus dem Gefäng­ nis herausgeholt werden muss, und er sucht nun nach allen Argumenten, die dafür sprechen, beziehungsweise Sokrates davon überzeugen könn­ ten, bei diesem Plan mitzumachen. 44b5 Sokrates, du Mann des Daimonion Die Anrede, die Kriton hier für Sokrates wählt, ist in ihrer Mehrdeutig­ keit letztlich unübersetzbar. δαιμόνιε (daimónie) kommt als (oft ehrer­ bietige) Anrede schon bei Homer vor, abgeleitet von δαίμων (daímōn). Ein „Daimon“ ist ein göttliches Wesen, bei Homer und in der frühgrie­ chischen Lyrik ein Wort zur Bezeichnung einer Gottheit, oft wird damit auch ein höheres Wesen bezeichnet, das einen Menschen in seinem Leben zu begleiten und Einfluss auf den Gang seines Schicksals zu neh­ men scheint (ein wenig in der Art eines Schutzengels). Das Adjektiv δαιμόνιος (daimónios) bedeutet von daher sowohl „nach Art eines Dai­ mon“, „göttlich“, als auch „von einem Daimon, von einer höheren Macht herrührend“, „wundersam“, „wunderbar“. Bei Platon wird dann jedoch in Ausdifferenzierung dieser theologischen Tradition im Sympo­ sion (202d/e) zwischen Göttern im engeren Sinne (θεοί theoí) und Dai­ mones differenziert, letztere werden dabei als Mittler zwischen Gott und Mensch bezeichnet. Aller Umgang zwischen Gott und Mensch geschehe durch Daimones (203a), und wer sich darauf verstehe, sei ein „daimoni­ scher Mann“ (δαιμόνιος ἀνήρ daimónios anēr). Sokrates wiederum – dies gilt sowohl für den historischen wie für den Platonischen Sokrates – berichtet von sich, dass eine göttliche Stimme, die er als δαιμόνιον (daimónion) bezeichnet, ihn nicht selten davon abhalte, wenn er sich anschicke, etwas Falsches zu tun (Apologie 40a; vgl. z. B. auch Euthy­

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phron 3b und Theaitet 151a; Xenophon, Memorabilia 1, 1,2; der Ankla­ gepunkt aus dem Prozess, dass Sokrates neue Götter einführe, hatte nicht zuletzt auf missgünstiger Interpretation dieser Angaben des Sokra­ tes beruht).50 Wenn Platon an dieser wichtigen Stelle, wo Kriton seinen entscheid­ enden Anlauf beginnt, Sokrates zur Flucht zu überreden, Kriton den Sokrates mit diesem Adjektiv anreden lässt, dann kann man das sowohl im Sinne der bis auf Homer zurückgehenden Tradition als eine respekt­ volle und Bewunderung ausdrückende Anrede verstehen als auch, ent­ weder zugleich oder alternativ, als eine die Schicksalhaftigkeit des Moments hervorhebende.51 Man kann also durchaus idiomatisch mit „mein teurer Sokrates“, „lieber Sokrates“ übersetzen, das entspricht Kontext und Redesituation. Sokrates hat aber gerade eben von seinem Traum berichtet, den er offenkundig als Eingebung eines höheren Wesens ansieht, dem er mehr vertraut hinsichtlich des Termins seines Todes als menschlichen Wahrscheinlichkeiten. Und damit ist zugleich naheliegend, dass Platon möchte, dass der mit seiner Philosophie schon ein wenig vertraute Leser hier das Adjektiv ähnlich dem Gebrauch im Symposion als „den Daimones nahestehend“, „sich auf die Zwischen­ welt zwischen Gott und Mensch verstehend“ auffasst, womit zugleich auf Sokrates’ göttliche Stimme, sein „Daimonion“ angespielt wäre, das ja auch Ausdruck dieser besonderen Nähe zu einem höheren Wesen ist.52 Aus diesem Grund ist hier die ungewöhnliche Übersetzung „Mann des Daimonion“ gewählt. 44b/c Kritons an Sokrates gerichtete Argumente hier sind: durch deinen Tod werden ich und andere eines guten Freundes beraubt. Und man wird uns 50

Heitsch (2002), 163 (zu Apologie 40a2–c4) hebt hervor, dass die Stelle von „einer unbeirr­ ten Gläubigkeit“ des Sokrates gemäß Platons Darstellung zeugt. Während Long (2009), 68, betont, dass für Sokrates Religiosität und Rationalität nicht im Gegensatz stehen, und sich (73) eine Art Verifikationsprozess denkt, durch den sich Sokrates im Laufe seines Lebens davon über­ zeugen konnte, dass die Warnungen seines Daimonions immer zum Guten und Richtigen rieten, weist Bussanich (2006), 207, darauf hin, dass Sokrates nie zu beweisen versucht, dass das Gött­ liche gut ist, sondern diese Überzeugung seinen Überlegungen jeweils zugrunde legt. Das ist eine wichtige Beobachtung, weil die Gutheit Gottes im Sinne der Platonischen Tradition nicht beweis­ bar ist, sondern vielmehr die letzte und höchste Voraussetzung, die man bei jedem Beweis voraus­ setzen muss, weil die Gültigkeit des Widerspruchsaxioms nur durch sie zu gewährleisten ist. 51 Long (2006), 72 f., hebt richtig hervor, dass in der im Griechischen seit Homer verbreiteten Verwendung des Wortes δαιμόνιος „as a polite term of address“ durchaus zum Ausdruck kommt, dass Verbindung zum Göttlichen nicht als Zeichen von Irrationalität gilt. 52 So versteht schon Büttner (2000), 336 f., die Stelle.

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nachsagen, wir seien zu geizig gewesen, dich zu retten. Aus letzterem Argument ist klar zu entnehmen, dass es allgemein bekannt war, dass man durch Bestechung aus der „Todeszelle“ entkommen konnte. Kriton stellt es hier sogar so dar, als werde quasi allgemein erwartet, dass So­ krates sich der Hinrichtung entziehen werde. Unterbleibe dies, so werde man auf Nachlässigkeit oder Geiz seitens seiner Freunde schließen. Selbst wenn das, wie manches, was Kriton hier sagt, rhetorisch über­ zeichnet ist, so bleibt, dass sich offenbar zumindest niemand wundern würde, dass es möglich ist, sich durch Bestechung der Strafverfolgung durch den athenischen Staat zu entziehen. Verschärfend kommt aus Sicht Kritons hinzu, dass allgemein bekannt, war, dass Kriton sehr wohlhabend war, so dass von ihm erst recht erwartet würde, seine Mittel für die Rettung seines alten Freundes Sokrates einzusetzen (was freilich nicht heißt, dass eine solche Tat für Kriton so folgenlos und ungefährlich wäre, wie er es hier darstellt; seine und Sokrates’ Feinde würden mit Leichtigkeit für eine scharfe Bestrafung gesorgt haben). 44d2 Gerade die gegenwärtigen Umstände … wenn einer bei ihnen verleumdet ist Kriton fasst hier die Vorgänge in und um Sokrates’ Prozess aus seiner Perspektive zusammen. Er sieht das gegen Sokrates ergangene Urteil als Beweis an, dass man die Meinung der Leute nicht in der Weise ignorie­ ren könne, wie Sokrates das zu tun pflege und auch andere dazu anhalte. Durch dieses Verhalten sei es anderen leichtgemacht worden, Sokrates bei der Bevölkerung negativ darzustellen und zu verleumden. Man muss sich dazu erinnern, dass die athenischen Gerichtshöfe nur aus normalen Bürgern bestanden, die durch Los zu Laienrichtern bestimmt waren. Die Verhandlung wurde nicht durch einen Berufsrichter geleitet (solche gab es vielmehr gar nicht), und die Richter stimmten nach zweimaligem Vortrag der Parteien ohne Aussprache ab. Dem Prozesstag vorausge­ hende Beeinflussung der Volksmeinung konnte daher im Falle eines „prominenten“ Angeklagten noch größere Wirkung entfalten als heutzu­ tage. Zugleich ist aber festzuhalten, dass Kriton hier nicht von der Sache und ihrer Richtigkeit her argumentiert, sondern – beeindruckt von der Wirkung, die die falschen Meinungen „der Leute“, wie sie sich in dem Fehlurteil der Laienrichter gegen Sokrates ausgedrückt haben, auf die irdischen Lebensmöglichkeiten seines Freundes gewonnen haben – von dem her, was die Leute denken werden. Dies wird Sokrates jetzt sofort und auch in seiner großen Gegenrede ab 46b1 nicht nur inhaltlich, son­ dern vor allem unter methodischen Hinsichten deutlich kritisieren.

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44d5 Nun sind sie aber zu beidem nicht in der Lage Sokrates zeigt sich von den aktuellen Ereignissen unbeeindruckt und bleibt bei seiner Auffassung, dass die Meinung „der Leute“ nicht beach­ tenswert ist, wenn sie nicht richtig ist, und dass man auch keinen großen Respekt vor der Meinung der Leute haben muss. Er bestreitet, dass „die Leute“ im Guten oder im Schlechten große Wirkung ausüben. Vielmehr sei das von ihnen Bewirkte letztlich irrelevant. Tatsächlich kann man gerade den von Kriton angeführten Prozess des Sokrates auch ganz anders interpretieren. Wenn es einer kleinen Gruppe von Intriganten um Meletos, Anytos und Lykon (die Namen erfahren wir aus Apologie 23e u. ö.) relativ leicht gelingen konnte, die athenische Öffentlichkeit zu manipulieren, so dass sie Sokrates’ Philosophie mit den Positionen man­ cher Sophisten und deren Vorgehen und Absichten gleichsetzte, dann zeigt dies nicht die Gefährlichkeit der Masse, sondern die der Demago­ gie und des Demagogen. In jedem Fall insistiert Sokrates demgegenüber auf der Autarkie des Denkenden hinsichtlich des guten Lebens im Sinne eines am Guten orientierten Lebens. Das physische Leben können andere dem Sokrates nehmen, die Orientierung am Logos könnte er nur durch eigene Fehler verlieren. 44d8 Denn sie vermögen einen weder vernünftig noch unvernünftig zu machen Zugleich gibt Sokrates aber auch einen versteckten Hinweis darauf, was in seinen Augen ein großes Gut ist. Während Kriton bei seiner Argu­ mentation als selbstverständliche Prämisse setzt, dass der Erhalt des physischen Lebens ein großes Gut ist, und aus Sokrates’ Prozess ent­ nimmt, dass die Meinung der Leute jemanden ums Leben bringen kann, woraus er die Bedeutung und Gefährlichkeit der Meinung der Leute ableitet, argumentiert Sokrates, die Leute könnten jemanden weder ver­ nünftig noch unvernünftig machen. Sokrates fürchtet sich also mehr davor, unvernünftig zu werden als zu sterben. Da „die Leute“ ersteres nicht bewirken können, hält er ihre Meinung weiterhin per se nicht für bedeutsam.53 Dass Sokrates von der Auffassung durchdrungen ist, dass Tugend (im Sinne eines vernünftigen Verfolgens guter Ziele) das für das menschliche Leben größte Gut ist, kommt auch darin zum Ausdruck, dass er am Ende der Apologie (41e) die Richter als athenische Bürger auffordert, sich um das Wohlergehen seiner Söhne zu kümmern und 53 Penner (1997), 153 ff., arbeitet heraus, dass der Mangel an Kriterien für gut und schlecht per implicationem auch bedeutet, dass die Leute, selbst wenn sie jemandem schaden wollen, gar nicht sicher wissen, wie man das anstellt.

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dabei insbesondere darauf zu achten, dass sie nicht die Sorge um Geld oder irgendetwas anderes für wichtiger halten als die Sorge um die Tugend. 44e1 Machst du dir etwa Sorgen Kriton weiß natürlich, dass Sokrates gut argumentieren kann. Er ver­ sucht jetzt festzustellen, ob sich hinter Sokrates’ Ablehnung seines Vor­ schlags womöglich andere altruistische Motive verbergen, die Sokrates nicht ausspricht.54 Denn natürlich ist es nicht ohne Risiko, Sokrates aus dem Gefängnis herauszuholen. Es wird dabei zumindest die Bestoche­ nen als Mitwisser geben, und es ist auch nicht schwer zu erraten, wer die möglichen Betreiber der Sache gewesen sind, denn es ist ja allge­ mein bekannt, wer Sokrates’ Freunde sind (das hat Kriton selbst zugege­ ben, wenn er eben argumentiert hat, wenn Sokrates sich nicht rette, werde man ihm und Sokrates’ anderen Freunden Vorwürfe machen). Da nicht alle zusammen mit Sokrates außer Landes gehen können, entstün­ den Gefahren für die in Athen Bleibenden, die vielleicht mit noch weite­ rem Geldaufwand vermeidbar wären, es könnte aber auch zu Anklagen kommen. Das Denunziantentum (genauer: Sykophantentum, vgl. das folgende Lemma) blühte ja in Athen. Kriton möchte aber nicht, dass Sokrates aus solchen Gründen eine Rettung ausschlägt. Sokrates entgeg­ net ihm – verdeckt in der Rede, die vorgeblich die athenischen Gesetze ihm, dem Sokrates halten, welche aber in Wahrheit seine Argumente gegen Kritons Vorschlag darbieten – (53a8 ff.), dass es selbstverständ­ lich nicht wahr ist, dass man sich um Kriton und andere keine Sorgen machen müsste, wenn Sokrates aus dem Gefängnis entkäme. Denn da bekannt ist, dass Sokrates nicht über die nötigen Mittel verfügt, um so etwas ins Werk zu setzen, würde sofort nach Mittätern gesucht und der Verdacht fiele sehr schnell auf die Richtigen. Im Blick auf Kriton und dessen Argumentation bezieht Sokrates also die Argumente und die Denkweise „der Leute“ durchaus ein, für seine eigene Entscheidung bleiben solche Überlegungen aber sekundär. Denn durch eine Missach­ tung dessen, was „eigentlich“ richtig und wahr ist, der Meinung „der Leute“ wegen, würde Sokrates sich genau dem annähern, was in der athenischen Rechts- und Verfassungspraxis aus seiner Sicht zu kritisie­ ren ist (Kriton hat dadurch, dass er den Wächter dazu bewogen hat, ihn unerlaubterweise vor der Zeit hereinzulassen, vgl. 43a7, schon einen 54 Alternativ könnte man annehmen, dass Kriton sich in Kenntnis von Sokrates’ rhetorischem Vermögen und der Kraft seiner Argumente ein Feld sucht, auf das er sich vorbereitet hat und in dem er rhetorisch zu bestehen hofft.

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unguten ersten Schritt in diese Richtung getan, den Sokrates aber igno­ riert). 44e3 Sykophanten Der Begriff „Sykophant“, der in Athen verwendet wurde, entspricht moralisch und in der Wirkung einigermaßen unserem Denunzianten. Der Unterschied ist, dass in modernen Staaten normalerweise eine Poli­ zei und eine Staatsanwaltschaft bestehen, die von Amts wegen tätig wer­ den, so dass – gegebenenfalls auch anonyme – verleumderische Hin­ weise genügen, um jemanden juristisch in Schwierigkeiten zu bringen, während in Athen der Sykophant meist selbst als Ankläger auftritt (nicht selten als Strohmann für interessierte Auftraggeber, die ihn bezahlen, um selbst im Hintergrund bleiben zu können). Der Grund für die Blüte des Sykophantenwesens in Athen lag in Mängeln der Rechtspflege. Es gab keine Berufsrichter, nicht einmal Berufsjuristen; die aus hunderten von für den Tag bestimmten Laienrichtern zusammengesetzten Gerichte urteilten ohne Aussprache aufgrund rhetorisch gestalteter Parteienvor­ träge. Das Verfahren fand an einem einzigen Tag statt (den dadurch ent­ stehenden Zeitmangel moniert Sokrates in der Apologie 37a/b unter Ver­ weis auf Staatswesen, die das anders handhaben).55 Es gab keine Beru­ fungs- oder Revisionsinstanz. Es gab ferner keine Staatsanwaltschaft und keine Beweissicherung von Staats wegen. Über die Fakten konnte mithin beliebig gestritten werden. Selbst Verbrechen wie Mord wurden nicht von Staats wegen verfolgt, sondern waren als Privatklage des/der Geschädigten geltend zu machen. Ein Mord an einem Opfer ohne Ange­ hörige konnte in Ermangelung eines geschädigten Klägers daher sogar straffrei bleiben. Es gab freilich andere Delikte, wie etwa Religionsfre­ vel (der ja zu dem gehörte, was man Sokrates vorgeworfen hatte), die als öffentliche Klage konzipiert waren. Das bedeutete aber nur, dass hier jeder athenische Bürger berufen war, als Kläger in Angelegenheiten des Staates aufzutreten (es bedurfte also, anders als bei der Privatklage, nicht des Nachweises, persönlich durch das entsprechende Verhalten geschädigt worden zu sein), von Amts wegen geschah dies, wie schon gesagt, selbst in diesen Fällen nicht. Dadurch war die Einreichung einer solchen, im Grunde voraussetzungslosen Klage in Athen ein beliebtes Mittel, um Politiker und andere öffentliche Personen in die Verbannung 55 Vgl. dazu oben, Einleitung, Abschnitt IV, und Heitsch (2002), 149 mit Anm. 310. Kurt Sier hat mich durch eine Anmerkung zu einer früheren Fassung dieses Kommentars daran erinnert, dass im Theaitet 171c ff. im Kontrast zur Muße der Philosophen die von Zeitmangel bestimmte Hektik der Gerichtsredner geschildert ist.

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zu jagen und so auszuschalten. Durch geschickte Rhetorik konnte man immer versuchen, die Richter am Prozesstag zu überzeugen. Zur Unter­ mauerung der eigenen Argumente konnte man gekaufte Zeugen anbie­ ten, die sich aber, dies machen Kritons Worte hier deutlich, für Geld ebenso leicht für eine bestimmte Aussage anwerben wie wiederum von einer solchen abhalten ließen. Sokrates’ Prozess ist nur das heute noch bekannteste Beispiel für die daraus resultierende Rechtsunsicherheit in Athen. Die Sykophanten waren so unbeliebt, dass die sogenannten 30 Tyrannen nach der Abschaffung der Demokratie in einer frühen Phase ihrer Machtausübung, offenbar um sich Popularität zu verschaffen und die neue diktatorische Staatsform als gerechter und geordneter als die Demokratie erscheinen zu lassen, die bekanntesten und berüchtigsten Sykophanten hinrichten ließen, wie Xenophon (Hellenika 2, 3,12) und Aristoteles (Athenaiōn Politeia 35, 3) berichten. 45a4 Sowohl deswegen mache ich mir Sorgen, Kriton, als auch wegen vielem anderen Wie sich im Folgenden zeigen wird, macht sich Sokrates viele Sorgen ganz anderer, grundsätzlicher Art. Kriton versteht ihn aber erst einmal dahingehend, dass es noch um weitere „Ausführungsprobleme“ geht. Kriton macht deutlich, dass vermutlich alles eine Geldfrage sein wird, auch die Sykophanten lassen sich so zum Schweigen bringen, und Geld steht ausreichend zur Verfügung. Obwohl Sokrates selbst ja nicht wohl­ habend ist, hat er also genügend solvente Freunde, um sich sozusagen komfortabel entziehen zu können. 45b4 Simmias … Kebes Beide sind uns aus dem Phaidon als Teilnehmer an dem Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele in Sokrates’ letzten Lebensstunden bekannt. Sie sind Thebaner, die sich besonders für Sokrates’ Philosophie interessieren, dabei aber durchaus kritisch mit ihm diskutieren. Hier sind sie beide auch als potentielle Spender für die Rettungsaktion genannt, wobei Simmias offenbar bereits konkrete finanzielle Vorbereitungen getroffen hat, während Kebes und andere sich anerboten haben, eben­ falls zu helfen. 45b7 wie du vor Gericht sagtest In der Apologie (37c–e) argumentiert Sokrates gegen Verbannung als eine mögliche Strafe: er sei schon den Athenern so auf die Nerven gegangen, dass sie ihn unbedingt loswerden wollten, das werde

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anderswo nicht anders sein. Und die jungen Leute würden auch anderswo auf ihn hören. Schicke er sie weg, dann würden sie im Gegen­ zug ihre Väter dazu bringen, nun wiederum ihn auszuweisen, schicke er sie nicht weg, dann würden ihn wiederum die Väter loswerden wollen, so wie jetzt auch in Athen. Das Leben eines reisenden Sophisten sei in seinem Alter ohnehin keine Freude. Kriton versucht hier demgegenüber, ein mögliches Exil in den denkbar rosigsten Farben zu malen. Die Ant­ wort gibt Sokrates 53b ff. durch das, was er die athenischen Gesetze über seine Aussichten im Exil sagen lässt. 45c2 Thessalien Das Thema „Thessalien als möglicher Ort des Exils“ wird erst 53d wie­ der aufgegriffen, an jener Stelle tritt freilich zutage, dass es in Thessa­ lien hinsichtlich individueller Ethik und staatsbürgerlicher Gesinnung wie auch der Qualität von Verfassung und Gesetzen alles andere als zum Besten steht. Generell galt Thessalien als rückständig, insbesondere kul­ turell und politisch, Thessalien hatte keine entwickelte Poliskultur, es gab dort keine Stadt vom militärischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Niveau eines Athen, Sparta oder Korinth, die als selbstverfasste politi­ sche Einheit agierte. Die Macht lag offenbar in der Hand von Groß­ grundbesitzern, die Pferdezucht und Getreideanbau in großem Stil betrieben. 45c4 keine gerechte Sache In diesem Teil seiner Rede versucht Kriton, es geradezu als das ethisch Richtige für Sokrates in dieser Situation zu erweisen, sich durch die Flucht zu retten. Er arbeitet dabei implizit mit einer Art traditioneller oder „landläufiger“ Auffassung von Ethik, gemäß der man sich den Bestrebungen seiner Feinde widersetzen muss. Sokrates’ Feinde wollen ihn umbringen und seine Söhne schutzlos dastehen lassen. Also ist es geradezu Sokrates’ Pflicht, in jeder Weise Vorkehrungen zu treffen, die dieses Vorhaben der Feinde durchkreuzen. Dies nicht zu tun, wäre ein Zeichen von Feigheit, Bequemlichkeit und mangelnder Gerechtigkeit. Was hier fehlt, sind die Gedanken, dass erstens zunächst im einzelnen zu prüfen ist, ob das von den Feinden Angestrebte tatsächlich schlecht ist und für wen wie schlecht, und zweitens bei der Abwehr der Angriffe der Feinde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist, wobei das Ergebnis der Prüfung des ersten Punkts für die Entscheidung, wie weit man bei der Abwehr gehen darf, in Anschlag zu bringen ist. Die von Kriton hier implizit vorausgesetzte Haltung lässt Platon in der Politeia (331e ff.) den Polemarchos unter Berufung auf den Dichter

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Simonides vertreten.56 Danach soll Gerechtigkeit darin bestehen, jedem das Geschuldete zu geben, was so ausgelegt wird, dass man gerechter­ weise den Freunden Gutes und den Feindes Schlechtes (332b) schulde. Demgegenüber macht Sokrates im Folgenden in der Politeia (335b ff.) klar, dass der Gerechte niemandem schadet, auch nicht seinem Feind, ja selbst nicht dem Ungerechten, weil er generell immer nur tut, was gut und gerecht ist. Für den Kontext hier im Kriton bedeutet das der Impli­ kation nach, dass man sich den Bestrebungen seiner Feinde nicht mit jedem Mittel erwehren darf und dass man seine Freunde nur im Rahmen dessen, was gerecht ist, und nur, insoweit sie Gerechtes beabsichtigen, unterstützen darf. 45d1 deine eigenen Söhne zu verraten Seine drei Söhne, von denen zumindest zwei noch Kinder waren und der dritte auch noch nicht erwachsen (Apologie 34d),57 hatte Sokrates schon am Ende der Apologie (41e) der Fürsorglichkeit der Athener anbefohlen. Auch hier lässt er sich von diesem Argument Kritons nicht umstimmen. Daraus ist natürlich nicht abzuleiten, nach Sokrates, oder: gemäß dem Platonischen Sokrates, oder: nach Platon, habe man sich nicht um seine Kinder zu kümmern. Platon schreibt gerade in der Absicht Dialoge, dass alle in ihnen vorkommenden Thesen und Gedan­ ken in einem bestimmten Kontext geäußert sind, aus dem man sie nicht ohne Vorsicht herauslösen darf. In Kriton und Apologie ist nicht allge­ mein davon gehandelt, ob man sich um seine Kinder kümmern soll, son­ dern Sokrates befindet sich in einer Lage, in der ihm diese Möglichkeit durch Dritte genommen ist, es sei denn, er würde sich Recht und Gesetz widersetzen. Der Sokrates, den uns Platon hier darstellt, fasst also die Fürsorge für seine Söhne lediglich nicht als eine alles andere (ein­ schließlich der Frage der Gerechtigkeit eigenen Handelns) überragende Pflicht auf.58 Sokrates sieht sich für sein Tun in der athenischen Öffentlichkeit mit einem Auftrag Apollons versehen, wie er in der Apologie (21a–23c und 37e3–38a1) erklärt.59 Um einen vielleicht etwas entfernten Vergleich zu bemühen: so wie apollinische Seher wie Teiresias und noch mehr Kas­ sandra im menschlichen Leben von ihrer Sehergabe nicht nur keinen 56

Die Parallele zur Politeia arbeitet auch Kahn (1996), 91, heraus. Vgl. dazu den Kommentar von Burnet zu Apologie 34d6. 58 Dies ist sehr differenziert dargestellt und in seinen philosophischen Implikationen durch­ dacht bei Neufeld (2003). 59 Der göttliche Auftrag klar herausgearbeitet bei Heitsch (2002), 152 (zu Apologie 37e3– 38b6). Vgl. ferner Bussanich (2006), 200 ff. 57

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Vorteil haben, sondern im Gegenteil immer wieder auf negative Reak­ tionen stoßen – entweder ist die Wahrheit, die sie verkünden, unwill­ kommen, oder es glaubt ihnen keiner –, so scheint auch die Aussage des pythischen Orakels, Sokrates sei der weiseste Mensch, ihm nach norma­ len menschlichen Begriffen nicht gerade genützt zu haben. Jedenfalls machte ihn die Entlarvung des menschlichen Nichtwissens ebensowenig beliebt wie die Seherkunst den Teiresias oder Kassandra. Sokrates bringt aber klar zum Ausdruck, dass er Apollon gegenüber gleichsam eine Ver­ pflichtung empfindet, dem Sinn der ihm unverständlichen Behauptung nachzugehen, die die Pythia, die Priesterin des delphischen Orakels geäußert hat, dass nämlich er, Sokrates, der Weiseste sei. Dabei gelangt er zu der Auffassung, dies könne nur darin bestehen, dass er die engen Grenzen seines Wissens klarer erkenne als andere die ihren. Und zur konsequenten Anerkennung seines eigenen Nichtwissens, die ihn gemäß seiner Deutung des pythischen Spruchs von den anderen Menschen unterscheidet, gehört eben auch, dass Sokrates weiß, dass er in einem radikalen Sinn nicht weiß, was nach dem Tode sein wird. Alle die, die – wie es ja menschlich ist – den Tod als größtes Übel fürchten und alles tun, um ihn solange wie möglich zu vermeiden, verhalten sich aber, als wüssten sie, dass der Tod das größte Übel ist. Sokrates hält das für falsch, und sein Verhalten in seinem Prozess wie auch jetzt hinterher zeigt, dass dies nicht nur im Sinne einer intellektuellen Argumentation gemeint ist, sondern tatsächlich Sokrates’ Denken und Empfinden so stark bestimmt, dass er verglichen mit den meisten Menschen eine erstaunliche Furchtlosigkeit vor dem Tode zeigt (in der Apologie, 37b, sagt er in seiner zweiten Rede, nach der Verurteilung, als es um das Strafmaß geht, von der durch die Ankläger beantragten Todesstrafe wisse er, anders als bei anderen möglichen Strafen, nicht, ob sie etwas Gutes oder etwas Schlechtes sei). Hier im Kriton ist nicht mehr und nicht weniger dargelegt als, warum Sokrates als der, der er ist und auch sein zu sollen meint, trotz der entste­ henden Nachteile nicht aus dem Gefängnis flieht, um sich der Hinrich­ tung zu entziehen. Dass es gar keine vorstellbaren Umstände geben könnte, unter denen er oder ein anderer dies tun dürfte oder womöglich sogar sollte, ist nicht dargelegt. Es handelt sich um eine Güterabwägung gemäß dem vorliegenden Fall. Man könnte meinen, ein wichtiger Faktor für die anstehende Entschei­ dung könne sein, dass man Nachteile für sich selber weit eher in Kauf nehmen dürfe als für andere, insbesondere für einem nahestehende Andere. Auch Kriton scheint sich einer solchen Prämisse hier versteckt zu bedienen. Das Argument gilt aber im Sinne Platons (vgl. Politeia 443d–444a) und auch des Aristoteles (s. z. B. Nikomachische Ethik 9, 8

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1168a28 ff.) nicht uneingeschränkt, weil man auch sich selber Freund sein muss und insofern eigene Nachteile durchaus auch in Rechnung stellen darf (nur darf man sie nicht höher veranschlagen als fremde). Auch Dinge wie eine Fürsorgepflicht gegenüber Kindern sind durchaus zu berücksichtigen, man muss aber abwägen, was wie viel Gewicht hat. In seiner Entgegnung im Rahmen der Rede der athenischen Gesetze sagt Sokrates entsprechend auch keineswegs, dass es kein Nachteil für seine Söhne sei, ihn jetzt zu verlieren. Vielmehr argumentiert er Kriton gegenüber (der Fiktion nach argumentieren die Gesetze dem Sokrates gegenüber), dass es nicht gut wäre, seine Söhne ins Exil mitzunehmen. Bleiben sie aber in Athen, dann nützt er ihnen als ein nach gesetzwidri­ ger Flucht im Ausland Lebender nicht wirklich mehr denn als ein in Athen zu Unrecht Hingerichteter, in jedem Fall werden sich seine Ver­ wandten und Freunde um sie kümmern müssen, und ein gewisser Scha­ den für seine Kinder ist kaum vermeidlich, diesen haben aber die Athe­ ner zu verantworten und nicht Sokrates. 45d8 Wie jedenfalls ich mich sowohl für dich als auch für uns … schäme Kritons Argument ist an dieser Stelle, dass Dritte vermutlich schwächli­ che Unentschlossenheit und Unfähigkeit, mangelnden Mut und andere negative Eigenschaften diagnostizieren würden, wenn sie hörten, dass Sokrates’ Freunde tatenlos zugesehen hätten, wie er vom athenischen Staate zu Unrecht hingerichtet wurde, obwohl es doch Möglichkeiten gegeben hätte, das zu verhindern. Sokrates antwortet darauf 49d2–4, (nachdem er dargelegt hat, dass man niemals Unrecht tun darf und nie­ mals jemanden schädigen, auch nicht zur Abwehr von Unrecht und Schädigung gegenüber dem Schädigenden), indem er sagt, dass die, die diesem Prinzip zustimmen, und die, die es nicht tun, sich wechselseitig verachten müssen, wenn sie die Pläne der jeweils anderen sehen. Wenn die einzige Möglichkeit zur Abwehr eines Unrechts darin liegt, selbst Unrecht zu tun, werden die, die wie Sokrates das Unrechttun generell vermeiden, lieber das Unrecht erleiden, ohne sich weiter zu wehren, sie werden dadurch aber denen, die diesen Grundsatz nicht teilen, notge­ drungen als feige, schwächlich und unentschlossen erscheinen. Und des­ halb sticht Kritons hier vorgetragenes Argument eben nicht, wenn – wovon Sokrates überzeugt ist und Kriton letztlich auch – der Grundsatz wahr und richtig ist, dass es kein größeres Übel gibt als Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit und man diese und alles, was bei einem selbst oder anderen zu ihr hinführt, konsequent meiden muss. Kriton argumentiert hier also rein mit dem Eindruck, den Außenste­

46b1–54d1 Sokrates’ Entgegnung

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hende gewinnen könnten. Es ist aber dennoch in anderer Hinsicht inte­ ressant, was er hier vorbringt, denn er spricht über die Vorgeschichte vom Anfang des Prozesses bis jetzt. Im Rückblick lässt sich sagen, dass man es niemals hätte so weit kommen lassen dürfen. Sokrates hätte sich entweder vor dem Prozess oder auch noch während des Prozesses in Sicherheit bringen sollen, findet Kriton (es war ja in Athen, wie schon erwähnt, erlaubt, sogar noch während eines Prozesses vor dem Schuld­ spruch ins Exil zu gehen, wenn der Prozessverlauf ungünstig war), und dies hätte Sokrates’ Anklägern gewiss genügt. Und da Sokrates für einen solchen Schritt allein schon aus finanziellen Gründen die Unter­ stützung wohlhabender Freunde wie etwa Kritons benötigt hätte, kann eben, so suggeriert Kriton, leicht der Eindruck entstehen, dass seine Freunde sich nicht genügend für ihn eingesetzt, sondern tatenlos zugese­ hen hätten, wie er zu Tode gebracht wurde. 46a4 f. für das Überlegen ist jetzt nicht mehr die Stunde Aufgrund der Umstände kann die Flucht nur noch in der sich gerade dem Ende zuneigenden Nacht gelingen. Kriton unternimmt seinen Über­ redungsversuch also in dem Moment, in dem Sokrates wissen muss, dass es keine zweite Gelegenheit zum Nachdenken gibt, keine Möglich­ keit, die jetzige Entscheidung später zu korrigieren. Der Fluchtplan kann nur entweder jetzt durchgeführt werden, oder es ist zu spät. Unter prakti­ schen Gesichtspunkten ist dies also nicht mehr der Zeitpunkt zum Über­ legen und Räsonieren. Sokrates erweist sich gegenüber diesem Argu­ ment aber als taub, er lässt sich nicht von den Umständen zum Handeln drängen, solange nicht geklärt ist, ob dieses Handeln auch gerecht und gut ist.

