Kritik des digitalen Kapitalismus: Übersetzung:Weltecke, Manfred 353426973X, 9783534269730

Die größten, erfolgreichsten und mächtigsten Unternehmen unserer Zeit sind längst nicht mehr nur im klassischen produzie

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German Pages 270 [271] Year 2018

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Danksagungen
Vorwort des Übersetzers
Einführung
1. Die Ideologie der Automation
2. Das Aufkommen der immateriellen Physikalität
3. Die Aura des Digitalen
4. Der immaterielle Vermögenswert
5. Die Aufwertung des Autors
6. Die „Black Box“ der vergangenen Erfahrung
7. Der Zustand umfassender Kenntnis
8. Die Forderungen der Agnotologie/Überwachung
9. Die Knappheit von Kapital
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
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Kritik des digitalen Kapitalismus: Übersetzung:Weltecke, Manfred
 353426973X, 9783534269730

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Michael Betancourt

Kritik des digitalen Kapitalismus Aus dem Englischen von Manfred Weltecke Mit einem Vorwort des Übersetzers

Für Leah Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel The Critique of Digital Capitalism. An Analysis of the Political Economy of Digital Culture and Technology. © 2016 Punctum Books Diese Ausgabe erscheint gemäß der Vereinbarung mit Punctum Books in deutscher Erstübersetzung bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt. Copyright der deutschen Übersetzung © 2018 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2018 Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: primustype Hurler GmbH, Notzingen Redaktion: Cana Nurtsch Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

Interview mit Michael Betancourt ISBN 978-3-534-26973-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-534-74373-5 eBook (epub): ISBN 978-3-534-74374-2

Inhaltsverzeichnis Danksagungen........................................................................

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Vorwort des Übersetzers............................................................

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Einführung............................................................................ 15 1. Die Ideologie der Automation. . ................................................. 25 2. Das Aufkommen der immateriellen ­Physikalität. . ........................... 45 3. Die Aura des Digitalen........................................................... 61 4. Der immaterielle Vermögenswert.. ............................................. 85 5. Die Aufwertung des Autors...................................................... 99 6. Die „Black Box“ der vergangenen Erfahrung................................. 125 7. Der Zustand umfassender Kenntnis. . .......................................... 141 8. Die Forderungen der Agnotologie/­Überwachung.. .......................... 177 9. Die Knappheit von Kapital. . ..................................................... 217 10. Über Immaterialismus.......................................................... 241 Anmerkungen.. ....................................................................... 253 Literaturverzeichnis................................................................. 263

Danksagungen Die zur Veröffentlichung in diesem Buch überarbeiteten Essays wurden zuvor in den Zeitschriften CTheory, Hz und Vague Terrain veröffentlicht. Teile von Überarbeitungen/Erweiterungen dieser Aufsätze wurden ursprünglich in anderer Form in meinem Blog cinegraphic.net veröffentlicht. Die Einführung enthält Material aus „The Birth of Sampling“, erschienen in Vague Terrain im Mai 2011.  Kapitel  1: verändert aus „Labor/Commodity/Automation“, Event–Scene: e133, CTheory, 15. September 2004.  Kapitel 2: „Automated Labor: The ,New Aesthetic‘ and Immaterial Physicality“, Theory Beyond the Codes: 048 CTheory, 5. Februar 2013.  Kapitel 3: „The Aura of the Digital“, 1,000 Days of Theory: td041, CTheory, 5. September 2006.  Kapitel  4: „Bitcoin“, Theory Beyond the Codes: tbc053, CTheory, 18. Juni 2013.  Kapitel 5: „The Valorization of the Author“, erschienen in Hz 10 im Sommer 2007.  Kapitel  6: „Serial Form as Entertainment and Interpretative Framework: Probability and the ,Black Box‘ of Past Experience“. Semiotica: Journal of the International Association for Semiotic Studies 157.1–4 (2005): 315–324.  Kapitel  7: „The State of Information“. Resetting Theory: rt007, CTheory, 28. August 2009.  Kapitel 8: „The Demands of Agnotology: Surveillance“. Theory Beyond the Codes: 058, CTheory, 17. Juli 2014.  Kapitel  9: „Immaterial Value and Scarcity in Digital Capitalism“. Theory Beyond the Codes: 002, CTheory, 10. Juni 2010. 

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Danksagungen

Kapitel 10: verändert aus einem Vortrag, gehalten anlässlich von Digital Inflections: CTheory Global Online Seminar on Critical Digital Studies, 1 Uhr morgens pazifischer Sommerzeit, 17. Juni 2010.

Vorwort des Übersetzers Als Philipp II, der damals König von Spanien war, im Jahr 1549 seinen Vater Kaiser Karl V in Brüssel besuchte, verfolgten die beiden einen seltsamen Umzug, dessen merkwürdigster Teil ein Katzenklavier war, das von einem Bären gespielt wurde. In dieses Instrument waren Katzen eingepfercht, die durch das Drücken einer seiner Tasten zum Miauen gebracht wurden. Die Tiere waren in einer solchen Reihenfolge angeordnet, dass sich als Tonfolge eine Oktave ergab. Diese von Betancourt in der Einleitung zu seinem Buch angeführte Begebenheit analysiert er auf folgende Weise. Für den Aufbau des Katzenklaviers ist die Leugnung der realen Wirklichkeit der lebenden Tiere wesentlich. Die einzelnen Katzen werden auf den Ton reduziert, den sie jeweils erzeugen. Gemeinsam werden sie zu einem neuen Produkt zusammengefügt, einer durch das Instrument realisierten Katzenmusik. Das Miauen der Katzen wird in eine abstrakte musikalische Form gebracht, während die leidenden Tiere aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Das Katzenklavier ist für Betancourt in mehrfacher Hinsicht ein Vorschein der digitalen Technologie, denn in der Struktur dieses Instruments werden zentrale Aspekte dessen vorweggenommen, was er als digitalen Kapitalismus bezeichnet: (1) die Erhebung isolierter exemplarischer Daten, (2) die Fragmentierung der physischen Wirklichkeit in diskrete Teile sowie die (3) Rekombination der Töne zu einem neuen Produkt. Bevor diesem Vergleich weiter nachgegangen wird, soll die Thematik dieses Buches zunächst in ihren weiteren Kontext eingeordnet werden. Die digitale Technologie hat, vor allem in Gestalt des Internets, in den letzten 30 Jahren die Welt revolutioniert. Sie bietet ungeahnte Möglichkeiten, birgt aber auch neue Gefahren. Es gibt keinen Bereich, der hiervon unberührt geblieben wäre, nicht einmal die Diplomatie: twitternde Präsidenten sind ein Novum, das für Unterhaltung – und zeitweilig auch für Bestürzung – sorgt. Charakteristisch für die in den letzten Jahrzehnten erfolgten Veränderungen ist besonders der Grad der durch die digitale Technologie möglich gewordenen Automatisierung. Durch den Einsatz von Computern hat sie vorher nicht vorstellbare Stufen erreicht, zum Beispiel in Form von Montagerobotern. Von digitalen Systemen gesteuerte

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Vorwort des Übersetzers

Produktionsroboter haben in manchen Bereichen die menschliche Arbeit auf ein Minimum reduziert, in anderen vollständig eliminiert. Dies kann dazu führen, dass nicht nur die manuelle Arbeit des Menschen, sondern auch seine intellektuelle Arbeit obsolet wird. Dies ist zum Beispiel durch Software für den Hochfrequenzhandel mit Aktien, die menschliche Entscheidungsprozesse für den Handel mit Aktien und Rohstoffen auf den Finanzmärkten übernimmt, bereits geschehen. Auf einem Markt, auf dem in Mikrosekunden ermittelte Preisschwankungen über den Unterschied zwischen Gewinn und Verlust entscheiden, können nur noch Maschinen mit einer entsprechend schnellen Reaktionszeit miteinander konkurrieren. War es früher noch möglich, die Arbeit von Maschinen als Erweiterung der Aktivität des Menschen zu verstehen, gibt es mittlerweile längst zahlreiche Fälle, in denen die Maschine den Menschen nicht mehr unterstützt, sondern ersetzt. Der digitale Kapitalismus ist ein globales Phänomen: durch globale, digitale Datennetze, die eine Kontrolle aus der Ferne ermöglichen, ist es Unternehmen möglich geworden, bestimmte Arbeiten in Länder mit geringem Lohnniveau auszulagern. Ein Beispiel hierfür ist die die Programmierung von Software, ein weiteres sind Call Center zur Kundenbetreuung. Durch den Siegeszug des Computers wurden sämtliche Lebensbereiche grundlegend verändert, darunter natürlich auch die Produktion und der Verkauf von Waren. Doch der Kapitalismus hat durch das Aufkommen digitaler Technik eine Wandlung erfahren, die über die bloße Erleichterung und Beschleunigung bereits vorhandener Abläufe hinausgeht. Es ist eine neue Ware entstanden: Informationen über das Verhalten der Menschen, insbesondere ihr Kaufverhalten. Dies ist es, was Betancourt in seinem Buch als „Kolonialisierung der gesellschaftlichen Beziehungen“ bezeichnet: Einkaufsverhalten wird selbst zu einer Ware. Wer weiß, wofür ich mich interessiere und was ich kaufe, kann mir gezielt Produkte anbieten. Diese Information ist ein Beispiel für einen immateriellen Vermögenswert, der durch die digitale Technologie möglich geworden ist, denn diese erlaubt das Abspeichern und Analysieren riesiger Datenmengen. Diese Entwicklung stützt Betancourts These, dass im digitalen Kapitalismus virtualisierte, digital produzierte Werte die materielle Warenform sowie immaterielle Arbeit die physische Produktion zunehmend ersetzen.

Vorwort des Übersetzers

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Durch die digitale Technologie ist ein Bereich entstanden, in dem die in einem Produkt präsente Bedeutung von ihrer physischen Darstellungsform getrennt zu sein scheint. Dies beruht auf der Eigentümlichkeit der Beziehung zwischen einer digitalen „Kopie“ und ihrem „Original“: beide sind identisch. Sie sind nicht nur äquivalent, sondern dasselbe. Sofern sie auf der Realisierung eines Codes basieren, unterliegen sie, wenn sie kopiert, verwendet oder reproduziert werden, keiner Abnutzung. Hierdurch ist es möglich, ein digitales Werk zu verkaufen und zugleich weiter zu besitzen. Wenn man ein Computerprogramm kauft, erwirbt man daher lediglich ein Recht auf seine Nutzung. Man kauft also kein Produkt, sondern eine Lizenz. Das Produkt wird nicht konsumiert, sondern nur genutzt. Diese Tatsache leistet nach Betancourt zwei Phänomenen Vorschub: (1) einer Akkumulation von Wert ohne Produktion sowie (2) einer Produktion ohne Konsumtion, die nach ihm für den digitalen Kapitalismus symptomatisch sind. Aus ihnen erwächst die Illusion eines grenzenlosen Bereichs, in dem scheinbar ohne Aufwand Wert erzeugt werden kann, verbunden mit einer Leugnung materieller Kosten und der Begrenztheit von Ressourcen. Ein Paradebeispiel für die von Betancourt analysierte Verwandlung des Kapitalismus in seine digitale Form, d. h. zum Vorrang der immateriellen Produktion vor der materiellen Herstellung, ist die virtuelle Währung Bitcoin. Bitcoin und andere kryptographische Währungen wurden als elektronisches Gegenstück zu Bargeld konzipiert. Sie werden dadurch erworben (oder „geschürft“, wie man sagt), dass man unter hohem Rechenaufwand mathematische Aufgaben löst, was mit der Überprüfung früherer BitcoinTransaktionen eng verbunden ist. Ähnlich wie auf Waren basierende Währungen versucht haben, Arbeit in einer tauschbaren Form zu bewahren, stellt dies den Versuch dar, immaterielle Arbeit in einer digitalen Form zu bewahren. Bitcoins scheinen von der physischen Wirklichkeit völlig getrennt, ohne jegliches materielle Gegenstück zu existieren. Für ihren Besitz muss man über E-Wallets, elektronische Brieftaschen, verfügen. Doch die Existenz dieser und anderer virtueller, krytographischer Währungen, die von der Funktion unzähliger, weltweit verteilter Computer abhängt, verschlingt ungeheure Energiemengen. Anders als die scheinbare Ablösung der immateriellen Produktion von materiellen Gegebenheiten suggeriert, kann von einer Unabhängigkeit von konkreten physischen Zwängen folg-

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Vorwort des Übersetzers

lich nicht die Rede sein. Dieser Immaterialismus ist eine Illusion, die nach Betancourt für den digitalen Kapitalismus insgesamt allerdings charakteristisch ist. Kehren wir zurück zur eingangs angeführten Behauptung Betancourts, dass im beschriebenen Katzenklavier wesentliche Aspekte des digitalen Kapitalismus präfiguriert sind. Er führt im neunten Kapitel seines Buches ein bekanntes Fallbeispiel an, anhand dessen sich die behauptete Parallele weiter verdeutlichen lässt: das Platzen der Immobilienblase in den USA im Jahr 2008. Diese Immobilienblase war entstanden, weil man mit Vermögenswerten gehandelt hatte, die auf Hypothekenschulden basierten. Dabei schenkte man der Wirklichkeit der zugrunde liegenden, materiellen Werte und der Arbeit, die nötig war, um jene Schulden zu bezahlen, keinerlei Beachtung. Die Bedeutung der materiellen Vermögenswerte wurde völlig übersehen oder sogar geleugnet. Durch die Manipulation von auf Hypotheken basierenden Wertpapieren wurden neue Werte erzeugt, nur nebenbei auch durch den Verkauf von realen Immobilien. Diesen kam nur insofern eine Bedeutung zu, als durch sie finanzielle Verbindlichkeiten geschaffen werden konnten, damit diese Schulden dann zum Weiterverkauf auf Derivatenmärkten in Wertpapiere übertragbar waren. Als sich im Jahr 2008 die Rückzahlungen der Hypothekenschulden aufgrund variabler Zinssätze so sehr erhöhten, dass die Hypothekennehmer sie nicht mehr aufbringen konnten, platzte die Immobilienblase. Als Ergebnis einer den Gesamtzusammenhang der ökonomischen Wirklichkeit fragmentierenden Betrachtung, die ausschließlich an isolierten exemplarischen Einzelaspekten interessiert ist, waren die zu abgeleiteten Vermögenswerten rekombinierten ursprünglichen Hypotheken und die Menschen, die sie aufgenommen hatten, im Vergleich zum Handel mit den abgeleiteten Wertpapieren aus dem Blick geraten. Sie waren verdeckt und übersehen, wie die im Katzenklavier eingepferchten Katzen aus dem Bewusstsein verdrängt. (In diesem Zusammenhang weist Betancourt auch darauf hin, dass nach dem ökonomischen Zusammenbruch im Zentrum der staatlichen Hilfsprogramme nicht etwa die Hypotheken mit Zahlungsverzug, sondern die aus ihnen abgeleiteten virtuellen Investitionspapiere standen.)

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Eine Bedingung dafür, dass der digitale Kapitalismus und die für ihn typischen immateriellen Vermögenswerte entstehen konnten, war die Einführung einer Fiat-Währung, d. h. die Abtrennung der Währung von einem materiellen Vermögenswert. Bei einer Fiat-Währung handelt es sich um eine Währung, die nicht mehr durch Goldreserven garantiert ist, wie dies vor der Einführung dieser Währungsform üblich war. Die Menge der sich in Umlauf befindenden Währung kann so exponentiell erhöht werden, da sie von den Einschränkungen durch eine materielle Warenbasis befreit ist. Da es keine materielle Warenform gibt, deren materielle Einschränkung den Wert begrenzt, kann sie trotzdem scheinbar ihren Wert behalten. Der einzige in der Währung als ihr Tauschwert verdinglichte Wert, d. h. ihre gesellschaftliche Basis als Währung, ist ihre Anerkennung als universales Äquivalent. Diese Virtualisierung ist charakteristisch für eine Wandlung von einem Tauschsystem, das auf physischer Arbeit und Produktion beruht, zu einem solchen, das immer stärker auf immateriellen Werten basiert. Auch der digitale Kapitalismus funktioniert durch die Zusicherung zukünftiger Renditen auf investiertes Kapital. Dieses Versprechen ist jedoch nicht mehr einlösbar, wenn die geschuldete Arbeit die Summe der möglichen materiellen, automatisierten und immateriellen Produktion übersteigt, wie dies nach Betancourt im digitalen Kapitalismus der Fall ist: Da es immer eine größere offene Schuld gibt, als Geld zu ihrer Abzahlung vorhanden ist, zeichnet sich der digitale Kapitalismus durch eine ständige Knappheit von Kapital aus. Wenn Betancourts Analyse zutrifft, sind daher weitere Finanzkrisen unvermeidbar. Es würde die dem Umfang eines Vorworts gesetzte Grenze überschritten haben, wenn ich hier versucht hätte, eine vollständige Übersicht über die zahlreichen in diesem Buch behandelten Themen zu geben. Stattdessen habe ich seinen Kerngedanken vorgestellt: dass die von der „Aura des Digitalen“ suggerierte Immaterialität eine Illusion darstellt und dass sich die durch die physische Realität gesetzten Grenzen auf Dauer nicht überschreiten lassen. Nach Betancourt ist es die Vorherrschaft dieser immateriellen Ideologie, nicht eine reale Trennung von materiellen Bedingungen, die den digitalen Kapitalismus hervorbringt.

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Im Zentrum der Untersuchungen der 10 Kapitel dieses Buches, die ursprünglich als eigenständige Aufsätze verfasst wurden, steht – auch wenn sie sich streckenweise davon zu entfernen scheinen – letztlich immer wieder dieselbe Frage: Wie hat das Aufkommen der digitalen Technik den Kapitalismus und damit auch das Leben unter seinen Bedingungen verändert? In den verschiedenen Kapiteln setzt sich Betancourt immer wieder mit andere Autoren (Foucault, Derrida, Wittgenstein und natürlich Marx, um nur die bekanntesten zu nennen) auseinander bzw. nimmt auf sie Bezug. Seine Auseinandersetzung mit diesen Autoren ist eine lohnende Lektüre und bereichert durch wertvolle Einsichten. Um abschließend zum Vergleich des digitalen Kapitalismus mit dem zu Beginn beschriebenen makabren Umzug zurückzukehren: Das Spektakel des digitalen Kapitalismus ist in voller Länge noch nicht an uns vorübergezogen. Seine Entwicklung wird sich fortsetzen und weitere Automatisierungen stehen vor der Markteinführung, wie zum Beispiel selbstfahrende Autos oder im Haushalt einsetzbare Roboter, die nicht nur Staub saugen, sondern sich auch auf die Suche nach verlorenen Gegenständen begeben können. Es sollte hierbei in jedem einzelnen Fall gefragt werden, welche Gefahren diese und weitere Neuerungen mit sich bringen und ob sie wirklich im Interesse des Menschen sind. Wenn das Internet es Ärzten ermöglicht, in Echtzeit die allerneuesten, für den Erfolg einer Therapie ausschlaggebenden Forschungsergebnisse abzurufen, wird man dies nur begrüßen können. Bei anderen Formen digitaler Technologie wird die Antwort wohl eher negativ ausfallen, zum Beispiel, wenn Roboter in der Pflege alter Menschen eingesetzt werden, um ihnen „Gesellschaft zu leisten“. Denn wo sich der Mensch durch Roboter nicht unterstützen und dienen, sondern vertreten und ersetzen lässt, schafft er sich selbst ab.

Einführung Dieses Buch besteht aus einer überarbeiteten Sammlung von Aufsätzen, die – in etwa im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts – bereits in einer Reihe akademischer Zeitschriften veröffentlicht wurden. Sie haben gemeinsam, dass es in ihnen um die Ausarbeitung und Entwicklung einer Kritik des Kapitalismus geht, wie er sich durch die Erfindung digitaler Technologien verändert beziehungsweise daran angepasst hat. Insbesondere geht es um die neuen Formen der Produktion, die für die technisch möglich gewordenen, automatischen und sich selbst steuernden Systeme charakteristisch sind. Es ist eine Kritik, die mit einer materialistischen Untersuchung begann, der es darum ging, festzustellen, auf welche Weise die digitale Technologie über „magische“ Eigenschaften verfügt, die scheinbar eine Produktion ohne den Verbrauch von Ressourcen ermöglicht: Die Aura des Digitalen bot einen Einstiegspunkt für das, was zu einer Untersuchung der Bezugssysteme von Autorität, Produktion und Herrschaft anwuchs, die für die digitale Technik am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts charakteristisch sind. Diese Aufsätze stellen – mit entsprechenden Revisionen und Ergänzungen – eine einzige zusammenhängende Kritik der Art und Weise dar, auf die die digitale Technologie die Horizonte des Möglichen dominiert. Zentral für diese Überlegung ist die durch digitale Technologie und Automatisierung ermöglichte Illusion einer Produktion ohne Konsumtion. Sie erlaubt eine Kolonisierung gesellschaftlicher Beziehungen – eine Aufwertung gesellschaftlicher Aktivität und menschlichen Verhaltens – sowie die Substitution auf materieller Herstellung basierender, produktiver Tätigkeit durch eine auf Semiose basierende immaterielle Produktion. An der Bruchlinie, die jetzt zwischen dem virtuellen Bereich des Digitalen und der Wirklichkeit des Physischen verläuft, tauchen die Ideologie der Automatisierung, die Aura des Digitalen, die Aura der Information, ein Streben nach einem Zustand umfassender Kenntnis und letztlich der digitale Kapitalismus selbst auf. Alle diese Entwicklungen haben eine gemeinsame Basis in einem grenzenlosen Immaterialismus, der abseits des Physischen besteht und ihm überlegen ist. Diese Lakune ist jedoch eine Illusion. Der Bereich des Digita-

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len ist nicht grenzenlos: Kapitalknappheit setzt der für den digitalen Kapitalismus charakteristischen, immateriellen Produktion Grenzen, einen Punkt der Expansion, jenseits dessen die politische Ökonomie unweigerlich zusammenbrechen muss. Das den Medien und der digitalen Wirtschaft gemeinsame Phänomen der „Autorschaft“ ist ein Symptom dieser Kolonisierung der sozialen Beziehungen durch digitale Technik. In seinem Vollzug offenbart es ein Verlangen, ein vollständiges Bewusstsein sämtlicher Möglichkeiten der Informationsgewinnung (ein Verlangen nach dem „Zustand umfassender Kenntnis“) zu erlangen, und zwar durch eine spezifische Umwandlung bis dahin nichtkommerzieller Aktivitäten, die zu einer kommerziellen Handlung führen könnten (wie etwa das Stöbern in einem Geschäft), in wirtschaftliche Güter an sich. Es ist eine dramatische Veränderung, die eine ständige Kontrolle und einen perfekten Abruf von Daten zu einer neuen, immateriellen Ware zusammenfasst, die sich als Überwachung realisiert – die totalisierende Beschreibung menschlicher Aktivität. Diese Umwandlung von Aktivität in eine Ware hängt von der semiotischen, rekombinativen Kraft der digitalen Technologie ab. Die immaterielle Produktion ist für den digitalen Kapitalismus charakteristisch und präsentiert sich (auf ebenso charakteristische Weise) als etwas anderes denn eine Warenform: als Auswirkung der Aura der Information. Dieses Bestreben ist der Versuch des digitalen Kapitalismus, eine vollständige Beschreibung sämtlicher Informationen als Instrumentalität (Daten) zu erzeugen, in der die zerstreuten, kontextlosen Dimensionen sämtlicher in der digitalen Welt ausgeführter Aktivitäten zu auf gleiche Weise gültigen, wertvollen Waren für die immaterielle Produktion werden. Dieses „Material“ (Daten) ist der in sozialen Netzwerken enthaltene „Wert“ und der Grund dafür, dass diese Unternehmen als wertvoll angesehen werden, obwohl sie kein Einkommen erzeugen. Immaterielle Waren ermöglichen über die digitale Aura den selbstwidersprüchlichen Anspruch einer manifesten Immaterialität – dass der Zustand des Informationsbesitzes in direkter, greifbarer Form realisiert wird – über eine digitale Instrumentalität. Der gegenwärtige Einsatz von digitalen Rechnern zur Sammlung, Speicherung und Verarbeitung von Informationen zwingt dazu, eine neue Erkenntnistheorie in Erwägung zu ziehen, die – durch Reifikation – als die Aura der Information Wirkungs-

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macht entfaltet. Sie ist den ineinandergreifenden Bedingungen, die den digitalen Kapitalismus ausmachen, wesensmäßig inhärent. Indem es das kapitalistische, gewinnsüchtige Verlangen nach ständigem Wachstum verkörpert, während es gleichzeitig ein imaginäres Ende des „Mangels“ ist, offenbart es einen utopischen Impuls, in dem die Aura des Digitalen als Beweis für eine immaterielle Ordnung steht, und sowohl den Triumph als auch die Auflösung des Kapitalismus selbst suggeriert. Diese Dualitäten sind paradox; als zentraler Teil seiner expansiven Entwicklung tauchen im digitalen Kapitalismus widersprüchliche Impulse auf: den allgemeinen Einsatz immaterieller, semiotischer Produktion als primärer Methode der Erzeugung von Reichtum zu verlangen und anschließend zu rechtfertigen. Die Grundlagen der Aura der Information liegen, wie die digitale Aura, im Wesen der Computertechnologie selbst. Entscheidend für ihre Funktion ist die Fragmentierung der kontinuierlichen, physikalischen Welt in diskrete Datenblöcke – Exemplare –, deren Speicherung, Bearbeitung und Neukombination einem semiotischen Verfahren folgt, das von Regeln geleitet wird, die den Digitalrechner auf eine streng instrumentalistische Funktion einschränken, die von der Bedeutung und/oder dem historischen Kontext der Materialien, auf die zugegriffen wird beziehungsweise die sortiert und kombiniert werden, getrennt ist. Diese Verdinglichung wandelt die digitale Technologie in die Verkörperung eines immateriellen Bereichs um, in dem Produktion in einem Verfahren der Rekombination besteht – wobei es sich im Wesentlichen um eine semiotische Funktion handelt –, die ein immaterielles „Produkt“ schafft. Die technischen Möglichkeiten dieser Computertechnologie verdecken den Zusammenhang von Kapital, menschlicher Aktivität, sozialer Reproduktion und physischer Produktion. Auf solche Weise ist die Leugnung der Physikalität, die für die Aura des Digitalen spezifisch und in der Evolution von der Handarbeit zu der für den „digitalen Kapitalismus“1 charakteristischen Automatisierung offensichtlich ist, wesentlich damit verbunden, wie diese Technologie eingesetzt worden ist. Die „protestantische Arbeitsmoral“ ist der begriffliche Ausgangspunkt für diese Entwicklung: Sie bringt die „Ideologie der autonomen Leistung“ mit der digitalen Technologie zusammen, um eine neue „Ideologie der Automatisierung“ zu schaffen. Sie kommt im sozialen Bereich durch die Fantasie der Autonomie – des „selbstgemachten Mannes“ –

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zum Vorschein, unabhängig von der sozialen Reproduktion, die ihren Erfolg und ihr Überleben ermöglichen. Diese imaginäre Autonomie unterschlägt die menschliche Arbeit als Teil der Produktion, indem sie die menschliche Tätigkeit in der Ökonomie digitaler Information scheinbar obsolet macht und die Aufwertung des sozialen Verhaltens autorisiert. Das aktive Prinzip für diese Transformationen ist die „Aura des Digitalen“, die die kapitalistische Ideologie verdinglicht, indem sie die Rolle und die Bedeutung einer zugrunde liegenden physischen Wirklichkeit verdeckt. An ihre Stelle tritt die zerstörerische Fantasie, dass die Digitalität einen neuen, magischen Bereich jenseits physischer Einschränkungen eröffnet hat, in dem die Dualität von Produktion und Konsum aufgelöst wird, um ein grenzenloses Wachstum – einen ständigen Zuwachs von Vermögen – über die Grenzen von Produktion, Materialität und Arbeit hinaus zu erlauben. Aufgrund der stetigen Entwicklung und Ausweitung der digitalen Technologie im Laufe des 20. Jahrhunderts hat die Aufzeichnung exemplarischer Daten eine zentrale, sogar dominante Position erlangt, sowohl kulturell als auch technologisch. Sampling ist für die digitale Technologie ebenso notwendig wie für einen Zelluloidfilm – was es zur fundamentalen Technik der auf Medien gestützten Gegenwartskulturen macht. Sie ist jedoch in einem viel älteren historischen, als „Katzenorgel“ bezeichneten Apparat (der auch unter der spanischen Bezeichnung „katzenkavalier“, der deutschen „Katzenklavier“ oder als „cat piano“ bekannt ist) bereits deutlich sichtbar. Dieses Musikinstrument wird in dem Buch Juan Christóbal Calvetes von 1552 beschrieben, das eine Chronik der Europareisen von König Philipp II von Spanien enthält.2 Eine Betrachtung dieses frühen Beispiels semiotischer Rekombination erlaubt Einsichten in ethische Gegenwartsfragen, die man an den digitalen Kapitalismus richten könnte. Die Funktionsweise der Katzenorgel wurde von dem französischen Schriftsteller und Kritiker Jean-Baptiste Weckerlin 1877 in seinem Buch Musiciana, extraits d’ouvrages rare ou bizarre (Musiciana, Exzerpte aus seltenen oder bizarren Büchern) zusammengefasst: Als der König von Spanien, Philipp II, 1549 in Brüssel war und seinen Vater Kaiser Karl V besuchte, sah einer den anderen sich an einem vollkommen einzigartigen Umzug ergötzen. Angeführt wurde er von

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einem riesigen Bullen, zwischen dessen Hörnern ein kleiner Teufel saß, der mit Feuer jonglierte. Vor dem Bullen paradierte ein kleiner Junge, der in ein Bärenfell eingenäht war und auf einem Pferd ritt, dem man die Ohren und den Schwanz abgeschnitten hatte. Daran schloss sich in heller Kleidung der Erzengel Michael an. In seiner Hand trug er eine Waage. Der merkwürdigste Teil war ein Karren, auf dem das einzigartigste Musikinstrument transportiert wurde, das man sich vorstellen kann. Darauf befand sich ein Orgel spielender Bär: statt aus Pfeifen bestand sie aus etwa zwanzig Kästen, in deren jedem sich eine Katze befand, deren Schwanz unten heraushing und über eine Schnur mit der Tastatur verbunden war. Drückte man eine der Tasten, wurde der jeweilige Schwanz so kräftig gezogen, dass hieraus ein Mitleid erregendes Miauen resultierte. Der Historiker Juan Christoval Calvète merkte hierzu an, die Katzen seien in einer solchen Reihenfolge angeordnet gewesen, dass die Tonfolge einer Oktave zustande kam . . . (chromatisch, glaube ich). Dieses abscheuliche Orchester stellte sich im Inneren eines Theaters auf, in dem Affen, Wölfe, Rehe und andere Tiere zu den Klängen dieser infernalischen Musik tanzten.3 Katzenfreunde würden sich wohl wünschen, die Katzenorgel sei ein fiktives Gräuel, ganz wie Arthur Ewings „Mausorgel“ in Monty Pythons Flying Circus.4 Sie produziert Katzenmusik durch das Quälen lebender Tiere als Produktionsmittel, indem sie diese bei Bedarf miauen lässt: ein „Schreikonzert“, das nicht nur aus den Schreien der Katzen, sondern aus noch mehr besteht – einer Form von Musik, die aus den von dem Apparat kontrollierten, distinkten Stimmen semiotisch zusammengefügt wird. Wie Weckerlins Beschreibung des Umzugs zeigt, erfüllt die Katzenorgel ihre Funktion auf symbolische Weise, basierend auf der Assoziation von Katzen mit Teufeln und einer immateriellen, übernatürlichen Ordnung, in der zueinander im Gegensatz stehende Tiere in einem friedlichen Königreich zusammenkommen: dem Vorboten eines immateriellen Bereichs.5 Die Katzenorgel bringt eine magische Umwandlung tierischer Geräusche in eine harmonische Ordnung zustande; und der Umzug verwandelt

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eine immaterialistische Theorie in ein Schauspiel. Er ist eine Demonstration von „göttlicher Macht und eines universellen Plans“ und zwingt auf diese Weise immaterielle Kräfte in eine immanente Gegenwart, dargestellt durch technische Instrumente: Der Erzengel Michael setzt eine himmlische Ordnung durch, die dämonische Kräfte vor sich hertreibt. Die Inszenierung dieser Ordnung verlangt eine systematische Leugnung der realen Physikalität ihrer Mittel: der im Katzenklavier eingepferchten, lebenden Tiere. Die von der Katzenorgel inszenierte, spezifische Unterordnung wird zugleich aus dem Bewusstsein verdrängt. Sie ist eine frühe Form derselben Blindheit, die die Aura des Digitalen darstellt, indem sie den Aspekt des Körperlichen aus der Betrachtung ausschließt. Die Trennung der Quelle (der materiellen Basis) von der Bedeutung spiegelt die Wirksamkeit eines semiotischen Prozesses wider. Für Weckerlin und seine zeitgenössischen Leserkreise liegt der Schrecken dieser Apparatur in der Tatsache, dass einzelne Tiere für sie nur von Bedeutung sind, sofern sie für die spezifische Tonhöhe stehen, die sie produzieren – de facto sind es lebende Exemplare abstrakter musikalischer Töne. Diese Übertragung ist für das Verständnis der Relevanz des Apparats für die gegenwärtige Technologie von Bedeutung: Die Katzenorgel findet ihre Entsprechung in der Software-Anwendung AutoTune, mit der eine beliebige Stimme so angepasst werden kann, dass sie eine perfekte Lage hat, was einer Transsubstantiation gewöhnlicher Stimmen in reine Musikalität gleichkommt. Indem lebende Katzen so angeordnet werden, dass die Klangfarbe ihrer Stimmen zugleich zu den verschiedenen Tonhöhen einer musikalischen Komposition werden, verkörpert die Katzenorgel implizit ein Verständnis der physischen Wirklichkeit, das dem gegenwärtigen digitalen „Abtasten der Wirklichkeit“ und der digitalen Fragmentierung analog ist. Sie spiegelt eine spezifisch digitale Konzeption von Physikalität wider: Das operative Vorgehen ist semiotisch, die Ergebnisse hängen von der Neuanordnung einer Reihe exemplarischer Daten ab. Das Katzenklavier ist demnach ein früher Vorschein der digitalen Technologie, sowohl konzeptionell als auch bezüglich seiner Vorgehensweise: die Aufzeichnung exemplarischer Daten durch die Fragmentierung der physischen Realität in diskrete Pakete (die einzelnen Katzen) für ihre semiotische Zusammenfügung und Veränderung zu einem neuen Produkt: (Katzen-)Musik, eine immaterielle Form, deren Existenz nur

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durch einen mechanischen Apparat realisiert wird, der zu Aufführungszwecken quält, wobei diese Qual die semiotische Umwandlung des Miauens einer Katze in eine abstrakte musikalische Form zustande bringt. Die Katzenorgel taucht (mehr oder weniger buchstäblich) in den 1990erJahren wieder auf: in Form von zwei Weihnachtsalben, die von der Gruppe Jingle Cats herausgebracht wurden. Sie waren eine beliebte Sensation. Ihr erstes Album, Meowy Christmas, wurde Weihnachten 1993 vollkommen ausverkauft. Ihm folgte 1994 Here Comes Santa Claws: Beide Alben enthalten Musik, die aus dem innerhalb einer Tonart „gesungenen“ Miauen von Katzen besteht. Wie auf der Webseite von Jingle Cats betont wird6 – in einer bestürzenden Wiedergabe der Grundlage der ursprünglichen Katzenorgel –, wurden zur Produktion der Musik echte Katzen verwendet. Diese Transformation-ohne-Qual wurde durch die digitale Synthesizer-Technologie möglich, durch die Beispiele echten Miauens von Katzen aufgenommen und dann so angepasst werden konnten, dass sie sich in der korrekten Tonhöhe befanden, wodurch echte Katzen in der Vorstellung eingesetzt werden konnten. Diese Alben nähern sich dem in der Katzenorgel eingebauten semiotischen Verfahren. Beide sind symptomatisch für die Möglichkeit, mithilfe der digitalen Technologie eine kontinuierliche physikalische Wirklichkeit zu fragmentieren und von ihrem Ursprung abzulösen. Diese Zerlegung in Teilelemente erlaubt ihre Zusammensetzung in eine neue Form – die von Daten. Semiose schafft Möglichkeiten und läuft autonom ab, ohne Rücksicht auf den physischen Aspekt des in digitale Form übersetzten Materials zu nehmen. Selbst in der historischen Katzenorgel ist die Idee der „Aura des Digitalen“ offensichtlich. Diese in der Katzenorgel so deutlich sichtbaren, neutralen Gesetze sind auch kybernetische (maschinenhafte) Gesetze, welche das Lebende dem Nichtlebenden einverleiben: Katzen den Instrumenten ihrer in einer Folter bestehenden Vorführung. Diese kybernetische Dimension ist eine Entsprechung zur digitalen Übertragung der menschlichen Handlungsmacht auf den automatisierten und digitalen Computer beziehungsweise zu ihrer Unterwerfung unter ihn, in dem besondere menschliche Interessen zu Daten in der Rekonfiguration des sozialen Raumes werden, um die immaterielle Aufwertung des digitalen Kapitalismus widerzuspiegeln. Im gegenwärtigen digitalen Kapitalismus isoliert dieser Prozess Belange der immanenten Physikalität (und der höchst realen Einschränkungen der

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physikalischen Welt) aus dem Bewusstsein und ersetzt sie durch einen illusionären Überfluss – durch die Vorstellung, die digitale Technologie „beseitige den Mangel“, und zwar durch den rein semiotischen Vorgang der digitalen Replikation (unintelligente, autonome Transfer- und Reproduktionsgesetze). Es ist diese scheinbare „Wahrheit“, dass sämtliche digitalen Kopien gleich gut sind, die die Beeinflussungen und die Auswirkungen der Aura des Digitalen unterstützt. Bei der Betrachtung der digitalen Aura treten sogleich mehrere Charakteristika in den Blick: die praktische Unsterblichkeit digitaler Medien, ihr Potenzial der endlosen, perfekten Replikation sowie die Arten, auf die das Immaterielle immer bereits durch die Knappheit des Kapitals begrenzt ist. Die moralische Dimension, die durch den Vorgang der Aufzeichnung exemplarischer Daten entsteht, ergibt sich aus dem besonderen Vorgehen der digitalen Technik (gemäß ihrem unintelligenten Wesen), Mittel und Bedeutung voneinander zu trennen. Es ist der begrenzende Faktor, der durch die Knappheit des Kapitals erzwungen wird, der eine Kritik der politischen Ökonomie nicht lediglich zu einem potenziellen Aspekt von Untersuchungen der digitalen Technologie macht: Er ist auch eine Erklärung für die verschiedenen wirtschaftlichen Krisen, die sich in den USA und anderswo ereignet haben. Er stellt die Auffassung, dass „diese Zeit anders ist“ durch ein beständiges Zurückkommen auf die dis- und zugleich assoziative Methode der Produktion infrage: die Semiose, durch die eine fragmentierte Quelle für einen Zweck rekonfiguriert wird, der von ihrer materiellen Basis unabhängig ist. Menschliches Leben, Handeln und soziale Reproduktion sind nicht länger wesentliche Faktoren für die Beziehung von Produktion und Konsum, sondern werden zu Waren. Es ist dieses Problem – das durch den Immaterialismus gestellte, ethische Dilemma –, welches jeder dieser Essays verfolgt: Ein jeder konzentriert sich auf einen einzelnen begrifflichen Aspekt und untersucht ihn im Detail. Im Zuge dieser Untersuchungen werden diskrete Bereiche identifiziert, die als Hinweise auf die Kolonisation – als verkörperte kapitalistische Ideologie – von ehemals sozialen Aktivitäten durch die digitale Technologie dienen, als neue Formen der wirtschaftlichen Produktion. Gleichzeitig gewähren sie einen flüchtigen Einblick in einen digitalen Kapitalismus, der von der physischen Produktion und Konsumtion physischen Materials, von Arbeit und Kapital, abgeschnitten ist. Es ist diese scheinbare (und illusio-

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näre) Produktion ex nihilo mithilfe von Technologien der Überwachung und automatisierter Semiose (wofür die Finanzialisierung mit Algorithmen für den Hochfrequenzaktienhandel das offensichtlichste Beispiel ist), die zur Definition der gegenwärtigen politischen Ökonomie geworden ist, in der die soziale Reproduktion der Arbeit den Kapitalismus nichts angeht. Folter ist die Grundlage der Katzenorgel: Sie ist symptomatisch für die Dis- und Assoziation, die für die Aura des Digitalen typisch ist. Sich nicht um die physischen Konsequenzen zu sorgen, die durch die Verschiebung zum Immaterialismus geleugnet werden, bedeutet, die Möglichkeit von Missbräuchen dieses physischen Bereichs zu schaffen. Der Vorgang der Gewinnung exemplarischer Töne in der Katzenorgel – in dem die Tiere für ihre Bedeutung und ihren Zweck bedeutungslos werden, jedoch wesentlich für die ihr eigene Form – ist im Grundverfahren der digitalen Technologie wesentlich enthalten und spiegelt die gleiche Verdrängung der Physikalität aus der bewussten Aufmerksamkeit wider, in der die Aura des Digitalen wesensmäßig besteht. Diese Entwicklung ist eine ideologische Kraft, die in der sozialpolitischen Ökonomie der USA wirksam ist. Sie steuert die Implementierung sogenannter sozialer Medien und automatischer Produktion. Die Transformation der sozialen Aktivität in eine Ware geht aus der Illusion hervor, dass die digitale Produktion Wert ohne Aufwand erzeugt – der Illusion der Produktion von Kapital ohne seine notwendige Konsumtion. Sie ist das Symptom der Struktur einer pathologischen, kapitalistischen Ideologie, die in der Fantasie digitaler Technologie realisiert wird. Gleichzeitig bedroht diese Aura des Digitalen den Status quo, da die Illusion von Profit ohne Aufwand die Möglichkeit nahelegt, die digitale Technologie könnte ein Ende des Kapitalismus selbst herbeiführen (bei Ignorierung der Realität begrenzter Ressourcen, Zeit, Kosten etc., die ansonsten jegliche Formen von Wert und Produktion beherrschen). Es ist dieser zweite Aspekt der digitalen Technologie, der ein utopisches Potenzial darstellt – das Überschreiten der durch die physische Realität gesetzten Grenzen. Im semiotischen Prozess der Isolation, Fragmentierung und Reorganisation, der die technische Basis der digitalen Technologie darstellt, stößt man auf materielle Grenzen. Die immaterialistische Grundlage ist das explosionsartige Auftauchen einer Art von Technik, deren Grundlagen semiotisch sind. Durch die Fähigkeit der digitalen Technologie, die Realität

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zu fragmentieren und dabei nach eigenen Gesetzen vorzugehen, wird die kontinuierliche physische Wirklichkeit in diskrete Pakete relevanter Daten aufgesplittert, wodurch es ihr möglich wird, gegenüber dem, was sie übermittelt, neutral zu sein: Es besteht kein Interesse an der Physikalität des Materials, das in digitale Form übersetzt wird. Daher entspricht die Folter, die die Grundlage des technischen Apparats der Katzenorgel darstellt, wesensmäßig dem Verfahren der Erhebung exemplarischer Daten in der digitalen Technik, und sie spiegelt das gleiche Verdrängen der Physikalität aus der bewussten Aufmerksamkeit wider, das für die Aura des Digitalen wesentlich ist. Der durch die Erhebung exemplarischer Daten dargestellte Terror (offenbart durch das Katzenklavier) taucht in den Horrorfantasien von Science Fiction und in Form von künstlicher Intelligenz des Roboters, der intelligenten Maschine oder des Cyborgs auf, dem es um die Versklavung und Zerstörung der Menschheit geht. Die Tatsache, dass es bezüglich der Verwendung isolierter exemplarischer Daten – der notwendigen Basis der digitalen Semiose – in diesem teuflischen, historischen Apparat moralische Bedenken gibt, schließt mit ein, dass sich eine ähnliche moralische Dimension und Kritik auch für die Verdrängung der Physikalität aus dem Bewusstsein, die durch die Aura des Digitalen erfolgt, ergeben könnte. Diese ethischen Fragen stellen sich allerdings nicht im Kontext der Manipulation von Tierstimmenexemplaren, sondern angesichts der Folgen der „Immobilienblase“ von 2008, wo die durch die Erhebung exemplarischer Daten gewonnenen und manipulierten Materialien (verbriefte Schulden) weniger greifbar und in Form enteigneter Menschen zugleich konkret sichtbar waren. Die in der digitalen Technologie verkörperte Ideologie suggeriert, dass die Finanzialisierung und der ökonomische Zusammenbruch der Dotcom-Blase, der Immobilienblase etc. nicht nur unvermeidbar waren, sondern eine strukturelle Folge des Übergangs zur immateriellen Produktion und der menschliche Kollateralschaden ein Zeichen für seine produktive Funktion. Diese ökonomischen Turbulenzen sind ein direkter Beweis für die Folgen der immateriellen Produktion durch die digitale Manipulation des Geldwesens als eines semiotischen Systems. Die Ursprünge dieses sozialen Dilemmas zu verstehen, ist das diese Untersuchung motivierende Ziel.

Kapitel 1

Die Ideologie der Automation Geistige Arbeit schafft prinzipiell immaterielle Güter. Diese Produkte des menschlichen Denkens verfügen immer schon über einen reflexiven Index zu ihren Ursprungskulturen: Sie bringen ideologische Formen hervor und reflektieren diese auch – entweder in dem positiven Sinn, in dem sie offensichtlich durch eine bestimmte ideologische Konstruktion geformt sind, oder in dem negativen, dass sie „gegen den Strich“ der ideologischen Strukturen arbeiten, in denen sie notwendigerweise ihren Ursprung haben. Da geistige Arbeit nur durch ihre greifbaren Produkte sichtbar wird – geschriebene oder gesprochene Texte, die verschiedenen Kategorien von Design und Kunst –, muss das Element der Arbeit dieser Konstrukte notwendigerweise unberührbar bleiben, ein rein geistiges Werk, bis ihm eine physische Form verliehen wird. Die „protestantische Arbeitsmoral“ des 19. Jahrhunderts ist der begriffliche Ausgangspunkt für die Entwicklung einer neuen „Ideologie der Automation“, die die „Ideologie der autonomen Leistung“ jener Zeit mit der digitalen Technik verbindet, um menschliche Arbeit aus der Produktion zu eliminieren. Damit macht sie die menschliche Arbeit im Zeitalter der auf digitaler Information beruhenden Wirtschaft für die Schaffung von Wert scheinbar irrelevant (faktisch obsolet). Vielleicht das paradigmatische Beispiel für immaterielle Produktion, die Erziehung, unterlag im 20. Jahrhundert einem Wandel, den der Kritiker Dion Dennis als die „neo-liberale politische Neudefinition der höheren Bildung als eines privaten statt eines allgemeinen Guts“1 beschrieben hat. Diese zeitgenössische Umwandlung „geistiger Arbeit“ weg von etwas, das der Gesellschaft als Ganzer dient, spiegelt wider, zu was immaterielle Arbeit unter den Bedingungen des digitalen Kapitalismus wird: zu einer modularen Ware, die mit Wert versehen werden kann (und wird), und anschließend automatisiert wird. Die gegenwärtige Umwandlung der geistigen Arbeit ist ein direktes Zeichen dafür, dass multinationale Konzerne, die sich aktiv bemühen, die immaterielle Produktion in andere Länder auszulagern,

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Kapitel 1

dabei sind, die Fähigkeiten nationaler Regierungen, wie etwa der USA – wenn es darum geht, ihre Aktivitäten rechtlich zu regeln und zu kontrollieren –, zu unterlaufen. Dies ist Teil einer längerfristigen Entwicklung, bei der Unternehmen die Einschränkungen der Länder, in denen sie (vorübergehend) ihren Sitz haben, umgehen. Diese Verschiebung in der Bedeutung von Erziehung und Bildung ist gleichzeitig sowohl eine Neuorganisation akademischer Institutionen, um einem individualistischen Gesellschaftsmodell gerecht zu werden, als auch ein grundsätzlicher Wandel im Verständnis der geistigen Arbeit selbst, um sie zu einer Warenform zu machen. Diese neue Konfiguration hat ihre Ursprünge in der Ideologie der „autonomen Leistung“ des 19. Jahrhunderts, die von T. Jackson Lears in seiner Untersuchung No Place of Grace beschrieben wird, einer Ideologie, die dazu verwendet wurde, die wirtschaftliche Ausbeutung der Arbeit und die soziale Stellung der wirtschaftlich mächtigen Oberschichten jenes Jahrhunderts zu rechtfertigen. Diese Behauptung, dass vermehrte, automatisierte Produktion menschliche Arbeit nicht verdrängt – die sich gegen das richtet, was manchmal als „technikfeindlicher Fehlschluss“2 bezeichnet wird –, gibt die Ideologie der Automation in Aktion wieder: dass die erhöhte mechanische Produktivität die Leistung der Arbeiter wesentlich verstärkt und die Kosten der Produktion und des Produkts auf diese Weise senkt. Die räumliche Verlagerung von Arbeit, um von geringeren Lohnkosten zu profitieren, war im 19. Jahrhundert in den USA weit verbreitet; die gegenwärtige Auslagerung von Arbeit in andere Länder ist in diesem Denkrahmen unausweichlich. Gleichzeitig offenbart sich die aufkommende Ideologie der Automation durch eine Transformation der Arbeit zur autonomen Produktion, durch eine vollständige Verdrängung menschlicher Arbeit, eine Verschiebung von der Produktion zur Konsumtion. Die Auslagerung von Arbeit in andere Länder ist jedoch nur ein Symptom dieser Umwandlungen: Indem die menschliche Tätigkeit von der Produktion getrennt wird, erreicht der Fortschritt von der direkten Handarbeit zu Werkzeugmaschinen in der Montagestraße von Ford seinen Höhepunkt, bei dem die Produktion einer semiotischen Fragmentierung in diskrete, voneinander unabhängige Einheiten unterworfen wird. Das Fließband macht die Rolle der menschlichen Tätigkeit deutlich, da selbst bei der­

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Abtrennung der produktiven Aufgaben – sowohl von der vereinheitlichenden Designkonzeption als auch voneinander – die menschliche Beteiligung an der Produktion selbst notwendig bleibt. Dieses manuelle Element, die aktive Betätigung, kann nicht vollständig in eine Ware verwandelt werden, weil menschliche Arbeitskraft (mit all den direkten Einschränkungen, die mit Arbeit verbunden sind) eingesetzt werden muss. Die Automation bietet ein illusorisches Überschreiten der Grenzen, die die menschliche Arbeit setzt: Bei der Automatisierung ist der notwendige Zusammenhang zwischen der „Intention“ und der Arbeit, die diese „Intention“ in der Produktion realisiert, scheinbar zertrennt. Dies ist die Ideologie der Automatisierung – die Bresche zwischen der menschlichen Absicht und ihrer aktiven Umsetzung in beziehungsweise als Produktion. Die Ausweitung dieser Automatisierung auf die nicht-physische Produktion ist in der Weise des Einsatzes digitaler Technologie impliziert. Die Umwandlung der geistigen Arbeit zur Ware als immaterieller Produktion – die sowohl „Bildung“ als auch „Kreativität“ umfasst – offenbart die Ideologie der Automation in Aktion. Diese Transformation stellt sich als Resultat derselben Computertechnologien ein, die die Verlagerung der „Arbeit der Wissensarbeiter“ ökonomisch durchführbar machen: Sobald verbesserte, kostengünstige Kommunikationstechnologien weit verbreitet waren, folgte die Verlagerung der immateriellen Arbeit dem etablierten, globalen Paradigma, gemäß dem die physische Produktion von den USA in Länder ausgelagert wurde, in denen die Löhne niedriger waren.3 Die Automatisierung geistiger Arbeit hängt von digitalen Technologien ab. Ihre Beziehung ist zirkulär: Ohne digitale Kommunikationstechnologie würde das Aufkommen immaterieller Produktion durch in der Kommunikation inhärente Wartezeiten verhindert. Der manuelle Aspekt der menschlichen Produktion erzwingt einen Rückgang der Produktion, welcher der Fragmentierung des Prozesses in einzelne Teile, die als einzelne Aktionen separater Individuen – der menschliche Teil der Arbeit – ausgeführt werden, eigentümlich ist. In dem Maße, in dem Technologien aufgrund des Erfolgs immaterieller Arbeit besser werden, wird es leichter, den Ort, an dem eine Arbeit ausgeführt wird, im globalen Maßstab zu wechseln. Verbesserte Technologien haben einen Rückgang der Stabilität und Sicherheit der Arbeit (sowohl der physischen als auch der geistigen) zur Folge, was die In-

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Kapitel 1

kompatibilität der von geistiger und physischer Produktion geschaffenen Werte zeigt. Die extraktive, semiotische Natur der immateriellen Produktion spiegelt die Bewegung von der sozialen Produktion der menschlichen Gesellschaft zur autonomen Produktion wider. Es ist eine produktive Metapher: Geistige Tätigkeit kann physisch eingeschränkt, bereichsweise in modulare Teile zerlegt und so (mithilfe der Automatisierung) der Verdrängung durch digitale Technologie ausgesetzt werden, und zwar ohne daraus folgende menschliche soziale Verlagerungen und Auswirkungen – die Ideologie der Automation in Aktion.

§ 1.1 Der Historiker T. J. Jackson Lears erörtert in seinem Buch No Place of Grace: Anti-Modernism and the Transformation of American Culture, wie sich die Ideologie der „protestantischen Arbeitsmoral“ im 19. Jahrhundert entwickelt hat. Seine Analyse stellt die Ursprünge der Auslagerung von Arbeit in andere Länder als Nebeneffekt der Ideologie der „autonomen Leistung“ dar: Im 19. Jahrhundert verwendeten die Oberschichten das Modell der „protestantischen Arbeitsmoral“, in Verbindung mit Thomas Robert Malthus’ Verknüpfung von wirtschaftlichem Gewinn mit moralischer Selbstbeschränkung in seinem Werk An Essay on the Principle of Population und Adam Smiths kapitalistischer Theorie „freier Märkte“ in seinem Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, zur Konstruktion eines liberalen ethischen Modells, in dem wirtschaftlicher Erfolg – der amerikanische „self-made man“ – zugleich als Beweis spirituellen und moralischen Erfolges galt. Das Erzielen dieses Erfolges war ein Akt des persönlichen Willens. Spirituell und moralisch höherstehende Individuen würden für die Befolgung ihrer höheren moralischen Maßstäbe ökonomisch belohnt. Diejenigen, die arm oder wirtschaftlich erfolglos waren, waren demnach auch moralisch minderwertig, und die Erfolgreichen rechtfertigten ihre Stellung in der Gesellschaft auf diese Weise gleich zweimal: Jahrzehntelang fiel die Aufgabe [ein Ethos der autonomen Leistung zu rechtfertigen] dem Moralphilosophen zu [. . .]. Das Gewissen eines Menschen unterrichtete ihn über das moralische Universum; da ethi-

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sche Wahrheiten erkennbar waren, war das Problem der Moralität schlicht eine Frage des Willens: Man wählte seine Pflicht oder wich ihr aus. Und Pflicht involvierte, in jedem Fall, eigenständige Leistung. Das disziplinierte Verfolgen individuellen Eigeninteresses war ein moralischer Imperativ; Wohlstand hing von Tugend ab.4 „Autonome Leistung“ erlaubt eine Neudefinition von Bildung als eines privaten statt eines öffentlichen Guts. Die zentrale These dieser Ideologie lautet, dass das Individuum durch persönliche Arbeit, ohne Unterstützung durch die Regierung, Freunde, Familie, ererbte Stellung oder irgendwelche anderen äußeren Hilfen, Erfolg erzielt. Sie ignoriert viele der Vorteile, die diejenigen, denen sie nützte, bereits besaßen, bevor sie anfingen, und sie entschuldigt die Weise, auf die sie ihren Erfolg erzielten: durch die Ausbeutung der Arbeit anderer. Dieser Anschein rechtfertigt die Verlagerung sämtlicher Jobs ins Ausland, mit Ausnahme derjenigen auf der obersten Ebene des Managements – des Direktors und Vorstands –, die sämtlich Mitglieder der wirtschaftlich privilegierten Oberschichten sind. Die Parallelen zwischen der Verlagerung der physischen Produktion und der immateriellen Produktion (sowie von Dienstleistungen) ins Ausland könnten ein Anzeichen dafür sein, dass sich die Automatisierung immaterieller Aktivitäten, wie im früheren Fall der physischen Arbeit, in nächster Zeit vollziehen könnte. Wie Dion Dennis hervorgehoben hat, waren die Wellen von Hochschulabsolventen zwischen 1950 und 1980 durch die unmittelbaren wirtschaftlichen Gewinne, die ihnen durch die von der Regierung der USA unterstützte, höhere Bildung ermöglicht wurden, in der Lage, ihren Lebensstandard dramatisch zu verbessern.5 Diese Veränderung der gesellschaftlichen Stellung nährt die Ideologie der „autonomen Leistung“ durch eine kurzsichtige Leugnung der Rolle, die die Regierung bei diesem sozialen Aufstieg spielte, und erzeugt so eine Situation, in der die Verschiebung von einem allgemeinen Gut zu einer persönlichen Vervollkommnung die eigennützige Ideologie widerspiegelt, die von der Oberschicht des 19. Jahrhunderts eingesetzt wurde: Sie inszeniert die Prämisse, dass Erfolg ohne Unterstützung durch individuelle Arbeit erzielt wird.

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Kapitel 1

Das Abwälzen der Verantwortung für Bildung auf das Individuum zeigt, dass die Mittel- und Unterschichten, die bestrebt sind, ihre soziale Position zu verbessern, die Ideologie der „eigenständigen Leistung“ übernommen haben. Dennis hat diese Verschiebung mit der Vorherrschaft des neoliberalen Kapitalismus in Verbindung gebracht: Der neoliberale Diskurs propagierte ein Marktsystem, in dem das Risiko vom Kollektiv auf das Individuum umverteilt wurde. Die Regierung sollte nicht mehr der Garant der Sicherheit sein. Sie wurde als ein Partner bei der Einschätzung und dem Management individueller Risiken neu definiert. In diesem ökonomischen Universum beruht der Erfolg oder Misserfolg von Personen allein auf ihrer Risikobewertung und dem Umfang ihrer persönlichen Verantwortung und Verdienste. Innerhalb dieser atomistischen Voraussetzungen und ihrer Leugnung übergreifender sozialer oder struktureller Phänomene beschränkten sich Aktionen zur Beeinflussung struktureller Veränderungen in nationalen und globalen Wirtschaften auf die Vergabe individualistischer Rezepte für lebenslanges Lernen und Umschulen. Konzepte kollektiver Aktion mit dem Ziel der Unterstützung von Gemeinschaftseigentum oder öffentlichen Gütern wurden stigmatisiert und als verlogene, mystifizierende Rhetorik, die von einer anti-amerikanischen, intellektuellen Elite verwendet wurden, in Verruf gebracht. Aufgrund ihres individualistischen Schwerpunkts ist dies eine atomistische Ideologie mit starker Affinität zur massenhaften Auslagerung von Jobs, der Steigerung der Gehälter von Firmenchefs sowie der kompletten Umschichtung des amerikanischen Klassensystems.6 Die Mittelklasse nahm, indem sie die Rolle der Regierung bei ihrem Aufstieg von sich wies, kollektiv am Abbau jener Faktoren teil, die sie vor der wirtschaftlichen und politischen Beseitigung durch die Oberschichten geschützt haben würden. Gleichzeitig ermöglichte die Überzeugung, jegliche Form der Regierungsbeteiligung sei notwendigerweise von Übel, die in den 1980er-Jahren (dem Zeitraum, in dem die Verlagerung von Arbeit in andere Länder einsetzte) beginnende Deregulierung der Aktivitäten von Unternehmen. Die Leugnung der Fähigkeit der Regierung zu regieren, ist ein Be-

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standteil der Ideologie der „autonomen Leistung“. Sie ist dasjenige, was die „autonome Leistung“ autonom macht. Privatisierung ist daher ein grundsätzliches Element dieser Ideologie. Sie enthält einen Glauben an die Überlegenheit der Märkte über alle anderen Werte. Der Aufstieg der Automatisierung ist seine konsequente Umsetzung als industrielles Verfahren; die Expansion zur immateriellen Produktion ist eine Folge des inhärenten Potenzials der digitalen Automation. In einer Studie zur Privatisierung öffentlicher Kunstmuseen, der Kunstförderung und der kulturellen Institutionen in den USA und in Großbritannien merkt der Historiker Chin-Tao Wu an, dass die Steuerklassen im Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch gesenkt wurden, wie aus Tabelle 1.1 hervorgeht (vgl. Seite 43). Die verstärkte Besteuerung der Mittelklassen als Ergebnis höherer Einkommensstufen war ein Faktor, der mit dazu beitrug, dass eine neoliberale, steuerfeindliche Politik bereitwillig übernommen wurde. Die steigende Zahl derer, die ein Mittelklasseeinkommen verdienten und plötzlich höhere Steuern zahlen mussten, obwohl sie es gewohnt waren, weniger Steuern zu zahlen (da sie bislang einer deutlich niedrigeren Steuerklasse angehörten), machte es möglich, die Steuern sämtlicher Einkommensstufen stetig zu senken. Auf diese Weise lässt sich das von Dennis beschriebene Aufkommen der Macht der Oberschicht und ihre Konsolidierung anhand der Besteuerung verfolgen. Wie aus Tabelle 1.2 (vgl. Seite 44)7 hervorgeht, besteht ein Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Universität der Kinder der ersten Generation staatlich geförderter Hochschulabsolventen (d. h. der zweiten Generation von Hochschulabgängern, die 2003 zwischen 45 und 59 Jahre alt waren) und dem Beginn der Senkung der Steuersätze. Der stetige Rückgang der Steuersätze von ihrem Höchststand in den 1950er-Jahren setzte ein, als eine zunehmende Zahl von Arbeitskräften mit Hochschulausbildung besser bezahlte Positionen im mittleren Management übernahm und mehr verfügbares Einkommen hatte, weil ihre Kinder nunmehr die Universität verließen und in die Arbeitswelt eintraten. Obwohl die Besteuerung der Oberschichten nicht auf die Stufe zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefallen ist, lässt sich erkennen, dass der Trend in diese Richtung geht. Tabelle 1.2 zeigt die vom statistischen Bundesamt der USA bereitgestellten Zahlen für die erreichten Bildungsabschlüsse. Dennis’ „Bildungs-Boom“ erreicht seinen Höhepunkt mit den

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Kindern der Veteranen des Zweiten Weltkrieges. (Diese Kinder wurden mehrheitlich zwischen 1949 und 1953 geboren.) Sie kamen zwischen 1967 und 1971 an die Hochschulen (wobei sie aufgrund der Freistellung für das Studium nicht für den Vietnamkrieg eingezogen wurden). Es war diese besondere Bevölkerungsgruppe, die in den 1970er-Jahren in die Berufswelt eintrat. Diese Gruppe, die als „Yuppies“8 bekannte Generation, ist diejenige, die die Ideologie der „autonomen Leistung“ weitestgehend übernahm. Die Entwicklung in die Richtung, dass eine höhere Ausbildung Voraussetzung für eine Anstellung war, die von Dennis beobachtet wurde, ließe sich als Nebeneffekt eines „Willens zur Autonomie“ bezeichnen, den sich die Mittelklassen zu eigen gemacht hatten. Die stetige Verschiebung in Richtung niedrigerer Steuersätze beginnt 1964, genau zu dem Zeitpunkt, zu dem der steile Anstieg der Zahl der Hochschulabschlüsse einsetzt: Die 1942 geborenen Kinder treten in die Berufswelt ein. Hierbei handelte es sich hauptsächlich um die „Kriegsbabys“, die im Jahr nach der Einberufung ihres Vaters geboren wurden, während die Jahre 1949–1953 Höchstzahlen aufweisen, weil es sich hierbei um die Kinder handelt, die nach der Rückkehr des Vaters aus dem Krieg geboren wurden. Die erste Gruppe schloss 1962 oder 1963 ihr Hochschulstudium ab und trat anschließend in die Ränge der höheren Angestellten ein. Diese demografischen Zusammenhänge stimmen mit den Änderungen in der Besteuerung der Reichen und der Anhebung des Ausbildungsniveaus der Mittelschichten überein. Während die Steuersätze für die Oberschichten – den reichsten Teil der Bevölkerung der USA, der die Arbeit der anderen, sowohl die der höheren Angestellten als auch (infolgedessen) der Arbeiter, besitzt und steuert – im Laufe des 20. Jahrhunderts Schwankungen unterlagen, gibt es noch einen weiteren historischen Zusammenhang, der Aufmerksamkeit verdient: die historische Dominanz der Macht der Unternehmen über das wirtschaftliche und politische Leben und die niedrigsten Steuersätze für die reichsten Bürger. Seit Roosevelts aktiver Durchsetzung des Anti-Trust-Gesetzes von Sherman Anfang des 20. Jahrhunderts und seiner Ergänzung durch den Clayton Act von 1914 begann die Regierung der USA die wirtschaftlichen Aktivitäten der Oberschichten durch ihren Besitz großer Unternehmen indirekt zu reglementieren. Die Steuern stiegen in diesem Zeitraum stetig an. Innerhalb von vier Jahren nach der Schaffung der Bundeshandelskommission9

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stieg der höchste Steuersatz von 7 % auf 77 %, was einerseits mit den im Einsatz befindlichen Streitkräften (Erster Weltkrieg) und andererseits mit der erhöhten Kontrolle und Überprüfung durch die neue Kommission zusammenhing. In den 1960er-Jahren kehrt sich die Tendenz in der Entwicklung der Steuern um. Zu einer drastischen Senkung der Steuern kam es im Zeitraum zwischen 1964 und 1988, in dem sie für die höchste Einkommensstufe von 77 % auf 33 % zurückgingen. Diese Änderung ist sowohl ein Gegenstück zum Aufkommen der „autonomen Leistung“ als wirksamer Ideologie der Mittelklasse als auch an die allmähliche Auslagerung körperlicher Arbeit in andere Länder gekoppelt, an die sich um die Jahrtausendwende die Verlagerung von Wissensarbeitern und die Informationswirtschaft unterstützender Arbeiten ins Ausland anschloss.