46b1–54d1 Sokrates’ Entgegnung Sokrates widerspricht im folgenden seinem Freund nicht nur inhaltlich, er korrigiert ihn vor allem methodisch. Sokrates akzeptiert das von Kri­ ton angewendete rhetorische60 Verfahren nicht, für ein willkürlich 60 „Rhetorisch“ ist hier gebraucht, um die Art der Beweisführung als nicht wissenschaftlich zu kennzeichnen. Der Hintergrund hierzu ist Platons Begriff von „Denken“, der sich von dem Descartes’ oder Kants grundlegend unterscheidet; vgl. dazu Schmitt (2003), 100 ff., 178 ff. u. 207 ff. Platonisch geht es beim Denken nicht primär um das kontrollierte Operieren mit dem Bewusstsein Gegebenem, sondern um das Erkennen von etwas, das als solches in dem von der Sinnlichkeit Erkannten in keiner Weise gegeben ist, sondern nur durch eine dimensional andere Art von geistigem Akt erkannt werden kann; und bezogen auf das praktische Erkennen ergibt sich

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gewähltes Ziel passende Argumente zu suchen, er besteht vielmehr darauf, dass auch in einer Extremsituation dem Logos zu folgen ist. Zuerst muss in Ruhe festgestellt werden, was das Gute und Gerechte in der vorliegenden Situation ist. Dazu ist zu ermitteln, welche allgemei­ nen Erkenntnisse auf die Situation anzuwenden sind. Dabei erweisen sich die von Kriton vorgebrachten Argumente als Sekundärargumente, die allenfalls verfangen würden, wenn unter Gerechtigkeitsgesichts­ punkten mehrere Handlungsweisen als akzeptabel erschienen, aber da sich zeigen lässt, dass es ungerecht wäre, wenn Sokrates das Gefängnis verlässt, und da Sokrates und Kriton sich schon bisher einig waren, dass man kein Unrecht begehen darf, auch nicht, wenn man Unrecht erlitten hat, und da Kriton nicht plausibel machen kann, warum diese Einsicht jetzt weniger Gültigkeit haben soll als früher, muss es bei dem Ergebnis bleiben, dass Sokrates die ihm von Kriton eröffnete Chance zur Flucht nicht nutzen darf. Es geht hier also nicht um eine ohne Würdigung der Umstände zu befolgende Maxime, sondern die Prüfung des Einzelfalls ergibt, dass keine Gründe vorliegen, die es rechtfertigen würden, sich der Urteilsvollstreckung zu entziehen. Sokrates’ Entgegnung besteht aus drei Teilen. In Teil 1 (46b1–48b10) legt Sokrates dar, dass Kriton bei seinem eifrigen Versuch, ihn zur Flucht zu überreden, methodisch falsch vorgegangen ist. Er ist einfach davon ausgegangen, dass Sokrates weiterleben muss, und hat dann Argumente jeglicher Art für diese These gesucht. Sokrates insistiert demgegenüber auf einer freien61 Anwendung des Denkens. Es muss also

daraus der sehr bedeutsame Unterschied, dass das Denken vor allem zum Erkennen des richtigen Ziels einzusetzen ist und nur nachrangig zum Finden der Mittel zum Erreichen des Ziels. Ein Ver­ brecher, der seine ungerechten Ziele mit äußerster Schläue erreicht, verhält sich im Sinne Platons nicht rational, seine Raffinesse ist eine Scheinrationalität, in Wahrheit dient sein Denken als Sklave seinen verbrecherischen Begierden. Und in milderer Form ist auch bei dem, der für belie­ bige Wünsche, die seine Begehrlichkeit oder sein Ehrstreben (etc.) hervorbringen, dann in rheto­ rischer Weise scheinbar rationale Begründungen sucht, das Denkvermögen nicht frei tätig, so dass er leicht gerade dadurch, dass er ein falsch gewähltes Ziel geschickt erreicht, das gute Leben für sich verfehlen kann. Genau das wäre, davon ist Sokrates überzeugt, für ihn selbst wie für seine Familie, aber auch für seine Freunde einschließlich Kriton das Resultat, wenn er Kritons Vor­ schlag folgen würde, sich der Verurteilung durch Flucht aus dem Gefängnis zu entziehen. 61 „Frei“ ist hier im Sinne eines Platonischen Begriffs von „freiem Denken“ gemeint, nicht im Sinne eines voraussetzungslosen Denkens, ein solches kann es im Sinne Platons gar nicht geben, zumindest nicht, wenn man einen strengen Begriff von Denken verwendet, bei dem Denken und Vorstellen klar geschieden sind. Frei ist in dieser Sicht ein Denken, dass die menschlichen Erkenntnisvermögen so verwendet, wie sie ihren Fähigkeiten gemäß verwendet werden sollen, also zum Beispiel die Frage des langfristig für jemanden Guten nicht mithilfe der Wahrnehmung, die nur momentan und kurzfristig erkennt und daraus resultierende Lust und Unlust erzeugt, zu klären versucht. Unfrei wäre beispielsweise umgekehrt jemand, der eigentlich weiß, dass ein Ver­

46b1–54d1 Sokrates’ Entgegnung

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in einem dialektischen Gespräch methodisch sauber erst geprüft werden, welches Allgemeine als Prüfkriterium anzulegen ist, um zu entscheiden, wie man jetzt handeln soll, und dann muss im zweiten Schritt festgestellt werden, was sich daraus für die Richtigkeit und Billigkeit von Kritons Fluchtplan ergibt. Sokrates und Kriton haben in der Vergangenheit immer gemeinsam das Ziel des guten Lebens als eigentlichen Hand­ lungsmaßstab angesehen. In Teil 2 (48b11–49e8) entwickelt Sokrates eine Implikation dieser allgemeinen Überzeugung, die für das jetzt zu Diskutierende besonders relevant ist: dass man kein Unrecht tun darf, bedeutet auch, dass man es nicht tun darf, wenn man selbst Unrecht erleidet oder erlitten hat, und niemanden schädigen darf, selbst wenn man von ihm geschädigt worden ist oder wird. Im ausführlichsten Teil 3 (49e9–54d1) demonstriert Sokrates dann, dass eine Flucht aus dem Gefängnis gegen diesen von Kriton geteilten Grundsatz verstoßen würde. Um deutlich zu machen, dass es bei der Frage, ob man mit einem Tun ein Unrecht begeht, nicht immer um konkrete, vorab benennbare Einzelpersonen als Geschädigte geht, lässt Sokrates dabei ab 50a6 die Gesetze Athens selbst als Redner gegen sich antreten und darlegen, wie sie von Sokrates’ geplantem Tun geschädigt würden. Die Gesetze legen dar, dass Sokrates freiwillig athenischer Staatsbürger ist, dass er zudem legal die Möglichkeit gehabt hätte, auf Gesetzesänderungen zu drängen, wenn ihm etwas an ihnen missfallen hätte, dass er ferner vor dem Pro­ zess und während des Verfahrens nach attischem Recht freiwillig hätte ins Exil gehen können, dass es also auch legale Möglichkeiten gegeben hätte, sein Leben zu retten, dass diese jetzt aber nicht mehr bestehen und nunmehr gelten muss, dass es ein rechtskräftiges Urteil gibt, das voll­ streckt werden muss, wenn Recht und Gesetz nicht der Willkür und Beliebigkeit übereignet werden sollen.62 Am Ende widerlegen die Gesetze auch noch Kritons Opportunitätsargumente, gemäß denen ein Weiterleben für Sokrates besser wäre, um seiner selbst oder seiner Söhne willen.

halten, das ihm kurzfristig Wahrnehmungslust einbringt, langfristig schweren Schaden zufügen wird, in der konkreten einzelnen Situation aber immer falsch entscheidet und die schnelle Wahr­ nehmungslust wählt. „Frei“ bedeutet hier also nicht, „frei von jeglicher einschränkenden Voraus­ setzung“, sondern „die Erkenntnisvermögen frei von sachwidrigen Einschränkungen gebrauchend und damit auch in einem positiven Sinne frei“ (nicht nur im Sinne einer Freiheit von etwas, son­ dern auch im Sinne freier Entfaltung des in einem selbst Angelegten); vgl. zu dem auf Platon zurückgehenden Begriff von „frei“ und den darauf zurückgehenden „Freien Künsten“ (artes libe­ rales) Schmitt (2003), 232 ff. 62 Vgl. oben, Einleitung, Abschnitt IV.

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46b1–48b10 Widerlegung Kritons: Teil 1 In Teil 1 (46b1–48b10) legt Sokrates dar, dass Kriton bei seinem eifri­ gen Versuch, ihn zur Flucht zu überreden, methodisch falsch vorgegan­ gen ist. Er hat nämlich das Ergebnis, dass Sokrates überleben und also aus dem Gefängnis gerettet werden muss, bevor er hingerichtet wird, ohne nähere Prüfung als richtig angenommen (basierend auf der plau­ siblen, von Kriton nur halb explizit gemachten Voraussetzung, dass das Urteil gegen ihn ja ein Fehlurteil ist) und dann rhetorisch Argumente gesammelt und vorgetragen, die in irgendeiner Hinsicht für einen sol­ chen Plan sprechen. Sokrates folgt aber immer dem Denken und insis­ tiert deshalb methodisch darauf, dass man Einzelfragen nur entscheiden kann, wenn man in Ruhe erwogen hat, welchem Allgemeinen sie zuzu­ ordnen sind. Er kann dabei darauf verweisen, dass Kriton selbst in frü­ heren Gesprächen hierin mit ihm übereingestimmt hatte, so dass er selbst zugeben müsste, dass sein Plan nicht gut ist, wenn nachgewiesen werden kann, dass er gegen Wahrheiten verstößt, die Sokrates und Kri­ ton gemeinsam erkannt hatten, es sei denn Kriton wollte behaupten, seine allgemeinen Auffassungen darüber, was man tun darf und was nicht, hätten sich geändert. Sokrates besteht also methodisch auf der Führung eines dialektischen Gesprächs, in dem man gemeinsam ent­ scheidet, was der Betrachtung als richtig zugrunde gelegt wird und dann davon ausgehend gemeinsam prüft, was sich daraus für das in Rede Ste­ hende ergibt. Er erinnert Kriton daran, dass sie immer gemeinsam als letztes Ziel, an dem man seine Entscheidungen ausrichtet, das gute Leben angesehen haben, und dass dieses mit dem gerechten Leben iden­ tisch ist. In der Sprache der Politeia formuliert: Sokrates erweist sich hier als aristokratischer Mensch, also als jemand, in dessen Seele immer das Denken die Führung innehat, während Kriton unter der Einwirkung der zugespitzten Situation hier sein Denken seinem Thymosbereich (also dem Teil der Seele, der sich unter Ehrgesichtspunkten mit Recht und Unrecht befasst) unterstellt hat. Welches Seelenvermögen in einer Seele die Führung innehat, erkennt man normalerweise daran, welches Handlungsziel jemand aus welchen Gründen und auf welche Weise ver­ folgt und wobei er Lust und wobei Unlust verspürt.63 Auf den Thymos­ bereich weist bei Kritons Verhalten einmal der „Eifer“, mit dem er agiert, hin (wie Sokrates gleich sagen wird, s. das folgende Lemma), fer­ ner die Tatsache, dass sich Kriton (durchaus nicht ganz unberechtigt,

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Vgl. hierzu auch den Kommentar unten zu 47d4 f.

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aber eben mit durch den zornigen Eifer verengtem Blick) wegen eines von seinem Freund erlittenen Unrechts ereifert, und drittens, dass er mehrfach darauf verweist, was denn die Leute sagen oder denken wür­ den, wenn Sokrates’ Freunde jetzt nichts unternähmen, Ehrverlust ist ja für den Thymos die wichtigste Quelle von Unlust.64 46b1 f. dein Eifer ist sehr wertvoll, wenn er denn irgendeine Richtig­ keit besitzt Sokrates signalisiert gleich durch seinen Eröffnungssatz Zweifel, ob Kritons eifrig vorgetragener Vorschlag gut und richtig ist. Kriton wie auch der Leser ahnen, dass die von Sokrates in Angriff genommene Prü­ fung ergeben wird, dass es nicht richtig wäre, wenn er sich jetzt durch Bestechung im letzten Moment der Strafe entzöge. Platon nutzt aber die schicksalhafte Entscheidung, vor die Kriton Sokrates stellt, um Sokrates nicht nur inhaltlich darlegen zu lassen, warum er nicht fliehen sollte, sondern um zugleich den methodischen Gesichtspunkt herauszuarbei­ ten, wie man in einer komplexen Situation rational entscheidet, was man tun oder nicht tun soll. Dabei muss die Ratio immer die Führung haben, also entscheiden, ob ein Handlungsziel oder auch die zu seinem Errei­ chen gewählten Mittel richtig sind. Kernziel von Sokrates’ Argumenta­ 64 Stokes (2005), 24 ff., wendet sich richtigerweise gegen Interpretationen, die behaupten, Kri­ tons Urteil sei von Emotionalität so getrübt, dass er nicht klar denken könne, und hebt hervor, dass er „an argument from reputation“ (48) entwickle. Er rekurriert dabei aber nicht auf die Plato­ nische Psychologie, sondern folgt modernen Vorstellungen, bei denen man entweder emotional und also irrational ist, oder nicht, und da deutlich erkennbar ist, dass Kriton auf Argumente rea­ giert, kann er ja nicht von seiner Emotionalität oder Irrationalität überwältigt sein. Man ist aber nur im Sinne mancher moderner psychologischer Ansätze (oder auch der antiken Stoa) entweder rational oder irrational. Im Sinne Platons wird durch das Aufkommen eines irrationales Bestre­ bens nicht die ganze Seele schlagartig irrational, sondern erstens ist bei ihm innerhalb des NichtRationalen zwischen den Begierden und dem Thymos, dem Streben nach Ehre und Ansehen, zu unterscheiden, wobei letzteres eher in der Lage ist, auf das Denken zu hören. Und zweitens sind diese Vermögen in der Seele eines guten und gerechten Menschen in einer bestimmten Ordnung, die bei weniger Guten mehr oder weniger stark gestört ist, und solche Störungen können zudem auch temporär, etwa unter dem akuten Einfluss einer starken Emotion entstehen. Konkret auf den Kriton angewandt lässt sich zum Beispiel sagen, dass Kritons Argumentation selbst unter Ehr­ aspekten, wie sie dem Thymos wichtig sind, nicht wirklich richtig ist, denn sie unterschlägt den Ehrverlust, der durch die illegale Flucht für Sokrates und für alle seine Helfer entstünde. Aus die­ sem und anderen Details ist erkennbar, dass Kriton hier seine Denkfähigkeit nicht völlig frei gebraucht. Stokes hat aber natürlich Recht, wenn er gegen Teile der Forschung insistiert, dass Kriton deswegen weder als völlig unphilosophisch, noch als dumm, noch als zu keinem klaren Gedanken fähig dargestellt ist, er folgt aber leider diesen Teilen der Forschung in der SchwarzWeiß-Zeichnung und ersetzt gleichsam „Schwarz“, weil „Schwarz“ nicht richtig ist, durch „Weiß“, während es in Wahrheit um „Graustufen“ gehen würde.

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tion ist, Kriton deutlich zu machen, dass er hiervon bei seinem eifrigen Vortrag abgekommen ist und die Führung des Logos in sich wiederher­ stellen muss. Der Begriff des Eifers (προθυμία prothymía) verweist dabei in den Bereich dessen, was generell auf Griechisch und speziell bei Platon „Thymos“ (θυμός) heißt, ein eiferndes Streben nach Bewah­ rung der Ehre und Vergeltung von Ungerechtigkeit (vgl. auch zu 46d1 und 54b5–8) und das hinter diesem stehende Seelenvermögen. 46b5 f. dem Argument, welches immer mir, wenn ich nachdenke, das beste scheint Damit ist bereits der entscheidende methodische Grundsatz und zugleich Einwand gegen Kritons Vorgehen formuliert. Man neigt im Alltagsleben dazu, wenn sich unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten zu bieten scheinen, in einem eher konfusen Zugriff diejenige zu neh­ men, die einem am lustvollsten oder am wenigsten schmerzlich oder unangenehm erscheint (für Kriton ist das in diesem Fall jede Variante, in der Sokrates weiterlebt und er seinen Freund jetzt nicht verliert und in der ferner der Intrige der Feinde des Sokrates etwas entgegengesetzt wird). Im zweiten Schritt sucht man dann nach rationalen Argumenten, die für die Entscheidung zu sprechen scheinen, zu der man in Wahrheit bereits aus anderen Gründen neigt. Das führt dann zu der Art von Rheto­ rik, wie sie Kriton gerade durch seine Rede vorgeführt hat. Letztlich dient dabei in Platonischer Sichtweise, wie es in der Politeia ausführlich dargestellt ist, die Ratio den anderen, ihr eigentlich unterstellten Seelen­ vermögen (in diesem Fall vor allem dem Thymos, s. zu 46b1 ff.). Dies entspricht aber nicht der menschlichen Natur und der Natur seiner Seele, gemäß der das Denken den Vorrang und die Führungsstellung hat. Man muss also auch in bedrängter Lage an allgemeinen Auffassungen fest­ halten und darf sie nicht „situationsangemessen zurechtbiegen“ (davon unberührt ist natürlich, dass man durch Erlebnisse zu einer gerechtfer­ tigten Modifikation oder Korrektur allgemeiner Auffassungen gelangen kann, wenn ruhiges Durchdenken zu dem Ergebnis führt, dass man bis­ her z. B. zu schematisch gedacht und notwendige Differenzierungen nicht vorgenommen hat). 46b7 f. jetzt über Bord werfen, da mir dieses Unglück zugestoßen ist Sokrates insistiert hier darauf, dass man immer dem vom Denken als richtig Erkannten folgen soll, gleichgültig, mit welchen Nachteilen man bedroht wird. Er bestreitet dabei durchaus nicht, dass ihn ein Unglück getroffen hat, hier wie an anderen Stellen im Kriton wird durchaus deut­ lich, dass Sokrates mit seinem Freund Kriton völlig konform geht, dass

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das gegen ihn verhängte Urteil ein Fehlurteil ist und er folglich den Tod in keiner Weise verdient hat (Sokrates hat ja schon im Prozess selbst gemäß Apologie 36d–37a65 nach dem Schuldspruch, als er die Gelegen­ heit gehabt hätte, eine milde Strafe zu beantragen, stattdessen lebens­ lange freie Speisung im Prytaneion als „Strafe“ beantragt und damit deutlich zu verstehen gegeben, was er von der Verurteilung hält).66 Es geht im Kriton ausschließlich um die Frage, wie Sokrates damit umge­ hen soll, dass ein Fehlurteil gegen ihn gesprochen worden ist. Er macht gleich einleitend deutlich, dass er sich davon nicht von seinen durch langjähriges sorgfältiges Erwägen gemeinsam mit Freunden – darunter Kriton selbst – gewonnenen Überzeugungen abbringen lassen wird. Und er bringt dies in Verbindung mit Kritons Bemerkung (44d), „dass man auch die Meinung der Leute notwendig berücksichtigen muss. Gerade die gegenwärtigen Umstände machen klar, dass die Leute nicht bloß die kleinsten Übel hervorrufen können, sondern geradezu die größ­ ten, wenn einer bei ihnen verleumdet ist.“ Sokrates spricht hier im Gegenteil davon, man dürfe sich von der „Macht der Leute“ nicht ein­ schüchtern lassen wie ein Kind von einem Monster. Sokrates fürchtet sich vor alldem, was „die Leute“ als Strafe verhängen können, wie Tod oder Vermögensentzug, am Ende nicht, seine einzige Furcht ist, durch falsches Handeln ein ungerechter Mensch zu werden. In der Politeia steht (430a/b), die stärksten Waschmittel, die gewonnene Überzeugun­ gen wieder auswaschen könnten, seien Lust und Unlust, Furcht und Begierde. Bei Kriton scheint die Furcht vor dem Tod des Sokrates und die daraus erwachsende Unlust eine solche „Auswaschleistung“ voll­ bracht zu haben. Sokrates bemüht sich im folgenden, um im Bild zu bleiben, „die ursprünglichen Farben wiederherzustellen“. Bei Sokrates behält also das Denken auch in Situationen extremer Belastung sicher die Führung in der Seele und bestimmt seine Entscheidungen. 46c8 War die Rede jeweils richtig oder nicht …? Sokrates analysiert jetzt zugleich, ob Kritons Vorschlag gut ist und ob die Argumente, die er vorbringt, zutreffend sind, und zwar richtig und zutreffend gemäß den Überzeugungen, die Kriton und Sokrates gemein­ sam mit anderen in gemeinsamen Gesprächen und gemeinsamem Nach­ denken über Jahre sorgfältig gewonnen haben. Anders als bei vielen Gesprächspartnern in anderen Dialogen kann Sokrates Kriton gegenüber auf ein großes Reservoir an zu früherer Zeit gemeinsam als richtig 65 66

Vgl. auch oben, Einleitung , Abschnitt IV, 2). Zum Antrag des Sokrates vgl. Heitsch (2002), 146–48.

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Erkanntem zurückgreifen, so dass er die Dinge nicht von Grund auf her­ beiargumentieren muss, sondern sich weitgehend darauf beschränken kann, gemeinsam mit Kriton zu prüfen, ob die neueren Ereignisse einen sachlichen Grund ergeben, die bisherigen Überzeugungen zu ändern. 46d1 dass man auf manche Meinungen achten soll, auf andere hin­ gegen nicht Dies ist eine Prämisse, die zugleich ins Zentrum der vorliegenden Situa­ tion und von Kritons gerade vorgetragener Rede zielt.67 Wenn man alle Meinungen gleich achten und beachten soll, dann gilt immer, was die Mehrheit entscheidet. Eine Mehrheit von Laienrichtern hat Sokrates zum Tode verurteilt. Kriton hat sich davon aber keineswegs überzeugen lassen, dass Sokrates ein Verbrecher ist, noch dazu ein so schlimmer und gefährlicher, dass er den Tod als Strafe verdient hat. Er beachtet also die Meinung der Mehrheit der Richter absichtlich nicht, weil er sie für falsch hält. Dann kann er aber nicht andererseits in seiner Rede, wie er es gerade mehrfach getan hat, mit der Meinung „der Leute“ argumentie­ ren. Und zugleich – und dies ist der Aspekt, den Sokrates im Folgenden ausfaltet – impliziert die Einsicht, dass man nur die Meinung guter und besonders erkenntnisfähiger Menschen beachten muss, dass man dies auch jetzt, auch in einer Lage, in der Sokrates der Tod unmittelbar bevorsteht, so tun muss. Selbstverständlich sind in Platons Sicht Situa­ tionen denkbar, in denen etwas, das sonst meistens richtig ist, ausnahms­ weise nicht gilt. Zum Beispiel soll man Geschuldetes immer dem zurückgeben, dem man es schuldet, aber nicht, wenn einem jemand ein Messer geliehen hat und es jetzt mit irrem Blick und Schaum vor dem Mund zurückfordert (vgl. Politeia 331e f.). In diesem Fall überwiegt, dass man jemandem, der allem Anschein nach nicht klar im Kopf ist, keine Waffen oder gefährlichen Gegenstände in die Hand gibt, unabhän­ gig von den Eigentumsverhältnissen. Aber im vorliegenden Fall gibt es keinen plausiblen Sachgrund. Es lässt sich nicht wahrscheinlich machen, dass Folgendes richtig ist: „Man muss immer der Meinung der guten und einsichtsvollen Menschen folgen, es sei denn, man ist mit dem Tode bedroht, dann sollte man lieber der Meinung weniger guter und einsichtsvoller Menschen folgen“. Es ist auch in anderer Hinsicht methodisch bedeutsam, dass Sokrates mit dieser Prämisse beginnt, denn über die rationale These hinaus, dass man immer dem stärksten Argument folgen muss, wird die These hier 67

55 f.

Eine präzise Analyse der Argumentationsstruktur von 46c6–48a10 bei Polansky (1997),

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gleichsam personalisiert, man muss also auch den Menschen folgen, die die Klügsten und Besonnensten sind und also die besten Argumente her­ vorbringen. Solche Menschen lassen sich nämlich Platonisch-Sokratisch betrachtet auch weniger von der momentanen Situation „ins Bockshorn jagen“. In gewissem Sinn gilt also gerade umgekehrt, dass es speziell in gefährlicher und zugespitzter Situation besonders wichtig ist, gemäß dem Urteil der Guten und Einsichtsvollen zu handeln. Kritons gehäufte Verweise auf die Meinung „der Leute“ deutet darauf hin, dass sein Han­ deln hier mehr von dem sich gemäß Platon an Ehrbegriffen orientieren­ den Thymos geprägt ist, als vom eigentlichen Denken. 46e3 menschlich betrachtet Sokrates, von dem das Delphische Orakel gesagt hat, niemand unter den Menschen sei weiser als er (Apologie 21a ff.),68 unterscheidet sich von anderen Menschen dadurch, dass er sich mehr als andere über die Gren­ zen menschlicher Einsicht und menschlichen Wissens im klaren ist und an dieser Einsicht stets festhält und sie auch in den kleinen Momenten des Alltags nicht vergisst (vgl. auch oben zu 45d1). Und so sagt er hier nicht einfach: „Wer ist denn übermorgen abend tot, du oder ich?“, son­ dern er ist so vorsichtig, zu formulieren, dass nach allem menschlichen Erwarten nicht Kriton, sondern er unter der unmittelbaren Notwendig­ keit steht, sterben zu müssen, denn es wäre dem Göttlichen gegenüber respektlos zu vergessen, dass es anders disponiert haben könnte und sich diese Dinge menschlichem Wissen eben entziehen. 47a1 das gegenwärtige Unheil sollte dein Urteil nicht trüben Hiermit ruft Sokrates seinen Freund Kriton gleichsam zur Ordnung. Es ist schließlich Sokrates, der bald sterben soll, nicht Kriton. Und Sokrates lässt sein Urteil nicht von diesem Unheil getrübt werden und kann also von Kriton erwarten, dass der sich auch zusammennimmt und bei dem bleibt, was sie bisher beide gemeinsam für richtig gehalten haben. Zugleich liegt in der Formulierung ein weiterer Hinweis darauf, dass Kritons Vorschlag nicht aus freiem Gebrauch des Denkens resultiert, sondern durch eine „thymetische“ Verengung der Aufmerksamkeit, wobei der Thymos dazu neigt, zu sehr auf die Ehre und Ehrkränkungen zu achten und sich generell an bloßen Meinungen zu orientieren (s. zu 54c5–8). 68

Gemäß Platons Darstellung. Zur Historizität dieses Orakels vgl. Heitsch (2002), 73 f.

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47a7 ff. die guten Meinungen ehren Das Kriterium dabei ist immer, was bei ruhiger und vernünftiger Prü­ fung als richtig erscheint. Dabei ergibt sich, dass gute Meinungen von Menschen vorgebracht werden, die „Verstand haben“ (47a10). Das grie­ chische Wort φρόνιμος (phrónimos) ist schwer übersetzbar, hier steht es im Gegensatz zum ἄφρων (áphrōn), der keinen Verstand hat.69 Die ganze Passage zielt auf die offenbar von Kriton geteilte Auffassung, dass man auf das Urteil einsichtiger und kluger Menschen mehr geben muss als auf das anderer. Dies ist die Vorgehensweise von jemandem, der seine Entscheidungen unter Leitung des Denkens (und nicht anderer Seelenvermögen) trifft, wie es Sokrates für sich in Anspruch nimmt (vgl. etwa 48c). Dabei bedeutet das hier Vorgetragene methodisch zugleich, dass man in sich selbst immer auf das, was am besten unter­ scheiden kann, hören muss, also auf den eigenen Verstand, als auch, dass man bei dem, was andere sagen – ob nun viele, weniger oder einer – immer prüfen muss, ob der Betreffende ein wirkliches Wissen von dem hat, worüber er spricht.70 47a10 ff. Ein Mann, der trainiert Ganz ähnlich wie mehrfach in anderen Dialogen (z. B. Euthydemos 279d ff.; Ion 531e ff.; 540b–d; Alkibiades I71 117c ff.; vgl. auch Politeia 332d ff.) vergleicht Platon hier auch im Bereich von Ethik und Politik mit der Art, wie man Sachfragen in vielen anderen Bereichen klärt, nämlich durch Rückgriff auf den besonders Sachkundigen. Hier ist als Beispiel ein Arzt oder Trainer genommen, der einen Sportler beim Trai­ ning unterstützt. Der Trainierende wird – zu Recht, wenn der Trainer oder Arzt wirklich ein Fachmann für diese Dinge ist – nur auf dessen Rat achten und nicht darauf, was Unqualifizierte sagen. Das Unterschei­ 69 Zum Begriff der φρόνησις (phrónēsis) vgl. Schmitt 2008, 354 ff. u. Cessi 1987, 184 ff. Beide behandeln den Begriff zwar primär im Blick auf Aristoteles, aber dessen Verwendung des Wortes stellt nur eine Systematisierung früherer Auffassungen dar. 70 Vgl. zum Gesagten Polansky (1997), 62. 71 Der Erste oder Große Alkibiades wird nach wie vor von vielen modernen Philologen nicht als Werk Platons angesehen (seitdem Schleiermacher seine Echtheit angezweifelt hat). Denyer (2001), 14 ff., trägt jedoch in der Einleitung zu seinem Kommentar eine Reihe von Argumenten vor, die viele der häufig gegen die Authentizität angeführten Argumente entkräften, wobei er sich sowohl mit der sogenannten Stilometrie (17 ff.) als auch mit den methodischen Fragen der Bestimmung einer Chronologie von Platons Werken überhaupt (20 ff.) auseinandersetzt (vgl. zu diesen methodischen Fragen bezogen auf den Kriton oben meine Einleitung, Abschnitt I); gegen Denyer argumentieren Joyal (2003) und Smith (2004) (bes. 100 ff.; s. auch Smiths Fußnote 6 mit einem Forschungsüberblick zur Frage der Echtheit des Alkibiades I).