§ 1.2 Die Ideologie der persönlichen Verantwortung für die Ausbildung, verbunden mit einer Zunahme der Zahl hochqualifizierter Hochschulabsolventen innerhalb und außerhalb der USA, hat dazu beigetragen, die gegenwärtige Verfügbarkeit immaterieller Arbeit herbeizuführen. Entscheidend für die Fähigkeit von Unternehmen, diese Arbeit in andere Länder auszulagern, ist die Entstehung globaler digitaler Datennetze, die eine Kontrolle aus der Ferne ermöglichen. Ohne dieses weltumspannende Datennetz könnte es keine Auslagerung von immaterieller Arbeit in andere Länder geben. Diese Entwicklung und die Dominanz der als „Globalisierung“ bezeichneten Ideologie, die Dennis nachzeichnet, folgt diesem historischen Bogen, sichtbar in gesenkten Steuern für die reichen Direktoren, die großen Unternehmen vorstehen. Die Rolle der Regierung bei der Beaufsichtigung von Unternehmen ist in diesem Zeitraum zurückgegangen. Die Globalisierung greift öffentliche Institutionen an und ersetzt sie durch private Interessen, wie Dennis und Wu gezeigt haben. Die durch diese Transformation der Regierung betroffenen Gruppen sind die historisch „unteren“ Schichten – die man als „proletarisch“ bezeichnen könnte. Diese Arbeitskräfte überleben aufgrund ihrer eigenen Arbeit statt durch die Leitung der Arbeit anderer. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Arbeit der Mittelschicht auf keine Weise von

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Kapitel 1

derjenigen der Unterschicht: Beide Gruppen werden von den Oberschichten dirigiert, die sie anstellen. Die von den Angestellten der Mittelschicht ausgeführte immaterielle Arbeit, die jetzt in andere Länder ausgelagert wird, ist nur der Art nach verschieden von derjenigen ihrer Schicksalsgenossen in der Unterschicht, die in der Herstellung materieller Güter arbeiten. Die Ideologie der „autonomen Leistung“, die diese Arbeiter – sowohl der Mittel- als auch der Unterschicht – übernommen haben, ist das Ergebnis ihrer Stellung als Kleinbürger, die danach streben, zum Bürgertum zu gehören, indem sie die Überzeugungen, die Gepflogenheiten und die Kultur der Oberschicht nachahmen.10 Dieses Streben hat dazu geführt, dass ihre Arbeitsplätze nunmehr von der Auslagerung in andere Länder bedroht sind, weil sie die Wirtschaftsaufsicht der Regierung, die sie schützte, demontiert (oder stillgelegt) haben. Die konsequente Ausweitung dieser Auslagerung ist leicht erkennbar: Alle Arbeit wird zur Ware. Wie bei der Herstellung materieller Produkte wird die immaterielle Arbeit von Land zu Land verschoben, um vom Gefälle der Arbeitskosten zu profitieren, ähnlich wie ein Unternehmen das Land wechselt, in dem es die für die Produktion benötigten Materialien einkauft. Was diese Entwicklung widerspiegelt, ist die Tatsache, dass die Kreativität und die damit verbundene Arbeit zu einer Ware wird. Dieser Paradigmenwechsel ereignet sich zu einem Zeitpunkt, zu dem auch andere Formen der immateriellen Produktion im Begriff sind, zur Ware zu werden. Der Technologe Dave Stutz beschreibt diesen Prozess in der SoftwareIndustrie: Das Wort Ware wird heute verwendet, um Material für industrielle Prozesse zu bezeichnen: Dinge oder Substanzen, die man als Grundbausteine für verschiedene Zwecke für wertvoll hält. Aufgrund ihres sehr allgemeinen Werts werden sie typischerweise in großen Mengen und auf vielfältige Weise verwendet. Waren werden immer von mehr als einem Hersteller bezogen, und Kunden können das Produkt eines Herstellers ungestraft durch das eines anderen ersetzen. Da Waren auf diese Weise austauschbar sind, werden sie durch einheitliche Qualitätsstandards definiert, denen sie genügen müssen. Diese Qualitätsstandards helfen bei der Vermeidung von Fälschungen, und sie ermögli-

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chen außerdem die schnelle und mühelose Bewertung, die ihrerseits Produktivitätssteigerungen fördert.11 Stutz schreibt über Computerprogramme, ein Produkt geistiger Arbeit und einer der sichtbarsten Bereiche, dessen Entwicklung in andere Länder verlegt wurde. Diese Art der „Produktion“ ist ein Resultat der „Kreativität“ – geistiger Aktivität (eine immaterielle Produktion) – statt der physischen Herstellung. Diese Transformation der Kreativität in eine Ware ist eine neue Phase der industriellen Produktion, enthalten in der Idee einer „Informationswirtschaft“ – dass die Bearbeitung alter und die Schaffung neuer Daten, analog zur materiellen Herstellung, ein portabler „industrieller Prozess“ wird, wobei die Daten selbst ein „Objekt“ (intellektuelles Eigentum) werden, das die Rolle anderer Rohmaterialien spielt, die in anderen Arten der Herstellung verwendet werden.12 Diese transformative, immaterielle Produktion ist nur mithilfe digitaler Technologie möglich. „Autonome Leistung“ schlägt eine Brücke zur digitalen Technologie durch diese aufstrebende „Informationswirtschaft“, in der Bildung zur „Wissensindustrie“ wird: in einer Verdinglichung der „produktiven“ Metapher, die in der Transformation intellektueller Arbeit zu einer immateriellen Ware verwendet wird.

§ 1.3 Unternehmen, die immaterielle Arbeit in andere Länder auslagern, veranschaulichen einen Paradigmenwechsel in der Konzeption immaterieller Arbeit – von menschlicher Aktivität zu einer modularen Ware. Dieser Transfer basiert auf einem Paradigma der Digitalität, d. h. – speziell auf einer technischen Ebene – einer Verdinglichung des modernistischen Rasters; diese Verbindung zwischen Modularität und Rasterkonstruktionen ist nicht zufällig oder trivial. Er gibt einen fundamentalen Prozess der Segmentierung wieder, der für die „produktive“ Metapher wesentlich ist. Seine Inhalte sind wesentlich identisch, getrennt von der physischen Variabilität, die anderen materiellen Konstrukten inhärent ist, durch die unnachgiebigen Oppositionen des binären Codes, dessen Bedeutung getrennt von der Form der Arbeit besteht, sobald er in eine instabile, menschenlesbare Form übertragen wurde. Denn damit Silizium – das Ausgangsmaterial sowohl für

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Quarzkristalle als auch von Glas – digital werden kann, muss es im wahrsten Sinne opak werden: Der Prozess des Sehens ist nicht mehr eine Sache des „Sehens-durch“, sondern des „Sehens-in“: Einsicht, transzendente Vision, ein ideologischer Transfer, der sowohl eine Internalisierung des Verstehens/der Produktion, als auch eine Befreiung von physischen Einschränkungen impliziert; dieser Übergang ist die Aura des Digitalen. Die Ideologie, die sie schafft, nimmt die Beobachtung des Science-Fiction-Autors Arthur C. Clark, dass fortschrittliche Technologie mit Zauberei identisch ist, und wendet sie von einer imaginären Zukunft in gelebte Erfahrung der Gegenwart und füllt dabei den Raum des Digitalen mit imaginären, instrumentellen Formen des „Lebens“ (von Computerviren über Würmer, Spinnen, Bots und Spyware), deren Funktion parasitär ist. Gleichzeitig wird die Welt des Lebens maschinenhaft: „Life-hacking“ und DNA als eine Variante des digitalen Codes, manipuliert und modelliert innerhalb der digitalen Technologie, die ihre Transformation in eine Fertigungsanlage ermöglicht – die „produktive“ Metapher als lebende Instrumentalität. Die Bedrohung „menschlicher Ressourcen“ wird verdinglicht, während die biologische Welt in ein wertbesetztes Feld von Produkten (Genen) übersetzt wird, das seiner kommerziellen Entwicklung harrt, basierend auf ihrer Auffassung als „semiotischer Code“, verwandt mit den digitalen Codes von Computern selbst. Diese Konvergenz des Maschinenhaften, Semiotischen und Biologischen ist der Grund, aus dem sich das Paradigma des Digitalen mit der politischen Ökonomie und denjenigen Problemen überschneidet, die sich durch das menschliche Handeln bezüglich der autonomen Aspekte des digitalen Bereichs ergeben. Die politische Ökonomie wird nicht nur zu einer Angelegenheit der wirtschaftlichen oder der Klassenstruktur, sondern auch der auf Maschinen basierenden Beziehungen innerhalb des Bereiches größerer oder geringerer Kontrolle, der dadurch, wie der digitale Kapitalismus und die Ideologie des Digitalen sich durch die Technik gegenseitig verstärken, produziert, erhalten und verdinglicht wird. Innerhalb dieses Raumes liegt das modernistische Raster als das ermöglichende Paradigma für die Struktur und Organisation der Elemente, die auf diese und keine andere Weise in Einklang gebracht, gesteuert und valorisiert werden können. In dieser Zerstückelung wird das Potenzial für

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Quantifizierung und Wertextraktion beziehungsweise -austausch überhaupt erst möglich. Die Zerlegung in und Bearbeitung von Teilaspekten ist ebenso ein fundamentales Merkmal des kapitalistischen Produktionsverfahrens (des Fließbands) wie es ein immanenter Aspekt des semiotischen Prozesses der immateriellen Produktion ist. Die digitale Technologie zwingt alle Dinge notwendigerweise in die Gleichförmigkeit des Rasters (und dabei in das „Exemplarische“) und produziert so die Erweiterung des digitalen Kapitalismus. Jene vorher nicht mit Wert versehenen „Arten zu sein“ wurden die neue Domäne der Aufwertung: Indizes des Glücks, die auf einzelne Individuen zugeschnittene Demografie – die affektiven Domänen –, deren Aktion darin besteht, von der Anpassung des Lebens an die Forderungen abzulenken, die von einem ständig extensiveren, umfassenderen Datenraster gestellt werden, dessen Ziel eine umfassende Darstellung der Lebenswelt ist (das Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis). Die Behauptung, dieses digitale Raster sei in der Lage, das zu erreichen, was die Mathematik „Vollständigkeit“ nennt – eine logische Beschreibung sämtlicher Möglichkeiten –, ist die Aura der Information in Aktion. Douglas Hofstadter, ein Professor für Kognitions- und Computerwissenschaft an der Universität von Indiana, erklärt Vollständigkeit in seinem Buch Gödel, Escher, Bach, in dem es um die Grenzen des Wissens geht, die das Phänomen des Paradoxen ihm auferlegt, als eine logische Konsequenz der Idee mathematischer Konsistenz: Während Konsistenz die Eigenschaft ist, dass „alles vom System Produzierte [. . .] wahr“ ist, ist es bei der Vollständigkeit umgekehrt: „Jede wahre Aussage ist vom System produziert.“13 Während Hofstadter so vorsichtig ist, darauf hinzuweisen, dass sich mathematische Vollständigkeit nur auf diejenigen Theoreme bezieht, die in einem logischen System hervorgebracht werden, und nicht in jedem System der Welt, bedeutet das digitale Streben in der Aura der Information, Information im wahrsten Sinne des Wortes als Instrumentalität zu verwirklichen, genau dies: ein System zum Speichern und Abrufen von Informationen zu konstruieren, das alles enthält, was in der Welt ist (sei es wahr oder falsch) – dieses Bestreben ist die Aura des Digitalen in Aktion. Es wird durch das

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Potenzial der digitalen Automation, ohne menschliche Intervention zu handeln, ermöglicht – und beteiligt sich auf diese Weise an derselben Gemütsverfassung, die in der „neutralen Beobachtung“ oder der „Objektivität“ von Fotografien sichtbar wird. Die digitale Aura bewirkt, dass die immanenten Vorurteile und Anliegen der autonomen Produktion vom Bewusstsein abgespalten werden, und trennt damit Arbeit und Produktion vom menschlichen Handeln ab. Der berühmte Aphorismus der Kunst- und Handwerksbewegung des 19. Jahrhunderts, „Durch Hammer und Hand kommen alle Ding zustand’“14 – mit seiner impliziten Anerkennung der Tatsache, dass die Wirksamkeit des Menschen für jegliche Art von Produktion benötigt wurde –, hört auf, wahr zu sein.

§ 1.4 Die Betrachtung und Handhabung von Arbeit als Ware fehlt in den USA im 20. Jahrhundert unter den gängigen theoretischen Annahmen, insbesondere weil die Umwandlung von Arbeit in eine Ware durch Artikel 15, U. S. C. §§ 13 des 1914 erlassenen Clayton Acts blockiert wurde. Ohne die enorm verbesserte Transport- und Kommunikationstechnik, die seit den 1960erJahren existiert, wäre die Auslagerung von (physischer und geistiger) Arbeit in andere Länder viel zu teuer. Diese neuen Technologien – einschließlich Schiffscontainer, Datenübertragungssatelliten und des Internets – machen es nunmehr möglich, mit Arbeit wie mit einer Ware umzugehen. Dass Unternehmen in der Lage sind, zwischen Arbeitsmärkten mit unterschiedlichen Preisen zu wechseln, gibt ihnen einen absoluten Vorteil hinsichtlich ihrer Produktionskosten, da sie nunmehr die ansonsten feststehenden Arbeitskosten reduzieren können. Der Clayton Act benennt und verbietet diese Ausbeutung der Arbeit als Ware, indem er einen einheitlichen Mindestlohn einführt – jedoch ausschließlich innerhalb der USA: (d) Zahlung für Verarbeitungs- oder Verkaufsleistungen oder -dienste: Es ist für jede im Handel tätige Person rechtswidrig, irgendetwas zu bezahlen oder einen Zahlungsvertrag darüber abzuschließen, was für einen Kunden dieser Person im Verlauf eines solchen Handels von Wert oder Vorteil ist, und zwar als Entschädigung oder Entgelt für ir-

Die Ideologie der Automation

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gendwelche Leistungen oder Dienste, die von diesem oder durch diesen Kunden in Verbindung mit der Verarbeitung, der Abwicklung, dem Verkauf oder dem Angebot zum Verkauf irgendwelcher Produkte oder Waren, die von dieser Person hergestellt, verkauft oder zum Verkauf angeboten werden, es sei denn, diese Zahlung oder Gegenleistung stehe zu verhältnismäßig gleichen Bedingungen allen anderen Kunden, die bei der Verteilung solcher Produkte oder Waren konkurrieren, ebenfalls zur Verfügung. Die Einführung eines einheitlichen Mindestlohns verzögerte die Umwandlung von Arbeit in eine Ware, bis die Auslagerung von Arbeit in andere Länder in den 1970er- und 1980er-Jahren sich zu beschleunigen begann, wodurch Arbeitsplätze im Produktionssektor von den USA in Länder mit niedrigerem Lohnniveau ausgelagert wurden. Das Aufkommen der Auslagerung von Arbeit ins Ausland erlaubte die Umwandlung von Arbeit in eine Ware genau deshalb, weil sie außerhalb des Bereichs der Jurisdiktion des Clayton Acts erfolgte. Die Möglichkeit der Arbeit, zu einer Ware zu werden, ist daher in ihr selbst angelegt, doch wurde diese Möglichkeit in den USA durch die Rechtsprechung unterdrückt. Der Clayton Act wurde allerdings hauptsächlich im Hinblick auf körperliche Arbeit erlassen, nicht auf ihre geistigen oder automatisierten Varianten. Die Betrachtung kreativer Arbeit als modulare Komponente in einem umfassenderen Kontext ist eine fundamentale Veränderung in unserer Sichtweise der geistigen Arbeit mittlerer Angestellter. Die allgemeine Verwandlung der – physischen und geistigen – Arbeit in eine Ware beweist, dass globalisierte Unternehmen, selbst wenn sie ihren Hauptsitz in den USA haben, (zumindest teilweise) außerhalb der Reichweite der Kartellgesetzgebung der USA operieren. Die Regelung des einheitlichen Mindestlohns durch den Clayton Act ist außerdem der Grund für die gegenwärtige Umwandlung von Arbeit in Ware, da Unternehmen ihre Verlagerung von Arbeit in andere Länder damit rechtfertigen, dass sie auf diese Weise die geringeren Lohnkosten anderswo auf der Welt – d. h. als Folge der durch den Clayton Act auferlegten Einschränkungen innerhalb der USA – zu ihrem Vorteil nutzen. Dieses Umgehen des Clayton Acts ist die wahre Bedeutung der „Verlagerung von Arbeit ins Ausland“. Es ist eine Ausbeutung der

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Kapitel 1

Unterschiede in den lokalen Wirtschaften und den Abweichungen in der Bewertung der Währung in den USA (der globalen Reservewährung während dieses Zeitraums) und der lokalen Währung des jeweiligen Landes, in der die Löhne gezahlt wurden. In dem Maße, in dem die Automatisierung die menschliche geistige Arbeit ersetzt, wird es zwangsläufig zusätzliche Wellen der „Verlagerung von Arbeit ins Ausland“ geben, da Arbeiter und globalisierte Unternehmen abermals ihre Kosten durch verringerte Lohnkosten reduzieren „müssen“, und zwar sowohl direkt in Form von Gehältern als auch indirekt durch die Zusatzkosten der Zahlungen für Krankenversicherungen und Ruhestandsgelder. Was in den 1980er-Jahren durch die Verlagerung der physischen Produktion in andere Länder begann, setzt sich mit der Auslagerung geistiger Arbeit fort. Gleichzeitig bedeutet dies die Möglichkeit einer Zeit des Stellenabbaus in den USA, bei dem in regelmäßigen Zeitabständen zur Vorbereitung der Automatisierung diejenigen Stellen abgeschafft werden, deren Arbeit dem untersten Anstellungsniveau entspricht. Harvey Cohen, der für die Zeitschrift Strategy Analysis schreibt, beschreibt die Möglichkeit, „intelligente Systeme“ zu schaffen, die zuvor von Menschen ausgeführte, geistige Arbeit zu automatisieren. Diese Änderung würde die durch die Automatisierung von physischer Arbeit bewirkte Verdrängung wiederholen, allerdings in globalem Maßstab: Die in eine wachsende Zahl von Geräten und Anwendungen integrierte Intelligenz erzeugt intelligente Systeme, welche Menschen, die eng begrenzte und relativ einfache Aufgaben erledigen – wie etwa Kundendienst- und Helpdesk-Unterstützung, Telefonauskunft, beratende Aufgaben sowie informierende und interaktive Dienste – immer effizienter und kosteneffektiver ersetzen. Intelligentes Kapital – und die Idee, menschliches Denken und Handeln durch maschinelles Schlussfolgern und Entscheiden zu ersetzen – wird längerfristig zunehmend überzeugender als die Auslagerung solcher Arbeiten in kostengünstige Wirtschaften, um die Vorteile kurzfristiger Lohntarif-Arbitragegeschäfte zu nutzen. Längerfristig werden intelligente Maschinen bei einfachen Aufgaben die kosteneffektivsten menschlichen Arbeitskräfte ersetzen.15

Die Ideologie der Automation

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Geistige Arbeit bewirkt durch die „intelligente“ digitale Automatisierung von Aufgaben, für die bisher Denken und Aufsicht des Menschen erforderlich waren, ihre eigene Obseleszenz. Eine solche Entwicklung legt nahe, dass es nur kurzfristig möglich sein wird, Gewinne durch Auslagerung von Arbeit in Länder der Dritten Welt zu erzielen. Es ist das nächste Stadium der Abtrennung geistiger Aktivität von menschlicher Tätigkeit. Diese Trennung ergibt sich, in den USA und anderswo, aus den kolonialen Anforderungen der Globalisierung an die Wirtschaften der Dritten Welt und der USA selbst. Beide sind so gestaltet, dass sie den unmittelbaren Bedürfnissen der Unternehmen gerecht werden und sich im Laufe der Zeit an diese anpassen. Die Verschiebungen von einem lokalen (oder nationalen) Arbeitsmarkt zur Globalisierung haben die aktuelle Phase der Auslagerung von Arbeit in andere Länder herbeigeführt.

§ 1.5 Autonome Arbeit – die von Maschinen ausgeführte Arbeit, sei es durch automatische, von Algorithmen gesteuerte Prozesse (wie bei Software für den Hochfrequenzaktienhandel), durch produktive Systeme oder auf physische Weise von Montagerobotern an einem Fließband, die unbeantwortete Fragen zu den historischen Kategorien von Arbeit, Wert und Produktion aufwirft – ist grundsätzlich disruptiv: Die Kosten der sozialen Reproduktion der Automatisierung sind ihrem Umfang und Wesen nach höchst verschieden von denen der sozialen Reproduktion lebender Menschen. Das Problem, das sich durch die Arbeit von Maschinen ergibt, ist mit kulturellen, historischen und ästhetischen Bewertungen verwoben, wobei die Maschine nicht in die vorgegebenen (traditionellen) begrifflichen Zusammenhänge der menschlichen Gesellschaft hineinpasst. Daher sind das Ergebnis dieser neuen autonomen, nichtmenschlichen Arbeit seltsame Appropriationen und Transfigurationen der Maschine bezüglich der menschlichen Gesellschaft. Ein zentrales Problem dieser Verstrickung ist die Unfähigkeit der marxschen Theorie, der Bedeutung der Maschinenarbeit im Rahmen einer konventionellen Analyse gerecht zu werden. Hierbei handelt es sich um ein Problem, das auf den Unterschieden zwischen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und dem Begriff der „Maschine“ im 20. Jahrhundert beruht.

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Kapitel 1

Die frühere Möglichkeit, die Arbeit von Maschinen als Erweiterung der Aktivität des Menschen zu verstehen – als die mechanische Verstärkung der menschlichen Arbeit –, wurde durch Modelle ersetzt, in denen die Maschine den Menschen nicht mehr unterstützt, sondern ersetzt. Hierbei wird offenbar die menschliche Vermittlungsinstanz entfernt, die historisch zwischen der Arbeit der Entwicklungsingenieure und der zur Umsetzung ihrer Pläne erforderlichen, menschlichen Produktion liegt. Dieser Übergang markiert eine Verschiebung von der Fragmentierung des Fließbands, an dem die Aufgaben um die immer gleichen Handlungen der massenhaften menschlichen Arbeit (die selbst eine Organisation darstellt, die eine semiotische Zerlegung und Standardisierung impliziert) organisiert sind, hin zur automatisierten Herstellung, bei der das Design auf digitalen Geräten erstellt und anschließend von anderen digitalen Geräten realisiert wird und die menschliche Arbeit in diesem Herstellungsprozess nur noch eine geringfügige Rolle spielt. In einer solchen, umgestalteten Fabrik sind Menschen nur noch von begrenzter Bedeutung: Sie überantwortet einen großen Teil der „Ressource Mensch“ notwendigerweise der Nutzlosigkeit, da ihre manuellen Funktionen in der Produktion nunmehr automatisiert sind. Die Ideologie der Automatisierung entstand auf dem Wege der Umwandlung der geistigen Arbeit in automatisierte, immaterielle Produktion, die für die materielle Produktion bereits im Gange war. Während Systeme für den Hochfrequenzhandel mit Aktien sehr spezielle Beispiele sind, offenbart die Automatisierung routinemäßiger Aufgaben (Steuerbuchhaltungsprogramme wie TurboTax automatisieren das Spezialwissen und die Fachkenntnisse, bei denen es sich bisher ausschließlich um die Domäne von Steuerberatern handelte) dasselbe Verfahren in einem wesentlich breiteren Kontext in Aktion und mit Auswirkungen für einen größeren Teilbereich geistiger Arbeit.

01: THE IDEOLOGY OF AUTOMATION Die Ideologie der Automation 43

Tabelle 1.1The DieTop Spitzensteuersätze Einkommenssteuer Table 1.1. Federal Personalder Income Tax Rate in the in den US, USA1913 von to 1913 bis141988 1988 Jahr Year 1913–15 1916 1917 1918 1919–1921 1922–1923 1925–1931 1932–1935 1936–1940 1941 1942–1943 1944–1945 1946–1951 1952–1953 1954–1963 1964 1965–1981 1982–1986 1987 1988

14

Steuersatz Tax Rate 7 15 7 77 73 58 25 63 79 81 88 94 91 92 91 77 70 50 38 33

Chin-tao Wu, Privatizing Culture (New York: Verso, 2002), 5.

19

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CRITIQUE OF DIGITAL CAPITALISM

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TabelleTable 1.2 Prozentsatz (Stand 1.2. Percentder of Hochschulabsolventen College Graduates (as of 2003)2003) Alle ethnischen Gruppen und beide Geschlechter

15 Jahre und älter 15 bis 17 Jahre 18 bis 19 Jahre 20 bis 24 Jahre 25 bis 29 Jahre 30 bis 34 Jahre 35 bis 39 Jahre 40 bis 44 Jahre 45 bis 49 Jahre 50 bis 54 Jahre 55 bis 59 Jahre 60 bis 64 Jahre 65 bis 69 Jahre 70 bis 74 Jahre 75 Jahre und älter 15 bis 17 Jahre 18 Jahre und älter 15 bis 24 Jahre 25 Jahre und älter 15 bis 64 Jahre 65 Jahre und älter

Gesamtzahl Bildungsabschlussniveau (in Gesamt- Unterhalb BA Tausend) zahl eines BA oder höher Prozentsatz Prozentsatz

Prozentsatz

225,250

100,0

76,6

23,4

12,628 7,554 19,884 18,721 20,521 21,284 22,790 21,420 18,814 15,470 11,930 9,438 8,673 16,123

100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0

99,9 99,9 88,8 71,6 68,5 70,2 70,9 70,1 68,9 71,0 75,5 80,4 81,5 84,6

0,1 0,1 11,2 28,4 31,5 29,8 29,1 29,9 31,1 29,0 24,5 19,6 18,5 15,4

12,628 212,622

100,0 100,0

99,9 75,3

0,1 24,7

40,066 185,183

100,0 100,0

94,4 72,8

5,6 27,2

191,016 34,234

100,0 100,0

75,6 82,6

24,4 17,4

Quelle: statistisches Bundesamt der USA; Source: U.S. Census Bureau; Release Date: June 29, 2004 Veröffentlichungsdatum: 29. Juni 2004

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Das Aufkommen der immateriellen ­ Physikalität In seinem Fragment über Maschinen hat Karl Marx eine Reihe von theoretischen Aussagen über die von Maschinen ermöglichte Arbeit formuliert, die die Eliminierung der lebendigen Arbeit (der menschlichen Tätigkeit), die für diese Maschinen erforderlich ist, nahezulegen scheinen. Diese Interpretation ist jedoch offensichtlich falsch, wenn man die Annahmen und den Kontext berücksichtigt, die seine theoretischen Aussagen hervorgebracht haben. Automatisierte Arbeit stellt eine grundlegende Veränderung in der Natur der Werterzeugung dar, eine Veränderung, die das Potenzial hat, das gesamte kapitalistische Produktionssystem zu destabilisieren, da sie die wesentliche Inkompatibilität des digitalen Kapitalismus mit der gesellschaftlichen Reproduktion offenbart. Sie ist nicht lediglich eine Sache der ökonomischen oder der Klassenstruktur, sondern der auf Maschinen basierenden Beziehungen, die von den unterschiedlichen Graden der erforderlichen menschlichen Tätigkeit orchestriert wurden – geringerer oder umfassenderer Kontrolle, die dadurch produziert, erhalten und verdinglicht wird, wie der digitale Kapitalismus und die Ideologie des Digitalen sich durch Technologie gegenseitig verstärken.

§ 2.1 Die neue Ästhetik von James Bridle, die 2011 und 2012 als Online-Forschungsprojekt vorgestellt wurde,1 deutet auf eine Physikalisierung dessen hin, was üblicherweise rein digital war beziehungsweise ist – eine Verwirklichung der Immaterialität als Physikalität. Sie zeichnet erneut ästhetische Entwicklungen nach, die früheren Ausstellungen ähnlich sind, wie etwa Post-Digital Painting im Jahre 20022. Bridles „neue Ästhetik“ sammelt Beispiele, in denen die automatisierte Herstellung eine fassbare Dimension der

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Kapitel 2

menschlichen Gesellschaft wird. Diese reichen von der automatischen Ausführung des Algorithmus, der Gesichter im Street View von Google unkenntlich macht, zur Übersetzung von Bitmaps in dekorative Textilmuster. Die besondere Wahrnehmung, die diese Sammlung dokumentiert, ist nicht nur eine gemeinsame Anstrengung, die digitale Natur des immateriellen „Raumes“ zu erkennen und anzuerkennen, der durch Computer und algorithmische Systeme (die Resultate der digitalen Automation) produziert wird, sondern ebenso die Übertragung dieser autonom produzierten Artefakte in den materiellen Bereich. Die automatisierte Maschinenarbeit, die durch dieses Projekt aufgezeigt wird, ist ein Symptom der aufkommenden autonomen Herstellung, die es dokumentiert. Es offenbart auf diese Weise das Paradox von Automation, Arbeit und Werterzeugung: die kulturellen, historischen und ästhetischen Brüche zwischen Automation und den (traditionellen) begrifflichen Zuordnungen der menschlichen Gesellschaft. In Bridles Sammlung finden sich mehrere, einander überlagernde Kategorien des Materiellen: (1) autonom generierte Bilder, die digitale Hinweise enthalten, wie etwa kleinere Defekte verschiedener Art (Kodierungsfehler, algorithmische Fehlerkennungen von Gesichtern, Fehler in der Pixelierung, den Abtastlinien, den digitalen Daten etc.); (2) physische Konstruktionen, die Bezüge auf digitale Formen verwenden (eine kubische, pixelige Konstruktion, Abtastlinien etc.); (3) Übersetzungen digitaler Formen in einen visuellen Stil (QR-Codes, Bitmaps mit geringer Auflösung etc.); (4) dynamische, interaktive Datenvisualisierungen (Kunstinstallationen wie Pixel Per Person von Carina Ow, die WiFi-Nutzung, biometrische Scanner und visualisierte erweiterte Realität – das Projekt Google Glass3 ist ein weiteres Musterbeispiel). Diese Kategorien sind weder vollständig noch schließen sie sich gegenseitig aus. Während es Berührungspunkte zwischen ihnen gibt und sie sich mehr oder weniger überlappen, bezeichnen sie allgemeine Tendenzen im formalen Erscheinungsbild digitaler Technologie und dokumentieren ein scheinbares Paradox: immaterielle Physikalität. Bridles „neue Ästhetik“ enthält auch Beispiele von Tarnung, die verwendet werden, um sich vor digitalen militärischen Systemen zu „verstecken“. Diese Bilder veranschaulichen eine neue Ausrichtung physischer Strukturen auf ihre Verbindung mit digitaler Technologie. Sie sind eigens so gestaltet, das sie den Artefakten und Formen der digitalen Bildgebung ähnlich sehen.

Das Aufkommen der immateriellen ­Physikalität

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Im Gegensatz zu früheren Ansätzen, die auf speziell menschliche Erkennungsleistungen und Fähigkeiten ausgerichtet waren, imitiert die gegenwärtige Tarnung die Verpixelung digitaler Bilder – sie richtet sich nicht am menschlichen Sehvermögen, sondern an den automatisierten Erkennungssystemen von Maschinen und digitalen Kameras aus, die damit einhergehen. Diese Verschiebung – weg von einem primären Interesse am menschlichen Erkennen hin zur Störung des maschinellen Sehens – ist eine Änderung von Umfang und Richtung der Adressierung, die die Umwandlungen widerspiegelt, die durch die „neue Ästhetik“ generell dargestellt werden. Die Bedeutung der primitiven Akkumulation für die kapitalistische Expansion – das Annektieren von Bereichen ohne die erforderliche Bezahlung, die die Arbeit normalerweise erhält – nimmt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine konsumtive Dimension an, als die im Krieg eingesetzten Technologien zunehmend teurer und (selbst-)zerstörerischer werden; auf diese Weise war der Krieg ein produktiver Anreiz für die kapitalistische Expansion, und zwar sowohl durch die produktive Nachfrage als auch durch die primitive Akkumulation (die der Irak-Krieg unter Präsident George W. Bush so deutlich zu erkennen gab).4 Alle diese Werke scheinen die Aura der Information greifbar und physisch präsent zu machen, während sie jedoch zugleich der unmittelbaren Interaktion entzogen wird: Die neue Ästhetik bietet sich selbst als Beweis dafür an, dass das digitale Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis immanent ist – die Übersetzung der Information in reine Instrumentalität. Sie entspringt direkt daraus, wie die digitale Technologie die kapitalistische Ideologie der Akkumulation in der autonomen Produktion verdinglicht. Die technischen Aspekte der digitalen Technologie werden zum Stil – daher neue Ästhetik –, einem Transfer, der das Immaterielle in einer physischen Form instanziiert: einem „Aus-Druck“, dessen Greifbarkeit dann zu einer operativen Dimension wird, indem sie die Präsenz eines immateriellen, digitalen „Informationsraums“ bekräftigt. Diese Physikalität stellt die Verwirklichung der Information als Instrumentalität bereit. Die von Bridle gesammelten Gegenstände spiegeln die digital abgeleiteten Merkmale wider und stellen die vorhandenen Möglichkeiten (sowohl gegenwärtige als auch historische) der digitalen Technologie zur Schau: Die von ihnen geschaffene Illusion ist eine solche, bei der, was immateriell war,

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im Halbschatten lag, sich aus der Luft in feste, greifbare Form kristallisiert: Verdinglichung wird Verwirklichung – immaterielle Physikalität.

§ 2.2 Kapitalismus ist die Umwandlung der Arbeit in eine Ware – dass die Arbeiter sich ihrer Produktivkraft als etwas entäußern, das ein Gegenstand des Tausches ist. Die historische Maschine ist die Kristallisation dieser entäußerten Arbeitsware als einer physischen Produktivkraft, zwar selbst wertvoll, aber gleichzeitig abhängig von der menschlichen Arbeit, deren Wesen sie in nuce enthält. Die von Marx vorgeschlagenen kategorischen Unterteilungen – Material der Arbeit: jene physischen Güter, die durch den Arbeitsprozess umgewandelt werden, einschließlich von, aber nicht beschränkt auf Rohmaterialien; Arbeitsmittel: die Werkzeuge, Maschinen und für die Arbeit genutzten Gebäude; und schließlich dasjenige, was er als lebendige Arbeit bezeichnet: die Arbeiter, die die Maschinen bedienen und den Produktionsprozess ermöglichen – offenbaren, wie das automatisierte System als logische Erweiterung der Arbeitsmittel verstanden werden kann, welche die lebendige menschliche Arbeit letztlich zu etwas macht, das zur Vervollständigung der Produktion nicht mehr erforderlich ist. Der Verlauf dieser Entwicklung ist der Maschine selbst inhärent, als einem Apparat, der die menschliche Tätigkeit potenziert und ersetzt. Die Entwicklung der technischen Anforderungen für das Bedrucken eines einzelnen Blattes auf einer Druckpresse ist ein Beispiel für diesen Prozess. Die erste europäische Druckpresse mit beweglichen Lettern wurde um 1439 von Johannes Gutenberg gebaut. Das Setzen der Schriftzeichen, das Auftragen der Tinte auf die Druckplatten, das Positionieren des Papiers und das Entfernen der einzelnen bedruckten Blätter erforderte menschliche Arbeit. Ein modernes Druckgerät führt alle diese Arbeitsschritte automatisch, schneller und mit wesentlich größerer Präzision aus – und verwandelt auf diese Weise die ehemalige Druckpresse in eine Maschine, für deren Funktion Eingriffe des Menschen nur eingeschränkt erforderlich sind (das Papierfach muss von Hand nachgefüllt werden). Sämtliche Herstellungsfunktionen, für die 1439 mehrere Personen und mehr Zeit und Arbeit benötigt wurden, laufen heute vollkommen automatisch ab.

Das Aufkommen der immateriellen ­Physikalität

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Als Marx das Fragment über Maschinen verfasste, stand die Rolle der menschlichen Tätigkeit bei der industriellen Produktion allerdings außer Zweifel. In der Reihe seiner theoretischen Aussagen ging es um die Beziehung zwischen Kapital, festem Kapital (die Investitionen in die Maschinen und die Gebäude, in denen sie untergebracht waren) und Arbeit (die zur Bedienung dieser Maschinen erforderlich war). Die Entwicklung der Mechanisierung hatte den Punkt, bis zu dem sie eine Steigerung der menschlichen Produktivkraft war, noch nicht überschritten: Am Anfang stand die Entwicklung von Handwerkszeugen, die eine absolute Unterscheidung zwischen derjenigen Arbeit ermöglichten, die manuelle Fähigkeiten erforderte, und derjenigen, bei der es sich um geistige Arbeit handelte. Dies wird sichtbar in dem Unterschied zwischen dem Stilus, der für die Keilschrift verwendet, und dem Pflug, der zur Kultivierung von Nutzpflanzen eingesetzt wurde. Das Auftauchen von mechanischen Werkzeugen und von Werkzeugmaschinen vor und in der industriellen Revolution diente zwar in jedem Fall zur Verstärkung der menschlichen Tätigkeit und zur Verbesserung der produktiven Fähigkeiten, blieb aber auf die Fähigkeiten der Person beschränkt, die die Maschine bediente. Die Produktion blieb im 19. Jahrhundert, selbst bei Einsatz der Mechanisierung, von der Tätigkeit des menschlichen Arbeiters abhängig, der den fortgesetzten Betrieb der Maschinen gewährleistete und ihre Verwendung im Herstellungsprozess selbst steuerte: Für diese Maschinen war – wie sehr sie den Herstellungsprozess auch optimierten – menschliche Arbeit unerlässlich. Die Annahme, dass Maschinen für ihre produktive Funktion menschlicher Mitwirkung bedürften – was für die physische Herstellung noch zutraf –, ist im Bereich der immateriellen Produktion vollkommen falsch. Marx’ minimale Erörterung der Rolle von Maschinen in der Produktion trifft die Feststellung, dass die Mechanisierung (und Automation) für ihre Wirksamkeit Arbeit erfordern. Im folgenden Zitat geht es um die Umwandlung der Arbeitskraft in die Macht des fixen und zirkulierenden Kapitals sowie um die Frage, in welchem Maße fixes Kapital (in Form von Maschinen) Wert erzeugt: Als solches Produktionsmittel kann sein Gebrauchswert darin bestehen, daß es nur technologische Bedingung für das Vorsichgehn des

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Prozesses ist (die Stätte, worin der Produktionsprozeß vorgeht), wie bei den Baulichkeiten etc., oder daß es eine unmittelbare Bedingung für das Wirken des eigentlichen Produktionsmittels [ist], wie alle matières instrumentales. Beide sind nur wieder stoffliche Voraussetzungen für das Vorsichgehn des Produktionsprozesses überhaupt oder für die Anwendung und Erhaltung des Arbeitsmittels.5 Die Rolle der industriellen Maschinerie innerhalb dieses theoretischen Rahmens ist marginal, da die Umwandlung von Arbeit in eine Ware implizit die Einsicht bewahrt, dass die Produktion menschliche Tätigkeit erfordert, eine „Masse der Arbeiter“; und selbst der Ausdruck „Manufaktur“ nimmt wortwörtlich Bezug auf den handwerklichen Aspekt der Produktion. Auf diese Weise erscheint die Maschinerie als Anhang zu den Produktionskosten als eines Aufwands – des Erwerbs von in der Herstellung verwendeten „Werkzeugen“ –, aber sie ist weder ein Ersatz für Arbeit noch vertritt sie sie. Innerhalb dieser Konstruktion fungiert die Maschine als Kristallisation des Kapitalaufwands in einer Form, die zugleich eine Ware – die Maschinerie – und ein Erzeuger von Wert ist, da sie von menschlicher Arbeit, die selbst durch die Regeln der Mechanisierung entfremdet ist, in Bewegung gesetzt wird: Solange das Arbeitsmittel im eigentlichen Sinn des Wortes Arbeitsmittel bleibt, so wie es unmittelbar, historisch, vom Kapital in seinen Verwertungsprozeß hereingenommen ist, erleidet es nur eine formelle Veränderung dadurch, daß es jetzt nicht nur seiner stofflichen Seite nach als Mittel der Arbeit erscheint, sondern zugleich als eine durch den Gesamtprozeß des Kapitals bestimmte besondere Daseinsweise desselben – als Capital fixe. In den Produktionsprozeß des Kapitals aufgenommen, durchläuft das Arbeitsmittel aber verschiedene Metamorphosen, deren letzte die Maschine ist oder vielmehr ein automatisches System der Maschinerie (System der Maschinerie; das automatische ist nur die vollendetste adäquateste Form derselben und verwandelt die Maschinerie erst in ein System), in Bewegung gesetzt durch einen Automaten, bewegende Kraft, die sich selbst bewegt; dieser Automat, bestehend aus zahlreichen mechanischen und intellektuellen

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Organen, so daß die Arbeiter selbst nur als bewußte Glieder desselben bestimmt sind.6 Während Marx’ Beschreibung ein zeitgenössisches, kybernetisches Verständnis ins Feld zu führen scheint, nach dem menschliche Arbeit mit mechanischen Verfahrensweisen verschmilzt, ist diese „Automation“ nicht die Automation des digitalen Systems. Während die Tätigkeit dieser menschlichen Arbeiter durch die Maschinentechnologie stark eingeschränkt ist, ist die bewusste Tätigkeit der menschlichen Arbeit (was er als „intellektuelle Organe“ bezeichnet) dasjenige, was die Produktion ermöglicht. Arbeit war die grundlegende „Komponente“ dieser technologischen Innovationen, die den Aufstieg der industriellen Produktion bewirkte. Sie nahm aufgrund der Anforderungen, die die Produktion an die Arbeit als eines intelligenten, höchst komplexen „Rades“ im Getriebe einer ansonsten reglementierten Aktivität – Marx’ „intelligente Organe“ (Tätigkeit) – stellte, eine entfremdete Form an: Die in der mechanisierten Fabrik zulässigen Handlungen sind auf die Erfordernisse einer Maschine beschränkt und dadurch vorgegeben. Die Annahme, dass Maschinen menschliches Handeln erfordern, taucht erst auf, als die Komplexität dieser Maschinen einen Übergangspunkt erreicht und Teile ihres menschliche Funktionen (aber nicht menschliche Tätigkeit) erfordernden Betriebes durch automatische Funktionen ersetzt werden. Diese notwendige Arbeit, bei der die Rolle der Maschine darin besteht, die menschliche Produktion zu intensivieren und zu unterstützen, war ein faktischer Teil der gängigen Maschinerie des 19. Jahrhunderts, zu Lebzeiten von Marx. Das Aufkommen des Fabrikroboters und der computergesteuerten autonomen Fließbandproduktion lag noch mehr als ein Jahrhundert in der Zukunft. Fabriken übernahmen die „arbeitssparende“ Effizienz der Mechanisierung repetitiver Abläufe – jener Verfahren, die keine intelligente Lenkung (Tätigkeit) erfordern, sondern stattdessen Funktionen fragmentierter und kompartmentalisierter Verfahren, wie etwa die von einem Uhrwerkmechanismus ausgeführten, dem Rathausglockenspiel in München sehr ähnlich, bei dem der Mechanismus durch eine ausgeklügelte Verzahnung und Organisation des Mechanismus selbst einer komplizierten Reihe automatisierter Aktionen folgt. Menschliche Tätigkeit bleibt

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ein wesentlicher, steuernder Aspekt der Maschine, gleichzeitig gibt es jedoch einen absoluten Unterschied zwischen dem Mechanischen und dem Menschlichen. Eine Unterteilung, die vom Wesen des technischen Apparates selbst vorgeschrieben wird, selbst dann – und besonders wenn – die Orchestrierung dieser Geräte so angelegt ist, dass dadurch der Anschein einer Selbstwahrnehmung entsteht. Es sind diese zunehmend komplexeren, durch Dampf und Strom angetriebenen Maschinen der industriellen Revolution, die Berechnungen und andere präzise, hochspezialisierte Arten intellektueller Aktivität ausführen, welche die Rolle des menschlichen Handelns in Zweifel ziehen. Das Wesen der mechanisierten Produktion des 19. Jahrhunderts ist fundamental verschieden von autonomer, immaterieller Produktion: Digitale Systeme haben Maschinen möglich gemacht, durch die menschliche Arbeit auf ein Minimum reduziert oder vollständig eliminiert worden ist und die Produktion ohne menschliche Kontrolle, Leitung oder Interaktion vor sich geht. Der Hochfrequenzhandel mit Aktien ist ein typisches Beispiel für diese Automation des Entscheidungsprozesses durch algorithmische Vorgaben. Die bei Druckmaschinen offensichtlichen Veränderungen sind allgemeine Merkmale dafür, wie die automatisierte Produktion notwendigerweise dehumanisierte Arbeit ersetzt. Autonome Produktion, die als „arbeitssparendes“ Verfahren begann, spart nun sämtliche menschliche Arbeit in der produktiven Maschinerie beziehungsweise als Produktivkraft ein: Es ist diese spezifische, digitale Technologie verwendende Dimension der automatisierten (immateriellen) Arbeit, welche eine Ideologie der Produktion-ohne-Konsumtion widerspiegelt. Die digital ermöglichte Automation macht die menschliche Arbeit, die innerhalb des produktiven Systems vorher der Dienstbarkeit unterworfen war, selbst prekär und stellt damit für den historisch durch die Transformation menschlicher Arbeit in eine Ware definierten Kapitalismus – für den Einsatz menschlicher Intelligenz, Geschicklichkeit und Arbeitszeit als einer spezifischen Form produktiven Werts – eine grundlegende Herausforderung dar. Das Potenzial für vollständige Automatisierung taucht mit der Entwicklung digitaler Automation auf: einer Automation, bei der menschliche Arbeit – menschliches Tätigsein – zu einem vergeudeten Wert wird, wie die „neue Ästhetik“ dokumentiert.

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§ 2.3 Die der industriellen Revolution inhärenten Herausforderungen für die traditionellen sozialen Strukturen, die sich im Rückgang der Anforderungen in denjenigen Berufen zeigten, die durch die industrielle Produktion ersetzt wurden, hatten am Ende des 19. Jahrhunderts unter dem – über William Morris vermittelten – Einfluss von John Ruskin zur Folge, dass überall in Europa Design-Reformbewegungen auftauchten (Arts and Crafts in Großbritannien, Art Nouveau in Frankreich und Belgien sowie die Bewegungen Secession und Jugendstil in Deutschland und Österreich). Diese Bewegungen lieferten klassische Beispiele des Ressentiments – eine antiindustrielle Ästhetik der Arbeit mit den Händen.7 Das Fragment über Maschinen wurde in demselben Zeitraum verfasst und ging auf die gleichen Probleme der industriellen Produktion ein wie Ruskin; Marx’ Analyse ging aus einem ökonomischen Kontext hervor und betrachtete die Industrialisierung nicht als ästhetisches Problem. Im Gegensatz zum Einfluss der mechanisierten Produktion auf die qualifizierten Berufe, wirkte sich die Automation anfänglich auf die intellektuelle (immaterielle) statt auf die physische (manuelle) Arbeit aus – vom 100 Jahre vor unserer Zeitrechnung hergestellten Mechanismus von Antikythera8 über die astronomische Uhr in der Altstadt von Prag aus dem Jahre 1410 bis zum Münchener Rathausglockenspiel von 1907. Der Automation und automatisierten Systemen ging es im Wesentlichen nicht um manuelle Herstellung, sondern vielmehr um die Eliminierung intellektueller Arbeit. Diese Trennung des intellektuellen Potenzials der Arbeit von ihrer Umsetzung wurde während des 19. Jahrhunderts in der Reglementierung der auf Maschinerie beschränkten, intellektuellen Aufgaben schnell offenbar. Während die Rolle der menschlichen Tätigkeit jedoch durch frühe Rechenmaschinen reduziert wurde, blieben sie im Bereich arbeitssparender Geräte. Sie führten komplexe Berechnungen von nur begrenztem Gebrauchswert durch, und ihre Produktion erforderte spezialisierte intellektuelle Arbeit: Dies sind Geräte außerhalb des Bereichs der materiellen Produktion. Marx, dem es um dieselbe Reihe von Fragen in Bezug auf mechanische Produktion wie Ruskin ging, geht nicht auf diese Geräte ein.

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Die „neue Ästhetik“ taucht als Gegenstück zur Handarbeits-Ästhetik von Ruskin und Morris auf, als Parallele des „Maschinenstils“ des frühen 20. Jahrhunderts: als der modernistische Art Deco Stil, bei dem die Arbeit von Menschenhand zugunsten der glitzernden und glatten Chromoberflächen, die jetzt mit der industriellen Produktion im massenhaften Maßstab synonym waren, systematisch übergangen wurde. Diese modernistischen Designs blieben jedoch fraglos ein Ergebnis der menschlichen Tätigkeit – sowohl der intellektuellen als auch der materiellen. In der „neuen Ästhetik“ wird die Rolle der menschlichen Tätigkeit infrage gestellt: nicht nur die Notwendigkeit menschlicher Arbeit bei der Herstellung des Produkts, sondern die Unerlässlichkeit der menschlichen Tätigkeit (der Aura des Digitalen folgend) als eines produktiven und organisatorischen Prinzips. Die immaterielle Physikalität der „neuen Ästhetik“ stellt eine Konvergenz dieser maschinenbasierten, semiotischen und biologischen Produktionen dar und offenbart so einen grundsätzlichen Widerspruch, den die menschliche Tätigkeit im Verhältnis zur autonomen Produktion darstellt. Die Unabhängigkeit von menschlicher Produktion und das Eleminieren menschlicher Tätigkeit tauchen auf, als die Aktion des Werkzeuges, das die geplante Arbeit exakt ausführt, zum Mittler zwischen dem Designer und Ingenieur und dem Endresultat wird. Die als die „neue Ästhetik“ zusammengefassten verschiedenen Artefakte sind nicht durch ihre Ausrichtung auf menschliche Beobachtung oder funktionale Nützlichkeit vereint, sondern stattdessen durch ihre Beschwörung produktiver Werte ohne menschliche Tätigkeit. Dies entspricht der Abtrennung des Produkts von allem, was zu seiner Produktion erforderlich ist, von Arbeit, Kapital und Ressourcen, durch die Aura des Digitalen. Dieser Übergang markiert eine Verschiebung von der Fragmentierung des Fließbands, an dem die Aufgaben um die immer gleichen Handlungen der massenhaften menschlichen Arbeit (die selbst eine Organisation darstellt, die eine semiotische Zerlegung und Standardisierung impliziert) organisiert sind, hin zur automatisierten Herstellung, bei der das Design auf digitalen Geräten erstellt und anschließend von anderen digitalen Geräten realisiert wird und die menschliche Arbeit keine Rolle mehr spielt. Die Notwendigkeit des Menschen-als-Designer wird so fraglich, da sie der einzige Aspekt nicht-maschineller Tätigkeit ist, der noch übrigbleibt, ein Element, das durch

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evolutionäre Algorithmen und automatisiertes Design herausgefordert wird. Die neue Ästhetik wird dokumentiert durch die Verschiebung von früheren Betrachtungen der Maschinenarbeit, die sie als Erweiterung der Aktivität des Menschen verstanden – als die mechanische Verstärkung der menschlichen Arbeit –, zu ihrem Ersatz durch Modelle, in denen die Maschine den Menschen nicht mehr unterstützt, sondern ersetzt, und hierbei offenbar die menschliche Vermittlungsinstanz entfernt, die historisch zwischen der Arbeit der Entwicklungsingenieure und der zur Umsetzung ihrer Pläne erforderlichen, menschlichen Produktion liegt. Die „neue Ästhetik“ spielt in diesem Zyklus eine Rolle als ein Symptom der Umorientierung, die bereits im Gange ist, statt als ihr Ergebnis, während die menschliche Tätigkeit für diese Arten der Produktion bedeutungslos wird und die Automation ihren (der Tätigkeit) Platz im System als Ganzem verdrängt. Die Verschiebung von immateriellen, durch Automation (Semiose) erzeugten Werten, zu durch Automation (Faktur) erzeugten materiellen Werten signalisiert eine grundsätzliche Verschiebung im Wesen der kapitalistischen Produktion, bei der menschliche Arbeit von geringerer Bedeutung ist als die Automation. Es ist diese Konvergenz, durch die die Probleme, die durch die autonome Produktion hervorgebracht werden, nachdem die Aura des Digitalen die physikalischen Erwägungen und Begrenzungen aus dem Bewusstsein entfernt hat, annulliert werden: das Aufkommen der Produktion ohne menschliche Arbeit, von Waren und Tauschwerten (materiellen und immateriellen), erzeugt ohne die Aktivität der menschlichen Tätigkeit. Die fundamentale Bedingung von Marx’ Kapitalismus (Arbeit als Ware) kehrt durch die Transformation der Arbeit in Automation und die inhärente Warennatur von Maschinen zu einer zentralen Position zurück: Die definitorische Bedingung des Kapitalismus wird wortwörtlich zur Bedingung der Produktion unter Bedingungen der Automation. In einer Autofabrik gibt es keine Rolle für Menschen. Im Gegensatz zur menschlichen Arbeit, die mit den minimalen Dimensionen der Gesellschaft (Agambens „bares Leben“) verwoben ist, ist die autonome Maschine reine Ware, NichtLeben. Große Teile der „Ressource Mensch“ verfallen so der Nutzlosigkeit, da ihre manuellen Funktionen in der Produktion nunmehr automatisiert sind. Für den produktiven Kapitalismus der Automation wird es überflüs-

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sig, dass sie ihre menschliche Arbeit selbst zu einer Ware machen – dies ist die Ideologie der Automation, die einem grundlegenden Gesetz folgt: Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert. Die von Maschinen verrichtete autonome Arbeit – sei es durch automatisierte, von Algorithmen gesteuerte Prozesse (wie bei der Software für den Hochfrequenzhandel mit Aktien), durch generative Systeme oder physisch an einem Roboterfließband – ist eine Kristallisation der Arbeit-als-Ware, ohne dass die Kosten der gesellschaftlichen Reproduktion lebender Arbeit dafür anfallen. Die Automation erfordert keinen Lohn, stellt keine sozialen Forderungen an ihre Besitzer, und wenn sie aufgebraucht ist, kann sie verworfen werden, um durch neuere Technologie ersetzt zu werden.

§ 2.4 Das Paradox von automatisierter Arbeit und Kapitalismus entsteht direkt aus der begrenzenden Rolle, die die Knappheit des Kapitals für dieses produktive System darstellt: Die automatisierte Erzeugung von Werten kann nur fortgesetzt werden, wenn es möglich ist, diese Werte gegen andere Werte zu tauschen. Die Aura des Digitalen, wenn sie durch automatisierte Produktion verwirklicht ist, erzeugt notwendigerweise ein Paradox, bei dem sie statt einer exponentiellen Eskalation in der Schaffung von Wert Überschusswerte erzeugt, für die es exponentiell abnehmende Möglichkeiten des Tausches gibt: Die durch die Automatisierung realisierte (und durch die „neue Ästhetik“ dokumentierte) immaterielle Physikalität ist so, dass sie bei der Eliminierung menschlicher Arbeit auch dazu dient, das Konzept des „Tauschwertes“ selbst zu unterminieren, wie Marx feststellte: Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt. Der Tauschwert scheint daher etwas Zufälliges und rein Relatives, ein der Ware innerlicher, immanenter Tauschwert (valeur intrinseque) also eine contradictio in adjecto.9

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Das Paradox erscheint genau deshalb, weil der Tauschwert aus der Beziehung zwischen einer Ware und einer anderen entsteht – aus dem Tausch einer Ware für den Erwerb einer anderen; im Kapitalismus entwickelt sich dieser Tausch grundsätzlich zum Arbeitstransfer zwischen verschiedenen sozialen Schichten, wobei Werte auf höherer Ebene sich von der Tätigkeit der Arbeit auf niedrigeren Ebenen derselben Gesellschaft ableiten. Daher destabilisiert die Eliminierung der untersten Ebenen der menschlichen Arbeit aus dem Produktionsprozess die oberen Ebenen auf kaskadenförmige Weise. Diese Aussage ist keine Fantasie vom „Ende des Kapitalismus“, bei der die Automation die Knappheit sowohl des Kapitals als auch der physischen Begrenzungen beendet, sondern ein struktureller Widerspruch in der Natur des Wertes selbst, wenn er von der menschlichen Arbeit abgekoppelt wird. Indem die untersten Ebenen der menschlichen Arbeit durch Automatisierung ersetzt werden, kann es zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit in der Produktion kommen, doch gleichzeitig wird diese menschliche Arbeit verdrängt; ein Teil davon besetzt (wird von ihrer Gesellschaft absorbiert für) qualifiziertere Positionen (mit einem höheren Grad intelligenter Tätigkeit), unterstützt von diesen automatisierten Verfahren. Wird diese qualifiziertere Arbeit jedoch ebenfalls automatisiert, so schafft die Fähigkeit der Gesellschaft, diese verdrängte Arbeit zu absorbieren, ein neues Problem, das eigentlich nicht als das erkennbar ist, was von Marx als Klassenkampf beschrieben wurde – eine Verschiebung von einem Konflikt zwischen denjenigen, die Arbeit haben, und denen, die keine haben, zu einem Konflikt zwischen denen, die die Produktion von Tauschwerten kontrollieren und denen, die vom Tausch vollkommen ausgeschlossen sind: Arbeitern, deren Arbeit-als-Ware keine Nützlichkeit mehr besitzt und daher kein Tauschwert mehr ist. Das Verschwinden der historischen Technikfeinde aus der gegenwärtigen digitalen Produktion spiegelt die Tatsache wider, dass die Aura des Digitalen in das Bewusstsein hinübergreift und es konditioniert. Die Ansicht, dass Maschinen, einschließlich Computer, sich negativ auf die menschliche Arbeit auswirken würden, wurde zu einer axiomatischen Überzeugung über Maschinen (technikfeindlicher Fehlschluss). Stattdessen ist es das kybernetische Verständnis, das in einer falschen Deutung des Fragments über Maschinen impliziert ist – einer Sorge, dass Maschinen den lebenden,

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Kapitel 2

menschlichen Körper kolonisieren werden –, was am Ende des 20. Jahrhunderts weit verbreitet war, und zwar sowohl in der populären Unterhaltung (der „Borg“ von Star Trek), als auch in den 1996 veröffentlichten Kommentaren des Critical Art Ensembles von Electronic Civil Disobedience: Obwohl die technologische Entwicklung bei vielen Menschen Furcht und Angst auslöst, glauben immer weniger Menschen, dass die Technik sie ersetzen wird. Tatsächlich ist die Angst auf das Gegenteil gerichtet. In dem Maße, in dem die Technologie sich an den Körper anheftet, wird die Beziehung zwischen dem Körper und der Technik zunehmend symbiotischer.10 In dem allgemeinen Fehler, das Potenzial digitaler Computer bei der Automatisierung kognitiver Aufgaben zu verkennen – eine Tatsache, die vom frühesten überlebenden Rechenapparat, dem Antikythera-Mechanismus, bis hin zu den neuesten Digitalrechnern evident ist: Jegliche intellektuelle Aktivität, die auf bestimmte Regeln reduziert werden kann, kann automatisiert werden –, wird die Bedrohung, die die Automatisierung für die menschliche Einzigartigkeit darstellt, als Befürchtung sublimiert, die digitale Technologie könne den organischen, menschlichen Bereich besiedeln: als die Vorstellung, dass sich die Menschen mit Computern vereinigen müssen, um es ihnen zu ermöglichen, zu denken anzufangen. Wenn die Computer sich nicht auf diese Weise mit dem Menschen vereinigen müssen, ist die Menschheit nicht einzigartig – was die Möglichkeit eröffnet, dass die intellektuelle Arbeit des Menschen (oder zumindest ein Teil davon) obsolet würde, wie die Software für den Hochfrequenzhandel mit Aktien die Entscheidungsprozesse für den Handel mit Aktien und Rohstoffen auf den Finanzmärkten überflüssig macht. Ein Vorbote der wachsenden Kraft der Ideologie der Automation zeigt sich an der Schnittstelle der automatisierten immateriellen Arbeit und der früheren intellektuellen Arbeit von Menschen und ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Realisierung der Verzweigung zwischen Design und Faktur: eine, in der die Entwertung der menschlichen Arbeit ihren Höhepunkt erreicht: Durch die Maschine überflüssig geworden, gibt es keinen Bedarf mehr an menschlicher Tätigkeit, wenn die autonome Fabrik gebaut und

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eingeschaltet worden ist. Diese Situation ist der implizite Horror beziehungsweise Terror, der die Computertechnologie (und ihrer früheren Realisierung als der Golem oder Homunculus) als Akteur in der Gesellschaft generell auszeichnet. Die Ideologie der Automation offenbart ihre enge Beziehung zur früheren Ideologie des selbstgemachten Mannes, dessen Erfolg nicht das Ergebnis seiner Ursprungsfamilie, von Investitionen oder einer privilegierten gesellschaftlichen Stellung ist. Da automatisierte Systeme zur Schaffung von (materiellem oder immateriellem) Vermögen keines Netzwerks koordiniert arbeitender menschlicher Akteure bedürfen, unterstützen sie eine Ideologie, in der die produktive menschliche Bevölkerung obsolet und parasitisch erscheint – abhängig von den „Planern“, deren Konzepte sie früher realisierten: Dies ist die Ideologie der Automation, die sich die mittleren Gesellschaftsschichten zu eigen gemacht haben. Indem sie an der Schaffung von Computersystemen arbeiten, die menschliche Arbeit und menschliche Tätigkeit imitieren oder ersetzen, wird der Glaube der amerikanischen Mittelklasse an den selbstgemachten Mann, an die „autonome Leistung“, für die oberen Gesellschaftsschichten ironischerweise in der „automatisierten Leistung“ Wirklichkeit, wobei es dem Rest der Gesellschaft überlassen bleibt, als Konsumenten beziehungsweise Schuldenmacher zu „arbeiten“, da die Automation sie aus dem Produktionsprozess praktisch eliminiert. Der Hochfrequenzhandel mit Aktien ist eines der Anzeichen dafür, dass diese Ideologie der Automation im Begriff ist, in Aktion zu treten – ein Verfahren, dass die Tätigkeit des Menschen aus ihrer historischen Rolle in der immateriellen Produktion entfernt: Die Reaktionszeit eines Computersystems ist so kurz, dass auf einem Markt, auf dem in Mikrosekunden ermittelte Preisschwankungen den Unterschied zwischen Gewinn und Verlust bedeuten können, nur Maschinen miteinander konkurrieren können. Diese Ideologie ist in der digitalen Technologie verkörpert. Sie bildet die Leugnung des materiellen Bereichs und der notwendigen Rolle der menschlichen Tätigkeit bei der Schaffung und Erhaltung der gesellschaftlichen Strukturen ab, die die Fantasie der Ideologie der Automation möglich macht, von der gesellschaftlichen (Re-)Produktion und den von der menschlichen Gesellschaft geforderten Einschränkungen „frei“ zu sein. Dieser Komplex von Beziehungen spiegelt das dem digitalen Kapitalismus zugrunde liegende Vorurteil gegen das Soziale wider.

Kapitel 3

Die Aura des Digitalen Durch die Aufgliederung der Interpretation eines Kunstwerkes in verschiedene eigenständige „Ebenen“ wird es möglich, einen fundamentalen Unterschied zwischen digitalen und nicht-digitalen Kunstwerken sowie einen diesem zur Grundlage dienenden Glauben an die Illusion unbegrenzter Ressourcen zu erkennen: Er wiederholt die zugrunde liegende Ideologie des Kapitalismus selbst – dass es eine unendliche Menge von Reichtum gibt, der aus begrenzten Ressourcen gewonnen werden kann. Es ist eine Illusion, die in Fantasien auftaucht, dass digitale Technologie dem Mangel an Ressourcen ein Ende setzt, indem sie den Zustand umfassender Kenntnis anstrebt. Das Digitale stellt die Illusion eines sich selbst produzierenden Bereichs dar: unbegrenzt und im Gegensatz zur Wirklichkeit nur begrenzt vorhandener Ressourcen, Zeit, Kosten etc., die ansonsten sämtliche Formen von Wert und Produktion beherrschen, in der Lage, Wert ohne Aufwand zu schaffen. Das Aufkommen automatisierter, immaterieller Produktion spiegelt diesen Prozess in Aktion wider. Digitale Formen weisen auch auf, was man als „Aura der Information“ bezeichnen könnte: die Trennung der in einem Werk präsenten Bedeutung von der physischen Darstellung dieses Werkes. Da digitale Werke durch die „Aura der Information“ eine Umwandlung von Objekten in Information unterstellen, wird die Form der „digitalen Aura“ durch das Verstehen der spezifischen Struktur digitaler Kunst wesentlich klarer. Diese Klarheit erlaubt eine Erörterung der Unterschiede zwischen der Knappheit der materiellen Produktion in der physischen Herstellung in der realen Welt im Gegensatz zur Knappheit von Kapital in der digitalen Reproduktion: der Notwendigkeit der Kontrolle über immaterielle Waren (geistiges Eigentum) in der Virtualität der digitalen Reproduktion. Da Kapital eine begrenzte Ressource ist, die selbst der Knappheit unterliegt, aber zugleich im kapitalistischen Paradox des steigenden Wertes gefangen ist – in den zwei Formen von Zinsen und Profit für Kapitalaufwendungen –, gibt es eine ständige

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Forderung, mehr Warenwert zu schaffen, um zur Aufrechterhaltung des Systemgleichgewichts mehr Reichtum aus einer Gesellschaft zu ziehen: Aufgrund dieses ihm inhärenten Ungleichgewichts bewegt sich der Kapitalismus notwendigerweise in einem Zyklus von Boom und Krise. Das Verständnis dieser „Aura der Information“ erfordert die Anerkennung des Wesens digitaler Objekte: Sie setzen sich zusammen aus dem physischen Medium, welches das digitale Kunstwerk überträgt, speichert und für Betrachter darstellt, und dem digitalen Kunstwerk selbst, das aus einem von Maschinen erzeugten sowie einem von Menschen lesbaren Werk besteht, welches von einem Computer aus einer digitalen Datei (die ihrerseits in einer Form von materiellem Medium gespeichert ist) generiert wird. Dieses „digitale Objekt“ ist die eigentliche Form des digitalen Werkes: eine Reihe von binären Signalen, die von einer Maschine aufgezeichnet wurden und einen Computer benötigen, um diesen unsichtbaren „Code“ für Menschen lesbar zu machen. Das „digitale Objekt“ wird zu den menschenlesbaren Formen von Bild, Film, Text, Klang etc. nur durch die konventionalisierten Funktionen einer Maschine, die die binären Signale des digitalen Objekts interpretiert und einem integrierten Deutungsparadigma folgt, das diesen binären Code in eine von Menschen lesbare Form überträgt und damit in – oberflächlich betrachtet – eigenständige Werke. Sämtliche digitalen Objekte weisen diese ihnen zugrunde liegende einzigartige Form auf: den binären Code. Diese Tatsache unterscheidet das digitale Objekt von jeglicher Art anderer physikalischer Gegenstände genau deshalb, weil ihm die einzigartigen Merkmale einer spezifischen Form fehlen, die die Unterschiede zwischen Gemälden, Zeichnungen, Büchern, Klängen oder jedem anderen physischen Objekt oder Phänomen definieren. Im Gegensatz zu materiellen Gegenständen sind alle digitalen Objekte prinzipiell identisch, wie immer ihre scheinbare Form aussehen mag, wenn sie von einer Maschine interpretiert wurden. Dieser Übergang von einem instrumentalen Code zu einem von Menschen lesbaren Objekt geschieht autonom – es bedarf keiner menschlichen Einwirkung, um diese Übertragung anzustoßen. Die von der Ideologie der Automation erzeugte Illusion geht von einer Erweiterung dieses aktiven Elements in eine digitale Technologie aus, die jenseits dieser generativen Dimensionen der Darstellung von (Kunst-)Werken durch digitale Reproduktion liegt.