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den zwischen bloßer Meinung (δόξα dóxa), die richtig oder falsch sein kann und nicht auf wirklicher Kenntnis der Ursachen und Zusammen­ hänge beruht, und echtem Wissen (ἐπιστήμη epistēmē) (vgl. vor allem Politeia 475–80) führt den Philosophen zu diesem Verhalten, da bei dem dafür ausgebildeten Experten am ehesten zu erwarten ist, dass er echtes Wissen über sein Spezialgebiet hat. 47c7 Offenbar seinen Körper Der Vergleich wird jetzt auf den Punkt gebracht. Durch mangelnde Beachtung der Meinung des kundigen Arztes und des Trainers kann man Schaden an seinem Körper nehmen, bei der von Kriton aufgeworfe­ nen Frage geht es hingegen um die Gefahr, dass man Schaden an seiner Seele nehmen könnte dadurch, dass man Ungerechtes tut, wie Sokrates gleich (c9 ff.) ausführt, wobei er den Begriff „Seele“ freilich nicht ver­ wendet. 47d4 f. jenes verderben und schädigen, was durch das Gerechte bes­ ser wird, durch das Ungerechte hingegen vernichtet wird Der Begriff der „Seele“ (ψυχή, psychē) wird hier im Kriton, anders als an ähnlichen Stellen etwa in der Politeia, nur suggeriert, aber nicht aus­ gesprochen. Dass die Seele gemeint ist, ist aber durch die Analogie und gleichzeitige Entgegensetzung zum Körper (σῶμα, sōma) klar, durch die umschreibende Redeweise wird jedoch das an der Seele hervorgeho­ ben, was für den Argumentationszusammenhang das Entscheidende ist: sie ist das, was durch gerechtes Tun verbessert, durch ungerechtes geschädigt wird. Es wird im folgenden in einem umfassenden Sinn darum gehen, was gut ist, was jetzt für Sokrates gut ist, was zu einem guten Leben für ihn beiträgt und was nicht. Und dabei gibt es keine Ant­ worten und Lösungen, die auf ein Leben zielen, das zwar gut, aber nicht gerecht wäre. Im Kriton wird dies nicht weiter hinterfragt und begrün­ det, wohl aber in der Politeia . Man könnte geradezu die gesamte Poli­ teia als fundierte Begründung dafür auffassen, warum es niemals ein gutes Leben ohne Gerechtigkeit oder gar wider die Gerechtigkeit geben kann. Denn wenn, wie in der Politeia (insbesondere in den Büchern 4, 8 und 9) dargelegt, Ungerechtigkeit gar nichts anderes ist als naturwidrige Unordnung der Seele, dann kann niemand sich dies wünschen. Und die negativen Wirkungen von Ungerechtigkeit entstehen gemäß der Politeia völlig unabhängig davon, ob irgend jemand bemerkt, dass man unge­ recht ist und Ungerechtes tut. Im Kontext des Kriton kann Sokrates darauf bauen, dass sein Freund Kriton diese Auffassung in der Vergan­ genheit immer geteilt hat. Es genügt also für die Argumentation, dass

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Kriton nicht plausibel machen kann, warum sich an der Richtigkeit und Wahrheit dieser Auffassung etwas geändert haben sollte. 47e7 ff. Oder glauben wir, es sei geringerwertig als der Körper, was immer von dem unseren es nun ist, auf das sich die Ungerechtigkeit und die Gerechtigkeit beziehen? Auch hier wird der Begriff „Seele“ nicht explizit verwendet, weil es für das aktuelle Argument primär darum geht, dass es etwas Wichtiges in uns gibt, das durch Ungerechtigkeit geschädigt wird, unabhängig davon, wie man das in Frage Stehende nennt. Schon bei der Fürsorge für den Körper hört man auf die Wahrheit und auf Menschen, die mit ihr in Kon­ takt sind, und richtet sich nach ihr. Das, was durch Ungerechtigkeit ver­ dorben und durch Gerechtigkeit gut gemacht wird und dann zentrales Element eines guten Lebens ist, ist aber noch wertvoller, so dass man hier erst recht der Wahrheit und dem Rat der Besonnenen den Vorzug geben muss.72 Angewandt auf die hier im Kriton verwendeten Beispiele heißt das: wenn man als Sportler am Rande seiner Leistungsgrenzen trainiert, will man einen Trainer oder Sportarzt, der gut ist, und nicht bloß einen, der als gut gilt, ohne es zu sein. Und genauso wird man, wenn es um das Wohl der Seele geht und um das gute Leben, einen guten Rat von einem guten Menschen suchen und nicht einen Rat, der bloß gut scheint, von jemandem, der als gut gilt, ohne es zu sein. 48a10 f. „Aber“, könnte einer sagen, „die Leute sind doch imstande, uns zu töten!“ Die von Sokrates an dieser Stelle verwendete Technik, sich von einem imaginierten Diskussionsbeteiligten Einwände machen zu lassen, wird später in der Diatribe sehr häufig verwendet. Inhaltlich kommt Sokrates mit dem hier vorgetragenen Einwand dem, was Kriton bewegt, sehr nahe, er spricht ihm geradezu aus der Seele. Deshalb kann Kriton auch nicht an sich halten und unterbricht Sokrates hier mit emphatischer 72 In der Politeia (505d) weist Sokrates darauf hin, dass die Menschen sich beim Gerechten und Schönen mit dem, was als gerecht oder schön gilt, zufrieden geben, nicht aber beim Guten. Das steht nicht im Gegensatz zum hier Gesagten, denn damit sind nicht das Verhalten und die Maßstäbe eines Philosophen beschrieben, sondern eher die „der Leute“. Die meisten Menschen glauben ja nicht, dass Ungerechtigkeit dem Ungerechten selbst am meisten schadet, weil sie eine Unausgewogenheit seiner seelischen Vermögen ist, die ihn zu folgenschweren falschen Entschei­ dungen bewegt; sie sehen vielmehr hauptsächlich die negativen Wirkungen, die Ungerechtigkeit hat, wenn sie von den Mitmenschen bemerkt wird, und deshalb gehen sie davon aus, dass schein­ bare Gerechtigkeit, also bei anderen als gerecht zu gelten, für ein gutes oder angenehmes Leben ausreichend sei.

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Zustimmung (allerdings ist 48b2 die Zuweisung des Satzes „Was du sagst, ist wahr“ zu Kriton umstritten – vgl. die Fußnote zur Stelle –, sie würde seinen Eifer zusätzlich unterstreichen). Kriton erkennt hier noch nicht, dass der Einwand durch das bereits als richtig Etablierte de facto schon unterlaufen ist. Sokrates macht dies aber im gleich Folgenden in sehr schnellen Schritten klar. 48b5 f. dass nicht das Leben am höchsten zu schätzen ist, sondern das gute Leben Dies ist die eine zentrale Voraussetzung für die Entscheidung. Wenn das blanke Leben der höchste Wert wäre, dann wäre es richtig und rational, für die Erhaltung des physischen Lebens jede denkbare Anstrengung zu unternehmen und also im vorliegenden Fall, da es offenbar einzurichten wäre, Sokrates’ Flucht aus dem Gefängnis zu arrangieren. Wenn aber das gute Leben das höchste Ziel ist, dann muss geprüft werden, ob eine solche Flucht einem guten Leben, einem für Sokrates guten Leben, zuträglich oder mindestens mit ihm vereinbar ist. Kriton teilt diese Überzeugung und kann sich also ihren methodischen Folgen nicht ent­ ziehen. Sokrates hatte schon in der Apologie (38e5–39a1) gesagt, dass man nicht alles tun dürfe, um dem Tod zu entgehen, damals, um zu begründen, warum er vor Gericht nicht wie andere Angeklagte um sein Leben gefleht habe. Auch damals war Sokrates nicht bereit, etwas zu tun, das er für falsch hielt, um zu überleben, und damals ging es nicht einmal um einen Gesetzesverstoß, sondern nur um etwas, das er für wenig ehrenhaft hielt, nämlich Unterwürfigkeit vor Richtern, die sich anschicken, ein Fehlurteil zu treffen. 48b8 f. Und dass „gut“, „schön“ und „gerecht“ dasselbe ist, hat das Bestand oder nicht? Dies ist nicht so zu verstehen, dass die drei Begriffe nach Sokrates’ (oder dahinterstehend Platons) Meinung völlig austauschbar und syno­ nym sind. Für die vorliegende Argumentation reicht es völlig aus, dass man akzeptiert, dass man nicht gut, aber ungerecht leben kann, und nicht gut, aber unschön, und in diesem Sinn ein gutes Leben immer auch ein schönes und gerechtes sein muss. In der Politeia werden die Zusammen­ hänge an vielen Stellen detaillierter diskutiert, denn dort stößt Sokrates gleich zu Beginn bei Thrasymachos auf entschiedenen Widerstand gegen seine Auffassungen und ist dadurch gezwungen, in der Begrün­ dung weit auszuholen, während er hier im Kriton einen Gesprächspart­ ner hat, der nur im konkreten Einzelfall gerne ein anderes Ergebnis hätte, aber am Ende auch nicht bereit ist, seine generellen Überzeugun­

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gen über Bord zu werfen, um dieses Ergebnis intellektuell zu erreichen. Kriton konzediert darum sofort das hier Vorgetragene.

48b11–49e8 Widerlegung Kritons: Teil 2 Sokrates benennt nun, streng der angekündigten Methode folgend, den Ausgangspunkt des gemeinsamen prüfenden Gesprächs und holt Kri­ tons Zustimmung dazu ein, die Einsicht, dass man niemals Unrecht tun darf, auch nicht, wenn man selbst Unrecht erleidet oder erlitten hat, zur Basis für die folgende Prüfung zu nehmen. Er legt zunächst allgemein, aber sehr wohl schon im Hinblick auf das gerade verhandelte Einzelne diesen Grundsatz dar, indem er bereits hier hervorhebt, dass auch bereits erlittenes oder sich gerade vollziehendes Unrecht kein eigenes Unrecht rechtfertigt und nicht zur Schädigung der Schädigenden berechtigt (denn dies wäre das beste Rechtfertigungsargument für jemanden, der zu dem Ergebnis gelangen wollte, dass Sokrates sich der attischen Justiz entziehen dürfe). 48b11 auf der Grundlage dessen, worüber wir uns einig sind Diese immer wieder eingestreuten „Floskeln“ sind keine, sondern sie verweisen auf den entscheidenden methodischen Unterschied zwischen einem dialektischen Vorgehen im Sinne Platons und dem üblichen Vor­ gehen rhetorischen Argumentierens. Sokrates legt Kriton nicht dar, warum gemäß seinen (Sokrates’) Überzeugungen eine Flucht aus dem Gefängnis keine gute Idee ist, er macht ihn darauf aufmerksam, dass sich aus Kritons eigenen Auffassungen ergibt, dass das falsch wäre. Im Kriton wird also nicht ein Gespräch zwischen zwei Freunden vorge­ führt, von denen der eine für, der andere gegen die Flucht aus dem Gefängnis ist und sich der zweite mit überlegenen Argumenten durch­ setzt, sondern wir haben ein Gespräch, in dem ein Freund seinem Freund einen Vorschlag macht und darauf drängt, ihn zu verwirklichen, in der stillschweigenden und ungeprüften Annahme, damit etwas Gutes vorzuschlagen, worauf der andere Freund dem Vorschlagenden zeigt, dass der Vorschlag gemäß den Kriterien des Vorschlagenden selbst kein guter ist. Kritons einziger Ausweg bestünde darin, glaubhaft zu machen, dass die aktuelle tödliche Bedrohung die Wahrheit und intellektuelle Richtigkeit der früheren Erkenntnisse begründbar in Zweifel setze oder gar widerlege. Das vermag er aber weder im Bisherigen noch im Fol­ genden, ja er versucht es im Grunde überhaupt nicht, weil es gar nicht seinen Überzeugungen entspräche.

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48b12 f. ob es gerecht ist, dass ich versuche, mich von hier davonzu­ machen, ohne dass mich die Athener freilassen, oder nicht gerecht Jetzt kommt Sokrates für den ersten Schritt inhaltlich und methodisch zur Konklusion. Die ganzen von Kriton aufgrund einer umfänglichen rhetorischen inventio angeführten Gründe für die Flucht und Gegenar­ gumente gegen mögliche Einwände sind alle sekundär und können allenfalls in Betracht kommen, wenn die Hauptfrage geklärt ist, ob es gerecht wäre, wenn Sokrates gegen das Gesetz das Gefängnis verließe und die Strafe vermiede, oder nicht.73 Es ist dabei wichtig, das Methodi­ sche klar im Auge zu behalten: aus dieser Stelle folgt nicht, dass die von Kriton angeführten Gründe generell sekundär oder unbedeutend wären, im vorliegenden Fall sind sie es aber, weil der begründete Verdacht besteht, dass das vorgeschlagene Handeln ungerecht wäre. Selbstver­ ständlich steht es beispielsweise einem Vater wohl an, bei seinen Ent­ scheidungen die Aufgabe, seine Kinder großzuziehen, gebührend zu berücksichtigen, aber nicht, wenn das ohne ungerechte Taten nicht mög­ lich wäre. Sonst müsste man ja auch eine Bank überfallen dürfen und hinterher argumentieren können, mit dem Geld habe man nur die Aus­ bildung der eigenen Kinder sichern wollen. 48c4–6 die Sorgen jener, oh Kriton, die leichthin töten und die auch wieder zum Leben erwecken würden, wenn sie dazu imstande wären, ohne jeden Verstand, der Leute eben Sokrates geht hier wie im ganzen Dialog davon aus, dass die Masse der Menschen nicht wirklich konsequent ihr Denkvermögen betätigt und Entscheidungen vom Denken geleitet trifft, sondern in einem mehr oder weniger konfusen Durcheinander von nicht zu Ende gedachten Meinun­ gen, von denen jeweils die am meisten beachtet werden, die den gerade vorherrschenden Emotionen entsprechen. Sein Satz, dass die Leute leichtfertig töten und das hinterher oft gerne wieder rückgängig machen würden, klingt aus Sokrates’ Mund besonders bitter. Er macht nochmals deutlich, dass Sokrates selbst seine Verurteilung für völlig ungerechtfer­ 73

Anders Harte (1999), 129, die einen scharfen Kontrast zwischen Sokrates, der solche Argu­ mente für irrelevant halte, und Kriton, der sie für relevant halte, aufbaut, um dann aus der Tatsa­ che, dass die Gesetze hier solche Argumente verwenden, abzuleiten, dass sie nicht Sokrates’ Mei­ nung verträten. Aber wenn statt den Gesetzen Sokrates selbst diese Argumente vortrüge, wäre doch ebenso klar, dass er das im Hinblick auf das von Kriton eingangs Vorgebrachte tut. Dass es sich um eine rhetorische Reaktion darauf handelt, ist so und so klar. Aber die Platzierung nach allen anderen Argumenten zeigt meines Erachtens deutlich, dass es sich eben um Sekundärargu­ mente handelt. Woraus man ableiten könnte, solche Argumente seien nach Sokrates’ Meinung generell irrelevant für Handlungsentscheidungen, vermag ich nicht zu erkennen.

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tigt hält und die Athener, die athenischen Bürger, für seinen Tod verant­ wortlich macht (die Richter waren ja Laienrichter, durch das Los bestimmte athenische Bürger gewesen).74 Die Athener erkannten tat­ sächlich schon bald nach Sokrates’ Tod seine Verurteilung als Fehler, wie uns Diogenes Laertios (2, 43,1) berichtet. Wenn man annimmt, dass Platon davon ausgehen kann, dass dies seinen Lesern bereits bekannt ist, ist Sokrates’ Kritik an „den Leuten“ hier umso wuchtiger, und der bit­ tere Zusatz „ohne jeden Verstand“ erscheint als gerechtfertigt. An dem Hin und Her der Meinungen – den einen Tag stimmt man für die Hin­ richtung des Sokrates, bald darauf ist man nachträglich dagegen und geht gegen seine Ankläger vor (Diogenes Laertios 2, 43,2 f.) – zeigt sich eine Grundeigenschaft des aus Wahrnehmen und Vorstellen abgeleite­ ten, methodisch unabgesicherten Meinens nach Platon (Politeia 479d3 ff.): die vielfältigen Meinungen der Leute über das, was gut ist, „rollen herum“ zwischen dem, was wahr ist, und dem, was nicht wahr ist, sie sind meist weder völlig wahr noch völlig falsch, basieren aber nicht auf klaren Kriterien und entstehen und vergehen auf beliebigem Weg unter dem Eindruck aktueller Wahrnehmungen und Vorstellungen. Und deshalb darf man auf sie nicht achten, wenn es um die Frage geht, was gut und gerecht ist und was nicht.

48c8–d2 ob wir gerecht handeln werden, sowohl wenn wir die mit Geld entlohnen, die mich hier herausholen sollen, und auch mit Dank, als auch wenn wir uns selbst herausholen und herausgeholt werden Da hier die zentrale Frage erstmals ganz klar herausgearbeitet ist, wird sie an dieser Stelle auch präziser formuliert. Die Frage „Soll oder darf Sokrates aus dem Gefängnis fliehen?“ muss dahingehend ausgefaltet werden, ob der ganze Plan der Flucht, wie ihn Kriton umrissen hat, ins­ gesamt oder in Teilen Elemente enthält, die ungerecht sind. Es wäre ja beispielsweise denkbar, dass es gerecht wäre, dass sich Sokrates dem Urteil entzieht, aber ungerecht, einen Aufseher zu bestechen und also zu korrumpieren oder Schleuser zu engagieren (oder wie immer man die nennen müsste, die Sokrates aus dem Gefängnis befreien und außer Landes bringen würden); auch in diesem Fall müsste man von dem Plan Abstand nehmen, wenn doch Ungerechtigkeit in jedem Fall zu vermei­ den ist.

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Vgl. dazu auch oben die Einleitung, Abschnitt IV.

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48d4 f. weder ob wir sterben müssen, indem wir verbleiben und Ruhe halten, noch ob wir sonst irgendetwas eher erleiden müssen, als Unrecht zu tun Ganz am Ende des Dialogs, nachdem Kriton selbst eingestanden hat, dass er nichts mehr vorzubringen hat, und also einsieht, dass es unge­ recht wäre, wenn Sokrates jetzt das Gefängnis verließe, sagt Sokrates entsprechend zu Kriton 54e1 f.: „Lass es also, Kriton, und wir wollen auf diese Weise handeln, da der Gott auf diese Weise leitet!“. 48d6 Meiner Meinung nach hast du damit Recht, Sokrates Kriton stimmt vorab zu, dass die Frage der Gerechtigkeit oder Unge­ rechtigkeit des Plans das entscheidende Kriterium ist. Das bedeutet ent­ sprechend, dass er, nachdem Sokrates im folgenden zeigt, dass gemäß Kritons eigenen Überzeugungen eine Flucht des Sokrates aus dem Gefängnis ungerecht wäre, keinerlei Möglichkeit mehr hat, dagegen zu argumentieren. 48d8 f. Lass uns, mein Guter, gemeinsam prüfen, und wenn du bei meiner Rede in irgendeiner Hinsicht zu widersprechen hast, so widersprich, und ich werde dir folgen Nochmals wird vorab das Verfahren explizit gemacht. Sokrates und Kri­ ton wollen gemeinsam aufgrund von gemeinsam für richtig Erkanntem prüfen, ob es gerecht wäre, wenn sich Sokrates jetzt der Bestrafung ent­ zieht, oder nicht. Dabei wird Sokrates Argumente vortragen, Kriton hat aber die Möglichkeit, ja im Rahmen des Verfahrens geradezu die Pflicht, zu widersprechen, wenn ihm etwas nicht als richtig erscheint. Er soll also nicht von Sokrates’ Meinung oder von seiner überlegenen Argu­ mentationskraft erdrückt werden, sondern Kriton soll in freiem Gebrauch seiner Urteilskraft sorgfältig Schritt für Schritt mit Sokrates prüfen, was richtig und wahr ist. Und wenn er keine Argumente gegen Sokrates’ Einwände hat, dann muss er am Ende davon ablassen, den Fluchtplan zu verfolgen, denn dann hätte sich herausgestellt, dass Kri­ tons Eifer nicht auf etwas geht, das richtig ist (vgl. oben, 46b1 f.). 48e3–5 Weil ich großen Wert darauf lege, dich davon zu überzeu­ gen, so zu verfahren, aber nicht gegen deinen Willen Der vorliegende Satz bietet Verständnisprobleme. Ganz wörtlich über­ setzt steht im Text: „weil ich großen Wert darauf lege, dich davon zu überzeugen, dies zu tun, aber nicht gegen deinen Willen“. Fast alle modernen Herausgeber wählen den Weg, den Infinitiv πεῖσαι (peîsai

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„zu überzeugen“) in das Partizip πείσας (peísas „überzeugt habend“) zu ändern,75 dann erhält man: „weil ich großen Wert darauf lege, dies zu tun, nachdem ich dich davon überzeugt habe, aber nicht gegen deinen Willen“. Auch nach diesem Eingriff in den Text erhält man nur dann einen akzeptablen Sinn, wenn man annimmt, dass Sokrates mit „dies zu tun“ „nicht aus dem Gefängnis zu fliehen“ meint, obwohl im vorange­ henden Satz genau umgekehrt „aus dem Gefängnis zu fliehen“ gestan­ den hatte, so dass der Bezug des „dies“ recht ungenau wäre. Weil man also trotz einer Textänderung noch eine solche Zusatzannahme machen muss, versucht die vorliegende Übersetzung, den Text zu halten und das Problem anders zu lösen. Sokrates spricht hier wie in der ganzen Stelle primär im Hinblick auf das Methodische. Seine Methode wird im Folgenden darauf beruhen, dass Kriton dem Ausgangspunkt und den sich daraus schrittweise erge­ benden Folgerungen jeweils aus eigener Überzeugung zustimmt. Noch davor muss er aus eigener Überzeugung zustimmen, dass es richtig ist, methodisch so zu verfahren. Wenn man annimmt, mit „dies zu tun“ (ταῦτα πράττειν taūta práttein) sei weder „gegen den Willen der Athener aus dem Gefängnis zu entfliehen“ gemeint noch das Gegenteil, sondern das einen Satz vorher zu Beginn des Absatzes beschriebene Verfahren des gemeinsamen Prüfens basierend auf geteilten Überzeu­ gungen, dann erhält man ohne Eingriff in den Text einen möglichen Sinn und „dies zu tun“ hat dabei einen präzisen und unverdrehten Bezug.76 48e5–49a2 Schau aber folglich, ob der Ausgangspunkt der Untersu­ chung deiner Meinung nach angemessen formuliert wird, und ver­ such, auf das Gefragte zu antworten, wie immer du am ehesten glaubst Sokrates betont nochmals das methodisch Wichtige. Es wird im folgen­ den die Frage geprüft werden, ob das von Kriton Vorgeschlagene gerecht ist oder nicht. Die entscheidende Ausgangsprämisse ist dabei, dass man niemals ungerecht handeln darf, und dass dies eine so wichtige Einsicht ist, dass andere Aspekte vor ihr zurücktreten müssen. Da von vornherein naheliegend ist, dass es nicht gerecht ist, sich einem in einem 75

An dieser Stelle danke ich dem Herausgeber dieser Reihe Kurt Sier, der mich durch aus­ führliche Kommentierung meiner ursprünglichen Version darauf aufmerksam gemacht hat, dass ich die Interpretation derer, die den Infinitiv in ein Partizip ändern, missverstanden hatte, so dass meine ursprüngliche Gegenargumentation in Teilen fehlging. 76 Ich danke Markus Kersten, der an anderem Ort hierzu publizieren wird, für ausführliche anregende Diskussionen dieser Stelle.

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Rechtsstaat auf legale Weise zustande gekommenen Gerichtsurteil zu entziehen, könnten erfolgversprechende Verteidigungslinien im Grunde, wenn man das Verbot unrechten Tuns einmal konzediert, nur darin bestehen, dass man entweder plausibel macht, dass durch die Flucht ein noch größeres Unrecht vermieden werde, oder demonstriert, dass das Verbot, Unrecht zu tun, in Wahrheit doch nur eingeschränkt gelte. Die­ ser Ausgangspunkt hat also gravierende Folgen für die gesamte Argu­ mentation, die sich anschließt. Sokrates macht also Kriton hier fairer­ weise darauf aufmerksam, dass er gut aufpassen muss, ob das „Prinzip“ der Argumentation (auch das eine mögliche Übersetzung von ἀρχή arché an dieser Stelle statt des hier verwendeten Wortes „Ausgangs­ punkt“) richtig gewählt und richtig formuliert ist und ob er es selbst für wahr hält. Und für den weiteren Fortgang ist entscheidend, dass Kriton seine eigene Erkenntniskraft frei gebraucht und nicht etwa Sokrates zuliebe irgendeinem Argument zustimmt, ohne es wirklich für wahr zu halten. Dies ist die methodische Basis für das dialektische Gespräch des Platonischen Sokrates im Unterschied zu den eristischen Gesprächen, wie sie Sophisten führen.77 Im Buch 1 der Politeia versteht der junge Sophist Thrasymachos gar nicht, warum Sokrates wiederholt insistiert (346a3 und 350e5 ff.), er solle nicht gegen seine eigene Meinung ant­ worten, weil Thrasymachos nur solche eristischen Widerlegungen kennt, bei denen dem Widerlegenden das Wohl des widerlegt Werden­ den ebenso gleichgültig ist wie die Wahrheit. Entsprechend scheitert das dortige Gespräch auch. 49a4–b6 Sokrates formuliert jetzt als Ausgangspunkt der gemeinsamen Betrach­ tung noch einmal die bedingungslose Ablehnung jeglichen ungerechten Handelns, weil solches Tun für den Täter schlecht und schändlich ist. Er erinnert dabei Kriton daran, dass sie beide sich in diesem Punkt immer einig waren, und fragt, ob das jetzt unter dem Eindruck des drohenden Todes alles hinfällig sein soll, was ja hieße, dass die beiden älteren Her­ ren (beide müssen um die 70 sein, wie sich aus Apologie 17d2 f. in Ver­ bindung mit 33d9 ergibt) sich lächerlich gemacht haben müssten mit dem entschiedenen Eintreten für eine Sache, die sie jetzt, wo es hart auf hart geht, als falsch erkennen, beziehungsweise bei der sie sich zumin­ 77 Als „eristisch“ (von ἐρίζω erízō, „streiten“) bezeichnet man ein Argumentieren, das es aus­ schließlich darauf anlegt, die Gesprächspartner – zumindest gemäß dem Eindruck, den die Zuhö­ rer gewinnen – zu widerlegen, ohne dabei auf die Wahrheit der Sache und die Richtigkeit des Gedankens zu achten.

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dest so verhalten, als ob sie es täten. Im günstigsten Fall würden sie als Leute erscheinen, die so manches daherreden und sich die Dinge erst genau überlegen, wenn es darauf ankommt, dies aber nur, wenn man sich dem „neuen Ergebnis“, dass man doch bisweilen Unrecht tun dürfe, wenn es einem „an den Kragen geht“, der Sache nach anzuschließen vermag. Wenn nicht, dann müssen sie als schönrednerische Opportunis­ ten erscheinen, die sich an ihre eigenen Einsichten im Ernstfall nicht halten. Sokrates fragt Kriton daher nochmals in allem Ernst, und nach­ dem er ihn auf die Bedeutung für die anstehende Untersuchung auf­ merksam gemacht hat, ob er zustimmt, dass – gleichgültig, was „die Leute“ sagen – ungerechtes Handeln ohne Einschränkung vermieden werden muss, und Kriton bejaht dies sogleich ohne Zögern. 49b8 Man darf folglich unter keinen Umständen Unrecht tun? Platons Sokrates geht an dieser Stelle ganz sorgfältig vor, ohne einen Zwischenschritt zu unterschlagen. Wenn Unrecht tun immer schlecht und schändlich ist, dann gibt es keine Ausnahmen. 49b10 f. Man darf folglich auch nicht, wenn man Unrecht erlitten hat, im Gegenzug Unrecht tun, wie die Leute glauben Dies ist die entscheidende Prämisse für den Nachweis, dass Kritons Fluchtplan abgelehnt werden muss. Denn es ist ja klar, dass eine Flucht vor der Justiz durch Bestechung von Wärtern, solange es nicht um den Apparat einer Diktatur geht, zumindest erhebliche Aspekte von Unrecht mit sich bringt. Eine zentrale Verteidigungsmöglichkeit bestünde nun darin, dass man argumentiert, das Urteil gegen Sokrates sei ja zu Unrecht erfolgt, Sokrates sei also zuerst von den Athenern Unrecht geschehen, so dass er sich jetzt revanchieren dürfe. Das ist ein Argu­ ment, das nicht wenige für richtig halten würden, aber Platon und seine Figuren Kriton und Sokrates tun das emphatisch nicht, sie sind über­ zeugt, dass man auch nach erlittenem Unrecht selbst keines begehen darf. Im Kriton wird das nur soweit begründet, dass die Ungerechtigkeit als für den Ungerechten schlecht bezeichnet wird, in der Politeia ist hin­ gegen ausführlich dargestellt, dass und wie Ungerechtigkeit der Seele des Ungerechten schadet und dass man sich ihrer also im wohlverstan­ denen Eigeninteresse konsequent enthalten muss. Wie Platon Sokrates im folgenden darlegen lässt, ist die Überzeugung, dass man auch nach erlittenem Unrecht nicht im Gegenzug seinerseits Unrecht tun darf, für das Handeln sehr folgenreich, denn dadurch ist vie­ les ausgeschlossen, was landläufig akzeptiert wird. Das von Platon hier,

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ausführlich im Gorgias (besonders 473–75)78 und in der Politeia sehr nachdrücklich vertretene Prinzip ist geradezu das Gegenteil einer lex talionis oder eines Blutracheprinzips. Der Grundsatz ist dabei immer, dass Unrecht leiden besser ist als Unrecht tun. Das ist nicht so auszule­ gen, als ob man anstreben sollte, Unrecht zu erleiden, erstrebenswert ist vielmehr, weder Unrecht zu tun noch zu leiden, oder positiv formuliert, dass jeder genau das erhält, was ihm gebührt, also weder zu viel noch zu wenig. Der von vielen zumindest im Stillen befolgte Grundsatz, im Zweifelsfall lieber ein bisschen mehr als ein bisschen weniger erhalten zu wollen, ist im Sinne Platons fehlgeleitet und falsch. Im Kriton wird verglichen mit dem Gorgias und der Politeia stärker die Frage themati­ siert, wie man sich nach bereits erlittener Schädigung verhalten soll. Dass Sokrates durch die Verurteilung und erst recht durch das Todesur­ teil Unrecht erleidet, ist dabei vorausgesetzt (schon in der Apologie sagt Sokrates, nach seinem Tod werde er auf Palamedes und Aias und andere „von den Alten treffen, die durch ein ungerechtes Urteil umgekommen“ [41b3] seien, und sie könnten dann wechselseitig ihre Leiden verglei­ chen; im Kriton bescheinigen die Gesetze dem Sokrates 54b8, dass er Unrecht erlitten hat). Sokrates lehnt aber konsequent ab, dass er dadurch das Recht erworben habe, nun seinerseits Unrecht zu tun. 49c10 f. Man darf folglich nicht im Gegenzug Unrecht tun und auch keinen einzigen der Menschen schädigen, auch nicht wenn man sonst etwas von ihnen erlitten hat Damit wird der Grundsatz, dass man nicht im Gegenzug Unrecht tun darf, noch einmal präzisiert. Man darf niemanden schädigen, auch nicht jemanden, der einen zuvor geschädigt hat, und zwar gleichgültig, was man von dem anderen erlitten hat. Hier sind die für „schädigen“ verwendeten griechischen Wörter κακῶς ποιεῖν (kakôs poieîn 49c7, c10) und κακουργεῖν (kakourgeîn c2, c4), die beide mit κακός (kakós) „schlecht“, „böse“ zusammenhängen und also implizieren, dass man jemandem etwas Schlechtes antut;79 in der Politeia ist hingegen für den­ 78

Einen ausführlicheren Vergleich zwischen Kriton und Gorgias hinsichtlich der Platonischen Auffassung, dass man niemals ungerecht handeln darf, bietet Kahn (1996), 125 ff. 79 Die Argumente von Kraut (1984), 26 Anm. 2, dafür, dass die Begriffe hier nicht „schädi­ gen“, sondern „do wrong“ (oder „treat wrongly“) bedeuten müssten, reichen nicht so weit, wie Kraut annimmt. Er argumentiert, Sokrates sei ja nicht wirklich in jedem Fall dagegen, andere zu schädigen, da er zum Beispiel nicht grundsätzlich gegen Krieg sei. Die entscheidende Pointe in Sokrates’ Argumentation ist aber, dass man sich auch nach erlittener Schädigung nicht revanchie­ ren darf. Dem Satz, dass man kein Unrecht tun dürfe, würden noch fast alle zustimmen, nicht aber mehr der Auslegung, dass man jemanden, der einen schädigt, nicht im Gegenzug schädigen dürfe.

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selben Gedanken das normale griechische Wort für „schädigen“ und „schaden“, βλάπτειν (bláptein), benutzt (335b–d). Dort legt Sokrates gegen die gemäß seiner Darstellung von den Dichtern der griechischen Lyrik nahegelegte Auffassung „Den Freunden wohl, den Feinden wehe“ dar, dass der Gerechte niemanden schädigt, auch nicht seinen Feind, weil eine Schädigung den Geschädigten ungerechter und schlechter macht und der Gerechte nichts tut, das Ungerechtigkeit mehrt und stärkt.

49c11 f. Und pass auf, Kriton, dass du, wenn du dem zustimmst, nicht gegen deine Meinung zustimmst! Nochmals die Ermahnung an Kriton, dass er nicht zustimmen soll, wenn er nicht wirklich so denkt, wie von Sokrates vorgetragen, hier gleich verbunden mit dem Hinweis, wie folgenreich das hier Vorgetragene ist, generell wie für das gerade in Diskussion Stehende. Kriton hat am Anfang im Grunde versucht, Sokrates zur Flucht zu überreden. Sokrates hingegen will Kriton wirklich überzeugen, er möchte, dass Kriton selbst erkennt, dass dieser Plan nach seinen eigenen Maßstäben nicht gut ist.

49d2 die Meinung bestimmter Weniger Das Wort, das im vorliegenden Kommentar konstant mit „die Leute“ übersetzt ist, οἱ πολλοί (hoi polloí), bedeutet eigentlich „die Vielen“, „die Mehrzahl“. Die polloí sind nicht der Meinung, dass man sich nie­ mals revanchieren darf, gleichgültig, wie Schlimmes man von einem anderen erleidet. Das ist gleichbedeutend damit, dass nur wenige so den­ ken, die Wenigen, die wie Platons Sokrates bezüglich der Ungerechtig­ keit die Auffassung gewonnen haben, dass man sie unbedingt vermeiden muss, weil sie, wie überhaupt Schlechtigkeit, das größte Übel für die menschliche Seele und damit für den Menschen ist, neben der alle ande­ ren Übel, selbst Leiden und Tod, verblassen. Hier würden nämlich viele argumentieren, dass es kein Unrecht sei, solches zu tun. Sokrates insistiert demgegenüber darauf, dass man gar niemandem etwas Schlechtes antun darf, wenn man gerecht handeln will. Das bedeutet aber nicht, dass man tatenlos zusehen muss, während man geschädigt wird. Wenn man z. B. in Notwehr jemanden tötet, der einen ohne Grund töten will, dann ist damit nicht der Einsicht, dass man niemals Unrecht tun darf, zuwidergehandelt, denn man hat den Angreifer nicht geschädigt, sondern ihn davor bewahrt, einen Mord zu begehen (Voraussetzung für diese Wertung wäre freilich, dass dies auch die Haltung ist, aus der heraus man gehandelt hat).

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49d2–4 Für die, die dieser Meinung sind, und für die, die es nicht sind, gibt es keine gemeinsamen Pläne, sondern notwendig müssen sie einander wechselseitig verachten, wenn sie die Pläne der jeweils anderen sehen Das Gemeinte ist hier nur angedeutet, es nimmt aber durchaus Bezug darauf, dass Kriton 45d8 ff. argumentiert hatte, das Verhalten von Sokra­ tes’ Freunden könne allgemein als schwächlich und feige aufgefasst werden in dem Sinne, dass man ihn nicht gerettet habe, obwohl es doch möglich gewesen wäre. Das ist genau die eine Seite der Verachtung, von der Sokrates hier spricht. Diejenigen (vielen), die der Meinung sind, erlittenes Unrecht rechtfertige zumindest ein gewisses Maß an Gegen­ unrecht, werden denjenigen als schwächlich und unentschlossen verach­ ten, der sich nicht so wehrt, wie sie es sich vorstellen, weil er ja (unge­ rechte) Gegenmaßnahmen nicht ergreift, die nach ihren Maßstäben auf­ grund des erlittenen Unrechts nunmehr erlaubt wären. Umgekehrt wird derjenige, der wie Sokrates von dem Grundsatz ausgeht, dass man nie­ mals Unrecht tun darf, diejenigen verachten, die aufgrund erlittener Schädigungen nun ihrerseits den Schädiger zu schädigen versuchen und dabei selbst auch wieder Unrecht tun; er wird sie zumindest in dem Sinn verachten, dass er sie nicht für wohlberaten halten wird. Der Hinter­ grund dieser Auffassungen ist im Gorgias ausführlicher dargelegt,80 wo Sokrates 469b8 f. ausdrücklich formuliert, dass Unrechttun das größte aller Übel ist, als Begründung dafür, dass der, der zu Unrecht getötet wird, weniger bedauernswert und arm dran ist als der, der zu Unrecht tötet, und der, der zu Recht getötet wird (469b3–6).81 49d5–7 Prüfe also auch du sehr gut, ob du gemeinsam teilhast und derselben Meinung bist und wir von dort mit unserer Beratung den Ausgang nehmen wollen Sowohl wegen der Tragweite dieser Prämisse für die weitere Argumen­ tation und deren Ergebnis, als auch weil es sich eben nicht um eine land­ läufige Meinung handelt, sondern um eine, mit der man sich von dem entfernt, was viele, womöglich die meisten, denken, fordert Sokrates 80 Kahn (1996), 127, weist treffend darauf hin, dass an der jetzigen Stelle im Kriton gesagt ist, dass sich die, die überzeugt sind, dass man niemals unrecht handeln darf, und die, die das nicht glauben, wechselseitig verachten werden, und dass man dann im Gorgias in der scharfen Ausei­ nandersetzung zwischen Sokrates und Polos genau dies vorgeführt bekommt (und in einer höf­ licheren, urbaneren Variante auch in den Wortwechseln des Sokrates mit Kallikles). 81 Vgl. dazu Heitsch (2004), 186, der auch den Zusammenhang mit Gorgias 479d heraus­ stellt.

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Kriton nochmals eindringlich auf, sich gut zu überlegen, ob er dem zustimmt, mit präziser Formulierung, ob er mit Sokrates gemeinsam Anteil an dieser Überzeugung hat und ob sie also die gemeinsame Basis für die weiteren Überlegungen sein soll. 49d8 f. noch sich, wenn man geschädigt wird, wehren, indem man im Gegenzug schädigt Hier ist der Grundsatz in seiner zugespitztesten Form gefasst: auch nicht bei der Abwehr einer Schädigung darf man im Gegenzug schädigen. 49d9 ff. oder gehst du von der Fahne … ? Sokrates macht zwar einerseits Kriton auf die Tragweite dessen, was er der weiteren Analyse zugrunde zulegen beabsichtigt, aufmerksam, aber andererseits erinnert er ihn wiederholt daran, dass er hier nichts Neues vorträgt, sondern Auffassungen, denen Kriton bei früheren Gesprächen offenbar stets zugestimmt hatte, so dass er gleichsam abtrünnig würde, wenn er jetzt unter dem Eindruck der Verhältnisse seine Meinung änderte. Sokrates jedenfalls bleibt bei seiner Auffassung, und er macht Kriton auch klar, dass es nicht genügen würde, einfach zu sagen: „Ich habe meine Meinung geändert“, sondern dass er dann auch seinen Mei­ nungsumschwung erläutern müsste (49e2). Da Kriton ja aber gar nicht seine allgemeinen Auffassungen geändert hat, sondern lediglich so auf das Einzelne, nämlich die Rettung seines Freundes, fixiert war, dass er den Konflikt mit seinen eigenen Auffassungen nicht bemerkt hat, bleibt ihm hier nur, Sokrates entsprechend seinen Überzeugungen zuzustim­ men. Man könnte es auch so formulieren, dass Sokrates die Tragweite dessen, was er denkt und für richtig hält, überschaut und sich auch im Alltag immer konsequent so verhält, dass sein Handeln im Einklang mit dem steht, was er für richtig hält, während Kriton hier erst dazu angelei­ tet werden muss, sein (geplantes) Handeln mit seinen Überzeugungen in Einklang zu bringen.

49e9–54d1 Widerlegung Kritons: Teil 3 Sokrates geht jetzt dazu über, den von Kriton vorgetragenen Fluchtplan gemäß dem Kriterium zu prüfen, dass man niemanden schädigen und kein Unrecht tun darf. Das heißt, nachdem er in Teil 1 die allgemeine Prämisse, dass man niemals Unrecht tun darf, mit Kritons Zustimmung zugrunde gelegt hat und dann im dem jetzigen unmittelbar vorausgehen­ den Teil 2 schon im Hinblick auf das hier zur prüfende Einzelne klarge­

49e9–54d1 Widerlegung Kritons: Teil 3

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macht hatte, dass dies einschließt, dass man auch nicht, wenn man geschädigt wird oder worden ist, im Gegenzug oder zur Abwehr seiner­ seits den anderen schädigen darf, geht Sokrates jetzt zur Prüfung der Frage über, ob der Fluchtplan ein Verstoß gegen diese allgemeine Ein­ sicht wäre oder nicht. Dabei entnimmt er als Implikat der Gerechtigkeit den Grundsatz der Vertragstreue und des Einhaltens gegebener Verspre­ chen, mit der nötigen Einschränkung, soweit das Versprochene dem Kri­ terium der Gerechtigkeit entspricht. Die Frage, ob man solche Verspre­ chen einhalten muss, bejaht Kriton sogleich. Dass damit eine Flucht aus dem Gefängnis insofern als ungerecht erwiesen ist, als dadurch das Ver­ sprechen gebrochen würde, das Sokrates den Gesetzen (modern formu­ liert: der Verfassung) Athens gegeben hat, sich nach ihnen zu richten und also rechtskräftige Urteile anzuerkennen, wird 50c ff. in der Rede der Gesetze deutlich. Im weiteren Verlauf argumentieren diese ferner, dass ein Außerkraftsetzen rechtmäßiger Gerichtsurteile das Gemeinwe­ sen untergraben würde. Sokrates würde also durch ein solches Tun tat­ sächlich andere schädigen und also auch insofern ungerecht handeln. Am Ende der Rede der Gesetze werden schließlich auch noch Kritons Sekundärargumente widerlegt. 49e6 f. Muss man, was immer man jemandem verspricht, wenn es gerecht ist,82 tun oder darf man betrügen? Sokrates lässt sich nunmehr endgültig auf das Einzelne ein. Um zu ent­ scheiden, ob Sokrates jetzt aus dem Gefängnis fliehen darf, muss gemäß den vorausgegangenen Überlegungen geprüft werden, ob dadurch irgendjemand geschädigt würde. Auf den ersten Blick könnte man mei­ nen, dies sei nicht der Fall, denn eigentlich kann doch niemand ein berechtigtes Interesse vortragen, das durch Sokrates’ Weiterleben beein­ trächtigt würde. Seine Ankläger haben ja in der Sache in Wahrheit nichts vorzubringen, das irgendeine Bestrafung, geschweige denn die durch den Tod rechtfertigen würde. Wem schadet es also, wenn Sokrates wei­ terlebt? Es steht aber der Legalitätsgrundsatz entgegen, wie man modern formulieren könnte. Sokrates hat wie jeder athenische Bürger durch sein Leben in Athen und unter den Gesetzen Athens implizit das Versprechen gegeben, sich nach diesen Gesetzen zu richten. Jetzt davonzulaufen 82

Harte (1999), 125 mit Anm. 17, weist darauf hin, dass δίκαια ὄντα (díkaia ónta) (49e6) konditional gemeint sein muss. Ihre Ergänzung, auch wenn man anders konstruiere, bleibe trotz­ dem die Gerechtigkeit des Vereinbarten im Zentrum der Argumentation, muss man nicht machen. „übereinstimmen, dass …“ oder „sich darauf einigen, dass …“ kann ὁμολογέω (homologéō) nur in Verbindung mit dem Infinitiv bedeuten, nicht mit dem Partizip.

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wäre den Gesetzen gegenüber in dem Sinn ein Betrug, als Sokrates damit nicht Wort hielte, und dazu beitrüge, die Gültigkeit von Recht und Gesetz in Athen generell zu unterminieren. Dies deutet sich hier durch die Einführung des Begriffs des „Versprechens“ erst an, wird aber wenige Sätze später im Vortrag der athenischen Gesetze explizit. 49e9–50a2 Indem wir uns von hier davonmachen, ohne die Stadt davon zu überzeugen, schädigen wir damit irgendwen, und dabei auch noch die, die man am wenigsten schädigen darf, oder nicht? Damit ist die Frage auf den Punkt gebracht. Selbstverständlich ist es auch im Sinne Platons erlaubt, ja geboten, Unrecht zu verhindern, so dass es ein berechtigtes Ziel ist, zu verhindern, dass Sokrates aufgrund eines Fehlurteils vom athenischen Staat getötet wird. Aber gemäß den Voraussetzungen, die Sokrates mit Kritons Zustimmung zugrunde gelegt hat, ist dies nur richtig, wenn das für eine solche Flucht Nötige und die Flucht selbst keine gravierende Schädigung für irgendjemanden darstel­ len. Kriton hat im Vorausgehenden den allgemeinen Voraussetzungen jedes Mal sofort und ohne Zögern zugestimmt, zumal Sokrates auf frü­ here Gespräche verweisen konnte, in denen man schon gemeinsam zum selben Ergebnis gelangt war. Die jetzige Frage betrifft aber das aktuelle Einzelne. Kriton folgt mit seiner Antwort 50a4 f. Sokrates’ methodi­ scher Bitte, insofern er wahrheitsgemäß sagt, er sei sich darüber nicht im klaren. Im Duktus seines Überredungsplädoyers vom Anfang hätte er hier vollmundig behaupten müssen, selbstverständlich werde nie­ mand geschädigt. Inzwischen hat er sich aber auf ein dialektisches Gespräch im Sinne des Sokrates eingelassen, in dem man der Sache folgt und nicht im Hinblick auf ein vorher festgelegtes Ergebnis das dazu rhetorisch Passende sagt. Dadurch, dass Kriton dies hier tut, eröff­ net er dem Gespräch die Möglichkeit, endgültig zu dem Ergebnis hin­ zuführen, das er eigentlich nicht möchte, dass es nämlich nicht statthaft ist, dass Sokrates seinem Vorschlag folgt.

50a6–54d1 Widerlegung Kritons durch die Rede der Gesetze Das sich jetzt Anschließende ist das Gespräch zwischen den gleichsam als Anwälten in eigener Sache beziehungsweise als Sachkundigen für das in Frage stehende Thema83 auftretenden Gesetzen Athens und So­ 83 Ich folge hier Polansky (1997), 62, der den Zusammenhang mit 47a–48a herausarbeitet, wo als methodischer Grundsatz aufgestellt ist, dass man nicht auf das achten soll, was viele sagen, sondern auf das was „der Eine“ sagt, der ein Wissen von der Sache hat.

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krates. In diesem Gespräch ist fingiert, dass Sokrates tatsächlich vorhat, sich durch Flucht der Vollstreckung des Urteils zu entziehen, und dass er dies mit einer Begründung tut, die dem entspricht, was Kriton ein­ gangs vorgetragen hat, um ihn zu überreden. Es ist aus dem Kontext klar, dass die Gesetze hier das sagen, was Sokrates selbst für richtig hält (was Sokrates 54d2 ff. auch ausspricht), während der Sokrates dieses Gesprächs im Grunde Kritons Position vertritt. Dadurch erreicht Sokra­ tes gleich mehreres. Zum einen wirkt die hier de facto stattfindende Zurechtweisung Kritons milder,84 insofern sie scheinbar ihn, Sokrates, trifft und nicht Kriton und insofern das Gesprächsarrangement sugge­ riert, dass Sokrates selbst Kritons Auffassung teilt oder zumindest gerne teilen würde, er fragt ihn ja zwischendrin wiederholt, wie er auf die Angriffe der Gesetze reagieren, was er antworten soll. Man kann das auch so interpretieren, dass Sokrates dem Kriton damit zu verstehen gibt, dass er den Plan, aus dem Gefängnis zu entfliehen, bei sich wirk­ lich erwogen hat und wirklich von den hier vorgetragenen Gedanken gestoppt werden musste. Zum zweiten wird aber auch deutlicher, dass die Verantwortung für die Entscheidung eben bei Sokrates liegt, und nicht bei Kriton.85 Zugleich ist noch zu bemerken, dass die athenischen Gesetze zwar in vielfacher Hinsicht allgemein argumentieren, aber zwischendrin auch sehr persönlich auf Sokrates bezogen.86 Dies spricht stark dagegen, im Kriton eine letztgültige generelle (und in der Sache ablehnende) Stel­ lungnahme Platons zu der Frage zu erblicken, ob man als Staatsbürger unter irgendwelchen Umständen legal zustande gekommenen Entschei­ dungen zuwiderhandeln dürfe. Es wird hier sehr sorgfältig, bezogen auf den Einzelfall und auf die Person Sokrates argumentiert, was nicht nötig 84

So auch Polansky (1997), 62. Vgl. Polansky (1997), 62. Brickhouse/Smith (2004), 213, setzen den Akzent ein wenig anders. Sie denken, dass der entrüstete Tonfall, den die Gesetze dem Sokrates gegenüber an den Tag legen, Kriton indirekt nahelegt, dass Sokrates über seinen Vorschlag ebenso entrüstet ist. 86 Diese Beobachtung bildet auch eine leichte Einschränkung für die These von Kraut (1984), 40 ff., dass die Tatsache, dass an dieser Stelle die Gesetze sprechen und nicht Sokrates, demon­ striere, dass die hier vertretenen Auffassungen eine gesunde philosophische Basis für ein Staats­ wesen bilden. Dass die Gesetze als fiktive Sprecher in gewissem Sinn mehr Autorität haben als Sokrates, mag richtig sein, aber es sind hier deutlich die personifizierten Gesetze Athens, die mit einem bestimmten von ihren Bürgern sprechen, es ist nicht von den Bedingungen der athenischen Staatlichkeit abstrahiert und sie reden in Teilen ad hominem, auf Sokrates bezogen. Das bedeutet nicht, dass man gar nicht verallgemeinern darf, aber dass man dabei vorsichtig wirklich Allgemei­ nes von demjenigen unterscheiden muss, was nur in dieser besonderen Situation gilt. Und zudem bleibt immer durchschaubar, dass nur der Fiktion nach die Gesetze mit dem fluchtwilligen Sokra­ tes reden, in Wahrheit aber der den Plan ablehnende Sokrates mit Kriton, der nachdrücklich dazu geraten hat. 85

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wäre, wenn Platon die Sache als aufgrund allgemeiner Erwägungen von vornherein entschieden angesehen hätte. Klar ist allerdings, dass auf­ grund des Verbots, Unrecht zu tun, die Hürden für etwas derartiges sehr hoch sind. Es kann aber sicherlich auch nach Platonischen Maßstäben ungünstige Situationen geben, in denen nur die Wahl zwischen Hand­ lungsoptionen besteht, die alle ein gewisses Maß an ungerechtem Tun mit sich bringen, so dass man sich notgedrungen für das kleinste Unrecht entscheiden müsste, oder Situationen, in denen durch das Bege­ hen kleinen Unrechts ein großes vermieden werden kann. Man könnte meinen, genau dies sei doch hier im Kriton der Fall, durch das kleine Unrecht der gesetzeswidrigen Flucht könne das große Unrecht der unge­ rechten Hinrichtung des Sokrates vermieden werden, aber Sokrates macht im folgenden klar, dass die Verletzung des rechtsstaatlichen Prin­ zips, dass rechtsgültige Urteile auch gelten, eben kein kleines Unrecht ist, sondern den Kern der Rechtsstaatlichkeit und damit der Staatlichkeit selbst tangiert.

50a6–51c5 Rede der Gesetze – Unterabschnitt 187 In diesem ersten Teil argumentieren die Gesetze, dass es die Gültigkeit von Gesetzen und auf ihnen basierenden Entscheidungen generell unter­ graben würde, wenn einzelne (und damit auch Sokrates im vorliegenden Fall) sich nach Gutdünken nach ihnen richteten oder nicht (50a/b). Sodann weisen sie Sokrates auf die Fürsorge hin, die er schon vor seiner Geburt und sein ganzes Leben hindurch von ihnen erfahren hat, und lei­ ten daraus ab, dass zwischen ihnen und ihm nicht gleiches Recht besteht, so dass Sokrates in keinem Fall berechtigt ist, selbst ein etwai­ ges Unrecht seinerseits mit Unrecht zu vergelten. Vielmehr sei man als Bürger dem Gemeinwesen in noch höherem Maße verpflichtet als den eigenen Eltern. 50a6–8 Wenn zu uns, die wir vorhätten, von hier davonzulaufen, oder wie immer man das bezeichnen muss, die Gesetze kämen und das Gemeinwesen der Stadt aufträte Hier geht es darum, die Frage, wer durch ein solches Davonlaufen geschädigt würde, korrekt zu beantworten. Die richtige Antwort ist, dass das Urteil gegen Sokrates, auch wenn es gewiss falsch und ungerecht 87

Die Gliederung der Rede der Gesetze lehnt sich in modifizierter Form an Polansky (1997), 65–67, an.

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ist, in einem rechtsstaatlichen Verfahren zustande gekommen und zudem rechtskräftig ist, und dass jegliche Rechtsstaatlichkeit aufgeho­ ben wäre, wenn es jedem Bürger freistünde, Urteile nicht zu beachten, die ihm inhaltlich missfallen. Die Geschädigten wären also alle Bürger Athens, ja angesichts der Bekanntheit und des Renommees des Sokrates womöglich auch noch die Bürger vieler anderer Staatswesen, wenn sein Beispiel Schule machen würde, wobei die negative Wirkung noch dadurch verstärkt wäre, dass er ein als besonders weise und gerecht geltender Mann ist. Gleichsam stellvertretend für diese entscheidet sich Sokrates hier rhetorisch,88 die Gesetze selbst und das Gemeinwesen als Personen auftreten und in eigener Sache argumentieren zu lassen, indem sie ihn in der fraglichen Sache gleichsam ins Kreuzverhör nehmen.89 50b1 f. uns die Gesetze zu vernichten und die gesamte Stadt, soweit es an dir liegt Die Gesetze sprechen es sofort aus: Sokrates’ (in Wahrheit Kritons) Vor­ haben würde den Kern der Rechtsstaatlichkeit treffen, es handelt sich also nicht etwa um eine geringfügige Ungerechtigkeit, sondern um eine besonders gravierende, auch wenn dies äußerlich nicht so scheinen mag. 50b2–5 Oder meinst du, jene Stadt könne noch bestehen und nicht vom Umsturz zerrüttet sein, in welcher immer die gefällten Urteile keinerlei Kraft haben, sondern von Privatleuten außer Geltung gesetzt und vernichtet werden? Damit ist der eigentliche Hauptgrund, warum Sokrates sich nicht durch Flucht der Strafe entziehen darf, klar benannt. Er ist ein einfacher Bür­ ger, ein Privatmann, ihm ist nicht die Gewalt übertragen worden, Gerichtsurteile als Revisionsstelle zu überprüfen. Er kann seine private Meinung zur inhaltlichen Richtigkeit dieses oder jedes anderen Urteils haben, aber es missachten dürfte er nur, wenn an seiner gesetzlichen Rechtmäßigkeit berechtigte Zweifel bestünden. So hatte beispielsweise der historische Sokrates, wie es Platon seinen Sokrates in der Apologie 32b/c sagen lässt und auch die Historiker Xenophon, Hellenika 1, 7, und 88

„Rhetorisch“ hier durchaus im Sinne einer Platonischen Rhetorik, die ihre Mittel nur zur Förderung der Wahrheitserkenntnis einsetzt, also nur im Rahmen dessen, was der Intellekt (νοῦς, noûs) als wahr erkennt, nicht um beliebig gewählte Ziele als richtig oder bloße Meinungen als wahr erscheinen zu lassen. Vgl. dazu Phaidros 258 ff., dazu Heitsch (1993), 126 ff. („Grundbedin­ gung der Rhetorik: Kenntnis der Wahrheit“). 89 Brickhouse/Smith (2004), 212 f. heben hervor, dass durch das Auftreten der Gesetze als Personen für Kriton anschaulicher wird, dass durch die Flucht wirklich jemand geschädigt würde, dass es also nicht nur um abstrakte Fragen geht.

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Kommentar

Valerius Maximus, Memorabilia 3, 8,3, berichten, bei dem sogenannten Arginusenprozess,90 in dem mehrere Admirale summarisch zum Tode verurteilt wurden, als einziges Mitglied eines Aufsichtsgremiums beharrlich, aber erfolglos insistiert, dass solche summarischen Prozesse nach attischem Recht nicht legal waren und die Admirale das Anrecht auf einen individuellen Prozess gehabt hätten. In einem solchen Fall, wo das Urteil nicht rechtsstaatlich korrekt zustande gekommen ist, sondern Gesetze verletzt worden sind, um es zu bewerkstelligen, läge die Sache anders, zumindest wird im Kriton nichts vorgebracht, das so auszulegen wäre, dass auch in einem solchen Fall aus Platons Sicht kein Zuwider­ handeln denkbar wäre.91

50b5 Was sollen wir darauf sagen, Kriton … ? Dies bringt eine weitere Finesse in Sokrates’ rhetorisches Vorgehen. Er tut so, als wolle er Kritons Vorschlag folgen und werde deshalb von den athenischen Gesetzen attackiert, und er fragt Kriton jetzt, was sie denn gemeinsam antworten würden auf so einen Angriff. Dies ist eine sehr geschickte Form, die jetzt vorzutragende, im Grunde vernichtende Kri­ tik an Kritons Plan abzumildern, insofern sie scheinbar Sokrates und Kriton gemeinsam trifft, und Sokrates ja selbst nach Gründen sucht, die Kriton recht geben könnten; es ist ja nicht so, dass Sokrates nicht auch gerne zu dem Ergebnis käme, dass er Kritons Vorschlag folgen darf, zumindest tut er hier so.

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Dazu Kraut (1984), 19. Heitsch (2002), 131–34, kommentiert die Stelle im Kontext der Apologie, in der Sokrates außer der Geschichte vom Arginusenprozess auch die erzählt, wie er in der Zeit der Herrschaft der Dreißig den Auftrag erhält, gemeinsam mit anderen einen Mann zu verhaften, damit er hinge­ richtet werden könne. Sokrates geht einfach nach Hause, die anderen führen den Auftrag aus. Heitsch formuliert, dass sich Sokrates damit „zweimal dem Machtmißbrauch des politischen Sou­ veräns widersetzt“ hat (134) und weist auf die Tendenz der attischen Demokratie hin, dass die Volkssouveränität bis hin zu einer Missachtung von vom Volk selbst erlassenen Gesetzen ging, wie im Fall des Arginusenprozesses. Das präzisiert im Vergleich noch einmal, wie die Sache hier im Kriton gelagert ist. Die Richter, die Sokrates verurteilt haben, haben kein Gesetz missachtet, sie haben entweder die mit bestimmten Gesetzen zum Schutz der Jugend und der traditionellen Religion gemeinten Tatbestände falsch ausgelegt oder sie haben der Anklage geglaubt, dass hinter Sokrates’ Tun andere Motive steckten, als es in Wirklichkeit der Fall war. Um einen Fall willkür­ licher Außerkraftsetzung der Gesetze handelt es sich hier nicht, sondern um falsche Anwendung. Und in einem solchen Fall verhält sich Sokrates offenbar anders. Was er sachlich von der Ent­ scheidung hält, hat er ja durch seinen Strafantrag in der Apologie (36b ff.) hinreichend demon­ striert. 91

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50b6–8 Denn viel könnte jemand vorbringen, zumal ein mit der Ver­ teidigung beauftragter Redner, zugunsten dieses Gesetzes, das zugrunde gerichtet wird, welches anordnet, dass die getroffenen Urteile gültig sind. Die Formulierung spielt klar an auf die wahrscheinlich einige Jahre vor dem fiktiven Datum des Dialogs (399 v. Chr.) in Athen eingeführte Nomothesie, bei der die Gesetze einer Revision unterzogen wurden, wobei ein Redner92 gleichsam als Anwalt den Part übernahm, darzule­ gen, dass ein bestimmtes Gesetz sinnvoll sei und nicht abgeschafft oder geändert werden müsse.93 Auf dieselbe Institution scheint auch 52a2 nochmals angespielt zu werden. Zugleich ist hier aber das entscheidende Argument gegen Kritons Plan glasklar ausgesprochen. Dass getroffene Urteile gültig sind, ist ein Grundsatz, ohne den Rechtsstaatlichkeit gar nicht denkbar ist. Bei einer Gesetzesrevision würde dies niemals geän­ dert werden, denn es ließe sich kein vernünftiger Grund dafür finden. Wenn also irgendein Gesetz oder eine Bestimmung Anspruch darauf erheben kann, immer beachtet werden zu müssen, dann gerade dieses. Und wenn Sokrates sich der Vollstreckung seiner Strafe entzöge, würde er genau dieses Gesetz missachten.