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§ 3.1 Walter Benjamins Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ von 1936 leitete die kritische Diskussion der Auffassung ein, dass Kunstwerke über eine „Aura“ verfügen, und er behauptete, diese „Aura“ werde durch den Prozess der technischen Reproduktion zerstört. Sein Begriff der „Aura“ erweiterte sich schnell so, dass mehr als nur Kunst darin eingeschlossen war – alles, was reproduzierbar ist, wurde von diesem Konzept umfasst. Obwohl diese Beschreibung von Benjamins Aufsatz stark verkürzt ist, gibt sie seine Kernthese wieder, die im Wesentlichen besagt, dass es durch technologische Veränderung zu einem historischen Verlust kommt. Folgt man Benjamins Argument, ist es logisch anzunehmen, dass die Kunst, nachdem die technische Reproduktion durch die digitale abgelöst wurde, ohne Aura sein würde. Entsprechend merkt der holländische Künstler und Ökonom Hans Abbing in seiner Studie Warum sind Künstler arm? an: Walter Benjamin sagte voraus, dass die technische Reproduktion der Kunst zu ihrer Entzauberung führen werde. Die Kunst wurde aufgrund der technischen Reproduktion weniger obskur, zugänglicher und weniger magisch. [. . .] Benjamins Voraussage ist nicht schwer zu verstehen. Die technische (Re-)Produktion ermöglicht die massenhafte Herstellung von Kunstwerken zu geringen Kosten. Es wäre tatsächlich äußerst seltsam, wenn der exklusive und glamouröse Zauber von Kunstwerken hierdurch nicht reduziert würde. [. . .] Doch bisher ist dies nicht geschehen; Bach und sein Werk behalten ihre Aura bei. Allgemein lässt sich feststellen, dass seine Prognosen, wenn man den hohen, wenn nicht sogar vermehrten Status und die große Verehrung der Kunst seit dem Erscheinen von Benjamins Essays betrachtet, entweder falsch sind, oder dass es noch länger dauern wird, bis sie sich bewahrheiten.1 Abbings Betrachtungen über Benjamins Behauptung, die technische Reproduzierbar- und massenhafte Verfügbarkeit werde zu einer Abnahme der

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„Aura“ führen, legen nahe, dass die technische Reproduktion, statt die „Aura“ der Kunst zu reduzieren, dabei hilft, die Aura der reproduzierten Kunstwerke zu verstärken und sie nicht etwa zu zerstören. Diese umgekehrte Interpretation der Aura, die durch den problemlosen Zugang zu Kunstwerken und ihre leichte Verfügbarkeit geschaffen wird, verschiebt den Nachdruck in Benjamins Aufsatz vom traditionellen „Kultwert“ von Kunstgegenständen zu demjenigen, was er als ihren kommerziellen „Tauschwert“ bezeichnet. Diese Betonung dessen, was Benjamin für die traditionelle Rolle von Kunstwerken in religiösen Praktiken hält, erscheint in seinem Konzept der Aura als der Physikalität des Kunstobjekts, auf die er sich als seine „Echtheit“ bezieht: Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft.2 Die Aussage Abbings impliziert, dass Benjamins Idee der „Echtheit“ erst dann ein bedeutsamer Wert wird, wenn es Reproduktionen eines Kunstwerks gibt, die ihrem Ursprung im Erscheinungsbild ähnlich aber nicht mit ihm identisch sind. Daher ist es, je breiter ein Kunstwerk durch Reproduktion bekannt gemacht wird, möglich anzunehmen, dass seine „Aura“ dann logischerweise ebenfalls zunehmen würde. Es kommt zu einer Umkehrung von Benjamins These. Abbing behauptet, dass die „Aura“ nicht existiert, wie Benjamin annahm, sondern dass sie stattdessen eine Funktion des Reproduktionsprozesses selbst ist. Dieser Wandel in der Auffassung von Benjamins „Aura“ legt nahe, dass Kunstgegenstände einen Doppelcharakter haben. Ihre „Aura“ besteht sowohl in den physischen Spuren der besonderen Geschichte, die ein Gegenstand gehabt hat, als auch in der Beziehung dieses Gegenstandes zu der Tradition, die ihn hervorgebracht hat. Dies sind zwei unterschiedliche Werte: Der eine hängt am physischen Gegenstand, der andere liegt im Wissen (und der vorausgegangenen Erfahrung) des Betrachters bezüglich der Beziehung des Gegenstandes zu anderen, ähnlichen Gegenständen. Wenn der erste Wert ein „geschichtliches Zeugnis“ ist, kann der zweite Wert als „symbolische Beziehung“ bezeichnet werden. Obwohl die Beziehung zur Tradition ein unabhängiger Wert ist, getrennt von den

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physischen Eigenschaften, die die „geschichtliche Zeugenschaft“ ausmachen, lässt er sich nicht auf einen Satz von physisch vorhandenen Merkmalen reduzieren, da er auf begrifflichen Beziehungen beruht, die im Bewusstsein der menschlichen Betrachter produziert werden – funktional handelt es sich um ein semiotisches „Lesen“ eines Werkes, geleitet von vergangener Erfahrung mit ähnlichen Werken. Die Trennung dieser beiden Werte führt zu einem neuen, von Benjamins ursprünglicher Aussage unabhängigen Begriff von „Aura“, der speziell auf digitale Technologie anwendbar ist: Die Idee der „Aura“ resultiert aus der soziologischen Rolle, die das Werk für seine Betrachter spielt (wie sie das Werk in ihrer Gesellschaft verwenden). Diese Konzeption, da sie mit dem Zugang der Betrachter zum Kunstwerk zu tun hat, macht Konflikte in Bezug auf „geistiges Eigentum“ zu einer unausweichlichen Konsequenz der digitalen Technologie. Mechanisch oder manuell (re-)produzierte Gegenstände verfügen stets über eine implizite Grenze ihrer Verfügbarkeit (und damit des Zugangs zu ihnen); digitale Objekte haben keine derartige Grenze – im Prinzip kann eine unendliche Anzahl jedes digitalen Werkes ohne eine Veränderung oder einen Verlust, ja sogar ohne eine Abweichung zwischen beliebigen dieser Werke hergestellt werden.3 Dieser Unterschied zwischen sämtlichen physischen Objekten und digitalen Objekten offenbart eine fundamentale Ähnlichkeit zwischen dem ursprünglichen Kunstwerk und seinen mechanischen Reproduktionen. Diese Ähnlichkeit fasst nicht die älteren Beziehungen der Kopie zum Original zusammen: Stattdessen offenbart sie den grundlegenden Unterschied zwischen der digitalen und der physischen Wirklichkeit. Jede digitale Reproduktion ist mit jeder anderen identisch; digitale Objekte werden als eine Form von Information gespeichert, nicht in der begrenzten Form, die auf materielle Gegenstände notwendigerweise zutrifft. Daher lässt sich der digitale Zustand als eine Form von instrumenteller Sprache verstehen – als Anweisung für die Ausführung der „Wiederherstellung“, die ein bestimmtes digitales (Kunst-)Werk darstellt. Bei materiellen Gegenständen ist jeder Gegenstand tatsächlich einmalig, selbst wenn es sich um ein identisches Exemplar eines bestimmten Typs handelt: Während zwei weiße Blätter Papier in jeder Beziehung scheinbar identisch sein mögen, ist jedes Blatt ein einmaliges Exemplar, von allen anderen physisch getrennt und unabhängig. Digitale Reproduktionen

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sind, statt einmalige Exemplare eines bestimmten Typs zu sein (wie bei Papierblättern), sämtlich identisch; jede ist eine identische Ausführung einheitlicher, unwandelbarer Anweisungen: eine „Kopie“. Die Informationstheorie sagt über Werke dieser Art, sie weisen einen informationstheoretischen Entropiewert von null auf: Da die Ausführung der instrumentellen Daten digitaler Objekte (die auf einem Computer gespeicherte elektronische Datei) ein lückenlos vorhersagbarer Prozess innerhalb des Rahmens eines bestimmten digitalen Systems ist, ist keine Information erforderlich, um ein digitales Werk aus einem digitalen Objekt (der elektronischen Datei) zu erstellen.4 Die digitale Reproduktion ist daher von jeder anderen, ihr vorausgegangenen Art von Reproduktion grundlegend verschieden und von den digitalen Gegenständen, die dieser Art von Reproduktion unterworfen sind, lässt sich behaupten, dass sie eine neue Klasse von Objekten ausmachen. Digitale (Kunst-)Werke behalten ihre ursprüngliche Form im Laufe der Zeit ohne jeglichen Wertverlust bei, da kein physischer Gegenstand gegeben ist, der dem Verfall in der Zeit unterliegt. Sie können redigiert, kompiliert, kombiniert und verteilt werden, ohne dass es zu irgendwelchen Änderungen in irgendeiner späteren Reproduktion kommt. „Kopien“ können anschließend weiter reproduziert werden, endlos, ohne jemals dem notwendigen Verfall zu unterliegen, der für physische Medien wesentlich ist. Eine „Kopie“ hat nicht nur einen äquivalenten Inhalt, sondern ist mit ihrer Quelle identisch. Der Begriff eines digitalen „Originals“ verschwindet, da sämtliche Versionen identische Originale sind, beziehungsweise sämtlich identische „Kopien“. Der gegenwärtigen Sprache fehlt es an den Begriffen, die erforderlich sind, um die Beziehung zwischen getrennten Instanzen eines identischen digitalen Objekts zu beschreiben: „Kopie“ setzt das traditionelle Schema von Original und Replikat voraus. „Klon“ führt eine biologische Analogie ein, die jedoch eine frühere originale Quelle nahelegt, die (zumindest) potenziell als Ursprung existiert. Weil die Daten, aus denen das digitale Werk besteht, selbst konstant bleiben, sind digitale Objekte ununterscheidbar. Der Unterschied zwischen zwei beliebigen Instanzen eines einzelnen digitalen Werkes ist keine Frage des Inhalts oder der Form, weil die digitalisierte Information konstant bleibt. Es ist eine Frage der räumlichen Position

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und der materiellen Darstellung – wo sich eine spezifische Version auf (oder in) dem physischen Medium befindet, das seine Prägung enthält und/ oder in einer von Menschen lesbaren Form wiedergibt.

§ 3.2 Der Unterschied zwischen materiellen und digitalen Objekten ist absolut. Er bezieht sich auf die Dualität zwischen der symbolischen Bedeutung und der Physikalität, die mit der frühsten Form der massenhaften Reproduktion beginnt: dem Prägen von Münzen. Das Aufdrücken eines Emblems auf Münzen macht jede einzelne von ihnen auf doppelte Weise wertvoll: durch ihr Material (ein Edelmetall) und durch ein Symbol als echt gekennzeichnet (dass ihr Wert real ist), durch den Aufdruck, der ihre Oberfläche schmückt (ihren symbolischen Gehalt). Echtheit ist eine Interpretation, die auf einer Interpretation zweiter Ordnung basiert, abgeleitet von einer Entscheidung über den symbolischen Gehalt eines Gegenstandes. Das digitale Objekt, dem eine physische Komponente fehlt, existiert als symbolischer Inhalt, der nur dann zu einer physisch zugänglichen Form wird, wenn er durch ein technisches Medium (wie etwa ein Video auf einem Computerbildschirm) präsentiert oder in einen physischen Gegenstand (wie zum Beispiel einen Ausdruck auf Papier) umgewandelt wird. Die separaten Wertigkeiten von Material und Symbol können so verstanden werden, dass sie auf unterschiedlichen Interpretationsebenen existieren: Die physische stellt die erste Ebene dar, wobei sämtliche Konsequenzen bezüglich des Alters etc. des Gegenstandes eine erste Ordnung darstellen; der symbolische Gehalt, einschließlich seiner Verbindung zu Traditionen, der Ähnlichkeit mit oder des Unterschieds zu anderen Objekten, der Beziehung des interpretierenden Betrachters zu dem besonderen Objekt etc. stellen sämtlich eine zweite Ordnung der Interpretation dar. Während die zweite symbolische Ordnung die erste Ordnung (irgendeine Form der physischen Präsenz) für ihre Darstellung erfordert, existiert der gedeutete Gehalt als Überschuss zur ersten Ordnung. Was die zweite Ordnung hervorbringt, ist die Information, die durch den Interpretierenden bereitgestellt und geschaffen wird, und zwar mithilfe vergangener Erfahrung mit der Interpretation der Form und der Merkmale der ersten Ordnung.

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Der Dualismus der „Aura“ materieller Gegenstände erscheint als eine Funktion sowohl des materiellen Objekts als auch seines symbolischen Gehalts. Es ist kein Zufall, dass der Dualismus der Aura mit der Erfindung von Tauschwert (Währung) verbunden ist. Ein Tauschwert hängt gesellschaftlich und politisch von menschlicher Tätigkeit ab, um seine Bedeutung zu bekommen und seinen Wert zu behalten. Es ist exakt aufgrund der Schaffung von Wert durch den Rekurs auf ein besonderes Schema vieler verschiedener, durch menschliche Tätigkeit bestimmter Objekte, dass „Wert“ überhaupt entsteht. Das Bewusstsein von der symbolischen Beziehung zwischen einem Objekt und einem anderen ist das interpretierte Ergebnis menschlicher Tätigkeit und inhäriert nicht im Gegenstand selbst. Die Aura digitaler Werke behält diesen Dualismus bei, während sie die konkreten Einschränkungen einer besonderen Physikalität abwirft. Die Begegnung mit einem digitalen Objekt bleibt eine materielle, jedoch eine solche, bei der die physikalische Form vom digitalen Werk – d. h. von dem, was bei der Betrachtung eines Videoclips auf einem Computer gesehen und gehört wird – getrennt ist und als eine Darstellung dieses Werkes dient. Die Trennung der besonderen Präsentation eines digitalen Werkes von unserer Konzeption davon schreibt den modernistischen Wunsch, das Kunstwerk von dem Kontext, der es hervorgebracht hat,5 zu isolieren, im wahrsten Sinne des Wortes in unser Bewusstsein und unsere Deutung des digitalen (Kunst-)Objekts ein: Statt den bereinigten, sauberen weißen Raum einer Galerie zu benötigen, um den externen Kontext aus der Interpretation von Kunst zu eliminieren, geschieht dieses Weglassen der Besonderheiten von Ort, Präsentation, Kontext etc. bei digitalen Werken im Geist des Betrachters. Diese Wirkung leitet sich vom Streben des Digitalen nach dem Zustand umfassender Kenntnis ab. Sie spiegelt die Aura der Information wider. Da die materiellen Aspekte digitaler Werke ephemer sind – die nicht länger dauern als die phänomenologische Begegnung mit der Darstellung des digitalen Objekts (typischerweise auf einem Bildschirm irgendwelcher Art) –, suggeriert die „Aura der Information“, dass das Digitale selbst die physische Form transzendiert. Diese Illusion definiert die „Aura der Information“. Weil digitale Werke aus einer Interpretation zweiter Ordnung auftauchen, gehören sie zu derselben Kategorie von Objekten wie Musik, die

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zum Abspielen durch eine Maschine kodiert wurde, wie im Falle der Notenrolle eines selbstspielenden Klaviers. Digitale Objekte sind nicht unmittelbar vom Menschen lesbar und werden als Werke erst erlebbar, wenn sie von einer Maschine verarbeitet wurden. Wie die auf der Notenrolle eines selbstspielenden Klaviers kodierte Musik, ist das digitale Objekt von seiner materiellen Verkörperung getrennt. Häufig wird es mithilfe von Methoden und Technologien (wie etwa Sprache) produziert, die von digitalen Formen unabhängig, jedoch ohne Verlust leicht reproduzierbar und von den speziellen Technologien ihrer Aufführung oder Präsentation vollkommen abhängig sind. Da digitale Objekte keinem zeitlichen Verfall unterworfen sind, verschwinden sie nicht im Laufe der Zeit. Die Begrenztheit eines digitalen Werkes basiert nicht auf seinem physischen Untergang, sondern stattdessen auf seiner Verfügbarkeit im Rahmen zeitgenössischer Technologie. Ältere digitale Werke gehen nur „verloren“, weil die technische Unterstützung für den Zugriff darauf wegfällt: Das digitale Werk besteht – theoretisch – fort und kann zu einem künftigen Zeitpunkt wieder abgerufen werden. Digitale Reproduktion wird dann nicht nur ein wesentliches Merkmal digitaler Gegenstände, es ist auch ihr Medium faktischer Unsterblichkeit. Die digitale Reproduktion und der Transfer von Dateien von älterer zu neuerer Technologie ermöglicht die Fortsetzung (immerwährende Wartung) digitaler Werke, unabhängig davon, in welcher Technologie sie ursprünglich erstellt wurden. Auf frühere Computerprogramme, wie zum Beispiel 8-Bit-Arcade-Spiele, die ursprünglich als ROM-Chips existierten, etwa die Spielkassetten des Atari 2600 Home Entertainment Systems, kann nach wie vor zugegriffen werden, da moderne Technologie in der Lage ist, diese ausrangierten, veralteten Systeme nachzuahmen. Auf diese Weise ist es möglich, ansonsten unzugängliche digitale Werke mit Geräten zu lesen, die unendlich leistungsstärker und mit den älteren digitalen Dateien ansonsten nicht kompatibel sind. Im Falle der digitalen Werke, die in den Spielkassetten des Atari 2600 Home Entertainment Systems enthalten sind, gibt es eine große, obwohl begrenzte, Anzahl funktionsfähiger Atari Home Entertainment Systeme. Wenn das letzte System irreparabel defekt wird, wird ein Zugriff auf die ursprünglichen Versionen der Dateien auf diesen ROM-Kassetten durch ihre ursprünglichen Hardwaresysteme nicht mehr möglich sein. Ein

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solcher Verlust konstituiert die geschichtliche Zeugenschaft dieser Technologie und der damit zugänglichen digitalen Werke. Das historische Zeugnis dieser Systeme ist jedoch völlig getrennt von den auf diesen ROMs enthaltenen Dateien, und das Überleben der Daten auf ihnen ist von anderer Natur als das Überleben der ursprünglichen physischen Systeme selbst. (Das Lesen dieser Daten kommt dadurch zustande, dass ein neueres System die Funktion eines früheren digitalen Systems nachahmt.) Die Fähigkeit, die digitale Datei von der Hardware zu trennen, setzt die Aura digitaler Objekte in Szene: Das digitale Werk ist unsterblich, vergänglich, an jede neue Darstellungstechnologie, die entwickelt wird, kann es angepasst werden. Außerdem verbindet sie die Aura digitaler Objekte mit der Aura der Information, da Information eine Funktion der Interpretation ist und so theoretisch von einem darstellenden System auf ein anderes übertragen werden kann, wie etwa, wenn alte, „tote“ Sprachen wie das Altgriechische oder ägyptische Hieroglyphen in zeitgenössische Sprachen wie Englisch übersetzt werden. Theoretisch bleibt der Inhalt der früheren Sprachen konstant; bei digitalen Gegenständen wird dieser theoretische Aspekt menschlicher Sprache und Bedeutung aufgrund des Unterschieds zwischen der Maschinensprache des binären Codes, der präskriptiv ist, und der menschlichen Sprache, die deskriptiv und denotativ ist, zu einem konkreten Faktum. Da die binäre Maschinensprache aus einem Befehlssatz besteht, ist der Transfer und die Bewahrung der in dieser Sprache festgehaltenen Information nicht dem semiotischen Bedeutungswandel unterworfen, der für alle menschlichen Sprachen gilt. Daher kann selbst der Inhalt „toter“ digitaler Systeme wiedergewonnen und damit die Unsterblichkeit jeglichen digitalen Objekts sichergestellt werden. Die Unsterblichkeit digitaler Dateien führt jedoch auch zu einer Ansammlung von Werken, deren Verwaltung und die Möglichkeit des Zugriffs darauf notwendigerweise selbst zu einem Problem werden, und zwar über die einfache Frage hinaus, wie auf antiquierte Dateien zugegriffen werden kann, die mit Hardware konstruiert und verwendet wurden, die veraltet und unersetzbar ist. Wenn die Unsterblichkeit digitaler Werke so verstanden wird, dass diese Werke sich ansammeln und in unbegrenzter Zukunft immanent präsent bleiben werden, taucht ein malthusianisches6 Problem auf. In dem Maße, in

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dem immer mehr Materialien in digitaler Form gesammelt werden, wird es zunehmend schwieriger, sie zu organisieren, darauf zuzugreifen und sie zu nutzen. Die Menge der Informationen wird die Möglichkeiten ihrer Nutzung und Bewertung behindern. Die Aura der Information impliziert, dass dieses fortwährende Abspeichern von Informationen einen positiven Wert an sich darstellt, indem die Information von der Fähigkeit, sie zu nutzen oder ihre Bedeutung zu bestimmen, getrennt wird. Die Aura der Information erhält ihren scheinbaren Wert aus informationsarmen, prädigitalen Gesellschaften, in denen der Zugriff auf Informationen und ihr Besitz einen positiven Wert darstellten, da der Umfang der selbst potenziell verfügbaren Informationen sowohl physisch auf bestimmte Objekte als auch durch die Fähigkeit eingeschränkt war, diese Information zu reproduzieren. In einer solchen informationsarmen Gesellschaft hatte abgespeicherte Information einen Wert an sich, da die Menge der Informationen begrenzt blieb. Für digitale Technologien sind die Erstellung, die Speicherung und die Verteilung von Informationen nicht auf die Weise begrenzt, wie dies für traditionelle Gesellschaften gilt. Da digitale Information nach Unsterblichkeit strebt, unendlich reproduzierbar ist und die „Aura der Information“ für sich in Anspruch nimmt, tauchen die mit der Akkumulation und der Verwaltung von digitalen Dateien verbundenen Probleme als ein nicht zu vermeidendes Ergebnis der Entwicklung der digitalen Technologie und damit zwangsläufig auf.

§ 3.3 Sämtliche mechanischen Reproduktionen sind für sich selbst Objekte; sie tragen ihr eigenes „geschichtliches Zeugnis“ und sind der Wirkung von Zeit und Verfall unterworfen, genau wie jedes andere materielle Objekt auch. Dies gilt für sämtliche Ebenen der mechanischen Reproduktion. Selbst das Negativ eines Fotos unterliegt Verfall und Zerstörung, ebenso wie sich die zum Drucken verwendete Metallplatte nach und nach abnutzt, während sie zur Herstellung von Reproduktionen eingesetzt wird. Von der mechanischen Reproduktion lässt sich daher sagen, dass sie (auf dem Wege des historischen Zeugnisses) das gleiche Echtheitspotenzial wie jedes andere materielle Kunstwerk hat.

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Im Gegensatz zur mechanischen ist die digitale Reproduktion ein multivalentes Objekt. Die physische Darstellung eines digitalen Objekts, wie etwa auf einem Computerbildschirm, unterwirft diese Datei keinem Abnutzungsprozess, dem ein materieller Gegenstand unterliegt. Ebenso wenig werden diese digitalen Objekte durch das Kopieren, Versenden oder Abspeichern notwendigerweise beschädigt. Die digitale Übertragung von Dateien produziert perfekte, identische Kopien, die der geschichtlichen Zeugenschaft physikalischer Objekte nicht unterworfen sind. Tatsächlich ist das digitale Objekt – die Information, die in der oder als digitale Datei enthalten ist – vom historischen Zeugnis unabhängig. Das Medium, das die digitale Datei speichert, trägt allerdings „geschichtliche Spuren“. Dieser Behälter ist von seinem Inhalt verschieden und sollte als davon getrennt verstanden werden. Die Arten „geschichtlicher Spuren“, die digitale Dateien aufweisen können, lassen sich daher in drei Kategorien unterteilen: (1) diejenigen, die sich auf den Behälter auswirken, sei dies die Festplatte, CD, das ROM oder ein anderes Speichermedium; (2) diejenigen, die sich – im Gegensatz zum Speichermedium – auf die digitale Datei selbst auswirken; (3) die Möglichkeit des Zugriffs auf die Datei mithilfe zeitgenössischer Technologie (die Frage veralteter Software, Hardware und der mit dieser älteren Technologie erstellten Dateien). Eine beschädigte CD mag die darauf enthaltenen Daten unzugänglich machen, doch werden diese Daten dadurch nicht wirklich zerstört. Beschädigte oder defekte Computerdateien sind das Ergebnis von Fehlern des Systems, das die Datei speichert oder anzeigt, keine Beispiele historischer Spuren, sondern von Druckfehlern und anderen Fehlern, die bei der Verwendung von Maschinen in der mechanischen Reproduktion entstehen. Die Möglichkeit des Zugriffs auf ein digitales Objekt, das mit veralteter Technologie erstellt wurde, hinterlässt keine Spur am digitalen Objekt selbst. Die Möglichkeit, den Inhalt dieser Datei zu lesen, ist dasjenige, was im Laufe der Zeit zurückgeht, die Datei selbst erleidet keine Beeinträchtigung. Ihre Inhalte bleiben selbst dann konstant, wenn wir nicht länger darauf zugreifen können. Diese Situation gleicht unserer Fähigkeit, alte, „tote“ Sprachen zu lesen, die in Hieroglyphen oder in Keilschrift verfasst sind: Die Inhalte des Textes sind von ihrem Speichermedium oder vom Format (der Sprache), in dem sie geschrieben sind, unabhängig.

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Technisches Versagen oder Defekte stellen keine geschichtlichen Spuren an digitalen Objekten dar; stattdessen demonstrieren sie das Wesen des digitalen Werkes als Interpretation zweiter Ordnung, die zur Betrachtung dargestellt wird. Dies erklärt ihren Mangel an physischer Präsenz und die missliche Beziehung zwischen dem digitalen „Muster“ oder der ursprünglichen digitalen Datei und den physischen Versionen, die im Ausgang davon als Ausdrucke, Darstellungen auf einem Monitor etc. produziert werden. Bei Konflikten im Zusammenhang mit Rechten an geistigem Eigentum geht es in erster Linie um Zugriff auf das „Kunstobjekt“ selbst, da im digitalen Bereich die Möglichkeit zur Reproduktion und zum Vertrieb das Recht des Lesezugriffs auf das Werk nicht notwendigerweise einschließt. Aus diesem Grunde ist jedes Angebot für die Verwaltung digitaler Rechte auf das Recht zu lesen eingeschränkt und kontrolliert dieses.7

§ 3.4 Interpretationen erster Ordnung von historischen Kunstwerken, wie etwa der Sixtinischen Kapelle, erfolgen auf der Grundlage des Faktums, dass sie unter allen Umständen die Sixtinische Kapelle bleibt. Im Fall der mechanischen Reproduktion zeigt diese Annahme jedoch bereits einen abgeschwächten Charakter, der sich bei digitalen Werken ausdrücklich ankündigt (wenn er aufgrund der unendlichen Vielfalt der verschiedenen Darstellungen desselben Werkes durch die unterschiedlichen Darstellungsweisen von Projektoren, Bildschirmen, durch verschiedene Benutzerparameter auf unterschiedlichen Computern etc. nicht sogar völlig ungültig gemacht worden ist). Und zwar kündigt er sich so deutlich an, dass es bei digitalen Werken weniger angemessen ist, in Bezug auf die Besonderheiten einer bestimmten Anzeige über sie nachzudenken, als vielmehr so, dass, unabhängig von dem besonderen Bildschirm, auf dem sie erscheinen mögen, über sie reflektiert wird. Betrachten wir zum Beispiel das Problem der Farbe. Verschiedene Computerbildschirme zeigen Farben unterschiedlich an, je nach dem Alter des Monitors, der Verwendungsdauer, der besonderen Konstruktion der Pixel auf seinem Bildschirm, den speziellen Einstellungen, die zum Zeitpunkt der Anzeige aktiviert sind etc. Geschäfte, die Bildschirme verkaufen,

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richten Vergleiche zwischen ihren verfügbaren Modellen ein, da sich diese Unterschiede auf das Erscheinungsbild der auf den Monitoren angezeigten digitalen Werke auswirken. Die Frage der Farbe wird sogar noch vielschichtiger, wenn Betrachtungen über die Darstellungsweise über Desktop-Bildschirme hinaus auf andere Anzeigemöglichkeiten ausgedehnt werden, wie etwa Projektionen, TV-Übertragungen oder sogar Filme auf Mobiltelefonen. Jede Erweiterung der möglichen Darstellungsweisen vergrößert die Vielfalt der Erscheinungen einer digitalen Datei, wodurch die Frage, welches die „echte Version“ ist, problematisch wird, da die dargestellte Datei konstant bleiben kann. Die vordergründige Unveränderlichkeit einer von Menschen lesbaren Form bedeutet nicht, dass scheinbar identische Präsentationen, die auf unterschiedliche Quellen zurückgehen, tatsächlich identisch sind. Drei scheinbar identische Bilder können dasselbe von Menschen lesbare Ergebnis darstellen, jedoch von drei inkompatiblen Quellen produziert werden. Stellen wir uns folgende Situation vor: (a) eine nicht komprimierte Rasterdatei, die jedes einzelne dargestellte Pixel spezifiziert; (b) eine komprimierte Version derselben Rasterdaten; (c) eine Version desselben Bildes, jedoch mit Hilfe von Vektorgrafik produziert und beschrieben. Der augenscheinliche Inhalt des Bildes ist irrelevant – es könnte ein Foto sein, eine Topographie oder einfach eine Ansammlung linearer Elemente – denn jeder beliebige Bildtyp kann auf diese drei Weisen gespeichert werden. Das von Menschen lesbare Produkt jedes dieser drei Bilder ist dasselbe, und zwar untereinander so vollkommen ähnlich, dass es in einer von Menschen lesbaren Form bei keinem dieser Bilder einen Unterschied zwischen den Daten auf der Anzeige gibt, weshalb es für einen menschlichen Betrachter unmöglich ist, auf der Grundlage ihrer von Menschen lesbaren Form zwischen ihnen zu unterscheiden. Obwohl sie jedoch scheinbar identisch sind, ist jedes dieser Bilder das Produkt eines einzelnen, separaten digitalen Objekts. Dies bleibt bei diesen Bildern unabhängig davon der Fall, wie oft sie in eine von Menschen lesbare Form übersetzt, kopiert oder anderweitig als digitale Dateien reproduziert werden. Die Vorstellung, dass sie tatsächlich identisch sind, ist eine Illusion, die von der Aura der Information erzeugt wird. Es ist diese Aura – dass sämtliche digitale Information konstant beziehungsweise äquivalent bleibt,

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unabhängig davon, welche Art von Transformation darauf angewendet wird (in diesem Fall sowohl die Kompression als auch die Unterschiede zwischen der Raster- und Vektorspeicherung der Bilddaten) –, die diese distinkten Dateien miteinander verwechselt. Jede digitale Datei und die Umsetzung ihres Codes in ein von Menschen lesbares Objekt (die scheinbar identischen Bilder) umfasst separate, individuelle digitale Objekte, deren von Menschen lesbares Exemplar die Illusion hervorruft, sie seien identisch. Der Glaube an die Äquivalenz dieser distinkten Datendateien, die einen einzigartigen, abweichenden Code enthalten, spiegelt die Aura der Information in Aktion wider. Da die Aura der Information verlangt, dass der Betrachter die Darstellungsform (Videomonitor, Projektor, Ausdruck etc.) bei der Erwägung des Kontexts eines Werkes ignoriert – etwa bei Schlussfolgerungen, die damit in Zusammenhang stehen, was Interpretationen erster Ordnung bei nichtdigitalen Werken wären: zum Beispiel, woher die Farbe stammt, wie sie beleuchtet wird, wie alt sie ist –, verschwinden alle diese Fragen im Allgemeinen, wenn man mit einer digitalen Projektion konfrontiert ist. Alter, Material etc. übertragen sich nicht vom physischen Material der Präsentation eines digitalen Werks, sondern ergeben sich aus Betrachtungen hinsichtlich seines symbolischen Gehaltes. In dem Maße, in dem ein digitales Werk über geschichtliche Spuren verfügt, ist dies das Ergebnis der Historisierung des Stils und der Form des Werks (die Interpretationen zweiter Ordnung sind). Es hat keinen Einfluss auf unsere Betrachtungen eines digitalen Werks, dass es in einer Darstellung auf einem Flachbildschirm gezeigt wird, in einer anderen mit einer Kathodenstrahlröhre und bei anderer Gelegenheit als Projektion. Während sich die Darstellung ändern mag, betrachtet man das digitale Werk als gleichbleibend, welche Mittel zu seiner Präsentation auch immer verwendet werden mögen. Diese Nichtberücksichtigung der Variabilität digitaler Werke legt nahe, dass das digitale Werk unabhängig von seinen verschiedenen Darstellungen existiert und verstanden wird. Die gleiche Geringschätzung der physisch gespeicherten digitalen Datei spiegelt die Geringschätzung der Einzelheiten der Präsentationen wider; beide sind Wirkungen der Aura des Digitalen, die die Überzeugung hervorbringt, dass digitale Objekte von der Physikalität getrennt sind.

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Die Unabhängigkeit digitaler Werke von ihrer physischen Darstellung ist sowohl mit dem an Bedingungen gebundenen Recht, eine digitale Datei zu lesen, als auch mit der technologischen Basis der digitalen (Re-)Produktion verbunden. Während die manuelle und mechanische Reproduktion stets den physikalischen Charakter des Objekts wahrt und sie dessen besonderem historischen Zeugnis unterworfen sein lässt, gilt dies für digitale Werke nicht. Jede Art von gedrucktem Material behält seine Form, sofern sie nicht physisch beschädigt wird – ein Buch im Moor zu vergraben, mag zur Folge haben, dass das Buch zerfällt, mit dem Ergebnis, dass das Buch verloren geht; ein digitales Werk kann nicht auf diese Weise beschädigt werden, doch ebenso wenig kann ohne technische Unterstützung darauf zugegriffen werden. Digitale Dateien erscheinen nur durch die Mannigfaltigkeit der Darstellung, die durch die obigen Betrachtungen bezüglich des Problems der Farbe angedeutet wird. Erkennt man dies an, dann schafft der für digitale Werke kennzeichnende Mangel an historischen Spuren einen Rahmen, der diese Objekte weg von individuellen, physikalischen, objektorientierten Merkmalen ihrer Darstellung in die Richtung einer nicht-objektorientierten Kunst verschiebt. Die Einzigartigkeit digitaler Werke kann daher weder das Ergebnis davon sein, dass es „nur eines“ von ihnen gibt, noch kann diese Einzigartigkeit das Ergebnis eines solitären (individuellen) Charakters sein, da alle „Kopien“ in jeglicher Hinsicht identisch sind. Tatsächlich gibt es für digitale Werke (wie bei mechanisch [re-]produzierten Werken vor ihnen) kein Objekt erster Ordnung in der Weise, in der es eine Sixtinische Kapelle gibt. Die Auswirkung der Einzigartigkeit der besonderen Form eines digitalen Werkes auf das intellektuelle Eigentum zeigt sich in der Frage des Zugriffs auf dieses Werk: das Recht, es zu lesen, statt eine Kopie davon zu besitzen. Der Besitz und der Zugriff darauf sind voneinander getrennt. Bei Objekten erster Ordnung wie der Sixtinischen Kapelle überträgt das Besitzrecht auch das Zugangsrecht: der Besitz des Werkes garantiert auch den Zugang dazu. Bei digitalen Werken nimmt der Besitz eine abgeschwächte Form an – man kann Dateien auf einem Computer „besitzen“, ohne über die Möglichkeit zu verfügen, auf den Inhalt dieser Dateien zuzugreifen. Das Modell, das vom intellektuellen Eigentum auf diese Weise übernommen wird, ist der Vorstellung einer Bank wesentlich näher, bei der nur berech-

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tigte Personen Geschäfte abwickeln dürfen und alle anderen, sofern sie nicht ebenfalls ihr Geld in diese Bank investieren, abgewiesen werden. In allen Fällen wird durch die Bank festgelegt, worauf die Kunden Zugriff haben, welche Aktionen ihnen erlaubt sind und – was am wichtigsten ist – wie viel es kostet, diese Aktionen auszuführen. Was diesen Kunden zu tun erlaubt ist, wird durch die Einzelheiten ihrer individuellen Investitionen in die Bank streng begrenzt.

§ 3.5 Mechanische Reproduktion ist immer auf die physischen Materialien begrenzt, sowohl in der Form der (re-)produktiven Technologie (Druckpresse, Fotonegative etc.) als auch in der Form der Materialien, die die Reproduktion selbst ausmachen. Diese Grundlage unterwirft das Objekt den Bedingungen zeitlicher Dauer; bis das digitale Werk physisch reproduziert wird, liegt es außerhalb dieser Einschränkung. Die digitale Datei ist zwar stets physisch gespeichert; dennoch bleibt das digitale Werk, das diese Datei produziert, eine separate Entität, obwohl diese digitale Datei dessen ungeachtet sein wesentlicher Ursprung ist; und da die Aura der Information zur interpretativen Ignoranz bezüglich der physischen Erscheinung des Werkes führt, wenn es einem Publikum präsentiert wird, bedeutet „außerhalb liegen“, dass es den Wirkungen des Verfalls durch Existenz in der Zeit – sei es, wenn es als Objekt reproduziert wird, oder in seiner ursprünglichen digitalen Form – nicht unterliegt. Daher liegt die „Echtheit“ des digitalen Werkes darin, dass es von den Wirkungen unabhängig ist, die durch den Lauf der Zeit, seine Verwendung (digitale Werke „verschleißen“ nicht auf die gleiche Weise wie materielle Gegenstände), oder durch seine Replikation und Distribution in digitaler Form verursacht werden: Im Gegensatz zu materiellen Gegenständen existieren digitale Werke nicht mit physischen Einschränkungen der Werke selbst, sondern nur mit Einschränkungen der Fähigkeit, sie zu speichern (und zu übertragen), wie bei der begrenzten Möglichkeit, Dateien auf einer Festplatte zu speichern. Die fehlenden physischen Einschränkungen bedeuten, dass digitale Werke im Prinzip als unsterblich betrachtet werden können – was die Verlängerung der gesetzlichen Besitzansprüche (Copyright, Patente usw.) zu ei-

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ner notwendigen und unausweichlichen Ergänzung des Streits über intellektuelles Eigentum macht: Die Wahrung des Eigentums verlangt, dass diese Ansprüche so lange dauern wie das betreffende Werk. Anders vorzugehen würde bedeuten, die Abhängigkeit dieses Rechts zu Lesen von der Ökonomie der objektbasierten Produktion und Konsumtion anzuerkennen, die dem Aufkommen digitaler Werke zeitlich vorausgeht. Es ist eine Lücke, die sich aus der Ideologie der Automation ergibt: Die ewige Verlängerung der Eigentumsrechte verdinglicht die Fantasie des „selbstgemachten“ Erfolgs ohne den Rekurs auf gesellschaftliche Reproduktion; tatsächlich ist die Fortsetzung der Ansprüche des Eigentums an einem immateriellen Medium für die Aufwertung der Autorschaft, die sie durch die Minderung des Wertes der Arbeit (dieser Fantasie der Autonomie) ermöglicht, eine Notwendigkeit. Die Aura des Digitalen beschreibt den Ausschluss der realen Bedingungen der Physikalität aus den Betrachtungen des scheinbar immateriellen Bereichs des Digitalen. Diese Einschränkungen und Grenzen sind allen digitalen Technologien, Objekten und Systemen wesentlich auferlegt. Doch aufgrund der besonderen Weisen, auf die das Digitale den Zustand umfassender Kenntnis anstrebt und dabei die Illusion der Vollständigkeit hervorruft und als von der materiellen Wirklichkeit unabhängig posiert, taucht das Digitale paradoxerweise als immaterielle Physikalität auf – in seiner Geisterhaftigkeit ist es immanent vorhanden und bewirkt den Schein, dass ihm eine substanzielle, materielle Verbindung zur Wirklichkeit fehlt. Dieser angebliche Bruch – in der Form der im Halbschatten liegenden Immaterialität – ist die spezifische Illusion, die die Aura des Digitalen definiert: die Leugnung der immanenten Physikalität angesichts der offensichtlichen und strukturellen physischen Einschränkungen und der materiellen Basis. Die Irreführung unserer Fähigkeit, die Unwahrheit zu erkennen, die der digitale Immaterialismus darstellt, spiegelt diese Aura in Aktion wider. Dass die Aura des Digitalen allgegenwärtig ist, beruht genau auf der Konfusion des Physischen und Immateriellen. Das Wesen der Technologie selbst – die semiotische, immaterielle Manipulation und Transformation des Codes – bringt die Unwahrheit hervor, dass das Digitale in Wahrheit immateriell ist. Im Gegensatz dazu ist es tatsächlich eine Physikalität, deren Begegnungen mit menschlichen Akteuren dieselbe Divergenz zwischen Objekt und Form hervorbringen, die uns in

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unseren Begegnungen mit Sprache vertraut ist: Die durch das Digitale erzeugten symbolischen Interpretationen überwältigen das physische Zeugnis der digitalen Präsentationen selbst. Das Problem der Aura des Digitalen besteht nicht darin, dass es eine inhärente Verbindung mit dem Physischen gibt, sondern stattdessen darin, dass diese reale Verbindung nicht nur geleugnet, sondern aus unserem Bewusstsein verdrängt wird: Diese Abwesenheit ist die Aura des Digitalen. Eingeschlossen in das Recht zu lesen ist die Ideologie der „vordersten Front“, die digitale Technologien obsolet macht. Zu dieser technologischen Verschiebung von etwas Aktuellem zu etwas Antiquiertem gehört eine Einschränkung des besonderen Einsatzes der Technologie – was man auf unterschiedliche Weise als Cut-up, Mash-up, Remix, Collage, Montage oder datenbankgesteuertes Werk bezeichnet hat –, die auf der Rekombination vorhandener Materialien zu „neuen“ Formen basiert. Dass diese ästhetische Form in fast identischer Vorgehensweise und Form bei jeder neuen Technologie erneut aufgetreten ist (Dziga Vertov experimentierte in den 1920erJahren mit Phonographenwalzen, um Tonaufnahmen zu erstellen und neu zu mischen)8, legt nahe, dass diese Herangehensweisen banal statt revolutionär sind (außer in der ökonomischen Sprache, die gegenwärtig mit geistigem Eigentum und Copyright verbunden ist). Statt eine „Exploration“ der neuen Technologie zu sein, deuten diese Werke auf eine freudsche Vermeidung der potenziellen Schocks, die diese Technologie durch Wiederholung mit sich bringt. Die psychologischen Gefahren, die unheimliche Werke darstellen können, werden im Voraus durch die Rubrik der Obsoleszenz und durch die Wiederholungen vermieden, die dem Remix vorhandener vertrauter Materialien inhärent ist.

§ 3.6 Das Wesen der digitalen Technologie und Reproduktion schafft ein fundamentales Paradox zwischen den Interessen des Besitzes und der Funktion von Technologie: Während Besitz schon immer ein Aspekt von Verfügungsgewalt war, stellt diese Verbindung bei digitaler Reproduktion ein neues Problem dar. Das Recht, den Zugriff zu beschränken (über die Verwaltung digitaler Rechte), ist der Schlüsselaspekt des Besitzes digitaler

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Werke. Die Kontrolle des Rechts, digitale Werke zu lesen, findet ihre Basis in den älteren Gesetzen, die zur Kontrolle von Druck und Publikation entworfen wurden: Copyright-Gesetze, die Annahmen über physische Objekte sowie den Zugang zu und das Eigentum an diesen Werken kodifizieren. Da es sich bei digitalen Werken (in erster Linie) um nicht auf Objekten basierende Artefakte zweiter Ordnung handelt, d. h. um Werke ohne eine bestimmte physische Form (und somit nicht begrenzt durch natürliche Bedingungen wie Knappheit, Herstellung und Material), wird die Stärkung der Fähigkeit des Herstellers, sein digitales „Eigentum“ selbst dann noch zu kontrollieren, wenn es einer anderen Person verkauft wird, zu einer unausweichlichen Konsequenz der stetigen Verschiebung in Richtung auf digitale Technologie, wenn es darum geht, sämtliche Aspekte der Kultur zu produzieren und zu verteilen. Die Transformation von allem, was digitalisiert werden kann, in eine digitale Form (das universale Streben, den Zustand umfassender Kenntnis als Instrumentalität zu erreichen) folgt aus der Logik der Verwaltung digitaler Rechte: Der Konflikt um geistiges Eigentum ist daher unvermeidlich, ebenso wie das Übergehen der Arbeit und die Aufwertung gesellschaftlicher Tätigkeit (widergespiegelt durch die Aufwertung des Autors). Auf Objekten basierende Werke werden automatisch zum Eigentum des Konsumenten und können abgegeben und weiterverkauft werden etc., wenn man in ihren Besitz gekommen ist. Bei nicht auf Objekten basierenden, digitalen Werken bedeutet das Schema der Verwaltung ihrer Rechte, dass ihnen diese auf Besitz basierende Dimension von Eigentum fehlt. Selbst nachdem ein Werk gekauft wurde, gilt das Bankmodell des Eigentums: Wenn es in ihren Besitz gelangt ist, gehört den Konsumenten das Werk nicht: Sie haben lediglich ein bedingtes Recht zu lesen; und in seiner an Bedingungen geknüpften Form sind Konsumenten nicht in der Lage, irgendwelche der in der Verwaltung der digitalen Rechte enthaltenen digitalen Werke weiterzuverkaufen, abzugeben, zu verleihen oder gemeinsam zu nutzen. Die Mechanismen, die den Zugriff auf digitale Werke kontrollieren, reproduzieren in einem Circulus vitiosus auch den Konflikt, den sie auflösen sollten, wobei jede neue Einschränkung des Leserechts den Konflikt verstärkt. In seiner einfachsten Form ist dies ein Konflikt darüber, ob nicht-objektbasierte Werke Anspruch auf dieselbe Behandlung haben wie objektbasierte Werke.

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§ 3.7 Die „Aura“ eines Kunstwerks kann als tertiäres interpretatives Ergebnis betrachtet werden, das aus einem dritten interpretativen Akt resultiert, der vergangene Erfahrung verwendet, um ein Bewusstsein eines Gegenstandes zu schaffen, das sowohl seine physische Form als auch seine Beziehung zur Tradition überschreitet. Dieser Unterschied erlaubt (entgegen der Auffassung Benjamins) die Existenz der „Aura“ in mechanisch reproduzierten Werken auf dem Wege mechanischer Reproduktion – und erlaubt daher auch eine „Aura“ von digitalen (Kunst-)Werken. Ein Bewusstsein dieser Art wird möglich durch die Reproduktion, obwohl sie zu einem geringeren Grad auch in traditionellen Gesellschaften existiert, wo das Bewusstsein der Kunstwerke statt als visuelles als linguistisches Artefakt „reproduziert“ wird. Dieses Bewusstsein ist erfüllt von speziellen Werten (wie Benjamin festgestellt hat). Die älteren Werke können verstanden werden als Subjekte verbaler (nichtvisueller) Reproduktion, und das Bewusstsein dieser Art von Reproduktion schafft eine „Aura“, die mit derjenigen konsistent ist, die von digitaler beziehungsweise mechanischer Reproduktion generiert wird. Daher ist Reproduktion – mechanische oder digitale – die Quelle und das Vehikel der „Aura“ eines Werkes. Die Begegnung eines Betrachters mit einem Objekt, bei dem es sich um ein „berühmtes“ Werk handelt, ist deutlich verschieden von seiner Begegnung mit einem unbekannten Werk, denn es ist die große Verbreitung dieses Werkes durch Reproduktion, die die besondere Erfahrung schafft: Kulturtourismus basiert auf dieser Idee der Begegnung mit Originalen, deren Aura eine Funktion der Tatsache ist, dass sie massenhaft reproduziert werden. Je flächendeckender ein Werk verbreitet wurde, umso größer ist seine „Aura“. Andy Warhols Persona und seine Rekonstruktion von Superstars, die dafür „berühmt sind, berühmt zu sein“9, demonstriert die kurzlebige, bedingte Natur dieser Konzeption von „Aura“, ihr gesellschaftlich konstruiertes Wesen und die Abhängigkeit ihrer Existenz von (digitaler) Reproduktion. Die semiotische beziehungsweise instrumentale Unsterblichkeit, die als die Aura des Digitalen verankert ist, verdinglicht eine Ideologie, bei der die Werke des „Genies“ (wortwörtlich) „ewig leben“, innerhalb der gleichzeiti-

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gen Rahmen der Verwaltung digitaler Rechte und der digitalen Reproduktion. Der Besitz von Ideen ist mit der spezifischen materiellen Form verbunden, die diese Ideen in der digitalen Technologie annehmen. Die semiotische Unsterblichkeit wird eine instrumentelle Unsterblichkeit im Reich des von Maschinen autonom ausgeführten digitalen Codes: Dies ist „die Aura des Digitalen“. Der kulturelle Drang, sämtliche Produktion auf diese immaterielle Basis zu verschieben – die Informationsökonomie –, spiegelt wider, auf welche Weise die Ideologie der Automation die Expansion der digitalen Aura ermöglicht. Die Aura des Digitalen signalisiert das Digitale als den Schauplatz einer spezifischen Verdinglichung, die einen zugrunde liegenden Konflikt zwischen Produktion und Konsumtion, d. h. zwischen der Akkumulation von Kapital und seiner Aufwendung, in Szene setzt, der sich als digitaler Kapitalismus herausgebildet hat. Dadurch, dass sie die Fantasie einer Akkumulation ohne Konsumtion ermöglicht, wird die digitale Technologie zu einer ideologischen Kraft, die den Konflikt zwischen den Grenzen, die dem Wert des Kapitals durch Aufwendung und Inflation gesetzt werden, und der Forderung verdinglicht, die in der kapitalistischen Ideologie des eskalierenden Wertes enthalten ist. Die Reziprozität zwischen Produktion und Konsumtion ist für die Akkumulation von Reichtum (Kapital) notwendig, wenn sie etwas anderes als eine ökonomische Pathologie sein soll. Diese Lücke, die akkumulierter Reichtum darstellt, ist eine, bei der Inflation als ein notwendiges Korrektiv auftaucht – sie entwertet das akkumulierte Kapital, um die Zirkulation zu unterstützen, die zur Aufrechterhaltung der Dialektik von Produktion und Konsumtion erforderlich ist: Wenn Kapital sich ansammelt, muss sein Wert geringer werden. Die Aura des Digitalen bringt diese Dialektik durcheinander, indem sie nur eine Seite der Konstruktion verdinglicht – die Illusion der Produktion von Kapital ohne seine notwendige Konsumtion. Die Aura des Digitalen ist somit ein Symptom dafür, dass die Struktur der pathologischen kapitalistischen Ideologie als digitaler Kapitalismus verwirklicht wird – eine Fantasie, die auf digitaler Technologie basiert, ohne Rücksicht auf das illusionäre Wesen dieser Übertragungen, oder die Wirklichkeit, dass bei der Erzeugung des Digitalen selbst Aufwendungen erforderlich sind.

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Digitale Technologie, ihre Entwicklung, ihr Einsatz, ihre Produktion und der Zugriff darauf verlangen sämtlich einen großen Kapitalaufwand, um sie herstellen und aufrechterhalten zu können. Die Aura des Digitalen trennt die Ergebnisse von seiner technologischen Grundlage – die Illusion von ohne Aufwand geschaffenem Wert: eine pathologische kapitalistische Ideologie, die die Aufwertung gesellschaftlicher Tätigkeit verlangt, die sie durch die Ideologie der Automation ermöglicht, verbunden mit der Durchsetzung der Kontrolle über digitale Technologie (Verwaltung digitaler Rechte), während sie den Zustand umfassender Kenntnis erstrebt und die „Aura der Information“ annimmt. Sie trifft mit der Aura des Digitalen und des digitalen Kapitalismus zusammen. Obwohl die Ursprünge der Aura der Information in den technischen Parametern der digitalen Technik wurzeln, lässt ihre Rolle in der kapitalistischen Ideologie-Fantasie der Akkumulation von Reichtum ihre Konzeption des Digitalen sie nicht nur mit grundlegenden Fehlern behaftet sein, sondern sie ist außerdem eine Auffassung, die durch die Ideologie der Automation den Wert der menschlichen Tätigkeit verringert und ihre Umwandlung in eine immaterielle Ware unterstützt, die von den Belangen gesellschaftlicher Reproduktion abgeschnitten ist. Indem sie die Konzentration von Kapital naturalisiert, wandelt die Aura der Information die digitale Technologie in eine magische Ressource um, die ohne Konsumtion oder Verminderung genutzt werden kann. Der erste Einfluss dieser magischen Ressource erschien am Ende des 20. Jahrhunderts in Form der Dotcom-Blase, als das Internet erstmals als populäres, kommerziell nutzbares Medium aufkam. Dieser anfänglichen Blase folgte schnell eine größere, mit einer noch expliziteren immateriellen Basis – die Immobilienblase von 2008. Diese Zusammenbrüche waren unausweichlich, da die von ihnen geschaffenen Werte von der Ausbeutung der Fantasie einer Produktion ohne Konsumtion abhingen. Die Schwerpunktverlagerung in Richtung verschiedener Formen der Verwaltung digitaler Rechte begann sogar schon, bevor diese Kontrollen in Form von technologischen Patenten, auf Copyright basierenden Registrierungen und Subskriptionen von Software etc. durch die Technologie selbst implementiert wurden. Hierbei handelte es sich um eine Anfangsphase, die sich nahtlos zum technischen Management digitaler Rechte weiterentwickelte. Das

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(Wieder-)Auftauchen „ummauerter Gärten“ um eigentumsgeschützte Hardware- und Software-Kombinationen bestätigt diese Verbindungen zwischen der Aura des Digitalen und der Aura der Information, die benötigt werden, um die kapitalistische Durchsetzung der Kontrolle (Management digitaler Rechte) über geistiges Eigentum und die technische Aufwertung gesellschaftlicher Tätigkeit, die sie begleiten, zu rechtfertigen. Ansonsten bedroht die Aura des Digitalen den Status quo, da die Illusion von Profit ohne Aufwand die Möglichkeit suggeriert, das Digitale könne eine Situation herbeiführen, in der der Kapitalismus selbst zu existieren aufhört. Daher gleicht die Aura des Digitalen einem Januskopf: Sie suggeriert eine magische Produktion ohne Konsumtion, verdinglicht diese grundlegende Ideologie als digitalen Kapitalismus und impliziert gleichzeitig eine Abschaffung des Kapitalismus selbst. Diese Suggestionen gehen jedoch sämtlich von einer Illusion aus, die auf der Weigerung basiert, den realen Aufwand anzuerkennen, der für die Schaffung, die Produktion, die Aufrechterhaltung und den Zugriff auf digitale Technologien sowie für die Materialien erforderlich ist, die durch diese Technologien verfügbar gemacht werden, welche diese ideologischen Fantasien ermöglichen. In dieser Hinsicht kann die Aura des Digitalen einer krankhaften Kurzsichtigkeit gleichgesetzt werden: Sie ist in der anti-kapitalistischen Fantasie eines „Endes des Mangels“ enthalten, das den Kapitalismus abschafft, und für die kapitalistische Ideologie in der Illusion einer Produktion ohne Konsumtion verdinglicht. Jede dieser beiden Überzeugungen ist daher eine als Instrumentalität verdinglichte ideologische Fantasie: ein Produkt dessen, das jede der beiden konkreten physischen Aspekte der digitalen Technologie – und daher ihren Aufwand und ihre Kosten – leugnet.

Kapitel 4

Der immaterielle Vermögenswert „Bitcoin“ und die davon abgeleiteten „Kryptowährungen“ sind ein öffentliches System elektronischer, Zahlungen registrierender Bücher, die dazu bestimmt sind, wie gesetzliche Zahlungsmittel zu funktionieren. Das System wurde im Oktober 20081 vorgeschlagen und eingeführt, als die Immobilienblase platzte. Die Einführung begann im November 2008, als das System als Projekt auf der Webseite der Open-Source-Software Source Forge registriert wurde; die erste verfügbare Software für den Handel mit Bitcoins kam im Januar 2009 auf den Markt.2 Die ursprüngliche Spezifikation für Bitcoin wurde von „Satoshi Nakamoto“3 geschrieben, als Tauschsystem, das ein dezentralisiertes Netzwerk gleichrangiger Knoten verwendet, wobei einzelne Transaktionen – im Gegensatz zu elektronischen Schecks, Kreditkarten und anderen Formen elektronischen Geldtransfers – für ihre Autorisierung von keiner Bank abhängig sind. Kryptografische Währungen (Kryptowährungen) wie Bitcoin sind als elektronisches Gegenstück zu Bargeld gedacht. Sie schützen ihre Benutzer durch eine Kombination aus einer starken Verschlüsselung und gemeinsam genutzten Informationen über den Besitz der Währung: Sämtliche Transaktionen werden öffentlich in einem „Block“ aufgezeichnet, der Informationen darüber enthält, wer die Besitzer der gegenwärtig zirkulierenden Bitcoins sind. Im Gegensatz zu nationalen Währungen (gesetzlichen Zahlungsmitteln, die von nationalen Regierungen ausgegeben werden) sind Bitcoins hinsichtlich ihrer Menge (ihre Gesamtmenge wurde bei der Einführung auf 2,1 Millionen limitiert)4 und ihrer Produktionsrate („Schürfung“; engl. mining) begrenzt, und zwar dadurch, dass die Produktion neuer Bitcoins an ihre Verwendung in einem Tausch gekoppelt ist: Neue Bitcoins sind das Ergebnis der Überprüfung der verschlüsselten Daten, aus denen sich jede Transaktion zusammensetzt. Ein Hauptunterschied zwischen Bitcoins und den von nationalen Münzprägestätten ausgegebenen Fiat-Währungen ist der folgende: Sie existieren unabhängig von der Fähigkeit einer Regierung, Geld zu „drucken“.

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Dies ist eine Einschränkung, die ihnen durch den grundsätzlichen Ablauf des „Schürfvorgangs“ selbst auferlegt wird. Dies macht sie zu einer „digitalen Ware“, die dazu bestimmt ist, eine Mangelware zu sein, und zwar auf die gleiche Weise, wie materielle Güter wie Gold selten sind. Dieser Aspekt zog in den Jahren 2011 und 2012 Investitionen von Wertpapierhändlern und Aktienspekulanten an.5 Bitcoin schien eine „Hacker-Währung“ par excellence zu sein: Sie speichert die immaterielle Arbeit von Computern als Bitcoin und transformiert dabei das mechanische Verfahren, das die Grundlage des Digitalen ist, in ein für andere Arten von Produktion austauschbares Material. Während die zur Produktion von Bitcoins erforderliche Arbeit wesensmäßig immateriell ist (sie hat nichts mit materieller Herstellung zu tun, sondern verwendet stattdessen die aller digitalen Technologie gemeinsame semiotische Produktion), verbraucht sie dennoch Ressourcen6 – und zwar in den beiden Formen der von der Hardware selbst ausgeführten Rechenvorgänge sowie der zum Betrieb der Hardware erforderlichen Elektrizität – und geht nur aus bestimmten Arten digitaler Verarbeitung hervor. Bitcoins sind kein aus Rechenaktivität autonom hervorgehendes Produkt, sondern das erzielte Resultat genau bestimmter Handlungen. Während Bitcoin Aspekte der umfassenderen Internetstruktur nachahmt, ist es dennoch eine Währung und kann daher durchaus hinsichtlich seiner sozio-ökonomischen Struktur und Bedeutung betrachtet werden, getrennt von seinen technologischen Implikationen. Diese ideologischen Implikationen von Bitcoin zeigen sich, wenn man es zum Kontext der umfassenderen politischen Ökonomie in Beziehung setzt: Im Gegensatz zu historischen Währungen erlaubt Bitcoin, wie es von Nakamoto ursprünglich konzipiert wurde, eine perfekte Form der Überwachung ökonomischer Abläufe. Hierbei handelt es sich um ein spezielles Problem der Anonymität und des Datenschutzes, auf das man durch die Einführung von Bitcoin versucht hat einzugehen, wie Simon Barber, Xavier Boyen, Elaine Shi und Ersin Uzun in ihrer Diskussion über Bitcoin in Financial Cryptography7 angemerkt haben. Verschiedene frühe Realisierungen der ursprünglichen Bitcoin-Spezifikation, wie zum Beispiel BitcoinQt oder BtCoin, versuchen, dieses Problem zu lösen.8 (Bei anderen weit verbreiteten, alternativen Implementierungen – wie etwa Dogecoin, Maxcoin etc. – handelt es sich in der Hauptsache um Nebenformen, die durch

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finanzielle Spekulation mit Kryptowährungen gefördert werden, statt um technisch eigenständige Versuche, die Privatsphäre von Transaktionen wiederherzustellen.) Da es sich bei all diesen Kryptowährungen um eine im Entwicklungsstadium befindliche Technologie handelt und dieses Problem noch nicht gelöst wurde (wie Barber et al. in ihrer Analyse von 2012 angemerkt haben), konzentriert sich die folgende Diskussion auf den ursprünglichen Vorschlag, von dem diese Implementierungen abgeleitet wurden. Die Überwachung (durchgängige Kontrolle), die in die Spezifikationen dieser Währung selbst eingebettet ist, fasst die autoritären Dimensionen des globalen Kapitalismus – eine lückenlose Überwachung und Bewertung von früher nicht-kommerziellem Verhalten und nicht-kommerziellen Beziehungen – buchstäblich im Tauschsystem selbst zusammen. Diese Grundlage von „Bitcoin“ verleiht der dem Digitalen gemeinsamen immateriellen Arbeit eine greifbare „Form“ – in diesem Fall kristallisiert sie sowohl die aufgebrauchten Ressourcen (Elektrizität) als auch die aufgewendete Arbeit (die zum „Schürfen“ von Bitcoins erforderlichen Rechenzyklen) und versucht damit diese immaterielle Arbeit faktisch in einer digital abgeleiteten Form zu bewahren, die dann als Währung verwendbar ist, ähnlich wie auf Waren basierende Währungen in der Vergangenheit versucht haben, Arbeit in einer tauschbaren Form zu bewahren. Das in diesem Fall wesentliche Merkmal ist diese Umwandlung immaterieller Produktion (Semiose) in Bitcoins: die Extraktion dieser Bitcoins erfordert Rechenleistung, denn diese „Münzen“ sind in mathematischem „Erz“ – Gleichungen – enthalten, deren Lösung komplexe, prozessorintensive Arbeit erfordert, wie Simon Barber, Xavier Boyen, Elaine Shi und Ersin Uzun in ihrer 2012 veröffentlichten technischen Analyse „Bitter to Better – How to Make Bitcoin a Better Currency“ erklären: [D]ie Erzeugung neuer Bitcoins geschieht auf verteilte Weise in vorhersagbarem Umfang: die „Bitcoin-Schürfer“ lösen zum Generieren neuer Bitcoins mathematische Rätsel und dieser Vorgang ist mit der Verifizierung früherer Transaktionen eng verknüpft. Gleichzeitig können die Schürfer auch eine optionale Transaktionsgebühr für ihre Bemühung um die Überprüfung besagter Transaktionen kassieren. Dies gibt den Benutzern klare wirtschaftliche Anreize, freie Rechenzyklen

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in die Überprüfung von Bitcoin-Transaktionen und die Erzeugung neuer Bitcoins zu investieren. [. . .] Der Bitcoin-Geldvorrat wird größer, da jeder erzeugte Block eine spezielle Generierungstransaktion (ohne expliziten Input) enthalten kann, der dem Blockerzeuger einen zeitabhängigen Betrag für seine Mühe zahlt (derzeit 50 Bitcoins, mit stark abnehmender Tendenz). Der Umfang der Block- und damit der Gelderzeugung ist begrenzt durch einen Arbeitsnachweis von adaptiver Schwierigkeit, der bemüht ist, eine netzwerkweite Erzeugungsrate von einem Block pro 10 Minuten aufrechtzuerhalten. Die Verifizierung von Bitcoin-Transaktionen ist demnach ein lukratives Wettrennen, das zwar allen offen steht, dessen Preis jedoch der Einsatz eines hohen Rechenaufwands ist.9 Der „Block“ ist die vollständige, öffentlich zugängliche Auflistung sämtlicher bestätigter Transaktionen; jede „Münze“ und ihr Besitzer sind in einem Block enthalten. Werden neue Bitcoins „geschürft“, werden sie dieser Kette hinzugefügt. Die resultierenden Münzen sind daher ein Produkt dieser Arbeit. Sie zeigen an, dass die Arbeit zu ihrer Produktion aufgewendet wurde. Dieses Speichern früherer Arbeit stellt digitale Produkte in dieselbe Kategorie wie jede andere Ware; ihre designierte Funktion als Währung folgt aus ihrer Anbindung an die universale Grundlage der digitalen Produktion, die immaterielle Aktivität von Computern, die in einer Warenform als beziehungsweise durch Bitcoins verdinglicht ist. Worauf diese Währung allerdings unweigerlich unsere Aufmerksamkeit lenkt, ist nicht der Unterschied zwischen Renten/Fiat-Währungen und denjenigen, die durch materielle Güter „abgesichert“ sind, sondern sind gegenwärtige Versuche, die digitale oder immaterielle Arbeit autonomer Systeme als ein emergentes Äquivalent materieller Produktion als immaterielle Physikalität zu verdinglichen. Im Gegensatz zur materiellen Grundlage von Waren, auf der die traditionellen Währungen basieren, die aus einem wertvollen Material (historisch Gold oder Silber) bestehen – welches gleichzeitig ein materielles Gut an sich selbst darstellt und sowohl zum Tausch verwendet werden kann als auch einen Gebrauchswert für die Produktion anderer Waren besitzt –, enthalten Bitcoins keinen Gebrauchswert.

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Dieses Produkt immaterieller Arbeit kann, nachdem es erstellt („geschürft“) wurde, nicht für die Produktion anderer Waren verwendet werden: Im Gegensatz zu anderen Produkten immaterieller Arbeit besteht der einzige Zweck von Bitcoins darin, eine Währung zu sein. Bitcoins haben im Gegensatz zur materiellen Warenbasis historischer Währungen nur eine Währungsfunktion. Als Ware haben sie nur als Tauschsymbol entweder für andere Währungen oder durch gesellschaftlichen Tausch einen Wert, wobei – dass sie ein Tauschsymbol sind – davon abhängt, ob sich beide Parteien auf ihren Wert einigen: Dies ist die gleiche Verdinglichung gesellschaftlicher Beziehungen, die in einer Fiat-Währung zum Ausdruck kommt. Es gibt für Bitcoins keine andere als die Währungsfunktion, und folglich hängt ihr Wert von gesellschaftlicher Konvention ab. Gesellschaftliche Beziehungen sind die Grundlage sämtlicher Tauschsymbole, ob sie nun auf einer produzierten Ware oder der Verdinglichung dieser Beziehungen (wie im Fall von Fiat-Währungen) basieren. Die „Transaktionsgeschichte“, die ein wesentlicher Teil jedes einzelnen Bitcoins ist, erlaubt die Verfolgung und Quantifizierung (Verdinglichung) dieser gesellschaftlichen Beziehungen als der Währung selbst. Daher nimmt Bitcoin eine Zwischenposition zwischen der historischen, materiellen Ware, die als universales Tauschäquivalent fungiert, und der rein gesellschaftlichen Verdinglichung von Fiat-Währungen ein. Was Fiat-Währungen von Bitcoin unterscheidet, ist, dass Bitcoin auf apriorische Weise künstlich eingeschränkt ist. Im Gegensatz zu Fiat-Währungen, die jederzeit bewertet werden können und so funktional von unbegrenztem Wert sind, und historischen Währungen, die über eine materielle Warenbasis verfügen, wobei der Wert über einen durch Produktion erzwungenen Mangel begrenzt ist, simuliert Bitcoin Knappheit bei dem Versuch, Wert zu produzieren. Die Knappheit materieller Güter wird auf zwei Weisen simuliert: durch (1) den algorithmischen Charakter ihres Schürfvorgangs, der der Erzeugung von Bitcoins physische Schranken auferlegt; (2) durch eine absolute Obergrenze für die Gesamtzahl der potenziell verfügbaren „Münzen“ (2,1 Millionen). Mit Ausnahme ihrer (künstlichen) Knappheit gleichen Bitcoins Fiat-Währungen insofern, als sie für die Sicherstellung ihres Wertes von einer verdinglichten gesellschaftlichen Beziehung abhängen: Sie sind nicht gleichzeitig ein Tauschsymbol und eine Ware an sich.

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Diese Fundierung in einer gesellschaftlichen Beziehung ist nicht das, was Satoshi Nakamoto im ursprünglichen Vorschlag für Bitcoin als das „auf Vertrauen basierende Modell“ bezeichnete. Am Anfang von Nakamotos Spezifikation steht die Erörterung existierender Finanzleistungen als auf einem internetbasierten Handel beruhend, der Geldinstitute verwendet, die er als „vertrauenswürdige dritte Parteien“ bezeichnete, als Mittler in einem Zahlungssystem. Das zugrunde liegende „Problem“, das Nakamoto als raison d’être für Bitcoin bezeichnete, insbesondere, dass „kein Mechanismus existiert, um Zahlungen über einen Kommunikationskanal ohne eine vertrauenswürdige Partei abzuwickeln“10, wurde aus Nakamotos Vorschlag für Bitcom faktisch nicht entfernt: Was benötigt wird, ist ein elektronisches Zahlungssystem, das statt auf Vertrauen auf einem kryptografischen Beweis basiert und es beliebigen zwei Parteien erlaubt, eine Transaktion miteinander direkt durchzuführen, ohne einer vertrauenswürdigen dritten Partei zu bedürfen. Transaktionen, die – rechnerisch betrachtet – praktisch nicht umkehrbar sind, würden Verkäufer vor Betrug schützen, und routinemäßige Hinterlegungsmechanismen könnten sich zum Schutz von Käufern leicht realisieren lassen. In diesem Aufsatz schlagen wir eine Lösung für das Problem der doppelten Ausgabe vor, unter Verwendung eines verteilten, gleichberechtigten Zeitstempelservers zur Generierung eines rechnerischen Beweises der chronologischen Ordnung der Transaktionen. Das System ist sicher, solange vertrauenswürdige Knoten gemeinsam mehr CPU-Leistung kontrollieren als irgendeine kooperierende Gruppe von Angreiferknoten.11 Die in Nakamotos Spezifikation beschriebenen „Knoten“ sind die Transaktionen verarbeitenden Computersysteme, die bei diesem Vorgang neue Bitcoins generieren. Die abgelehnte „vertrauenswürdige dritte Partei“ – das Bankensystem – unterliegt verschiedenen Formen staatlicher Aufsicht, eingeschränkt durch Gesetze, die Betrug verhindern sollen. Sie bietet eine digitale „Papierspur“ der fraglichen Transaktionen und verfügt bereits über ein vorhandenes System zum Schutz der Kunden. Der vorgeschlagene Ersatz, Bitcoin, verfügt über kein solches System. Diese Transformation ist

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ironischer Natur: dass die „zuverlässige dritte Partei“, das globale Bankensystem, an sich selbst nicht vertrauenswürdig ist, ist der Grund für die Vielzahl gesetzlicher und verfahrensmäßiger Überwachungmechanismen. Statt auf diese stützt sich Nakamotos Design für Bitcoin auf digitale Kryptographie und auf Einschränkungen der Rechenleistung der Mehrzahl der Benutzer, um die Gültigkeit für ein System sicherzustellen, in dem die vertrauenswürdige dritte Partei rein technologisch sein kann – der Zeitstempelserver –, statt auf eine Bank, die bereits durch Gesetze eingeschränkt ist. Die einzelnen Schritte zum Betrieb des Netzwerks sind die folgenden: 1. Neue Transaktionen werden an alle Knoten gesendet. 2. Jeder Knoten sammelt neue Transaktionen in einem Block. 3. Jeder Knoten arbeitet daran, einen schwierigen Arbeitsbeweis für seinen Block zu finden. 4. Wenn ein Knoten einen Arbeitsbeweis findet, sendet er den Block an alle Knoten. 5. Knoten akzeptieren den Block, wenn sämtliche Transaktionen darin gültig sind und nicht bereits ausgegeben wurden. 6. Knoten drücken ihre Akzeptanz des Blocks dadurch aus, dass sie an der Erstellung des nächsten Blocks in der Kette arbeiten, wobei sie den Hashwert des akzeptierten Blocks als den vorigen Hashwert verwenden. Knoten halten stets die längste Kette für die richtige, und sie arbeiten fortwährend daran, sie zu verlängern. Wenn zwei Knoten gleichzeitig verschiedene Versionen des nächsten Blocks senden, kann es vorkommen, dass einige Knoten den einen oder den anderen zuerst empfangen. In diesem Fall bearbeiten sie den, den sie als ersten empfangen haben, speichern jedoch den anderen Zweig für den Fall, dass er länger wird. Die Verbindung wird abgebrochen, wenn der nächste Arbeitsbeweis gefunden wird und einer der Zweige länger wird; die Knoten, die auf dem anderen Zweig arbeiteten, wechseln dann zum längeren.12 Die „Knoten“ in dieser Beschreibung sind die mit der Verarbeitung von Transaktionen beschäftigten Computer; die Blocks sind die chiffrierten Transaktionsschlüssel, die die Identität der beiden Parteien des BitcoinTauschs bezeichnen: Es ist ein automatisiertes System, das konstruiert wurde, um ohne jegliche menschliche Interaktion zu funktionieren und

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keiner menschlichen Beaufsichtigung zu bedürfen. Dieses System ist ein Beispiel für das Gesetz der Automation in Aktion, das dabei ein mechanisches Verfahren erstellt, um existierende Systeme der Finanzzirkulation zu ersetzen. Als solches löst es das Problem der „vertrauenswürdigen dritten Partei“ oder des Banksystems nicht. Es setzt eine Sammlung anderer „dritter Parteien“, die keinen existierenden rechtlichen Einschränkungen unterliegen oder Schutz bieten (die autonomen Knoten) an die Stelle eines Systems, das auf menschlicher Überwachung und Kontrolle basiert. Es ist evident, dass diese „Knoten“ dennoch von Menschen gesteuert werden, da sie von Menschen im Austausch gegen eine Belohnung – die neu geschürften Bitcoins – eingerichtet und unterhalten werden. Diese Verwendung eines technischen Systems (des Zeitstempelservers) anstelle einer Institution, bei der es ein etabliertes Verfahren der Wiedergutmachung von Schäden und der Behebung von Problemen gibt – d. h. einen Regressanspruch bei Betrug –, ist die Aura des Digitalen, die die Unterstellung technologischer Überlegenheit über etablierte, materielle (und historische) Lösungen noch verstärkt. Die Vertrauenswürdigkeit dieses produktiven Systems hängt von einem kapitalistischen Anreiz ab: dem durch den „Schürfvorgang“ erzeugten Profit. Der Bitcoin-Vorschlag bewirkt mehr, als aus der Zirkulation von Tauschwerten lediglich die menschliche Überwachung und die rechtlichen Einschränkungen zu eliminieren. Es ist ein Versuch, vorhandene, formal organisierte Rechtssysteme, die für alle Parteien der Transaktion – den Käufer, den Verkäufer und die Bank – Schutz bieten, durch ein System zu ersetzen, das auf der Annahme beruht, die einzigen in die Transaktion involvierten Parteien, die eines Schutzes bedürfen, seien die Verkäufer: Dieses strukturelle Vorurteil treibt die Verdinglichung derselben kapitalistischen Ideologie weiter, aus der auch die Verwaltung digitaler Rechte hervorgeht, und zwar in der Transformation von allem, was digitalisiert werden kann, in digitale Form (das universale Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis). Die einzigen bedeutsamen Parteien in einem solchen System sind die Besitzer (Verkäufer), deren Entscheidungen darüber, wie der Zugriff begrenzt werden kann, in der Verwaltung digitaler Rechte selbst reale Form annehmen. Bitcoin entspricht der Verdinglichung dieser Interessen auf der Ebene des Tauschs selbst. Dieser Aspekt von Nakamotos

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Vorschlag hat dazu beigetragen, dass graue und schwarze Märkte (wie etwa Silk Road), die gleichberechtigte Tauschgeschäfte13 verwenden, wo bezahlt zu werden ein Problem sein kann, sich ihn zu eigen gemacht haben. (Die Verwendung von Bitcoin für die treuhänderische Verwaltung bei der ursprünglichen Silk Road14 widerspricht dem Ziel von Bitcoin, Banken oder andere Mittelsmänner zu umgehen.) Diese Übernahme von Bitcoin ist ironisch, da es eine Währung ist, die wesentlich die Möglichkeit enthält, sämtliche Besitzer und Transaktionen nachzuverfolgen. Im Gegensatz zu materiellen Währungen sämtlicher Art, und in gewisser Hinsicht anders als vorhandene Tauschsysteme, eliminiert Nakamotos Beschreibung von Bitcoin die Kaufvorgängen gewährte Privatheit: Wir definieren eine elektronische Münze als eine Kette von digitalen Signaturen. Jeder Besitzer überträgt die Münze auf den nächsten, indem er einen Hashwert der vorigen Transaktion und des öffentlichen Schlüssels des nächsten Besitzers digital signiert und diese dem Ende der Münze hinzufügt. Ein Empfänger der Bezahlung kann die Signaturen verifizieren, um die Kette der Besitzer zu verifizieren.15 Jeder Transfer von Bitcoin auf die in Nakamotos System entworfene Weise bietet die Möglichkeit, die wirtschaftliche Aktivität und die ökonomischen Verbindungen jedes Bitcoin-Benutzers zu verfolgen, da – wie Barber et al. anmerken – sämtliche Bitcoins ein öffentliches Wissen darstellen.16 Es ist schwer, sich als Überwachungsapparat eine perfektere Methode vorzustellen, mit der sich verfolgen lässt, wie sich Bürger verhalten und was sie tun, als Transaktionsverläufe mit der Währung selbst zu verbinden. Selbst gleichberechtigte Tauschvorgänge, die bei einer traditionellen Währung keiner Kontrolle zugänglich wären, werden Gegenstand strengster Überprüfung. Indem Bitcoin bestrebt ist, die „dritte Partei“ (eine Bank oder Regierung) aus dem Tauschvorgang zu eliminieren, zementiert das System stattdessen die Autorität, die es zu ersetzen versucht. Es spiegelt diese­ Ironie wider, dass sich graue und schwarze Märkte, die das globale Bankensystem umgehen wollten, Bitcoin schon früh zu eigen machten: Die Anonymität von „Bargeld“ ist grundsätzlich eliminiert zugunsten einer perfekten ökonomischen Überwachung sämtlicher Transaktionen. Die

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vollständige Sichtbarkeit der Bitcoin-Transaktionen erlaubt die Verfolgung sämtlicher informaler Assoziationsnetzwerke (sämtlicher Werttauschvorgänge), an der eine bestimmte Bitcoin beteiligt ist. Auf diese Weise erhalten Händler demografische Informationen über ihre Kunden (und jeden anderen, der über die Rechenleistung verfügt, die erforderlich ist, um die Kryptographie mit Metadaten über Assoziationsnetzwerke zu durchdringen), ohne irgendeine Möglichkeit anzubieten, sich der Verletzung der eigenen Privatsphäre durch den Verkäufer (oder die Regierung) „auf eigenen Wunsch zu entziehen“. Verbunden mit einem allgegenwärtigen Überwachungsapparat einer Regierung ermöglicht Bitcoin eine einem Trojanischen Pferd ähnliche Überwachung von inoffiziellen Märkten, die besonders außerhalb der standardmäßigen Tauschsysteme existieren und die ihrem Wesen gemäß versuchen, anonym zu sein. Diese Überwachungsfunktion von Bitcoin trug dazu bei, Dread Pirate Roberts (Ross Ulbricht) über die ursprüngliche Silk Road zu überführen.17 Der wertsteigernde Prozess der kapitalistischen Expansion, der durch digitale Technologien ermöglicht wird, ist anhand der für Bitcoin wesentlichen Überwachungskomponente unmittelbar erkennbar. Eine weitere Ironie ergibt sich aus Bitcoins fehlender Interaktion mit dem formalen Banksystem: Bitcoin verfügt über kein formales Wiedergutmachungssystem, wenn sich Probleme bezüglich des Münzenbesitzes, der Gültigkeit von Transaktionen etc. ergeben, und zwar genau deshalb, weil es sich außerhalb etablierter gesetzlicher Rahmen befindet. Indem es diese „private“ Währung außerhalb der gesetzlichen und historischen Rahmen der staatlichen Regulierung und Verwaltung von Zahlungsmitteln schafft, ist Bitcoin eine ideologische Verdinglichung des globalen Kapitalismus und sollte als ein Werkzeug erkannt werden, dessen Ausrichtung an autoritären Werten dadurch maskiert wurde, wie sich die Ideologie der Automation mit der Aura des Digitalen überschneidet: Statt eine „freie“ oder „unabhängige“ Form von Geld zu sein, die nationale Grenzen überschreitet, ist es eine Technologie der Kontrolle, die mit globalen Interessen an der ökonomischen Überwachung und der Kontrolle des Verhaltens und der Zusammenhänge des Verhaltens der Kunden in der realen Welt verbunden ist. Dass bei der gegenwärtigen Umsetzung und Verwendung die systemeigene Überwachung aufgrund der Verwendung von zwischengeschalteten

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„Digital Wallets“18 nur schwer durchzuführen ist, eliminiert nicht das künftige Potenzial. Es ist dieses integrale System der Überwachung der zwischen Individuen ablaufenden Transaktionen – insbesondere da das gegenwärtige System die Übertragung sämtlicher Bitcoins in eine Digital Wallet erzwingt, wobei eine Rückkehrtransaktion (Wechsel) bereitgestellt wird –, was für jede Transaktion (und ihren Wert) eine nachweisbare Verbindung erstellt. Dieser Vorgang bettet außerdem in jede Transaktion die öffentlichen Schlüssel für beide Parteien ein und ermöglicht damit weiterhin die Zuordnung von Schlüsseln zu bestimmten Individuen, und zwar selbst bei zufällig generierten öffentlichen Schlüsselkomponenten. Nakamoto gibt den Verlust der Privatsphäre zu, der darin besteht, wie Bitcoin seine Transaktionen als Teil der Währung selbst aufzeichnet. Nakamotos „Lösung“ lässt jedoch die Möglichkeit, den gesamten Transaktionsverlauf zu „kennen“, unangetastet: Sie besteht lediglich fern der „Öffentlichkeit“, die die Währung verwendet: Das traditionelle Bankensystem erzielt eine Stufe der Privatheit, indem es den Zugriff auf Informationen auf die involvierten Parteien und die vertrauenswürdige dritte Partei begrenzt. Die Notwendigkeit, sämtliche Transaktionen öffentlich anzukündigen, schließt diese Methode aus; doch lässt sich Privatheit durch die Unterbrechung des Informationsflusses an anderer Stelle dennoch aufrechterhalten: indem öffentliche Schlüssel anonym gehalten werden. Die Öffentlichkeit kann zwar sehen, dass jemand einem anderen einen Betrag übersendet, jedoch ohne jegliche Information, die die Transaktion mit irgendjemandem verbindet. Dies gleicht dem Grad der Informationen, der von Börsen freigegeben wird, bei denen der Zeitpunkt und der Umfang einzelner Handelsgeschäfte, der „Börsen-Ticker“, öffentlich gemacht werden, ohne mitzuteilen, wer die Geschäftsparteien sind. Als zusätzliches Zugriffsschutzsystem sollte für jede Transaktion ein neues Schlüsselpaar verwendet werden, um zu verhindern, dass sie mit einem gemeinsamen Server in Verbindung gebracht wird. Bei Transaktionen mit mehrfachem Input lässt sich dennoch nicht vermeiden, dass solche Verbindungen in gewissem Umfang hergestellt werden können. Diese Transaktionen zeigen notwendigerweise an, dass ihre

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Inputs demselben Besitzer gehörten. Das Risiko besteht darin, dass – wenn der Besitzer eines Schlüssels bekannt wurde – die Verbindung andere Transaktionen offenbart, die demselben Besitzer gehörten.19 Die einzige Verbindung, um die es in Nakamotos Vorschlag geht, ist eine „öffentliche“; allerdings ist unklar, wie sich diese „Öffentlichkeit“ zusammensetzt. Transaktionen mit mehrfachem Input – etwa die Rücksendung von „Wechselgeld“ bei Kaufvorgängen, in die ein „Digital Wallet“ involviert ist – sowie wiederholte Käufe über einen längeren Zeitraum und bei denselben Händlern bergen beide die Gefahr, dass die Privatsphäre, so wie Nakamoto sie implementiert hat, aufgehoben werden kann. Wie Fergal Reid und Martin Harrigan in ihrer Analyse der Anonymität in der Umsetzung von Bitcoin hervorheben: Mit geeigneten Tools kann die Aktivität bekannter Benutzer im Detail beobachtet werden. Dies lässt sich bereits mit Hilfe einer passiven Analyse bewerkstelligen. Aktive Analysen, bei denen eine interessierte Partei möglicherweise „markierte“ Bitcoins einsetzen und mit anderen Benutzern kooperieren kann, können noch mehr Informationen aufdecken. Außerdem sind wir davon überzeugt, dass umfangreiche zentralisierte Dienste, wie die Tauschbörsen und Guthaben-Services, in der Lage sind, Benutzeraktivitäten im beträchtlichen Umfang zu erkennen und zu verfolgen.20 Die Möglichkeit, die Spur von Benutzern zu verfolgen, ist in der Umsetzung von Bitcoin wesentlich enthalten, und sie ist von der Art, dass private Transaktionen tatsächlich potenziell vollkommen öffentlich sind, trotz der Verwendung von Kryptografie. Die Verfügbarkeit dieser Informationen für Verkäufer ist offensichtlich selbst bei den „Schutzvorrichtungen“ gegeben, die anfänglich vorgeschlagen wurden. Das Ergebnis ist ein System, in dem es keine Privatsphäre gibt – mit Ausnahme des Schutzes vor beiläufiger Einsichtnahme. Die vollständige Verfügbarkeit von persönlichen Daten für den Verkäufer ist nicht lediglich eine Möglichkeit: Angesichts der Organisation des Systems und der Einbettung des „persönlichen Besitzverlaufs“ in Bitcoin ist sie höchst wahrscheinlich.

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Die Schlussfolgerung für das von Nakamoto vorgeschlagene Finanztauschsystem löst die von ihm erkannten Probleme nicht – die Frage des „Vertrauens“. Stattdessen fügt sie diesen Problemen noch die Möglichkeit hinzu, dass jeglicher Datenschutz in geschäftlichen Aktivitäten vollständig aufgelöst wird. Die Aussage: „Wir haben ein System für elektronische Transaktionen vorgeschlagen, ohne uns dazu auf Vertrauen stützen zu müssen“, mit dem Nakamotos Schlussfolgerung beginnt, ist offensichtlich unzutreffend. Das System hängt nicht nur weiterhin von einer Verdinglichung einer gesellschaftlichen Beziehung als Währung ab, wie dies bei den Fiat-Währungen der Fall ist, die es angeblich ersetzt. Es erfordert darüber hinaus weiterhin, dass die Benutzer der Währung einer „dritten Partei“ vertrauen, die in die Transaktionen nicht verwickelt ist, während es gleichzeitig seinem Wesen nach ein Aufgeben der Privatsphäre verlangt – sämtliche Transaktionen, die von Bitcoins Gebrauch machen, werden in den „Münzen“ selbst nachverfolgt. Die Annahme, dass diese Informationen geschützt und geheim bleiben werden, ist schon auf den ersten Blick absurd angesichts sowohl der Geschichte der Einschränkungen, die die Verwaltung digitaler Rechte digitalen Medien und digitaler Software auferlegt, als auch der Tatsache, dass selbst die robustesten Verschlüsselungstechnologien, wenn neue, leistungsstärkere Computer allgemein verfügbar werden, häufig an ihre Grenzen kommen werden. In Bitcoin offenbart sich eine radikale Verdinglichung kapitalistischer Ideologien und Wertsteigerungszwänge innerhalb beziehungsweise in Form der Bitcoin-Technologie selbst. Die Auflösung der Privatsphäre in Bitcoin ist nicht das „Problem“: Sie ist die logische Konsequenz der Forderungen nach Wertsteigerung, die der Expansion des digitalen Kapitalismus in (ehemals) gesellschaftliche Bereiche wesentlich ist. Die Transformation jener gesellschaftlichen Tauschvorgänge in die Währung selbst (neue Bitcoins werden durch den Austausch vorhandener Bitcoins „geschürft“) ist ein direkter Ausdruck dieser Expansion: die Aufwertung gesellschaftlicher Aktivitäten – wie etwa das Unterhalten von Freundschaftskreisen, das Durchstöbern einer Buchhandlung, oder das Einkaufen ohne Erwerb – wird zu wertvollen Daten, indem die digitale Technologie diese Aktivitäten zu Werten macht; Bitcoin ist die konsequent zu Ende geführte Aufwertung der Autorschaft, die in den sozialen Medien bereits gegeben ist. Die­

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Schaffung einer Währung aus wirtschaftlicher Aktivität selbst ist die Anwendung derselben systematischen Verschiebung, die sich auf die Erzeugung von Wert durch semiotische Produktion statt durch materielle Herstellung konzentriert.

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Die Aufwertung des Autors Das Digitale übersetzt gesellschaftliche Aktivität in Warenformen. Die Schaffung „sozialer Netzwerke“ ist eine Kampfansage an traditionelle Auffassungen von intellektuellem Eigentum, und diese Veränderung verdeutlicht, wie die Rechte, die man dem Besitz an Informationen zuordnet, durch die Entwicklung der digitalen Technologie infrage gestellt werden. Es ist eine banale Feststellung, dass soziale Netzwerke die Privatsphäre verletzen und dadurch überleben, dass sie die Informationen ihrer Mitglieder verwenden, um Werbeanzeigen zu verkaufen. Die Schaffung von kostenlosen Diensten, die es jedem, der darauf zugreifen kann, ermöglichen, zum „Autor“ zu werden, signalisiert eine Entwicklung fort vom produktiven menschlichen Handeln hin zur automatisierten Überwachung (durchgängigen Beobachtung) der Sammlung, Zusammenstellung und des Abrufs von Daten. Dieser Wandel spiegelt eine grundsätzliche Verschiebung in unserem Verständnis sowohl von Identität als auch von Autorschaft wider – die auch Implikationen für die Idee intellektuellen Eigentums hat. Die Verwandlung von Nicht-Arbeit (der verschiedenen Aktivitäten in „sozialen Medien“ und im „Networking“) in eine neue Art automatisierter immaterieller Produktion durch den digitalen Kapitalismus deutet eine neue Form der Autorschaft an, die von den geschichtlich paarweise auftretenden Spielarten der Autorschaft abgeleitet ist – der Rolle und des Status des Autors: Es gibt sowohl eine empirische (oder naive) als auch eine kritische Interpretation der Begriffe „Autor“ und „Autorschaft“. Mit der digitalen Technologie taucht eine dritte Konzeption von Autorschaft auf – der digitale Autor: die Aufwertung des besonderen gesellschaftlichen Verhaltens eines Individuums, eines „Autors“, der durch die Leistungsfähigkeiten digitaler Computer bei der Verwaltung und Aufzeichnung von Daten entstanden ist. Das Konzept der „Privatsphäre“ ist für diese transformierende Aufwertung daher vollkommen fremd. Die Verletzung der Privatsphäre ist für die Verwandlung einer Aktivität in eine Ware wesentlich: Dies ist der

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Grund, warum soziale Netzwerke die Privatsphäre ihrer Mitglieder verletzen und dies sogar tun müssen. Damit Unternehmen wie Facebook oder Google funktionieren können, müssen sie so viele Informationen über ihre Benutzer sammeln wie möglich, um Verkaufsangebote besser auf die individuellen Interessen und Vorlieben jedes Einzelnen ihrer Mitgliedschaft zuschneiden zu können. Googles anfängliche Forderung, dass die Benutzer von „Google +“ ihre realen Namen verwenden, statt anonym zu bleiben, spiegelt den Wunsch wider, Einzelpersonen mit der Datenbank der über sie gesammelten Informationen direkter und enger zu verbinden. Die Entschlossenheit, zu der man hinsichtlich dieser transformativen Verwendung der vorhandenen, aufgezeichneten Arbeit eines anderen gelangt ist, ist schon einmal in Erscheinung getreten: im Kampf zwischen Musikern und Radiosendern über die Ausstrahlung aufgezeichneter Musik. Bei musikalischen Auftritten werden die Darsteller theoretisch durch verschiedene Lizenzverfahren kompensiert, womit sie die unbezahlte Aufwertung ihrer Arbeit durch Radiosender vermeiden. Auf eine Lösung für diese Probleme, die durch digitale Technologien aufgeworfen werden, wartet man noch immer. Die Frage der „Autorschaft“ bekommt in dem Maße einen neuen Stellenwert, in dem sich der (historische) Kapitalismus im Zuge seiner Wandlung zum digitalen Kapitalismus in früher rein gesellschaftliche Bereiche ausbreitet. Ob man die Bedeutung dieses neuen digitalen Autors erfasst, hängt davon ab, ob man erkennt, auf welche Weise sie sowohl die empirischen als auch die kritischen Konzepte von „Autorschaft“ überschreitet. Die empirische Verwendung von „Autor“ ist unproblematisch: Ihr Ziel ist sowohl Einfachheit als auch Transparenz, wobei sie eine direkte Verbindung zwischen dem Text und demjenigen annimmt, der dafür verantwortlich ist. Es ist eine auf Produktion basierende ontologische Verbindung. Für dieses Verständnis ist der Autor derjenige, der durch die „Verfasserzeile“ als solcher anerkannt wird: die Person, die für die Existenz eines bestimmten Textes verantwortlich ist. Verbunden mit einer ebenso einfachen und transparenten Konzeption von „Originalität“, bringt dieses Verständnis als negative Form des Autors den „Plagiator“ hervor – denjenigen Autor, der den Anspruch auf Autorschaft bezüglich von anderen hervorgebrachter Werke erhebt. Die Verwaltung digitaler Rechte formalisiert diese Interpretationen

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in Form technologischer Einschränkungen. Für die empirische Interpretation führen der „Pirat“ ebenso wie der Plagiator (der „falsche Autor“) Handlungen aus, die den empirischen Begriff der Autorschaft dadurch etablieren und unterstützen, dass sie die erhobenen Ansprüche implizit übernehmen. Dieses empirische Verständnis der Autorschaft ist das am weitesten verbreitete. Es ist selbst in der kritischen Interpretation intuitiv erkennbar. Diese Interpretation bezieht sich für ihre Argumente zugunsten einer komplexeren, problematischeren Sicht der Autorschaft auf Stellen in den Schriften von Roland Barthes, Michel Foucault, Umberto Eco et al., von denen jeder eine Variante der Autorschaft vorschlägt, die den Status und die Bedeutung des Autors bei der Ermittlung der Bedeutung des Textes – jedoch nicht seiner Produktion – infrage stellt. Das kritische Verständnis ist komplex und sieht „Autorschaft“ als problematisch an. Diese kritische Konzeption verwischt die Linien zwischen einem Autor und einem anderen, weil sie gemeinsame Ideen teilen etc., die als allgemeiner (indexikalischer) Zustand von Sprache und Bedeutung vorgeschlagen wurden; es ist eine semiotisch-epistemologische Zugangsweise. Dadurch, dass sie Vorschläge in Bezug auf eine Vermischung der empirischen Version des Autors und des „falschen Autors“ (des Plagiators) vorbringt, verschiebt die kritische Sicht den Nachdruck auf den „Leser“ und die Interpretation des „Textes“, wie Roland Barthes in seinem Essay Der Tod des Autors deutlich macht: Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. Die Einheit eines Textes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt – wobei dieser Zielpunkt nicht mehr länger als eine Person verstanden werden kann. Der Leser ist ein Mensch ohne Geschichte, ohne Biographie, Psychologie. Er ist nur der Jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren vereinigt, aus denen sich das Geschriebene zusammensetzt.1 Seine kritische Sicht der Autorschaft hebt die strukturellen Aspekte der Sprache und der Kultur hervor, die das Konzept des Autors als einer bestimmten Interpretation, die in Bezug auf einen Text hervorgebracht wird,

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erzeugt. Was Barthes unter einem Leser versteht, „ist nur der Jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren vereinigt, aus denen sich das Geschriebene zusammensetzt.“ Dieses Konzept der Autorschaft, statt eine apriorische, die Bedeutung festlegende Figur zu sein, taucht aus der Beziehung zwischen einem bestimmten Text und seinem Kontext auf. Diese Umkehrung der Beziehungen ist eine Verlagerung der allgemeinen Bedeutung von „Autor“ als demjenigen, der die Bedeutung festlegt, auf den Deutenden. Die Wirkungsmacht des Autors bei der Schaffung der Bedeutung eines Textes verschiebt sich auf Handlungen des Deutenden. Die Bezeichnung „Autor“ wird zu einer erfundenen (interpretierten) Rolle, die sich daraus ergibt, wie der „Leser“ mit dem Text umgeht. Dies ist die Bedeutung von Foucaults Autorfunktion.2 Diese kritische Sicht des „Autors“ ist der empirischen allerdings nicht entgegengesetzt. Die Verschiebung der Bedeutungen eines Textes vom Autor auf den „Leser“ in Barthes’ Der Tod des Autors verwirft die ontologische Beziehung des empirischen Autors zum Text nur scheinbar. Es ist ein radikal anderes Verständnis des Begriffs „Autor“. Das, worauf sich die Analyse Barthes’ konzentriert, ist nicht die physische, materielle Objektnatur eines bestimmten Textes, sondern die Zuschreibung von Bedeutung zu diesem Text. Folglich ist Barthes’ „Leser“ erkenntnistheoretisch und damit mit dem empirischen (ontologischen) Begriff des „Autors“ kompatibel. Diese Verschiebung ist eine Frage der Bedeutung, nicht der Produktion. Während die kritischen und empirischen Interpretationen sich wechselseitig nicht ausschließen, führt ihre Verwechslung zu einer interpretativen Verwirrung, wenn Roland Barthes den Autor für „tot“ erklärt. Diese Behauptung ist zumindest teilweise rhetorisch, da sie eine Verschiebung der Fragestellung von der einmaligen, beabsichtigten Bedeutung, die durch ein Rekurrieren auf einen Autor aufgezwungen wird, zu einem offenen Bereich möglicher Interpretationen und Herangehensweisen signalisiert, die mit verschiedenen Ergebnissen auf denselben Text angewendet werden könnten. Dieser interpretative Bereich legt einen Informationsraum wie den „Zustand umfassender Kenntnis“ nahe, in dem mehrere interpretierte Bedeutungen auch dann koexistieren können, wenn sie sich gegenseitig ausschließen.

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§ 5.1 Bei Roland Barthes’ Einsicht, dass „alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, [in den Leser eingeschrieben werden], ohne dass ein einziges verloren ginge“, könnte es sich um eine exakte Beschreibung des rekombinatorischen Vorgangs (Collage, Montage, Appropriation) handeln, bei dem die Zitate selbst explizite, physische Reproduktionen ihrer Quellen sind. Statt die Autorschaft zu problematisieren, verdinglicht diese Methodologie sie und unterstützt den wertsteigernden Vorgang, durch den Autoren selbst zu einer Ware werden: Die Verwandlung in Material für Manipulation verdinglicht ihre Quelle, wodurch nicht die Interpretation des ursprünglichen „Textes“, sondern seine Physikalität hervorgehoben wird. Barthes’ Akzentverschiebung geht über Michel Foucaults Beobachtungen zum Auftauchen einer ontologischen Sicht der Autorschaft hinaus: Texte, Bücher, Reden haben wirkliche Autoren (die sich von mythischen Personen und von den großen geheiligten und heiligenden Figuren unterscheiden) in dem Maße, wie der Autor bestraft werden oder die Reden Gesetze übertreten konnten.3 Rekombinierende Verfahren konzentrieren sich auf Verstöße gegen Eigentum, statt sich auf Verstöße gegen den Diskurs zu konzentrieren. Die Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem „Sampling“ von Musik bestärken diese Erkenntnis. Die Mitverantwortung der kritischen Sichtweise für den Aufwertungsprozess leitet sich vom Unterschied zwischen den erkenntnistheoretischen (kritischen) und ontologischen (naiven) Herangehensweisen ab und wirkt sich auf das Verständnis von Autorschaft aus. Während das empirische Verständnis sich so auswirkt, dass es die Autorschaft begrenzt und einschränkt, dient das kritische Verständnis seiner Erweiterung, und diese Erweiterung ist erforderlich, soll eine Aufwertung möglich sein: Die Aufwertung des Autors als eines Platzhalters für die produzierten Werke des Autors ergibt sich aus diesem Deutungsrahmen. Die digitale Aufwertung gesellschaftlichen Handelns ergibt sich als eine logische Konsequenz, wenn die Computertechnologie auf die Expansionen reagiert, die durch die Aura des Digitalen erzwungen werden.

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Wenn Barthes’ Argument, dass die Rolle des Autors darin besteht, zu verschwinden, zu „ersterben“, damit dem Text als einer Form der „Darbietung“ begegnet werden kann, in der der Sprechende im Gesagten verschwindet, dann weitet Barthes’ Argument diese weitgehend semiotische und darstellungsorientierte Sichtweise der Interpretation notwendigerweise auch auf den Kontext aus. Er behauptet, dass Autorschaft eine Illusion und die Struktur sämtlicher Texte zitathaft ist, d. h., dass es in einem erkenntnistheoretischen Sinne keine Autoren gibt, die (über ihr einzigartiges, originales Werk) in einem Text eine einzige, endgültige Bedeutung liefern können: Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur. Wie die ewigen, ebenso erhabenen wie komischen Abschreiber Bouvard und Pécuchet,4 deren abgrundtiefe Lächerlichkeit genau die Wahrheit der Schrift bezeichnet, kann der Schreiber nur eine immer schon geschehene, niemals originelle Geste nachahmen. Seine einzige Macht besteht darin, die Schriften zu vermischen und sie miteinander zu konfrontieren, ohne sich jemals auf eine einzelne von ihnen zu stützen. [. . .] Die Abwesenheit des Autors macht es ganz überflüssig, einen Text „entziffern“ [„déchiffrer“] zu wollen. Sobald ein Text einen Autor zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift angehalten. Diese Auffassung kommt der Literaturkritik sehr entgegen, die es sich zur Aufgabe setzt, den Autor (oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit) hinter dem Werk zu entdecken. Ist der Autor gefunden, dann ist auch der Text erklärt, und der Kritiker hat gewonnen.5 In dieser Beschreibung lässt sich auch das Prinzip der Collage, der Montage, des Sampling oder der Appropriation erkennen – „seine einzige Macht besteht darin, die Schriften zu vermischen“ –, einer Konzeption von Autorschaft, die mit einer „Datenbankkultur“ korrespondiert und sie impliziert, in der die Texte, die irgendein Autor „erschafft“, einfach bereits vorhandenes Material verwenden: in neuer, (re-)organisierter, zerlegter oder umgestalteter Form. Fragmentierung und anschließende Rekombination de-

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finieren sämtliche Formen der Semiose: Das von ihr bestimmte Produktionsmodell ist seinem Wesen nach serienmäßig – eine Transformation einzelner, individueller Elemente durch ihre Anordnung in neuen Mustern, die durch vergangene Erfahrung und frühere Beispiele desselben Typs bestimmt werden; es ist semiotische Produktion. Ob produktive Fähigkeiten automatisiert werden können, hängt von dieser vorgängigen Aufteilung auf Elemente ab, die von speziellen „Regeln“ der strukturellen Organisation regiert werden. Bei der kritischen Sicht des Autors liegt der Nachdruck auf der Auseinandersetzung des Deutenden (auf dem Weg vergangener Erfahrung) mit der indexikalischen (aneignenden, rekombinatorischen) Beziehung irgendeines bestimmten Textes zu allen anderen Texten, sowohl früheren als auch künftigen. Innerhalb dieser Betrachtungsweise scheint die Auffassung, dass die Bedeutung auf irgendeine Weise durch den Text eingeschränkt ist, sinnlos zu werden – Barthes argumentiert gegen diese spezielle Einschränkung der Bedeutung. Innerhalb dieses theoretischen Rahmens wird die Vorstellung, dass sämtliche Formen von Datenbankkultur eine Kritik der Autorschaft (wenn nicht sogar einen Angriff darauf) darstellen, eine logische Notwendigkeit. Daher würden Werke, die ihr zitathaftes Wesen offenkundig machten, die Situation ihrem Publikum offenlegen und ihm bewusst machen, inwiefern Autorschaft illusorisch ist: eine einfache, leicht verständliche und leicht anwendbare Kritik. Diese Kritik stützt sich jedoch auf ein Missverständnis der Deutenden, die einem Werk begegnen, sowie der Rolle, die Autoren in dieser Situation spielen, wie sich anhand jener explizit zitathaften Werke zeigt, die dem deutenden Publikum bewusst zu machen versuchen, dass Autorschaft eine Form der Assimilierung ist, die die Qualität von „Frankensteins Monster“ hat. Statt den Autor zu kritisieren, wie es durch die kritische Sichtweise der Autorschaft nahegelegt wird, dienen die kritischen rekombinatorischen (Kunst-)Werke – in Umkehrung dessen, was man von Barthes’ Argument erwartet haben würde – dazu, den Autor aufzuwerten, und sie bestärken nicht nur sein weiteres Überleben, sondern seine gewachsene und gestärkte Bedeutung für die Interpretation der rekombinierten oder Datenbank-(Kunst-)Werke. Das Faktum des Zitierens in diesen besonderen rekombinatorischen Werken erfordert es, die Priorität – Autor-

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schaft – geltend zu machen, die in Form der künftigen Verwendung implizit ist. Die Aura des Digitalen machte die Einschränkung des Zugriffs auf digitale (Kunst-)Werke durch die Verwaltung digitaler Rechte unvermeidlich; gleichzeitig kombiniert sie die empirischen und kritischen Interpretationen der Autorschaft in der aufgewerteten Form des „digitalen Autors“. Ihre Kombination ist für den Prozess des Übergangs zur immateriellen Ware, der durch das Digitale inszeniert wird, unerlässlich, da es eine Expansion des empirischen Verständnisses der Autorschaft impliziert, und zwar entlang kontextbedingter Achsen, die in der kritischen Sichtweise nahegelegt und durch digitale Überwachung instrumental ermöglicht werden: die Umwandlung von Kontext und Interpretation zur „Autorschaft“. Die rekombinatorischen Produktionsweisen sind zwar die sichtbarsten, aber nicht die einzigen Wege dieser Expansion.

§ 5.2 Ein Exeget, der sich des Netzwerks von Beziehungen, die die Interpretation nicht nur einzelner Wörter (Ausdrücke) in einem Text inspirieren, sondern der verschiedenen Zitate und Bezüge, die dort implizit eingesetzt werden, nicht bewusst ist, wäre kein Exeget, sondern ein direkter Erfinder der Bedeutung: Der Text wäre unbekannt, buchstäblich in einer anderen Sprache geschrieben. Jonathan Culler erkennt diese Rolle des Kontexts in seiner semiotischen Diskussion von Wittgensteins „Bububu“ an: Wittgenstein fragt: „Kann ich mit dem Wort ‚bububu‘ meinen ‚Wenn es nicht regnet, werde ich spazieren gehen?‘“ Und er antwortet „Nur in einer Sprache kann ich etwas mit etwas meinen“. […] Nachdem Wittgenstein dieses Setzen einer Grenze [der Semiose] vorgenommen hatte, wurde es in bestimmten Kontexten möglich (besonders in Gegenwart von Leuten, die Wittgensteins Schriften kennen) „Bububu“ zu sagen und damit zumindest die Möglichkeit anzudeuten, dass man, wenn es nicht regnet, vielleicht spazieren gehen wird. Doch dieser Mangel an Grenzen der Semiose bedeutet nicht, wie Eco zu fürchten scheint, dass die Bedeutung die freie Schöpfung des Lesers ist.6

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Den Kontext, den Cullen nennt, die „Gegenwart von Leuten, die Wittgensteins Schriften kennen“, ist die entscheidende Komponente für die Bedeutung, die nach Wittgensteins Auffassung für „Bububu“ entstehen kann: Wenn es nicht regnet, könnte es sein, dass er spazieren geht. Ohne diesen Kontext hat es diese Bedeutung nicht; ohne einen Kontext ist keine Bedeutung möglich. Es ist das Wiedererkennen von „Bububu“ als etwas, das sich möglicherweise auf Wittgensteins Bemerkung bezieht, was die Möglichkeit bietet, dass es die Bedeutung hat, die Wittgenstein vorschlug. Wenn man das an „Bububu“ nicht erkennt, ist die Möglichkeit dieser Interpretation nicht vorhanden. In einer allgemeineren Form gilt diese Kontextabhängigkeit auch für alle Sprachen. Daher ist die kritische Interpretation wesentlich kontextbezogen: Jeder vollkommen einzigartige Text ohne bestimmte Parallelen und kontextabhängige Erkennungszeichen unterliegt dem, was man als „semiotische Fantasie“ bezeichnen könnte: der Erfindung der Bedeutung, als werde sie auf eine tabula rasa geschrieben. Vorgängige Erfahrung ist für die Hervorbringung fruchtbarer Interpretationen, die nicht lediglich Erfindungen des Exegeten sind, unerlässlich. (Dies ist das Bewusstsein von „Wittgenstein“.) Bedeutung erwächst aus der Beziehung zwischen dem gegenwärtig untersuchten Werk und dieser vorgängigen Datenbank des Wissens. Barthes behauptete, der „Tod des Autors“ eliminiere die vorgängige Erfahrung nicht, sondern er erhöhe ihre Bedeutung. Das vorhandene Spezialwissen der Zuschauer bei Wiedererkennung und Interpretation ermöglicht das Wiedererkennen eines Zitats von Bedeutung – wie Umberto Eco in seiner Erörterung von Serien feststellt: Jeglicher Unterschied zwischen Wissen über die Welt (naiv verstanden als ein Wissen, das aus einer extratextuellen Erfahrung abgeleitet ist) und intertextuellem Wissen ist praktisch verschwunden […]. Was interessanter ist, ist der Fall, in dem das Zitat explizit und wiedererkennbar ist, wie es in der postmodernen Literatur und Kunst vorkommt, die mit der Intertextualität unverhohlen und ironisch ihr Spiel treiben. […] Sich des Zitathaften bewusst, wird der Betrachter dazu gebracht, das Wesen eines solchen Mittels ironisch weiter auszuführen und die Tatsache anzuerkennen, dass man eingeladen wurde, mit seinem eigenen enzyklopädischen Wissen zu spielen.7

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Das Bewusstsein, von dem Eco berichtet, ist identisch mit Barthes’ Bewusstsein vom „Tod des Autors“, da es die Abwesenheit des Autors ist, was die Zitate zu suggerieren scheinen; dies trifft jedoch nicht ganz zu. Das Bewusstsein von einem apriorischen Text, der durch die „Auswahl“, die in einem neuen Werk präsentiert wird, beschafft beziehungsweise zitiert wird, bedeutet notwendigerweise weder das Fehlen eines vorigen Autors, noch bedeutet es die Nicht-Präsenz des Autors in der neuen Werkinstanz. Die Fähigkeit, das Zitat als solches zu erkennen, erfordert eine doppelte Interpretation durch das Publikum, den Leser oder Betrachter – die Wiedererkennung nicht nur der immanenten Platzierung des bestimmten Zitats, sondern sein Status als Zitat erzwingt die Erinnerung an einen anderen, abwesenden „Text“ – der notwendigerweise die abwesende Präsenz beider Autoren heraufbeschwört: des einen, der das immanente Zitat verwendet, sowie des zitierten Autors. Ecos Argument impliziert, dass die Bedeutung des Autors durch dieses Zitat und diese Bezugnahme verdoppelt wird: Sich des Zitats bewusst, hat das Publikum das Gefühl, an der Autorschaft des neuen Autors beteiligt zu sein – d. h. es hat das Gefühl, an einer auktorialen Position teilzuhaben, die auf seinem Einsatz vergangener Erfahrung zur Erkennung der verwendeten Zitate basiert. Dieser Faktor dient zur Hervorhebung der Rolle des Autors. Die Präsenz von auktorialen Bestimmungen wird in Fällen signifikanter, in denen die Zitate explizit und wiedererkannt, im Gegensatz zu denen, in denen sie implizit und unerkannt sind. Indem er durch Zitate die Aufmerksamkeit auf die Zusammensetzung des Textes lenkt, erhält die Tätigkeit des neuen Autors Nachdruck und macht seine Autorität über vorgängige Texte geltend. Durch die Auswahl, welche Texte verwendet und welche weggelassen und was wie organisiert werden soll, dominiert der zitierende Autor den vorgängigen Text und hebt so Fragen bezüglich der Absicht des Autors hervor. Die Verwendung von Zitaten ermöglicht „Betrachtern, die Zitate erkennen“ im Gegensatz zu Betrachtern, die sie nicht erkennen, eine oberflächlich gesehen kritische Haltung einzunehmen. Das Wiedererkennen des Zitats kann ein falsches Bewusstsein einer kritischen Position erzeugen, indem es die Auseinandersetzung mit dem Text von seiner kritischen Untersuchung ablenken kann, und das „Ich kenne das!“ des erkannten Zitats

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an die Stelle anderer möglicher Fragen zur Bedeutung und Verwendung innerhalb des neuen Textes setzt. Das Zitat kann als nostalgische Träumerei über vergangene Erfahrungen und andere Texte dienen, auf die im Vorbeigehen Bezug genommen wird.8 Statt zu Betrachtungen über die Autorschaft Anlass zu geben, verdinglicht diese Art der Wiedererkennung die Autorschaft des zitierten Autors und seine Verwendung im neuen Text, wodurch sie die Präsenz und die Position beider Autoren in Beziehung zu den Texten (aktuell/zitiert) expliziter macht; ihre Autorschaft verschwindet in diesem Prozess jedoch nicht – sie wird, contra Barthes, als der Text, als Zitat, verdinglicht.

§ 5.3 Digitale Semiose (und ihre Umsetzung als immaterielle Produktion) hat ihren Ursprung im Datenbankmodell der Kultur, das in Aneignung und Auswahl implizit ist, und sie wird sowohl von Umberto Ecos Konzeption der vergangenen Erfahrung als auch von Roland Barthes’ Schichtung von Zitaten und vorgängigen Texten (der Palimpsest-Natur von Sprache und Interpretation) nahegelegt. Sie ist in fast jeder avantgardistischen Herangehensweise an neue Technologien erkennbar: Sampling, Appropriation, Cut-up, Mash-up, Remix, Collage und Montage haben neue Technologien übernommen, von denen jede über eine neue produktive Technologie verfügt. Sie ist aufs Engste mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Reproduktionen verbunden, doch in der Organisation von beweglichen Lettern wesentlich enthalten. Die (im wahrsten Sinne semiotische) Rekombination einer begrenzten Anzahl physischer Elemente, ihre Speicherung und Organisation (Groß- und Kleinbuchstaben), und ihre Anordnung (alphabetische Reihenfolge) unterscheidet sich von der digitalen Datenbankkultur nur hinsichtlich der Geschwindigkeit des Zugriffs, der Variabilität und des Maßstabs. Die zugrunde liegenden Prinzipien der Fragmentierung, der Speicherung und des Abrufs bleiben konstant. Die semiotische Neuzusammensetzung neuer Werke aus Fragmenten vorhandener Werke ist charakteristisch für (künstlerische) Reaktionen – jedoch nicht darauf beschränkt. Das Auftauchen der technologischen Reproduktion im Laufe des 20. Jahrhunderts setzt sich bis in die gegenwärtige

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Verwendung digitaler Technologien fort, ohne irgendein Anzeichen dafür, dass sie zurückginge. Während die digitale Semiose ihre Ursprünge im Katzenklavier Jahrhunderte vor dem 20. Jahrhundert hat, beginnen historische Diskussionen dieser Vorgehensweise oft mit Pablo Picasso, der in den 1910er-Jahren Reproduktionen mit seinen kubistischen Gemälden kombiniert; dem sowjetischen Filmregisseur Dziga Vertov, der in den späten 1910er- und 1920er-Jahren mit Phonographenwalzen aus Wachs experimentierte, um Tonaufnahmen zu erstellen und neu zu mischen.9 Die sowjetische Montage selbst verdankt ihre Existenz Experimenten mit der Neuzusammensetzung vorhandenen Filmmaterials. Der Surrealist Max Ernst zerschnitt Gravierungen, um „Novellen“ zu schaffen, und Joseph Cornell schnitt Hollywood-Filme mit anderen Filmen neu zusammen, um seinen eigenen Film, Rose Hobart, zu produzieren. Der Autor William Burroughs erstellte „Cut-ups“ mit Tonbändern usw. In dem Maße, in dem neue Reproduktionstechnologien verfügbar wurden, führten neue Künstler mit jenen Materialien irgendwelche Arten von Rekombination durch. Die Auflistung dieser Künstler und ihrer Werke könnte leicht fortgesetzt werden. Diese Vorgehensweise ist so häufig, dass sie als typisch für die Konfrontation von Künstlern mit einer neuen Technologie bezeichnet werden könnte: Sie ist der digitalen Technologie selbst in Form des Sampling wesentlich, wodurch sie die semiotische Neuzusammensetzung logisch zum primären Modus sämtlicher digitalen Produktion macht. Was jedoch bezüglich des sich wiederholenden Musters artistischer Neuverwendung am meisten auffällt, ist die zunehmend lauter werdende Behauptung, dass diese Vorgehensweise eine „Infragestellung der Autorschaft“ darstelle, besonders offensichtlich in den späten Formen, die am Ende des Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Idee der „Appropriationskunst“ aufkommen.10 Dies ist der Hintergrund, vor dem das Wiederauftauchen dieser Formen (mit neuen Bezeichnungen wie „Mash-up“, „Sampling“ und „Database) in der computerbasierten Medienkunst – den neuen Medien – beurteilt werden sollte. Diese Einsicht erlaubt die Erkenntnis, dass diese Verfahren nicht auf künstlerische Produktionen beschränkt, sondern für die gesamte digitale, immaterielle Produktion charakteristisch sind. Ihre geschichtliche Kontinuität mit Werken der historischen Avantgarde legt die Vermutung nahe, dass diese Vorgehensweisen (wie immer sie

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benannt werden) banal statt revolutionär geworden sind, da populäre Unterhaltung und kapitalistische Finanzen (in der Form finanzieller „Produkte“) diese Vorgehensweisen erfolgreich neu zum Einsatz bringen können. Die Anerkennung dieser Tatsache wirft eine grundlegende Frage darüber auf, wie diese rekombinatorischen Praktiken traditionelle Autor- beziehungsweise Betrachter-Konventionen infrage stellen, ebenso wie die Frage, warum diese Vorgehensweise weiterhin prinzipiell die gleiche Behauptung aufstellt, diese Handlungen stellten eine „Infragestellung der Autorschaft“ dar. Die Eliminierung des Autors (und der von Michel Foucault beschriebenen Autorfunktion) trennt sämtliche semiotisch produzierten Werke von denjenigen, die dafür verantwortlich sind – was nahelegt, dass die Aura des Digitalen, die den physischen (ontologischen) Autor aus dem Bewusstsein weglässt, hierin wirksam ist. Wenn man die Überzeugung, dass Rekombination „Autorschaft in Frage stellt“, untersucht, wird offensichtlich, dass diese Vorgehensweisen ein neues Mittel darstellen, die potenziellen Erschütterungen zu vermeiden, die jede neue Technologie mit sich bringt, und zwar durch eine Bekräftigung der traditionellen Rollen von Publikum und Betrachter. Auf diese Weise nimmt ihre Wiederholung einen dualen Charakter an: auf der Ebene der Praxis, wo sie durch die Wiederverwendung von Reproduktionen (das „Rohmaterial“ für das Werk) erscheint, sowie auf der begrifflichen Ebene als das spezielle Verfahren der Übernahme und Neuzusammensetzung. Beide unterliegen den Verdrängungen, die für die digitale Aura und das Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis charakteristisch sind. Ihre Implikation in agnotologischen Verfahren ist durch den Prozess der Ausbreitung evident, den die Semiose ermöglicht: Die Erzeugung alternativer Konfigurationen und Anordnungen innerhalb eines gegebenen Satzes von Möglichkeiten macht das Agnotologische zu einer natürlichen möglichen Anwendung semiotischer Prozesse, die mit Ausarbeitung und Expansion zu tun haben. Was die Unterscheidung zwischen dem Faktischen und Nichtfaktischen problematisch macht, ist das Zusammentreffen agnotologischer und epistemologischer Konstruktionen. Der von Foucaults Autorschaftsfunktion beschriebene Rekurs, durch den die Berufung auf vergangene Erfahrung als eine Behauptung dient, die über den immanenten Text gemacht wird, geht über den semiotischen Prozess der Zusammensetzung und Organisation hinaus: Es ist eine emergente

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Aufwertung, die nicht in der Semiose präsent ist, sondern durch die Anerkennung der Rolle des Zitats, das die Semiose überlagert. Daher dienen diese Wiederholungen, statt Theorien der Autorschaft (und der Originalität etc.) zu revolutionieren, als ein Mittel, diese Werte durch das Prinzip der „Variation“ zu bekräftigen. Umberto Eco hat darauf hingewiesen, dass Betrachter, die sich des Bruchs in angeeigneten oder zitathaften Werken (und Sampling kann nichts anderes als zitathaft sein) bewusst sind, sich ihres Wesens als einer Wiederholung bewusst sind. Was für den Betrachter von Interesse ist, ist die Art und Weise, in der das neue Werk das alte rekonfiguriert: Das wirkliche Problem besteht darin, dass dasjenige, was von Interesse ist, nicht so sehr die einzelne Variation als vielmehr die „Variabilität“ als formales Prinzip ist, die Tatsache, dass man unendlich viele Variationen herstellen kann. Die Abwandlung bis ins Unendliche hat sämtliche Merkmale der Wiederholung und sehr wenig mit Innovation zu tun. Doch es ist die „Unendlichkeit“ des Prozesses, was dem Mittel der Variation einen neuen Sinn verleiht. Woran man Freude haben muss – so legt die postmoderne Ästhetik nahe – ist die Tatsache, dass eine Reihe möglicher Variationen potenziell unendlich ist. Was hier gefeiert wird, ist eine Art Sieg des Lebens über die Kunst, mit dem paradoxen Ergebnis, dass die Ära der Elektronik, statt die Phänomene Schock, Unterbrechung, Novum und Frustration der Ausnahmen zu betonen, eine Rückkehr zum Kontinuum, dem Zyklischen, dem Periodischen und Regelmäßigen produziert.11 Mit der Verschiebung zur „Variabilität“ kann vom Publikum, je expliziter das Zitat ist, desto mehr erwartet werden, dass es von diesem erkannt wird, und daher spielt es die neue Instanz umso direkter gegen die ursprüngliche aus. Durch die Semiose erzwungene Variationen werden der kritische Fokus in Beziehung zum ursprünglichen Werk. Statt die Autorschaft zu eliminieren oder auch nur zu kritisieren, betont das semiotisch reassemblierte (oder durch Sampling, Remix oder Aneignung zustande gekommene) Werk die Rolle des Autors (in der ursprünglichen Quelle) genau deshalb, weil es die Unterschiede (sofern vorhanden) sind, worauf es ankommt. Die

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Rolle des Künstlers als Autor ist hier nicht auf ein Minimum reduziert: Sie ist maximiert. Der Künstler re-etabliert traditionelle Positionen sowohl für den Künstler als auch für den Betrachter: Der Künstler dominiert ein vorhandenes Werk, transformiert es in etwas „Neues“. Diese Betonung der produktiven Dimensionen der Semiose dient der Verdunkelung der Bedeutung dieser Quellen, selbst während sie sie aufwertet: Es ist das „neue Werk“ – semiotisch geschaffen –, das zum Mittelpunkt wird. Das frühere Werk ist zwar notwendig für diesen Prozess, gleichzeitig wird es jedoch durch die Behauptung der Neuheit, die durch das neue Konstrukt implizit aufgestellt wird, negiert. Dieses Bild der künstlerischen Beherrschung des Stoffs ist vertraut – es ist die traditionelle Auffassung des „Genies“ in anderer Gestalt. Die Verbindung einer solchen traditionellen Auffassung der Autorschaft mit einer konsistenten künstlerischen Praxis, deren Bezeichnung sich wandelt (deren Verfahren jedoch nur leicht variiert), die ebenso eine allgemeine finanzielle Technik im digitalen Kapitalismus ist, drängt eine bestimmte Schlussfolgerung über das rekombinatorische Verfahren auf: dass es – statt die traditionellen Vorstellungen von Autorschaft infrage zu stellen – die Tendenz hat, sie zu bestätigen, während es das Publikum einlädt, unter Verwendung seiner enzyklopädischen vorgängigen Kenntnis der Quellen des „neuen“ Werkes sich (un-)kritisch damit auseinanderzusetzen. Die ursprünglichen Quellen „verschwinden“ bei diesem Taschenspielertrick, im Gefolge der Leugnung der Physikalität in der Aura des Digitalen. Das Publikum ist in seiner Auseinandersetzung mit dem Werk aktiv, diese Aktivität ist jedoch in jeder Betrachtungssituation möglich und sollte nicht als für rekombinatorische Werke einzigartig angesehen werden. Gleichzeitig ist diese Auseinandersetzung mit einem kritischen oder aktiven Publikum nur oberflächlich. Die „Aktivität“ ist eine solche, die darin besteht, die neuen Beispiele mit etablierten Formen zu vergleichen. Diese Tätigkeit geht von der vorgängigen Autorität des vorhandenen Werkes aus. Die rekombinatorischen Handlungen existieren (als Variationen) in einer parasitären Beziehung zu ihren Quellmaterialien. Durch das neuartige Zusammenbringen vorhandener Materialien gelangt die von Eco beschriebene „Variabilität bis ins Unendliche“ in die Interpretation und erzeugt einen falschen Glauben an die Infragestellung der Autorität und der kon-

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ventionellen Rolle des Betrachters: Die Wiederholungen, die in der neuen Mischung vorhandener Materialien inhärent sind, entkommen den psychologischen Gefahren, die unheimliche Werke darstellen können, durch ein Vertrauen auf etablierte Fachkenntnis und das implizite Verständnis der „Spielregeln“, die in Aneignungen eine Rolle spielen. Die Behauptung, dass diese semiotischen, rekombinatorischen Praktiken, die man im Allgemeinen in neuen Medien findet – Sampling, Appropriation, Remix, Mash-up etc. –, traditionelle Autor- beziehungsweise Betrachter-Konventionen infrage stellen, kann nicht als wahr akzeptiert werden. Wie Eco hervorgehoben hat, stellen diese Praktiken eine Verschiebung zu einem vormodernen Satz von Konventionen dar, in denen das traditionell etablierte Werk, das den Transformationen unterliegt, in seinem Status angehoben wird, und der Künstler, der es aneignet, dient der Verdinglichung dieses Status, während Betrachter, die sich der konventionalisierten Variabilität im Zentrum der Appropriation bewusst sind, in den Handlungen des Künstlers eine Bestärkung der Dominanz des Autors über das Originalwerk erkennen, ebenso wie eine (paradoxe) Unterwürfigkeit unter das Werk.

§ 5.4 Der empirische Sinn des Autors erscheint innerhalb der Praxis des Zitierens und der Appropriation durch die digitale Technik und wird durch sie unterstützt. Er taucht in der Entwicklung des Internets zwischen 1996 und 2006 auf, zuerst in Form der Linkpages, die „Hyperlinks“ zu persönlichen Webseiten enthalten, dann durch „Suchmaschinen“, gefolgt von den späteren Formen persönlicher Webseiten, wie etwa „Blogs“, und im Konzept des „Social Networking“, das auf gemeinsamen Links und Beziehungen basiert. Die kommerzielle Entwicklung von „Portals“, wie etwa der Webseite Yahoo.com, die eine Vielzahl von Links zu anderen Webseiten präsentieren (in der Form von Suchanfragen und als indexierte Site-Kategorien), sind als wirtschaftliche Übernahme der früheren persönlichen, nicht-kommerziellen Webseite erkennbar. Diese Art der Autorschaft basiert auf Anteilnahme und Zitat – sozialem Verhalten und menschlichem Handeln – statt auf Produktion: Die frühe

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Praxis des „Surfens“ von einer Webseite zur anderen, indem man den Links zwischen ihnen folgt, ist die einfachste (und direkteste) Variation der zitathaften Autorschaft: Durch die Herstellung einer Verbindung zu einem anderen Text wächst dem Autor Wert vom referenzierten Text zu; Blogs behalten diese Link-Praxis bei. Sie ist auch verdinglicht, beziehungsweise zeigt sie sich im Einsatz sozialer Medien und des Social Networking – sowohl in der Bekundung von Zustimmung („liking“) als auch darin, dass man sich etwa einer Diskussion anschließt („following“). Autoren, die innerhalb dieses Rahmens die „besten“ Links haben, sind die „besten“ Autoren, die innerhalb ihrer Gemeinschaften an Status (Wert) gewinnen, einer Position, die durch das bestimmt wird, was sie sich aneignen. Auf diese Weise präsentiert das kommerzielle „Portal“ eine große Vielfalt von Inhalten und enthält häufig eine Suchfunktion als einen Weg, um Zugriff (und damit Autorschaft) zu erhalten, und zwar zu so vielen ins Internet gestellten Inhalten wie möglich. Dieses Modell ist sowohl bei Yahoo.com erkennbar als auch bei Webseiten wie Technocrati.com (für Blogs) oder del.icio.us (auf Links basierendem Social Networking – „Lesezeichen“) und Topsy.com (die das auktoriale Wesen von Links verdinglicht, kombiniert mit Suchmöglichkeiten). Gruppenbasierte Projekte, wie etwa Open Source Software oder die verschiedenen Wikipedias, bei denen sachkundige Autoren an einem gemeinsamen Projekt zusammenarbeiten, unterscheiden sich von der sich in sozialen Netzwerken zeigenden Autorschaft nur dem Grade nach. Die Teilnahme an diesen Aktivitäten erfordert Fachwissen und die gleiche frei gewährte Arbeit, durch die die Datenbanken des Social Networking aufgebaut werden beziehungsweise aus der sie bestehen. In jedem einzelnen Fall wächst der Wert des Geschäfts, der auf seiner Fähigkeit basiert, Autorschaft anzulegen und zu organisieren und dieses Publikum mit Anbietern und Werbungtreibenden zu verbinden; gleichzeitig werden Autoren aktiv, versuchen ihre Werke diesen Seiten hinzuzufügen, und im Falle von del.icio.us, Open Source Projekten und Social Networking im Allgemeinen, wie etwa Facebook.com oder Myspace.com, gewinnt das Geschäft selbst seinen Wert durch die Tätigkeit einer großen Anzahl individueller Autoren, deren Beiträge die Datenbank generieren (beziehungsweise diese Datenbank darstellen), die im Zentrum all dieser Technologien steht. Durch die Veränderung sämtlicher Aktivitäten zu po-

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tenziellen Spielarten von Autorschaft – die von persönlichen Interessen bis hin zu hochqualifizierter Arbeit reicht, die Training und Erfahrung verlangt – wird es möglich, die durch Autorschaft bedingte Verwandlung sämtlicher Aktivitäten in potenzielle Waren zu begreifen, was die Erfindung einer neuen, digital basierten, immateriellen Produktion ermöglicht, die in allen sozialen Aktivitäten enthalten ist beziehungsweise diese übergreift. Die Aufwertung erfolgt durch den Vorgang der Aneignung auf beiden Seiten des Zitats – der referenzierten Quelle und der Seite, die den Bezug herstellt –, wie die Umkehrbarkeit, die sich in der Widerspiegelung von Barthes’ Tod [des Autors] als Aufwertung offenbart, zu erkennen gibt. Auf diese Weise wird die Aneignung zum Signifikanten des Autorenwertes: Die der Semiose inhärente Bezugnahme erscheint im wahrsten Sinne des Wortes in dieser Aufwertung: Je häufiger ein Autor wiederverwendet wird, desto größer ist der diesem Autor zugeschriebene Wert. Dieses Verständnis der Bedeutung des Autors zeigt sich in der Rangfolge (Wichtigkeit) wissenschaftlicher und medizinischer Fachzeitschriften, die sich aus der Anzahl der Querverweise in anderen Aufsätzen zu Aufsätzen ergibt, die in diesen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Bei aus Rekombinationen bestehender Musik erhält beziehungsweise erhalten der oder die ursprüngliche(n) Künstler – unabhängig davon, wie lang der Ausschnitt ist – Kontrolle über das neue Werk, welches den Ausschnitt verwendet, indem es ihn sich aneignet. In der Struktur von Webseiten ist dies sogar noch expliziter: Technocrati.com stuft Blogs danach ein, wie viele andere Blogs auf ihren Inhalt Bezug nehmen. Die Suchergebnisse von Google.com werden nicht nur nach der Bedeutung bezüglich der Suchbegriffe gewichtet, sondern nach ihren Verknüpfungen zu anderen Seiten. Die Werbekosten auf Webseiten basieren auf der Anzahl der Personen, die dem Link der Werbung folgen – nicht einfach auf dem Publikum, dem er vorgelegt wird, wie dies bei traditionellen Druck- und Fernsehmedien der Fall ist. Bei der Finanzialisierung führt diese semiotische Produktion zu mehreren Tranche-Ebenen, wie dies bei durch Hypotheken abgesicherten Wertpapieren der Fall war, die verkauft, rekombiniert und in einem Zyklus, in dem das bereits Rekombinierte erneut rekombiniert wurde, wieder verkauft wurde. Dieses Linkverfahren offenbart die Verbindung zwischen Social Networking und Autorschaft. Social Networking scheint eine Transformation

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dieser Verbindungen nur zu suggerieren. Es ist eine Erweiterung des Autorenkultes, bei dem sämtliche Aktionen als zitathaft rekonfiguriert, alle Beziehungen als Affinitätsgruppen quantifiziert und soziales Verhalten in eine immaterielle Ware (als digital orchestrierte Demographie) transformiert wird. Barthes’ Gründe für seine Erklärung, der Autor sei tot, werden zu Unterstützungen und Beweisen dafür, dass Autoren existieren. Wie der Theoretiker Nicholas Rombes bemerkte, hat die empirische Bedeutung des Autors durch sämtliche digitalen Technologien stark zugenommen: Statt den auteur ein für alle Mal auszulöschen, haben der Aufstieg und die Hegemonie der digitalen Technologien und der digitalen Kultur den Begriff des Autors lediglich bestärkt und tatsächlich dazu beigetragen, neue Formen der Autorschaft hervorzubringen, die in der breiteren Öffentlichkeit anerkannt werden. […] Und dennoch haben Denunziationen der Autorschaft immer dazu tendiert, den Kult und die Autorität derjenigen zu stärken, die diese Denunziation vorgenommen haben. Tatsächlich war es Barthes, der den Autor ins Leben gerufen hat, und dessen Denunziationen geholfen haben, die Bedingungen für die Diktatur des Autors im digitalen Zeitalter zu schaffen.12 Diese „Bedingungen für die Diktatur des Autors“ nehmen die Form der vorausgesetzten kritischen Position an, die rekombinierenden Verfahren zugeschrieben wird: Das Wiedererkennen des Geflechts der Zitate, Querverweise und Wiederverwendungen, welches Sprache und die Interpretation von Bedeutungen charakterisiert, bedeutet nicht den „Tod des Autors“. Es produziert auf dem Wege der Wiedererkennung der Zitate durch die interpretierenden Adressaten zeitgleich das Datenbankwesen der Kultur sowie das Spezialwissen, die durch den Autor und das Publikum in ihren durch den Text vermittelten Begegnungen entfaltet werden. Die Indexikalität, die Eco in der Verwendung von direkten, offensichtlichen Auszügen aus Werken der Vergangenheit feststellt, dient dazu, sowohl diese vergangenen Werke im Besonderen als auch die Rolle des Autors im Allgemeinen aufzuwerten. Jeder neue Produzent ist, während er in der Verwendung dieser semiotischen Remontage zu einem Autor wird, auch an der illusorischen Erzeugung – des neuorganisierten Werkes – beteiligt, die eine nur künst-

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liche Unabhängigkeit von ihren Quellen hat. Die einem Spiegel ähnliche Wiederkehr des Autors markiert die Expansion und Erweiterung des Autorenbegriffs, den Barthes als Kritik vorgeschlagen hatte: nicht als Beweis seines Verschwindens, sondern als Beweis dafür, dass alles Mögliche als auktorial gedeutet (und damit auch so behandelt) werden kann. Das InsLeben-Rufen von Aktivitäten, die vormals nicht als Formen von Autorschaft angesehen worden wären, ist für die Aufwertung dieser Aktivitäten wesentlich: wie zum Beispiel die Online-Suche nach Produkten (vgl. die Seite von Amazon.com, die sämtliche Produkte auflistet, die man in einer Sitzung betrachtet hat) oder die Aussage, dass das Sammeln von Links zu Webseiten von persönlichem Interesse (del.icio.us und Social Networking im Allgemeinen) als produktive Handlungen verstanden werden können. Indem man diese Aktivitäten als Formen von Autorschaft behandelt, wird es möglich zu erkennen, wie Barthes’ Schichten vorgängiger Aktivitäten und Bezüge explizit gemacht und sodann als potenzielle Waren behandelt werden, wobei Autorschaft das Vehikel für den Austausch von Wert darstellt. Ohne die Fähigkeit von digitalen Computern, Aktivitäten aufzuzeichnen und nachzuverfolgen, wäre diese Art von Autorschaft nicht realisierbar, wenn nicht gar völlig unmöglich (und unwahrscheinlich), und zwar aufgrund des Umfangs der Arbeit, die erforderlich ist, um diese Aufgaben ohne Automation durchzuführen. Expandierende Konzepte von Autorschaft werden durch digitale Technologien produziert, die ihre Existenz ermöglichen. Daher ist Expansion für die Aura des Digitalen symptomatisch: Die Umwandlung von allem, was digitalisiert werden kann, in eine digitale Form (das universale Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis) transformiert auch jede aufgezeichnete Aktivität in eine Demonstration individueller Autorschaft (die Ideologie der Automation).13 Die universale Gleichsetzung von Leben mit Autorschaft dient als Aufwertungsprozess, der sowohl die ständige Überwachung als auch die Durchsetzung des Managements digitaler Rechte verlangt, als einer Methode zur Extraktion von Wert aus digitalen Werken. Die Erweiterung des Autorenbegriffs signalisierte daher die Verwandlung sämtlicher Aktivitäten in Waren und das vollständige Auftauchen der für den digitalen Kapitalismus charakteristischen immateriellen Produktion.