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Hingegen meint Weiss (1998), 149, die Erwähnung eines „Redners“ solle die hier vorgetra­ gene Argumentation als bloß rhetorisch abwerten. Stokes (2005), 121 f., lässt sich davon zu Recht nicht überzeugen, die Anspielung auf die Nomothesie sieht er aber nicht. 93 Steadman (2006) meint hingegen, es sei hier an die sogenannte γραφὴ παρανόμων (gra­ phē paranómōn) gedacht, eine Klage mit dem Ziel der Feststellung der Gesetzwidrigkeit (modern formuliert: der Verfassungswidrigkeit) eines neuen Gesetzesantrags. Steadman vertritt sogar die These, dass der ganze Kriton in Analogie einer solchen Klage aufgebaut sei und sich die Einheit des Dialogs gerade hieraus ableiten lasse. Das letztere geht ohnehin zu weit, die von Steadman herausgestrichenen Parallelen im Argumentationsgang tragen nicht so weit, wie er glaubt. Vor allem aber ist die Fragestellung des Kriton weder insgesamt noch hier die einer γραφὴ παρανό­ μων, die sich gegen neue Gesetzesanträge richtet. Vielmehr ist der implizite Gedanke, dass So­ krates durch seine Flucht de facto das Gesetz außer Kraft setzen würde, dass rechtsgültige Urteile gelten. Und da in Athen seit dem späten 5. Jahrhundert v. Chr. die Option der Gesetzesrevision in Gestalt der Nomothesie besteht, könnte man sich vorstellen, dass Sokrates im Rahmen des Ver­ fahrens genau dies Gesetz angriffe und ein Redner es dann zu verteidigen hätte. Dabei hätte er jedoch, wie die Gesetze hier darlegen, eine Reihe guter Argumente für den Grundsatz der Gültig­ keit getroffener Urteile vorzutragen, Sokrates für seine Aufhebung dieses Grundsatzes hingegen nicht. Sokrates macht auf diese Weise Kriton darauf aufmerksam, dass die Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit eine Implikation seines Vorschlags ist. Kriton will ja aber die Gültigkeit getroffener Urteile gar nicht generell in Frage stellen und hat deswegen seine Argumentationen nicht in diese Richtung aufgebaut. Eine der Pointen des Kriton ist vielmehr, dass Sokrates der Argumentation inhaltlich und methodisch eine neue Richtung gibt und Kriton dabei korrigiert. Zur Nomothesie vgl. Bleicken (1986), 216 ff. u. 591 ff., (zur davon zu unterscheidenden γραφὴ παρανόμων ders., 386 ff. u. 590).

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Kommentar

50c1 f. Vielleicht sollen wir ihnen entgegnen: „Die Stadt hat uns nämlich Unrecht getan und das Urteil nicht richtig gefällt!“? Das ist natürlich genau der Grund, aus dem Kriton und jeder andere, der für Sokrates’ Flucht aus dem Gefängnis ist, dafür sein wird. Das Urteil ist ein Fehlurteil, schon die Anklage beruhte im Grunde auf einer In­ trige, Sokrates hat weder die Jugend verdorben, noch achtet er die Götter nicht, an die man in Athen glaubt. Wenn man so will, ist gerade seine Reaktion auf Kritons Vorschlag ein entscheidender Hinweis darauf, dass Sokrates eben nicht irgendein Sophist ist, der viel dahinredet und seine Argumente nach Opportunität wechselt, und dass die, die bei ihm ler­ nen, ein hohes Ethos und Respekt vor der Gemeinschaft erwerben. Der zweite Teil der Gegenrede (dass Sokrates Unrecht erlitten hat) ist also zumindest nach Sokrates’ eigener Meinung und erst recht nach der Kri­ tons uneingeschränkt richtig, der erste Teil (dass er von der Stadt Athen Unrecht erlitten hat) ist aber problematischer. Zwar haben die Bürger, die Sokrates als Laienrichter verurteilt haben, in gewisser Weise stell­ vertretend für das athenische Staatsvolk gehandelt, insoweit lässt sich sagen, dass die Stadt dem Sokrates Unrecht getan hat, aber es handelt sich „nur“ um ein Fehlurteil in einem grundsätzlich rechtsstaatlichen Rahmen, es liegt keinerlei bösartige Intention von Seiten des Gesetzge­ bers vor (wie das etwa in einem totalitären System der Fall wäre, das Gesetze mit dem Ziel gibt, beispielsweise Systemkritiker mundtot zu machen), während das, was Sokrates jetzt – vorgeblich, in Wahrheit ist es ja Kritons Vorschlag – plant, ein absichtlich begangenes Unrecht wäre. Diese Differenzierungen gehen an dieser Stelle unter. Der ganze Satz ist kein Ausdruck sorgfältigen und ruhigen Abwägens und kein intelligentes Argument eines klugen Anwalts für die Sache des Kriton und des Sokrates, sondern ein emotional gefärbter Einwand von jeman­ dem, der dunkel ahnt, dass er nicht im Recht ist, und sich damit zu ver­ teidigen sucht, er reagiere ja nur auf bereits erlittenes Unrecht. Das scheint aber Kritons Gemütslage durchaus zu treffen, denn er stimmt sofort zu, obwohl ihm aus dem Vorangegangenen klar sein müsste, dass der Einwand von Sokrates sozusagen nicht ernst gemeint sein kann, denn Sokrates hatte ja der jetzigen Prüfung des Plans mit Kritons Zustimmung gerade zugrunde gelegt, dass auch erlittenes Unrecht kei­ neswegs rechtfertigt, selbst Unrecht zu verüben (49c10 f.), so dass das Argument selbst dann nicht verfinge, wenn es uneingeschränkt richtig wäre. Die Gesetze stellen die Sache am Ende 54b8 ff. selbst richtig, indem sie Sokrates raten, trotz des erlittenen Unrechts Ruhe zu halten, da es ihm „nicht von uns, den Gesetzen, sondern von Menschen“ wider­ fahren sei.

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50c4 f. Sokrates, war das auch Teil der Vereinbarung zwischen uns und dir … ? Nämlich, dass du als Bürger dich dann, wenn du der Meinung bist, ein Urteil sei falsch ausgefallen, nicht an es zu halten brauchst. Oder war nicht vielmehr das Gegenteil vereinbart, wie die Gesetze gleich formu­ lieren? 50c7–9 Oh Sokrates, wundere dich nicht über das Gesagte, sondern antworte, da du dich ja auch des Fragens und Antwortens zu bedie­ nen pflegst Die Gesetze drehen hier gleichsam den Spieß um, und sie tun dies, indem sie Sokrates sehr persönlich ansprechen. Sie sagen, du bringst dich immer durch kritisches Fragen in Schwierigkeiten bei Leuten, deren Meinung nicht über jeden Zweifel erhaben ist, dann wundere dich nicht, dass wir es mit dir genauso machen. Auch mit diesem Detail weist Platons Sokrates indirekt darauf hin, dass er eben kein Sophist ist, der Fragen und Antworten als Eristiker benutzt, also mit dem einzigen Ziel, sein Gegenüber zu widerlegen, unabhängig von der sachlichen Richtig­ keit der von diesem vertretenen These. Sokrates nimmt dagegen für sich in Anspruch, durch sein Fragen Wahrheit aufzudecken, und muss sich mithin jetzt, da er vorgeblich aus dem Gefängnis fliehen will, eben kriti­ schen Fragen stellen.94 Der Ton der Gesetze ist hier erkennbar ruppig und ihre Rede schroff; das erklärt sich einmal daraus, dass sie ja als Per­ sonen dargestellt sind und sich von Sokrates gewissermaßen tödlich bedroht sehen, und zum zweiten daraus, dass sie sich für überlegen hal­ ten und Sokrates’ Verhalten offenkundig als Unverschämtheit betrach­ ten. Sodann hat das Ganze aber auch eine für Sokrates spezifische Kom­ ponente, die sich durch die ganze Szene mit den Gesetzen zieht, nämlich die, dass ausgerechnet Sokrates, der kritische Frager, der es stets auf­ spießt, wenn andere den Pfad der Tugend oder der Wahrheit verlassen, und für sich in Anspruch nimmt, Wahrheit und Vernunft konsequent zu folgen, jetzt – der Fiktion nach – einen so unausgegorenen, nur seinen persönlichen Wünschen dienenden, der Gerechtigkeit hohnsprechenden Plan verfolgt. Die Gesetze sehen unter diesen Umständen keinen Grund, an sich zu halten, sondern sie attackieren Sokrates scharf und unnach­ sichtig, wie ein Staatsanwalt einen Kriminellen ins Verhör nimmt, erst 94 Die Gesetze verwenden dabei hier wie schon vorher durchaus Sokrates’ eigenes Verfahren der Widerlegung, die sogenannte Elenktik (von ἐλέγχω eléngchō, „widerlegen“), wie Polansky (1997), 62 mit Anm. 27, gegen Teile der Forschung richtig hervorhebt.

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recht einen, der bisher den guten Bürger gespielt und sich jetzt durch sein Tun als ein ganz anders gearteter Mensch entlarvt hat.95 50d1 ff. Haben wir dich nicht zunächst einmal gezeugt …? Durch die Politeia (vgl. etwa Buch 2) zieht sich der Gedanke, dass ein Mensch ohne die Hilfe der staatlichen Gemeinschaft nicht einmal phy­ sisch überleben, geschweige denn ein menschenwürdiges Leben führen könnte, das es ihm erlaubt, seine Persönlichkeit, seine individuellen menschlichen Fähigkeiten zu entwickeln.96 Entsprechend verweisen die Gesetze Sokrates hier in strengem Ton auf alle Wohltaten, die er von ihnen erfahren hat. Seine Eltern haben auf der Basis der Ehegesetze geheiratet und ihn gezeugt. Er ist gemäß den Gesetzen Athens aufge­ wachsen und gebildet worden. 50e3 ff. unser Abkömmling als auch unser Knecht, du selbst und deine Vorfahren? Und wenn das so ist, glaubst du dann, du hättest gleiches Recht wie wir … ? Sokrates wäre ohne die Gesetze niemals Sokrates geworden, er ist voll­ ständig unter ihrem Schutz gewesen sein ganzes Leben lang, und ebenso seine Vorfahren. Die Gesetze erheben daher gleichsam Anspruch auf ihn, und sie machen ihm deutlich, dass das Verhältnis zwischen ihnen und ihm nicht eines der Gleichberechtigung ist, sondern einer besonde­ ren Form der Unterordnung. Im Folgenden wird dies mit der zwischen Vater und Sohn und der zwischen Herrn und Knecht verglichen, wobei der Aspekt hervorgehoben wird, dass in diesen Verhältnissen der jeweils 95

Den Begriff der Sokratischen Ironie sollte man eher nicht auf diese Stelle beziehungsweise auf die Rede der Gesetze insgesamt beziehen, denn Sokrates macht sich zwar häufig in dem Sinne klein, dass er sein eigenes Unwissen betont, aber nicht in der Weise, dass er so tut, als sei seine ethische Integrität zweifelhaft. Wenn man die Stelle zum Beispiel mit der Diotima-Rede im Sym­ posion (201d ff.) vergleicht, wo Sokrates gemäß seiner eigenen Darstellung von der Priesterin Diotima über die wahre Natur des Eros belehrt werden muss, fällt der Unterschied auf. Die Gesetze greifen Sokrates nicht nur wegen angeblicher Erkenntnismängel an, sondern weil sein (angeblicher) Fluchtplan decouvriert, dass sein bisheriger Anspruch, ein Mensch zu sein, der sich stets an der Gerechtigkeit orientiert, nur Gerede war. 96 Zu den Grundlagen der Platonischen Staatstheorie und dabei insbesondere zum Staat als Ermöglichungsbedingung für die Entwicklung echter menschlicher Individualität vgl. Schmitt (2003), 381 ff. Neufeld (2003), 128 ff., betont, dass die dem Staat geschuldete Dankbarkeit ja durchaus impliziert, dass solche Leistungen wertvoll sind und auch moralisch von Bedeutung. Daraus leitet er zu Recht ab, dass Interpretationen verfehlt sind, die annehmen, Sokrates sehe als Philosoph für sich keinerlei Verpflichtung, für das Wohlergehen seiner Kinder zu sorgen. Viel­ mehr zielt Sokrates auch für seine Kinder nicht bloß auf ein physisches Überleben, sondern auf ein gutes und gerechtes Leben. Und die Chancen seiner Kinder für ein solches würden durch eine Flucht des Sokrates nicht besser, sondern schlechter; vgl. Neufeld (2003), 139 f.

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Untergeordnete nicht das Recht habe, dem Übergeordneten im Gegen­ zug das anzutun, was dieser möglicherweise ihm antut. Die Rede der Gesetze erweitert hier mithin die Begründung, warum Sokrates nicht tun darf, was Kriton vorschlägt. Bisher war als Grund herausgearbeitet worden, dass man Unrecht nicht mit Unrecht vergelten und auch zur Abwehr von Unrecht selbst keines begehen dürfe. Jetzt fügen die Gesetze hinzu, dass Sokrates als Bürger ihnen, den Gesetzen, unterstehe und also ohnehin kein Recht zu eigenmächtiger „Korrektur“ von gemäß den Gesetzen zustande gekommenen Entscheidungen habe. Für Menschen mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts klingt das hier Vorgetragene zu autoritär und Platons Sokrates wirkt zu staatsgläu­ big. Aber es steht weder hier noch in der Politeia irgendetwas von „du bist nichts, dein Volk ist alles“, sondern das Argument ist gerade, dass Sokrates seine Individualität nur dank der stetigen Unterstützung der Gesetze hat entwickeln können. Die Gesetze fragen ihn auch ausdrück­ lich, ob er an den Gesetzen, die seine Zeugung und sein Großwerden und seine Bildung bestimmt haben, etwas auszusetzen habe. Diese Frage sollte man nicht als Floskel abtun. Es sprechen nicht irgendwelche Gesetze mit irgendjemandem, sondern die Gesetze Athens, eines rechts­ staatlichen Staatswesens, sprechen mit Sokrates, einem ihrer Bürger, und die Gesetze eines Rechtsstaats sind zwar streng, wie sie hier auch auftreten, aber offen für Kritik und Veränderung. Im jetzigen Kontext stellen die Gesetze aber ihre Frage, was Sokrates an ihnen nicht gefalle, weil er ja dabei ist, sie durch sein (vorgeblich geplantes) Tun zu vernich­ ten (50b1). Die Gesetze nehmen rhetorisch geschickt quasi zu seinen Gunsten an, dass er zumindest seinem eigenen Verständnis nach nicht unprovoziert handelt. 50c1 f. hatte der Sokrates dieses fiktiven Gesprächs ja zu seiner Verteidigung vorgebracht, die Gesetze hätten ihm Unrecht getan. Die Gesetze machen ihn jetzt im Gegenzug darauf aufmerksam, dass er in ganz vielen anderen Hinsichten als der einzigen, auf die er jetzt offenbar geachtet hat, große Wohltaten von den Gesetzen empfangen hat und empfängt. Unausgesprochen steht hinter dem hier von den Gesetzen Gesagten, dass eine Flucht aus dem Gefängnis, also ein Nichtbeachten einer gültigen Gerichtsentscheidung, weil man sie für falsch hält, das Prinzip, dass Gesetze gelten und dem Gesetz gemäße Urteile und Entscheidungen ebenfalls, in irreparabler Weise beschädi­ gen würde. Wenn sich jeder à la carte aussuchen kann, welche Gesetze, Urteile und Entscheidungen ihm passen oder nicht, dann unterminiert das alle Gesetze, auch die, die Sokrates bisher geschützt und gefördert haben.97 97

Dass Platon seinen Sokrates hier mit so klaren Argumenten die Staatlichkeit Athens achten

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51a4 f. uns, die Gesetze, und deine Vaterstadt, soweit du es ver­ magst, im Gegenzug zu vernichten Die Gesetze wehren hier das Argument, schließlich hätten sie dem So­ krates ja zuerst Unrecht angetan, sehr heftig ab mit dem Gegenargument, ihm stehe ihnen gegenüber nicht gleiches Recht zu. Wenn sie, in der Meinung, das sei gerecht, ihn vernichten wollten, habe er keineswegs das Recht, nun seinerseits den Versuch zu unternehmen, sie zu vernich­ ten. Dabei setzt Sokrates, der ja hier die Gesetze sagen lässt, was er selbst denkt, voraus, dass es eine Unterminierung der Gesetze und der Rechtsstaatlichkeit wäre, wenn er sich einem gültigen Gerichtsbe­ schluss, wie von Kriton vorgeschlagen, entzöge. Mit anderen Worten, die Gesetze werfen Sokrates vor, dass sein geplantes Handeln nicht ver­ hältnismäßig wäre. Er ist als Einzelner betroffen, die Unterminierung der Rechtsstaatlichkeit würde alle Athener, ja durch das schlechte Bei­ spiel womöglich noch mehr Menschen treffen. Wenn man glaubt, dass Platons Sokrates übertreibe, muss man nur einmal versuchen, sich vor Augen zu führen, was für ein Chaos ausbräche, wenn sich jeder, der sich benachteiligt glaubt, einfach nicht mehr an die Gesetze hielte, bezie­ hungsweise sie immer nur insoweit beachtete und sich an sie hielte, wie es ihm jeweils vorteilhaft erschiene. Unter solchen Bedingungen ist ein gedeihliches Zusammenleben nicht mehr möglich, und dieses Gut kann man tatsächlich für höher und wertvoller halten als das Leben eines Ein­ zelnen. Hinzu kommt, und das ist auch nicht ganz unwichtig, dass So­ krates hier – anders als Kriton – nicht entscheiden muss, ob ein anderer überleben soll, sondern ob er selbst überleben soll.

und Athens Rechtsstaatlichkeit hervorheben lässt, sollte diejenigen vorsichtig stimmen, die aus der unterschiedlichen Behandlung der Demokratie in Platons Politeia und im Staatsmann (Politi­ kos) eine entwicklungsgeschichtliche Hypothese ableiten, gemäß der Platon seine ursprünglich sehr kritische Haltung zur Demokratie später abgemildert habe (so auch Devereux (2011), 109, in seiner sehr empfehlenswerten Überblicksdarstellung der Geschichte der Staatstheorie in Grie­ chenland). Entweder muss man dann den Kriton auch spät datieren (zur Problematik der Datie­ rung Platonischer Schriften vgl. freilich das oben in der Einleitung Gesagte), oder – und dies scheint die Annahme, die mit weniger schwer beweisbaren Prämissen auskommt und darum den Vorzug verdient – der Unterschied ist nicht historisch bedingt, sondern er beruht auf den unter­ schiedlichen Fragestellungen, die in Politeia und Politikos verfolgt werden, und einem daraus resultierenden unterschiedlichen Demokratiebegriff. Zur Unterteilung der Staatsformen im Politi­ kos vgl. Seeck (2012), 110–13; zu Platons sehr ungewöhnlichem Gebrauch des Wortes „Demo­ kratie“ in der Politeia vgl. Bernard (1998), 30–32.

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51b6 f. und sagen willst, indem du dies tätest, tätest du Gerechtes, der du dich wahrlich um das ethisch Gute sorgst? Die Gesetze sprechen auch hier Sokrates durchaus persönlich an, mit einer ironischen Aggressivität, die aus dem Anschlag, den Sokrates auf sie plant, resultiert. Wenn Sokrates so etwas in Betracht zöge, dann hätte er jeden Anspruch darauf verloren, sich als stets um Tugend und Gerechtigkeit bemühender Mensch zu gerieren, vielmehr würde sich ergeben, dass er quasi ein Schönwetterethiker beziehungsweise -gerech­ ter ist, in Konfliktsituationen aber bedenkenlos zu dem greift, was für ihn selbst das Günstigste scheint, ohne die Folgen für andere hinrei­ chend zu beachten. Womit er sich nach Platons Überzeugung selbst die Chance für ein gutes Leben nähme, beziehungsweise sich von Kriton dazu überreden ließe, sich vom guten und gerechten Leben zu entfernen. 51a7–b1 Oder bist du so „weise“, dass dir entgangen ist, dass die Vaterstadt wertvoller ist als Mutter und Vater und die übrigen Vor­ fahren zusammen und erhabener und heiliger und in höherem Ansehen sowohl bei Göttern als auch bei Menschen … ? „Weise“ (σοφός sophós) ist hier ironisch verwendet in dem negativen Sinn, mit dem Platon das Wort für die „Sophisten“ verwendet, die sich ja selbst auch nicht als Sophisten verstehen und anpreisen, sondern als weise Leute, die andere zu ebensolchen machen können (in der Regel gegen entsprechende Bezahlung). Gemeint ist hier jemand, der – wie nicht wenige Sophisten in historischer Zeit – grundlegende Elemente von Staat und Gesellschaft in Frage stellt und die ethische Basis indivi­ duellen wie bürgerlichen Verhaltens unterminiert. So einer scheint So­ krates, meinen die Gesetze, ja offenbar auch zu sein, wenn er offenbar neuerdings lehrt, dass man keinen Respekt vor dem eigenen Land und seinen Gesetzen haben muss. Auch dies trifft gerade Sokrates,98 insofern beim negativen Ausgang seines Prozesses allem Anschein nach eine Rolle gespielt hat, dass er mit den Sophisten in einen Topf geworfen wurde (dass die zeitgenössischen Athener dazu neigten, ist vielleicht auch aus Aristophanes’ Komödie Die Wolken erkennbar, in der Sokrates im Grunde als Sophist dargestellt ist). Wenn Sokrates also wirklich behaupten will, das Urteil gegen ihn werde ihm nicht gerecht, dann kann er sich nicht wie die radikaleren unter den Sophisten gerieren, die die ethische Basis des menschlichen Lebens unterlaufen. Die Überzeugung, dass der einzelne Bürger hohe Achtung vor seinem 98

Schon Taylor (1966), 168 f. (erstmals in den 20er Jahren publiziert), hob hervor, dass es sich um eine spezifisch auf Sokrates zugeschnittene Argumentation handelt.

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Land haben soll, prägt auch die Politeia; Platon hat dafür im 20. Jahr­ hundert viel Kritik geerntet, aber es geht hier immer um den echten Staat und die echte Gemeinschaft, nicht um pervertierte Systeme, die von irgendwelchen Machthabern zu ihren Zwecken konstruiert und betrie­ ben werden. Die Pathologie der Staatlichkeit, die die Bücher 8 und 9 der Politeia bieten, liefert vielmehr gerade die Kriterien, nach denen man empirisch und historisch existierende Staatsgebilde und deren Gesetze und Maßnahmen differenziert beurteilen und gegebenenfalls fundiert kritisieren kann. Dass Platon auch hier im Kriton keineswegs blindem Gehorsam gegenüber allem das Wort redet, das selbst mit dem Anspruch des Vorrangs des Staates vor dem Einzelnen auftritt, wird nicht zuletzt daraus deutlich, dass er die athenischen Gesetze im Folgenden klar her­ vorheben lässt, dass sie keine Willkürgesetze, sondern rechtsstaatliche Gesetze sind. Weder hier noch in der Politeia steht irgendetwas, das for­ malistisch-positivistische Unterwürfigkeit gegenüber ungerechten Gesetzen oder tyrannischen Pseudostaaten und Pseudostaatsmännern nahelegen würde.

51b2 f. und dass man die Vaterstadt mehr respektieren und ihr mehr nachgeben und sie besänftigen muss, wenn sie zürnt, als den Vater Im 7. Brief steht, dass man, wenn einem im Staat etwas falsch zu sein scheint, keine Gewalt anwenden und sich nicht ins Unrecht setzen dürfe, sondern so vorgehen, wie man es täte, wenn man merkt, dass die eige­ nen Eltern in ihrem Leben etwas Wichtiges falsch machen, nämlich im Rahmen des Möglichen respektvoll und taktvoll darauf hinzuweisen und auf Korrektur hinzuwirken, aber Ruhe zu geben, wenn man damit keinen Erfolg hat, freilich, ohne das Falsche zu unterstützen (331c/d). Hier im Kriton kommt der Aspekt der „zürnenden Vaterstadt“ dazu, also eine Situation, in der man mit den Behörden des eigenen Landes in einem Konflikt steht. Auch dies wird von Platon nicht als Konflikt zwi­ schen Gleichen aufgefasst. Insofern darf man sich gewiss wehren, wenn der „Zorn des Vaterlandes“ unberechtigt ist, aber nicht in aggressiver Form. Freilich sollte man bei der Interpretation auch nicht vergessen, dass hier die Gesetze ja als Personen imaginiert sind, die in eigener Sache sprechen und dabei erkennbar erzürnt sind über Sokrates’ vorgeb­ lichen Fluchtplan; die Schärfe der Formulierung beruht insoweit nicht auf vermeintlichem Dogmatismus des Verfassers Platon, sondern auf seiner Fähigkeit zu dramatischer Gestaltung seiner Dialogsituationen einschließlich überzeugender Charakterdarstellung.

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51b3–5 sie entweder überzeugen oder tun, was immer sie anordnet, und erleiden, wenn sie etwas zu erleiden anordnet, indem man Ruhe hält, gleichviel ob man geschlagen oder inhaftiert werden soll Das hier allgemein Formulierte gibt an, wie man richtig vorgehen muss, wenn man mit dem eigenen Land in einen Konflikt gerät oder einem etwas nicht gefällt, das der Staat anordnet. Man darf sich dagegen nicht gewaltsam wehren, sondern nur mit den Mitteln, die konstitutionell gestattet sind, auf Änderung hinarbeiten.99 Wie im Folgenden noch deut­ lich werden wird, ist dies hier wirklich die Rede der athenischen Gesetze, also der Gesetze eines freiheitlichen Rechtsstaats. Die Gesetze in einer Diktatur können diese Rede nicht halten, denn bei ihnen steht von vornherein fest, dass sie „sich nicht überzeugen lassen“, ja dass man schon für bloße Widerrede bestraft werden wird. Diesen Gesetzen hat sich der Bürger nicht freiwillig unterstellt und sie sind auch nicht gesetzeskonform zustande gekommen, es sind also Scheingesetze. Was man in solchen Situationen in einer Diktatur tun soll und was dort erlaubt ist, das ist hier im Kriton nicht behandelt, weil es nicht zum Thema gehört. Sokrates lebt zum Zeitpunkt seines Prozesses im Jahre 399 v. Chr. nicht in einer Diktatur, der Rechtsstaat ist wiederhergestellt (die achtmonatige Herrschaft der sogenannten 30 Tyrannen in Athen im Jahre 404–403 v. Chr. war beendet und die Verfassung wiederhergestellt worden). In der Forschung wird die vorliegende Passage und das, was die Gesetze im folgenden (51e4 ff.) sagen, heftig diskutiert,100 zum einen wegen der vermeintlichen Obrigkeitshörigkeit, die hier zutage trete, sodann aber auch, weil man in dem hier Vertretenen einen Widerspruch erstens zu Sokrates’ Haltung in der Apologie erblickt, wo er 29c6 ff. sagt, dass er auch wenn ihn die Athener dafür mit dem Tode bedrohten, niemals aufhören würde, zu philosophieren. Hier kündige er doch also an, sich einer staatlichen Anordnung zu widersetzen, während im Kriton an der jetzigen Stelle ein unbedingter Gehorsam gegenüber geltenden Gesetzen gefordert werde. Und zweitens stehe das hier Verlangte auch in Widerspruch zu dem vorher im Kriton selbst (49a ff.) aufgestellten Grundsatz, dass man niemals Unrecht tun dürfe. Hinsichtlich des angeb­ lichen Gegensatzes zu der Passage aus der Apologie ist zu sagen, dass 99

Vgl. dazu auch Heitsch (2004), 187 f. m. Anm. 163. Harte (1999),127 f. insistiert zu Recht gegen Kraut (1984), 54 ff., dass die Alternative zwischen Überzeugen oder Gehorchen, die die Gesetze hier aufmachen, so aufzufassen ist, dass mit „Überzeugen“ ein Antrag auf Änderung eines Gesetzes, Revision einer Entscheidung o.ä. gemeint ist und nicht, wie Kraut behauptet „als Bürger die Gesetze/den Staat überzeugen, dass das, was man vorhat, gerecht ist“. 100 Vgl. etwa Brickhouse/Smith (2004), 215 ff. und Kraut (1984), 54 ff.