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§ 5.5 Die Aufwertung der Autorschaft zeigt, wie die empirischen und kritischen Interpretationen interagieren können und dabei sowohl die Erweiterung der Autorschaft über ihre traditionellen Grenzen hinaus (durch die kritische Betonung von Kontextualität und Rekombination) als auch gleichzeitig die Verdinglichung des impliziten Potenzials der Basis der empirischen Interpretation als eines produktiven Potenzials verstärken. Was den digitalen Autor ins Leben ruft, ist die Kombination von produktiver Tätigkeit und kontextualer Erweiterung. Der digitale Autor ist weder der hypothetische Akteur der empirischen Sichtweise noch die Figur, die in den Grund ihrer Quellen verschwindet, die in der kritischen Konzeption vorgeschlagen wird: Er ist eine immanente Folge der Aura der Information, die durch die Ideologie der Automation wirksam ist, in der sämtliche Handlungen, Aktivitäten, Ereignisse, Objekte (ad infinitum) digital und damit in den Zustand umfassender Kenntnis erhoben werden. Der digitale Autor wird durch diese transformative Fantasie zu Information aufgewertet, und zwar nicht als Kunde oder Produzent (daher als Subjekt mit menschlicher Handlungsfähigkeit), sondern als eine Ware. In einer Datenbankkultur den Status eines „Autors“ zu erreichen, bedeutet einen Rollentransfer vom Akteur auf die Ware – dies ist das Endergebnis des Aufwertungsprozesses, nicht einfach die Aufrechterhaltung vormals wertvoller Waren, die durch traditionelle Akteure der empirischen Interpretation produziert wurden, sondern eine Erweiterung der Autorschaftals-Kommodifizierung, des Autors-als-Ware und der Dominanz der in der immateriellen Produktion verwendeten Semiose. Werden einmal sämtliche Entscheidungen, die man früher als Fälle von menschlicher Handlungsfähigkeit angesehen haben mag, stattdessen zu Formen der Autorschaft (die Folge der Kombination der kritischen und empirischen Interpretationen), so wird der Autor eine Ware: der digitale Autor. Es ist eine Umkehrung des Verschwindens-in-den-Kontext, der von Barthes et al. vorgeschlagen worden war. Der digitale Autor taucht in Form der spezifischen Kontexte auf, die durch jede einzelne Aktion offenbar werden: menschliche Handlungsfähigkeit als Autorschaft verdinglicht, als Be-

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reich auktorialer Handlungen, die – nimmt man sie zusammen – einen einzelnen bestimmten Autor definieren. Das Sammeln und der Handel mit diesen auktorialen Einheiten ist einfach die logische Erweiterung der wirtschaftlichen Beziehung, die in die Ontologie der empirischen Sichtweise eingeschlossen ist und mit Foucaults Autorfunktion identifiziert wird. Roland Barthes’ Argument zeigt, statt den Tod des Autors zu verkünden, den Weg zu seiner unausweichlichen Erweiterung, Expansion und zu seiner Unterwerfung in immaterieller Produktion. Es ist ein Nebeneffekt der Weise, auf die die Aura des Digitalen einen ständig größer werdenden Bereich für Eigentumsrechte durchsetzt, und zwar über das Konzept des „intellektuellen Eigentums“ als einer Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung der Zirkulation von Kapital. In einer Datenbankkultur sind sämtliche Formen von Autorschaft potenziell wertvoll und jegliche Information erfordert notwendigerweise eine ontologische Verbindung zu einer bestimmten Quelle (dem „Autor“). Dies verlangt dann nach dem Aufwertungsprozess, ebenso wie es der Mechanismus ist, welcher der Erweiterung und Erhaltung der Autorschaft zugrunde liegt. Die Kontextualität schafft daher mehrere und neue Varietäten von Autor und Autorschaft und zielt in ihrem Verlauf auf den Niedergang der menschlichen Wirkungsmacht ab. Es fehlt dem digitalen Autor genau deshalb an Wirkungsmacht, weil es keinen Unterschied mehr zwischen Aktion und Tatenlosigkeit gibt – was die nodale („knotenartige“) Form des Zustands der Informationen widerspiegelt –, beide sind gleichwertig. Die Aufwertung macht beide Alternativen bedeutsam und damit wertvoll. Sämtliche Entscheidungen produzieren Autorschaft und haben damit einen gleichwertigen Warenstatus. Die Aufwertung der Autorschaft wiederholt den grundlegenden Konflikt des Managements digitaler Rechte: den Konflikt zwischen dem Eigentumsrecht an und dem Besitz von digitalen Werken (wie etwa des digitalen Autors). Selbst während die Datenbankkultur sämtliche Tätigkeiten in Formen von Autorschaft verwandelt (wie die Amazon-Seite, die sämtliche angeklickten Produkte aufzeichnet und so Einkaufen als Autorschaft offenbart), wirft der Aufwertungsprozess, der in dieser Transformation implizit ist, auf gleiche Weise die Frage nach dem Eigentümer auf: Ist es der Autor der empirischen Interpretation, der handelt und somit das Werk schafft, oder der Betreiber der Datenbank, bei dem es sich um den kritischen­

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„Autor“ handelt? Tatsächlich erscheint die Verbindung zwischen der digitalen Aura und der kapitalistischen Expansion – sowohl der Märkte als auch der Waren – unausweichlich als Aufwertung und Erweiterung der Autorschaft, zusammen mit dem gleichzeitigen Niedergang der Rolle der Eigentümerschaft, die der Autorschaft durch die empirische Interpretation traditionellerweise zugeschrieben wurde. Der Wandel im Status digitaler Autoren entspricht der in diesem Übergang eingeschlossenen Zersetzung der Macht menschlichen Handelns. Solche Niedergangstendenzen sind allerdings nicht einfach linear und verlaufen nicht nur in eine Richtung – stattdessen ist es durch die Beobachtung einer Tendenz möglich, ein gleichzeitiges Wiedererstarken der Macht des menschlichen Handelns zu erkennen, das die gleichen Mittel einsetzt. Während rekombinierende Methoden die Autorschaft ihrer Quellen aufwerten, erzeugen sie auch neue Werke, deren Platz und Rolle innerhalb dieses Schemas doppeldeutig sind. Ihre Doppeldeutigkeit – sie erzeugen den Wert der aufgewerteten Waren und missachten sie – öffnet einen Raum, in den die menschliche Wirkungsmacht neu eintreten kann. Das Paradox, welches sich aus der Bekräftigung bei gleichzeitigem Niedergang der Bedeutung menschlichen Handelns ergibt, legt die zerbrechliche Natur des digitalen (aufgewerteten) Autors nahe und spiegelt den Januskopf des Digitalen wider. Der Übergang zu einer Datenbankkultur ersetzt nicht die früheren Konzeptionen von Autorschaft. Der Konflikt zwischen diesen Konzeptionen – der naiven, kritischen und digitalen – ist symptomatisch für die Ideologie, die die Aura des Digitalen definiert. Die Illusion von Produktion ohne Konsumtion (in der Erweiterung der Autorschaft auf dem Wege der Aufwertung) trifft auf die physische Realität eines bestimmten Individuums, dessen Handlungen im Laufe dieses Prozesses in Waren verwandelt werden. Sie kollidiert mit den Fragen der Macht menschlichen Handelns, die in den Autoren, die sie aufwertet, verkörpert ist. Die Beziehung „Aufwertung-Autorschaft“ stellt ein Paradox dar, das von der menschlichen Tätigkeit abhängt, da der Aufwertungsprozess ohne sie nicht fortgesetzt werden kann (auf keiner Stufe). Was diese Aufwertung für die menschliche Tätigkeit bedeutet, liegt der Idee der „Entrechtung“ viel näher, bei der menschliche Tätigkeit zu Machtlosigkeit wird und Handlungen nur fortgesetzt werden können, solange das Ergebnis reguliert und

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vorherbestimmt ist, und zwar, weil das Digitale ein imaginärer Bereich ist (der die kapitalistische Ideologie verdinglicht), in dem unter dem Mantel der „Information“ sämtliche Aktivitäten zu Typen von Autorschaft werden (wie es durch die Aura der Information bestimmt wird). Aus diesem Rahmen heraus wird die menschliche Tätigkeit sowohl zur Methode der Aufwertung als auch zur produzierten Ware. Sie geht im Prozess der Umwandlung unter.

§ 5.6 Wenn wir aus dem imaginären Bereich des Digitalen in den physischen Bereich zurückkehren, offenbart sich die Aufwertung der Autorschaft selbst nicht als Autorschaft, sondern als Versklavung. Durch das Erreichen des Status „Autor“ ohne Kompensation für das Kapital, das durch diese Aufwertung erzeugt wird, wandeln diese Erweiterungen der Autorschaft sämtliche Aktivität in eine Kapital produzierende Arbeit (ohne Kompensation) um. Auf diese Weise repräsentiert der aufgewertete digitale Autor eine neue Klasse von „Sklaven“ der Datenbankkultur, und zwar eine solche, in der die Sklaven die Bedingungen ihrer Versklavung nicht durchschauen. Die zugrunde liegende Dynamik des Aufwertungsprozesses ist nicht Produktion – es wird nichts tatsächlich hergestellt, was ansonsten nicht anderweitig existieren könnte –, doch sie ist ebenso wenig eine Form der Konsumtion. Die Aufwertung ist semiotisch: Sie geht aus von einer Verschiebung der Bedeutung, einer Übertragung, die durch einen Prozess begleitet wird, der einer Form automatischer Überwachung gleicht. Es ist eine Form opportunistischer Ausbeutung. Durch die Erweiterung der Autorschaft entdecken Märkte ein erweitertes (immaterielles) Feld für die Extraktion von Vermögen, jedoch keine solche, die von einer vermehrten Produktion von Kapital oder einer Verschiebung in der Dynamik von Produktion und Konsumtion begleitet würde. Stattdessen handelt es sich um eine Erweiterung, die die Ideologie in Szene setzt, welche durch eine Interaktion der Aura des Digitalen mit der Aura der Informationen erzeugt wird: Die Aufwertung der Autorschaft dient dazu, den Transfer vorhandenen Kapitals (von Reichtum) und die Expansion seiner Akkumulation zu beschleunigen. Wie im Falle der semioti-

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schen Produktion wird durch diese Aktivität kein neues Kapital produziert. Jede neue Form der Autorschaft ist lediglich eine Erweiterung eines vorhandenen Marktes in neue Bereiche von (sozialer) Aktivität mit dem „Ziel“ der Umwandlung sämtlicher (sozialer) Aktivität (nicht-kommodifizierter Formen der „Arbeit“) in Waren. Sowohl der rekombinatorische Modus als auch die kritische Sichtweise der Autorschaft dienen dazu, die Aura der (etablierten) digitalen (Kunst-) Werke zu verstärken. Ebenso wie sie die Expansion der Autorschaft aufwerten, sind rekombinierende Werke an dem Aufwertungsprozess beteiligt, indem sie dazu dienen, den Wert etablierter Werke zu erhöhen und zu erweitern und auf diese Weise die Durchsetzung der Verwaltung digitaler Rechte für die Aufrechterhaltung und Geltendmachung des Eigentumswertes, der dem Warenstatus inhärent ist, notwendig (wesentlich) zu machen. Der Wertzuwachs, den die Rekombination bietet, ist das tieferliegende Merkmal der Datenbankkultur im Allgemeinen. (Er ist die wirtschaftliche Grundlage für sie und für ihre Expansion der Autorschaft.) Keine Aufwertung hat jedoch irgendeine Bedeutung, es sei denn innerhalb der sozialen Beziehungen, die sämtliche Tauschwerte definieren. Diese Verbindung demonstriert die Versklavung des digitalen Autors genau deshalb, weil der erweiterte, digitale Autor nur unter der Beteiligung der aufgewerteten Individuen möglich ist: Die Umwandlung von menschlicher Tätigkeit in einen Tauschwert ist (generell) nicht wechselseitig für die Aufgewerteten. Daher dient die Aufwertung dazu, Reichtum aus der immateriellen Arbeit der Aufgewerteten zu produzieren: Der datenbankerzeugende Prozess, der sämtliche Aktivitäten gleich wertvoll macht, kompensiert diejenigen, deren Aktivitäten die Quelle dieser Datenbank sind, nicht. Während die Erweiterung der Autorschaft explizit eine Differenzierung zwischen der Semiose, die für die immaterielle Produktion charakteristisch ist, und der Aufwertung der Bedeutung menschlichen Handelns suggeriert, ist der Unterschied zwischen diesen nicht kategorisch, sondern lediglich eine Sache des Grades: Beide sind, in Information verwandelt, Waren auf dem Markt. Die Rekombination vorhandener Werke erhöht den Wert der angeeigneten Originale, während sie ihre Rolle im semiotischen Prozess leugnet; die Umwandlung der Bedeutung menschlichen Handelns produziert nur scheinbar neue Waren (Autoren) für die kommerzielle Ausbeu-

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tung – in beiden Fällen ist die Aufwertung nicht produktiv. Es handelt sich lediglich um eine Verschiebung von Funktionen innerhalb eines etablierten Systems (des Kapitalismus), doch ist es weder eine Vergrößerung des „Systems“ noch eine Annektierung zusätzlicher „Räume“, die in dieses System noch nicht eingeschlossen wären. Stattdessen handelt es sich – durch die Verdinglichung der Ideologie der Automation – um eine Ausbeutung der (bereits vorhandenen und verwendeten) Fähigkeit der digitalen Technologie, Handlungen und Aktivitäten aufzuzeichnen. Wie der Wurm, der seinen eigenen Schwanz schluckt, produzieren diese Aufwertungen nur scheinbar neue Quellen von Kapital, Arbeit und Wohlstand. Stattdessen haben wir es nur mit einer Rezirkulation vorhandener Werte zu tun: Diese Erweiterung der Autorschaft ist daher ein Folgesymptom der Fantasie der Produktion-ohne-Konsumtion, die das Digitale definiert. Die empirischen und kritischen Interpretationen haben innerhalb einer solchen Konzeption von Autorschaft nicht mehr die Funktion, die sie in der Vergangenheit besaßen: Jede von ihnen macht für einen hybriden „digitalen Autor“ Platz, dessen Identität in seiner Funktion als Ware offenbar ist. Dieser digitale Autor ist – als Ware – der empirischen und kritischen Konzeption des Autors so fremd, wie es der erkenntnistheoretische und ontologische Autor füreinander sind. Er sollte als drittes Element im Begriff der Autorschaft anerkannt werden, verwandt mit – jedoch fundamental unabhängig von – ontologischen und epistemologischen Fragen: Während Barthes’ „Leser“ (der kritische Autor) in einer unpersönlichen Konstruktion ohne Geschichte, Geographie oder Psychologie – dem Kontext der Rezeption eines Werkes – wohnt, übersetzt der digitale Autor die Bedeutung menschlichen Handelns, die in beziehungsweise als Geschichte, Biografie und Psychologie erscheint, in immaterielle Waren. Sie sind die Parameter, die die Unterschiede zwischen einem digitalen Autor und einem anderen definieren. Während sowohl kritische als auch empirische Autoren produktiv sind – beide erzeugen neue Texte, weil beide Autoren eine Erweiterung der Bedeutung des Handelns bewirken –, stellt der Warenstatus des digitalen Autors für ihn einen Abschluss möglicher Produktion dar, wobei dieser Autor, statt des Handelns mächtig zu sein, zu einem Tauschsymbol in einem semiotischen System der Remontage, Überwachung und Einschränkung geworden ist.

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Die „Black Box“ der vergangenen Erfahrung Die Agnotologie beschreibt nicht die Existenz von systemischen Unbekannten, sondern stattdessen die Erzeugung systemischer Ungewissheit durch die Aushöhlung der in der Herstellung von Wissen verwendeten Denkprozesse. Sie verwendet dieselben erkenntnistheoretischen Verfahren wie für die Erzeugung von Wissen und Verstehen, jedoch mit der entgegengesetzten Wirkung. Diese systemische Ungewissheit entwickelt sich in der semiotischen Beziehung zwischen der aktuellen Erfahrung und ihrer Bewertung vis-à-vis der vergangenen Erfahrung – einer Bewertung, die von Umberto Ecos Theorie serieller Formen in der narrativen, „vergangene Erfahrung“ verwendenden Fiktion, beschrieben wird. Bei dieser vergangenen Erfahrung handelt es sich um ein Wissen, das durch etablierte Kompetenzen und Fachkenntnisse, die sich im Laufe der Zeit angesammelt haben, erzeugt wird.1 Es sind diese etablierten Methodologien, die die Agnotologie einsetzt, um Ungewissheit zu erzeugen. Ecos Analyse, dass die populäre Unterhaltung ihrem Wesen nach seriell ist, verwendet das dialektische Paar „Innovation“ und „Schema“, ein Konstrukt, das von Betrachtern implizit verlangt, dass sie bei ihren Ausbildungen von Interpretationen und der Antizipation der Weiterentwicklung der gegenwärtig vorgefundenen Erzählung ein internes Modell verwenden, das von ihrer vergangenen Erfahrung mit anderen, gleichartigen Beispielen abgeleitet ist. Sie entwickelt einen Begriff von Wissen, der auf einem semiotischen Prozess der Wiedererkennung und auf der Beziehung zu vergangenen, „erfolgreichen“ Interpretationen beruht. Diese Konstruktion gewährt einen flüchtigen Einblick in den Zustand umfassender Kenntnis und weist auf seine Organisation und die Variabilität diskreter Beispiele innerhalb eines imaginären Netzwerks sämtlichen möglichen Wissens hin. Der Aufstieg agnotologischer Verfahren innerhalb des gegenwärtigen Kapitalismus ist symptomatisch für das Auftauchen eines ausgesprochen seriellen Begriffs von Information, ihrer Gültigkeit und des im Zustand

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umfassender Kenntnis enthaltenen „Wissens“. Die Unfähigkeit, die Wahrheit irgendeiner aufgestellten Behauptung, irgendwelchen Beweismaterials, irgendwelcher angebotenen empirischen Beweise festzustellen – unabhängig davon, wie die Ergebnisse einer Untersuchung aussehen mögen –, zeigt die Wirkung der agnotologischen Konsequenzen für Wissen und Interpretation. Die Variabilität dieser seriellen Beziehung bedeutet, dass es keinen Raum mehr gibt, in dem wir als Publikum uns darauf einigen können, welches der epistemische Wert irgendwelcher in einer Interpretation verwendeter Beweise sein mag: die Fähigkeit, Tatsachen zu ermitteln, wurde exakt durch den Vorgang aufgelöst, der diese Tatsachen selbst erzeugt. Diese Zersetzung von Wissen erzeugenden Methoden offenbart den agnotologischen Vorgang in Aktion und bietet einen flüchtigen Ausblick auf das Streben der Aura der Information nach Vollständigkeit. Das Auftauchen des Zustands der Information aus unseren anfänglichen Modellen, die das Serielle einschränken und definieren, erfordert eine Anerkennung der „Black Box“ in Ecos Argument: Es gibt keine Diskussion darüber, wie das von vorgängiger Erfahrung produzierte, serielle Modell aufkommen oder wie es funktionieren könnte, um diese „vergangene Erfahrung“ zu bewirken, die für eine erfolgreiche Interpretation unerlässlich ist. Die komplexen adaptiven Systeme2 des Mathematikers John Holland bieten jedoch ein Modell dafür, wie Serien diese Erwartungen erzeugen, und es liefert eine logische Basis für die Beschreibung eines imaginären „Zustands der Information“, der sich aus dieser seriellen Organisation vergangener Erfahrung im Wissen ergibt. Die Weisen, auf die die komplexen adaptiven Systeme (CAS) mit Ecos Theorie der Serien konsistent sind, haben vielsagende Implikationen für die Beziehung zwischen vergangener Erfahrung und der Interpretation im Allgemeinen: Ein CAS-Modell, das Ecos serieller „Black Box“ Rechnung trägt, bietet eine Rechtfertigung für die Variabilität der Interpretation und schafft dabei die epistemologische Grundlage, die zur Beschreibung des Zustands des Wissens erforderlich ist. Das von Eco vorgeschlagene ästhetische Modell hängt damit zusammen, wie die Betrachter seriellen Formen begegnen und sie interpretieren. Es ergibt sich daraus, ob Innovation oder einem Schema der Vorrang eingeräumt wird. Vergangene Erfahrungen mit dem Topos einer bestimmten

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Serie definieren die ästhetische Erfahrung des Publikums, und zwar durch das Wiedererkennen bestimmter Variationen innerhalb eines vorherbestimmten Rahmens. Die Art und Weise, auf die Serien die Erwartungen der Betrachter einsetzen, ist die Hauptquelle des Vergnügens, das sie uns bereiten.3 Die Rolle vorgängiger Erfahrung mit gleichgearteten Beispielen erfordert in Ecos Theorie eine grundlegende Erklärung seines Begriffs der seriellen Form. Bei dieser Erklärung wird die „Black Box“ ohne Weiteres offensichtlich. Die serielle Ästhetik ist eine Folge der seriellen Strukturen selbst. Seriell zu sein bedeutet zunächst und zumeist, dass das Publikum des Serienprodukts die Methoden wieder- und anerkennt, die es benötigt, um eine bestimmte Episode einer Serie zu interpretieren. Es besteht eine reziproke Verbindung zwischen Immanenz und Erinnerung. Eco unterscheidet drei Serienstrukturen und zwei von jenen Formen verwendete, zeitliche Beziehungen: die Wiederholung, die Überarbeitung und die Serie; die Sage und die Spirale sind seine zeitlichen Strukturen.4 Die Wiederholung ist eine Fortsetzung einer früheren Geschichte (Eco schlägt Star Wars als ein gutes Beispiel hierfür vor; die Matrix-Filme sind ebenfalls ein mögliches Beispiel); die Überarbeitung ist eine neue Version einer bereits vorhandenen Geschichte (z. B. die zahlreichen Filmversionen von Dracula oder von Shakespeares Dramen); die Serie ist eine fortgesetzte Geschichte, die sich entweder im Laufe der Zeit entwickelt (wie bei Dallas), oder sie kann Episode für Episode wiederholen (All in the Family oder Peanuts sind hierfür gute Beispiele).5 Jede Variation ist durch ihre Beziehung zu früheren Modellen definiert und dadurch, wie sie diese Schemata umarbeitet, um ein neues Beispiel zu schaffen. Um Divergenzen von etablierten Normen zu antizipieren und zu erkennen, verwenden die Interpretationen des Betrachters Rahmen, die durch frühere Begegnungen mit Gleichartigem geschaffen wurden.6 Diese Interpretationen sind allen seriellen Formen gemeinsam, nicht nur den von den populären Medien verwendeten. Der Unterschied zwischen Kunst und populären Formen ist eine Frage der Bezugnahmen und des Publikums, nicht der Form. Die Beziehung zwischen Schema und Innovation steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit einer bestimmten Art von Zuschauerschaft, die für Eco „Serialität“ definiert.

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Sage und Spirale verwenden vergangene Erfahrung auf unterschiedliche Weise und stellen eine andere Konzeption von fiktionaler Zeit dar.7 Die einzelnen Episoden einer Serie schreiten nicht notwendigerweise zeitlich voran. Der Wissensvorrat, über den ein Publikum bezüglich der Art verfügt, auf die Serien ihre Darstellung der Zeit organisieren, zeichnet die Wege vor, auf denen die Betrachter Ergebnisse und Konsequenzen verstehen. Sagen schreiten in linearer Form voran. Es sind chronologische Explorationen der Handlungen und der Geschichte der Charaktere. Manchmal erreichen sie epische Dimensionen (wie Dallas und Wagners Ringzyklus belegen). Spiralen schreiten nicht linear voran; stattdessen präsentieren sie Variationen in einer Schleife, in der keine Zeit verstreicht, sondern unser Verständnis der Charaktere sich durch eine ständige Variation vorgegebener Auftritte vertieft. Diese zeitlichen Unterschiede definieren Sagen und Spiralen. Eine „Schleife“ ist diejenige serielle Form, die vergangene Erfahrung am meisten benötigt, um eine komplexe Bedeutung zu erschaffen. Während sie in ihrer Variabilität potenziell unendlich ist, ist jede Episode in sich selbst abgeschlossen, wodurch sie in ihrer Beschreibung von Folgen und des geschichtlichen Ablaufs oberflächlich wird. Unser Verständnis und unsere Interpretation der Serie wachsen durch das Muster der Wiederholung und Variation in toto. Das ästhetische Vergnügen, das Schleifen bereiten, wurzelt in den Variationen der von ihnen präsentierten Form: In den typischsten und scheinbar „degenerierten“ Fällen von Serialität sind die unabhängigen Variablen nicht die alles in allem sichtbareren, sondern die mikroskopischeren, wie in einer homöopathischen Lösung, in der die Flüssigkeit umso wirksamer ist, weil durch weitere „Abfolgen“ die ursprünglichen Partikel des medizinischen Produkts fast verschwunden sind. […] Wir sehen uns damit einer „neo-barocken Ästhetik“ gegenüber, die nicht durch die „kultivierten“ Produkte verkörpert wird, sondern sogar – und vor allem – durch solche, die die am stärksten degenerierten sind.8 Die Interpretation serieller Formen verlangt vom Publikum, dass es erkennt, dass jede Episode frühere Versionen ihrer selbst zitiert. In Peanuts

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durfte Charlie Brown niemals den von Lucy gehaltenen Fußball treten, doch die Szene, die seinen Versuch zeigt, wurde viele Male wiederholt. Die Bedeutung der Tatsache, dass Lucy ihn im letzten Moment wegnimmt, leitet sich vom Wissen des Publikums ab, dass jede Sequenz generell ein Zitat all der anderen Sequenzen ist. Diese besondere Szene hat eine serielle Struktur innerhalb der Serie, bei der es sich um Peanuts selbst handelt. Ein Zitat dieser Art ist nicht als spezifisch zitathaft erkennbar, da es für die serielle Form selbst grundlegend ist: Serialität ist eine besondere Art der Intertextualität. Eco merkt hierzu jedoch an: Was interessanter ist, ist der Fall, in dem das Zitat explizit und erkennbar ist, wie es in der postmodernen Literatur und Kunst vorkommt, die unverhohlen und ironisch mit der Intertextualität spielen […] sich des Zitats bewusst, wird der Betrachter dazu gebracht, ironisch das Wesen eines solchen Handgriffs zu durchdenken und die Tatsache anzuerkennen, dass man eingeladen worden ist, mit seinem eigenen enzyklopädischen Wissen zu spielen.9 Das explizite Zitat macht eine Serie als Synthesis früherer Werke erkennbar, und es zieht die Aufmerksamkeit auf das besondere Zitat und auf die Methoden, mit denen eine Serie reflexiv sich selbst zitiert: Das Schema ist eine bestimmte Art des Zitats. Das Publikum bezieht sich auf „vergangene Erfahrung“, um Serien auf die gleiche Weise zu erkennen, wie intertextuelle Zitate sie erkennbar machen. Jede neue Serie ist einmalig und steht in Beziehung zu früheren Begegnungen. Sie inszeniert Intertextualität, damit die Erwartungen, die das Publikum an eine Episode hat, es erlauben, dass frühere Episoden ihre immanenten Interpretationen abwandeln. Die Vertrautheit des Publikums mit dem kulturellen Kontext und der Geschichte einer bestimmten Serie spiegeln andere intertextuelle Kunstgriffe wider. Daher sind Serien immer intertextuell, und Intertextualität ist eine Funktion unserer Fähigkeit, Variation und Wiederholung zu erkennen. Es wird hingegen nicht auf die Fragen eingegangen, wie diese Erwartungen entstehen, wie sie sich entwickeln und wie sie sich ändern, obwohl sie in Ecos Theorie der seriellen Form allgegenwärtig sind. Jede neue Episode trifft oder enttäuscht

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die etablierten Erwartungen des Publikums, manchmal sogar an verschiedenen Punkten derselben Episode. Beide Möglichkeiten sind gültige Möglichkeiten innerhalb von Ecos Theorie, weil es die Erwartungen selbst sind, die im Zentrum seiner Ästhetik stehen: Lassen Sie uns nun versuchen, die oben angeführten Phänomene aus der Perspektive einer „modernen“ Konzeption von ästhetischem Wert zu begutachten, nach der jedes ästhetisch „gut ausgeführte“ Werk mit zwei Merkmalen ausgestattet ist: Es muss eine Dialektik zwischen Ordnung und Neuheit erzielen, mit anderen Worten, zwischen Schema und Innovation. Diese Dialektik muss vom Konsumenten wahrgenommen werden, der nicht nur den Inhalt der Nachricht erfassen muss, sondern auch die Art, auf die die Nachricht den Inhalt übermittelt.10 Gültigkeit leitet sich davon ab, dass das Publikum sowohl die Innovationen (Unterschiede zu den Erwartungen) als auch das Schema (die Weisen, auf die seine Erwartungen erfüllt werden) erkennt. Unsere Rolle als Betrachter ist entscheidend. Die ästhetische Erfahrung entsteht dadurch, dass das Publikum die Variationen im Verlauf der Serie als Ganzer erkennen und würdigen kann. Die Wahrnehmung der von diesen Variationen offenbarten Nuancen ist dasjenige, was die ästhetische Erfahrung ausmacht. Sie erfordert ein Publikum, das seiner selbst bewusst interpretiert und antizipiert. Wir müssen unser Spezialwissen – frühere Erfahrung mit dem Schema – einsetzen, um Episoden einer Serie zu interpretieren, indem wir die Weisen anerkennen, auf die unsere Erfahrung sowohl die unmittelbaren Überzeugungen über die Episode bedingen als auch unser Verständnis der Beziehung zwischen dieser Episode und dem Schema, aus dem sie sich ableitet. Eine Dialektik zwischen Ordnung und Neuheit erfordert ein inneres Modell für die Serie (das Schema selbst ist solch ein Modell) – ansonsten können wir keines der Merkmale erkennen, die Eco schätzt: Variation, Wiederholung oder Neuheit. Definitionsgemäß verlangt Neuheit einen Bruch mit früheren Erwartungen, während Variation und Wiederholung Kontinuität

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schaffen. Eco gibt weder Rechenschaft darüber, wie solche Modelle entstehen, noch liefert er eine Erklärung dafür, wie sie sich ändern. Dieser Mangel konstituiert eine „schwarze Box“ in seiner Theorie der Serien. Er ist zentral für das von ihm vorgeschlagene ästhetische Modell.

§ 6.1 Die komplexen adaptiven Systeme, die John Holland in Hidden Order als mathematische Modelle physischer Phänomene vorstellt, sind Ausnahmen generierende Strukturen, die das Auftauchen von Ordnung aus den einzelnen, unverbundenen Verhaltensweisen von Gruppen von Organismen darstellen.11 Er beschreibt nicht die Art von interpretativem Prozess, der für Ecos Serialität entscheidend ist; dennoch haben beide Theorien vieles gemeinsam. Die Fähigkeit seines Modells, Ergebnisse zu antizipieren und „Ideen“ über die Welt zu bewahren, macht komplexe adaptive Systeme zu einem guten Kandidaten für Ecos „Black Box“. Durch die Beschreibung des spontanen Auftauchens von Ordnung und Struktur bieten komplexe adaptive Systeme eine Erklärung dafür, wie interne Modelle funktionieren könnten, und die Berührungspunkte zwischen komplexen adaptiven Systemen und Serien legen nahe, dass Serialität grundlegend dafür sein könnte, wie wir interpretieren. Dies deutet auch darauf hin, dass komplexe adaptive Systeme, verstanden mithilfe des Begriffs der Serialität, eine allgemeine Grundlage für Interpretationen liefern könnten. Sowohl komplexe adaptive Systeme als auch Serien sind als allgemeine Theorie der Interpretation für sich genommen unvollständig. Hollands komplexe adaptive Systeme verwenden den Begriff der Regel, um zu erklären, wie ein Modell konstruiert ist. Das Aufstellen von Regeln bietet einen Mechanismus sowohl für das Speichern früherer Erfahrung als auch für die Verwendung dieser Erfahrung zur Lenkung künftiger Erwartungen. Holland beschreibt, wie diese Regeln funktionieren könnten: Die übliche Ansicht ist, dass die Regeln auf einen Satz von Fakten über die Umwelt des Akteurs [Interpretierenden] hinauslaufen. Demzufolge müssen sämtliche Regeln miteinander konsistent gehalten werden. Wenn eine Änderung vorgenommen oder eine neue Regel eingeführt

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wird, muss sie auf Konsistenz mit allen anderen Regeln überprüft werden.12 Sich die Regeln auf diese Weise vorzustellen, schafft einen festen Rahmen, der keinem fließenden Wandel unterliegt. Während diese Art der Betrachtung der durch serielle Formen auferlegten Einschränkungen einiges für sich hat, „passt“ sie nicht zu der von Eco vorgeschlagenen Beschreibung – dass Variationen und Ausnahmen von unseren Erwartungen dasjenige sind, was das besondere, von Serien erzeugte Interesse dadurch generiert, dass eine Serie ein bereits vorhandenes Schema wiederverwendet. Holland widerspricht der „gewöhnlichen Auffassung“ von Regeln und schlägt stattdessen eine der Serialität nähere Beschreibung dafür vor, wie Regeln funktionieren könnten: Es gibt noch eine andere Art, Regeln zu verstehen. Man kann sie als Hypothesen betrachten, die der Überprüfung und Bestätigung unterliegen. Nach dieser Sichtweise geht es darum, Widersprüche zu liefern, statt sie zu vermeiden. Das heißt: Die Regeln stehen für alternative, konkurrierende Hypothesen. Wenn eine Hypothese versagt, warten schon konkurrierende Regeln darauf, getestet zu werden.13 Die zweite Beschreibung der Art und Weise, auf die Regeln funktionieren könnten, erfüllt den Sinn der unmittelbaren Erwartungserfüllung, den Ecos Beschreibung der Freude an Serien impliziert. Wenn wir in dem obigen Zitat „Regeln“ durch „Ausnahmen“ ersetzen, wird die problematische „Black Box“ in Ecos Theorie durch einen Mechanismus für das Erkennen und Verstehen von Wiederholung und Variation ersetzt. Hollands Theorie beschreibt komplexe adaptive Systeme (CAS) zwar nicht in Serienbegriffen, doch ist es möglich, sie so anzupassen, dass sie ein allgemeines Interpretationsmodell darstellt. Diese Anpassung verlangt, dass das CAS-Modell selbst einen seriellen Charakter annimmt. In seiner seriellen Ästhetik verschiebt die Variation den Schwerpunkt von der Originalität auf die Variabilität innerhalb des Schemas. Diese Schwerpunktverschiebung bezeichnet für Eco ein neues Verständnis von Serien:

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Das wirkliche Problem besteht darin, dass dasjenige, was von Interesse ist, nicht so sehr die einzelnen Variationen sind, als die „Variabilität“ als formales Prinzip, die Tatsache, dass man Variationen bis ins Unendliche fortsetzen kann. Variabilität bis ins Unendliche hat sämtliche Merkmale der Wiederholung, und sehr wenig Innovation. Doch es ist die „Unendlichkeit“ des Ablaufs, was dem Stilmittel der Variation einen neuen Sinn verleiht.14 Die Wahrnehmung dieser Varianten ist eine Folge der Fähigkeit, ein internes Modell zu erstellen, in dem die Variationen als verschiedene Möglichkeiten innerhalb dieses Konstrukts erscheinen. Das Modell beschreibt diese Situation genau und erklärt zugleich, wie Betrachter das Modell innerhalb des Netzwerks der Variationen wahrnehmen können. Etabliertes Wissen – in der Form von Regeln, die bereits getestet wurden – bietet eine Grundlage zur Erweiterung dieser Modelle. Ein komplexes adaptives System (CAS) ändert seine Größe wie ein Fraktal: Jede Regel verbindet sich mit anderen, um komplexere Regeln zu erstellen, und ist selbst aus einfacheren Regeln zusammengesetzt. Seine Struktur bleibt auf allen Ebenen der Komplexität und Kombination konstant, weil die Grundlage der Struktur darin besteht, wie das CAS-Modell Erfolg und Versagen erinnert und sich an neue Situationen anpasst: Dieses Kreditzuweisungsverfahren, das ich als Bucket-Brigade-Algorithmus bezeichne, verstärkt Regeln, die zu Ketten von Handlungen gehören, die in Belohnungen enden. Dieses Verfahren kommt einer progressiven Bestätigung von Hypothesen gleich, die mit dem Schaffen von Voraussetzungen und mit Unterzielen zu tun haben.15 Hollands „Belohnungen“ haben die Form einer das Ergebnis genau antizipierenden Regel: die Erwartung des Betrachters wird erfüllt. Dieser Mechanismus erlaubt einem Mitglied des Publikums, eine Serie als solche zu erkennen und die Art und Weise zu würdigen, auf die diese Episode die Erwartungen des Publikums erfüllt und auf die sie davon abweicht. Was wir normalerweise als „Erfahrung“ oder „Fachkenntnis“ bezeichnen, sind in komplexen adaptiven Systemen Formen erlernten Verhaltens. Es sind die

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Verbindungen zwischen vergangenen und künftigen Erfolgen auf allen Ebenen der Interpretation, was dieses Modell explizit macht: Hollands „Bucket Brigade“ zeigt, wie Fähigkeiten und Handlungen als erlernte Kompetenzen beschrieben werden können. Sie erklärt auch, wie ein Schema aus einem Netz von distinkten, jedoch ähnlichen Formen auftauchen kann, bei denen es sich um Episoden in Serien handelt. Sowohl Variation als auch Wiederholung bewirken, dass Schemata stärker hervortreten, da beide Arten von Erfahrung sich auf etabliertes Wissen und Verstehen stützen. In einem komplexen adaptiven System verstärkt Wiederholung bestimmte Regeln und schwächt andere ab. Diejenigen Regeln, die bekräftigt werden, werden stärker, weil sie sich öfter als andere Regeln als richtig erweisen; unveränderlich sind diese Regeln allerdings nicht. Sie hängen davon ab, dass sie vom Betrachter erkannt werden. Der ästhetische Aspekt von Wiederholung erfordert das Schema, denn es ist die Fortsetzung von Formen, was ästhetisch ist. Variation geschieht durch einen Prozess der Substitution und Änderung. Sie ist stets seriell, doch das dafür spezifische ästhetische Modell liegt (wie bei der Wiederholung) in der Fortsetzung des Schemas und seiner Perfektionierbarkeit, trotz der ihm durch den Vorgang der Variation aufgezwungenen Änderungen. Es ist eine Frage nuancierter Änderungen innerhalb eines unbeweglichen Topos. Für komplexe adaptive Systeme wecken diese Variationen eine besondere Aufmerksamkeit, und zwar aufgrund der Beziehung, die sie zu etablierten Formen haben – Variationen dienen der Stärkung des Schemas, indem sie es sehr viel sichtbarer machen als die Konstanten innerhalb der Variablen. Betrachten wir, wie in Jäger des verlorenen Schatzes Erwartungen unsere Wahrnehmung von Indiana Jones’ Begegnung mit dem arabischen Riesen leiten. Sein Kampf ruft Lachen hervor, weil er mit der erwarteten Konvention bricht – die in diesem Film bis zu diesem Moment eingehalten wird: „[D]er Betrachter muss, um die Anspielung genießen zu können, die ursprünglichen Topoi kennen. Im Falle des Riesen ist es eine für das Genre typische Situation“16. Er steht am Ende einer langen Reihe von Kämpfen mit kleineren Arabern auf einem Basar, die Jones der Reihe nach mit der Faust oder der Stier-Peitsche besiegt. Wenn er sich daher dem Riesen gegenübersieht und ihn einfach erschießt, bringt er unsere Erwartungen durcheinan-

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der. Die Verwendung des Gewehres „durchbricht“ die durch die frühere Kampfsequenz etablierte Regel und, wie Eco anmerkt, widersetzt sich dem Genre selbst. „Diese unsichtbaren Anführungsstriche, mehr als irgendein ästhetisches Mittel, sind ein soziales Gebilde; sie wählen die wenigen Glücklichen aus (und die Massenmedien hoffen normalerweise, Millionen von wenigen Glücklichen zu produzieren).“17 Das Erkennen des Zusammenspiels von Zitaten ist eine Funktion der Vertrautheit mit den Schemata, die Serien produzieren; diese Vertrautheit ist kein formales Prinzip der Arbeit, sondern konstituiert ein extratextuelles Wissen, das außerhalb der Serie selbst liegt. Dieses Beispiel legt nahe, dass die Situation auf unterschiedliche Weise modelliert ist, je nachdem, ob der Betrachter die Wahl trifft, auf der Grundlage des Filmkontexts oder des Genre-Kontexts zu interpretieren. Ein späterer Kampf mit einem Riesen (einem Nazi) folgt dem Genre bis zu einem gewissen Punkt und durchbricht es dann auf weniger humorvolle Weise. Das zweite Aufeinandertreffen ist genau deshalb weniger dramatisch, da es – als Betrachter – unmöglich ist, im Voraus festzustellen, wie die Sequenz sich entwickeln wird. Unsere vorgängigen Erfahrungen mit der seriellen Form, die Jäger des verlorenen Schatzes einsetzt, sind anwendbar, allerdings nur bis zu dem Punkt, ab dem unsere Fähigkeit zur Antizipation eingeschränkt ist. In diesem Beispiel hat die Variabilität Vorrang vor dem Schema. Das Gegenteil gilt für Charlie Brown und den Fußball: Die geringfügigen Abweichungen stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, wobei das Ergebnis konstant bleibt. Die Art und Weise, wie unsere Modelle und die seriellen Episoden interagieren, ist der Ursprung von Ecos „neo-barocker“ oder serieller Ästhetik. Das CAS-Modell bietet eine Methode, mit der sich erklären lässt, wie diese ästhetische Erfahrung entsteht und wie wir serielle Formen erkennen. Die Fähigkeit verschiedener Mitglieder des Publikums, dasselbe zu sehen, es jedoch auf radikal unterschiedliche Art zu verstehen, zeigt, wie unsere Interpretationen von Serien sich durch wiederholte Begegnungen mit neuen Beispielen (wie das Peanuts-Beispiel zeigt) vertiefen und komplexer werden.18 Die Variabilität, welche die serielle Form definiert, spiegelt sich in unseren Interpretationen dieser Form wider.

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§ 6.2 Es besteht ein hohes Maß an Ähnlichkeit zwischen Hollands komplexen adaptiven Systemen und Ecos Serien. Komplexe adaptive Systeme (CAS) erstellen Modelle, die sich „erinnern“ und „lernen“, und zwar mithilfe von vorher erfolgreichen Regeln als Bausteinen für künftige Regeln.19 Auf diese Weise erzeugen sie die „Tiefe“, die für Ecos Ästhetik der Serien erforderlich ist. Sowohl Ecos Ästhetik als auch die komplexen adaptiven Systeme werden komplexer infolge größerer Vertrautheit. Das CAS-Modell, indem es sich vom Einfachen zum Komplexen anpasst, ist bei der Anpassung an neue Situationen sehr flexibel. Das Modell passt seine Struktur an integrierte Änderungen dynamisch an, ebenso wie Serien sämtliche ihrer Variationen enthalten und dabei konstant bleiben: Die Evolution „erinnert sich“ an Kombinationen von Bausteinen [Kombinationen von Regeln], die die Überlebensfähigkeit erhöhen. Die sich von einer zur nächsten Generation wiederholenden Bausteine sind diejenigen, die in den Kontexten überlebt haben, in denen sie auf die Probe gestellt wurden.20 Die Unterstützung für diese Regeln ist zirkulär. Sie macht Neuigkeit zu derjenigen Kraft, die bewirkt, dass die Komplexität des Modells zunimmt. Nur neue Situationen testen neue Regeln und entwickeln das Modell weiter: Regeln werden durch die sie produzierende Feedback-Schleife eingeschränkt. Als allgemeiner Deutungsrahmen stellt das CAS-Modell Bedeutung in serieller Weise dar, als einen Bereich immanenter Wahrscheinlichkeiten. Zirkularität verstärkt die Tendenz in Richtung einer konsistenten Interpretation. Charlie Brown und Lucy sagen uns nichts Neues über das Schema, wenn Lucy den Fußball wegnimmt, und doch wird unser Verständnis ihrer Beziehung jedes Mal, wenn sie dies tut, etwas komplexer. Die Tiefe des Verständnisses besteht in der Weiterentwicklung der „Regeln“. Unsere Würdigung der Szene – und ihrer Komik – stammt aus dem Verstehen dieser Variationen. Dies gleicht Ecos Dialektik von Innovation und Schema, wobei Innovation der neuen Situation entspricht und das Schema dem etablierten Modell.21

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§ 6.3 Das CAS-Modell mag eine generelle Erklärung dafür liefern, wie Interpretationen ablaufen. Seine spezifischen Stärken in der Konfrontation mit der Variabilität von Serien sind attraktiv, wenn wir die Vielzahl sich wechselseitig ausschließender Theorien und Interpretationen bedenken, die für umfangreichere Felder des Denkens charakteristisch sind.22 Unsere Fähigkeit, mehrere verschiedene (selbst entgegengesetzte) Interpretationen gleichzeitig zu akzeptieren und zu bewerten, ja sogar zu verwenden, hat vieles mit der Problematik zu tun, die mit der Interpretation von Serien verbunden ist. Die Fähigkeit, einen Prozess zu beschreiben, in dem Erwartungen entstehen, Deutungen eine Form erhalten und sich dann entwickeln können, stellt Serien in einen größeren interpretativen Kontext. Das CAS-Modell kann einen Rahmen für die generelle Rechtfertigung von Interpretationen bereitstellen, und zwar durch einen Rekurs auf einen Satz potenzieller Interpretationen – Hollands „Regeln“ –, die auf jede gegebene Situation angewendet werden können, handle es sich dabei um eine Serie oder nicht. Die begriffliche Erfassung von Interpretationen als eine serielle Form verschiebt den Schwerpunkt bei der Stützung spezifischer Interpretationen von einer externen zu einer internen Grundlage, wobei bestimmte Interpretationen durch die Existenz von Alternativen gerechtfertigt werden. Die zeitweilige Überlegenheit einer Regel entwertet nicht alle anderen. Wie bei seriellen Formen hängt Bedeutung nicht von bestimmten einzelnen Interpretationen ab, sondern von der Beziehung zwischen bestimmten Interpretationen und dem System, das sie hervorbringt. Diese an sich selbst gewürdigte Verschiebung von Beziehungen entspricht Ecos Ästhetik der Serien. Das Konzept eines Satzes von Wahrscheinlichkeiten, dessen Zusammensetzung seriell ist – eine Sammlung verschiedener, konkurrierender Interpretationen – eröffnet Möglichkeiten für die Rechtfertigung von Interpretationen auf eine flexible und offene Art und Weise. Ein serielles komplexes adaptives System könnte diese konkurrierenden Interpretationen erklären und rechtfertigen, ohne uns dabei notwendigerweise zu zwingen, zwischen ihnen zu wählen, wie dies bei Hollands komplexem adaptivem

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Kapitel 6

System der Fall ist, bei dem vergangene Erfahrung einen Rahmen schafft, der die eine wahrscheinlichste Interpretation hervorbringt. Im Gegensatz dazu präsentieren die von Eco beschriebenen Serien einen Satz von Alternativen, die anhand ihrer Beziehung aufgrund von Variation definiert sind. Wendet man dies auf Interpretation im Allgemeinen an, legt eine serielle Konzeption des CAS-Modells nahe, dass wir Bedeutung als einen Bereich von Möglichkeiten statt als eine einzige Wahlmöglichkeit betrachten. Obwohl das hier vorgeschlagene Modell unvollständig und tentativ ist, deutet es mögliche Strategien zur Rechtfertigung von Interpretationen an, ohne auszuschließen, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt verworfen oder revidiert werden. Einzelne Interpretationen werden nicht durch Vergleich mit einer externen Wahrheit gerechtfertigt, sondern durch die Existenz anderer möglicher Interpretationen mit gemeinsamen Merkmalen, die sich dennoch gegenseitig widersprechen. In dem Maße, in dem der Zustand umfassender Kenntnis sich weiterentwickelt und vorherrschend wird, ist dasjenige, was wir als Symptom seiner Wirksamkeit beobachten, der Zusammenbruch der Verfahren, die Wissen schaffen und die Zuverlässigkeit von Information begründen. Dies ist besonders offensichtlich im Aufstieg der Agnotologie im Besonderen und des digitalen Kapitalismus im Allgemeinen. Diese Gültigkeit erzeugenden Verfahren selbst sind dasjenige, was der agnotologische Prozess angreift. Dieselben epistemologischen Techniken, die der Schaffung von Gewissheit dienen, sind grundlegende Techniken für die agnotologische Erzeugung. Was ihre Verwendung in der Agnotologie ermöglicht, ist die durch den Zustand umfassender Kenntnis dargestellte, serielle Beziehung; allerdings ist ihre Funktion nicht durch einen Rückgriff auf erkenntnistheoretische Argumente als möglicherweise zulässig autorisiert, sondern auf dem Wege der Aura der Information, der den Aufstieg der digitalen Technik begleitet. Durch das Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis autorisiert die Aura des Digitalen die Akzeptanz agnotologischer Ergebnisse insbesondere deshalb, weil die für den Agnotismus charakteristischen Gegenergebnisse in dem vom Zustand umfassender Kenntnis beschriebenen Raum der Information immer bereits gültig sind. Daher ist es, unabhängig davon, wie das Ergebnis einer beliebigen Untersuchung, die dem Agnotismus unterliegt, aussehen mag, die Untersuchung selbst, was infrage

Die „Black Box“ der vergangenen Erfahrung

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steht: Diejenigen, die die Gültigkeit vorhandener Untersuchungen bereits anzweifeln, verstricken sich daher noch tiefer in die agnotologische Struktur, indem sie neuere, alternative Studien verlangen. Dadurch, dass sie jedoch nach weiteren Untersuchungen rufen, gehen sie von der Voraussetzung aus, dass – welches Ergebnis sie gegenwärtig auch zur Verfügung haben mögen – dieses wertlos ist. Dies ist das offensichtlichste Anzeichen dafür, dass ihr Denken in der Falle des Agnotismus gefangen ist. Das Problem, welches ein vorherrschendes Regime der Agnotologie darstellt, besteht darin, dass es zu Zweifeln an jeglichem Ergebnis berechtigt – an buchstäblich jeder einzelnen Information –, das nicht in einen vorgängigen Bezugsrahmen passt. Dies macht die Infragestellung etablierter Denkmuster schwer, wenn nicht sogar unmöglich: Die Wirkung der Agnotologie besteht – so pervers dies ist – in einer Verstärkung der Gewissheit, da sie Alternativen, die solche Ideen anfechten könnten, untergräbt. Auf diese Weise führt sie zu mangelnder Kompromissbereitschaft und einer Inflexibilität im Denken – beides wesentliche Merkmale für die Art und Weise, auf die der digitale Kapitalismus eine ideologische Konstruktion ist, die beherrschen kann, was ansonsten inkompatibel scheinen könnte: sich wechselseitig ausschließende Gruppen.

Kapitel 7

Der Zustand umfassender Kenntnis Ein Interesse an Paradoxien ist eines der Kennzeichen des 20. Jahrhunderts. Dieses Interesse am Paradoxen, das gelegentlich mit einem radikalen Relativismus verwechselt wird, in dem alle Möglichkeiten gleich akzeptabel sind, ist in Wahrheit ein Interesse an den Grenzen von Wissen und Logik. Nur wenn es mit dem instrumentalistischen Verlangen nach der Verwirklichung sämtlicher Möglichkeiten verbunden ist, beginnt es, die Vorzeichen des Relativismus anzunehmen, basierend auf einem Missverständnis der Wahrscheinlichkeit: Wie das Konzept der Interpretation von Serien nahelegt, gibt es – selbst wenn ein ganzes Spektrum möglicher Interpretationen (zum Beispiel) zur Verfügung steht – mehr oder weniger „richtige“ Antworten innerhalb dieses Bereichs; ein Paradox ist ein Spezialfall, in dem eine einfache Lösung nicht möglich ist. Die Transformation von einem wie ein Uhrwerk ablaufenden, deterministischen Universum im 19. Jahrhundert zu einem probabilistischen der modernen Physik markiert einen radikalen Wandel nicht nur im Denken über die physikalische Wirklichkeit, sondern auch darin, wie diese in Modellen vorgestellt, begrifflich erfasst und gedeutet wird. Gleichzeitig breiteten sich ähnlich grundlegende Änderungen in anderen Disziplinen aus: Sowohl in der Mathematik als auch in der Psychologie kam es zu paradoxen, unsere Auseinandersetzung mit der Umwelt beschreibenden Theorien, die sich denen in der Quantenphysik annähern. Das in diesen Fachgebieten gegenwärtig verwendete Deutungsmodell ist eines, bei dem Zufälligkeit und Variabilität der Wirklichkeit wesentliche Eigenschaften sind, und in dem Gewissheit durch Ungewissheit und einen Satz von Wahrscheinlichkeiten ersetzt wird. Die traditionelle eine „Wahrheit“ wird zu einer Wahrheit unter vielen. Allerdings ist es wichtig anzuerkennen, dass die Ergebnisse dieser Deutungsstruktur nicht in dem typischen Sinne relativistisch sind, der in der laienhaften Behauptung, „Wahrheit ist relativ“ verwendet wird. Jegliche Verwirrung über diese scheinbare „Relativität“ verfliegt bei genauerer Betrachtung dieses Modells.

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Kapitel 7

Die begriffliche Erfassung des Zustands der Information legt eine nicht auf Gewissheit basierende Theorie der Erkenntnis nahe. Der sich neu bildende begriffliche „Raum“, den diese Fachgebiete aufgespannt haben, hat nicht nur die Entwicklung moderner Digitalcomputer, sondern auch das Internet und vernetzte Kommunikation ermöglicht und sämtliche Aspekte unserer Gesellschaft umgewandelt. Dieses Modell legt die Vorstellung nahe, dass die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedeutungen von diesem begrifflichen Raum ausgehen, der als „Zustand umfassender Kenntnis“ bezeichnet werden kann – ja, dass sie in gewissem Sinne seine sekundären, abgeleiteten Ergebnisse sind. Diese kulturell hervorgebrachten Bedeutungen, gerade weil sie interpretative Folgen unserer Art der Verwendung von Information sind, hängen von der Schaffung von Beziehungen innerhalb dieses Informationsraums ab. Alle diese Beziehungen sind jedoch rekursiv – einmal hervorgebracht, treten diese neuen Beziehungen als weitere Ausformungen des Informationsraumes selbst in diesen ein. Sie sind leicht mit dem Informationsraum zu verwechseln – und werden häufig damit verwechselt. Dennoch wirft dieser Begriff des Informationsraums Fragen bezüglich des Zustands der Information und seiner Beziehung zur Kulturtheorie auf. Einerseits sind diese sekundären Bedeutungen und der Raum, den sie beschreiben, in einer rekursiven Formulierung miteinander verbunden und summieren sich; andererseits sind sie jedoch auch eine völlige Abstraktion, die einem deskriptiven oder intellektuellen Zweck dient. Der Raum sollte nicht verdinglicht werden. Der Zustand umfassender Kenntnis wird genau dann problematisch, wenn er – wie dies im digitalen Streben nach diesem Zustand der Fall ist – verdinglicht wird. Dem Verständnis des abstrakten Raums des Zustands der Information liegen vier Begriffe zugrunde, die in ihren jeweiligen Bereichen eine zentrale Stellung einnehmen: Ungewissheit, Überlagerung, Schizophrenie und Serialität. Die ersten drei beschreiben verschiedene Aspekte dessen, was als einheitliches Phänomen betrachtet werden kann – das Auftauchen des Paradoxen –, während der letzte Begriff den „Grund“ für die „Figur“ benennt, die die Paradoxie selbst ist: Mehrere im Entstehen begriffene, auf gleiche Weise gültige, aber sich dennoch ausschließende Möglichkeiten innerhalb eines begrenzten Rahmens. Die Untersuchung dieser Figur-Grund-Beziehung war

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vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart ein ständiges Anliegen einer Vielzahl verschiedener Fachgebiete der empirischen Forschung. Diese Betrachtung deutet einen erkenntnistheoretischen Rahmen an, der Inkonsistenz erfordert, die in den interpretativen Konsequenzen von Gödels Theorem und im komplexen adaptiven System Hollands implizit ist. Das Verstehen des Zustands der Information verlangt nach einer Erklärung, wie diese vier Begriffe miteinander verzahnt sind, da jeder Ausdruck einen spezifischen Aspekt dessen beschreibt, wie der Zustand umfassender Kenntnis aus empirischen Beobachtungen erwächst. Dennoch handelt es sich um ein abstraktes Konstrukt, das im Konzept des Digitalen selbst am offenkundigsten ist. Indem es versucht, Information buchstäblich als Instrumentalität auszulegen, strebt das Digitale danach, zu einer materiellen Manifestation des „Zustands der Information“ jenseits sämtlicher Erwägungen von Gültigkeit, empirischer Wirklichkeit oder dialektischem Gegensatz zu werden: eine in der Idee der Information-als-Daten verdinglichte Gleichwertigkeit. Es erwächst auf natürliche Weise aus dieser Idee. Die Andeutung, dass das Digitale die materielle Form dadurch transzendiert, dass es Physikalität durch „Bedeutung“ ersetzt, die in dieser (geleugneten) Physikalität verkörpert ist, ist die Aura der Information in Aktion. Das Streben, den Zustand umfassender Kenntnis in Form einer immanenten Instrumentalität zu erreichen, ist für diese vorgebliche Transzendenz wesentlich. Sie zeigt sich auch in den Versuchen, dasjenige herbeizuführen, was Mathematiker als „Vollständigkeit“ bezeichnen, die den verschiedenen Methoden anhaftet, mit denen das Digitale zu Sicherheitszwecken eingesetzt wird.1 Das digitale Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis ist eine direkte Folge der Immaterialität, die dem Digitalen zugeschrieben wird. Die Tendenz in Richtung auf Verdinglichung des Zustands der Information in der digitalen Technik (das digitale Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis) ist eine Folge der Unsterblichkeit der digitalen Information: Ihre fortwährende Ansammlung in Datenbanken bringt die Illusion hervor, dass es möglich ist, für diese Sammlung von Informationen die Art von Vollständigkeit zu erreichen, die nur im abstrakten Rahmen des Zustands der Information selbst möglich ist. Die Aura der Information selbst offenbart sich über das Digitale als eine Mystifikation, welche die für den Wertzuwachs erforderlichen empirischen Beziehungen zwischen Information

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Kapitel 7

und Realität zertrennt. Sie entwickelt sich logisch aus der Aura des Digitalen, doch wo die digitale Aura die Physikalität aus dem Bewusstsein verdrängt, ist die Aura der Information im philosophischen Sinne relativistisch: Sie leugnet die Notwendigkeit einer auf Beobachtung basierenden, empirischen oder faktischen Beziehung zwischen Interpretation und Wirklichkeit. Zu dieser Transformation kommt es, weil der Zustand umfassender Kenntnis suggeriert, dass im Raum der Information sämtliche Interpretationen gleichwertig sind – selbst einander widersprechende, sich wechselseitig ausschließende oder empirisch unzutreffende –, weil es keinen Unterschied zwischen Interpretation und Information gibt. Dieses Verständnis steht mit Ludwig Wittgensteins Bemerkungen über die empirischen Untersuchungen in wissenschaftlichen Verfahren in Beziehung: „Ein Erfahrungssatz läßt sich prüfen“ (sagen wir). Aber wie? Und wodurch? Was gilt als seine Prüfung? – „Aber ist dies eine ausreichende Prüfung? Und, wenn ja, muß sie nicht in der Logik als solche erkannt werden?“– Als ob die Begründung nicht einmal zu Ende käme. Aber das Ende ist nicht die unbegründete Voraussetzung, sondern die unbegründete Handlungsweise.2 Angesichts des Rahmens dieser Fragen, der apriorischen „Lebensform“, die beide durchdringt, werden sowohl die Frage als auch die Prüfung zur Begründung für die Antwort und geben den Bereich der möglichen, akzeptablen Lösungen für diese Fragen vor. Die Frage jedoch, die auf diese Begründung eingeht: Was ist das, was die Basis für diesen Grund bietet?, eröffnet eine unendliche Reihe weiterer Rückfragen. Es ist eine Frage, die ohne Behauptung eines willkürlichen Faktors – der „Lebensform“ – nicht beantwortet werden kann. Solche Rahmen des Denkens tauchen genau deshalb auf, weil vorausgesetzt wird, dass es ein Folgeverhältnis gibt (wie in der logischen Schlussfolgerung), während insbesondere der Zustand umfassender Kenntnis kein Folgeverhältnis darstellt, sondern stattdessen eine Multiplizität und Kontinuität, die logische Folge leugnet. (Er ist a-linear statt nicht-linear.) Jean Baudrillard hat diese kritische und interpretative Überdehnung der durch die Quantenphysik aufgestellten Ungewissheit in seinem Buch Impossible Exchange betrachtet:

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Die Ungewissheit der Welt liegt in der Tatsache, dass sie nirgendwo ein Äquivalent hat; sie kann gegen nichts eingetauscht werden. Die Ungewissheit des Denkens liegt in der Tatsache, dass es weder für die Wahrheit noch für die Wirklichkeit eingetauscht werden kann. […] Die Unschärferelation, die besagt, dass es unmöglich ist, die Geschwindigkeit und die Position eines Teilchens gleichzeitig zu bestimmen, ist nicht auf die Physik beschränkt. […] Die Ungewissheit sickerte auch in alle Bereiche des Lebens. Und dies ist keine Folge der Komplexität der Parameter (damit werden wir stets fertig); es ist eine definitive Ungewissheit, die mit dem unvereinbaren Charakter der Daten verbunden ist.3 Baudrillard diskutiert die empirische Basis für das Konzept der Überlagerung, ohne sie eigens zu nennen oder zu entwickeln. Das Paradox, welches im Innersten des Zustands der Information liegt, geht von einer Situation aus, die von der von Wittgenstein untersuchten vollkommen verschieden ist. Es ist eine Situation, die keine Antworten und Gewissheit hervorbringen kann – eine Situation, in der die Wirklichkeit, die die Information beziehungsweise Interpretation beschreibt, ein Merkmal dieser Information ist, statt eine unabhängige Größe. Als Beschreibung „aller möglichen Interpretationen“ ist der Zustand umfassender Kenntnis eine Abstraktion. Nur in seiner Verdinglichung wird er problematisch und begünstigt den Relativismus. Dieser Unterschied von Information und Wirklichkeit ist der Grund dafür, dass das Digitale den abstrakten Zustand der Information anstrebt: Dieser Zustand erscheint, in verdinglichter Form, als ein Überbau jenseits materieller Belange. Diese Leugnung des Physischen ist das bestimmende Merkmal der Aura des Digitalen.

§ 7.1 Zentral für das Verständnis des Zustands der Information (und der Triade von Ungewissheit, Überlagerung und Schizophrenie) ist das Problem der Paradoxie. Typischerweise begegnet man einem Paradox als Symptom eines Deutungsversagens – es wird als Fall eines logischen beziehungsweise axiomatischen Fehlers verstanden –, als direkter Beweis der Inkonsistenz

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eines logischen Systems. Der Mathematiker Douglas Hofstadter erklärt in seinem Buch über Paradoxa Gödel, Escher, Bach: Doch nun wollen wir genau bestimmen, was mit der Konsistenz eines formalen Systems gemeint ist …, dass jedes Theorem, wenn es interpretiert wird, zu einer wahren Aussage wird. Und wir sagen, dass Inkonsistenz auftritt, wenn es unter den interpretierten Theoremen mindestens eine falsche Aussage gibt.4 Sämtliche Teile eines formalen (logischen) Systems müssen wahr sein, damit dieses System eine gültige interpretative Konstruktion ist; Inkonsistenz bedeutet daher, dass das System fehlerhaft ist, und ein Paradox bedeutet, dass es in der Konstruktion des Systems selbst einen noch tiefer liegenden Fehler gibt. Während Interpretation als allgemeiner Begriff mit den konstruierten formalen Systemen der Logik (wie etwa der Mathematik) nicht identisch ist, sind die von Hofstadter beschriebenen formalen Systeme eine spezielle Untergruppe von Interpretationen: Axiome und Theoreme sind streng definierte Versionen vergangener Erfahrung und künftiger Erwartungen; ihre Rolle in einem formalen System besteht darin, die zur Konstruktion des Systems (und jeglicher Interpretationen innerhalb des Systems) benötigten Informationen explizit zu machen. Inkonsistente Ergebnisse beweisen ein inhärentes Interpretationsversagen; ihre Auflösung erfordert eine Art externer Modifikation zur Beseitigung der Inkompatibilität. Häufig stammt diese Änderung aus einem empirischen Test im Vergleich mit der beobachteten Realität; wesentlich für die Auflösung eines Paradoxes ist eine Methode zum Auffinden und Verbessern von Interpretationen – die Inkonsistenz kann auch als Grenzpunkt der Instabilität verstanden werden, an dem mehrere, gleichermaßen gültige Interpretationen konvergieren: als Punkt der Verflechtung, an dem Alternativen gleichzeitig und mit gleicher Gültigkeit koexistieren. Es ist diese Anerkennung des Paradoxen als eines Knotenpunkts, was den Zustand umfassender Kenntnis schafft. Paradoxe definieren die unbestimmten Kollisionspunkte und überlappen sich zwischen verschiedenen Interpretationen. Der Zustand umfassender Kenntnis ist ein Konstrukt, das daraus hervorgeht, wie diese Knoten in einem probabilistischen Raum miteinander in Beziehung gesetzt werden

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können. In der Quantenphysik wird dieser unbestimmte Zustand der Überlappung sich zwar wechselseitig ausschließender, aber dennoch gültiger Interpretationen als „Superposition“ bezeichnet.

§ 7.2 In der Quantenphysik wurde der Begriff der „Superposition“ aufgrund einer Inkonsistenz zwischen den formalen, deterministischen Vorhersagen der Physik und den empirischen Ergebnissen der experimentellen Tests dieser Vorhersagen entwickelt: Es ist ein Ausdruck, der ein scheinbar grundlegendes Paradox der materiellen Wirklichkeit beschreibt. Der Physiker David Albert beschreibt ihn als eine paradoxale Inkompatibilität von Interpretation und Beobachtung. Das Wissen von einem beobachteten Wert schließt die Möglichkeit, einen anderen zu ermitteln, aus: Wir stellen fest, dass wir uns niemals in eine Lage versetzen können, in der wir sagen könnten: „Die Farbe dieses Elektrons ist so-und-so und seine Härte ist so-und-so.“ Es ist nicht so, dass unsere [Tests] für Farbe und Härte (irgendwie) primitiv sind […]. Es ist so, dass die Tatsache, dass ein Elektron eine definitive Farbe hat, scheinbar impliziert, dass es weder hart noch weich, noch beides, noch keins von beidem ist, und dass die Tatsache, dass ein Elektron eine definitive Härte hat, scheinbar impliziert, dass es weder schwarz noch weiß, noch beides, noch keins von beidem ist.5 Albert führt aus, dass ein Wert, Farbe, scheinbar inkompatibel mit einem anderen Wert ist – nur einer dieser Werte kann zu einem bestimmten Moment existieren. Es ist nicht so, dass die Tests mit Fehlern behaftet wären, noch ist es der Fall, dass sich die beobachteten Phänomene inkonsistent verhielten – es geschieht etwas anderes, was sich unserer Erwartung eines einzigen, konsistenten Ergebnisses zu widersetzen scheint. Die Lösung des Paradoxes besteht darin, unsere Voraussagen als gleichermaßen gültig zu werten, aber dennoch inkompatible Wahrscheinlichkeitssätze zu beschreiben: singuläre, absolute Ergebnisse aufzugeben. Die Betrachtung von Interpretationen als Bereiche von Möglichkeiten ist ein Schlüsselmerkmal des

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Zustands der Information – der Ausdruck jeder einzelnen Interpretation als eine innerhalb eines Bereichs (oder einer Reihe distinkter Bereiche), in dem (beziehungsweise denen) alle Interpretationen gültig sind. Dennoch ist zu einem gegebenen Zeitpunkt nur jeweils eine Interpretation immanent. Albert erklärt hierzu: Die Regeln für die Voraussage des Ergebnisses einer Messung (sagen wir) der Härte eines weißen Elektrons erweisen sich (soweit wir das heute feststellen können) als probabilistische statt deterministische Regeln.6 Die Quantenmechanik wurde, um dem durch die Superposition beschriebenen Paradox gerecht zu werden, zu einer Beschreibung der Welt gezwungen, die auf Wahrscheinlichkeit basiert. Diese Art der Interpretation stellt einander entgegengesetzte Möglichkeiten als in gleicher Weise möglich dar; anstatt dass in dieser Beschreibung ein Widerspruch liegt, werden die Extreme zu sich wechselseitig ausschließenden Grenzpositionen. Dies ist eine „Lösung“, die das Problem nicht „löst“: Sie macht Inkonsistenz zu einem Teil der „Regeln“. Die durch Bereiche gleichermaßen gültiger, möglicher Interpretationen definierte Variabilität bringt einen „Informationsraum“ hervor, der als Ganzer den Interpretanten „definiert“. Der Zustand umfassender Kenntnis leitet sich vom vollständigen Bereich der einander überlagernden Möglichkeiten ab, die die Extreme dieses „Informationsraumes“ markieren. Anstatt deterministisch und singulär zu sein, definiert der Zustand umfassender Kenntnis, im Anschluss an das nahegelegte Modell der Superposition, Interpretationen als sich wechselseitig ausschließend, explizit­ widersprüchlich: Es handelt sich um ein Netz oder Spektrum von Möglichkeiten, statt monolithisch zu sein. Dasjenige, was die Gültigkeit garantiert, ist die Existenz des Bereichs der Möglichkeiten (d. h. alle Interpretationen sind gültig, da ihre Gültigkeit eine Funktion der Präsenz innerhalb des größeren Bereichs gleichermaßen gültiger Möglichkeiten ist), obwohl zu einem gegebenen Zeitpunkt nur eine bestimmte Interpretation empirisch beobachtbar sein wird. Die Wahrscheinlichkeit einer empirischen Beobachtung ist einfach eine andere Dimension dieses multidimensionalen Raumes.

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Der Zustand umfassender Kenntnis, der eine Abstraktion darstellt, impliziert daher einen bestimmten Typ von Unvollständigkeit, die vom menschlichen Wissen nicht umfasst werden kann, in gleicher Weise wie die Elemente der Menge der rationalen Zahlen, während sie beschrieben werden kann, sich nicht einzeln abzählen lässt. Dieser interpretative Rahmen erzeugt einen infiniten Regress, während er gleichzeitig logisch begrenzt ist. Dass der Zustand umfassender Kenntnis aus physisch immanenten Beobachtungen und empirisch beschreibbaren Prozessen hervorgeht, negiert nicht sein inhärentes Wesen als Konstruktion – man muss anerkennen, dass der Zustand umfassender Kenntnis außerhalb des Rahmens der begrifflichen Erfassung durch den Menschen liegt, es sei denn, sie erfolge indirekt. Der Vorgang der Benennung des „Zustandes der Information“ schafft die Illusion, dass ein solcher Zustand verstehbar ist, dass er begrifflich erfasst werden kann. Er ist genau deshalb problematisch, weil er die begriffliche Kapazität auf dieselbe Weise übersteigt, wie dies für das „Unendliche“ gilt.

§ 7.3 Der „Necker-Würfel“ ist eine optische Täuschung, die nach dem Schweizer Kristallographen Louis Albert Necker benannt ist, der ihn entdeckt hat. Er stellte fest, dass Salzkristalle scheinbar ihre Ausrichtungen ändern, wenn man sie durch ein Mikroskop betrachtet.7 Optische Täuschungen bieten einen direkten Weg zur Betrachtung der Interaktion verschiedener, inkompatibler (einander überlagernder) Interpretationen8 und unserer Entscheidungen, die festlegen, welche Interpretation wir zu einem gegebenen Zeitpunkt sehen:

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Die unbestimmte Ausrichtung der von Necker beobachteten Salzkristalle wird in dieser optischen Täuschung (oben) durch ein Netz visuell nicht eindeutiger Linien nachgebildet, das wir als einen Würfel betrachten, dessen Aussehen zwischen einer Ansicht von „rechts oben“ und „links unten“ hin und her wechselt. Er stellt, im Ausgang vom gleichen Satz von Möglichkeiten, zwei potenzielle Ausrichtungen dar. Welche Interpretation der Ausrichtung des Necker-Würfels wir sehen, hängt vollständig davon ab, wie wir die Beziehung der ihn darstellenden Linien interpretieren. Unser Verständnis der Ausrichtung deutet auf eine Feedback-Schleife zwischen unserer visuellen Wahrnehmung und unserer Interpretation der Ausrichtung der Figur hin:9 Interpretationen und Wahrnehmungen wirken dynamisch zusammen, um die visuell nicht eindeutige Figur nach der einen oder anderen Richtung hin aufzulösen. Die Linien erhalten ihre Bedeutung als Würfel allein durch die Beziehung, die wir für sie wählen, eine Entscheidung, die so mühelos und unmittelbar erfolgt, dass wir uns nicht bewusst werden, dass wir sie treffen. Sie wird durch unsere geistige Anordnung der Elemente bestimmt, wobei wir unsere vorgängige Erfahrung als räumliche „Orientierungshilfe“ verwenden. Unsere visuelle Deutung dieser Figur bleibt nur so lange stabil, wie die für am wahrscheinlichsten gehaltene Anordnung konstant bleibt. Allerdings ist, wie wir diesen Würfel interpretieren, ein dynamischer Prozess der Untersuchung und Einstellung; ändert sich die Interpretation, welche Ausrichtung die wahrscheinlichste ist, wandelt sich die gesehene Figur entsprechend, was beweist, dass sich die zwei verschiedenen, jedoch inkompatiblen Sichtweisen der Ausrichtung dieser Figur überlagern. Diese Gestalt erlaubt uns, wie alle optischen Täuschungen, dem variablen „Raum“ des Zustands der Information „direkt“ zu begegnen. Was diese visuellen Verschiebungen hervorruft, sind Änderungen in unserer anfänglichen Deutung. Diese Transformationen sind ein Beweis für eine Superposition, die sich zu einem bestimmten Ergebnis hin auflöst.10 Die mehrfachen Deutungen dieser Einzelfigur offenbaren den kontingenten und auf interaktive Weise festgelegten Charakter unserer jeweiligen Auswahl aus dem Bereich möglicher Interpretationen. Verschiebungen in der Interpretation deuten darauf hin, dass in der Interpretation eigenständige, interaktive Ebenen am Werk sind. Die Bewe-

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gung von einer Deutung zu einer anderen im Fall einer optischen Täuschung kommt dadurch zustande, dass verschiedene Ebenen der Interpretation an den Wahrnehmungen überprüft werden, wobei es nicht gelingt, das Geschehene mit der Sinneswahrnehmung zur Deckung zu bringen. Je nachdem, wie die räumliche Ausrichtung verstanden wird, werden alle anderen Ebenen der Interpretation durch die dadurch etablierten Erwartungen geprägt. Der Necker-Würfel zeigt jedoch, dass unsere Sinneswahrnehmungen inkonsistent und durch unsere anfängliche Einschätzung dessen, was uns begegnet, vollständig festgelegt sind. Unsere vermeintlich (immanente) Erfahrung der Welt ist nur eine Möglichkeit, ein potenzielles Verständnis, das dem ständigen Abgleich mit neuen Wahrnehmungen unterliegt. Der „Zustand umfassender Kenntnis“ ist eine Konstruktion zur Bestimmung dieses abstrakten Bereichs (un)verwirklichter Möglichkeiten.

§ 7.4 Ernest Nagel und James R. Newman erklären in ihrem Buch Gödel’s Proof Gödels Unvollständigkeitssatz. Ihre Diskussion veranschaulicht Gödels Behauptung, dass sämtliche Systeme von Regeln (Axiomen) Inkonsistenzen in Form von Paradoxen hervorrufen, die nicht aufgelöst werden können. In erkenntnistheoretischer Beziehung beweist Gödel, dass ein formalisiertes Wissen, das von der Logik abgeleitet ist, an sich selbst ein inkonsistentes, tentatives Vorhaben darstellt: Gödel zeigte, (i) wie man eine arithmetische Formel G konstruiert, die die meta-mathematische Aussage „Die Formel G ist nicht beweisbar“ darstellt. Die Formel G sagt daher scheinbar über sich selbst, dass sie nicht bewiesen werden kann. […] Doch Gödel zeigte auch (ii), dass G dann und nur dann beweisbar ist, wenn seine formale Negation ~ G beweisbar ist.11 Zum Anschein eines unendlichen logischen Rückgangs – einer Reihe sich wiederholender logischer Widersprüche, deren „Auflösung“ lediglich den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit verschiebt – kommt es genau deshalb, weil die Formel G inkonsistent ist. Im formalen System der Logik ist Gödels

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Satz gleichzeitig sowohl richtig als auch falsch: Es ist eine wahre Aussage der Logik, die gleichzeitig nicht wahr sein kann. Seine Gültigkeit existiert in Superposition; Inkonsistenz ist ein entscheidendes Merkmal von Paradoxien der Interpretation. Gödels Formel folgt den Regeln für das logische System der symbolischen Mathematik, doch zeigt er durch die Befolgung der Regeln, dass das System der Mathematik inkonsistent ist: Gödels Aufsatz ist ein Beweis für die Unmöglichkeit, bestimmte Postulate zu beweisen. […] Die herkömmliche Auffassung, dass die Axiome der Geometrie (übrigens auch die Axiome jeglichen Wissensgebiets) durch ihre scheinbare Selbstevidenz begründet werden können, wurde so auf radikale Weise untergraben. […] Denn es wurde klar, dass die Mathematik lediglich die Disziplin par excellence ist, die logisch die Folgerungen zieht, die in jedem beliebigen Satz von Axiomen oder Postulaten eingeschlossen sind.12 In allgemeine Worte gefasst: Gödel beweist, dass der Satz der Annahmen, der die Grundlage für logische Gewissheit darstellt, eine willkürliche Grundlage hat. Dieser Beweis hat Folgen für die Rechtfertigung sämtlicher Interpretationen, da er ein grundlegendes Versagen des logischen Verfahrens identifiziert: Jeder Satz von „Regeln“ kann Paradoxien in Form unlösbarer Schleifen hervorbringen. Der Regress ist das Problem, das durch die Infragestellung von Wittgensteins „Lebensformen“ aufgeworfen wird, und er zeigt, dass Gödels Beweis über die Mathematik und die formale Logik hinausreicht, was Nagel und Newman in ihrer Einleitung hervorheben. Inkonsistenz ist ein wesentliches Element unserer Interpretationen im Allgemeinen, obwohl sich dies nur durch einen Prozess der interpretativen Auseinandersetzung oder in untypischen Situationen zeigt, in denen Ambiguität dominiert und sich singuläre Interpretationen als kontingent erweisen.

§ 7.5 Die klinische Beschreibung der Schizophrenie ist die einer Geisteskrankheit, die sich aus einem seelischen Zustand der Überlagerung entwickelt,

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die Psychologen als „Ambivalenz“ bezeichnen.13 In seiner ursprünglichen Beschreibung der Schizophrenie gelangte Eugen Bleuler zu der Schlussfolgerung, ihre Grundlage sei eine pathologische Ambivalenz,14 die typische Situationen zu einem Konflikt hochspielt, der der Superposition gleicht, einer Art seelischer Paradoxie: (1) Ambitendenz, die mit jeder Tendenz eine Gegentendenz freisetzt (2) Ambivalenz, die derselben Vorstellung zwei widerstreitende Gefühlstöne verleiht und denselben Gedanken gleichzeitig mit einem positiven und einem negativen Charakter ausstattet.15 Diese Definitionen wiederholen die von Gödel erkannte Inkonsistenz. Während der menschliche Geist kein formales System wie die Mathematik ist, ist er der Ursprung solcher Systeme. Das Verlangen, die Welt solle innerhalb eines bestimmten, apriorischen Deutungsrahmens geordnet sein, ist schizophren. Alle Interpretationen haben eine schizoide Komponente. Zu den pathologischen Formen der Schizophrenie kommt es genau aufgrund einer gestörten Reaktion auf diese sich überlagernden Möglichkeiten. Der Psychologe Mark Garrison sieht als Ursache der Schizophrenie den unbestimmten Charakter des Uneindeutigen: Der Unterschied zwischen einem krankhaften und einem „normalen“ Gedankenprozess ergibt sich daraus, wie mit der Ambiguität der Superposition „umgegangen“ wird. Die Arten der von seinem Modell geforderten Variabilität stimmen mit denen überein, die in der Quantenphysik durch das Konzept der Superposition vorgeschlagen werden. In der Schizophrenie polarisiert sich die Mehrdeutigkeit zur Ambivalenz (Superposition), wodurch „normale“ Lösungen abgeblockt werden. Garrisons theoretische Neufassung der Schizophrenie schlägt ein Modell für das Verständnis dessen vor, wie die Seele die durch die Superposition gestellten Probleme durch „Widerstand“ löst – durch die autonome Erzeugung negierter Interpretationen: Widerstand löst nicht nur Ambivalenz, sondern auch Unentschlossenheit auf, indem ein Entweder-oder oder gar keine Entscheidung erzwungen wird. Ambivalenz schließt mehrere Alternativen, Ambiguität

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und mehrfache Bedeutungen (Polyvalenz) aus und erzwingt so eine dominierende Spannung von Gegensätzen. Ambivalenz – in ihrer pathologischen Form – lässt die Welt auf Gegensätze zusammenschrumpfen und verhindert (blockiert) die Bewegung durch die Welt.16 Mit einem Spektrum gleichwertiger Möglichkeiten konfrontiert, ist die Tendenz, Verschiedenartigkeit zu Doppeldeutigkeit zusammensinken zu lassen, eine Methode, eine Entscheidung zugunsten einer Interpretation zu erzwingen. Was die Schizophrenie von „normalem“ Denken unterscheidet, ist nicht, dass der Gegensatz nicht aufgelöst ist: Es ist die Tatsache, dass die Schizophrenie eine pathologische Unfähigkeit ist, mit mehreren (sich überlagernden) Möglichkeiten oder Alternativen fertig zu werden. Eine „normale“ Auflösung ist eine, die innerhalb des Rahmens von Wittgensteins Lebensform bleibt. Garrison merkt hierzu an: Die Psyche muss mit der Konfiguration uneindeutiger, in widersprüchliche Tendenzen und Gegensätze fragmentierter Erfahrung fertig werden und ihren Weg durch das Labyrinth der Ähnlichkeiten finden, das sie anhand dieser Mehrdeutigkeiten erstellt. Überlagert man diesen mythenbildenden Prozess mit den verschiedenen Forderungen der Umwelt nach rationalen Einzelhandlungen – dem Mythos der Kontinuität und der Fantasie der Einzigkeit –, so ist das Potenzial für Ambivalenz tatsächlich recht groß.17 Dieser Theorie des Bewusstseins eignet, vermittelt durch ihre Grenzen, ein Element des Essentialismus. Es ist keine Darstellung, die eine vollständige Erklärung vorschlägt. Was Garrison stattdessen vorbringt, ist die These, dass die Bedingungen einer überlagerten, ungewissen Realität – sowohl im physischen als auch im interpretativen Sinne (d. h. dem Zustand umfassender Kenntnis) – eine Reihe von Bewältigungsstrategien für die Inkonsistenz unserer Interpretationen hervorgebracht haben. Diese Transformation von einem Bereich von Möglichkeiten in eine dualistische, paarweise Anordnung, einen Entweder-oder-Gegensatz, wird von der Agnotologie ausgenutzt: nicht durch eine pathologische Blockierung der Auflösung, sondern durch den Einsatz einer alternativen Reihe von Möglichkeiten – eine

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andere Entweder-oder-Dialektik –, die die Ungewissheit hinsichtlich der Wahl einer passenden Auflösung des interpretativen Problems erzeugt. Diese Ambivalenz bezüglich des Umgangs mit der Fundamentalanalyse ermöglicht das Erzeugen einer Interpretation, nicht einer Pathologie der Interpretation (agnotologische Interpretationen laufen normal ab, wie jeder andere normale Interpretationsvorgang), die die agnotologische Vorgehensweise charakterisiert. Dieses Modell der Schizophrenie offenbart zwei Arten von Ambivalenz, die auf die Interpretation einwirken; beide sind in normalen und in agnotologischen Konstruktionen wirksam. Die erste ist ein natürliches Merkmal der physischen Wirklichkeit, dem sämtliche Interpretationen auf mehreren Ebenen gerecht werden müssen: nicht nur das der physischen Sinnesdaten, sondern der anschließenden Verarbeitungen dieser Sinnesdaten in die gelebte Erfahrung, die wir bei der Begegnung mit der Wirklichkeit machen. Diese Ambivalenz ist ein wesentliches Merkmal des Universums und besteht unabhängig vom Beobachter. Die zweite Art der Ambivalenz entwickelt sich im Geist des Beobachters als eine Methode zur Überprüfung der Interpretationen der ambivalenten Umwelt. Beide fungieren in der Interpretation als Mittel zur Auflösung sich überlagernder Möglichkeiten durch Rückgriff auf empirische Beobachtung und anhand früherer Erfahrung und vorgängigen Wissens. Was die Agnotologie infrage stellt, ist die Anwendbarkeit (und Gültigkeit) dieser früheren Erfahrung. Die komplexen adaptiven Systeme des Mathematikers John Holland modellieren diese früheren Erfahrungen als eine „Bucket Brigade“, die annimmt, dass erfolgreiche Interpretationen künftige, auf ihnen basierende Interpretationen mit größerer Wahrscheinlichkeit erfolgreich machen werden. Sie bauen auf vergangene Erfolge als Weg, der dabei hilft, künftigen Erfolg sicherzustellen, d. h. die Vergangenheit fungiert als Orientierung für die Zukunft. Dieses Verfahren ermöglicht uns, die uns umgebende Welt zu verstehen, indem wir unsere frühere Erfahrung einsetzen, um künftige Interpretationen zu bilden. Der Deutungsvorgang, der bei Schizophrenen pathologisch ist, beginnt mit derselben grundlegenden Reihe von aus der Wahrnehmung stammenden Hinweisen und Prozessen, die sämtliche unserer Interpretationen einschränken und leiten, selbst solche, die komplexer als einfache Wahrnehmungen sind.

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Sämtliche Interpretationen sind notwendigerweise der Schizophrenie unterworfen, da sie als apriorische Unterteilungen und Einschränkungen der interpretativen Möglichkeit fungieren: Wittgensteins „Lebensformen“ beschreiben diese erfolgreichen vergangenen Erfahrungen. Sie verleihen unserer Fähigkeit, uns über die uns umgebende Welt auszutauschen, eine scheinbare Allgemeinheit. Pathologische Ambivalenz regt die Entwicklung einer unaufgelösten Inkonsistenz an, die den Geist zwingt, andere als die von „normalen“ Menschen verwendeten Lösungen anzunehmen. Diese Möglichkeit ist mit Bleulers Beobachtungen der Schizophrenie als einer Krankheit vereinbar, die durch Symptome ohne offensichtliche psychologische Ursache definiert ist. Die Beschreibung des schizophrenen Krankheitsbildes, bei dem es sich um ein Versagen adaptiver Interpretationen handelt, ist von der psychologischen Grundlage dieses Zustandes in der Psyche verschieden. Die schizophrene Psyche wählt eine mögliche Antwort, die nicht ebenso wahrscheinlich wie diejenige ist, die „normale“ Menschen wählen; dies ist ein direktes Ergebnis der durch unaufgelöste Ambivalenz geschaffenen Blockade. Die getroffenen Entscheidungen sind Teil desselben „Informationsraumes“, der auch normale Entscheidungen enthält, ergeben sich jedoch aus eigentümlichen Grundlagen. Die Entwicklung der Agnotologie kehrt diese Beziehung, welche die Trennung des Funktionalen vom Pathologischen ermöglicht, um: Sie setzt unauflösbare Widersprüche für etablierte, erfolgreiche Auflösungen ein, was nicht nur zu einer Abkehr von etablierten Lösungen, sondern auch dazu führt, unfähig zu sein, weitere Auflösungen zu bilden, und zwar genau deshalb, weil die Grundlagen dieser Auflösungen in Zweifel stehen und unaufgelöst bleiben – stattdessen suggeriert sie, dass sämtliche Lösungen von je eigener Art sind.

§ 7.6.a Der Ansatz zum Verständnis der Interpretation, der durch das Konzept der Superposition nahegelegt und durch die Betrachtungen zum Necker-Würfel und zu Gödels Unvollständigkeitssatz ausgearbeitet wurde, schafft einen Deutungsrahmen für Interpretation, der unbestimmt ist; einzelne Interpretationen gleichen Knoten in einem Netzwerk sich gegenseitig über-

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schneidender Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe – Positionen innerhalb einer Reihe von Möglichkeiten. Es ist dieses relationale Wesen der Interpretation, was es dem Agnotologischen ermöglicht, als Anti-Wissen hervorzutreten, jedoch zugleich durch den normalen Prozess der Auflösung von Ambivalenz abzulaufen. Der Zustand umfassender Kenntnis taucht als notwendige Abstraktion auf, die sich durch diese Herangehensweise ergibt; Versuche, ihn mithilfe digitaler Technologie als immanent zu erweisen, sind ein Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis und zugleich ein Symptom der Einwirkung der Aura der Information auf die Anwendung der digitalen Technik. Durch die Verwendung von Hollands Modell komplexer adaptiver Systeme als Mittel zur Auflösung der logischen „Black Box“ der vergangenen Erfahrung in Umberto Ecos Theorie der seriellen Form taucht das Knotenmodell für die Interpretation aus der Beziehung zwischen vergangener Erfahrung und der immanenten Entscheidung auf, eine mögliche Interpretation statt einer anderen zu wählen. Der Zustand umfassender Kenntnis ist eine logische Konsequenz dieses Modells.

§ 7.6.b Umberto Ecos Begriff des „Seriellen“ bedeutet vor allem, dass das Publikum von Serien die Art und Weise, auf die sein Wissen zur Interpretation einer bestimmten Episode einer Serie erforderlich ist, erkennt und anerkennt. Es ist eine reziproke Verbindung zwischen Immanenz und Erinnerung; sie impliziert ein Interpretationsmodell, in dem es zentral darum geht, dass der Interpretierende aktiv daran arbeitet, unbestimmte Möglichkeiten aufzulösen – genau diejenigen Situationen, die durch den Begriff der Superposition bezeichnet werden. Die Interpretationen des Betrachters setzen Deutungsrahmen ein, die durch frühere Begegnungen mit ähnlichen Typen entstanden sind, um Abweichungen von etablierten Normen vorauszusehen und zu erkennen.18 Durch die Auswahl einer bestimmten Interpretation aus einer Reihe möglicher Interpretationen – eine Auswahl, die späteren interpretativen Rücknahmen unterliegt – werden Widersprüche und Oszillationen zwischen gleichermaßen möglichen Interpretationen erzeugt (wie im Beispiel des Necker-Würfels). Es ist die vorläufige Natur dieser interpretativen Aus-

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wahl, was von Bedeutung ist: Sie lässt ein erweitertes Feld potenzieller Interpretationen entstehen, wenn als begrenzender Faktor des Deutungsrahmens, der diese Positionen größter Inkompatibilität beschreibt, die Möglichkeit interpretativer Inkonsistenz zugelassen wird. Dieses interpretative Konstrukt erzeugt ein stark vergrößertes Feld von Möglichkeiten, gültigen Interpretationen, und schafft gleichzeitig eine logische Rechtfertigung für jene alternativen Interpretationen. Auf diese Weise versetzt es das agnotologische Verfahren in die Lage, jegliche etablierte Interpretation infrage zu stellen. Es ist diese Ununterscheidbarkeit der Agnotologie-als-Interpretationsmethode, was die Wirkung aller Agnotologien erzeugt – die Schaffung einer unauflöslichen Ungewissheit: Agnotologie strebt nach der Erzeugung einer Reihe sich wechselseitig überlagernder möglicher Interpretationen.

§ 7.6.c Die Inkonsistenz, die die „Superposition“ darstellt – und was das Aufkommen der Agnotologie ermöglicht –, bietet den Mechanismus für die Anpassung im Modell komplexer adaptiver Systeme Hollands. Seine Beschreibung verwendet die natürliche Selektion für die Auswahl des am besten funktionierenden Beispiels aus einer Gruppe möglicher Lösungen.19 „Am besten funktionierende“ Interpretationen erfüllen die Anforderungen des Deutenden in der Begegnung mit der untersuchten Umwelt. Die Anforderungen werden durch die sie erzeugende Feedback-Schleife eingeschränkt und erzeugen so neue, auf früheren Erfolgen basierende Interpretationen.20 Inkonsistenz ist für diesen Vorgang wesentlich; die Möglichkeit, es zuzulassen, dass Inkonsistenzen gleichzeitig existieren und dass jene Inkonsistenzen hinsichtlich ihres relativen Erfolgsgrades bewertet werden, ist eine logische Notwendigkeit in dieser Struktur. Sie verlangt eine Rangordnung der Interpretationen, die in ihrer „Anpassung“ an die jeweils angetroffene, besondere Situation gründet. Modifiziert durch Ecos Rahmenkonzept der Serie werden diese Interpretationen als Knoten eines Netzwerks angeordnet. Das Konzept der Superposition legt ein Verständnis der Interpretation als eines „Satzes von Wahrscheinlichkeiten“ nahe, der statt eines singulären, deterministischen Ergebnisses einen Bereich provisorischer Möglichkeiten darstellt. Während Hollands komplexes adaptives System eine Methode be-

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reitstellt, auf sich überlagernde Möglichkeiten einzugehen, kann es Interpretationen möglicherweise auch in einer einzigen Position „festsetzen“ und die Art von interpretativer Verschiebung, die in der Betrachtung des Necker-Würfels so leicht zu erkennen ist, auf diese Weise zu einer problematischen Situation machen. Das augenblickliche Umschlagen zwischen einer Ausrichtung und einer anderen impliziert die Koexistenz von (mindestens zwei) sich gegenseitig ausschließenden Interpretationen, die wesentlich (und problemlos) austauschbar sind. Die serielle Version komplexer adaptiver Systeme rechtfertigt diese konkurrierenden Interpretationen, ohne uns notwendigerweise zu zwingen, zwischen ihnen zu wählen.21 Beides sind gleichermaßen gültige Interpretationen, die anhand ihrer Beziehung aufgrund von Variation als gültige Möglichkeiten definiert und gegenseitig gestützt werden. Der vollständige Satz der Möglichkeiten – die Existenz einer Reihe sich gegenseitig ausschließender (und intermediärer) Interpretationen – ist dasjenige, was Gültigkeit besitzt; nicht irgendeine Einzelinterpretation. Diese Alternativen untergraben die Interpretation nicht. Der gesamte Satz der Wahrscheinlichkeiten autorisiert alternative Möglichkeiten in demselben Augenblick, in dem irgendeine einzelne Interpretation scheinbar „Gültigkeit“ erlangt. Die wechselseitig garantierte Gültigkeit von Interpretationen im Zustand umfassender Kenntnis ergibt sich aus der Erweiterung der Superposition und optischer Täuschungen auf andere Arten von Interpretationen, die sich weniger offensichtlich (augenscheinlich) überlagern. Die Interpretation schreitet voran, indem sie Inkonsistenz als Technik einsetzt und auf diese Weise versucht, sich gegenseitig überlagernde Möglichkeiten, statt sie zu vermeiden, zu schaffen, da sich der Erfolg von Interpretationen durch die Begegnung mit diesen Unentscheidbarkeiten und dadurch ergibt, dass auf sie eingegangen wird. Hollands Modell komplexer adaptiver Systeme fordert, dass selbst dann, wenn kein offensichtlicher Widerspruch vorliegt, ein solcher geschaffen wird – Ambivalenz in der Psychologie ist die Erzeugung dieser Gegensätze; was aus dieser Ambivalenz als pathologische Schizophrenie auftaucht, beruht auf dem Umfang, der Stärke und dem unauflöslichen Wesen dieser Konflikte. Die spezifische Stärke von Hollands Modell, wenn es mit der Variabilität der Superposition konfrontiert wird, ist attraktiv, wenn wir die Vielzahl sich gegenseitig aus-

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schließender Theorien und Interpretationen bedenken, die für umfangreichere theoretische Bereiche charakteristisch sind. Gleichzeitig legt Gödels Unvollständigkeitssatz nahe, dass das Auftreten von Inkonsistenzen innerhalb eines Interpretationsschemas unvermeidbar ist. Unsere Fähigkeit, mehrere verschiedene (selbstwidersprüchliche) Interpretationen gleichzeitig zu akzeptieren, zu bewerten und sogar zu verwenden, lässt vermuten, dass der Umgang mit Interpretationen, der sie als Knoten innerhalb eines Netzes von Möglichkeiten sieht, eine empirische Grundlage hat. Die Rolle, die frühere Erfahrung in der Interpretation spielt, dient dazu, die inkonsistenten Aspekte der alltäglichen Erfahrung zu verschleiern; dass die Welt weder unheimlich noch inkonsistent erscheint, ist ein notwendiges Ergebnis der Funktionsweise von Hollands Baustein-Funktion: Die Interpretation übernimmt die wahrscheinlichste Möglichkeit, die mit dem, was sich bereits als erfolgreich erwiesen hat, übereinstimmt. Nur in sehr speziellen Situationen, in denen alternative und gleichermaßen mögliche Interpretationen auftauchen, „erscheint“ – wie im Falle des Necker-Würfels oder bei Paradoxien im Allgemeinen – die zugrunde liegende Superposition.

§ 7.6.d Die Sicht der Interpretation, die sie als Knoten innerhalb eines Netzes von Möglichkeiten versteht, sieht jede einzelne, immanente Interpretation als eine Auswahl aus einer Reihe von Wahrscheinlichkeiten, die seriell aufgebaut ist – als eine Sammlung verschiedener, konkurrierender Interpretationen. Diese Sicht öffnet auf flexible Weise Möglichkeiten der Rechtfertigung von Interpretationen, deren Ergebnis offen ist. Das Knoten-Modell ist ein Modell, bei dem Interpretationen „Knotenpunkte“ in einem multidimensionalen Raum von Möglichkeiten sind; als Ganzes genommen beschreiben diese Knoten den Zustand umfassender Kenntnis – den „Informationsraum“. Da das Knotenmodell, oberflächlich betrachtet, quantifizierbar erscheint, impliziert es die Möglichkeit, durch die Anwendung von Technologie instrumentalisiert zu werden – d. h. insbesondere durch die digitale Technik. Es ist genau die Analogie eines Knoten-(oder Netzwerk-) Konzepts der Interpretation, was die Möglichkeit des Übergangs zur­

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Instrumentalität andeutet; bei dieser Anwendung handelt es sich jedoch um eine Verdinglichung. Die Fähigkeit, einen Prozess zu beschreiben, in dem Erwartungen auftauchen, Interpretationen Gestalt annehmen und sich dann entwickeln können, stellt einen Rahmen für die generelle Rechtfertigung von Interpretationen durch den Rückgang auf einen Satz möglicher Interpretationen bereit. Die theoretische Beschreibung von Interpretationen als „knotenhaft“ verschiebt den Nachdruck bei der Verteidigung bestimmter Interpretationen von einer externen Grundlage (immanente empirische Richtigkeit) zu einer internen: Bestimmte Interpretationen werden anhand und durch die Existenz von Alternativen mit gemeinsamen Merkmalen gerechtfertigt: „Wahrheit“ begrifflich als Spektrum von Möglichkeiten verstanden. Dieser Vorgang erschafft einen Zustand, in dem sämtliche Möglichkeiten als Information koexistieren. Die zeitweilige Überlegenheit einer Interpretation macht die anderen nicht ungültig; die Verschiebung zu einer anderen Deutungssicht bleibt stets eine immanente Möglichkeit. Wie Ecos serielle Formen hängt die Herangehensweise von Bedeutung, die sie als Knoten in einem Netz versteht, nicht von spezifischen Einzelinterpretationen, sondern von der Beziehung zwischen bestimmten Interpretationen und dem sie hervorbringenden System ab, welches sie in ihrer Gesamtheit definieren. Die Fähigkeit der digitalen Technik, Daten direkt zu manipulieren, führt zu dem allgemeinen Streben, den „Informationsraum“ selbst zu manipulieren und einzuschränken: Dies ist das Streben der digitalen Technik nach dem Zustand umfassender Kenntnis. Dieses Streben erfordert eine Einschränkung und Verdinglichung dieses Raumes, wodurch seine Variabilität zu einer begrenzten apriorischen Reihe von Möglichkeiten zusammensinkt. Die Illusion, dass dieser Raum, wie groß er auch sei, unendlich ist, ist die Aura des Digitalen in Aktion. Interpretationen, die Bedeutung als Knoten in einem Netz begreifen, werden durch das Konzept der gegenseitig garantierten Gültigkeit gerechtfertigt: Die Gültigkeit einer Interpretation wird durch ihre Beziehung zu anderen möglichen Interpretationen begründet. In diesem Schema ist „vergangene Erfahrung“ eine Methode zur Auswahl von Interpretationen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer Reihe möglicher Interpretationen, doch dies hebt die Möglichkeit, von einer Interpretation zu einer anderen zu wechseln, nicht auf: Das Schema ist nicht die Quelle für die Gültigkeit

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irgendeiner einzelnen Interpretation, die einer anderen entgegengesetzt ist. Die Abschaffung einer dialektischen beziehungsweise dualistischen Interpretationsgrundlage erzeugt den scheinbaren (oberflächlichen) Egalitarismus des Zustands der Information, in dem sämtliche Interpretationen potenziell gültig sind. Dies ist eine im philosophischen Sinne relativistische Konstruktion, da dieser gesamte „Informationsraum“ in „Superposition“ existiert. Zu einem gegebenen Zeitpunkt kann nur jeweils eine Möglichkeit gültig sein. Die „Knoten“ sind Abstraktionen, die innerhalb dieses Raumes nicht wirklich existieren, sondern sie sind stattdessen Eigenschaften unserer Interpretationen, die in die Parameter des Raumes selbst fallen. Sie dienen der begrifflichen Erfassung ihrer wechselseitigen Beziehungen. Obwohl das hier vorgeschlagene Modell der Interpretationen, das sie als Knoten innerhalb eines Netzes von Möglichkeiten versteht, äußerst schematisch ist, legt es mögliche Strategien für die Rechtfertigung von Interpretationen nahe, ohne ihre spätere Ablehnung oder Revision auszuschließen; es ist eine Methode, einzelne Möglichkeiten aus dem Zustand umfassender Kenntnis auszuwählen. Es ist allerdings wichtig zu erkennen, dass es einen Unterschied zwischen der an Netzknoten orientierten Herangehensweise an die Interpretation und dem interpretativen „Raum“ gibt, den diese Herangehensweise ihrem Wesen nach suggeriert – der Zustand umfassender Kenntnis ist eine Abstraktion, die durch die an Netzknoten orientierte Herangehensweise zwar selbst impliziert wird, jedoch davon unabhängig ist.

§ 7.7.a Die Instabilität des Necker-Würfels wird zur Instabilität zwischen verschiedenen Maßstabsebenen innerhalb einer gegebenen Konstruktion. Was wir gewöhnlich als „Erfahrung“ und „Fachkenntnis“ bezeichnen, sind Formen erlernten Verhaltens. Wenn wir mit einem Spektrum gleichwertiger Möglichkeiten konfrontiert sind, zwingt uns die ambivalente Natur der Wahrnehmung zu einer interpretativen Entscheidung; ohne eine anfängliche Entscheidung bezüglich der Beziehungen und der Organisation kann es keine Entwicklung in Richtung erfolgreicher Interpretationen geben. Roland Barthes’ Beobachtungen über ursprüngliche Interpretationsentscheidungen haben Gültigkeit für alle Bedeutung tragenden Konstruktionen:

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Abstand und Nähe fördern die Bedeutung. Ist dies nicht das große Geheimnis jeder lebendigen Semantik? Alles geht aus der räumlichen Erstreckung oder der Abstufung der Artikulation hervor. Bedeutung erwächst aus einer Kombination nichtsignifikanter Elemente (Phoneme, Linien); doch es reicht nicht aus, diese Elemente bis zu einem Grad zu kombinieren, um die Schaffung von Bedeutung zu erschöpfen: Was kombiniert wurde, bildet Aggregate, die ein zweites, ein drittes Mal untereinander kombiniert werden können.22 Barthes erörtert die Organisation der zusammengesetzten Köpfe des manieristischen Malers Guiseppe Arcimboldo, doch er könnte ebenso gut die paranoisch-kritischen Gemälde von Salvador Dalí diskutieren, oder die Graphysics des zeitgenössischen Malers Rostarr. Diese Beobachtungen gelten auch dafür, wie wir Markierungen auf einer Seite in Buchstaben umwandeln, aus denen Wörter werden, aus denen dann ihrerseits Sätze, Absätze und so weiter werden. Es ist die Erhöhung der Organisation, woraus Konstruktionen hervorgehen, die – wenn sie zueinander in Beziehung gesetzt werden – über erfolgreiche vergangene Erfahrungen bedeutungstragend werden können. Betrachten wir Negative Space Traveler 7 (2008), ein Gemälde des in New York lebenden Malers Rostarr. Bei der Interpretation dieses Gemäldes erzeugen wir Ordnung im Netz der Linien, indem wir Entscheidungen über eine Reihe von Beziehungen treffen, die Figuren entstehen lassen; diese Entscheidungen strukturieren, was wir sehen und sind ein Teil der Aussagekraft des Werkes. Das Erscheinen der Figuren in diesen Gemälden erfordert eine Interpretation abstrakter Linien als Darstellung; es spiegelt die Entscheidungen wider, die bei der Interpretation des Necker-Würfels getroffen werden. Diese Figuren entsprechen einem Potenzial, doch ebenso möglich ist die Auffassung des Bildes als Netz aus abstrakten, sich überlappenden Bändern. Jedes Bild verharrt in Superposition, bis die eine oder andere Möglichkeit für den Betrachter zur dominanten Interpretation wird. Es ist diese Verschiebung der Interpretationen, was Rostarr – in expliziter Anerkennung der in diesen Bildern vorhandenen Superposition – als „Graphysics“ bezeichnet.23

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Rostarr, Negative Space Traveler 7 (2008). Copyright Rostarr; Abdruck mit Erlaubnis.

Die hier bewirkte Transformation ist eine Verschiebung zwischen einer Mannigfaltigkeit reiner Abstraktion, die aus den minimalistischen Bildern von Frank Stella bekannt ist, und die zu einem Netzwerk aus Gesichtern und anthropomorphen Formen wird. Das Auftauchen von Gestalten ist eine bestimmte Entscheidung des Betrachters und verleiht diesen Werken einen dramatischen anthropomorphen Charakter: Sie beschwören eine interne, subjektive Realität, deren Instabilität den veränderlichen Charakter des Zustands der Information widerspiegelt.

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§ 7.7.b Der entscheidende Faktor in diesen Interpretationen ist die „erfolgreiche frühere Erfahrung“ – diese entspricht den „Lebensformen“, von denen Wittgenstein behauptet, dass sie jeder Begegnung als apriorische Struktur vorausliegen. Der Erfolg dieser früheren Erfahrungen hängt allerdings nicht vom Interpretierenden oder einer bestimmten Interpretation ab, sondern von der Fähigkeit anderer Interpretierender, ebenfalls eine ähnliche Interpretation hervorzubringen, wenn sie mit demselben Ausgangsmaterial konfrontiert sind. Abbott und Costellos Who’s on First? veranschaulicht das Problem: Costello: Also, wer tritt als erster auf ? Abbott: Ja. Costello: Ich meine den Namen des Kerls. Abbott: Wehr. Costello: Der Typ, der zuerst auftritt. Abbott: Wehr. Costello: Der erste Bassist. Abbott: Wehr. Costello: Der Typ, der spielt . . . Abbott: Wehr tritt als erster auf! Costello: Ich frage dich, wer als erster auftritt. Abbott: Das ist der Name des Kerls. Costello: Wer heißt so? Abbott: Ja. Costello: Nun, komm schon und sag’s mir. Abbott: Das ist er. Costello: Das ist wer? Abbott: Ja. Die Komik dieses Dialogs hängt damit zusammen, dass „Wehr“ und „wer“ gleich klingen. Wir lachen über dieses Missverständnis, weil wir wissen, wie leicht es dazu kommt und wie frustrierend es ist, wenn es auftritt. Abbott

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erklärt Costello die „Regeln“ der Substitution nicht und die einfache Erklärung, dass der erste Bassist Wehr heißt, hängt von unserer Fähigkeit ab, eine Verschiebung in der Funktion des Wortes „Wehr/Wer“ zu erkennen. Die Komik dieser Nummer ist daher sadistisch: Sie ergibt sich aus der semiotischen Qual Costellos und seiner Unfähigkeit und wachsenden Frustration mit Abbotts Weigerung, seine Frage zu beantworten. In Wirklichkeit sprechen sie zwei vollkommen verschiedene Sprachen. Worum es in jedem dieser Fälle geht, ist ein Unterschied zwischen Autor und Leser; die Staffelung der Artikulationen geht nach einem Satz von Regeln vor, die der Leser entweder implizit bei der Interpretation anwendet, oder durch Versuch und Irrtum entdecken muss, um die alternative, erklärende Bedeutung in Who’s on first? für sich zu finden. Hierbei handelt es sich um einen Prozess dynamischer Auseinandersetzung, nicht um einen passiven, bei dem der Leser lediglich Anweisungen vom Autor erhält. Er verlangt die Auswahl eines angemessenen interpretativen Engagements, um einen Anschein von Bedeutung zu finden. Was bei der Nachzeichnung der Parameter einer Interpretation auftaucht, ist ein sich wandelnder Satz von Beziehungen nicht nur zwischen den interpretierten Elementen, sondern zwischen dem Autor (Abbott) und dem Leser (Costello). Die sich wandelnden Beziehungen zwischen den Elementen sind ein Wegweiser für die wandelbare Natur von auf einem Netzwerk basierenden Interpretationen. Sie offenbaren das auktoriale Gefälle zwischen Abbott, Costello und dem Leser, der die Dynamik erkennt und an der aufgeführten Komik beteiligt ist. Unsere interpretative Fähigkeit, unsere ursprünglichen Annahmen „sicher abzuspeichern“ und – basierend auf ihrer Anwendbarkeit auf eine bestimmte Situation – abzuwandeln, erlaubt uns die Auflösung von Paradoxien. Es ist dieser Feedback-Prozess, der in Hollands Modell komplexer adaptiver Systeme von entscheidender Bedeutung für Anpassung (und Interpretation) ist. Sprache und Kommunikation funktionieren weder automatisch noch sind sie notwendigerweise zweideutig. Der Übergang vom Zustand umfassender Kenntnis zur Wirklichkeit der Interpretation hängt davon ab, wie wir unsere Kenntnis der „Regeln“ anwenden: Daher wird das Auftauchen von Bedeutung durch die Fähigkeit anderer Interpretierender bestimmt, diese Interpretation ebenfalls als eine solche zu erkennen: Dies

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ist der Unterschied zwischen dem abstrakten Zustand umfassender Kenntnis und seinem Auftauchen innerhalb irgendeiner bestimmten Interpretation. Es ist diese anfängliche Entscheidung, die dem gesamten anschließenden Interpretationsprozess ihre Form verleiht. Da sich die Unfähigkeit zu kommunizieren in Who’s on First? aus der Inkonsistenz zwischen „normalen“ und spezifischen Verwendungen ergibt, zeigen die assoziativen Verfahren der rhetorischen „Sprünge“, die in diesem Dialog offensichtlich sind, dass Superposition eine Methodologie für das Auffinden von „Regeln“ ist, da sie eine Methode zur Überprüfung und eine Technik zur Erweiterung interpretativer Ergebnisse an die Hand gibt.

§ 7.7.c Bedeutungen werden besonders dann pathologisch, wenn sie singulär sind und nur von einem Interpretierenden vertreten werden. Nach dem Psychologen Mark Garrison ist die Erfahrung der Superposition, der wir in dem Dialog zwischen Abbott und Costello begegnen, eine wesentliche Komponente der Kommunikation; ohne sie könnte es das als „Dichtung“ und „Rhetorik“ bezeichnete kreative Denken nicht geben. Wie Garrison feststellt, erlaubt sie die Kommunikation von Ideen, die nicht sofort erkennbar sind: Jung charakterisierte Bleulers Verständnis der Ambivalenz [Superposition] als die „Fusion einer Funktion mit einer anderen“. […] Rhetorik beweist, dass Mehrdeutigkeit für Sprache grundlegend ist, denn in der Rhetorik konvergieren sämtliche Aspekte der Mehrdeutigkeit. […] In einer wörtlich genommenen Metapher ist die Kommunikation blockiert und die Bedeutung kommt nicht vom Fleck. […] Eine Metapher ist, vermittelt durch Wiedererkennung und Akzeptanz, therapeutisch, einfallsreich, schöpferisch und verbindend. Sie ist ein für die psychologische Erfahrung unerlässliches Phänomen.24 Mit rhetorischen Kunstgriffen gelingt die Umwandlung „normaler“ Rede in eine dichterische Konstruktion, die ein assoziatives Verstehen begünstigt. Überredung gelingt in rhetorischen Werken durch die Transposition

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von Werten ohne die Verwendung logischer Strukturen; diese Wirkung ergibt sich, wenn Superposition zusammenbricht. Dieser Transfer geschieht, weil sich der Sprecher und der Hörer – unausgesprochen – darauf einigen, die Superposition assoziativer Rede zu akzeptieren. Ohne die Vereinbarung unter den Sprechern, dass sich Bedeutung nach bestimmten „Regeln“ ergibt, in denen die verwendeten Wörter eindeutige Rollen haben, können wir nicht kommunizieren; denn das Zusammenspiel, das die Komik in Who’s on First? entstehen lässt, hebt diese Regeln auf und ist sowohl eine Verwirrung als auch ein Witz (wie dies bei der Verwechslung von Realität und Metapher, die Barthes im nachfolgenden Beispiel beschreibt, der Fall ist). Es gibt eine Überschneidung zwischen Garrisons Ambivalenz und Barthes’ semiotischer Theorie: Beide behaupten, dass Inkonsistenz in einem Modell der Kommunikation und des Missverstehens eine zentrale Rolle spielt. Entscheidend für Barthes’ Erklärung seines semiotischen Verfahrens ist die wörtlich verstandene Metapher: Eine der Techniken des Dichters Cyrano de Bergerac besteht darin, eine vollkommen banale Metapher der Sprache zu verwenden und ihre wörtliche Bedeutung auszunutzen. Wenn die Sprache sagt „vor Trauer sterben“, denkt sich Cyrano eine Geschichte eines zum Tode verurteilten Mannes aus, dessen Henker ihm so schwermütige Lieder vorsingen, dass er schließlich aus Traurigkeit über seinen eigenen Tod stirbt.25 Diese Erzählung ist absurd, in ihren Implikationen komisch. Sie schlägt eine Beziehung vor, die die Rolle der Sprache und die Leistung von Metaphern offensichtlich verzerrt – Lieder bringen keine Menschen um, mögen sie auch noch so deprimierend und traurig sein. Unsere Interpretationen vollziehen diesen Sprung, „ohne“ zu denken; es ist eine stillschweigende Übereinkunft, die auf unseren vergangenen Erfahrungen mit den „Regeln“ basiert. Diese Art der Vereinbarung wird häufig als transparent bezeichnet, denn wir werden uns unserer Mitwirkung bei der Übernahme ihrer Bedingungen oder unserer Rolle bei der Aufrechterhaltung und Verwendung dieser Konventionen – deren Zweck darin besteht, die Mehrdeutigkeit in Grenzen zu halten, damit wir kommunizieren können – nicht bewusst. Wir

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sind mit den „Regeln“ dieser Art von Aussagen vertraut und mit der rhetorischen Verbindung, die sie herstellen; es ist die Art von Verschiebung, die der Zustand umfassender Kenntnis beschreibt.

§ 7.7.d Das Konzept des „semiotischen Ungehorsams“, wie es von der Juraprofessorin Sonia K. Katyal entwickelt wurde, beschreibt den anhaltenden Streit um intellektuelles Eigentum als eine Funktion der politischen Rede; sie nimmt in ihr Konzept jedoch die Inbesitz- und Inanspruchnahme intellektuellen, greifbaren oder sogar materiellen Eigentums mit auf. Ich nenne diese jüngsten künstlerischen Praktiken Beispiele von „semiotischem Ungehorsam“, weil sie häufig die bewusste und absichtliche Neuschaffung von Eigentum durch besitzergreifende und expressive Akte involvieren, die bewusst die Verletzung des für intellektuelles und materielles Eigentum geltenden Gesetzes riskieren.26 Katyal führt hierzu weiter aus: Dieser Aufsatz definiert semiotischen Ungehorsam so, dass er eine Reihe von Herangehensweisen an visuelle, faktische und verbale Repräsentationen einschließt, einschließlich die mutwillige Zerstörung, Untergrabung und „Aufzeichnung“ bestimmter Arten von intellektuellem, staatlichem und privatem Eigentum für die öffentliche Verwendung und Äußerung.27 Der Nachdruck auf materielles Eigentum in einer Diskussion von intellektuellem Eigentum ist zu erwarten; allerdings verschleiert dieser Nachdruck die disruptiven Funktionen von Aufzeichnungen; diese gehen so vor, dass Superpositionen dadurch auftauchen können. Was diese Transformationen leisten, ist eine Veränderung der Bedeutung durch eine systematische Verschiebung der „Regeln“, die eine veränderte Auflösung der Paradoxie der Interpretation zur Folge haben. Diese Änderung spiegelt einen Unterschied in den zu jedem gegebenen Augenblick verwendeten Potenzialen und den Möglichkeiten wider, die im Informationsraum selbst enthalten sind. Das im gesamten 20. Jahrhundert (unter neuer Bezeichnung) erfolgende systemati-

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sche Wiederauftauchen von Remix, Appropriation, Mash-up, Montage, Collage – die Neuzusammensetzung und Veränderung von hergestellten Materialien in neuen Kunstobjekten, wie immer die zu ihrer Beschreibung verwendete Bezeichnung lautet –, Duchamps Konzept des Objet trouvé, Skulpturen aus Gegenständen des täglichen Gebrauchs, sogar die Transformation von gewöhnlichen Objekten in der Pop Art sind sämtlich Variationen dieser Unterbrechung des konventionellen Umgangs mit Gegenständen. Anfänglich ist allen diesen Aktionen eine Kategorieverschiebung vom alltäglichen Gegenstand zum Kunstwerk gemeinsam; bei der Durchführung dieser Verschiebung verletzen sie ein etabliertes semiotisches System der Organisation zugunsten anderer, impliziter und gültiger, jedoch unausdrücklicher Werte. Durch eine Verschiebung der im Zustand umfassender Kenntnis beschriebenen Potenziale erscheinen uns diese Änderungen rückblickend sowohl natürlich als auch logisch, doch sind es allesamt Beispiele für die im Zustand umfassender Kenntnis selbst implizite Superposition. Katyals Konzept des semiotischen Ungehorsams geht auf Graffiti und andere Formen von „Culture Jamming“ ein, die direkt als politische Rede eingesetzt werden, jedoch eine Verschiebung in der Auseinandersetzung zwischen Publikum und Objekt erzwingen. Alle diese Formen hängen von der Transformation etablierter Bedeutung und Ordnung und ihres Ersatzes durch eine Alternative ab. Die Gültigkeit dieser Transformation wird durch die Suspension der Gültigkeit durch den Zustand umfassender Kenntnis begründet: Interpretation ist ein ambivalentes Phänomen, welches offenbart, dass die Autorität offizieller Äußerungen eine politische Position unter anderen ist. Die im Zustand umfassender Kenntnis auftauchende Superposition ist für etablierte Ordnungen – sowohl der politischen Herrschaft als auch des politischen Widerstandes – höchst bedrohlich, da sie die Nachrichten-Codes beider untergräbt. Jose Parlás Gemälde Temporary Autonomous Zone (2008) ist ein typisches Gemälde in Wandgröße: Es ist bedeckt mit Schleifen stilisierter Kalligraphie und umfasst ein einzelnes Poster mit der Aufschrift „US-Truppen jetzt abziehen“. Es ist zerrissen und an den Rändern zerfranst: eine offizielle Aussage, die das Gemälde dominiert. Der verfallene Zustand des Posters impliziert die Instabilität der politischen Nachricht, die es übermittelt. Ebenso wie die verwendete Collage, die selbst immer bereits ein

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Jose Parlá, Temporary Autonomous Zone (2008). Copyright Jose Parlá; Abdruck mit Erlaubnis.

Beispiel semiotischen Ungehorsams ist, beschwört diese politische Aussage, die sowohl ältere Schichten überdeckt als auch von jüngeren überdeckt wird, eine Superposition von Bedeutung. Während es sich explizit um eine politische Aussage handelt, fehlt ihr die Dringlichkeit, die der weitergegebenen Mitteilung angemessen wäre – JETZT scheint schon lange vorüber – und schwächt sie daher ab. Ihre spezifisch politische Nachricht wird zu etwas Historischem; das Leben geht unerbittlich weiter und schließt sowohl die herrschenden Mächte als auch die Einwände der Beherrschten in seine Matrix ein. Dies stellt die Gleichwertigkeit der durch den Zustand umfassender Kenntnis bezeichneten Positionen visuell dar. Parlás Gemälde überlagert die Proteste gegen den Irak-Krieg mit den Krieg befürwortenden Haltungen durch die Darstellung des Posters: zerrissen, schmutzig und abgewetzt erzeugt es eine Stimmung, die zugleich fordernd und passiv ist. Es wird möglich, die Forderung gleichzeitig auf unterschiedliche Weise zu sehen: als gescheitert, erfolgreich oder sogar als von anderen, dringenderen Belangen überholt. Die Transformation von immanent zu vergangen lässt den Status seiner Proklamation im Zweifel. Die daraus resultierende Vielfalt der Potenziale destabilisiert sämtliche möglichen Positionen, die in Beziehung zur Aussage des Posters eingenommen werden können – Befürwortung, Leugnung, Apathie: Sie lässt sie als gleichwertige Potenziale zusammenfließen. Jedes ist als gültiges Potenzial gerechtfertigt, jedoch zugleich durch die immanente Präsenz der Alternative infrage gestellt: Sie sind eine Bekräftigung von Möglichkeiten, von al-

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ternativen politischen Situationen. Dieses Paradox spiegelt sich in der Ambivalenz des Titels wider, Temporary Autonomous Zone,28 bei dem es sich um einen Verweis auf das Buch von Hakim Bey handelt. Die durch die Mehrdeutigkeit in dem Gemälde aufgeworfenen Fragen erinnern an seinen intertextuellen Namensvetter.

§ 7.8 „Superposition“ beschreibt sowohl das Paradox als auch unsere Unfähigkeit, eine Lösung zu dem von ihm dargestellten Problem zu finden, durch die Erörterung der Art und Weise, wie ein Beobachter ein Experiment interpretiert. Albert weist darauf hin, dass Superposition erfordert, dass wir gleichzeitig an beide Möglichkeiten glauben: Die standardmäßige Art, über dasjenige zu denken, was es bedeutet, sich in einer Superposition zu befinden, widerspricht auf irgendeine Weise geradewegs dem, wovon wir auf unfehlbare Weise wissen, dass es auf unser eigenes Seelenleben zutrifft.29 Das Konzept der Superposition bereitet einem neuen Modell der begrifflichen Erfassung den Weg. Es scheint als eine Methode, das Widersprüchliche zu „lösen“, indem es dieses nicht auflöst. Statt einen Weg zu finden, die resultierende Inkonsistenz, die unsere Interpretationen produzieren, zu verwerfen, schlägt die Superposition vor, diese Inkonsistenzen seien dasjenige, worum es in der Theorie geht. Sie bringt einen Satz von Alternativen hervor, der suggeriert, dass jegliche Interpretation schließlich ihren eigenen immanenten Inkonsistenzen zum Opfer fällt: Gödels Satz beweist, dass alle formalen Systeme unvollständig sein müssen. Die Implikation dieser Entwicklungen ist, dass die Wirklichkeit sich im Fluss befindet, ständig Gegenstand von Untersuchung, Umwandlung und Kontroverse. Instabilität von Beziehungen und die sich daraus ergebende Ungewissheit – die Mehrdeutigkeit des Zustandes der Information als Beschreibung der Wirklichkeit – liefert die erkenntnistheoretische Erlaubnis für das Aufkommen der für den digitalen Kapitalismus typischen Erzeugung von Agnotologie. Diese Agnotologie nutzt die durch den Zustand umfassender

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Kenntnis dargestellte Suspension der Gültigkeit, um ihre spezielle Wirkung auf Interpretation und Wissen zu erzielen: Das oberflächliche Abgleiten in den Relativismus, das die Aura der Information nahelegt, ist der ermöglichende Faktor für die entgegengesetzte Produktion der Agnotologie. Indem sie alternative Interpretationen vorschlägt, die auf ähnlichen (oder sogar identischen) Daten basieren, jedoch mit verschiedenen impliziten Annahmen fortfährt, ist die Agnotologie für die Aura der Information symptomatisch. Der agnotologische Prozess entspricht der sozio-politischen Ausnutzung der Auflösung von Deutungskonflikten durch Superposition: der Verwendung der Agnotologie zur Schaffung von Ungewissheit zu ökonomischem oder politischem Nutzen; einer Verdinglichung des Zustands der Information, ohne die Dimension der (durch Logik und Empirismus eingeschränkten) Wahrheit in diesem Raum anzuerkennen. Die Forderung, alle Interpretationen auf gleiche Weise zu akzeptieren und zu bewerten – der positive Aspekt der Sichtweise, die ihre Beziehungen mit den Knoten eines Netzes vergleicht –, präsentiert sich als Reihe negativer Konsequenzen der agnotologischen Auflösung der Gewissheit als eine Methode, um politisches Engagement oder Handeln zu verhindern: Man denke an die verschiedenen, vor und nach der Krise von 2008 gelegentlich gehörten Forderungen, die „Zentralbank zu prüfen“ oder „Fort Knox zu prüfen“ oder „  _________ zu prüfen“. Alle diese politischen Aktionsaufrufe haben ein grundlegendes Problem: Es besteht nicht darin, wie die Ergebnisse der Prüfung aussehen mögen, sondern in der fehlenden Glaubwürdigkeit sämtlicher produzierten Ergebnisse für diejenigen, die die Forderung aufstellen. Hierbei handelt es sich nicht um eine postmoderne Pluralität oder Relativität von Werten, sondern die Situation ist repräsentativ für einen anderen Prozess, dessen Wirkung dem Relativismus oberflächlich ähnelt, aber davon verschieden ist. Wie in anderen Fällen agnotologischer Aktion, wie etwa den Forderungen, dass der amerikanische Präsident Barack Obama seine „echte“ Geburtsurkunde vorlegt (die sich selbst dann noch fortsetzten, als er das tatsächliche Dokument beigebracht hatte), besteht das Problem mit diesen Forderungen nach einer „Prüfung“ im Wesentlichen in der Weise, auf die Agnotologie den Prozess der Gewinnung und Prüfung von Wissen unterminiert hat: Es besteht eine systematische Ungewissheit bezüglich der Fak-

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tizität jeglicher Behauptung, bezüglich jeglichen vorgelegten Beweismaterials, jedes beigebrachten empirischen Beweises. Dies ist der Relativismus, der durch die Aura der Information in Aktion aufgeworfen wird – es kommt nicht darauf an, wie die Ergebnisse irgendeiner Prüfung aussehen mögen, weil es keinen Raum mehr gibt, in dem wir als Publikum uns darauf einigen könnten, was diese Ergebnisse bedeuten könnten, welches der epistemische Wert dieser Beweise sein könnte. Die Fähigkeit, Fakten zu ermitteln, wurde durch den Vorgang aufgelöst, der verwendet wird, um diese Fakten selbst zu erzeugen. Es ist der Zusammenbruch derjenigen Verfahren, die Wissen produzieren sowie die Zuverlässigkeit von Information begründen und die angegriffen werden, wenn die Agnotologie vorherrschend wird. Daher steht, unabhängig davon, wie das Ergebnis einer solchen Untersuchung aussehen mag, die Untersuchung selbst in Frage. Diejenigen, die diese Untersuchungen fordern, beginnen mit der Voraussetzung, dass, welche Prüfung sie gegenwärtig auch zur Verfügung haben mögen, diese wertlos ist – was das offensichtlichste Anzeichen dafür ist, dass ihr Denken in der Falle des Agnotismus gefangen ist. Das Problem, welches ein vorherrschendes Regime der Agnotologie darstellt, besteht darin, dass es zu Zweifeln an jeglichem Ergebnis berechtigt – an buchstäblich jeder einzelnen Information –, das beziehungsweise die nicht in einen vorgängigen Bezugsrahmen passt. Dies macht die Infragestellung etablierter Denkmuster schwer, wenn nicht gar unmöglich: Die Wirkung der Agnotologie besteht – so pervers dies ist – in einer Verstärkung der Gewissheit, da sie Alternativen, die solche Ideen anfechten könnten, untergräbt. Auf diese Weise führt sie zu mangelnder Bereitschaft zum Kompromiss und einer Inflexibilität im Denken – beides sind „Lösungen“ zu dem von Bleuler und Garrison beschriebenen Problem der Ambivalenz. Die pathologischen Dimensionen dieser Reaktion zeigen sich in der Weise, in der diese „Gewissheit“ die Fähigkeit blockiert, alternative Möglichkeiten zu überprüfen, neu zu durchdenken und sie als (und sei es auch als nur potenziell) gültig zu akzeptieren. Die Variabilität und die Grenzen der Interpretation, die sich während des 20. Jahrhunderts in der Quantenphysik und der Mathematik entwickelt haben, führten zum Aufkommen des Zustands der Information. Sie sind außerdem Voraussetzungen für die Erfindung der gegenwärtigen digitalen Computertechnologie. Die scheinbare „Natürlich-

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keit“ des interpretativen Rahmens, der den Zustand umfassender Kenntnis erzeugt, steht in enger Beziehung zur Erfindung dieser Technologien, ihrer großen Verbreitung sowie zum gegenwärtigen kulturellen Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis, das durch die digitale Technik im Allgemeinen zur Schau gestellt wird. Die Konsequenzen dieses Denkansatzes bleiben genau deshalb ungewiss, weil er ein erweitertes Feld der Interpretation darstellt. Obwohl sie durch Paare sich gegenseitig ausschließender Möglichkeiten begrenzt wird (wie in den Ausrichtungen des Necker-Würfels am deutlichsten wird), ist die Erkenntnistheorie, die der Zustand umfassender Kenntnis implizit herbeiführt, kein auf Dialektik und Dualitäten, sondern auf einem Bereich von Potenzialitäten erbautes System, das intermediäre und hybride Interpretationen einschließt. Die traditionellen Probleme eines Wissenssystems, das auf Gewissheit und einzelnen Werten basiert, lösen sich in ein netzartiges Konzept auf, in dem diese Werte zwar weiterhin existieren, jedoch als Dimensionen des Systems selbst.30 Wenn dialektisches Denken seinem Wesen nach alchimistisches Denken ist – das Zusammentreffen entgegengesetzter Kräfte, das ein neues, höheres Ergebnis erzeugt –, beruht das erweiterte Feld der netzartigen Interpretation im Wesentlichen auf Superposition: Das Ergebnis wird in der Schwebe gehalten und wartet auf das Auseinanderfallen in die Einzelheiten eines bestimmten Ergebnisses (das grundsätzlich temporär bleibt). Gleichzeitig ist das erweiterte Feld der Interpretation ein Feld, in dem alle Interpretationen – selbst die später empirisch widerlegten – als Interpretationen „Gültigkeit“ innerhalb des Rahmens potenzieller Interpretationen haben. Diese Situation beschreibt den Zustand umfassender Kenntnis auf klare Weise: als Beschreibung „aller möglichen Interpretationen“. Es wird kein Unterschied zwischen der empirischen Wahrheit und Unwahrheit einer Interpretation gemacht, da beide innerhalb des Bereichs potenzieller Interpretationen existieren, und ihre empirische Wahrheit ist lediglich eine der Dimensionen, die sie als Knoten innerhalb des interpretativen Bereichs im Allgemeinen definieren. Dieser Unterschied erlaubt die Anerkennung gültiger und ungültiger Interpretationen (und vermeidet es so, in einen reduktiven Relativismus zu fallen), während er gleichzeitig die Gültigkeit einer „ungültigen Interpretation“ im Bereich der Möglichkeiten anerkennt. Diese Anerkennung ist ihrem Wesen nach erkenntnistheoretisch.

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Die Forderungen der Agnotologie / ­ Überwachung Sicherheit ist ein Geflecht gesellschaftlicher Methoden, die autonom Macht inszenieren (der Sicherheitsapparat).1 Für diesen Rahmen von zentraler Bedeutung ist das Streben nach dem „Zustand umfassender Kenntnis“, in dem riesige Informationsmengen genau dazu gesammelt und gespeichert werden können, um sie instrumental so einzusetzen, dass zukünftiges Verhalten vorhergesagt und vergangene Handlungen kontrolliert werden können. Dieser Rahmen besteht aus den wechselseitigen Beziehungen von Überwachung, Arbeit und Kapital, die aus den 2013 einsetzenden Enthüllungen von Edward Snowden über den Umfang der alles durchdringenden Überwachungsprogramme der Nationalen Sicherheitsbehörde (NSA) der USA unmittelbar ersichtlich sind. Die Erlaubnis der Erweiterung des Umfangs und die Vergrößerung der Breite der von der NSA gesammelten Informationen geht von diesem Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis aus; es ist jedoch lediglich eine Dimension der politischen Ökonomie des digitalen Kapitalismus und kann daher nicht für sich betrachtet werden. Den Herausforderungen zu begegnen, die die durchgängige Überwachung darstellt, erfordert die Anerkennung der Tatsache, dass es sich hierbei nicht um ein isoliertes Phänomen handelt: Es spiegelt sich darin eine größere Gruppe sich wechselseitig verstärkender Tendenzen des digitalen Kapitalismus selbst wider. Die Überwachung, wie umfassend und omnipräsent sie auch sein mag, ist dennoch nur ein Epiphänomen, welches aus anderen, grundsätzlicheren Erfordernissen des digitalen Kapitalismus erwächst. Die gegenwärtige Überwachung hat ihre Ursprünge in früheren Formen: Dieses Thema war eine ständige Sorge des 20. Jahrhunderts, unmittelbar erkennbar nicht nur in Form von Romanen (George Orwells Roman 1984), sondern auch im Bereich des Politischen (dem als „Watergate“

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bekannten Abhörskandal der 1970er-Jahre). Doch es gab nur hin und wieder Momente, in denen das Ausmaß der laufenden Überwachung offensichtlich wurde; ihr verborgenes Wesen hat ihre Analyse und Erörterung auf ihre Rolle im digitalen Kapitalismus beschränkt. Überwachung ist wesensmäßig und gleichzeitig heimlich, verschwiegen und verdächtigt – was jedoch nur selten dargelegt wird. Außerdem verlangt sie nach Täuschung bezüglich ihrer Existenz: eine Tatsache, auf die Orwell in seinem Roman eingegangen ist. Die Ungewissheit im Vorfeld von Snowdens Enthüllungen spiegelt diese Mehrdeutigkeiten wider. Jene Memoranden und anderen Dokumente, die Snowden an die Presse durchsickern ließ, lieferten – im Gegensatz zu ähnlichen Weitergaben und Behauptungen im Jahrzehnt vor seiner weithin bekannt gewordenen Veröffentlichung von NSA-Dokumenten – direkte Beweise nicht nur für die (zuvor) von Verschwörungstheoretikern aufgestellte Behauptung, dass Überwachung ein allgegenwärtiges Phänomen ist, sondern auch für den Umfang ihrer technischen Möglichkeiten zur Aufzeichnung, Integration und Verarbeitung riesiger Datenmengen, die durch die Automatisierung dieser Überwachung – um sie von menschlicher Aufsicht unabhängig zu machen – produziert wurde. Die Materialität des Digitalen gegen die Leugnung der physischen Dimensionen dieser Technologien, im Widerstand gegen die „Aura des Digitalen“, nachdrücklich zu behaupten, ist für diese Analyse wesentlich. Die digitale Automation führt zunehmend Aufgaben aus, die früher die ausschließliche Domäne der Intelligenz des Menschen waren, und ermöglicht auf diese Weise eine umfassendere und vollständigere Überwachung als jemals zuvor. Die Fähigkeit, das Wiedererkennen von Gesichtern zu automatisieren, die Fähigkeit, Sprache aufzufassen und zu transkribieren – beides Aufgaben, die eine andere Art von Intelligenz erfordern als die, die man im Mechanismus eines Uhrwerks findet –, hat eine allumfassende Überwachung jeglicher Aktivität von jedermann ermöglicht statt nur eines kleinen Ausschnitts der Aktivitäten von ausgewählten Einzelnen: Dieses expansive Überwachungssystem ist es, was Snowden aufgedeckt hat. Die umfassendere Bedeutung der Bestätigung entsprechender Vermutungen ist weder technisch oder gar eine Frage der Privatsphäre: Überwachung ist zu einem Werkzeug nicht nur von Regierungen, sondern auch

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von Unternehmen und Kriminellen geworden. Die durch diese allumfassende Überwachung erzeugten Datenbanken sind selbst zu einer produktiven Domäne geworden, und sie erzeugen Wert durch die autonome digitale Neuanordnung der in ihnen enthaltenen Informationen. Diese neue Vielfalt unintelligenter Produktion wirkt sich auf die Organisation und die Struktur der Gesellschaft als Ganzer aus. Sie führt zu einer systemischen Krise für die kapitalistische Wertproduktion, anders als die regelmäßigen Finanzkrisen, die im Laufe der letzten zweihundert Jahre durch einen Abfall der Rate der Werterzeugung herbeigeführt wurden: Der Einsatz von Überwachung ist – unabhängig von irgendeinem besonderen Zweck – mit der wesensmäßigen Instabilität des digitalen Kapitalismus verbunden. Die Grundursache dieser Instabilität sind die Formen der digitalen Automation, die diese allumfassende Überwachung ermöglichen. Die Überwachung ist jedoch nur eine Hälfte eines komplementären Paares. Die als „Agnotologie“ bezeichnete systematische Produktion von Ungewissheit („Unwissenheit“) liefert, was die Überwachung selbst nicht bieten kann: die Kontrolle über und die Einschränkung von Interpretationen (des Nutzwertes von Information). Enge Verbindungen zwischen Überwachung und Agnotologie zeigten sich im Anschluss an Snowdens Bekanntmachung an die Presse. Es war nicht der Inhalt des von Snowden veröffentlichten Dokuments, was die Bestätigung dafür lieferte, dass es tatsächlich ein Überwachungsprogramm gibt. Es war die Reaktion der amerikanischen Regierung auf ihre Veröffentlichung, was nicht nur zeigte, dass die Dokumente die Wahrheit enthielten, sondern dass ihr Inhalt von großer Bedeutung war. Die Tendenz, diese Informationen mit dem Hinweis „das wussten wir schon“ abzutun, missversteht ihre Bedeutung: Die Bestätigung von Snowdens Behauptungen ist eine momentane Lücke in der Agnotologie, die historisch gesehen Informationen über diese umfassenden Programme der Beobachtung, Aufzeichnung und Analyse umgeben hat. Die Bestätigung ließ diese agnotologische Dimension deutlich werden und erlaubte eine Betrachtung der Frage, wie die eine die jeweils andere verstärkt. Diese Verbindungen sind nicht offensichtlich, wenn man sie isoliert betrachtet. Widerstand wird erst möglich, nachdem ihre sich gegenseitig verstärkende Beziehung sichtbar wurde. Diese Untersuchung der politischen Ökonomie des Sicherheitsapparates durch die Dynamik von Agnotologie

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und Überwachung ist ihrem Wesen nach diagnostisch. Sie versucht zu verstehen, welche Reaktionen – sofern es solche gibt – darauf möglich sind.