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der Kontext dort ist, dass Sokrates den Grundsatz aufstellt, dass man sich beim Handeln immer an dem orientieren muss, was man sicher weiß, und nicht an bloßen Meinungen (29a f.). Und Furcht vor dem Tode beruhe darauf, dass man etwas zu wissen meine, das man nicht wisse. Denn niemand wisse, ob der Tod nicht vielleicht die größte Wohltat für den Menschen sei, alle verhielten sich aber, als wüssten sie, dass er das größte aller Übel sei. Er, Sokrates, unterscheide hingegen sorgfältiger, was er wisse, und was er nicht wisse, und sei sich also darüber im kla­ ren, dass er nicht wisse, was es mit dem Tod und dem Hades auf sich habe, hingegen wisse er sehr genau, dass es schlecht sei, einem Besse­ ren, ob Mensch oder Gott, nicht zu folgen. Zur Illustration dieser Über­ legung sagt er dann das eingangs Zitierte. Sokrates’ Ziel ist hier also nicht eine differenzierte Darstellung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Recht, es geht an dieser Stelle überhaupt nicht um Gesetzesgehorsam, sondern Sokrates will die Furchtlosigkeit erklären, mit der er hier vor Gericht agiert, und klarmachen, dass sie nicht auf Missachtung des Gerichts beruht, sondern darauf, dass im Sinne seiner philosophischen Haltung nicht der Tod, mit dem ihn das Gericht maxi­ mal bedrohen kann, das schlimmste Übel ist, sondern schlechtes und ungerechtes Handeln. Und da ihm aufgrund seiner Interpretation eines delphischen Orakels ein Auftrag von Apollon erteilt worden ist, sich in der von ihm gelebten Weise philosophisch zu betätigen, muss dies Prio­ rität haben (Apologie 21a–23c und 37e3–38a1, dazu oben zu 45d1). Zu dem hier im Kriton von den Gesetzen Vorgetragenen steht dies nicht im Widerspruch, was noch klarer wird, wenn man auch den angeb­ lichen Widerspruch des im Folgenden Gesagten zum Grundsatz, dass man niemals Unrecht tun darf, auflöst. Die athenischen Gesetze können bei ihren Ausführungen davon ausgehen, dass ihr Gesetzesinhalt von der Intention des athenischen Gesetzgebers her nicht dazu auffordert, Unrecht zu tun. Unter normalen konstitutionellen Umständen erzeugen Gesetze nur „aus Versehen“ Unrecht, sei es (wie wohl im Falle des So­ krates) durch falsche Anwendung und Auslegung, sei es, weil der Gesetz­ geber Implikationen des gegebenen Gesetzes falsch eingeschätzt oder übersehen hat. Gesetze verbrecherischen Inhalts, wie sie von Diktaturen erlassen werden, stehen im Kriton nicht zur Debatte. Wenn man als Bür­ ger Bedenken gegen ein auf rechtsstaatlichem Wege zustande gekom­ menes Gesetz oder gegen eine auf seiner Basis getroffene Entscheidung hat, so hat man konstitutionelle und legale Möglichkeiten, Einwände zu erheben und auf Änderung zu drängen (das fassen die Gesetze jetzt und im folgenden unter der Option „überzeugen“ zusammen). In einem Rechtsstaat wie der attischen Demokratie gibt es bei allen Mängeln grundsätzlich einen rationalen Diskurs über Recht und Gesetz. Es ist

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aber möglich, dass ich meine Mitbürger beziehungsweise den Staat nicht zu überzeugen vermag (auch wenn ich vielleicht recht habe). Bin ich nun als Einzelner überzeugt, dass durch das einem Gesetz gemäße Handeln im Einzelfall Unrecht entsteht, dass sich hier also Recht und Gerechtigkeit im Widerspruch befinden, und habe ich mich nicht damit durchsetzen können, dass eine Änderung nötig ist, dann muss ich abwä­ gen zwischen dem Schaden, der durch Zuwiderhandeln entsteht, und dem, der durch Befolgen entsteht.101 Nichts anderes ist in dem hiernach Folgenden dargelegt. Die Gesetze machen Sokrates klar, dass die Auf­ hebung des Prinzips, dass rechtsgültige Urteile gelten, sehr viel schlim­ mere Folgen hat als die, die durch seinen Tod entstehen. Und wie Pla­ tons Sokrates in der Apologie betont, dass er eben nicht wisse, dass der Tod ein großes Übel sei, und sich im Gerichtssaal entsprechend verhält, so erkennt er hier im Kriton ein Unterlaufen der rechtsstaatlichen Ord­ nung Athens klar als ein Übel, während ihm sein eigener Tod selbst unter Einbeziehung der Schäden für andere, etwa für seine Söhne, in jedem Fall als das kleinere Übel erscheint. 51b5–7 und wenn sie einen in den Krieg führt, wo man verwundet werden oder sterben wird, so ist das zu tun und so verhält sich das Gerechte Die hier nebenbei erwähnte Angelegenheit des Kriegsdienstes für das eigene Vaterland weist uns dezent darauf hin, dass auch wir weniger individualistisch denken, als wir meinen. Platons Worte im Kriton erscheinen vielen als hart und als das Recht des Staats gegenüber dem Individuum überzeichnend und insofern nach modernen Maßstäben als politisch rechts. Aber auch wir erwarten von jedem Staatsbürger, dass er sich im Rahmen einer allgemeinen Wehrpflicht, soweit sie herrscht – und darüber entscheidet nicht der Einzelne, sondern der Staat –, als Sol­ dat zur Verfügung stellt, unabhängig von seinen privaten Lebensplänen, und dass er sich dabei der Gefahr unterzieht, verwundet oder getötet zu werden. Auch wir sind also der Meinung, dass die staatliche Gemein­ schaft das Recht hat, über das Leben und Wohlergehen jedes einzelnen 101

Brickhouse/Smith (2004), 235 ff., weisen darauf hin, dass Sokrates beispielsweise dem Gefängniswärter, der ihm den Schierlingsbecher bringt, keinerlei Vorwurf dafür macht, dass er einen ungerechten Befehl ausführt (Phaidon 116b–d). Es ist nicht dieser Mann, der über die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit von Urteilen zu entscheiden hat, man kann ihn also auch nicht für den Tod des Sokrates verantwortlich machen. Man kann auch nicht von ihm verlangen, dass er sich weigern müsste, die Handlung auszuführen. Im Gegenteil, ein Staatswesen, in dem jeder Beamte nur Anweisungen ausführt, die ihm einleuchten, könnte noch weniger als Rechtsstaat bestehen als eines, in dem sich Privatleute so verhalten.

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Bürgers zu entscheiden und dieses zur Erringung eines Guts oder zur Abwehr eines Übels einzusetzen. 51b7 f. und man darf nicht nachgeben oder zurückweichen oder den Posten verlassen Die Analogie zu dem von seinem Vaterland für eine Aufgabe eingesetz­ ten Soldaten, der solange auszuhalten hat, wie es angeordnet ist, impli­ ziert, dass Sokrates als Staatsbürger eben auch gleichsam „fahnenflüch­ tig“ würde, wenn er jetzt aus dem Gefängnis flöhe, denn als Staatsbür­ ger hat er die Aufgabe, die Gültigkeit der athenischen Gesetze zu unter­ stützen und zu fördern. Auch hier gilt freilich die Einschränkung, dass alles hier Vorgetragene für einen Staat gilt, in dem zwar im Einzelfall einmal falsch entschieden werden kann, in dem es aber eine freie ratio­ nale Debatte gibt und in dem auch Gesetze in einem konstitutionellen Verfahren revidierbar sind. Analog muss auch der Soldat von einem ver­ antwortungsbewussten Befehlshaber auf seinen Posten gestellt und bei­ spielsweise rechtzeitig zurückgerufen werden, wenn sein Ausharren kei­ nen Sinn mehr ergibt. Die Situation beispielsweise des 2. Weltkriegs, in dem eine Gruppe politischer Verbrecher den Staat unter ihre Kontrolle gebracht hat und verbrecherische Befehle erteilt, hat nicht einmal ent­ fernt mit dem hier im Kriton Behandelten zu tun, und Platons Plädoyer hier wie im 7. Brief, dass man als Einzelner dem Staat gegenüber mit Ehrfurcht und Zurückhaltung agieren muss, bezieht sich immer auf einen Staat, der bei allen möglichen Fehlern grundsätzlich gute Absich­ ten verfolgt und wenigstens der Intention nach dem Gemeinwohl dient. Dies nehmen die athenischen Gesetze ja gerade für sich in Anspruch, wenn sie Sokrates auf die Wohltaten verweisen, die er von ihnen in sei­ nem Leben bezogen hat und bezieht. Die Gesetze des Nazi-Staates etwa müssten sich ja, wenn sie fragten „Oder hast du an den Gesetzen über die Ehe etwas auszusetzen?“, sagen lassen: „Allerdings, da ihr eine rassistische Gesetzgebung eingeführt habt, die aller Menschlichkeit hohnspricht, und damit die Basis des Zusammenlebens der Staatsbürger zerstört und einen Teil eurer eigenen Staatsbürger zu Menschen zweiter Klasse gemacht habt“. Auf der Basis solcher „Gesetze“, die den Namen nicht verdienen, kommen nicht wie hier im Fall des Sokrates durch einen bedauerlichen Justizirrtum, son­ dern aufgrund der verbrecherischen Anlage und Intention des Gesetzes selbst Menschen in Nachteile und womöglich in tödliche Bedrohung. Nichts, das hier im Kriton steht, spricht dafür, dass es ungerecht wäre, sich solchem zu widersetzen. An etwas derartiges ist hier schlicht nicht gedacht.

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Aus der Apologie (32c/d) ist aber durchaus zu entnehmen, wie Sokra­ tes – auch Platons Sokrates – über diese Frage denkt, denn er berichtet dort selbst, dass er von den 30 Tyrannen gemeinsam mit vier anderen den Befehl erhielt, einen gewissen Leon zu verhaften, damit er hinge­ richtet werden könnte.102 Während die anderen den Befehl ausführen, geht Sokrates einfach nach Hause. Er fügt hinzu, dass er das wohl nur deshalb überlebt habe, weil die Diktatur der 30 schon so bald danach zusammengebrochen sei. Von Rechtspositivismus103 oder naiver Staats­ gläubigkeit ist hier also keine Spur,104 aber es sind nicht verbrecherische Gesetze und auch nicht verbrecherische Befehle krimineller Machtha­ ber, die Sokrates zu Tode bringen.

51c2 f. Nicht fromm ist es hingegen, Mutter oder Vater gewaltsam zu zwingen, und noch viel weniger die Vaterstadt Wie zu 51b2 f. vermerkt steht sehr Ähnliches im 7. Brief Platons, die Gegenüberstellung hier im Kriton ist die zwischen „Überzeugen“ (51b3 und c1) und „Gewaltanwendung“ (51a5 und c2). Konkret auf den vor­ liegenden Fall angewandt bedeutet das durchaus, dass Sokrates sich intensiver hätte bemühen können, seinen Prozess zu gewinnen, es stan­ den ihm bei der Vorbereitung und während des Prozesses verschiedene Mittel zur Verfügung, um einen Ausgang in seinem Sinn zu erreichen. Diese hat er nicht oder nicht erfolgreich genutzt, das Urteil ist rechts­ kräftig. Jetzt aus dem Gefängnis zu entfliehen, um sich der Bestrafung zu entziehen, wäre ein gewaltsamer Akt gegen den Staat, und zwar gegen einen freiheitlichen Rechtsstaat, der bestrebt ist, die Dinge gerecht und richtig zu ordnen und vor Gericht den Gesetzen und der Sachlage gemäß zu entscheiden.105 Das Fehlurteil gegen Sokrates ist ein unsystematisches Unglück, es steckt dahinter keine Schlechtigkeit des athenischen Staates, anders als dies bei der Willkürjustiz in einer Dikta­ 102

Vgl. zur Stelle auch Kraut (1984), 17 ff.; s. ferner oben zu 50b2–5. Kraut (1984) hat in diesem Punkt die frühere Forschung – z. B. Allen (1980) und Woozley (1979) – durch sorgfältige Analyse der Argumentation des Kriton korrigiert, ohne sich damit frei­ lich nachhaltig durchsetzen zu können. 104 Vgl. auch Heitsch (2002), 134, der frühere Deutungen wie die von Bostock (1990) in die­ sem wichtigen Punkt widerlegt. Bostock, 18, scheint mir nicht genau genug zu differenzieren zwischen einer offenkundig von nicht rechtsstaatlich denkenden Akteuren wie den 30 Tyrannen erteilten Anweisung und dem, was durch eine unsystematische einzelne Fehlentscheidung eines in einem rechtsstaatlichen Rahmen operierenden Gerichts entsteht. Vgl. auch van Ackeren (2008), 48–50. 105 Vgl. auch Brickhouse/Smith (2004), 248. 103

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tur in der Regel der Fall ist, deshalb kommt hier im Kriton die Frage eines Widerstandsrechtes wie gesagt gar nicht auf.106 Nicht ganz überhören sollte man ferner, dass durch den Begriff „fromm“ (ὅσιον hósion 51c2) und die Formulierung „in höherem Anse­ hen sowohl bei Göttern als auch bei Menschen“ (51b1) durchaus gesagt ist, dass die staatliche Gemeinschaft auch unter dem Schutz der Götter steht. Das impliziert sowohl, dass ein Vergehen gegen diese Gemein­ schaft auch den Göttern nicht lieb wäre, als auch umgekehrt, dass das Staatswesen etwas Gutes ist, das in der göttlichen Ordnung einen gewis­ sen Ort und eine Funktion hat. Das lässt sich freilich auch umkehren: ein Verbrecherstaat, der zum Beispiel ohne Grund seine Nachbarn über­ fällt, ist natürlich nicht von den Göttern geschützt, denn die Götter sind nach Platon gut und nur Ursache von Gutem, können also schlechten Menschen und schlechten Taten keine Unterstützung gewähren. Auch diese Formulierungen bekräftigen folglich einerseits eine gewisse Unterordnung des Bürgers unter seinen Staat, aber immer unter der bindenden Bedingung, dass der Staat auf das Gute, auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. 51c3 f. Was sollen wir darauf entgegnen, Kriton? Dass die Gesetze die Wahrheit sagen, oder nicht? Sokrates’ Frage bezieht sich der Fiktion nach darauf, wie er und Kriton, die von den Gesetzen bei dem gemeinsamen Fluchtplan sozusagen ertappt und gestellt worden sind, reagieren müssten, und Kriton gibt sofort zu, dass die Gesetze recht haben. Das heißt, dass Kriton, wenn man ihn allgemein fragt, selbst nicht denkt, dass man die Gesetze jeder­ zeit außer Kraft setzen und nicht beachten darf, wenn sie einem einen Nachteil bereiten. In Wirklichkeit setzt Sokrates hier also sein Verfahren fort, bei der Prüfung von Kritons Vorschlag immer rational und dialek­ tisch vorzugehen, und also immer nur mit Zustimmung Kritons einen Schritt weiter zu gehen. Auch daran erkennt man, dass das hier von den Gesetzen Vorgetragene – auch wenn es im Rahmen einer Art von Proso­ 106

Ein anderer, im Kriton ebenfalls nicht zu thematisierender, weil nicht vorliegender Fall wäre der, dass in einem freiheitlichen Rechtsstaat in letzter Instanz eine Entscheidung getroffen wird, deren Folgen viele treffen werden (im Kriton geht es ja „nur“ um das Leben eines Einzel­ nen). Die Ausführungen, die Platon seinen Sokrates den athenischen Gesetzen in den Mund legen lässt, beziehen sich ja darauf, dass das dem Sokrates als einzelnem Bürger drohende Übel zurück­ zustehen habe vor dem allen Bürgern entstehenden Übel, wenn rechtsstaatlich zustande gekom­ mene Gerichtsurteile von jedem Bürger nach gusto beachtet werden können oder nicht. Selbstver­ ständlich ist diese Abwägung noch sehr viel schwieriger, wenn auf beiden Seiten hohe und viele oder womöglich alle Bürger betreffende Rechtsgüter stehen.

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popoiie durchaus in einer Weise formuliert ist, wie es nur die Person gewordenen athenischen Gesetze selbst zu ihrem Bürger Sokrates sagen könnten – letztlich dem entspricht, was Sokrates selbst gegen Kritons Vorschlag einzuwenden hat.

51c6–52d3 Rede der Gesetze – Unterabschnitt 2 Hier präzisieren die Gesetze, dass Sokrates sich durch seine Lebens­ weise ihnen freiwillig unterstellt hat, da ihm freistand, Athen zu verlas­ sen und da er zudem konstitutionelle Möglichkeiten hatte, auf eine Reform oder Abschaffung von Gesetzen hinzuwirken, wenn er sie nicht für gut und richtig hielt. Insofern sei er jetzt an seine freiwillige Einwil­ ligung gebunden. 51c7 f. dass du im Begriff bist, uns nicht Gerechtes zu tun Die Gesetze vollziehen im Folgenden einen sehr wichtigen Begrün­ dungsschritt, denn sie legen jetzt dar, dass sie rechtsstaatliche Gesetze sind, die dem Bürger freie Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkei­ ten einräumen. Es geht hier im Kriton eben nicht um Widerstand gegen diktatorische Maßnahmen, sondern darum, wie man als der Betroffene agieren soll, wenn man in einem Rechtsstaat durch einen Justizirrtum zu Unrecht verurteilt wird und das Urteil rechtskräftig ist. Darf man sich dann, auf die Gerechtigkeit verweisend, der Urteilsvollstreckung entzie­ hen? Die Rede der Gesetze will beweisen, dass der philosophisch ja tat­ sächlich bestehende Vorrang der Gerechtigkeit vor historisch bestehen­ dem Gesetz und Justiz nicht so klar, wie man zunächst meinen könnte, für die Flucht aus dem Gefängnis spricht. Rechtssicherheit und das Prin­ zip, dass getroffene Urteile gelten, sind ebenfalls von der Gerechtigkeit geschützte Werte. 51d4 f. dass es, wem immer wir nicht gefallen, gestattet sei, sein Eigentum zu nehmen und fortzugehen, wohin immer er will Die Gesetze weisen darauf hin, dass niemand in Athen bleiben muss, dem es dort nicht gefällt, und sie heben dabei hervor, dass es jedem nicht nur frei steht, das Land zu verlassen, sondern dass er sein gesamtes Ver­ mögen ungehindert außer Landes transferieren kann (e1 noch einmal wiederholt). Solche Möglichkeiten pflegen Diktaturen ihren Bürgern gerade nicht einzuräumen, und die realen Möglichkeiten, ein Land ohne finanzielle und andere Nachteile zu verlassen, sind an vielen Orten durchaus eingeschränkt. Es ist für die Argumentation der Gesetze hier

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im Kriton von zentraler Bedeutung, dass sie Sokrates darauf verweisen können, dass er sich ihnen völlig freiwillig unterstellt hat, weil er – soweit es an den athenischen Gesetzen liegt – ohne jeden Nachteil das Land hätte verlassen und sein Leben an anderem Ort hätte begründen können. 51e1–4 Wer immer von euch jedoch dableibt, sehend, auf welche Weise wir die Urteile fällen und ansonsten die Stadt verwalten, von dem sagen wir, dass er nunmehr durch sein Handeln uns sein Ein­ verständnis erklärt habe, dass er das tun werde, wozu immer wir auffordern Wer als Erwachsener, nachdem er Gelegenheit gehabt hat, sich mit der athenischen Verfassungswirklichkeit vertraut zu machen, freiwillig dort bleibt und sich dort sein Leben aufbaut, Familie gründet, beruflich tätig ist, und so fort, von dem kann man sagen, dass er durch sein Handeln implizit sein Einverständnis erklärt hat, als gesetzestreuer Bürger zu leben. Darauf aufbauend kann der Betreffende eben auch für Verletzung genau dieser Gesetze bestraft werden. Die Gesetze formulieren dabei im Blick auf Sokrates auch ausdrücklich, dass der in die athenische Gemeinschaft Hineinwachsende schließlich auch sehen kann, „auf wel­ che Weise wir die Urteile fällen“ (e2). Dies ist offenbar im Hinblick darauf gesagt, dass man prozedural ja in Sokrates’ Prozess gewisse generelle Schwächen des attischen Gerichtssystems erkennen kann (das scheint Platon so zu sehen, das scheint Platons Sokrates so zu sehen und darum den Gesetzen entsprechende Worte in den Mund zu legen). Die Gesetze sagen zu Sokrates: „Du kanntest das athenische System in sei­ nen Stärken und Schwächen, wären dir die Schwächen zu arg gewesen, dann hättest du gehen können“. Verstärkend kommt im Falle Athens noch hinzu, dass man auch als in Athen Geborener und von Athenern Abstammender nicht automatisch Bürger Athens wurde, sondern nur auf Antrag.107 Sokrates muss sich also, als er volljährig wurde, aktiv darum bemüht haben, das Bürger­ recht zu erhalten. e5 dreifach Unrecht begeht Wer nicht tut, was die Gesetze anordnen, begeht in dreifacher Hinsicht Unrecht, wie gleich dargelegt wird. Erstens hätte es ihn ohne sie nicht 107 Kraut (1984), 152 ff., weist auf die Bedeutung hin, die dieses Faktum für den Anspruch hat, den die athenischen Gesetze Sokrates gegenüber in ihrer Rede erheben können. Vgl. außer­ dem Brickhouse/Smith (2004), 217 ff.

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einmal physisch gegeben, nur im Schutze gesetzlicher Einrichtungen haben seine Eltern ihn gezeugt. Daher verdienen die Gesetze die Hoch­ achtung, die dem eigenen Erzeuger gebührt. Zweitens wäre er ohne die Gesetze nicht gebildet und erzogen worden, er hätte seine individuelle menschliche Persönlichkeit nicht entwickeln können. Daher verdienen die Gesetze auch den Respekt, der Erziehern gebührt. Und drittens hat er als Bürger im Rechtsstaat sogar die Wahl, entweder den Gesetzen zu gehorchen, oder eine Korrektur auf Gesetzesebene oder auf Ausfüh­ rungsebene zu betreiben, soweit das jeweils vorgesehen ist, so dass er dann gesetzeskonform etwas anderes als das zunächst Angeordnete tun dürfte. Dieser letzte Aspekt ist der, der in diesem Abschnitt neu und ent­ scheidend hinzukommt. Die beiden anderen waren 50d ff. schon aufge­ führt worden. 52a1–3 wo wir doch eine Alternative eröffnen und nicht aggressiv anordnen, zu tun, was immer wir befehlen, sondern ihm die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten lassen, entweder uns zu überzeugen oder es zu tun Erneut betonen die athenischen Gesetze ihren rechtsstaatlichen Charak­ ter. Sie ergänzen das schon vorgebrachte Argument, dass Sokrates frei­ willig in Athen geblieben ist und sich dadurch ihnen unterstellt hat, da es ihm freigestanden hätte, das Land mit seinem gesamten Eigentum zu verlassen, durch das zweite, dass in Athen durchaus Möglichkeiten bestehen, Gesetze zu ändern, und dass die den Gesetzen gemäßen Ent­ scheidungen in einem offenen Diskurs getroffen werden, auf den der Bürger Einfluss nehmen kann (insbesondere im Rahmen der Nomothe­ sie, vgl. das folgende Lemma). Die athenischen Gesetze lassen quasi mit sich reden, man kann sie „überzeugen“.108 Sie verlangen also gerade nicht bedingungslosen Gehorsam ohne jede Diskussionsmöglichkeit. Auch hier ist wieder zu sehen, dass die Diskussion sich an der tatsächli­ chen politischen Situation im historischen Athen und dem sich daraus ergebenden Verhältnis zwischen dem Staat Athen und seinem Bürger Sokrates orientiert und keine völlig allgemeine, von konkreten Umstän­ den abstrahierende Diskussion von Notwehrrecht oder ähnlichem ist. 108

Nicht überzeugend ist die von Kraut (1984), 54 ff., vorgetragene These, mit dem „Über­ zeugen“ der Gesetze sei hier eine Rechtfertigung des Bürgers nach einem Zuwiderhandeln gegen sie gemeint und nicht ein Korrigieren von Gesetzen und Beschlüssen, so dass man nach der Ver­ änderung etwas tun darf, was vorher aus rationaler Prüfung nicht standhaltenden Gründen verbo­ ten war (oder umgekehrt etwas unterlassen, das vorher befohlen war); eine ausführliche Gegenar­ gumentation bei Penner (1997), 155 ff.

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52a2 entweder uns zu überzeugen Man kann hier zwar einen allgemeinen Hinweis auf die rechtsstaatliche Verfasstheit Athens sehen, die es immer grundsätzlich gestattete, Geset­ zesvorschläge einzubringen, aber noch näher liegt es womöglich, hierin eine Anspielung auf die in Athen seit dem späten 5. Jahrhundert v. Chr. bestehende Institution der sogenannten Nomothesie zu erblicken (So­ krates wurde ja 399 v. Chr. hingerichtet, dies ist mithin das fiktive Datum des Kriton). Dabei wurden Gesetze regelmäßig einer Revision unterzo­ gen, wobei ein Redner den Part übernahm, gleichsam wie ein Rechtsbei­ stand (es gab keine Juristen in Athen) ein Gesetz zu verteidigen, worauf schon vorher mit der Formulierung „Denn viel könnte jemand vorbrin­ gen, zumal ein mit der Verteidigung beauftragter Redner, zugunsten die­ ses Gesetzes, …“ (50b6 f.) angespielt worden war.109 Platon lässt die Gesetze damit anscheinend auf damals in Athen durchaus noch aktuelle konstitutionelle Einrichtungen Bezug nehmen, die die demokratischen Einflussmöglichkeiten der Bürger auf die kon­ krete Ausgestaltung der Gesetze sogar verstärkt hatten. Im Kontext des Kriton ist es ein sehr wichtiges Argument, dass Sokrates die Möglich­ keit gehabt hätte, als Bürger auf eine Korrektur bestimmter Schwächen des attischen Gerichtsverfahrens hinzuwirken, die sich prozedural in sei­ nem Prozess ungünstig ausgewirkt hatten, etwa, dass die Richter alle Laien waren, dass es gar keinen Juristenstand gab, sondern nur Rheto­ ren, dass also die Verhandlung nicht von einem geschulten Richter gelei­ tet wurde, nichts irgendwie juristisch zusammengefasst wurde vor der Entscheidung, dass die Laienrichter nach den Vorträgen von Anklage und Verteidigung ohne Aussprache abstimmten, dass bei Verfahren mit festzulegendem Strafmaß (sogenannter ἀγὼν τιμητός, agōn timētós) die Richter nur eine Strafe beschließen konnten, die Anklage oder Ver­ teidigung beantragt hatten, und schließlich, dass das Urteil in keiner Weise korrigierbar war, weil es nur eine Instanz gab und weder Beru­ fung noch Revision, um nur einige Punkte zu nennen. Sokrates ist nicht nur in Athen geblieben und hat sich damit attischem Recht und attischer Gerichtsbarkeit freiwillig unterstellt, er hätte sogar die Möglichkeit gehabt, Änderungen zu initiieren, hat dies aber nicht getan und kann 109 Steadman (2006) scheint mir diesen Aspekt nicht in seiner Bedeutung zu erkennen. Es geht nicht darum, dass der ganze Kriton einem Gesetzesprüfungsverfahren (ob nun der Nomothe­ sie oder der γραφὴ παρανόμων, graphē paranómōn), analog wäre (zu beiden vgl. oben zu 50b6–8 m. d. Anm.), sondern die Nomothesie deutet als Verfahren klar auf die Rechtsstaatlichkeit der attischen Demokratie hin. Sokrates hat als Bürger Athens konstitutionelle Möglichkeiten, auf die Gesetzeslage Einfluss zu nehmen. Dies ist ein wichtiges Argument dafür, dass andererseits von ihm erwartet werden darf, dass er sich an die Gesetze hält.

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sich deshalb jetzt nicht beklagen, wenn sein Verfahren ungünstig gelau­ fen ist. Dies ist ein wichtiges Argument gegen die scheinbar naheliegende Interpretation, Platon predige im Kriton ganz rechtspositivistisch die Gültigkeit jedes, wie auch immer zustande gekommenen Gesetzes und bestreite dem Individuum jegliches Widerstandsrecht. Die jetzige Pas­ sage macht deutlich, dass dies schlicht nicht das Thema des Kriton ist. Widerstand kann man gegen diktatorische Regime und gegen von sol­ chen Regimen oktroyierte Unrechtsgesetze leisten. Wenn in einem Rechtsstaat, der Regeln für das Erlassen, Ändern und Abschaffen von Gesetzen gemäß einem institutionell zum Ausdruck kommenden Bür­ gerwillen hat, im Einzelfall durch prozedurale Fehler, Intrige oder ein­ malige Mängel eine Fehlentscheidung getroffen wird, begründet dies kein Widerstandsrecht, auch wenn dabei generelle Schwächen von Ver­ fassung oder Gesetzen zutage treten, solange diese Schwächen nicht absichtlich, sondern versehentlich entstanden sind, zumal wenn der Bür­ ger diese Schwächen hätte thematisieren können und es für ihn einen konstitutionellen Weg gegeben hätte, auf ihre Beseitigung oder Milde­ rung hinzuwirken, wie im vorliegenden Fall. Zur Frage, wann es ein Widerstandsrecht gegen den Staat geben kann, ist aus dem Kriton nur zu gewinnen, dass es nach Platon eher kein Widerstandsrecht gegen rechts­ staatliche Entscheidungen in letzter Instanz gibt, weil dies generell die Gültigkeit von Gesetzen untergraben würde und weil es den Grundsatz verletzt, dass man auch dann kein Unrecht üben darf, wenn man Unrecht erlitten hat. Allerdings ist diese Auffassung hier so individuell bezogen auf Sokrates und so spezifisch auf seinen Prozess und sein Urteil gemünzt dargelegt, dass eine Generalisierung in dem Sinne, dass für Platon überhaupt keine Umstände denkbar wären, wo auch im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens eine andere Entscheidung als hier im Kriton möglich wäre, zumindest als unvorsichtig erscheinen kann. Zusammengefasst ist hervorzuheben, dass neben dem historischen Aspekt der Interpretation, dass die Möglichkeit der Überprüfung und Verbesserung in Athen ab einem gewissen Zeitpunkt in dem Verfahren der Nomothesie institutionalisiert war, philosophisch gesehen hier das entscheidende Argument ist, dass es überhaupt für einen Bürger konsti­ tutionelle Möglichkeiten zur Änderung und Verbesserung von Gesetzen gibt, was in Athen auch schon vor der Einführung der Nomothesie der Fall war. Und es ist wichtig, auch die Umkehrung zu machen: wenn dies nicht der Fall ist und man als Bürger also nicht in einem freiheitlichen Rechtsstaat lebt, dann gelten die Argumente nicht, die die athenischen Gesetze hier für sich in Anspruch nehmen, solche Gesetze verdienen nicht denselben Respekt und haben nicht in derselben Weise Anspruch

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auf Unterordnung seitens des Bürgers. Auch insofern ist das hier alles andere als ein Rechtspositivismus oder legalistischer Formalismus.110 52a5 Und für dich nicht am wenigsten von den Athenern, sondern am meisten von allen Auch hier ist der besondere Charakter des Gesprächs zu erkennen, in dem es wirklich primär darum geht, ob Sokrates unter den speziellen Umständen im Zusammenhang mit seinem Prozess und unter den gesetzlichen und verfassungsmäßigen Bedingungen des Athen, in dem er lebt, jetzt aus dem Gefängnis entfliehen und sich der Urteilsvollstre­ ckung entziehen darf. Und es lässt sich hier interessanterweise beobach­ ten, wie man nach Platon eine ethisch-politische Einzelfrage methodisch korrekt klären kann.111 Man sucht zunächst das zugehörige Allgemeine (in diesem Fall: darf man Unrecht mit Unrecht beantworten? Dies in der Annahme, dass die Verurteilung zum Tode ein Unrecht war, die Flucht aus dem Gefängnis aber auch eines wäre), und klärt, wie es sich damit verhält. Damit ist man jedoch nicht fertig, sondern man muss jetzt prü­ fen, ob andere Aspekte diesen Punkt vielleicht ganz oder teilweise außer Kraft setzen. Mitten in dieser Prüfung ist Sokrates gerade, aber sie ergibt – ganz im Gegensatz zu Kritons Rede am Anfang –, dass alle anderen sachzugehörigen Aspekte in diesem Fall nicht etwa Schlupflöcher eröff­ 110

Platon übt zwar in der Politeia scharfe Kritik an einer Staatsform, die dort „Demokratie“ genannt wird, damit ist aber nicht ein Rechtsstaat gemeint und auch nicht das, was wir sonst heute gewöhnlich unter „Demokratie“ verstehen, ja nicht einmal das, was in der griechischen politi­ schen Terminologie des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. gewöhnlich so genannt wurde. Vielmehr entwickelt Platon in der Politeia einen eigenen Begriff von „Demokratie“, der psychologisch auf­ grund der Denkweise der Bürger einer bestimmten Staatsform definiert ist (vgl. dazu Schmitt (2003), 514 ff., und Bernard (1998), 30–32). „Demokrat“ ist dabei, wer den Unterschied zwischen notwendigen und nicht notwendigen Begierden leugnet. Fragen der Rechtsstaatlichkeit sind pri­ mär nicht in der Politeia, sondern hier im Kriton und vor allem im Politikos (Staatsmann) thema­ tisiert. Platons Position ist, dass ein Gesetz immer das Problem hat, dass die einzelnen Situationen und Fälle Aspekte enthalten können, die ein noch so kluger Gesetzgeber nicht vorhersehen kann (Politikos 294 a/b), so dass die freie Entscheidung eines klugen und gerechten Menschen immer das Beste für den Einzelnen und die Gemeinschaft ist (vgl. 293 d/e und überhaupt 294 f.), aber wo immer eine solche nicht garantiert werden kann (301e), ist ein Staat, in dem Gesetze in einem geregelten Verfahren gegeben, geprüft und geändert werden können, unabhängig davon, ob in ihm einer, wenige oder viele herrschen, das nächstbeste (300 c1–3), womit im Kontext nicht gemeint ist, dass eine Diktatur, die ihre verbrecherischen Gesetze formal korrekt einhält, ein guter Staat wäre, sondern unter Einhaltung der Gesetze ist ziemlich genau das zu verstehen, was wir als Rechtsstaatlichkeit bezeichnen (vgl. auch den englischen Begriff „rule of law“). Dazu zusammen­ fassend Devereux (2011), 108 f. 111 Dieser Punkt wird von Brown (1992), 81 f. hervorgehoben; vgl. ferner Polansky (1997), 49 f.