§ 8.1 Die Verbindungen zwischen Agnotologie, Hyperrealität und Überwachung konvergieren in der Sicherheitsgesellschaft: einem Paradigma der Überwachung und Kontrolle, dessen Funktion sowohl immateriell produktiv ist (es ermöglicht die autonome semiotische Erzeugung von Wert) als auch restriktiv (es ermöglicht die Mobilisierung materieller beziehungsweise immaterieller Kräfte zur Verteidigung dieser immateriellen Produktion). Diese produktiv-restriktiven Aktivitäten sind zwar eigenständig, verstärken sich jedoch wechselseitig: Sie bilden einen dynamischen Kreislauf, der durch die Aura des Digitalen, die die Materialität aus der bewussten Betrachtung verdrängt, verschleiert wird. Ohne diesen Effekt der Verfremdung des Materiellen würden die produktiv-restriktiven Kreisläufe dadurch offenbar, dass sie notwendigerweise entrechtende Wirkungen haben, da menschliches Handeln durch automatische Prozesse und autonome Überwachung verdrängt wird. Der Sicherheitsapparat erscheint als eine unparteiische, neutrale Alternative zur unbeständigen Kontingenz des menschlichen Handelns: Seine einheitlich zur Anwendung gelangenden, mechanischen Reaktionen erschaffen eine Illusion von Objektivität. Diese autonome Reaktion ist eine kristallisierte Ideologie, eine inflexible Einschränkung, die durch die „Alles-oder-Nichts“Logik digitaler Protokolle ständig wiederholt wird, welche für Mehrdeutigkeit, Pluralität oder Kontingenz keinen Raum haben, wie sich im Management digitaler Rechte zeigt, das in der Form des „Leserechts“ implementiert ist: Entweder man hat die Berechtigung oder man hat sie nicht. Eine Berechtigung verlangt implizit nach einer fortgesetzten Überwachung und Verwaltung – was von der Arbeitsgruppe für Internettechnik (Internet Engineering Task Force, IETF) in dem Aufsatz „BCP 188: Pervasive Monitoring Is an Attack“ als „tiefgreifende Überwachung“ bezeichnet wurde –, bei der ihre autoritären Dimensionen nicht allein im immateriellen „Raum“ digitaler Technologie, sondern auch in der materiellen Welt ohne Weiteres deutlich werden. Die Rede der IETF von einer

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„tiefgreifenden Überwachung“ sollte allerdings nicht auf immaterielle Formen der Überwachung eingeschränkt werden: Die tiefgreifende Überwachung entspricht einer breit gefächerten (und häufig heimlichen) Kontrolle durch die zudringliche Aufzeichnung von Protokollartefakten, einschließlich von Anwendungsinhalten oder Protokoll-Metadaten wie etwa Headern. Aktive oder passive Abhörschaltungen und Datenverkehrsanalysen (z. B. der Korrelation, des zeitlichen Verlaufs oder der gemessenen Größe von Datenpaketen), oder das Knacken von kryptographischen Schlüsseln, die zur Sicherung von Protokollen verwendet werden, können ebenfalls als Teil einer tiefgreifenden Überwachung eingesetzt werden. Die tiefgreifende Überwachung zeichnet sich dadurch aus, dass sie wahllos und in sehr großem Maßstab erfolgt, statt dadurch, dass sie neue Arten von technischer Beeinträchtigung einführt.2 Das wahllose Vorgehen dieser Kontrolle – dass sie sämtliche Datenübertragungen abfängt, nicht nur derjenigen, die zur Überprüfung ins Visier genommen werden, ist ihr notwendiges und hinreichendes Erkennungsmerkmal. Die von dieser Überwachung bereitgestellte Analyse hängt von der Sammlung und vom Abgleich riesiger Datenmengen ab; sie ist allerdings nicht auf diese Online-Aktivitäten eingeschränkt. Sie erfasst jeden, sowohl in der materiellen Welt als auch im immateriellen Bereich des Internets: Die tiefgreifende Überwachung umfasst auch die Art und Weise, wie diese digitalen Technologien zur Überwachung in der physischen Welt eingesetzt werden: zum Beispiel als Gesichtserkennung auf der Straße oder in Geschäften, durch passive Verkehrskameras, die die Bewegung von Fahrzeugen erfassen und aufzeichnen, oder durch die Kontrolle der exakten räumlichen Position anhand der GPS-Verfolgung von Mobiltelefonen. Die gesamte gegenwärtige Überwachungsmaschinerie hängt von digitaler Technologie ab – sei es in ihrer Verwendung zu immaterieller Produktion oder zur sozio-politischen Kontrolle. Sie dient der Verdinglichung des Sicherheitsapparates in Form der Implementierung der tiefgreifenden Überwachung selbst. Diese Technologien arbeiten für kommerzielle Interessen und für Regierungen auf fast gleiche Weise: Das Management digitaler

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Rechte ist der sichtbarste Auswuchs dieses impliziten, allgegenwärtigen Systems, das sich direkt auf die von Menschen lesbaren Formen digitaler Objekte auswirkt. Doch ist dieses offensichtlichste Beispiel eben nur das isolierte Auftauchen größerer, beherrschender Kontroll- und Beobachtungssysteme, die innerhalb der „Datenbank“ liegen, die die immaterielle Produktion ermöglicht. Diese mehrwertigen Dimensionen der „Sicherheit“ im digitalen Kapitalismus verdinglichen die konvergierenden Aspekte von Agnotologie und Überwachung – jeder ist eine reziproke Rechtfertigung des anderen: Agnotologie macht etabliertes Wissen ungewiss, verlangt mehr Einzelheiten und kontextgebundenes Verstehen; Überwachung stellt dieses Verstehen bereit, erzeugt jedoch gleichzeitig so viele Daten, dass ihre Interpretation aufgrund der destabilisierenden Wirkungen der durch Agnotologie aufgeworfenen Gleichwertigkeiten ungewiss wird. Ihre Verbindung ist eine Aufwärtsdynamik (ein Circulus virtuosus), in der die eine Seite die andere hervorbringt, sodass ihre Expansion unausweichlich ist. Die diese Rechtfertigungen liefernde Logik ist ihrem Wesen nach zirkulär, doch ist diese Zirkularität kein Mangel des Systems, sondern eben genau sein Fokus: eine Zirkularität, die notwendig ist, damit der digitale Kapitalismus beherrschend werden kann. Die vorgreifende Entrechtung des menschlichen Handelns ermöglicht die Erschließung neuer Bereiche für die kommerzielle Expansion, und zwar durch die Umwandlung nicht-produktiver Nutzwerte in neue Wertformen: durch immaterielle Produktion mithilfe der Überwachungsleistungen der digitalen Technologie. Die Übernahme dieses implizit kontrollierenden Handelns zeigt sich im Übergang zum digitalen Kapitalismus selbst. Sobald eine materiell produktive Ökonomie zu einer Ökonomie wird, die auf semiotischer Manipulation beruht, erfährt die Grundlage der Produktion eine fundamentale Verschiebung von der Herstellung zur Rekonfiguration – die Datenbank als Modell. Diese Transformation nimmt die tiefgreifende Überwachung durch Kontrolle (Datensammlung) als technisches Mittel sowohl für die Expansion produktiver Fähigkeiten in ihren Dienst, als auch für ihre Verteidigung gegen jegliche etwaigen sozio-politischen Herausforderungen. Diese Veränderung ruft Kontrolle auf ihrer grundlegendsten Ebene zur Hilfe: Die immateriellen Sicherheiten, die für die Zirkulation von Wert im digitalen Kapitalismus so zentral sind, hängen für ihre rekombina-

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torischen Verfahren von der Datenbank ab. Es ist genau dieses Protokoll der Rekombination und Permutation, das die digitale Semiose als von der Bedeutungskonstruktion eines menschengerichteten semiotischen Prozesses verschieden charakterisiert. Die resultierenden Werte sind unverständlich; ihre Bedeutung für die Datenbank hängt von ihrem vollständigen Satz statt von ihnen als individuellen Konfigurationen ab. Diese Unverständlichkeit ist der Grund dafür, dass die digitale Produktion nach Vollständigkeit strebt, wodurch sie ihre Verbindung zum „Endpunkt“ aller auf Absicherung bedachten Vorgänge offenbart. Diese Semiose ist das digitale Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis, verbunden mit dem wesensmäßigen Erfordernis des digitalen Kapitalismus nach einem kontinuierlichen Wachstum der Werte. Die semiotische Expansion der immateriell erzeugten Werte zeigt sich darin, wie kapitalistisch produktive „Domänen“ sich innerhalb der Gesellschaft ausbreiten; in allen diesen Aktivitäten manifestieren sich die Versuche, die Aura der Information in immanenter Form zu verdinglichen. Diese Instrumentalität beweist, wie das Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis im wörtlichen Sinne ein Werkzeug der Kontrolle und Voraussage (die Sicherheitsgesellschaft) wird. Daher ist Agnotologie nicht die Ursache, sondern ein Symptom der expansiven Natur der in den digitalen Kapitalismus eingebetteten und davon ermöglichten semiotischen Prozesse. Verzerrungen zwischen den materiellen Vermögenswerten und (auf dem Weg über die Datenbank) ihrer Rolle als immaterielle Einsätze in der semiotischen Produktion spiegeln das strukturelle Erfordernis des Kapitalismus nach kontinuierlicher Expansion (Wachstum) wider. Die semiotische Produktion ist unintelligent: Sie generiert Werte durch logische Operationen statt durch gerichtetes, verständliches Handeln; sie ist autonom, aber bewusstlos. Agnotologie eignet sich auf einzigartige Weise für die Erfordernisse der digitalen kapitalistischen Überwachung, indem sie den evaluativen Prozess unterbricht, von dem man annimmt, er liege sämtlichen Entscheidungen des Marktes zugrunde (der „Rationalität der Märkte“) – agnotologische Ungewissheit lässt jede Wahl als in gleicher Weise „gut“ (gültig) erscheinen –, die nach herkömmlicher Auffassung nur gemäß der Nützlichkeit (dem Nutzwert) jener Interpretationen getroffen werden: Agnotologie taucht auf, wenn die kontingenten Beziehungen zwischen Pro-

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duktion und Repräsentation als willkürlich erkannt werden, deren Bedeutung instabil ist, mit Abhängigkeiten relativ zu ihrer besonderen Anwendung zum jeweiligen Zeitpunkt, ein Prozess, der der unintelligenten semiotischen Produktion inhärent ist. Diese kontinuierliche Expansion der immateriellen Produktion ist eine gleichzeitige Expansion der unbegrenzten Wertakkumulation. Das Weglassen von Unterschieden erlaubt die semiotische Manipulation von Werten; die „Offenheit“ der Interpretation expandiert ohne Einschränkung. Diese Verschiebung erfolgt durch die komplexe Beziehung der materiellen und immateriellen Waren im durch Agnotologie und Überwachung vermittelten Aufwertungsprozess. Verbindungen zwischen Agnotologie und Hyperrealität stellen die Grundlage für den „Sicherheitsapparat“ bereit. Ihre Ähnlichkeiten sind leicht erkennbar: Agnotologie ist ein bestimmtes Versagen des Wissens und der Interpretation (erkenntnistheoretisch konzentriert auf die Methoden und Verfahren, mit denen wir Schlussfolgerungen ziehen, denken), während das Hyperreale eine bestimmte Wirkung auf die Wahrnehmung beziehungsweise gedankliche Erfassung der materiellen Welt selbst ist (ontologisch ausgerichtet, die zugrunde liegende Interpretation des Physischen transformierend). Beide haben einen semiotischen Charakter, jedoch mit unterschiedlichem Schwerpunkt. Ihre Auswirkungen auf die Interpretation gehen auf dieselbe semiotische Funktion im digitalen Kapitalismus zurück: dass das semiotisch Produzierte an die Stelle immanenter Physikalität tritt, die die kapitalistische Forderung nach der Expansion der Märkte in neue, vorher nicht wertgeschätzte Bereiche ermöglicht beziehungsweise zu ihr beiträgt. Die Prozesse arbeiten als Antriebe der semiotischen Rekombination zusammen, wobei sie sich in der dem digitalen Kapitalismus wesentlichen Leugnung der Materialität gegenseitig verstärken.

§ 8.1.a Die semiotische Auflösung der „Realität“ in Interpretationen, die von einer Reihe apriorischer Annahmen – dem Hyperrealen – abhängen, ist eine Vorbedingung für die Dominanz der Agnotologie. Die durch den Bruch zwischen dem Hyperrealen und dem Konzept der (historischen) Wirklichkeit, an dessen Stelle es trat, eingeleiteten Prozesse sind logisch zirkuläre,

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selbstverstärkende Methodologien: Während „das Reale“ für einförmig und unverletzbar gehalten wurde, ist das Hyperreale kontingent und künstlich erzeugt. Diese Verschiebung ist keine „Krise der Bedeutung“, sondern eine Transformation der Bedeutung als Bedeutung: von einer singulären (linearen) Konstruktion zu einer Vielfalt kontingenter Potenziale (Netzwerk). Die Aura der Information und das Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis dominieren diesen Prozess der semiotischen Produktion: Sie ragen im Netzwerk der verschiedenen (konkurrierenden) Kontingenzen hervor, da jegliches „Reale“ die Verdinglichung von Information als eine beziehungsweise innerhalb einer Datenbank ermöglicht, woraufhin verschiedene „Operationen“ momentane, unintelligente Interpretationen – semiotische (Re-)Konfigurationen – erzeugen, die von später auftauchenden Alternativen infrage gestellt werden können und auch infrage gestellt werden. Hyperrealität ist eine Verschiebung zu einer „kontingenten Erkenntnistheorie“, die eine fundamentale ontologische Ungewissheit offenbart beziehungsweise davon abhängig ist: Indem „das Reale“ durch seinen (semiotischen) Doppelgänger ersetzt wird, werden jene empirischen Grundlagen, die gewöhnlich zur Überprüfung von Interpretationen verwendet werden, dem Fluss, der Variabilität und Instabilität unterworfen. Die Fähigkeit, Ursachen von Wirkungen zu unterscheiden, erkenntnistheoretische von ontologischen Problemen und Wissen von Ungewissheit hängt von einem stabilen System der Signifikation ab, das mit dem Auftauchen der Hyperrealität nicht länger zur Verfügung steht. Das Wegfallen von apriorischen Unterscheidungen, ihr Verschwinden, ist der operative Beweis dafür, dass das Hyperreale dominiert: Die besondere Lücke im epistemologischen Verständnis untergräbt Wissen in anderen Bereichen auf wechselseitig disruptive Weise. Das metastabile (kontingente) Wesen des Hyperrealen wurde von Jean Baudrillard in seinem berühmten Theoriestück, der „Präzession der Simulacren“, herausgestellt. Es entwickelte die semiotischen Dimensionen des Hyperrealen ausdrücklich als ontologische Instabilität, die epistemischen Zweifel erzeugt: Sämtliche Hypothesen der Manipulation sind in einem endlosen Kreisel umkehrbar. Denn Manipulation ist eine schwebende Kausalität, in

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der sich das Positive und Negative wechselseitig hervorbringen und einander überlappen, wo es nichts Aktives und Passives mehr gibt. [. . .] Ist irgendein Bombenanschlag in Italien das Werk linker Extremisten oder eine Provokation der extremen Rechten, oder wurde er von Anhängern der Mitte inszeniert, um die terroristischen Extreme zu diskreditieren und seine eigene schwindende Macht zu stützen, oder – eine weitere Möglichkeit – ist es ein von der Polizei inspiriertes Szenario, um an die öffentliche Sicherheit zu appellieren?3 Das Wesen „irgendeines Bombenanschlags“ (seine Ontologie) wird zu einem Beweis des Hyperrealen: Da alle „terroristischen“ Aktionen durchgeführt werden, um ein bestimmtes politisches Ergebnis hervorzurufen, und damit keine neutralen, natürlich vorkommenden Ereignisse sind, ist der ihnen zugrunde liegende, absichtliche Zweck immer ein bestimmtes politisches Ziel, das von den ontologischen Ursprüngen des Ereignisses selbst abhängt, ganz unabhängig von der „terroristischen“ Aktion. Bei der Bewertung dieser Ereignisse ist dasjenige, was sie als politische Aktionen verständlich macht, das Erstellen einer Interpretation, die diesen wesentlichen Zweck offenbart, beweist und beziehungsweise oder eine entsprechende Schlussfolgerung zieht (Identifizieren des ontologischen Wesens des bestimmten Ereignisses). Die von der Hyperrealität beschriebene „Unwissenheit“ ist von einer anderen Art als das traditionelle „Nichtwissen“: Es ist eine „Unwissenheit“, bei der wahr/falsch, gewiss/ungewiss, bekannt/unbekannt überblendet sind. Statt einen Gegensatz auszumachen verlieren diese Positionen ihre Verschiedenheit und werden gleichwertig. Baudrillards Argument deutet jene Entwicklungen an, die man jetzt als Agnotologie erkennt: Jede Interpretation lässt sich genauer als ein direktes Produkt eines bestimmten Modells – einer Simulation – verstehen, das dazu verwendet wird, eine bestimmte Interpretation (verstanden als Organisation von Fakten und ihrer Bedeutung) zu erzeugen. Die von ihm vorgeschlagenen, sich wechselseitig ausschließenden Interpretationen für irgendeinen „terroristischen“ Akt machen einen Bereich aus, in dem sie einander überlagern: Diese möglichen Szenarien können nicht alle gleichzeitig wahr sein, und dennoch ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, das eine vom anderen zu unterscheiden. Die digitale Semiose

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wiederholt die Protokolle der Hyperrealität: Die daraus resultierenden Werte sind unverständlich, ihre Bedeutung hängt vom vollständigen Satz statt von einer einzelnen Signifikation ab. Welche besondere Interpretation als „wahr“ ausgewählt wird, spiegelt die angeborenen Vorurteile des menschlichen Interpreten wider statt eine Logik der „Fakten“. (Das Hyperreale schweigt zu binären Gegensätzen wie wahr/falsch, faktisch/kontrafaktisch, real/irreal, die Superposition zu Singularität rationalisieren.) Interpretation hängt von apriorischen Modellen ab; das Hyperreale beziehungsweise Agnotologische unterbricht die menschliche Wirkungsmacht nicht durch eine Leugnung von Bedeutung, sondern durch einen Überschuss sich überlagernder Möglichkeiten. Die Verwendung von Modellen zur Erstellung von Interpretationen beweist, dass „das Reale“ genau deshalb spezifisch semiotisch ist, weil „das Reale“ durch sein Modell (seine Simulation) in einem Netz wechselseitig voneinander abhängiger Interpretationen enthalten ist, in dem jede gegebene „Tatsache“ zugleich ein anderes Modell ist und aus einer Reihe von Beziehungen besteht, deren Stabilität („Tatsächlichkeit“) von ihrer Anordnung innerhalb einer bestimmten Interpretation abhängt. Das semiotische Wesen der Interpretation ist nicht auf die Aussagekraft (Bedeutung) beschränkt, sondern umfasst andere Formen der Interpretation, die unter den Bedingungen der Hyperrealität derselben Kontingenz unterliegen: Affekt, Verursachung, sinnliche Wahrnehmung . . . die Instabilität (oder das kontingente Wesen) sämtlicher Interpretationen in der Hyperrealität ist Agnotologie. Jede einzelne Interpretation hängt von einem Netz von Möglichkeiten ab, das darauf ausgerichtet ist, wie das interpretierte Ereignis vor seiner Interpretation durch das zur Produktion dieses bestimmten Verständnisses verwendete Modell begriffen wird: Sein Wesen als politische Aktion im Dienste eines bestimmten politischen Ziels hängt daher von dem bestimmten, zu seiner Bewertung verwendeten Modell und von den Schlussfolgerungen ab, denen es, schon bevor sie gezogen werden, seine Form verleiht: Agnotologie ist die bestimmte „Unwissenheit“ der Hyperrealität, die in der mangelnden Fähigkeit besteht, eine „Tatsache“, irgendeine „Tatsache“, auszuwählen.

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§ 8.1.b Die von Baudrillard als für das Hyperreale symptomatisch identifizierte Metastabilität ist das affektive Ergebnis der Agnotologie – dass keine Interpretation definitiv ausgewählt werden kann, ist exakt das, worauf es ihm ankommt. Dieses Modell ist symptomatisch dafür, wie Kontingenzen Gewissheit in ihr Gegenteil kollabieren lassen: ein infiniter Regress von Signifikanten um eine „Tatsache“, jegliche „Tatsache“ – und somit agnotologisch. Unsere Unfähigkeit, eine mögliche Interpretation von anderen zu trennen, bildet eine Verschiebung von einem Bereich der Tatsachen (der Realität) zu einem Bereich ab, der auf einer Logik der Semiose (Hyperrealität) basiert. Diese Transformation des Wissens und seiner Grundlagen in der Auseinandersetzung damit ist die Wirkung der agnotologischen Prozesse in Aktion. Das Netzwerk dieser potenziellen Interpretationen und Beziehungen (selbst derjenigen, die sich wechselseitig ausschließen) definiert das zu interpretierende Ereignis durch ein Netz potenzieller Beziehungen und Ausschlüsse (der Zustand umfassender Kenntnis). Die editorische Auswahl und Fabrikation einer einzelnen Interpretation gibt einen Satz von „Tatsachen“ wieder, dem ein alternativer Satz gegenübergestellt werden kann, der auf gleiche Weise möglich und plausibel ist, aber dennoch wechselseitig ausschließend und widersprüchlich: Diese Verschiebung der Verbindungen ist die Aura der Information in Aktion. Die Ungewissheit dieser Situation drückt aus, wie die anfängliche Entzweiung (das Hyperreale) das etablierte Wissen herausfordert; sie beschreibt ein epistemologisches Versagen empirischer und logischer Beziehungen, die nicht nur das epistemologische, sondern auch das ontologische Wissen durcheinanderbringen. Die Agnotologie betreibt Semiose genau dadurch, dass sie die Begründung der konventionellen Begrenzungen aufhebt, die durch utilitaristische Belange (die Forderung, dass der Verwendungswert mit einer bestimmten Verwendung homolog ist) auferlegt werden. Der scheinbare Gegensatz dieser beiden Merkmale des digitalen Kapitalismus ist ironisch, da beide auf die gleiche fundamentale Weise die Funktion haben, vorhandene Bereiche der kapitalistischen Aufwertung zu erweitern beziehungsweise neue zu

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schaffen. Die semiotische Produktion erschafft Wert, der nur durch die Knappheit von Kapital begrenzt wird. Was in diesem neuen unbegrenzten Modus erscheint, ist eine übermäßige Produktion von Gebrauchswerten ohne Funktion (Verwendung). Er trennt Tätigkeit von Wirksamkeit, was zur Folge hat, dass sämtliche Bewertungen der Bedeutung von irrationalen (affektiven) Verfahren abhängig werden, völlig unabhängig von jeglichem möglichen Ergebnis oder jeglicher möglichen Anwendung. Hyperrealität und Agnotologie sind wechselseitige Widerspiegelungen, die die Expansion des digitalen Kapitalismus ermöglichen, und zwar durch die Überwachung, die von seinem Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis gefordert wird: Die letzte von Baudrillard vorgeschlagene Deutungsmöglichkeit – „ein von der Polizei inspiriertes Szenario, um an die öffentliche Sicherheit zu appellieren“ – ist kein Zufall oder eine Koinzidenz; „Terrorismus“ dient immer als Möglichkeit der kapitalistischen Expansion in wertmäßig noch unerschlossene Bereiche. Der Unterschied zwischen dem Eindringen der Polizei und dem Eindringen kommerzieller Interessen verschwindet im digitalen Kapitalismus mit der Auflösung aller Aktivitäten als Daten in Übersetzung beziehungsweise Aufzeichnung und dem gleichzeitigen Auftauchen tiefgreifender Überwachung als autonomer produktiver Tätigkeit. Im Jahr 2010 machte Eric Schmidt, der Geschäftsführer von Google, in einem Interview4 mit The Atlantic diese enge Verbindung zwischen Überwachung und Produktion sowohl bedrohlich als auch offensichtlich: Wir wissen, wo du bist. Wir wissen wo du warst. Wir können mehr oder weniger wissen, worüber du denkst. […] Deine digitale Identität wird ewig leben […] weil es keine Löschtaste gibt.5 Die potenzielle Unsterblichkeit digitaler Dateien bedeutet, dass ihre Informationen, wenn sie nicht zerstört werden, auf ewig verfügbar und zugänglich bleiben. Das Sammeln und die Rekonfiguration von Daten erzwingt die Wartung und Expansion der Datenbank. Ohne dieses ständig wachsende Archiv kann die durch semiotische Produktion erzeugte Aufwertung nicht fortgesetzt werden: Sie hängt von der Fähigkeit ab, neue Beziehungen zu schaffen. Forderungen nach immer zudringlicher werdenden Datensamm-

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lungen sind ein integraler Bestandteil dessen, wie die Semiose mit der Überwachung verbunden ist – sie wird zur primären Aktivität dieser Produktion: Überwachung ist ihr eigenes Endprodukt. Diese Bekräftigung einer eine kontinuierliche, omnipräsente Überwachung ermöglichenden und dadurch möglich gemachten Dominanz macht den Autoritarismus zur logischen Form dieser politischen Ökonomie. Wie immer die Gesellschaft organisiert sein mag: Sie wird unausweichlich zu einer Konzentration von Macht und Autorität tendieren, da sie Widerspiegelungen der strukturellen Forderungen sind, die durch die Dynamik des Sicherheitsapparates aufgezwungen werden.

§ 8.1.c Die Einverleibung neuer Bereiche für den digitalen Kapitalismus erfordert den Austausch „des Realen“ durch das Hyperreale, da diese Verschiebung die fundamentale Bedingung für die Dominanz der semiotischen Produktion ist; das „Sicherheits“-Netz (am offensichtlichsten als die Überwachung selbst) ist eine grundlegende Dimension der semiotischen Produktion. Die kommerziellen und autoritären Dimensionen der Überwachung verschmelzen und überlappen sich in diesem Prozess: Die von Snowden enthüllten Überwachungsprogramme der NSA sind zugleich ein Sammelprotokoll der Regierung, das kommerzielle digitale Technologie und Ressourcen (Snowden selbst war kein Regierungsangestellter, sondern ein für ein kommerzielles Unternehmen arbeitender „externer Auftragnehmer“)6 und Datenbanken wertvoller kommerzieller Daten verwendet. Die Semiose entfernt „Absicht“ aus der kristallisierten Form, die der Zweck in der Datenbank annimmt. Sie expandiert in vormals nicht-semiotische Bereiche, dadurch die Expansion des Kapitalismus in bislang wertmäßig nicht erschlossene Bereiche widerspiegelnd, und stellt dabei unter Beweis, wie der digitale Kapitalismus die Erzeugung von Wert von jeglicher Einschränkung losgerissen hat, die durch Nutzungswert aufgezwungen wird. Überwachung ist die logische Antithese der Agnotologie: Ihr Ziel ist die Erzeugung von Gewissheit statt Ungewissheit. „Sicherheit“ bietet eine weitreichende, nebulöse Rechtfertigung für einen Bereich von Handlungen: von Ausweitungen der Überwachung (immaterielle Produktion) bis zu

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Krieg und Imperialismus (primitive Akkumulation). Baudrillards „von der Polizei inspiriertes Szenario, um an die öffentliche Sicherheit zu appellieren“, dient als zugrunde liegender Vorwand für Verletzungen und Aufhebungen der Menschenrechte, rechtsstaatlicher Prinzipien und der richterlichen Haftprüfung (Habeas-Corpus-Gesetz). Alle diese verschiedenen, durch die instrumentelle Datenbank ermöglichten Interpretationen werden durch eine implizite Bedrohung – sei sie physisch (Gewalt) oder immateriell (Standard) – vereinigt, welche eine aufgezwungene beziehungsweise zudringliche Autorität („polizeiliches Handeln“) als schützende Maßnahme rechtfertigt. „Realität“ ist zu einer Wirkung geworden, die davon abhängt, welche Daten gesammelt und gespeichert wurden, wie David Cole in seiner Erörterung der Frage anmerkt, wie die nationale Sicherheitsbehörde der USA ihre durch Überwachung aufgebaute Datenbank verwendet, um Bedrohungen einzustufen: Der NSA-Berater Steward Baker hat gesagt, „Metadaten sagen einem absolut alles über das Leben eines Menschen. Wenn man über genügend Metadaten verfügt, braucht man keine inhaltlichen Daten.“ Als ich Baker neulich bei einer Diskussion an der Johns Hopkins University [Der Preis der Privatsphäre: Die Neubewertung des NSA. Eine Debatte. 7. April 2014] zitierte, bezeichnete mein Kontrahent, der General Michael Hyden, ein früherer Direktor der NSA und des CIA, Bakers Kommentar als „absolut zutreffend“ und verstärkte ihn sogar noch, indem er behauptete: „Wir töten Menschen auf der Basis von Metadaten“.7 Die Expansion beziehungsweise Assimilation von Daten wird auf dem Wege von Aufzeichnung und Neu-Codierung zur totalisierenden Natur der Datenbank: Die Semiose verdinglicht diese kontinuierliche Überwachung als Instrumentalität; die Datenbank ist „Realität“. Jeder ist potenziell eine „terroristische“ Bedrohung. Sie identifiziert diejenigen, die leben dürfen, und die, die getötet werden, und schiebt dabei die Verantwortung von den menschlichen Akteuren, die die Tötungsbefehle geben, auf die Kodierung und die Anordnung der Daten des Systems ab. Die Frage, die die Datenbank verlangt (wie bei jeder „Terroraktion“), ist eine des Zwecks: Wozu

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dient es? Das um die Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends als „Total Information Awareness“8 bekannte NSA-Programm macht die Antwort buchstäblich offenbar und ihr digitales Streben explizit: den Zustand umfassender Kenntnis in immanente Instrumentalität zu verwandeln. Der sich mit Sicherheitsfragen beschäftigende Forscher Wolfgang Sutzl setzte diesen fundamentalen Zweck mit der Fähigkeit gleich, Ausgänge zu kontrollieren und zu antizipieren, und brachte ihn mit instrumentellen Funktion eines produktiven Apparats in Zusammenhang: … Die Handlungen, durch die Sicherheit „gewährleistet wird“, betreffen die Errichtung physischer und informationeller Strukturen der Ernsthaftigkeit und wesentlichen „Gleichheit“. Hier geschieht alles, wie es geschieht, weil andere Möglichkeiten unmöglich gemacht worden sind.9 Die von Sutzl beschriebene „Gleichförmigkeit“ ist eine Folge der digitalen Aufzeichnung selbst – der Transformation sämtlicher Aktivitäten und Ereignisse in Daten (im Gefolge der Aura der Information). Ideologie wird als Technologie verdinglicht, ihre Forderungen werden die einzig möglichen Potenziale bei dem Versuch, jene alternativen Potenziale einzudämmen und zu begrenzen, die im Zustand umfassender Kenntnis immer schon präsent sind. Ziel der Erzeugung von (ökonomischem oder politischem) Wert durch die Neukonfiguration und Neuanordnung von Daten ist diese totale Beherrschung zukünftiger Folgen; ihre Fähigkeit zur Vorhersage ist ein Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis – einem System, das versucht, eine Instrumentalität der „Vollständigkeit“ zu erzeugen – und der Grund dafür, dass die aus diesem Zustand erwachsende Agnotologie zugleich ihren Gegensatz, Überwachung, erfordert und ermöglicht.

§ 8.1.d Sämtliche Selektionen und Entscheidungen werden kontingent, eine Wirkung von Versuchen, den Zustand umfassender Kenntnis in Instrumentalität zu übersetzen: inkompatible Interpretationen sind innerhalb dieser Datenbank äquivalent, was ironischerweise die von der Agnotologie gestellten

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Forderungen abbildet. Die Irrationalität und Beliebigkeit dieser agnotologischen Interpretationsbörse reflektiert die Prioritäten der Datenbank (die Aura der Information): Alle Positionen sind als Datenpunkte gleichwertig; die Auffassung als Information (Daten) lässt ihre Bedeutung (Nutzwert) außer Betracht – wodurch die historischen Dualitäten von wahr/falsch, real/irreal, Leben/Tod in sich zusammenfallen. Die Agnotologie bringt einen „kapitalistischen Markt“ hervor, auf dem in einer Dynamik, in der die Forderungen des Sicherheitsapparates die Bedingungen für Agnotologie durch Überwachung herbeiführen, keine rationale Entscheidung möglich ist. Hierdurch wird die durch die tiefgreifende Überwachung selbst gestellte Forderung nach größerer Gewissheit noch verstärkt. Angesichts des Fehlens epistemologischer Überprüfungen an der „Realität“ wird jede Entscheidung grundsätzlich zu einer Widerspiegelung der irrationalen Faktoren, die der Bewertung äußerlich sind. Die Entrechtung menschlicher Tätigkeit, zu der die Datenbank führt, ist die Wiederholung dieser Verschiebung, ein Abschieben der Verantwortung für Aktivitäten auf die Matrix der Überwachungsdaten, ein Abtrennen der Wirkung von der Entscheidung: welches Ergebnis sowohl die politischen als auch die kommerziellen Dimensionen der Agnotologie/Überwachungsdynamik in sich vereinigt. Bedeutung ist von der Datenbank selbst unabhängig; die Sammlung von Daten und ihre Relationen folgen semantischen Kombinationsregeln, jedoch ohne jede lexikalische Sorge um ihre Bedeutung. Daten spiegeln nur die Uniformität des digitalen Protokolls wider, wodurch sie den Zustand umfassender Kenntnis anstreben und verdinglichen: Sämtliche Positionen, selbst wenn sie gegensätzlich sind und einander ausschließen, koexistieren als diskrete Datenpunkte, die auf Semiose warten. In diesem Vorgang kann die Bedeutung (der Wert) dessen, was gesammelt, katalogisiert, referenziert und kompiliert wurde, nicht berücksichtigt werden. Die Natur dieser Werte hängt davon ab, wie die Datenbank verwendet wird: ob aus kommerziellen oder politischen Gründen. Die Ergebnisse sind für die Form und Sammlung der Daten irrelevant. Die Werte erscheinen erst anhand der semiotischen (Re-)Konfiguration. Ihre Bedeutung (der Gebrauchswert einer bestimmten semiotischen Konfiguration) liegt jenseits dessen, was katalogisiert wurde. Es ist das Wesen des semiotischen Prozesses innerhalb der

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Datenbank, dass jegliche generierte Bedeutung unerkannt bleibt. Diese Aufwertung von (vormals privater) nicht-produktiver Tätigkeit ermöglicht die Transformation sämtlicher ehemals nicht-produktiver Tätigkeit in Arten von Arbeit, aus denen durch die Schaffung einer breiten, neuen Arena für ökonomische Entwicklung ohne korrespondierende Kompensation Wert extrahiert werden kann: der „digitale Autor“ – das Subjekt der Überwachung, welches durch die Datenbank selbst geschaffen beziehungsweise darin verdinglicht ist. Die ambivalente Natur dieser Produktion gibt eine semiotische Neuzusammensetzung sowohl mit politischen als auch kommerziellen Funktionen wieder, bei der jegliche geschaffenen Werte Verschiebungen in der Kategorisierung und den für die Datenbank spezifischen internen Beziehungen sind (die durch Überwachung aufgewertete Auflösung der Gebrauchswerte). Ein solcher Prozess hängt nicht von menschlicher Tätigkeit ab – stattdessen ist er durch algorithmische Analyse automatisiert, eine semiotische Produktion ohne menschliche Intervention oder direkte Beaufsichtigung.

§ 8.2.a Der „Sicherheitsapparat“ hat seinen Ursprung im alltäglichen Verständnis von „Sicherheit“: eine Sammlung von Ideen, bei denen es um Schutz, Freiheit und Wachsamkeit geht – ebenso wie um eine bestimmte Bedeutung in finanzieller Hinsicht: die Verbindung von rechtlichen Verpflichtungen mit bestimmten Schulden. Diese Formulierung des Apparates stimmt mit kapitalistischen Investitionspraktiken im Allgemeinen überein. Dieses Faktum wird sichtbar, wenn wir uns daran erinnern, dass Investitionen „securities“ (Sicherheiten) genannt werden. Die zugrunde liegende Verlagerung oder zeitliche Verschiebung des „gewünschten“ Ergebnisses (das definitionsgemäße „Ziel“) – das die „Sicherheit“ tatsächlich erzeugt – ist erforderlich, damit der Sicherheitsapparat funktionieren kann. Es ist eine Symptomfolge der zugrunde liegenden kapitalistischen Dynamik, die darin verkörpert ist: die Investition in eine erwartete, aber dennoch hypothetische (daher das „Risiko“ der Investition in Aktien) künftige „Auszahlung“. Diese zeitliche Verschiebung der Ergebnisse von den eingesetzten Mitteln schafft eine Verbindung zu expandierender Überwachung, die ihrer Logik selbst folgt: Die

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durch Überwachung entdeckten Einschränkungen erzwingen eine weitere Untersuchung und leiten damit einen fraktalähnlichen, unendlichen Rekurs ein, der an Michel Foucaults Bemerkung in Die Geburt der Klinik erinnert, dass Wissen das Geheimnis erfinde.10 Es sind genau die Forderungen des Empirismus nach Beobachtung, dass jene Bereiche, die der Beobachtung nicht unterliegen, offenbar werden. Einmal in Bewegung gesetzt, verlangen die Forderungen nach „Sicherheit“ eine sich ständig steigernde Bemühung, wie in der Überwachung selbst offenkundig ist. Diese ständige Forderung nach Expansion ist kein Versagen der Überwachung, sondern ein Beweis ihrer Wirkmächtigkeit. Da der Hauptzweck des Sicherheitsapparates in der unmöglichen Aufgabe besteht, jegliches „Risiko“ zu eliminieren, stellt er das ideale kapitalistische Produkt bereit: eines, das sämtliche Bürger kaufen müssen, welches aber niemals tatsächlich bereitgestellt werden kann – lauter Profit ohne Risiko; es ist ein imaginäres „free lunch“11, verdinglicht in der Aura des Digitalen. Kontinuierlich vergrößerte Investitionen in Sicherheit, verbunden mit den wachsenden Kosten für die dadurch erzwungene Überwachung, sind grundlegende Merkmale des Sicherheitsstaates, ebenso wie die ständige Erweiterung der tiefgreifenden Überwachung sämtlicher Aspekte des Lebens. In ihrer Bewertung der Frage, wie sich die tiefgreifende Überwachung auf die Privatsphäre auswirkt, hat die Arbeitsgruppe für Internettechnik (IETF) zugegeben, dass diese Technologien sowie Überwachungs-, Aufzeichnungs- und Analyseprotokolle gleichermaßen von Kriminellen, Unternehmen und Regierungen eingesetzt werden. Die von ihr herausgestellten transformativen Folgen zeigen die Agnotologie/Überwachungsdialektik in Aktion: [Tiefgreifende Überwachung ist ein Angriff], der den Inhalt der Kommunikation ändern, den Inhalt oder äußerliche Merkmale der Kommunikation aufzeichnen oder – durch Korrelation mit anderen Kommunikationsereignissen – Informationen offenbaren kann, die die Parteien nicht offenlegen wollten. Sie kann außerdem andere Folgen haben, die die Absicht eines Mitteilenden auf ähnliche Weise untergräbt. […] Die Motivation der tiefgreifenden Überwachung kann von nichtgezielter Überwachung in einzelnen Staaten, über zulässige, jedoch in

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die Privatsphäre eindringende Absichten von kommerziellen Unternehmen bis zu den illegalen Aktivitäten von Kriminellen reichen. Zur Sicherstellung einer tiefgreifenden Überwachung können unabhängig von der Motivation dieselben Techniken eingesetzt werden. Daher können wir uns nicht gegen die schändlichsten Akteure verteidigen, während wir die Überwachung durch andere Akteure erlauben, unabhängig davon, für wie wohlwollend sie von einigen gehalten werden mögen, da die von den Angreifern geforderten Aktionen von denen anderer Angriffe nicht zu unterscheiden sind.12 Wie die Einleitung zu diesem Bericht hervorhebt, gibt es keine apriorischen Mittel, um zwischen Akteuren (Kriminellen, Unternehmen, Regierungen) hinsichtlich dessen zu unterscheiden, wie sie von den Werkzeugen der Überwachung Gebrauch machen. Die zur tiefgreifenden Überwachung eingesetzten Methoden und Technologien sind im Hinblick auf die menschliche Absicht dieses Einsatzes neutral, womit sie die zugrunde liegende Natur der Datenbank und ihre Verdinglichung des Zustandes der Information widerspiegeln. Dies ist der Grund dafür, warum die Arbeitsgruppe für Internettechnik (IETF) diese Überwachung als „Angriff “ bezeichnet. Es ist die Technik selbst, die das Problem schafft, dass sie zu lösen versucht: Die Agnotologie, die ihre annähernde Rechtfertigung13 liefert, wirkt ihr ständig entgegen – weshalb es zu einer kontinuierlichen Expansion (dem „tiefer“ Greifenden der tiefergreifenden Überwachung) kommt; denn das Erreichen der „Vollständigkeit“, in der das Ziel dieser Sicherheit-durchÜberwachung besteht, ist unmöglich. Diese Dualität – Agnotologie/Überwachung – ist jedoch ein adaptives Netzwerk, das sich Widerstand entgegenstellt und jegliche Aktivitäten umgarnt, die versuchen, seiner Logik zu entkommen oder sie zu vermeiden. (In dem Maß, in dem „Terrorismus“ als eine Art von „Anti-Globalisierungsprotest“ angesehen werden kann, versagt er, weil dies den Sicherheitsapparat erzeugt und unterstützt.) Dieser gestaltlose, absorbierende Komplex spiegelt die Anforderungen wider, die durch das (dem Digitalen ebenfalls eigene) strukturelle Streben nach Sicherheit hervorgebracht werden, den Zustand umfassender Kenntnis als immanente Instrumentalität der Vorhersage und Kontrolle zu erreichen: basierend auf semiotischen Bezie-

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hungsnetzen ist dieser Prozess unendlich, unabschließbar, und fordert so ständig nach noch mehr, durch intensivere Überwachung zusammengetragenen Daten. Schmidts Bemerkung, „Wir können mehr oder weniger wissen, worüber Du denkst“,14 dokumentiert dieses instrumentelle Ziel durch die Annahme, dass dasjenige, „worüber die Überwachten denken“, und welches diese Gedanken sind, mit den Materialien übereinstimmt, die durch Überwachung abgefangen werden. Seine Annahme, die in der Datenbank gesammelten Daten seien in der Lage, die untersuchten Individuen vollständig zu beschreiben, beweist die autoritären Dimensionen dieser Instrumentalität: Diejenigen, die so vollständig beschrieben werden, dass ihre Gedanken vorhersagbar sind, können in keinem Sinne des Wortes als „frei“ angesehen werden. Versuche, dieses Konstrukt zu demaskieren, leiten den unendlichen Regress der Hyperrealität ein, wo dasjenige, was man „hinter“ der semiotischen Maske findet, lediglich eine zweite, eine dritte Maske ist, von denen jede durch die zunehmende Leichtigkeit erkennbar ist, mit der sie zerrissen werden kann: Die zugrunde liegende Natur des Hyperrealen ist seine Konstruktion als konstellierte Zeichen, die selbst in neue Anordnungen verschoben werden können. Die Unendlichkeit der Interpretationen entwickelt die Beliebigkeit semiotischer Disassemblierung in einer Regression sukzessiver Schichten und produziert auf diese Weise einen Strudel der Interpretation, der an der Aura der Interpretation selbst erkennbar ist – ein unbegrenzter Vorgang, bei dem es sich um eine Verdinglichung des Zustandes der Information handelt. Die Dynamik von Agnotologie/Überwachung ist nach dem Vorbild traditioneller rationaler Befragung, Logik oder Beweisführung nicht kritisch hinterfragbar: Diese sind immer schon durch diesen Prozess erfasst, da sie eine regressive Rückkehr zu Gebrauchswerten darstellen (immanenter „Realität“). Das Interesse an einem durch ethische (moralische) Überlegungen geschaffenen metaphysischen Wert wird durch einen technologischen Determinismus beiseitegeworfen, der das Humane durch das autonome Digitale ersetzt: Gesellschaftliche Funktionen werden durch digitale Effizienz verdrängt. Dass diese Verschiebung zugleich eine Funktion des digitalen Kapitalismus ist, stellt einen direkten Beweis dafür dar, wie er die Sammlung von Informationen in seinem Streben einsetzt, den Zustand umfassender Kenntnis zu erzielen: als eine im-

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manente Instrumentalität, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche oder rechtliche Restriktion.

§ 8.2.b Die periodischen Krisen des Kapitalismus sind ein im Kapitalismus selbst inhärentes Symptom der übermäßigen Ausweitung, wie sich dies in den von Karl Marx im 19. Jahrhundert beschriebenen Zyklen exzessiver Produktion zeigte: Die ungeheure Produktivkraft, im Verhältnis der Bevölkerung, die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise sich entwickelt und, wenn auch nicht im selben Verhältnis, das Wachsen der Kapitalwerte (nicht nur ihres materiellen Substrats), die viel rascher wachsen als die Bevölkerung, widerspricht der, relativ zum wachsenden Reichtum, immer schmaler werdenden Basis, für die diese ungeheure Produktivkraft wirkt, und den Verwertungsverhältnissen dieses schwellenden Kapitals. Daher die Krisen.15 Die von Marx bezeichneten „Krisen“ sind ausdrücklich finanziell, und statt Expansionen und Potenziale für kapitalistisches Wachstum zu bieten, zerstören sie Wert: Es sind die Widersprüche zwischen „wachsendem Reichtum“, den Produktionsbedingungen und dem Zweck der kapitalistischen Produktion im Allgemeinen, was die Krisen herbeiführt. Der Unterschied zwischen materieller und semiotischer Herstellung wird in der Rolle offensichtlich, die der Krise in Marx’ Darstellung zukommt, und ihrer Rolle in der semiotischen Produktion. Die Krise des 19. Jahrhunderts ist eine der Überproduktion, die den Bedarf übersteigt, und der Fähigkeit, Profit zu erzeugen. Im digitalen Kapitalismus treten „Krisen“ aufgrund der Unmöglichkeit auf, die Forderungen zu erfüllen, die sich durch die Beschränkungen der semiotischen Herstellung aufgrund der Knappheit des Kapitals ergeben: Das System kann nur durch die Hinzufügung einer externen Wertquelle in Gang gehalten werden. Die Verschiebung von Kapital als Speicher von Wert zu Kapital als Anteil an künftiger Produktion erzwingt eine Expansion in vormals für die Schaffung von Wert nicht erschlossene Bereiche;

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die Überwachung spiegelt die kapitalistische Kolonisierung dieser Bereiche wider: Es sind verschiedene Aspekte desselben Expansionsprozesses, wobei jede Krise, natürlich oder vom Menschen gemacht, eine Gelegenheit der Nutzung als Einkommensquelle für kapitalistische Expansion bieten kann. Die Verkehrtheit dieses Systems entsteht daraus, dass es eine endliche Anzahl von externen Quellen gibt, und wenn diese erschöpft sind, gerät das System notwendigerweise in eine Krise. Allerdings sind Momente des „Systemversagens“ keine Anzeichen dafür, dass der Kapitalismus implodieren wird; stattdessen ist dasjenige, was geschieht, eine Einschränkung, die eine Expansion der kapitalistischen Prozesse in neue Bereiche zur Folge hat, in dem, was die Journalistin Naomi Klein als „Desaster-Kapitalismus“ bezeichnet hat. Ihr gleichnamiges Buch erklärte die Ausbeutung disruptiver gesellschaftlicher Ereignisse als eine Methode ökonomischer Expansion: Am 5. August 2004 rief das Weiße Haus das Amt für Wiederaufbau und Stabilisierung ins Leben. […] Sehen Sie, das Mandat der Behörde besteht nicht im Wiederaufbau irgendwelcher bestehender Staaten, sondern in der Schaffung „demokratischer, markt-orientierter Staaten“. […] Die Arbeit ist, sofern sie überhaupt stattfindet, sehr zeitaufwendig. Ausländische Berater genießen ein High Life auf Kosten von Spesenkonten und mit Gehältern von 1000 Dollar am Tag, während Einheimische keinen Zugang zu dringend benötigten Jobs und Trainingsmaßnahmen haben und von Entscheidungsfindungen ausgeschlossen sind. Sachverständige „Demokratie-Erbauer“ belehren Regierungen über die Wichtigkeit von Transparenz und „verantwortungsbewusster Regierungsführung“, doch die meisten Auftragnehmer und Nichtregierungsorganisationen weigern sich, diesen selben Regierungen ihre Bücher offenzulegen, ganz zu schweigen davon, ihnen die Kontrolle darüber zu geben, wie ihre Hilfsgelder ausgegeben werden […]. Doch wenn die mit dem Wiederaufbau beschäftigte Industrie im Wiederaufbau erstaunlich unfähig ist, so könnte dies daran liegen, dass Wiederaufbau nicht ihr primäres Ziel ist. Nach [Shalmali Guttal, einem in Bangalore ansässigen Wissenschaftler von Focus on the Global South]16 „[G]eht es überhaupt nicht um Wiederaufbau – es geht um die Neugestaltung

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von allem“. Wenn überhaupt, dann dienen die Geschichten von Korruption und Inkompetenz der Verschleierung dieses tieferen Skandals: des Aufstiegs einer räuberischen Form des Desaster-Kapitalismus, der die durch eine Katastrophe erzeugte Verzweiflung und Angst dazu nutzt, eine radikale gesellschaftliche und ökonomische Planung vorzunehmen. Und an dieser Front arbeitet die Wiederaufbauindustrie so schnell und effektiv, dass die Privatisierungen und Landnahmen normalerweise bereits unter Dach und Fach sind, bevor die örtliche Bevölkerung weiß, wie ihr geschah.17 Ein „Systemversagen“ bietet dem digitalen Kapitalismus eine Gelegenheit, durch den Konkurs beziehungsweise die Eliminierung der Konkurrenz zu expandieren – sowohl ökonomisch als auch politisch. (Man denke an die repressiven Folgen, die sich in den USA als Ergebnis der „terroristischen“ Aktionen des Jahres 2001 ausbreiteten.) Diese Fälle von „Systemversagen“ machen den Sicherheitsapparat explizit – was gesichert wird, ist die Fähigkeit der kapitalistischen Expansion, sich fortzusetzen: Die Wiederinstandsetzung nach einer Naturkatastrophe, der Wiederaufbau nach einem Krieg oder ein „wirtschaftlicher Aufschwung“ sind in erster Linie eine Gelegenheit für den Profite erzeugenden Prozess der Stabilisierung: wachsender Bedarf für neue Produktion. Die ideale Situation für diese ungehinderte kapitalistische Expansion ist ein Konflikt mit offenem Ausgang, ohne offensichtliche Kriterien für einen Sieg oder leicht realisierbare Gründe für ein Ende des Konflikts selbst: Der „Kalte Krieg“ zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion während des 20. Jahrhunderts stellte einen ähnlichen Rahmen für Expansion und die Erzeugung von Umsätzen bereit wie der „Krieg gegen den Terror“. Aktivitäten, die zu einer Reduzierung oder Auflösung der Bedingungen führen, die den „Terror“ erzeugen, sind weniger bedeutsam als die Ausbeutung jener Aktionen als Mittel zur weiteren Etablierung und Expansion dieser Prozesse; dies ist exakt die Art und Weise, auf die Überwachung danach strebt, bei ihrer Expansion durch die Gesellschaft ihre Verletzungen der rechtlichen und historischen Grenzen zu rechtfertigen. Sicherheitsdienste setzen notwendigerweise eine stetig zunehmende Überwachung ein: Beobachtung, Datengewinnung und „Zwangsverhöre“

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(Folter) sind allesamt Teil desselben Kreislaufs von Beobachtung, Aufzeichnung und Analyse, der den „Sicherheitsapparat“ definiert. Es kommt nicht darauf an, welches die nächstgelegene Ursache (Quelle) ist – oder ob sie bei ihrem Angriff erfolgreich ist: Jegliche kritische Infragestellung der Autorität dieses Systems ist daher a priori irrelevant, da jedes Ereignis lediglich dazu dient, die Forderung des Systems nach tiefgreifender Überwachung zu verstärken: Im Sicherheitsapparat beweist ein Versagen der Instrumentalität der Information die Notwendigkeit intensiverer Überwachung, nicht ihre Vergeblichkeit.

§ 8.3.a Während das Gesetz tätig wird, Dinge zu verbessern, trachtet Sicherheit nach Beherrschung durch eine totalitäre Kontrolle nicht nur der tatsächlichen Handlungen, sondern sämtlicher möglicher Handlungen. Sicherheit wird zu einem unerreichbaren Ziel, da sie die perfekte Fähigkeit zur Überwachung und Voraussage sämtlichen künftigen Verhaltens postuliert und verlangt. Die Verbindung eines aufsteigenden „Sicherheitsapparates“ mit dem Auftauchen der digitalen Technologie ist kein Zufall – der Versuch, den Apparat zu realisieren, hängt von der digitalen Verarbeitung und dem unmittelbaren Abruf ab, die in die Datenbank selbst eingeschlossen sind. Semiotische Produktion (über die Datenbank), das Hyperreale und die Agnotologie drücken dieselbe Forderung des Kapitalismus nach fortgesetzter Expansion (Wachstum) aus. Ihre Entwicklung verstärkt sich wechselseitig, da sie komplementäre Dimensionen desselben impliziten Prozesses in Aktion sind: der Verschiebung zu einem semiotischen Modell der Produktion, das selbst einen modularen Rekombinationscharakter hat. Die Automation ist für den wesentlich auf Neugestaltung gerichteten Charakter der semiotischen Produktion ideal geeignet: die logische Neuanordnung einer begrenzten Anzahl von Variablen in alle möglichen Konfigurationen. Dies ist die Logik der Datenbank, eingesetzt als produktive Methodologie: Man kann ohne menschliche Tätigkeit vorgehen, da sie mechanisch ist, statt die Intervention menschlicher Urteilskraft zu erfordern. Diese Art der Produktion zeigt sich am deutlichsten in der Verwendung von Systemen für den Hochfrequenzhandel (HFT): Computer und Soft-

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ware verwenden Algorithmen, die ohne menschliche Intervention Entscheidungen über Aktienkäufe automatisieren, einschließlich hinsichtlich der Preise, der zeitlichen Planung und des Umfangs der Käufe. Hochfrequenzhandel generiert finanzielle Profite aus dem Handel mit Wertpapieren, Rohstoffen und anderen Derivaten der Finanzmärkte. Bei diesen Computerprogrammen sind Geschwindigkeit und Nähe zu den Finanzmärkten (über Hochgeschwindigkeitsdatenleitungen) für ihre Fähigkeit, mehrere aufeinanderfolgende Geschäfte in Mikrosekunden abzuschließen, unverzichtbar. Es ist dieser Faktor, der es erforderlich macht, dass es sich dabei um automatisierte, digitale Technologie verwendende Systeme handelt. Hochfrequenzhandel zeigt eines der deutlichsten Beispiele für die semiotischen Verfahren des digitalen Kapitalismus in Aktion. Die Nanex-Analyse des ersten Kurseinbruchs von 2010 beweist, wie Agnotologie in Formen übersetzt werden kann, die sich auch auf automatisierte Systeme auswirken, einfach indem die sequenzielle Natur der Datenverarbeitung (d. h. die Linearität von Computern) verwendet werden kann, um eine immanente Ungewissheit zu erzeugen. Zum ersten HFT-Kurseinbruch auf den Finanzmärkten kam es am 6. Mai 2010. Dieses Ereignis stellt ein Modell dafür dar, wie Agnotologie sich innerhalb automatischer digitaler Systeme manifestieren kann. Maschinen fehlt das Verständnis von Bedeutung, das für Agnotologie in menschlichen Interpretationen charakteristisch ist – Agnotologie kann nur durch die Nutzung der Struktur der auf Maschinen gestützten Instrumentalität selbst erzeugt werden: Sie ergibt sich aufgrund der Asymmetrie der Information in einem ansonsten „offenen System“, auf das sämtliche Teilnehmer den gleichen Zugriff haben – worin sich die Transparenz widerspiegelt, die digitale Systeme, um vollständig effektiv zu sein, für eine tiefgreifende Überwachung benötigen. Die Annahme erscheint vernünftig, dass diese Nutzung zur Norm werden wird, sofern nicht Regeln eingeführt werden, die sie verhindern. Die Nanex-Analyse wies auf die agnotologische Wirkung hin und erwog ihre Implikationen für die Finanzmärkte: Etwa 400 Millisekunden vor dem Verkauf von eMini steigerte sich die Geschwindigkeit des Angebotsverkehrs für alle NYSE-, NYSE Arcaund Nasdaq-Aktien innerhalb von 75 Millisekunden bis zu den Sätti-

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gungsstufen. Dies ist eine neue und überraschende Entdeckung. Bisher dachten wir, wenn wir uns Zeitrahmen von unter einer Sekunde ansahen, die Zunahme des Angebotsverkehrs treffe mit den hohen Zahlen von Verkäufen zusammen, doch wissen wir jetzt, dass der Anstieg in den Angeboten den Verkäufen um etwa 400 Millisekunden vorausging. Diese Entdeckung ist überraschend, weil fast alle Geschäfte in eMini und den börsennotierten Fonds zu den vorherrschenden Angebotspreisen stattfanden (ein Liquidität beseitigendes Ereignis). Während wir für frühere Tage nach Ähnlichkeiten zum Zeitabschnitt zu Beginn des Kursabfalls am 6. Mai suchten, fanden wir eine sehr große Übereinstimmung, die am 28. April 2010 – genau eine Woche und einen Tag vor dem 6. Mai – um 11:27:46.100 begann. Wir beobachteten, dass sie dasselbe Muster aufwies – einen hohen, den Sättigungspunkt erreichenden Angebotsverkehr, und dann etwa 500 Millisekunden später eine plötzliche Explosion von Geschäften auf dem eMini und mit den oberen börsennotierten Fonds (ETFs) zu den vorherrschenden Angebotspreisen, was zu einer Verzögerung in den Angeboten der New Yorker Börse und einem plötzlichen Zusammenbruch der Preise führte. Der Abfall dauerte nur eine Minute, doch die Parallelen zwischen dem Beginn des Abfalls und demjenigen vom 6. Mai sind vielfältig . . . Der Angebotsverkehr nahm während des Verkaufs der börsennotierten Fonds wieder zu und blieb für fast 500 Millisekunden auf den Sättigungsniveaus. Weitere Verkaufswellen begannen Sekunden später und brachten die Angebotsverkehrsrate wieder auf die Sättigungsniveaus. Diese Flutwelle von Daten verursachte Verzögerungen in zahlreichen Eingabeverarbeitungssystemen und -netzwerken. Wir entdeckten zwei auffallende Verzögerungen: das NYSE-Netzwerk, das CQS Daten zuführt (die „NYSE-CQS-Verzögerung“), und die Berechnung und Weiterleitung der Dow-Jones-Indexdaten (DOW-Verzögerung).18

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Der kursiv gesetzte Text kennzeichnet den hier wirksamen agnotologischen Effekt: Der durch die große Zahl der Angebote verursachte „Stau“ zwingt andere Hochfrequenzhandelssysteme (diejenigen, die von den Angeboten noch nichts wissen, weil sie sie nicht generiert haben) dazu, diese Angebote zu verarbeiten – wodurch eine Informationslücke zwischen einem System und allen anderen erzeugt wird. Die Diskrepanz in den Informationen, über die ein Angebote generierendes System im Gegensatz zu allen anderen verfügt, die dieselben Angebote verarbeiten müssen, erlaubt es dem System, das die Angebote generierte, einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen, da es die Sequenz als Ganze nicht verarbeiten muss, um ihre Auswirkung zu bewerten. Was wir bei Informationsverarbeitungssystemen bei dieser Funktion sehen, ist die Automatisierung eines Agnotismus und seine Anwendung auf die Computer des Hochfrequenzhandels. Die zur Verarbeitung der Reihe von Angeboten benötigte Zeit wirkt sich darauf aus, was die anderen HFT-Systeme tun werden, doch zunächst müssen sie die gesamte Sequenz abarbeiten; das diese Angebote erzeugende System verfügt bereits über diese Information. Da nämlich erfolgreiche Interpretation sowohl vom Zugriff auf relevante Information als auch von der spezielleren Fähigkeit abhängt, sie anzuwenden und einzusetzen, hat die Organisation als Ganze eine immanente Ausrichtung auf die maximale Akkumulation und Konzentration von Informationen. Historisch gesehen war die Grundbedingung für den Erfolg innerhalb solcher Strukturen eine Bedingung, die durch ein Informationsgefälle bestimmt wurde: Diejenigen am höheren Ende des Gradienten tendierten zu Erfolg und Macht, während diejenigen am niedrigeren Ende dazu tendierten, zu versagen, wenn man von vermittelnden Faktoren wie bereits etablierten Positionen und Befugnissen absieht, die die Tendenz zeigen, sich zu reproduzieren. Innerhalb dieses Konstrukts ergibt sich das Informationsgefälle aus der Gesamtheit der Aktionen von Individuen. Es ist das Instrument, anhand dessen wir Behauptungen bewerten und grundlegende Tatsachen feststellen, die die Agnotologie infrage stellt: Streit über grundlegende Informationen und fundamentale Fragen bezüglich dessen, was „der Fall“ ist, führt zu Agnotologie mit dem notwendigen Begleitergebnis, dass die Agnotologie unsere Fähigkeit blockiert, zu geordneten, logischen Interpretationen zu gelangen. In dieser Hinsicht verhält sich die

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Agnotologie auf schizoide Weise, indem sie die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, ihre Identität als logische Folge, trennt und zusammenfügt.

§ 8.3.b Da die Automatisierung des Hochfrequenzhandels für sämtliche Formen digitaler Herstellung typisch ist – alle digitalen Verfahren verfügen über die gleiche Grundlage als Gerätecode –, lautet die Frage, die man sich stellen sollte: Wessen Anliegen dient sie? Automatisierte Herstellung hat einen anderen Charakter als die Autonomie der (menschlichen) Tätigkeit, die sie ersetzt: Die besondere Form eines digitalen Werkes, wenn es für die Betrachtung durch den, beziehungsweise die Begegnung mit dem Menschen übersetzt wurde, macht den Zweck sowohl des Codes als auch des konkreten Datenstroms, den es verwendet, offensichtlich, ob es ein Film „ist“, ein Musikstück, ein Text oder irgendetwas anderes: Die Daten selbst sind für menschliche Absichten kodiert. In der Illusion, dass unsere Geräte ohne unseren Input funktionieren, ohne auf unsere Wünsche und Forderungen zu reagieren, spiegelt sich ihr (am Menschen orientiertes) Design wider, und die Funktionen, zu deren Erfüllung diese Maschinen konstruiert wurden – die oberflächlich betrachtet mysteriöse, perfekte Natur des digital Hergestellten, seine magische Aura –, bewirkt die Verschleierung der ihr zugrunde liegenden materiellen Wirklichkeit des Digitalen und der Tatsache, dass sie menschlichen Wünschen und menschlicher Handlungsfähigkeit dient: Alle diese Grundlagen werden durch die Aura des Digitalen verborgen. Das Erzeugen agnotologischer Wirkungen hängt von einzelnen menschlichen Tätigkeiten ab, deren kumulative Effekte auf unterschiedlichen Ebenen der gesellschaftlichen Organisation mit wechselnder Kohärenz in Erscheinung treten: Dies ist die Abhängigkeitsbeziehung zwischen der Wirkungsweise der digitalen Technologie und den Forderungen, die durch die Wünsche der menschlichen Gesellschaft gestellt werden (vorausgesetzt ihre formale Grundlage ist der Kapitalismus). Ohne eine gesellschaftliche Funktion – vorgegeben und gelenkt durch die menschliche Tätigkeit, die diese Geräte in Dienst nimmt – ist digitale Technik, wie aktiv das Gerät selbst auch sein mag, ohne Intelligenz. Sie ist

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konfrontiert mit der Erzeugung von Wert ohne Funktion (Nutzwert) durch die immaterielle Produktion: Dass die digitale Technologie für bestimmte menschliche Bedürfnisse entworfen wurde und in ihrem Dienst steht, wird nicht mehr gewusst, wenn die Aura des Digitalen beherrschend wird. Technologie ist eine Kristallisation menschlicher Tätigkeit, externalisiert in beziehungsweise in Form von Maschinen. Wir vergessen nicht nur ihre materielle Basis in Form von Geräten, wir vergessen auch ihre Abhängigkeit von menschlichen Wünschen und Bedürfnissen, wodurch die Übertragung der Handlungsmacht an autonome Systeme möglich wird. Wie alle Maschinen sind digitale Software und Hardware konstruiert, um speziell vom Menschen ausgehende Ziele zu erreichen, und diese Ziele sind die „Wirklichkeit“ der Funktion (der Nutzwert der Maschine), nicht die von ihr geschaffene Instrumentalität (ihre Verwendung). Der gesellschaftliche Bereich menschlicher Wünsche und Bedürfnisse ist von völlig anderer Art als es ihre Instrumentalitäten sind. Die Verbindungen sind implizit statt explizit und verlangen daher einen Interpretationssprung, um von einer Ebene dieser Konstruktion zu einer anderen zu gelangen: Die Struktur insgesamt steht mit der politischen Ökonomie und der sozialen Organisation der menschlichen Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, notwendigerweise in einer Wechselbeziehung; und hier wird die Dualität der digitalen Technologie von ihren frühesten Anfängen als eine (militärische) Technologie offenbar, die in den 1950er- und 1960erJahren an amerikanischen Universitäten entwickelt wurde.