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nen, sondern die Antwort nur verstärken, die sich aus der allgemeinen Einsicht ergibt, dass man niemals Unrecht tun darf. 52a6–8 würden sie mich wohl zu Recht attackieren mit dem Argu­ ment, dass ich nun einmal am meisten von allen Athenern ihnen diese Einverständniserklärung erteilt habe Dies ist ganz individuell auf Sokrates gemünzt und würde für niemand anderen in gleicher Weise gelten. Sokrates ist gleichsam der „SuperAthener“, und wenn man sich einmal von der rhetorisch-schriftstelleri­ schen Fiktion befreit, dass hier die athenischen Gesetze mit Sokrates sprechen, wird klar, was Platons Sokrates hier zu seinem alten Freund Kriton sagt. Gerade weil das gegen ihn ergangene Urteil völlig falsch ist, das ja annimmt, dass Sokrates eine Gefahr für Athen darstelle, dass er ein schlechter Bürger sei, gerade deshalb kann und will Sokrates sich jetzt nicht dem Ergebnis der falschen Entscheidung entziehen. Sokrates ist eben nicht nur kein schlechter Bürger, sondern er ist der beste Bürger, den Athen je gehabt hat, und er ist nicht trotz größter Bedenken „zähne­ knirschend“ in Athen geblieben, sondern er hat die Möglichkeiten freier intellektueller Betätigung, die Athen mehr als alle anderen griechischen Städte und mehr als viele historische Staatswesen zu den unterschied­ lichsten Zeiten und an den unterschiedlichsten Orten geboten hat, inten­ siver genutzt als irgendjemand. Insofern ist sein Einverständnis mit den athenischen Gesetzen inniger als das von irgendjemand anderem, und er ist den Gesetzen zu größerer Dankbarkeit verpflichtet als jeder andere Athener. 52b2–5 Denn niemals hättest du dich, verglichen mit allen anderen Athenern, außerordentlich viel hier in deiner Heimatstadt aufgehal­ ten, wenn sie dir nicht außerordentlich gefallen hätte, und weder zum Besichtigen von Sehenswürdigkeiten bist du jemals aus der Stadt gegangen Die Athener waren durchaus reiselustige Leute (b4 ἐπὶ θεωρίαν epi theōrían, „zum Besichtigen von Sehenswürdigkeiten“), wie es ihrer all­ gemeinen Aufgeschlossenheit und Neugier entsprach. Sie waren in Pla­ tons Terminologie aus der Politeia durchaus „Schaulustige“ (φιλο­ θεάμονες philotheámones 479a3, vorher 475d2, 476a2 und b4), also Menschen, die sich für Wahrnehmungen vielfältigster Art begeistern und dementsprechend Abwechslung lieben.112 Sokrates war demgegen­ 112

Polansky (1997), 66, weist darauf hin, dass das Wort, das hier für die Besichtigungstouren der schaulustigen Athener verwendet ist, nämlich θεωρία (theōría), zugleich auch den Akt des

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über, wie die Gesetze gleich ausführen werden, dafür bekannt, dass er Athen sozusagen nie freiwillig verließ, „außer ein einziges Mal zum Isthmos“ (52b5), eine Ausnahme, die das Argument nur noch unter­ streicht, weil es in 70 Jahren offenbar die einzige ist, und sie Sokrates gerade einmal bis ins nahegelegene Korinth geführt hat. Ansonsten hat er Athen nur im Rahmen von Feldzügen als Soldat verlassen (b6). Das ist allem Anschein nach keine Stilisierung von Seiten Platons, sondern der historische Sokrates hat es wirklich so gehalten, und die Gesetze können ihn hier gleichsam daran packen. Für den Platonischen Sokrates gilt es aber allemal, der kennt sich schon außerhalb der Stadt­ mauer Athens nicht recht aus und muss sich von dem viel jüngeren Phaidros führen und sagen lassen, er gleiche eher einem Touristen mit einem Fremdenführer als einem Einheimischen (Phaidros 230c7 f.). Sokrates entgegnet darauf zu seiner Verteidigung (230d3–5), er sei nun einmal ein „Lernlustiger“ (φιλομαθής philomathēs) und Land und Bäume wollten ihn nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt. Dabei ist „lernlustig“ im Grunde ein harmloser klingendes Synonym zu „Philosoph“, denn das Substantiv und Adjektiv φιλόσοφος (philóso­ phos) bedeutet auf Griechisch wörtlich „weisheitsliebend“; und „lern­ lustig“ ist im Phaidros ja offenbar auch nicht im Sinne der „Schaulusti­ gen“ aus der Politeia gebraucht, sondern im Gegenteil, um Sokrates’ Streben nach echter Erkenntnis zu charakterisieren, dem es offenbar gemäß ist, Gespräche mit anderen Menschen zu führen, statt Besichti­ gungstouren zu unternehmen.113 Von dem hohen Wert echter philosophi­ scher Gespräche hatte Sokrates auch in der Apologie (38a) gespro­ chen,114 um zu begründen, warum er nicht Ruhe geben und sein die Athener ja allem Anschein nach nervendes Verhalten aufgeben könne (Apologie 41b kündigt er sogar an, sein Verhalten auch im Hades fortset­

Denkens, die Betätigung des Intellekts bezeichnet. Die lateinische Lehnübersetzung für erstere Bedeutung wäre „Spektakel“, für letztere „Kontemplation“; im jetzigen Kontext ist das Wort klar für die „Schaulustigen“ im Sinne derer gebraucht, die bunte Abwechslung im Bereich der Wahr­ nehmung suchen, man kann aber immerhin einen versteckten Hinweis auf die andere Art von Schaulustigen, von der in der Politeia 475d ff. gesprochen wird, nämlich die „Schaulustigen der Wahrheit“ (475e4) vermuten. 113 Insoweit steht die konsequente Art, wie Sokrates sowohl aktuell, unmittelbar vom Tode bedroht, als auch sein ganzes Leben lang offenbar immer dem Logos gefolgt ist, im Gegensatz zu dem am Ende doch unüberlegten Eifer, mit dem ihn Kriton zur Flucht überreden wollte, womit sich Kriton zumindest als nur teilweise vom Logos bestimmt erweist; der eifernde „Thymos“ hatte bei ihm zumindest zu Beginn des Gesprächs und vorher, als er den Plan fasste, offenbar die Oberhand gewonnen gehabt (vgl. Hatzistavou [2013], bes. 591 f.). Zum Thymos in Platons Schriften vgl. Schmitt (2003), 298 ff., Büttner (2000), 31 ff., und Brinker (2008). 114 Dazu Heitsch (2002), 152 f. mit Anm. 317.

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zen zu wollen). Insofern hat Sokrates von den Möglichkeiten zu freier Rede, die die athenischen Gesetze bieten, besonders viel profitiert, auch wenn er sich damit unbeliebt gemacht hat. 52c1–3 So sehr hast du uns vorgezogen und dein Einverständnis erteilt, nach unserer Vorgabe Bürger zu sein, insbesondere hast du auch Kinder in ihr gezeugt Das gesamte Verhalten des Sokrates über Jahrzehnte spricht dafür, dass er in Athen leben wollte und die Stadt anderen so sehr vorgezogen hat, dass er nicht die geringste Sehnsucht hatte, andere Städte mit anderen Gesetzen kennenzulernen (b7 f.). Er hat sich also mehr als andere der Leitung der Gesetze Athens unterstellt, sich ihnen angeschlossen und in ihrem Rahmen und mit ihrer Unterstützung gelebt und getan, was er getan hat. 52c3–6 Sodann bestand auch noch bei dem Prozess selbst für dich die Möglichkeit, Exil als Strafe zu beantragen, wenn du gewollt hät­ test, und ebendas, was du jetzt gegen den Willen der Stadt vorhast, damals mit ihrem Willen zu tun Auch dies ist ein Argument, das ganz individuell nur für Sokrates und den hier in Rede stehenden Prozess passend ist und zudem auf die Rechtslage in Athen gemünzt ist. Es gab in Athen zwei Arten von Gerichtsverfahren, solche, bei denen im Falle einer Verurteilung das Strafmaß als immer gleiches bereits feststand, und solche (sogenannter ἀγὼν τιμητός agōn timētós), bei denen nach einer Verurteilung in einer weiteren Abstimmung die Laienrichter das Strafmaß festlegten, wozu Anklage und Verteidigung jeweils Anträge stellten. Nach seiner Verur­ teilung hätte Sokrates also im Rahmen des Verfahrens als Strafe die Ver­ bannung beantragen können, das wäre das rechtsstaatlich korrekte Ver­ fahren gewesen, denn es hat ja nicht der Verurteilte über das Strafmaß zu befinden, sondern die Richter. Sokrates hätte den Antrag stellen kön­ nen, dann hätten die Richter darüber zu befinden gehabt. Die Gesetze können dabei mit Plausibilität argumentieren, dass ein solcher Antrag des Sokrates mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen worden wäre (es gehörte zu den Regelungen des ἀγὼν τιμητός, dass die Richter das Strafmaß nicht frei bestimmen, sondern sich zwischen dem Strafantrag der Anklage und dem der Verteidigung zu entscheiden hatten). Insofern wäre es wichtig gewesen, dass Sokrates der von der Anklage beantrag­ ten Todesstrafe etwas Angemessenes entgegengesetzt hätte, und da er den Athenern eben mit seinem geradlinigen Fragen auf die Nerven gefallen war, wäre das Angebot, Athen zu verlassen, von den Richtern

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höchstwahrscheinlich angenommen worden (vgl. auch das folgende Lemma). 52c6–8 Du aber hast dich damals damit gebrüstet, es würde dir nichts ausmachen, wenn du sterben müsstest, sondern du zogst, wie du behauptetest, dem Exil den Tod vor In der Apologie (37c/d), just in der Rede, die nach der Verurteilung und dem Antrag der Anklage auf Verhängung der Todesstrafe gehalten wird, erwägt Sokrates die Möglichkeit, Verbannung für sich zu beantragen, und lehnt das vor allem mit der Begründung ab, wenn er sich schon bei den Athenern, seinen eigenen Landsleuten, durch das unablässige Dis­ kutieren mit der Jugend so unbeliebt gemacht habe, dass man ihn offen­ bar loswerden wolle, dann müsse das „im Ausland“ um so mehr der Fall sein. Das ist natürlich nicht so zu deuten, als habe Sokrates bloß befürchtet, das Leben im Ausland könnte unangenehm werden, sondern es ist seine von einer Art „understatement“, griechisch εἰρωνεία (eirō­ neía), geprägte Art, auszudrücken, dass ihm ein für ihn, Sokrates, gutes Leben dort nicht mehr möglich wäre, also ein konsequent am Logos orientiertes Leben, das zugleich auch die Mitmenschen auf ihn auszu­ richten bestrebt ist. 52c8 f. Jetzt aber schämst du dich weder vor diesen Worten noch scherst du dich um uns Die Gesetze beginnen mit diesen Worten eine Zwischenzusammenfas­ sung, nach der eine Art Kreuzverhör beginnt, in dem sie der Reihe nach durchgehen, ob Sokrates ihrer gerade vorgetragenen Argumentation in irgendeinem Punkt etwas entgegenzusetzen hat. Die Gesetze sind hier wie die ganze Zeit sehr schön als echte Personen dargestellt, und zwar wie juristisch denkende und agierende Personen, die sich aktuell von Sokrates in gefährlicher Weise angegriffen und zugleich in ehrverletzen­ der Weise missachtet fühlen. Sie gehen dabei in der Weise eines Gerichtsredners vor, der eigene Ausführungen mit Befragungen mischt.

52d3–54d1 Rede der Gesetze – Unterabschnitt 3 Den letzten Teil bildet die direkte Widerlegung der von Kriton eingangs vorgetragenen Argumente. Die Gesetze argumentieren von jetzt an erheblich persönlicher mit Bezug auf Sokrates’ Leben und die konkrete Situation einschließlich dessen, was eine Flucht nach Thessalien oder sonstwohin konkret für ihn, seine Familie und seine Freunde bedeuten

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würde. Dabei ergibt sich, dass die ungerechte Tat auch im Konkreten keine echten Vorteile brächte (es sei denn, man stellt das physische Überleben über alles). Sokrates steht keine Option für ein Weiterleben im Sinne eines guten und gerechten Lebens mehr offen. 52d3–5 Zuerst also beantworte uns eben dies, ob wir die Wahrheit sagen, wenn wir behaupten, du hättest dein Einverständnis erklärt, nach unseren Vorgaben Bürger zu sein, durch dein Handeln und nicht durch deine Worte, oder nicht die Wahrheit Hiermit beginnt die Kette der von den Gesetzen direkt an Sokrates gerichteten Fragen. Gleich die erste muss er, das kann auch Kriton nicht leugnen, sogleich mit „Ja“ beantworten. Er hat tatsächlich durch seine Lebensentscheidungen implizit eingewilligt, gemäß den athenischen Gesetzen als Bürger Athens zu leben. 52e1–5 obwohl du nicht unter Zwang zugestimmt hast, noch getäuscht, noch gezwungen worden bist, in kurzer Zeit zu überle­ gen, sondern während siebzig Jahren, in denen du die Möglichkeit gehabt hättest, fortzugehen, wenn wir dir nicht gefallen hätten und du der Ansicht gewesen wärst, die Übereinkünfte seien nicht gerecht Auch hier nehmen die Gesetze nochmals sowohl individuell auf Sokra­ tes wie auf die spezielle Rechtslage in Athen Bezug; Sokrates konnte sich frei entscheiden, die Informationen lagen offen, er stand nicht unter Zeitdruck, und er hätte auch noch nachträglich in seinem Leben erken­ nen können, dass Athens Verfassungsmängel zu groß seien und jederzeit seinen Status als Bürger und seine Unterstellung unter die athenischen Gesetze durch Wegzug beenden können. Auch hier ist wichtig, dass die Gesetze Athens Sokrates diese Vorhaltungen mit Grund machen können. Wie es in einem Staat wäre, wo das anders ist, ist im Kriton nicht disku­ tiert. Aus der Tatsache, dass Platon den Sokrates dies so betonen lässt, kann man freilich mit Plausibilität ableiten, dass in Situationen, wo die Freiwilligkeit der Zustimmung seitens des Bürgers eingeschränkt war oder ist, analoge Fragen womöglich anders zu entscheiden wären. 53a6 f. Und dann wirst du dich nicht lächerlich machen, indem du die Stadt verlässt Mit dieser Bemerkung leiten die Gesetze zu ihrer Schlussbemerkung über. Jetzt wechseln sie abschließend ihre rhetorische Taktik und gehen einmal davon aus, dass Sokrates sich wirklich durch eine mehr oder weniger abenteuerliche Flucht seiner Hinrichtung entzieht. Täte er dies,

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dann würde er sich tatsächlich lächerlich machen, insofern er damit alles, was er immer für sich Anspruch genommen hat, als bloßes Gerede entlarven würde, wie die Gesetze gleich darlegen werden. Man kann auch hier wieder erkennen, dass in Wahrheit Sokrates mit Kriton spricht und nicht die athenischen Gesetze mit Sokrates, denn die Gesetze korri­ gieren im folgenden mehrere von Kriton eingangs aufgestellte Behaup­ tungen. Die Korrekturen werden zwar durchaus mit Nachdruck und Temperament vorgetragen, aber das, was die Gesetze (und damit indi­ rekt Sokrates) hier vortragen, ist das, was bei sorgfältiger, ruhiger Über­ legung vernünftig ist. Kriton hingegen hatte seine rhetorischen Fähig­ keiten eingangs bemüht, um einen zweifelhaften Vorschlag möglichst überzeugend aussehen zu lassen; allerdings in bester Absicht.

53a8 wenn du diese Übertretung begehst und einen derartigen Feh­ ler machst Damit ist offen ausgesprochen, dass eine Flucht aus dem Gefängnis sowohl ein Gesetzesverstoß als auch ein ethischer Fehler mit schweren Folgen wäre.

53b1–3 Denn dass deine Angehörigen und Freunde Gefahr laufen werden, auch selbst exiliert und der Stadt beraubt zu werden oder ihr Vermögen zu verlieren, ist geradezu klar Dies korrigiert das von Kriton eingangs (44e ff.) Behauptete, Sokrates müsse sich keine Sorgen machen, dass Kriton oder andere seiner Freunde wegen seiner Flucht in Schwierigkeiten kämen, verbunden mit der Andeutung, man werde etwaige Kritiker durch Geldzahlungen ruhigstellen können. Würde Sokrates wirklich fliehen, dann wäre klar, dass er nicht von alleine aus dem Gefängnis hätte herausspazieren kön­ nen, wo er doch angekettet (die Kette wird erst kurz vor der Hinrichtung abgenommen, wie wir aus Phaidon 59e6 ff. entnehmen) und hinter Schloss und Riegel war, und da bekannt ist, dass Sokrates selbst kein Geld hat (vgl. z. B. Apologie 37c4), wäre ebenso klar, dass aus dem Kreis um ihn finanzielle und sonstige Unterstützung gekommen sein müsste. Der Zorn der athenischen Bevölkerung gegen die vermutlichen Schuldigen wäre leicht mobilisierbar gewesen, die Betreffenden wären mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens zu Verbannung verurteilt wor­ den und ihr Vermögen hätte beschlagnahmt werden können. Kriton als Freund kann ungeachtet solcher Gefahren den Vorschlag machen, aber Sokrates kann ihn unter dieser Hinsicht nicht leicht annehmen.

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53b3 f. Du selbst aber wirst erstens, wenn du in eine der nächstgele­ genen Städte gehst, Jetzt kommen die Gesetze auf Sokrates’ Aussichten im Exil zu spre­ chen, die Kriton 45b/c positiv dargestellt hatte. Zuerst wird die Variante durchgespielt, dass Sokrates seiner geringen Reiselust entsprechend in eine der nächstgelegenen Städte, etwa Theben oder Megara ginge, wobei Theben auch durch Kritons Verweis auf die beiden thebanischen Freunde Simmias und Kebes nahegelegt ist. 53b5 denn beide haben ja gute Gesetze Die athenischen Gesetze gehen davon aus, dass Sokrates, der Liebhaber von Recht und Gerechtigkeit, in eine Stadt würde gehen wollen, deren Verfassung er schätzt. 53b5–7 als Feind ihres Staates dorthin kommen, und soweit sie sich Gedanken machen um ihre eigene Stadt, werden sie dich argwöh­ nisch betrachten, weil sie dich für einen Verderber der Gesetze hal­ ten Wenn Sokrates in ein wohlgeordnetes Staatswesen ins Exil geht, wird er dort nicht in gutem Ruf stehen, weil man ja wissen wird, dass er sich in Athen gesetzwidrig der Vollstreckung eines rechtsgültigen Urteils ent­ zogen hat. Schwerlich würde ein Gemeinwesen ihm als Ausländer dann noch gestatten, mit der Jugend frei Gespräche zu führen, wie er es so gerne tut, denn es stünde ja zu befürchten, dass er die Jugend auch zu Ungehorsam gegenüber dem Gesetz anstiftet. 53b7–c1 und du wirst die Richter in ihrer Meinung bestätigen, so dass sie meinen, das Urteil richtig gefällt zu haben Das ist wieder kein allgemeines, sondern ein ganz speziell Sokrates treffendes Argument. Durch eine Flucht aus dem Gefängnis würde die Verurteilung nachträglich als gerechtfertigt erscheinen, da Sokrates ja allem Anschein nach doch nur ein Sophist wie viele andere ist, der viel von Gerechtigkeit und Tugend redet, sich aber um diese im Ernstfall nicht schert. Gerade die Verurteilung wegen angeblichen Verderbens der Jugend erschiene nun wohlbegründet: „Denn wer ein Verderber der Gesetze ist, von dem meint man doch wohl, dass er ganz unbedingt ein Verderber junger und unverständiger Menschen ist“ (c1–3).

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53c3–5 Willst du also die Städte mit guten Gesetzen und die beson­ nensten Menschen meiden? Und wenn du das tust, wird dir dann das Leben lebenswert sein? Die Alternative wäre, da ja die Städte mit einer guten Verfassung und gute Menschen einen Bogen um den Gesetzesbrecher Sokrates machen würden, in eine andere, schlechtere Stadt mit entsprechenden Menschen zu gehen. In einem „mafiosen“ Umfeld nähme man gewiss keinen Anstoß an Sokrates’ Verhalten. Aber wäre für Sokrates das Leben in sol­ cher Umgebung lebenswert? Er hatte ja Kriton 48b5 f. ausdrücklich daran erinnert, dass nicht das Leben im Sinne des blanken Überlebens den höchsten Wert darstellt, sondern das gute Leben. 53c5 f. Oder willst du dich diesen nähern und ohne Scham im Gespräch Argumente vortragen – welche Argumente, Sokrates? Die Gesetze spielen jetzt nochmals die Untervariante durch, dass Sokra­ tes doch lieber in einem gut verfassten Staat wohnen will, dessen Bürger rechtschaffen denken. Aber was will er dort nach einer angenommenen Flucht für Gespräche führen? 53c6 ff. Etwa dieselben wie hier, dass das ethisch Gute und die Gerechtigkeit am meisten wert sind für die Menschen, und das dem Gesetz Gemäße und die Gesetze? Und glaubst du nicht, dass Sokra­ tes’ Tun als hässlich erscheinen wird? Das ist doch wohl anzuneh­ men! Sokrates’ bisherige Reden und Argumente wären durch sein Tun alle entwertet, spräche er weiter so, müsste das als blanke Heuchelei erschei­ nen. Was Sokrates dem Kriton hier „kleinteilig“ vor Augen zu stellen versucht, ist, dass es für ihn nach einer Flucht keine ihm selbst gemäße Lebensmöglichkeit mehr geben würde. Dies geschieht wohl nicht mit der primären Absicht, die ohnehin schon unwiderleglich nachgewiesene Ungerechtigkeit eines solchen Vorhabens noch weiter zu unterstreichen, sondern eher, um Kriton verstehen zu lassen, dass der Fluchtplan nie­ mals eine für Sokrates wählbare Option sein könnte und dass ihm auch kein Freund, der diesen Namen verdient, wirklich dazu raten könnte, wenn man alles in Ruhe durchdenkt. Zugleich reagiert Sokrates hiermit auf Kritons Betonung des Arguments, was denn die Leute denken wür­ den, wenn Sokrates’ Freunde ihn einfach so im Gefängnis umkommen ließen, statt etwas zu unternehmen (45d/e). Sokrates kontert jetzt, dass in Wahrheit der von Kriton vorgeschlagene Fluchtplan seinen eigenen Ruf und den seiner Freunde ruinieren würde, nicht ein Verbleib im Gefängnis.

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53d2 f. Sondern du willst dich aus dieser Gegend fortmachen und nach Thessalien gelangen zu den Freunden Kritons? Denn dort sind ja Unordnung und Zügellosigkeit am größten Da es in der Nähe Athens ja keine Optionen zu geben schien, greifen die Gesetze jetzt Kritons Vorschlag (45c) auf, zu seinen Freunden nach Thessalien zu gehen. Das scheint eine für den angehenden Gesetzesbre­ cher Sokrates sehr angemessene Möglichkeit zu sein, denn in Thessalien herrschen – zumindest nach Meinung der athenischen Gesetze – politi­ sche Unordnung und ethische Zügellosigkeit, genau der Mangel an staatlichem und individuellem Rechtsverständnis, der Sokrates jetzt zugutekäme. Dort würde man gewiss mit großem Amüsement lauschen, wenn Sokrates seine abenteuerliche Flucht aus Athen in allen Details ausmalen würde; vielleicht hätte er sich ja verkleidet gehabt, oder eine Perücke aufgesetzt und seinen Bart gefärbt, alles sehr lustige Dinge für Leute, denen an Recht und Gerechtigkeit nichts liegt. Man kann sich zudem doch ein wenig wundern, dass Kriton in einem Land wie Thessa­ lien Leute kennt und diese für Freunde hält. Denn Im Sinne Platons kann Freundschaft letztlich nur auf gemeinsam erkanntem Guten beruhen, und da müssten Kritons thessalische Freunde in Thessalien sehr aus dem Rahmen fallen, um für jemanden wie Sokrates akzeptable Gastgeber zu sein. In gewissem Sinn kann man auch den Eindruck gewinnen, dass Entfernung von Athen hier auch Entfernung vom richtigen Denken bedeutet. 53d3 zu den Freunden Kritons Die „Freunde“ Kritons sind hier griechisch ξένοι (xénoi), nicht φίλοι (phíloi). Beide Wörter sind im Deutschen nur schwer wiederzugeben. Bei φίλος ist das Problem, dass wir im Deutschen unter „Freunden“ pri­ mär Menschen verstehen, die einem nahestehen, obwohl sie nicht mit einem verwandt sind, während im Griechischen φίλοι alle Menschen sind, die einem „lieb“ und also „Freund“ sind, unabhängig davon, ob sie mit einem verwandt sind oder nicht. Ein ξένος wiederum ist ein soge­ nannter „Gastfreund“; Gastfreundschaft ist eine hohe soziale Institution, die unter dem Schutz des Zeus steht. Kriton hat „Gastfreunde“ in Thes­ salien, also Menschen, die er gastlich aufnimmt, wenn sie in Athen wei­ len, und die darum diese Gastfreundschaft ihm und seinen Freunden gegenüber erwidern, wenn er oder einer seiner Freunde nach Thessalien kommt. Ein solches Verhältnis kann bereits seit Generationen zwischen Familien bestehen oder auf individuellen neueren Begegnungen beru­ hen.

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53d7–e2 Dass du aber als alter Mann … gewagt hast, so gierig das Leben zu begehren, und dabei die wichtigsten Gesetze verletzt hast, das wird keiner sagen? Der Hauptvorwurf, dass Sokrates durch seine Flucht ein für Rechtsstaat­ lichkeit zentrales Gesetz verletzt hätte, nämlich das der Gültigkeit von „letztinstanzlichen“ Urteilen, wird hier noch dadurch ergänzt, dass dies besonders schändlich sei bei einem Mann, der schon alt ist und also durch seinen Tod aller Wahrscheinlichkeit nach nur wenig Lebenszeit verliert. Sokrates hatte in der Apologie in seiner Schlussrede, nachdem er zum Tode verurteilt worden war, bereits gesagt, dass die Athener sich doch eigentlich hätten ersparen können, bei ihren Gegnern von nun an als Mörder des Sokrates zu gelten, denn sie hätten doch nur eine kleine Weile Geduld haben müssen, dann hätte sich das Problem von selbst erledigt (38c5 f.); der Gedanke, dass sich manches für einen alten Men­ schen noch weniger schickt als für einen jungen und dass zum Beispiel im vorliegenden Fall der Lebenshunger sehr viel nachvollziehbarer wäre, wenn Sokrates noch jung wäre, durchzieht im Hintergrund Apolo­ gie wie Kriton . 53e4 Indem du allen Menschen schmeichelst, wirst du also dein Leben verbringen, und als ihr Knecht Die prekäre Lage des hypothetischen Flüchtlings wird nochmals heraus­ gestellt. Sokrates wäre auf jedermanns Wohlwollen angewiesen, alle wüssten von seiner zweifelhaften Vorgeschichte, er müsste sich mit allen gut stellen, um seinen Status als geduldeter Ausländer nicht zu gefährden. Auch das ist wieder ganz individuell auf Sokrates gemünzt, dem ja gerade dies völlig gegen den Strich ginge. Sowohl Platons Sokra­ tes als offenbar auch der historische (denn Xenophon berichtet in den Memorabilien völlig analoge Dinge) haben ja die Angewohnheit, fal­ sches Denken und Fehlverhalten von Menschen sehr direkt zu kritisie­ ren und dabei nicht immer mit äußerster Diplomatie und mit größtem Taktgefühl vorzugehen. Dass Sokrates ein solcher Balanceakt in der Ferne gelänge und dass er sich dabei gut fühlen könnte, ja im Grunde, dass er dabei noch Sokrates sein könnte, erscheint als ausgeschlossen. 53e5 f. was tätest du dabei anderes, als es dir in Thessalien gutgehen zu lassen, als ob du zum Diner nach Thessalien gereist wärst? Sokrates, der „Dauerathener“, der Mann, der Athen gar nicht verlassen wollte, weil er als Bürger mit den Bürgern Gespräche über die Wahrheit führen wollte, würde zu einer Art Dauerurlauber in Thessalien, so wie die „jet set“-Athener, die gerne einmal für ein festliches Essen ins Aus­

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land reisen, mit dem kleinen Unterschied, dass Sokrates von seinem fa­ shionablen Trip nicht zurückkehren würde und könnte. Sein Status in Thessalien wäre zugleich prekär und seiner unwürdig, er wäre dort ein geduldeter Ausländer; Gespräche, die er dort führen könnte, wären rei­ nes Gerede, einmal, weil er durch sein Tun seinen Anspruch, für ein ethisch hochwertiges Leben als Bürger zu stehen, unrettbar entwertet hätte, und zweitens, weil er eben nicht von Bürger zu Bürger spräche, wie er es in Athen mit seinen Mitbürgern tun kann, sondern als NichtMitbürger, der zudem noch vor dem Gesetz auf der Flucht ist. Sokrates könnte in Thessalien nicht mehr Sokrates sein, das machen hier der Fiktion nach die Gesetze dem Sokrates, in Wahrheit jedoch So­ krates dem Kriton klar und damit Platon dem Leser (demgegenüber erwartet Sokrates in der Apologie 41b, dass er im Hades seine Gewohn­ heit wird fortsetzen können, die Meinungen anderer auf den Prüfstand zu stellen). Und zugleich widerlegen die Gesetze, und damit Sokrates, und damit Platon hier die Sokrates’ Gerichtsverfahren und Verurteilung untergründig durchziehende These, Sokrates sei ein Sophist wie jeder andere. Ein Sophist ist nicht auf ein bestimmtes Staatswesen angewie­ sen, viele der Sophisten zogen durch die Lande und blieben, wo immer sie jemand für ihre Dienste bezahlen mochte. Ihre Ausbildungsziele waren auch zumeist in kurzer Zeit erreichbar. Sokrates will eine echte ethische Grundorientierung als Mensch und als Bürger bei denen errei­ chen, mit denen er spricht, soweit immer möglich. Deshalb muss er einerseits darauf achten, dass sein Reden und sein Tun übereinstimmen, zweitens braucht er Kontinuität und einen staatsbürgerlichen Kontext. Sokrates ist seinem Selbstverständnis nach der Lehrer der Athener, und diese Funktion kann er infolge des gegen ihn ergangenen Urteils leider nicht weiter ausführen. Der Schaden ist nicht reparierbar, es gibt für ihn keine sinnvolle Lebensmöglichkeit als Sokrates mehr. 54a1–3 Dann willst du also um deiner Kinder willen leben, damit du sie großziehst, bildest und erziehst? Auch dies ist eine direkte Erwiderung auf von Kriton am Anfang Vorge­ tragenes, Sokrates müsse sich als verantwortungsbewusster Vater seinen Söhnen erhalten (45c/d). Hier machen die athenischen Gesetze Sokrates wieder eine Rechnung mit Untervarianten auf (54a). Will er seine Kin­ der nach Thessalien, das ja als einzige Exilvariante übriggeblieben ist, mitnehmen und sie dort, in einem Land mit mangelnder politischer Kul­ tur und bei Menschen von geringem ethischen Niveau, wie gerade behauptet wurde, als rechtlose Ausländer aufwachsen lassen, oder lässt er sie dann doch besser in Athen? Aber wenn doch wohl letzteres, was

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haben sie dann davon, dass ihr alter Vater im fernen Thessalien noch physisch eine Weile am Leben ist?115 Werden Sokrates’ Freunde nicht für seine Söhne sorgen, wenn er jetzt stirbt, würden es aber tun, wenn er in der Ferne säße, ohne Einflussmöglichkeit und Chance auf Rückkehr? 54b2–d1 [Schlusszusammenfassung der Gesetze] Die Gesetze schlagen zum Schluss einen versöhnlicheren Ton an, indem sie wieder mehr davon ausgehen, dass Sokrates ehrlich bestrebt ist, sich immer an der Gerechtigkeit auszurichten und also sein Fluchtplan mehr ein momentaner, aus der Situation, solange es bei der kurzen Erwägung bleibt, verständlicher Ausrutscher war (sein Fluchtplan, von dem Sokra­ tes ja die ganze Zeit nur so tut, als ob er ihn gemeinsam mit Kriton wirk­ lich betreibe, um sich von den Gesetzen zur Ordnung rufen zu lassen, die in Wahrheit das sagen, was er denkt). Die Gesetze raten Sokrates in seinem eigenen wohlverstandenen Interesse von dem Plan ab und wei­ ten den Blick auf die Situation nach seinem Tode. 54b2–5 Nein Sokrates, gehorche uns, deinen Erziehern, und setze weder deine Kinder noch das Leben noch sonst irgendetwas über das Gerechte, damit du, wenn du in den Hades kommst, all dies zu deiner Verteidigung gegenüber den dortigen Herrschern vorzubrin­ gen hast! Die Gesetze gehen hier davon aus, dass Sokrates sich nach seinem Tode im Hades einer kritischen Prüfung wird unterziehen müssen. Bleibt er jetzt standhaft, dann wird er dort glaubhaft argumentieren können, dass er im irdischen Leben stets der Gerechtigkeit den Vorzug gegeben hat, sogar gegenüber seinem eigenen Leben und seinen Kindern. Insoweit steht der Kriton in der Akzentsetzung gleichsam zwischen der Apologie und der Politeia . Denn in der Apologie ist 40c ff. die Möglichkeit eines Weiterlebens in anderer Form nach dem irdischen Tod nur als eine Variante neben der ins Auge gefasst, dass der Tod eine Art traumloser Schlaf sein könnte; allerdings ist auch dort 41a die Möglichkeit erwähnt, im Hades auf gerechtere Richter zu stoßen. Hier im Kriton hingegen sind die Gesetze offenbar sicher, dass Sokrates im Hades eine sich an das jetzige Leben anschließende Fortsetzung erleben wird, und insofern ähnelt das Ende des Kriton dem der Politeia, wo im 10. Buch ebenfalls 115 Und ihr im Exil lebender Vater hätte in Athen die Reputation, immer viel von Tugend geredet zu haben, sich aber im entscheidenden Moment über Recht und Gesetz hinweggesetzt zu haben, was auf die Kinder keine gute moralische Wirkung haben könnte; vgl. dazu Neufeld (2003), 139 f.

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der Blick über das einzelne irdische Leben hinaus gerichtet wird, mit dem Unterschied, dass in der Politeia im sogenannten Er-Mythos auch der Aspekt der Wiedergeburt sehr deutlich gemacht ist. Das ist dort für die Diskussion der langfristigen Auswirkungen von Gerechtigkeit funk­ tional auch erforderlich, für das Thema des Kriton genügt der Hinweis auf ein Weiterleben nach dem Tode. Gemeinsam mit der Politeia hat die Argumentation hier, dass man bei irdischen Entscheidungen auch darauf achten muss, wie sie sich nach dem Tode auswirken. Wobei sich hier wie dort ergibt, dass das nach irdischen Maßstäben Klügste und Beste, wenn man es recht betrachtet, auch das über das irdische Leben hinaus Klügste und Beste ist, beziehungsweise umgekehrt ungerechtes Tun sich weder hier noch dort auszahlt (b5–8): „Denn es zeigt sich, dass es, wenn du das tust, weder hier für dich besser ist, und auch nicht gerechter oder frommer, und auch für keinen anderen von den Deinen, noch wird es, wenn du dort angekommen bist, für dich besser sein.“

b8 f. Sondern jetzt gehst du fort als jemand, dem Unrecht angetan worden ist, wenn du fortgehst, und zwar nicht von uns, den Geset­ zen, sondern von Menschen Hier bescheinigen die Gesetze dem Sokrates ausdrücklich, dass seine Hinrichtung ein Unrecht ist, anders gesagt, da ja Sokrates selber in Wahrheit der Sprecher ist, er macht abschließend nochmals deutlich, dass seine Weigerung, Kritons Vorschlag zu folgen, nicht darauf beruht, dass er das Urteil sachlich irgendwie für berechtigt hielte (Apologie 41b3 stellt er sich in eine Reihe mit anderen, „die durch ein ungerechtes Urteil umgekommen sind“). Aber, und dies widerlegt nochmals abschließend die These, es gehe im Kriton um irgendeine Art Wider­ standsrecht, das Unrecht widerfährt ihm nicht von den Gesetzen, son­ dern von Menschen. Die Gesetze Athens sind rechtsstaatliche Gesetze, sie sind hier von den Richtern falsch angewandt worden. Es handelt sich um einen Justizirrtum in einem an sich rechtsstaatlichen Verfahren in einem Land mit rechtsstaatlicher Verfassung (dies korrigiert auch den 50c1–3 noch im Sinne Kritons ausgesprochenen Gegenvorwurf, „die Stadt“ habe Sokrates schließlich Unrecht getan).

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54c2–5 Wenn du dich hingegen auf so schändliche Weise davon­ machst, indem du im Gegenzug Unrecht tust und im Gegenzug schädigst und dadurch deine eigenen Versprechen und die Verein­ barungen mit uns verletzt und denen Schlechtes antust, denen du es am wenigsten solltest, dir selbst, deinen Verwandten und Freunden, deiner Vaterstadt und uns Die Alternative zum gerechten Vorgehen, also das Davonlaufen vor dem Gesetz, wäre zwar „nur“ ein Unrechttun „im Gegenzug“, das erkennen die Gesetze an, aber Sokrates würde dabei seine Übereinkunft als Bür­ ger mit den Gesetzen entscheidend und unheilbar verletzen und sowohl sein Gemeinwesen als auch – teilweise in anderer Hinsicht – seine Ver­ wandten und Freunde schädigen. 54c5–8 dann werden wir dir böse sein, solange du lebst, und dort werden unsere Brüder, die Gesetze im Hades, dich nicht wohlwol­ lend empfangen, weil sie wissen, dass du versucht hast, auch uns zu vernichten, jedenfalls soweit es an dir lag Sokrates müsste bei einer Flucht nicht nur mit der Verfolgung durch die athenischen Behörden zu seinen Lebzeiten rechnen, sondern wie zum Beispiel im Gorgias (523 ff.) und im Er-Mythos der Politeia (614 ff.) gibt es auch gemäß dem Kriton im Hades Gericht und Gesetze, und einer, der mit Recht als Feind der irdischen Gesetze gelten kann, der wird es im Hades erst recht nicht leicht haben, da er sich als ein Unge­ rechter erwiesen hat. Die irdischen Gesetze haben dort nämlich, wie uns Sokrates hier wissen lässt, Brüder. Wie im Gorgias und in der Politeia wird auch im Kriton die Ansicht vertreten, dass Ungerechtigkeit nicht nur moralisch schlecht ist, sondern vor allem unklug und niemals im eigenen Interesse, je langfristiger man denkt, desto weniger. „Soweit es an dir lag“ macht dabei deutlich, dass zwar Sokrates als Einzelner die Gesetze nicht außer Kraft setzen kann, dass er aber, wenn er Kritons Vorschlag folgen würde, alles in seiner Macht Stehende getan hätte, um die Gesetze zu vernichten. Zugleich schwingt mit, dass die Gesetze tat­ sächlich „erledigt“ wären, wenn sich viele oder gar alle Sokrates’ schlechtem Beispiel anschlössen. Dann kommt man zu einem nicht mehr wohlgeordneten und nicht mehr rechtsstaatlichen Staatswesen, wie es die athenischen Gesetze gerade von Thessalien behauptet haben. Im Staatsmann (Politikos 291 c ff. und dann bes. 300e ff.) legt Platon dar, dass das Kriterium, ob die Gesetze gelten und befolgt werden, für die Qualität eines Staatswesens entscheidend ist. Man kann hier zudem einen Grund erkennen, warum Platon in der Politeia eine parallele Analyse von individuellen Seelenverfassungen

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und Staatsformen durchführt. Sokrates als Mensch und Bürger, der sich konsequent am Denken (λόγος lógos) orientiert, trägt auch zu einem Staatswesen bei, das so denkt und arbeitet (also in der Begrifflichkeit der Politeia zu einem aristokratischen), während Kriton mit seiner (min­ destens ursprünglich in diesem Dialog) mehr vom eifernden Thymos (θυμός) geprägten Denk- und Handlungsweise, wenn er sich hier durch­ gesetzt hätte, einen Beitrag zu einer timokratischen Staatsform116 geleis­ tet hätte, in der das Handeln unter Vernachlässigung anderer Aspekte am Ziel der Bewahrung der eigenen Ehre und des sich Wehrens gegen erlittenes Unrecht orientiert ist. 54c8 f. Nein, lass dich nicht eher von Kriton überzeugen zu tun, was er sagt, als dass du dich von uns überzeugen lässt! Mit dem letzten Satz lässt Sokrates die von ihm als Redner eingeführten Gesetze die Situation teilweise wieder richtigstellen. Während sie am Anfang ihrer Rede so taten, als sei es Sokrates selbst, der gemeinsam mit Kriton den Fluchtplan verfolge, gehen sie gegen Ende zunehmend davon aus, dass Sokrates das nicht wirklich ausführen wird, weil es nicht zu ihm passen würde, insofern er ehrlich bemüht ist, immer dem Gerechten zu folgen, so dass am Ende doch wieder eher Kriton als derje­ nige erscheint, der einen zweifelhaften Vorschlag gemacht hat.

54d2–e2 Schlussbemerkung Sokrates beteuert, dass das Vorgetragene seine wohlerwogene und feste Meinung ist, Kriton macht keinen Versuch mehr, dagegen zu argumen­ tieren. Und Sokrates drückt mit seinen letzten Worten aus, dass Kriton es also gut sein lassen, von seinem Eifer ablassen soll, und dass das Befolgen des Vernünftigen zugleich bedeutet, dass man dem Gott folgt, womit die durch Kriton gestartete Bewegung zur Ruhe kommt. Man könnte auch sagen, die Bewegung kehrt sich im Verlauf des Dialogs um. Es beginnt mit Kritons eifrigem Versuch, Sokrates, wie er meint, zum Guten zu bewegen, und endet damit, dass Sokrates Kriton vor einem 116

Zum Begriff der „Timokratie“ in der Politeia vgl. Schmitt (2003), 307 ff. (auch 514 ff.), wo erklärt ist, inwiefern der Thymos in seinem Ehrstreben primär an der Meinung (δόξα dóxa) orientiert ist und dadurch oft fehlgeht. Auch Kriton würde ja, wenn sein Vorschlag in die Tat umgesetzt würde, weder seinen noch Sokrates’ Ruf retten und auch keine wirksame Gegenwehr gegen die Gegner, die die ungerechte Verurteilung bewirkt haben, üben. Kritons Plan ist unüber­ legt und würde das Gegenteil dessen erreichen, was er damit anstrebt.

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Fehler bewahrt und ihn damit seinerseits einem guten, von der Vernunft geleiteten Leben nähergebracht hat. 54d2–5 Das, mein lieber Freund Kriton, sei gewiss, meine ich wahr­ haftig zu hören, so wie die korybantisch Verzückten die Flöten zu hören meinen, und in mir hallt dieses Echo dieser Worte dröhnend wieder und bewirkt, dass ich die anderen nicht zu hören vermag Korybanten waren orgiastische Tänzer, die zum Kult der Göttin Kybele gehörten. Mit dem Argument, dass solche ekstatischen Figuren irratio­ nal sind, fassen Teile der Forschung117 die vorliegende Passage so auf, dass offen bleibe, ob Sokrates selbst das von den Gesetzen Vorgetragene wirklich für richtig halte. Aber er sagt gleich im folgenden Satz (d5 f.): „Nein, sei gewiss, was das angeht, was jetzt meine Meinung ist, wenn du daran vorbei redest, wirst du vergebens reden“,118 was ja ausschließt, dass der Korybantenvergleich so gemeint ist, dass es sich um eine irra­ tionale Eingebung handelt. Der Vergleichspunkt ist vielmehr, dass die Korybanten etwas hören, das die anderen Menschen nicht hören, so wie Sokrates hier die Rede der Gesetze laut und deutlich hört, die Kriton offenbar nicht vernommen hatte. Und hierin drückt sich die gewohnte Eironeia des Sokrates aus, sein Hang zum Understatement, zum Sich Klein Machen.119 In Wirklichkeit erweist sich Sokrates hier erneut als 117

So in ausführlicher Argumentation etwa Weiss (1998), 134 ff. Vgl. dagegen auch Brick­ house/Smith (2004), 245 f. 118 Weiss (1998), 142, übersetzt 54d5 f. ὅσα γε τὰ νῦν ἐμοῖ δοκοῦντα mit „the things now seeming to me“ und argumentiert, da Platon unmittelbar vorher (d2 f.) zweimal die Form δοκῶ/ δοκοῦσιν (dokéō, „meinen, scheinen“) zusammen mit dem Infinitiv ἀκούειν (akoúein, „hören“) verwendet habe, um auszudrücken, was Sokrates und was die Korybanten zu hören meinen, müsse auch hier wieder dasselbe gemeint sein, also das, was er zu hören meine. Da Weiss bewei­ sen will, dass die Rede der Gesetze nicht Sokrates’ eigener Meinung entspreche, ergänzt sie also auch beim dritten Mal denselben Infinitiv, wofür man immerhin anführen kann, dass er unmittel­ bar davor noch einmal vorgekommen ist (d5); das ist aber nicht zwingend, sondern mit dem Dativ ἐμοῖ (emoî, „mir“) kann δοκέω die Bedeutung „es scheint mir richtig“ haben, so dass τὰ ἐμοῖ δοκοῦντα „meine Überzeugungen“ bedeutet. 119 Hingegen versteht Weiss (1998), 134 ff., die Metapher so, dass die Flöten auf die ekstati­ schen Korybanten anders wirkten als auf rational gebliebene Menschen, die aufgeregten Kory­ banten würden von ihnen beruhigt und kuriert, während andere Menschen den Flötenklang als laut, lärmend und störend empfänden. Und so erscheine eben auch Sokrates als rationalem, philo­ sophischem Menschen das lärmige, rhetorische Argumentieren der Gesetze als laut, den irrationa­ len Kriton hingegen beruhige es. Unerklärt bleibt dabei, warum Sokrates sagt, dass er nichts ande­ res hören kann, weil ihm das, was die Gesetze sagen, so laut in den Ohren klingt. Wäre das von ihnen Vorgetragene wirklich so grundverschieden von dem, was Sokrates selbst denkt und vorher vorgetragen hat, wie Weiss meint, dann müsste das doch heißen, dass Sokrates nicht nur Kritons, sondern auch seine eigenen Argumente wegen des lärmigen Geredes der Gesetze gar nicht mehr

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weiser als Kriton und viele andere Menschen, insofern er selbst in extre­ mis an seinen richtigen Einsichten festzuhalten und sein Handeln ihnen entsprechend zu gestalten vermag. Er stellt das aber selbst so dar, als gehe es ihm wie bakchantisch Verzückten, deren Tun ja Außenstehen­ den auch merkwürdig erscheint und auf Wahrnehmungen beruht, die andere nicht haben, so dass in Frage steht, ob es sich dabei tatsächlich um Wahrnehmungen handelt. Der Vergleich ist mit leisem Humor verse­ hen; im Sinne des Platonischen Begriffs eines über dem Rationalen ste­ henden „Wahnsinns“ (μανία manía), den man aus dem Phaidros (244 f.) kennt, ist aber darüber hinaus zu fragen, ob Sokrates die Tatsa­ che, dass die Korybanten etwas hören, das die anderen nicht hören, als Zeichen blanker Irrationalität sieht oder ob er damit nicht andeutet, dass das von den Gesetzen Vorgetragene durchaus eine „höhere Quelle“ haben könnte. Die in der Forschung für die Stelle oft zugrunde gelegte Dichotomie „rational“ versus „irrational“ entspricht jedenfalls nicht Pla­

recht wahrnehmen könne. Insgesamt leidet die Argumentation von Weiss hier auch darunter, dass sie nicht berücksichtigt, dass es nach Platon nicht nur Rationalität und unter dem Rationalen ste­ hende Irrationalität gibt, sondern auch einen „Wahnsinn“ (μανία manía), der Besonnenheit und Vernunft überlegen ist (Phaidros 244 f.), wie oben im Text dargelegt. Harte (1999), 118 f., ver­ weist auf Phaidros 228b6–cl und 234d1–6, wo Sokrates συγκορυβαντιάω (synkorybantiáō „gemeinsam korybantisch verzückt sein“) und συμβακχεύω (symbakcheúō „gemeinsam von Bakchos/Dionysos verzückt sein“) ironisch gebrauche mit Bezug auf die von Phaidros vorgetra­ gene Rede des Lysias, und möchte daraus ableiten, dass folglich auch hier im Kriton der Kory­ bantenvergleich zur Abwertung des von den Gesetzen Gesagten verwendet sein müsse. Aber ers­ tens setzt jede ironische Verwendung eine literale Verwendung voraus, die eben das Gegenteil der ironischen bedeutet. Man müsste also erst einmal zeigen, dass aus dem unmittelbaren Kontext der vorliegenden Stelle (eventuell einschließlich der vorausgehenden Rede der Gesetze) klare Ironie­ signale zu gewinnen sind. Zweitens könnte man auch die Phaidrosstellen anders interpretieren, denn es gibt ja nicht nur Literalsinn und Ironie. Sokrates könnte im Phaidros auch meinen, dass er sich von Phaidros zur Diskussion eines eher profanen Themas und Autors hat bewegen lassen, wenn man einmal annimmt, dass Dionysos der Gott ist, der für den Bereich des Werdens bezie­ hungsweise des Weges der Seele ins Werden steht. Das wäre sogar auch hier im Kriton eine mög­ liche Deutung, dass nämlich die Wahl des Korybantenvergleichs indirekt mit andeutet, dass So­ krates sich hier nicht mit einem allgemeinen Thema, sondern mit einer Anwendung seiner philo­ sophischen Gedanken auf ein einzelnes irdisches Handlungsvorhaben befasst hat, das mit dem Übergang zwischen Diesseits und Jenseits zu tun hat und also in den von Dionysos verwalteten Bereich gehört. Auch Hartes Argument (119 f.), die Verwendung von βομβέω (bombéō) an unse­ rer Stelle (54d4) bezeichne nur die Intensität, nicht die Richtigkeit der Rede der Gesetze, reicht nicht so weit, wie sie denkt. Erstens heißt das Wort nicht primär „to buzz“ und wird nicht vorran­ gig für lästige Insekten verwendet, sondern es bezeichnet ein dumpfes lautes Klingen (zuerst bei Homer von im Kampf Getöteten, die mit ihrer metallenen Rüstung zu Boden stürzen), die genauere Bedeutung spezifiziert sich durch das Subjekt, mit dem das Wort als Prädikat verwendet wird. Und wenn man sagt, dass Argumente einem laut in den Ohren klingen, dann heißt das etwas anderes, als wenn man sagt, dass einem eine Hummel laut in den Ohren klingt.

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tons eigenen Auffassungen.120 Zudem richtet sich doch Sokrates selbst nach einer inneren Stimme, dem Daimonion, das außer ihm niemand hört, ohne dass man offensichtlich nach Platon denken soll, Sokrates sei verrückt oder zumindest hinsichtlich dieses Verhaltens irrational. Sokra­ tes hört auf das Daimonion, und er glaubt einer „Frau in einem weißen Gewand“ (44b1), die ihm im Traum erscheint, mehr als rational ein­ leuchtenden Erwartungen aufgrund von Berichten von „Augenzeugen“ und beansprucht zugleich, sich immer am Logos zu orientieren. Entsprechend ist auch der Korybantenvergleich keineswegs so gemeint, dass damit das von den Gesetzen Vorgetragene sachlich ent­ wertet wäre, und so interpretiert kann es dann auch nicht verwundern, dass Sokrates gleich in direkter Ansprache an seinen Freund anfügt, dass das Vorgetragene nun einmal seine feste Meinung sei, gegen die Kriton selbstverständlich zu argumentieren versuchen dürfe, aber mit entspre­ chend geringen Erfolgsaussichten. Und Kriton unterlässt den Versuch, und zwar allem Anschein nach sowohl, weil klar erkennbar ist, dass er Sokrates nicht wird umstimmen können, als auch, weil er dem ganzen Gedankengang selbst zugestimmt hat und also zugeben muss, dass sein Plan eine Art Verrat an allem wäre, was Sokrates und er immer gemein­ sam für richtig gehalten haben. 54e1 f. Lass es also, Kriton, und wir wollen auf diese Weise handeln, da der Gott auf diese Weise leitet! Sokrates hatte 48d gesagt, dass die Diskussion beendet sein müsste, wenn sich erwiese, dass die geplante Flucht aus dem Gefängnis unge­ recht wäre, dass es dann nichts mehr zu überlegen gäbe und man sich dann ruhig in das fügen müsse, was einem bevorstehe, und Kriton hatte dem zugestimmt. Insofern muss man sich an diesem Punkt des Gesprächs Kriton als jemanden vorstellen, der nicht zornig oder wider­ strebend agiert, sondern eher mit einer gewissen Trauer einsehen muss, 120

Erstens kennt Platon, wie gerade dargelegt, nicht nur einen unterhalb der Rationalität ste­ henden, irrationalen „Wahnsinn“, sondern auch einen überrationalen, und diesen bezieht er aus­ drücklich auch auf den Kontakt mit dem Göttlichen. Zweitens gilt ihm aber auch das unter dem Rationalen stehende Irrationale nicht in dem Sinn als irrational, dass es jeglicher Rationalität ent­ behrt, sondern er sieht aufgrund seines anderen Rationalitäts- und überhaupt Erkenntnisbegriffs das Irrationale als eine gebundene Form von Rationalität, in der die Rationalität nicht zu sich selbst und zu ihren Möglichkeiten gelangt. Ferner geht Platon nicht von der uns vertrauten Unter­ scheidung zwischen Gefühl, Wille und Verstand aus, sondern die von ihm identifizierten drei See­ lenteile Wahrnehmung, Thymos und Denken haben alle ein bestimmtes Erkenntnisvermögen (Kognition), das in seinem Erkennen Gefühle von Lust und Unlust (Emotion) erzeugt, die zu einem Anstreben oder Vermeiden führen (Volition); vgl. hierzu Schmitt (2003), 194–206, 270–93 und 423–25.

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dass Sokrates zu Recht an dem festhält, was er und sein Freund immer gemeinsam für wahr und richtig gehalten haben. Dass „der Gott auf diese Weise leitet“, muss dabei bedeuten, dass es in Sokrates’ Sicht gleichbedeutend ist, in sorgfältiger Argumentation in einem dialek­ tischen Gespräch dem richtigen Argument zu folgen, auch wenn einem das Ergebnis unangenehm ist, und sich von Gott den rechten Weg zeigen zu lassen.121 Gott ist hier also als Quelle von Einsicht, Wahrheit und Rationalität gesehen, und zugleich wird aus Sokrates’ Formulierung auch der Grund seiner Ruhe erkennbar, die Kriton eingangs (43b) so bewundert hatte. Sokrates ist mit sich und dem Gott im Reinen, insofern er weiß, dass er stets versucht hat, das zu tun, was nach Überlegung als richtig und gerecht erschien, er ist dem Gott also wo immer möglich gefolgt. Schon in der Apologie (40a–c und 41d)122 hatte Sokrates darauf hingewiesen, dass die innere Stimme, das „Daimonion“, das ihn sonst so oft zurückgehalten und vor Fehlern und Schaden bewahrt habe, bei diesem Gerichtsverfahren nicht aktiv geworden sei, und daraus gefol­ gert, dass ihm offenbar nichts Schlimmes drohe und es also für ihn nach göttlichem Willen Zeit sei, zu sterben. Auch in anderer Hinsicht schließt das Ende des Dialogs einen Ring bezogen auf den Anfang. „Gott“ und „leitet“ sind die beiden letzten Worte, in der Einleitung war uns aber schon einmal vorgeführt worden, dass Sokrates sich der Leitung eines göttlichen Wesens unterstellt, näm­ lich bei der Erwähnung des Traums (44a10 ff.), aufgrund dessen Sokra­ tes überzeugt war, erst übermorgen sterben zu müssen und nicht, wie Kriton aufgrund menschlicher Berichte und „Hochrechnungen“ meinte, schon morgen. Das deutet zugleich an, dass ein bloßes Schlussfolgern aus menschlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht die Art von Rationalität ist, durch deren Ausüben man in Sokrates’ beziehungsweise Platons Sinn bereits zugleich „dem Gott folgt“. Doch wer darüber Genaueres wissen will, der wird hier wie an so vielen anderen Stellen im Kriton auf andere Dialoge Platons zurückgreifen müssen, nicht zuletzt auf Politeia und Politikos (Staatsmann), aber auch Phaidros und Phaidon .

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Weiss (1998), 143–45, die zu der Forschungsminderheit gehört, die die Rede der Gesetze nicht als Sokrates’ eigene Meinung ansieht, dissoziiert diesen Satz vom Vorausgegangenen. So­ krates meine seine früheren Argumente, nicht die lärmigen, bloß rhetorischen Reden, die die Gesetze vorgetragen hätten. 122 Die Religiosität des Sokrates gemäß Platons Darstellung (und ganz entgegen den Behaup­ tungen seiner Ankläger) hebt Heitsch (2002), 163 und 172, hervor.

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Stellenregister1

a) Platon Alkibiades I Apologie

epistulae

1

117c ff. 17d2 f. 21a–23c 21a ff. 21d 23e 29a f. 29a/b 29c6 ff. 32b/c 32c/d 33d9 34d 36b ff. 36d/e 37a 37b 37c4 37c/d 37e–38a1 38a 38b6 ff. 38c5 f. 38e5–39a1 40a 40a-c 40a2 f. 40c ff. 41a 41b 41b3 41d 41e 7 7, 331c/d 7, 331c6-d5

82 91 70, 112 81 61 65 112 61 111 101 115 91 70 102 44, 79 44, 67, 79 67, 71 128 68, 126 70 124 55 132 85 62 141 44, 58, 63 61, 134 134 124, 133 38, 93, 135 141 65, 70 114, 115 110 39

Euthyphron Euthydemos Gorgias

Ion Kriton2

3b 279d ff. 469b3–6 469b8 f. 473–75 479d 523 ff. 531e ff. 43a7 43b 43b5 ff. 43d1 43d7–44b4 44a10 ff. 44b1 44b3 44b4 44d 44e ff. 45b/c 45c 45c/d 45d1 45d8 ff. 45d/e 46b 46b1 ff. 46c–48a 47a–48a 47a10 48b5 f. 48b11-c1 48c 48c4–6 48d 49a ff.

62 f. 82 95 95 93 95 136 82 66 141 47 43 46 141 140 47 47 79 128 129 131 133 41 95 130 39, 43 64 43 98 82 130 39 82 58 140 111

Kursive Seitenzahlen beziehen sich auf Fußnoten. Für den Kriton wurden nur Zitate und Verweise aufgenommen, die sich nicht an der Kom­ mentierung der jeweiligen Stelle selbst finden. 2

146

Phaidon

Stellenregister 49b10 ff. 49c2 49c4 49c7 49c10 f. 49d2–4 49e2 50a ff. 50a8 ff. 50a/b 50b1 50b6 f. 50c1–3 50c1 f. 50c ff. 50d ff. 51a5 51b1 51b2 f. 51b3 51c1 51c2 51d 51e4 ff. 52a1–3 52a2 52b7 f. 52c3 ff. 53a8 ff. 53b ff. 53c 53d 54b2–5 54b5–8 54b8 54b8 f. 54b8 ff. 54c 54c5–8 54e1 f. 58a-c 59d 59e6 ff. 61a5 67d 81a1 115b/c 115d6–8 116a 116b

44 93 93 93 104 72 96 40, 42 38 40, 100 107 120 44, 135 107 97 39, 119 115 116 115 115 45, 115 115 45 111 45 103 125 43 42, 66 69 37 37, 69 60 78 93 38, 44 104 40 60 47, 89 43, 59 56 128 43, 59 60 60 57 55 57 57

Phaidros

Politeia

Politikos

Symposion

Theaitetos

116b-d 116e 117d 118a 228b6-c1 230c7 f. 230d3–5 234d1–6 244 f. 258 ff. 331e ff. 332b 332d ff. 335b ff. 335b-d 346a3 350e5 ff. 368c ff. 369b ff. 430a/b 443d–444a 475–80 475d ff. 475d2 475e4 476a2 476b4 479a3 479d3 ff. 505d 614 ff. Buch 2 Buch 4 Buch 5 Buch 6 u. 7 Buch 8 u. 9 Buch 10 291c ff. 293d/e 294 f. 294a/b 300c1–3 300e ff. 301e 201d ff. 202d/e 203a 151a 171c ff.

113 57 57 57 139 124 124 139 139 101 69, 80 70 82 70 94 91 91 40 38 79 71 83 124 123 124 123 123 123 88 84 136 106 33, 83 43 59 83, 110 60, 134 f. 136 122 122 122 122 136 122 106 62 62 63 67

147

Stellenregister

b) Andere Autoren Aristoteles Nikomachische Ethik 9, 8 1168a28 ff. 71 Athenaion Politeia 35, 3 68 Diogenes Laertios 2, 43,1 88 2, 43,2 f. 88 3, 36 34 3, 5 33 3, 56–58 32 f. Homer Ilias 9, 363 12, 46 f., 60

Valerius Maximus Memorabilia 3, 8,3 Xenophon Apologie 23 Hellenika 1, 7 2, 3,12 Memorabilia I, 1, 2 IV, 8, 2

102 34 101 68 63 59