§ 8.4.a In dieser Konvergenz von Agnotologie, Hyperrealität und Überwachung überschneidet sich die digitale Technologie mit der politischen Ökonomie und den von der menschlichen Tätigkeit (Arbeit) gestellten Problemen. Die Agnotologie ergreift Besitz vom traditionellen Bedürfnis nach der Sammlung von Informationen (welches in der beziehungsweise durch die Speicherung und Ablage von Informationen in Datenbanken – ohne dass dabei ihre verschiedenen Arten, ihr Wahrheitsgehalt, ihre Bedeutung und wechselseitige Verbundenheit berücksichtig würden – zum Ausdruck kommt), und zwar durch ihre Beziehung zum Zustand umfassender Kenntnis: Sie

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führt unumgänglich gleichermaßen gültige, dabei jedoch widersprüchliche Informationen und Interpretationen ein. Das Problem wird nicht einfach zu einer Frage der ökonomischen oder der Klassenstruktur, sondern der Beziehungen größerer oder geringerer Kontrolle, die dadurch produziert, aufrechterhalten und verdinglicht wird, wie die digitale Technologie und die Ideologie des Digitalen sich in dieser Akkumulation von Alternativen, die zu Mehrdeutigkeiten in Fragen grundlegender Faktizität und fundamentalen Wissens führt, gegenseitig bekräftigen. Die Datenbank und ihre semiotischen Prozesse laufen ohne die Möglichkeit ab, irgendwelche der produzierten Bedeutungen zu identifizieren oder zu verstehen. Es ist die zugrunde liegende Implikation der kapitalistischen Wertbestimmung (das Konzept des Tauschwertes), dass Wert in der produktiven Handlung enthalten ist, wobei Währung einen durch künftige Produktion gesicherten Schuldschein darstellt. Im digitalen Kapitalismus wird der Gebrauchswert auf dem Wege des semiotischen Prozesses selbst zu einer produktiven (immateriellen) Quelle von „neuem“ Wert – dies ist die für digitale Systeme spezifische immaterielle Herstellung. Automation hat eine Verschiebung zur Folge, die von menschlicher Arbeit völlig verschieden ist, worauf Marx im Hinblick auf die wesentlichen Beziehungen hinwies, die durch Arbeit, Gesellschaft und Kapital bedingt werden: Der kapitalistische Produktionsprozeß ist wesentlich zugleich Akkumulationsprozeß. […] Aber mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit wächst noch mehr die Masse der produzierten Gebrauchswerte, wovon die Produktionsmittel einen Teil bilden. Und die zusätzliche Arbeit, durch deren Aneignung dieser zusätzliche Reichtum in Kapital rückverwandelt werden kann, hängt nicht ab vom Wert, sondern von der Masse dieser Produktionsmittel (Lebensmittel eingeschlossen), da der Arbeiter im Arbeitsprozeß nicht mit dem Wert, sondern mit dem Gebrauchswert der Produktionsmittel zu tun hat. Die Akkumulation selbst, und die mit ihr gegebene Konzentration des Kapitals, ist aber selbst ein materielles Mittel der Steigerung der Produktivkraft. In diesem Wachstum der Produktionsmittel ist aber eingeschlossen das Wachstum der Arbeiterbevölkerung, die Schöpfung einer dem Surpluskapital entsprechenden und sogar seine Bedürfnisse

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im ganzen und großen stets überflutenden Bevölkerung, und daher Überbevölkerung, von Arbeitern. Ein momentaner Überschuß des Surpluskapitals […] würde […] durch Anwendung der Methoden, die den relativen Mehrwert schaffen (Einführung und Verbesserung von Maschinerie) noch weit rascher eine künstliche, relative Übervölkerung schaffen, die ihrerseits wieder – da in der kapitalistischen Produktion das Elend Bevölkerung erzeugt – das Treibhaus einer wirklichen raschen Vermehrung der Volkszahl ist.19 Während Marx ein tatsächliches Bevölkerungswachstum beschreibt, wäre eine solche Interpretation unvollständig: Solange der Umfang der menschlichen Arbeit zunimmt, ist ihr Wachstum etwas Selbstverständliches, unabhängig davon, was geschieht. Der Ersatz der menschlichen Arbeit durch Maschinen hat jedoch eine unmittelbare, dramatische Wirkung: eine „arbeitende Bevölkerung“, die die Produktionserfordernisse des Kapitals an Arbeit übersteigt. Die Inflation der Preise – der erhöhte Preis für Bedarfsgüter und der sich daraus ergebende Wertverfall der Währung – ist als oberflächlicher Wertzuwachs erkennbar, dem die ausgleichende Kraft der Abwertung der Währung entgegenwirkt: Es werden keine „Profite“ erzeugt, sondern es kommt lediglich zu einer Umstrukturierung der Schuldscheine gegen künftige Produktion, die auf den digitalen Kapitalismus vorausdeutet. Diese Kosten dieser Arbeit, die Marx als „variables Kapital“ bezeichnete, werden beseitigt, wenn die Automation menschliche Tätigkeit durch „konstantes Kapital“ ersetzt: die Kosten der Maschinen und Rohmaterialien ohne die variablen Kosten, die für menschliche Arbeit entstehen. Das Ergebnis ist eine scheinbare Produktion von Wert ohne Kosten für irgendwelche durch menschliche Arbeit erzeugten Werte: Die Erzeugung von Bedarfsgütern durch autonome Arbeit deutet auf einen fundamentalen Bruch in der Wertproduktion im Kapitalismus hin, der die Irrelevanz der menschlichen Arbeit und der gesellschaftlichen Grundlagen für die Werterzeugung im digitalen Kapitalismus impliziert. Diese Implikation kommt dadurch zustande, dass die Aura des Digitalen materielle und immaterielle Belange aufspaltet, noch während es das Materielle vollständig annulliert.

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§ 8.4.b Marx’ Konzept einheitlicher Arbeitskraft (unausgebildeter produktiver Fähigkeit) erfordert einen grundlegenden „Mangel an Fachkompetenz“. Seine Negation gesellschaftlicher Reproduktion (Aufhebung menschlicher Tätigkeit) ist diesem Paradigmenwechsel wesentlich zugehörig, während er die aufgegliederte menschliche Arbeit erst in Automation und dann in immaterielle Arbeit transformiert: von menschlicher Tätigkeit in autonome, semiotisch erzeugte Ware. Die automatisierte Produktion und die ihr vorausgehende Fragmentierung durch das Fließband stellen eine Herausforderung für die menschliche Tätigkeit dar, und zwar durch ihre Verdrängung der Leistung und der produktiven Fähigkeit des qualifizierten Facharbeiters. Diese Tatsache findet ihre ironische Verwirklichung durch die Ablehnung von „Verzierung“ (dem offensichtlichsten Kennzeichen hochqualifizierter, manueller Arbeit), die in den KunsthandwerkBewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts, die sich schwerpunktmäßig an einer Kritik der industriellen Produktion orientierten, üblich war. Die Verbindungen von kommerziellen und ethischen Interessen in Adolph Loos’ Erörterung der Produktion, „Ornament and Crime“ (1910), ist typisch für die paternalistische Sichtweise der Arbeit, die im Kapitalismus angelegt ist – was in den USA als „protestantische Arbeitsethik“ bezeichnet wurde. Diese Verbindung ermöglicht und bestätigt, was in erster Linie kommerzielle Bestimmungsfaktoren und Ausreden für die soziale Schichtung der Gesellschaft und Formen von durch Automation erzeugtem Wert sind. Loos’ Ablehnung der menschlichen Tätigkeit stellt die Verdrängung der qualifizierten durch unqualifizierte Arbeit sicher, einen Faktor in der Industrialisierung der Kunsthandwerk-Bewegung in den USA, einer durch das Fließband ermöglichten Verschiebung, die später durch die Automation der menschlichen Produktionsleistung nochmals bekräftigt wurde: Der Fortschritt der Kultur ist gleichbedeutend mit dem Entfernen von Verzierungen von Gegenständen des täglichen Gebrauchs. […] Es stellt ein Verbrechen gegen die nationale Wirtschaft dar, und als Folge

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davon werden menschliche Arbeit, Geld und Material ruiniert. Die Zeit kann diese Art von Schaden nicht wiedergutmachen.20 Loos’ Behauptung, dass die Ablehnung der Verzierung für die kulturelle Entwicklung notwendig ist, verschleiert die zugrunde liegende Schwierigkeit, die sich durch die Produktion von Verzierungen stellt: Sie erfordert fachliches Können und wurde mit sorgfältiger handwerklicher Arbeit in Verbindung gebracht. Das „Ersetzen qualifizierter durch unqualifizierte Arbeitskräfte“, die diese Ablehnung der Verzierung impliziert, ist in Loos’ Argument enthalten: „verschwendetes Kapital“ ist der primäre Schwerpunkt seines Theorie-Manifests. Es geht darin um die Rechtfertigung und Anerkennung dessen, was scheinbar unfertige Gebrauchsgegenstände waren (denen die abschließende Behandlung ihrer Oberfläche fehlte, die Verzierungen bieten). Die hochqualifizierte Arbeit, die erforderlich war, um diese Verzierungen herzustellen, erforderte auch eine längere Herstellungszeit als die Produktion einfacher, schmuckloser Gegenstände, die zugleich weniger Geschick erforderte und sich somit auch leichter automatisieren ließ: Verzierung bedeutet verschwendete Arbeitskraft und daher verschwendete Gesundheit. Das war immer schon so. Doch heute bedeutet es verschwendetes Material, und beides bedeutet verschwendetes Kapital.21 Seine tatsächliche Rechtfertigung der Ablehnung von Verzierungen (der Anwendung qualifizierter menschlicher Tätigkeit auf die Produktion) ist finanziell – das Beseitigen des zusätzlichen Kapitalaufwands bei der Produktion der Verzierung – und wurde als moralischer Kreuzzug gegen den sittlichen Verfall verbrämt. Das Argument gegen die Verzierung ist kommerziell, eine Unterstellung, die die zugrunde liegende Sorge um Produktivität verschleiert: Ein verziertes Objekt herzustellen dauert länger als ein nicht verziertes – diese Einsparungen resultieren in einer höheren Produktivität, d. h. in mehr produzierten Objekten. Diese Sorge um die Produktionsrate impliziert unweigerlich einen Prozess der Überwachung derjenigen, die die Arbeit ausführen, eine Beobachtung ihres Arbeitsprozesses und

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der Herstellungsrate – eine Dimension, die im wahrsten Sinne des Wortes zu einer neuen Form der Produktion durch tiefgreifende Überwachung wird. Die Transformationen, zu denen es durch die Verstädterung, die Industrialisierung, die allgemeine Alphabetisierung und den demokratischen Zugang zu Informationen gekommen ist, haben diese frühere Bedingung fundamental verschoben, allerdings ohne die Grundannahme zu ändern, dass mehr Information gleichbedeutend mit Erfolg ist. Es ist diese Ideologie, die im „Sicherheitsapparat“ verdinglicht ist, als Versuch, eine Instrumentalität der Information zu schaffen. Es gibt jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen den Werten, die durch eine an Informationen reiche Umgebung mithilfe von Datenbanken generiert werden, die mit digitaler Technologie verbunden sind, und jenen, die durch eine an Informationen arme Umgebung erzeugt werden: Die sozialen Strukturen vorindustrieller Gesellschaften replizieren sich selbst, nicht weil Information weniger verfügbar ist oder notwendigerweise weniger einfach gespeichert, sondern weil sie weniger übertragbar – zugänglich – für diejenigen ist, die sie ansonsten nutzen könnten. Die Agnotologie reproduziert diese Bedingung im hochautomatisierten, informationsreichen digitalen Kapitalismus durch das Hyperreale, indem sie den Interpretationsprozess unterminiert und eine mangelnde Kohärenz über gesellschaftliche, politische und die Umgebung betreffende Bedingungen erzeugt. Das Problem der informationsreichen Gesellschaft besteht nicht im Zugriff auf Information – auf Information zuzugreifen, wird zu einer alltäglichen Angelegenheit durch die ständig aktivierten Computernetzwerke –, sondern ist eine Frage der Kohärenz. Die Agnotologie wirkt in der Erzeugung von Dekohärenz: Sie unterminiert die Fähigkeit, festzustellen, welche Information wahrheitsgemäß und für die Konstruktion von Interpretationen zulässig ist. Gleichzeitig wurde das Konzept der „Faktizität“ zu etwas, das „subjektiv für wahr gehalten wird“ – zu Information, die als gültig erscheint. Doch Agnotologie ist mehr als bloße „Unwissenheit“ oder das Ergebnis eines Informationsgefälles. Der im digitalen Kapitalismus generell so offensichtliche Agnotismus ist ein Nichtwissen, bei dem ungewöhnliche und scheinbar unwahrscheinliche Behauptungen ohne jegliche Anerkennung der Tatsache präsentiert werden, dass es damit in Konflikt stehendes

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oder ihnen widersprechendes Beweismaterial gibt. Die durch den Agnotismus erzeugte Dekohärenz dient der Etablierung von Hierarchien innerhalb der politischen Ökonomie, indem „menschliche Ressourcen“ unfähig gemacht werden, Änderung herbeizuführen oder die vorhandene gesellschaftliche Organisation infrage zu stellen. Die Unfähigkeit, Kontroversen innerhalb des gesellschaftlich-politischen Bereichs aufzulösen, ist eines der sichtbarsten Symptome dieser Dekohärenz in Aktion.

§ 8.5 Menschliche Tätigkeit verlangt eine wechselseitige Beziehung zur immanenten materiellen Welt; es ist diese Fähigkeit, die physische Umwelt zu verändern und darauf einzuwirken, die im Aufstieg des Modernismus und des industriellen Kapitalismus im Gefolge der Erfindung des Humanismus im 18. Jahrhundert offensichtlich ist. Die Definition des Kapitalismus als einer Veräußerung der Produktivkraft des Arbeiters – menschlicher Tätigkeit – ist eine Anpassung an diese Betonung der Tätigkeit des Einzelnen als produktives Modell, das in der sozialen Reproduktion der menschlichen Gesellschaft gründet. Das Auftauchen der Agnotologie ist ein Beweis für die Verschiebung von einer historischen kapitalistischen Produktion zu einer ohne Bezug zu oder Interesse an der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Das Aufzeichnen und die Beobachtung, die als tiefgreifende Überwachung unmittelbar erkennbar sind, ist ein Aspekt des allgemeinen Aufstiegs digitaler Automation und Herstellung, der nur möglich wird, wenn das Soziale selbst zum Gegenstand der Auflösung wird. Die immaterielle Produktion offenbart das Gesetz der Automation in Aktion, wenn intellektuelle Arbeit zunächst zu einer Ware und dann – im Gefolge der historischen Entwicklung im 19. Jahrhundert, in deren Verlauf es zu dem (der Fließbandproduktion inhärenten) Austausch qualifizierter durch unqualifizierte Arbeit kam – zu autonomen Prozessen vereinfacht wird. Diese offensichtliche Entfremdung der menschlichen Arbeit ist dem Kapitalismus wesentlich – die Veräußerung der Arbeitskraft war ihr erstes, ihn definierendes Moment. Der digitale Kapitalismus bleibt dem humanistischen Konzept der Produktion durch veräußerlichte Tätigkeit grundsätzlich verbunden. Er ist mit der Moderne äquivalent in ihrer Erhöhung hu-

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manistischer Werte (Tätigkeit) über alle anderen, wie sich anhand der gegenwärtigen Gehaltsunterschiede in den USA zwischen dem Gehalt des Direktors und den Gehältern derjenigen zeigt, die Arbeit verrichten: Der Entscheidungsträger – der Direktor – hat ein höheres Gehalt aufgrund des höheren Grades von Wirkungsmacht, während diejenigen, die die tatsächliche Arbeit ausführen, nur ein winziges Gehalt verdient haben, da sie über keine Wirkungsmacht verfügen: Wer ohne Wirkungsmacht ist, ist wertlos. Die Bekräftigung der menschlichen Wirkungsmacht ist keine kritische Antwort auf die Entfremdung, die der digitale Kapitalismus darstellt, sondern eine Dimension des Systems, das die Entfremdung selbst hervorbringt. Es ist die Situation von Wert in Tätigkeit, die den Kapitalismus selbst ermöglicht. Bis zur Ankunft der digitalen Technologie erforderte intellektuelle Arbeit grundsätzlich menschliche Tätigkeit (sie konnte nicht automatisiert werden); allein der Direktor behält noch diese Unantastbarkeit; daher die Disparität des Gehaltsunterschieds. Die Frage der menschlichen Tätigkeit, statt ein „barbarisches Relikt“ zu sein, bleibt eine fundamentale Einschränkung sämtlicher Produktion und Werterzeugung genau deshalb, weil Wert eine Kristallisation bestimmter gesellschaftlicher Forderungen ist, die mit menschlicher Tätigkeit zusammentreffen und letztlich von ihr abhängen. Es ist wert, sich daran zu erinnern, dass jegliche Währung (Geld) eine Verdinglichung einer gesellschaftlichen Beziehung ist – ohne diese menschliche Dimension hört Wert auf zu existieren. Wert ist dasjenige, für dessen Schutz der Sicherheitsapparat arbeitet. Er ersetzt das Soziale (die verdinglichte Kombination menschlicher Tätigkeit und der intelligenten Beziehungen, die diese Tätigkeit begleiten) durch seine eigenen instrumentalen Verbindungen und Verfahren, die autonom und ohne Intelligenz sind, sodass die (historische) Basis in menschlicher Tätigkeit sich zum autonomen digitalen System verschiebt. Dieser Übergang zur Automation missachtet notwendigerweise die eigentliche Grundlage des Kapitalismus selbst: dass Arbeiter ihre Arbeitskraft (veräußerte Produktivkraft, die zu einer Ware gemacht wurde) gegen Bezahlung austauschen, die dann als die Geldmittel, die die Arbeiter ausgeben, um die Produkte ihrer eigenen Arbeit zu kaufen, in den Kreislauf zurückkehren. Die Integrität dieser Grundlage wird verletzt, wenn auto-

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matisierte Produktion Arbeiter ersetzt, ohne ihren Übergang in andere Formen der Produktion zu ermöglichen – im dauerhaften Ersatz der menschlichen Arbeit durch automatisierte Prozesse: Was entsteht, ist nicht mehr der von Marx klassisch definierte „Kapitalismus“. Agnotologie produziert eine entfremdete menschliche Tätigkeit, völlig getrennt von der historischen (traditionellen) Definition des Kapitalismus selbst: Eine Rückkehr zu früheren Formen menschlicher Arbeit entkommt dieser Problematik nicht; es sind diese Formen, die sie hervorgebracht haben. Die Infragestellung der menschlichen Tätigkeit ist zugleich die Herausforderung, die der digitale Kapitalismus für die Gesellschaft darstellt. Dies beweist der Widerspruch in Bezug auf Werte, der sich darin zeigt, dass Agnotologie die Wirkung hat, Werte auf die gleiche Weise zu bewahren, auf die die Aura des Digitalen die physischen Aspekte aus dem Bewusstsein verdrängt. Die Entmenschlichung der Produktion, die letztlich die Wirkung des Gesetzes der Automation ist, unternimmt nichts, um auf Wertfragen einzugehen; ganz im Gegenteil: Sie führt dazu, dass Fragen der Produktion von Wert für jede kritische Analyse zentral werden, was grundsätzlich zur Konstruktion des gesellschaftlichen Bereichs zurückführt. Die Eliminierung der menschlichen Tätigkeit aus der Produktion wird durch die tiefgreifende Überwachung reproduziert. Überwachung selbst ist eine Entfremdung von dem Wert, der im Bruch der Hyperrealität mit den Bedingungen der Materialität auftaucht. Sie ist eine fundamentale Transformation der Art und Weise, wie das Soziale konstruiert wird, was eine grundsätzliche Verschiebung im Wesen des Kapitalismus selbst anzeigt. Wert wird nicht eine gesellschaftlichen Beziehung, sondern eine durch autoritäre Beherrschung abgesicherte, technische Beteuerung. Der Sicherheitsapparat arbeitet an der Aufrechterhaltung der etablierten Ordnung, verhindert das Auftauchen von Alternativen; die von der Agnotologie angebotenen Heterotopien haben die Funktion, zu zerstreuen, was sich ansonsten nicht in Schach halten lässt. Das Streben nach dem Zustand umfassender Kenntnis, verbunden mit semiotischer Produktion, macht Tätigkeit irrelevant. Die Dynamik von Agnotologie/Überwachung fungiert gleichzeitig als Bekräftigung dieser Hierarchie und als das Mittel ihrer Verewigung, selbst wenn das System, dem sie dient, immer prekärer wird. Das Problem ist

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weder eine Frage der Tätigkeit, noch der Automation, noch irgendeiner Produktion von Wert: Stattdessen handelt es sich um das Paradox in den Grundlagen des Kapitalismus in seiner Entwicklung in der Moderne. Die moderne Sorge um Selbstbestimmung, Individualität und Autonomie (Wirkmächtigkeit) findet im Kapitalismus eine Form, mit der Veräußerung (Entfremdung) der eigenen, internen „Produktivkraft“ der Arbeiter. Es ist nicht mehr eine Frage der Entscheidung, zu handeln oder nicht zu handeln, etwas oder nichts zu tun. Das Handeln wird eingedämmt: Es wird entmachtet durch die Instrumentalität der Agnotologie/Überwachung. Im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte Methoden des Widerstands und der Opposition werden neutralisiert, noch bevor sie in Aktion treten können. Dies ist das Problem, auf welches das Critical Art Ensemble in seiner Analyse Digital Resistances 1996 einging, wobei das Konzept der „taktischen Medien“ – ein ausdrücklich nicht definierter Begriff in ihrer Absicht – die Sicherheitsreaktion auf theoretische Herausforderungen demonstrierte.22 Es ist das Undefinierte, was in diesem System autoritärer Beherrschung problematisch wird, dasjenige, was den mehrdeutigen Charakter des abwesenden Gegenstandes behält, das bis auf die Verdrängung, die es um sich bewirkt, Unsichtbare, ein Faktor, der ein wesentliches Merkmal der Weise ist, auf die tiefgreifende Überwachung ein neutrales System ist, das allen Herren – unabhängig von ihren Zielen – auf gleiche Weise dient, wie das Critical Art Ensemble 1994 feststellte: Die primäre Sorge der Militär-, Unternehmens- und Cyberpolizei (des Computer Emergency Response Teams, des Geheimdienstes und des National Computer Crime Squad des FBI) ist die, dass genau zum jetzigen Zeitpunkt von widersprechenden Gruppen und Individuen (in den Worten der Behörden: „kriminellen“ Gruppen) nomadische Strategien und Taktiken eingesetzt werden. Die Cyberpolizei und ihre Herren in der Elite leben unter dem Zeichen einer virtuellen Katastrophe (das heißt, in Erwartung des elektronischen Desasters, das sich ereignen könnte) auf die mehr oder weniger gleiche Weise, auf die die Unterdrückten unter dem Zeichen des virtuellen Krieges (des Krieges, den wir ewig vorbereiten, der aber niemals kommt) und der virtuellen Überwachung gelebt haben (dem Wissen, dass wir vom Auge der

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Macht beobachtet werden könnten). Die gegenwärtige Welle der Paranoia setzte zu Beginn des Jahres 1994 ein, mit der Entdeckung von „Schnüffel“-Programmen. Angeblich sammeln einige versierte Knacker Passwörter für unbekannte Zwecke.23 Der „Terror“, den das Critical Art Ensemble in den Anfängen des Zeitalters des Internets als Massenmedium in den 1990er-Jahren identifiziert hat, ist mit denjenigen Elementen identisch, die die tiefgreifende Überwachung nicht identifizieren kann: die Dimensionen der Bedeutung, die Semiose in Wert transformieren. Der unbekannte Gebrauchswert, den die gesammelten Informationen haben könnten, ist genau dasjenige, was sie gefährlich macht, was eine Gegenwirkung und Eindämmung ihres Potenzials zu einer Notwendigkeit macht. Die Herausforderung ist nicht der freien Tätigkeit, sondern ist dem Zyklus von Beobachtung-Aufzeichnung-Analyse selbst inhärent: die Transformation von unintelligenter Semiose zu Bedeutung. Der Aufstieg der Agnotologie als einer von „Unwissenheit“, Desinformation, Fehlinformation, Lügen und anderer Propaganda verschiedenen Wirkung kann auf ihre Grundlage in der Unentscheidbarkeit zurückgeführt werden: Im Gegensatz zu ihren (scheinbaren, historischen) Parallelen, deren Grundlagen wesentlich nichtfaktisch sind und als solche erkannt werden können, verschmelzen die Grundlagen der Agnotologie mit dem diskursiven Prozess selbst und unterminieren ihn; die von ihr erzeugte „Unwissenheit“ spiegelt keinen Mangel an Information wider, sondern ist stattdessen der spiegelbildliche Doppelgänger des Wissens, der Handeln und kritische Infragestellung durch eine metastabile Hyperrealität verflüchtigt: Handlungen ohne erkennbare Gründe (Nutzwert) werden nur eine begrenzte, wenn nicht gar keine Wirkung auf die Bedingungen der Wirklichkeit haben, und sie führen unweigerlich zu dem, was die Psychologie als „erlernte Hilflosigkeit“ bezeichnet – eine Situation, die von ihrem Wesen her die etablierte Hierarchie und Ordnung unterstützt, während sie gleichzeitig die Einschränkung, Eliminierung und Kriminalisierung von Widerspruch und Opposition durch den „Sicherheitsapparat“ rechtfertigt. Der Zweck des Sicherheitsapparates ist Entrechtung, eine Verschiebung der Bewahrung von Wert vom gesellschaftlichen zum verdinglichten digitalen Bereich. Was in diesem Prozess gesichert wurde, ist die Zukunft.

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Die Knappheit von Kapital Das Platzen der „Immobilienblase“ der USA im Jahr 2008 war das logische und unausweichliche Ergebnis der Illusion einer Produktion ohne Konsumtion. Dennoch sind, trotz des Zusammenbruchs der Finanzen, der Rettungsgelder für insolvente Finanzinstitutionen, der anhaltenden Inflationsrückführung, des Kredit- und Wertverlusts, die Institutionen, die Rettungsgelder erhalten haben, als Ergebnis der Notprogramme stärker geworden,1 was auf eine grundsätzliche Änderung der Beziehung zwischen der materiellen Warenform und den immateriellen Werten hinweist, die mit Währung und Finanzialisierung gleichgesetzt werden. Finanzielle „Blasen“ sind ein unausweichliches Ergebnis einer systembedingten Verschiebung, in deren Mittelpunkt die Wertschöpfung durch den semiotischen Austausch und Transfer von immateriellen Vermögenswerten steht. Im Falle der „Immobilienblase“ basierten die gehandelten Vermögenswerte auf Hypotheken – auf Schulden, die ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit der zugrunde liegenden, materiellen Werte und der Arbeit aufgenommen wurden, die benötigt wurde, jene Schulden abzuzahlen. Dass man es versäumt hat, auf die unmittelbare Ursache des Problems, die die Krise herbeigeführt hat – die Zahlungsrückstände der zugrunde liegenden Hypotheken –, einzugehen, und sich stattdessen auf die Finanzinstitutionen konzentriert hat (sei es durch Rettungspläne, durch Regulierung oder die Untersuchung von „Betrug“), beweist die Verschiebung, zu der es gekommen ist: von einer materiell produktiven Wirtschaft zu einer, die auf semiotischer Manipulation beruht. Auf diese Situation wurde weder von den herkömmlichen Medien noch in Analysen eingegangen. Sie verlangt nach einer Untersuchung der Frage, auf welche Weise andere systembedingte Faktoren der Immaterialisierung festlegen, welche Arten von Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, wenn diese Krisen auftreten. Wie auf das Platzen der „Immobilienblase“ international reagiert wurde, offenbart und bestätigt die Transformation von produktiver Arbeit in se-

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miotische Manipulation. Folglich gilt auch Entsprechendes für die verschiedenen staatlichen „Rettungsprogramme“, die sich darauf konzentrieren, die Immaterialität von Märkten gegen materielle Einschränkungen zu verdinglichen, indem sie Neubewertungsprozesse von Vermögenswerten suspendierten,2 eine Aktion, die die Erzeugung beziehungsweise Bewahrung der immateriellen Werte ermöglichte, die in der Aufblähung der Vermögenswerte geschaffen wurden. Das anhaltende Auseinanderklaffen der materiellen Vermögenswerte und ihrer Rolle als immaterielle Einsätze in einem Tauschsystem deuten auf zukünftige größere, weitere Teile des Systems erfassende Krisen hin. Die zugrunde liegende Problematik von Schulden, die als Nebeneffekt immaterieller Produktion erzeugt wurden, verschlimmert die zugrunde liegende Pathologie übermäßig. (Bei diesen Schulden handelt es sich um die durch die Semiose entstandenen Transaktionskosten, die anschließend durch Rettungsprogramme verdoppelt wurden, die dazu dienten, die ursprünglichen Vermögenswertblasen durch solche zusätzlichen Verkaufs- und Wiederverkaufssequenzen zu regenerieren oder „erneut aufzublähen“, die von staatlichen Behörden für den Schutz von Märkten und denen, die davon profitieren, gefördert werden.) Die Schuldenproblematik führt zu dieser Verschlimmerung, weil sie zusätzliche Schulden erzeugt und – paradoxerweise – den Wert derjenigen Güter erhöht, deren instabiler Wert die Ursache der ursprünglichen Panik war, die sich im Platzen der Vermögenswertblase selbst zeigt. In der Immobilienblase des frühen 21. Jahrhunderts entsprach der Gegensatz von Schulden und Produktion einer systemspezifischen Dynamik. Sie offenbarte einen semiotischen Prozess (ein Verfahren von Sampling und Remixing) und die Leugnung der Bedeutung der konkreten, materiellen Warenform: der Fähigkeit von Immobilieneigentümern, ihre Schulden abzuzahlen, deren Fragmentierung, Kombination und Reduplikation in der (digitalen) Investitionssicherheit resultierte. Es war sowohl der Austausch dieser derivativen Wertpapiere als auch die Vergabe von Krediten an beinahe jeden, der sie beantragte (in Form von Hypotheken ohne Anzahlung oder Einkommensnachweis oder Hypothekendarlehen, bei denen nur Zinsen bezahlt wurden), was zu den immateriellen Wertpapieren führte, die auf den Kapitalmärkten gehandelt wurden. Dies hatte ein expandierendes Netzwerk von Vermögenswerten und stetig ansteigende Werte zur Folge,

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die für das Extrahieren von Profit notwendig sind. Gleichzeitig wurde die Bedeutung der materiellen Vermögenswerte geleugnet: in einem buchstäblichen Beweis des Bruchs der digitalen Technik mit der Materialität, wo neue Werte hauptsächlich durch die „Neuverpackung“ beziehungsweise semiotische Manipulation von Wertpapieren aus Hypotheken generiert wurden (besicherte Schuldtitel und andere durch Hypotheken besicherte Wertpapiere), und nebenbei durch den begleitenden Verkauf realer Immobilien. Die physischen Waren (Häuser) waren nur insofern von Bedeutung, als sie finanzielle Verbindlichkeiten vermitteln konnten, sodass diese Schulden (Hypotheken) dann in Wertpapiere (besicherte Schuldverschreibungen) zur semiotischen Manipulation und zum Weiterverkauf auf den Derivatenmärkten (versehen mit Kreditausfall-„Versicherungen“) übertragen werden konnten. Nachdem sie in eine virtuelle Form übersetzt worden waren, wurde ihre materielle Basis und die Verbindung zu produktiver Arbeit geleugnet. Das Platzen der „Immobilienblase“ im Jahr 2008 wurde durch eine Erhöhung der Zahlungen ausgelöst, welche die Hypothekennehmer jeden Monat für ihre Immobilienschulden aufbringen mussten, da ihre variabel verzinslichen Hypotheken die monatlichen Zahlungen über den Betrag hinaus erhöht hatten, den sie zahlen konnten.3 Diese Leugnung der materiellen Basis zeigt sich deutlich darin, dass im staatlichen Hilfsprogramm für zahlungsunfähig gewordene Vermögenswerte (Troubled Asset Relief Program, TARP) semiotisch manipulierte, von Hypotheken abgeleitete Investitionspapiere im Mittelpunkt standen,4 statt zu verhindern, dass es zu weiteren Kreditausfällen bei den zugrunde liegenden Hypotheken selbst kommt. Was zum Platzen der „Immobilienblase“ führte und die „Kreditkrise“ des Jahres 2009 auslöste, war der Zahlungsrückstand der Hypothekennehmer aufgrund der Knappheit von Kapital zur Tilgung ihrer Hypothekenschulden. Brüche zwischen den materiellen Vermögenswerten und virtuellen Handelsobjekten wurden in den Ankäufen abgewerteter, von Hypotheken besicherter Wertpapiere durch staatliche Hilfsprogramme deutlich: Der Wert der Wertpapiere, deren Einlösbarkeit fraglich geworden war, wurde geschützt, indem man sie zum vollen Preis (weshalb es sich dabei um ein Rettungsprogramm handelte) aus dem Verkehr zog. Die zugrunde liegende materielle Grenze, die durch die Knappheit von Kapital auferlegt wurde,

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führte zum „Einfrieren“ der Kredite im Jahr 2009. Kapitalknappheit erscheint über die problematische Funktion einer Fiat-Währung, eine in den dynamischen oder immateriellen Werten entstandene Lücke, die sich bis zur Grenze der physischen Fähigkeit zur Erfüllung dieser Forderungen vergrößert. Die Rolle der Akteure in diesem System wird durch die Natur des Systems selbst vorgegeben; es ist keine Frage einer elitären Verschwörung, dass sich der digitale Kapitalismus so verhält, wie er dies tut, sondern es sind die Erfordernisse des systemischen Gleichgewichts, die dieses bestimmte Vorgehen erzwingen. Immobilien bildeten die offensichtliche Grundlage der Aufblähung der Vermögenswerte von 2008 und führten ihr Zerplatzen herbei: Jene Hypotheken, die zu mannigfachen, derivativen Vermögenswerten neukombiniert und aufgeteilt wurden – ihr oberflächlicher Wert basierte auf den Zahlungen, die von Hypothekennehmern monatlich aufgebracht wurden – waren in Wirklichkeit gegenüber dem Handel mit und dem Verkauf von daraus abgeleiteten Wertpapieren, Kreditausfallversicherungen und anderen sekundären, darauf aufgebauten und daraus erzeugten Vermögenswerten zweitrangig. Die werterzeugende Kraft in der Expansion der „Immobilienblase“ war die weitverbreitete Schaffung dieser abgeleiteten, auf den Immobilienschulden basierenden Wertpapiere, und zwar in einem sich selbst verstärkenden Kreislauf, in dem die Produktion zusätzlicher abgeleiteter Wertpapiere die systematische Wirkung hatte, die Schaffung weiterer Hypotheken (Schulden) anzuregen. Als sich die monatlichen Rückzahlungen für Hypotheken mit variablen Zinssätzen über die Grenze dessen erhöht hatten, was die Hypothekennehmer zahlen konnten, zerplatzte die Immobilienblase in der Panik um die Frage, welche abgeleiteten Vermögenswerte keinen Wert mehr besaßen, wodurch alle von Hypotheken besicherten Vermögenswerte (und die als „Schutz“ ausgegebene Versicherung) in Gefahr gerieten. Das problematische Wesen dieser Hypotheken mit Zahlungsrückständen war und bleibt eine Frage des spannungsreichen Gegensatzes zwischen Gehältern und Schulden.5 Dennoch standen im­ Mittelpunkt der Behandlung der durch diesen ökonomischen Zusammenbruch ausgelösten Probleme durch staatliche Hilfsprogramme für zahlungsunfähig gewordene Vermögenswerte nicht die materiellen Vermögenswerte (die Hypotheken mit Zahlungsverzug, die von einem­

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Zahlungsverzug bedrohten Hypotheken oder die Frage der zur Zahlung dieser Schulden verwendeten Gehälter), sondern die virtuellen, semiotisch manipulierten Investitionspapiere, die man aus ihnen abgeleitet hatte. Diese ins Auge fallende Diskrepanz hat wenig Aufmerksamkeit und Berücksichtigung erfahren. Die Knappheit von Kapital zeigt sich innerhalb dieser Konstruktion anhand des inhärenten Ungleichgewichts, das im Bruch zwischen vorhandenen Werten und der Zahl künftiger Forderungen auftaucht, die ein Derivativenmarkt stellt, dessen Wert deutlich größer ist als die Menge immanenter Arbeit (physischer, automatisierter und immaterieller), die zur Verfügung steht, um neue materielle Werte zu schaffen, die diesen Forderungen entsprechen. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um eine Frage des Gegensatzes von Warenwerten und spekulativen Werten, sondern des Gegensatzes von Rentenansprüchen (Ansprüchen auf Produktionswerte) und der Produktionsleistung. Es ist dieses Missverhältnis zwischen Kapital und Zinsansprüchen, das sich durch das Zerplatzen der „Immobilienblase“ im Jahr 2008 abzeichnete und in der Kreditkrise des Jahres 2009 offenbar wurde. Zur Insolvenz von Banken kommt es zum Beispiel genau aus dem Grunde, dass Investoren mehr Ansprüche an zu produzierende Werte haben, als es verfügbare Werte gibt, die eingefordert werden können. Diese Form des Scheiterns ist ein Merkmal für die Art und Weise, auf die semiotische Transaktionen Werte unabhängig von materiellen Vermögenswerten entwickeln. Die Illusion einer Produktion ohne Konsumtion, die diese Krisen herbeigeführt hat, ist zentral für meinen Begriff des Digitalen, den ich in Kapitel  3, „Die Aura des Digitalen“, vorgeschlagen habe. Das Digitale ist ein Symptom einer größeren Verlagerung von Berücksichtigungen und Bewertungen, die in physikalischen Prozessen basieren, zu immateriellen Prozessen. Daher bezieht sich die Bezeichnung „digitaler Kapitalismus“ auf die Übertragung dieser Immaterialität auf den größeren kapitalistischen Überbau. Da das Digitale ein semiotischer Bereich ist, in dem die in einem Werk präsente Bedeutung von der physischen Darstellung dieses Werkes getrennt ist, beschreibt die „Aura des Digitalen“ eine Ideologie, die eine Transformation von Objekten in diese auf Semiose basierende Immaterialität behauptet. Gleichzeitig erscheint das Digitale als eine Naturalisierung

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der Konzentration von Kapital, da das Digitale selbst eine magische Ressource darstellt, die ohne Verbrauch oder Verringerung verwendet werden kann, was zu einem Glauben an die Akkumulation von Wert ohne Produktion führt. Diese Verschiebung von einer Grundlage in begrenzenden Faktoren und Knappheit ist der immateriellen Form, die durch das Digitale dargestellt wird, inhärent: Zugleich leugnet sie, wie die Kapitalknappheit auf zweifache Weise auferlegt wird: in Form von Zinsen und Profiten für Investitionen. Die Kraft, die sich als immaterielle Form des digitalen Kapitalismus zeigt, ist eine Umwandlung der zugrunde liegenden Beziehung zwischen dem universalen Gegenwert, basierend auf der materiellen Warenform, und seiner Rolle als Währung in Marx’ Formulierung und seiner Wertschätzung, unabhängig von seiner Rolle als „Tauschmerkzeichen“, als materieller Vermögenswert. Gold und Silber haben nicht länger einen intrinsischen Wert, sondern einen relativ zur gesellschaftlich produzierten FiatWährung schwankenden Wert. Die Veränderung des US-Dollars von seiner historischen Basis als einer Währung, die durch wertvolle Waren (wie zum Beispiel Gold oder Silber) abgesichert war, zu einer Währung ohne eine solche Grundlage, markiert die Veränderung vom Tausch über die materielle Warenform zu einem immateriellen Tausch, dessen Grundlage rein gesellschaftlich statt materiell ist (die Fiat-Währung). Diese Verschiebung beweist eine Ausdehnung der Immaterialität in die politische Ökonomie als Ganze. (Es ist weniger eine radikale Änderung als ein schrittweiser Übergang, der sich im Aufgeben der Bretton-Woods-Vereinbarungen zeigte und konsequenterweise in der Rolle, die der US-Dollar als weltweite Reservewährung in den 1970er-Jahren übernommen hat.) Während die zugrunde liegende strukturelle Logik, die die ökonomische Krise von 2008 ausgelöst hat, ihre Grundlagen in derselben Ideologie der Immaterialität hat, die in der Leugnung der materiellen Realität durch die Aura des Digitalen offensichtlich ist, sind die Faktoren, die diese Immaterialität produziert haben, in derselben internen Struktur der Art und Weise evident, wie dieses semiotische System seine Teilnehmer in Richtung auf immaterielle Werte treibt. Gleichzeitig führen diese semiotischen Strukturen der Finanzialisierung, des Tauschhandels mit Ansprüchen auf künftige Produktion und die Ideologie eines Bruchs zwischen materiellen und

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immateriellen Werten rekursiv zu einem Schuldenzyklus, der in den großen Vermögenswertaufblähungen – der „Immobilienblase“ (2000er-Jahre), dem „Dotcom-Boom“ (1990er-Jahre) und dem Zusammenbruch der Sparund Darlehensbanken (1980er-Jahre) – in den USA entstand. Zu ähnlichen Aufblähungen von Vermögenswerten kam es, global betrachtet, im gleichen Zeitraum in Japan und Europa, was offenbart, dass die Eskalation von Werten, die sich in der semiotischen immateriellen Produktion des digitalen Kapitalismus zeigt, sowohl mit dem internationalen Geldsystem verbunden, unhaltbar als auch unvermeidlich ist. Diese neue immaterielle Basis trägt zu anderen Veränderungen in Produktion und Arbeit bei. Semiotische Manipulation ersetzt die auf materiellen Vermögenswerten basierende Realität (in der materiellen Warenform), und immaterielle Arbeit ersetzt die materielle Produktion. Dies offenbart den Prozess der Verdinglichung, der die Immaterialität als ein Vehikel der Produktion von Reichtum legitimiert. Der Grund, warum während der „Immobilienblase“ von 2008 im Mittelpunkt des Interesses der US-Notenbank und der Rettungsschirme der TARP-Programme die Zahlungsfähigkeit der Banken stand und warum sie sich um den Kreditfluss sorgten,6 liegt in dieser marktbasierten Semiose, die über eine spontane Erzeugung von Tauschwert ohne Arbeitsaufwand oder den Verbrauch von Ressourcen (sie ist transaktional statt produktiv) Vermögen schafft. Diese Fantasie ist eine grundlegende Bedingung des digitalen Kapitalismus. Es ist ein System, das versucht, sich grenzenlos auszudehnen und dabei unweigerlich auf materielle Einschränkungen stößt, die durch die Knappheit von Kapital erzwungen werden, was zur Anerkennung der Tatsache führt, dass die Aufblähung von Vermögenswerten zusammenbricht und so eine Krise auslöst. Eine beschleunigte Veränderung in Richtung auf einen Immaterialismus – auf ohne produktive Tätigkeit erzeugte Werte – ist im historischen Aufstieg der digitalen Technik in den USA offensichtlich: in der Emission einer auf Schulden basierenden Rentenwährung (am 23. September 1913 durch den Federal Reserve Act, der die Banknoten der US-Notenbank einführte); in der Verschiebung von einer Währung, die auf dem universalen Warenäquivalent, dem „Goldstandard“ basierte, zu einer auf Papiergeld basierenden Währung (am 15. August 1971); im Übergang zu einer Finanzwirtschaft, in deren Mittelpunkt immaterielle Arbeit steht (in der Tendenz

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in den 1980er-Jahren, die Produktion nach Asien auszulagern, und im Aufstieg der Globalisierung in den 1990er-Jahren); und schließlich mit dem Auftauchen der Aura des Digitalen (mit der weitverbreiteten Übernahme der digitalen Technik der Datenübertragung im Zentrum der semiotischen Finanzialisierung, die diese Aufblähungen von Vermögenswerten ermöglicht; einer Tendenz, die in den 1970er-Jahren begann, sich in den 1980erJahren beschleunigte und mit dem anfänglichen Dotcom-Boom in den 1990er-Jahren vollständig sichtbar wurde). In allen diesen Fällen beschreiben diese Veränderungen eine grundlegende gesellschaftliche Verlagerung weg vom Interesse an materiellen, greifbaren Gegenwerten und hin zu einer von der Aura des Digitalen beschriebenen Immaterialität. Sie beschreiben die Illusion eines grenzenlosen Bereichs, der ohne Aufwand Wert erzeugen kann, verbunden mit einer Leugnung der materiellen Kosten und der Begrenztheit der Ressourcen, während diese Illusion mit den Systemen der Produktion und des Austausches von Wert verschmilzt. Die Immobilienblase von 2008, nicht weniger als die „Dotcom-Blase“ von 2001, und die wirtschaftlichen Zusammenbrüche, die sie auslösten, beweisen, wie verbreitet diese Ideologie und die Verlagerung zur Semiose in immateriellen (finanziellen) Transaktionen anstelle von materieller Produktion ist. Der digitale Kapitalismus kann mit dem gleichzeitigen Aufkommen dieser miteinander verkoppelten, gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen identifiziert werden, von denen jede die Ideologie der Immaterialität verstärkt, die sich in der Aura des Digitalen manifestiert. Immaterielle Währung und physische Arbeit erzeugen ein Missverhältnis zwischen den Forderungen, die durch Ansprüche an künftigen Reichtum gestellt werden, und die in der Fiat-Währung sowie der Fähigkeit von Arbeit und Produktion, diese Forderungen zu erfüllen, verdinglicht sind. Die ihr zugrunde liegende Basis begünstigt Ungleichgewichte und Zusammenbrüche, die auf finanzielle Aufblähungen folgen beziehungsweise solche produzieren. Dieser Bruch zwischen der physischen Arbeit und der immateriellen „Produktion“ offenbart ein System, das seinem Wesen nach unfähig ist, ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Will man diese neue Bedingung verstehen, so muss man sich auf Karl Marx’ grundsätzliche Definitionen von Warenwerten, der materiellen Warenform und des universalen Gegenwerts in Beziehung auf Wert und Arbeit zurückbesinnen. Die

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dynamische Spannung dieser Beziehung manifestiert sich auf dem Wege des semiotischen Prozesses der Währungserzeugung durch die Ausweitung von Kredit: die Schaffung von Anrechten an künftiger Produktivität, eingekapselt in das wiederholte Angebot und den Austausch immaterieller „Vermögenswerte“ auf dem Markt – was als „Finanzialisierung“ bezeichnet wird.

§ 9.1 In der traditionellen marxistischen Theorie ist der Unterschied zwischen der materiellen Warenform und der universalen äquivalenten Ware genau deshalb nicht von Bedeutung, weil die universal äquivalente Ware, die Währung, eine duale Identität behält: sowohl als Tauschmittel in Transaktionen als auch als materielle Warenform an sich. Die Grundlagen für diese Konzeption finden sich in Band 1 von Marx’ Kapital, und seine späteren Überlegungen zur Warenform hängen von der Beibehaltung dieser Dualität ab. Der Übergang zur immateriellen Produktion taucht aus einem Bruch der Dualität zwischen Währung und Warenform auf: Wenn der universale Gegenwert keine materielle Warenform mehr ist, wie es bei einer Fiat-Währung (Papiergeld) der Fall ist, ist die Betrachtung der Dynamik der Währung als von der Warenform unabhängig wesentlich. Es kann nicht vorausgesetzt werden, dass sich die beiden als verschiedene Aspekte derselben Entität weiterhin parallel bewegen. Dennoch bleibt die Beziehung zwischen Währung (Geld) und Arbeit zentral für die Dynamik der immateriellen Produktion und der eskalierenden Werte der Waren. Die Entwicklung von Renten- und Fiat-Währungen sind grundlegende Komponenten in diesem Prozess der Extraktion von Vermögen auf dem Weg immaterieller Arbeit. Das Paradox des immateriellen Wertes und der Zukünftigkeit in Fiat-Währungen ist in der grundlegenden Natur von Fiat-Währungen selbst erkennbar: erstens darin, dass diese Währung eine Verdinglichung einer rein gesellschaftlichen Beziehung ist, welches Marx’ Definition von „Währung“ ist, statt ein duales Wesen als gesellschaftliche Beziehung und als Ware zu besitzen, das er erkennt; und zweitens, dass sie – als Rentenform – die Funktion eines Anspruchs auf künftige Arbeit hat, nicht frühere Arbeit repräsentiert. Diese Unterschiede

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machen bedeutsame Änderungen gegenüber den im ersten Band des Kapitals aufgestellten Definitionen aus. Marx beginnt seine Analyse mit der Erörterung der grundlegenden Begriffe von Arbeit, Wert und Ware und geht nur kurz auf ein universales Äquivalent (Währung) ein, das auf einer Vereinfachung des Tauschs von materiellen Vermögenswerten basiert, und zwar durch eine einheitliche Warenform, die für den Tauschwert steht: Die einfache oder vereinzelte relative Wertform einer Ware macht eine andre Ware zum einzelnen Äquivalent. Die entfaltete Form des relativen Werts, dieser Ausdruck des Werts einer Ware in allen andren Waren, prägt ihnen die Form verschiedenartiger besonderer Äquivalente auf. Endlich erhält eine besondere Warenart die allgemeine Äquivalentform, weil alle andren Waren sie zum Material ihrer einheitlichen, allgemeinen Wertform machen.7 Die allgemeine Form des relativen Wertes, die in allen Waren enthalten ist, ist Marx’ Grundlage für den symbolischen Wert, mit dem Geld gleichgesetzt wird: Es ist das grundlegende Prinzip des Tausches, welches „Geld“ durch das universale Äquivalent zwischen dem Wert der zugrunde liegenden materiellen Warenform (Gold) hervorbringt, das „Geld“ ist sowie der Wert anderer Waren. Die gegenwärtige Situation, in der es keine materielle Ware gibt, die die Grundlage für den Tauschwert bereitstellt, liegt jenseits des Anwendungsbereichs dieser Beschreibung. Es ist ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Paradigma, das er konstruiert, und der gegenwärtigen politischen Ökonomie: Eine einzelne Warenform, wenn sie als allgemeines Äquivalent für andere Warenformen verwendet wird, wird zum „universalen Äquivalent“. Daher liegt ein Kapitalismus, der von einer FiatWährung abhängt, welche von jeglicher Verbindung zu einem materiellen universalen Vermögenswert (wie etwa Gold oder Silber) getrennt ist, jenseits des Anwendungsbereichs der historischen Grundlagen von Marx’ Theoriebildung. Deshalb ist, um die Parameter dieses veränderten Szenarios verstehen zu können, eine Neubewertung dieser grundlegenden Definitionen erforderlich. Die Trennung der Währung von materiellem Vermögenswert ist ein wesentlicher Ermöglichungsfaktor für den gegenwärtigen Immaterialismus.

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Das Konzept der „Fiat-Währung“ spielt eine wichtige Rolle in der gegenwärtigen Dynamik des digitalen Kapitalismus. Im Gegensatz zur Definition der Währung bei Marx fehlt dem digitalen Kapitalismus die direkte materielle Verbindung zu greifbaren Sachwerten. Während Marx’ Konzept des „Tauschwertes“ als Speicher für den durch frühere Arbeit produzierten Wert fungiert (d. h. die materielle Warenform befindet sich buchstäblich „in“ der materiellen Basis der Währung), gibt es im digitalen Materialismus kein „Ansparen“ des Werts von früherer Arbeit: Getrennt von der materiellen Basis der universalen Ware besitzt der Tauschwert keine Grundlage in der produktiven Arbeit, da er nicht mehr zugleich Kennzeichen für den relativen Wert und materielle Ware an sich selbst ist. Die Trennung der Währung von ihrer historischen Basis in einer greifbaren Warenform erzeugt notwendigerweise einen virtualisierten (digitalen) Wert, der von jeglicher greifbaren Basis in der materiellen Wirklichkeit getrennt ist. Die Trennung des Warenaspekts (Gold, Silber etc.) vom Tauschwert der Währung verändert die Grundlage des Tausches selbst.8 Der von Fiat-Währungen dargestellte Tauschwert ist nicht von der Warennatur des Geldes selbst abgeleitet. Im digitalen Kapitalismus werden diese Beziehungen zwischen Waren – relativer Wert – zu einer rein gesellschaftlichen Beziehung, die jegliche Basis in früherer Arbeit abstreitet: Was sie ermöglicht, ist eine Verlagerung in Gewinnansprüche gegen künftige Arbeit – als Akteur zur Ingangsetzung von Produktion. Diese Verlagerung ist in der systembedingten Erstarrung sichtbar, die die Kreditkrise von 2009 verursacht hat. Der Gegensatz zwischen der virtualisierten Währung des digitalen Kapitalismus und der traditionellen Währung ist folgender: Die traditionelle Währung war eine materielle Ware, deren Wert innerhalb des ökonomischen Systems klar definiert, deren symbolischer Wert mit dieser Warennatur direkt verbunden und deren relativer Wert im Verhältnis zu anderen Waren auf die materielle Produktion beschränkt war, die in dieser materiellen, universalen Warenform selbst verkörpert war. Diese traditionellen Tauscheinheiten wurden entweder durch eine universale Ware (wie zum Beispiel Goldmünzen) vertreten, oder sie standen an ihrer Stelle (d. h. sie konnten theoretisch gegen dieses universale Äquivalent eingelöst werden). Im digitalen Kapitalismus ist eine solche Transaktion nicht länger möglich. Der Tauschwert traditioneller universaler Warenformen ist jetzt instabil. Er

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verschiebt sich genau deshalb, weil die materiellen Waren nicht mehr als universal austauschbare Währung fungieren. Diese Rolle wird durch den immateriellen Wert der Fiat-Währung besetzt. Befreit von den Einschränkungen, die durch eine materielle Basis in den Waren gegeben ist, kann die Menge der sich in Umlauf befindenden Währung exponentiell erhöht werden und dennoch scheinbar ihren Wert behalten, da es keine materielle Warenform gibt, deren materielle Einschränkung den Wert begrenzt. Das mögliche Zerplatzen der „Immobilienblase“ von 2008 wurde genau dann wirklich, als die Beziehung zwischen der Währungsmenge und ihrem Wert in Beziehung zu anderen Waren (in diesem Fall durch Hypotheken besicherte Schulden, die selbst ein immaterieller Anspruch an künftige Produktion sind) infrage gestellt wurde: Auf diese Weise tritt die systemeigene Gefahr, die solche Zusammenbrüche darstellen, als eine inhärente Eigenschaft der Währung selbst hervor.

§ 9.2.a Marx beschrieb materielle Werte auf zweierlei Weise: (1) als Gegenstände des Gebrauchs, was er als Gebrauchswert, bei dem es sich um die materielle Ware selbst handelt,9 bezeichnete und als (2) Träger früherer Arbeit oder von Wert, in dem der Tauschwert als Geld wiedergegeben wird und der seinen Wert aufgrund der Warenbasis behält: Gold tritt den andren Waren nur als Geld gegenüber, weil es ihnen bereits zuvor als Ware gegenüberstand. Gleich allen andren Waren funktionierte es auch als Äquivalent, sei es als einzelnes Äquivalent in vereinzelten Austauschakten, sei es als besonderes Äquivalent neben and­ ren Warenäquivalenten. Nach und nach funktionierte es in engeren oder weiteren Kreisen als allgemeines Äquivalent. Sobald es das Monopol dieser Stelle im Wertausdruck der Warenwelt erobert hat, wird es Geldware.10 Dieser Dualismus bricht zusammen, wenn wir die verdinglichten gesellschaftlichen Werte des digitalen Kapitalismus betrachten. Es gibt keine Ware, die der Fiat-Währung äquivalent ist, weshalb die Fiat-Währung diese

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Bewahrung der Werte früherer Arbeit durch beziehungsweise als Währung aufhebt. Eine Fiat-Währung ist weder eine Verkörperung produktiver Tätigkeit noch ist sie ein Träger bereits erzeugten Werts, und zwar genau deshalb, weil sie keine Ware ist und in keine Ware übersetzt werden kann. Die zugrunde liegende gesellschaftliche Basis der Währung – die Anerkennung als universales Äquivalent – wird zum einzigen in der Währung (dem Geld) als Tauschwert der Währung verdinglichten Wert. Diese Virtualisierung ist symptomatisch für eine Transformation des Tauschsystems von einem, das auf physischer Arbeit und produktiver Wirtschaft basiert, zu einer virtuellen Ökonomie. Diese Entwicklung ist die Voraussetzung dafür, dass Geldwirtschaft als die immaterielle Produktion auftauchen kann, die den digitalen Kapitalismus charakterisiert. Im Gegensatz zu materiellen Waren (wie etwa Getreide oder Eisen), die immer in einer direkten, physischen Transaktion getauscht werden können (eine Menge Getreide für eine bestimmte Menge Eisen), wird in einer FiatWährung der Wert von Waren nicht mehr durch einen Tauschwert ausgedrückt, sondern stattdessen als transaktionale Schuld: Er wird zu einem Austausch von Ansprüchen auf künftige Produktion. Gold oder Silber zu kaufen, bedeutet, den Wert der Fiat-Währung in eine spekulative Ware zu übersetzen, deren Wert im Verlauf der Zeit instabil ist, und zwar genau deshalb, weil er nicht als Stellvertreter früherer Produktion „fixiert“ ist, sondern in Bezug auf noch auszuführende Produktion. Diese Ansprüche auf künftige Arbeit treten an die Stelle der geschichtlichen Dualität von gesellschaftlicher Beziehung und materieller Ware. Diese Transaktion ist ihrem Wesen nach einem Zins ähnlich: Sie weist darauf hin, dass die elementare Form des Warenwertes nicht durch die Beziehungen zwischen Waren beliebiger Art, sondern stattdessen durch die Möglichkeit ausgedrückt wird, die Währung gegen noch zu verrichtende Arbeit (auch als Schulden bezeichnet) zu tauschen. Marx’ Konzept des „Äquivalenzwertes zwischen Waren“ trifft nicht länger zu, da es keine bereits durch Arbeit produzierte Ware gibt, die diesen Tausch der Werte vermittelt. Fiat-Währungen haben die Funktion, Arbeit in Gang zu setzen (d. h. sie fungieren als Kapital), nicht als Reserve, in der Wert aufbewahrt ist. Im Prozess dieser Verschiebung machen sie Waren genau deshalb wertlos, weil sie nicht mehr äquivalent sind, es sei denn in ihrer Äußerung in Form von

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Ansprüchen auf zukünftige Produktivität – in einem immateriellen, in Materialität nicht immanenten Wert. In diesem Konstrukt tritt Zukünftigkeit (Zukunft-Arbeit-Produktion) an die Stelle des historischen universellen Warenäquivalents (Gold). Zukünftigkeit wird zum universalen Vermögenswert transformiert, und die dadurch hervorgebrachte Konjunktur hängt von der Fähigkeit ab, Kredite zu erhalten und zu manipulieren (d. h. von Finanzialisierung), statt von der Verwaltung und Verteilung der Produktion von Waren. Es ist jedoch keine quantitative Beziehung zwischen materiellen Warenformen (eine Menge der Ware X wird für eine Menge der Ware Y getauscht), die im Verhältnis der Tauschwerte zwischen Gegenständen einer Art und jenen einer anderen direkt sichtbar wird: Im digitalen Kapitalismus wird das Wesen des Tauschwertes eine variable gesellschaftliche Beziehung, die von quantitativen Beziehungen unterschieden ist (und damit in keinem Zusammenhang steht). Die Dynamik des Tauschwertes qua Fiat-Währung verdinglicht eine gesellschaftliche Grundlage, die Marx als charakteristisch für sämtliche Währungen erkennt: Sie ändert die symbolische Beziehung, die im relativen Wert der Waren ihren Ursprung hatte, in die Fiat-Währung selbst. Diese Dematerialisierung der Warenwerte spiegelt eine fundamentale Verlagerung von der materiellen Produktion zur immateriellen Arbeit und im weiteren Sinne zur automatisierten Arbeit von Computersystemen sowie zum Aufstieg der Semiose wider, die in der transaktionalen Erzeugung von Vermögen durch die Finanzialisierung offensichtlich ist.

§ 9.2.b Aufgrund der doppelten Kosten materieller Produktion – einmal durch die Kosten der Rohmaterialien und dann zweitens durch die Transaktionskosten, die durch die Rentennatur der Fiat-Währung auferlegt werden – privilegiert der digitale Kapitalismus die Erzeugung von Wert durch immateriellen Austausch, bei dem es nur die Transaktionskosten der Fiat-Währung selbst gibt. Dass in der asymmetrischen Bewertung des immateriellen Tausches die materielle Produktion gegen Ansprüche auf künftige Produktion getauscht wird, zeigt, wie Arbeit bereits ausgegeben wurde, bevor sie aus-

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geführt wurde (d. h. dass sie eine abzutragende Schuld ist). Angesichts dieser Umwandlung ist die Verlagerung von einem Kapitalismus, der auf physischer Arbeit und Produktion beruht, zu einem auf Semiose (dem über Finanzialisierung vermittelten Tausch von Ansprüchen auf künftige Produktion) basierenden digitalen Kapitalismus unumgänglich. Sie wird den Akteuren innerhalb des Systems des digitalen Kapitalismus aufgezwungen, und zwar durch das Erfordernis der maximalen Extraktion von Gewinn und Profit. Was diese Änderung herbeiführt, ist die Logik des Systems selbst. Die Produktion von Wert ist im digitalen Kapitalismus daher notwendigerweise und wesentlich extraktiv – eine Manipulation symbolischer Ordnung, bei der die Physikalität (in dem Maße, in dem dies noch zutrifft) lediglich ein Vorwand für die transaktionalen Tauschaktionen ist, die erhöhten Wert erzeugen. „Produktion“ ist in diesem virtuellen Bereich eine Frage der Semiose (der symbolischen Manipulation der Finanzialisierung) statt materieller Produktion. Anders als in Marx’ Theorie, in der der Wert einer Ware konstant bleibt, solange die für ihre Produktion erforderliche Arbeitszeit konstant bleibt,11 eskalieren die Warenwerte im digitalen Kapitalismus notwendigerweise, da sie über ihre Bewertung innerhalb des in der Fiat-Währung verdinglichten, virtualisierten Austausches im Vergleich mit künftiger Produktion verschuldet sind. Um die Schulden, die sie darstellen, begleichen zu können, müssen Werte erhöht werden. Von den Einschränkungen der materiellen Warenform – bei der Währung nur im Verhältnis zu dem physischen Material expandieren kann, gegen das sie eingetauscht werden kann – abgeschnitten zu sein, erlaubt drastische Erhöhungen der in Umlauf befindlichen Währungsmenge. Das Ergebnis ist ein Zyklus, in dem Ansprüche auf künftige Produktion expandieren, bis sie auf den begrenzenden Faktor treffen: die Fähigkeit der Arbeit, die Ansprüche zu befriedigen, die gegen ihre künftige Produktion erhoben werden. Diese Begrenzung ist die Knappheit von Kapital. Die Knappheit von Kapital begrenzt die Expansion genau deshalb, weil die auftauchenden Ungleichgewichte zwischen Ansprüchen an künftiger Arbeit und der Fähigkeit, diese Ansprüche zu erfüllen, traditionellerweise durch Preisinflation beziehungsweise Währungsabwertung gelöst werden: Dies ist die Instabilität der Tauschwerte, die der Übersetzung der Fiat-Währung in Warenobjekte inhärent ist. Der digitale Kapitalismus stellt jedoch eine beson-

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dere Situation für diese traditionelle Auflösung der Asymmetrie von Wert und Arbeit dar, da sich der digitale Kapitalismus aus einer Fiat-Währung entwickelt, die ein universales Äquivalent ersetzt, und aus dem Übergang zu den virtualisierten Werten der durch Finanzialisierung charakterisierten semiotischen Transaktionen. Die Fiat-Währung im digitalen Kapitalismus ermöglicht nicht die Speicherung des Wertes früherer Arbeit. Das Tauschsystem und die Währungszirkulation (Kredit), die die Grundlage dieser semiotischen Transaktionen sind, können nicht erlauben, dass die Fiat-Währung entwertet wird, ohne die Anerkennung der gesellschaftlichen Beziehung zu gefährden, die die Währung selbst ermöglicht: Der digitale Kapitalismus wird von sofortigem Zusammenbruch bedroht, wenn die Zirkulation von Kredit aufhört. Daher ist es unausweichlich, dass in den Rettungsprogrammen und in den Aktionen zur Begrenzung der Folgen der platzenden Vermögenswertaufblähung die Finanzinstitutionen im Mittelpunkt stehen: Die materielle Basis (Immobilien im Jahre 2008), die die Krise herbeigeführt hat, ist ein Epiphänomen, wenn man sie im Verhältnis zu den semiotischen Transaktionen betrachtet, die diese materiellen Vermögenswerte ermöglichen.

§ 9.3 Während der digitale Kapitalismus als affektive Form des Kapitalismus erscheinen mag – und in einem gewissen Umfang verwendet er affektive Methoden, um seine Ziele zu erreichen –, wäre eine korrektere Beschreibung agnotologischer Kapitalismus: ein Kapitalismus, der systematisch auf der Produktion und Erhaltung von Unwissenheit basiert.12 Der Vorwurf des Betrugs gegen Banken wie Goldman Sachs – wegen der Schaffung von abgeleiteten Vermögenswerten, die „dazu bestimmt waren, zu versagen“, und der anschließenden Behauptung, diese Handelsgüter seien von höchstem Wert – veranschaulicht, wie dieser Prozess der Fehlinformation, dazu bestimmt, zu verschleiern, zu verwirren und zu irritieren, die Funktion hat, Unwissenheit zu erzeugen. Diese Situation beruht zum Teil auf ideologischer Blindheit und spiegelt teilweise den allzu menschlichen Wunsch wider, an positive Szenarien zu glauben, wie das wohlbekannte, aber hypothetische „kostenlose Mittagessen“.13 Verbunden mit einem affektiven Auf-

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treten kann die agnotologische Dimension nur eine gesellschaftliche Dynamik der Fehlinformation hervorbringen. Dieser Agnotismus wirkt sich auf sämtliche Teilnehmer innerhalb des digitalen Kapitalismus aus, eben deshalb, weil er der Ermöglichungsfaktor für die endlose Fortsetzung des Zyklus der Aufblähungen von Vermögenswerten und der Eskalation der von ihnen geschaffenen Werte ist. Die begrenzten Horizonte, die innerhalb dieses gesellschaftlichen Netzwerks von Akteuren und immateriellen Vermögenswerten hervorgebracht werden, schränken den Bereich möglicher Lösungen auf diejenigen ein, die die etablierte Dynamik verstärken. Dies ist die Ponzi-Formel in Aktion – wie in dem Auswahlrennen in Alice im Wunderland gibt es keine andere Alternative, als schneller zu laufen, allein um auf der Stelle zu treten. Was das Bedürfnis nach affektiven Abhilfemaßnahmen erzeugt, ist diese perverse Dynamik. Juan Martin Pradas affektiver Kapitalismus ist daher ein Symptom der Trennung zwischen der Wirklichkeit der kapitalistischen Wirtschaft und der Entfremdung, die sie hervorruft: Es scheint daher fast unvermeidlich, dass diese Zunahme der Computerautomation der produktiven und der Managementprozesse in Unternehmen nur in der Lage sein sollte, die bloßen Wirkungen von Nähe, affektive Simulationen des Dienstes für den Anwender zu erzeugen, der nicht aufhören wird, sich über den Mangel an Kontakt mit lebenden Personen zu beklagen, wenn er Dienstleistungen mietet, Fragen löst oder Beschwerden vorbringt.14 Die affektive Arbeit, die erbracht wird, um auf diese Entfremdung einzugehen, ist Teil des Mechanismus, mit dem die agnotologische Ordnung die Gesellschaft im Griff behält: Die Bewältigung der emotionalen Zustände der Kunden, die gleichzeitig als Reserve der Arbeit dienen, ist eine notwendige Voraussetzung für die Verwaltung der Qualität und des Umfangs von Information. Die Schaffung von systemischen Unbekannten, wo jeder potenziellen „Tatsache“ immer schon bereits durch eine Alternative von scheinbar gleichem Gewicht begegnet wird, macht die Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Wirklichkeit – mit eben den Situationen, die die affektive Arbeit zu besänftigen versucht – kontrovers und zu einer Quelle

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der Verwirrung. Diese zeigt sich darin, dass diejenigen, die an den Aufblähungen der Vermögenswerte beteiligt sind, unfähig sind, sich des bevorstehenden Zusammenbruchs bewusst zu sein. Das biopolitische Paradigma der Ablenkung, was Prada als „das zu genießende Leben“ bezeichnet, kann nur aufrechterhalten werden, wenn die zugrunde liegenden Einschränkungen dem Blick verborgen bleiben. Die affektive Arbeit dient der Verringerung der Entfremdung, Agnotologie hat die Funktion der Eliminierung des Widerspruchspotenzials. Dass dieses unterdrückt wird, ist wesentlich. Die Schaffung von Werten durch die Produktion immaterieller Werte, die um eine fiktive Grundlage in konkreten Vermögenswerten konstruiert ist (es gibt mehr abgeleitete Vermögenswerte als materiellen Waren zugeordnet werden können), erfordert, dass der aufwertende Prozess, der sich in der Semiose zeigt, uneingestanden bleibt. Das biopolitische Paradigma der Ablenkung dient dieser Semiose, indem es die gesellschaftlichen Akteure mit affektiven Bestrebungen und Fantasien von wirtschaftlichem Fortschritt (der „amerikanische Traum“ des Eigenheimbesitzes als Köder der „Immobilienblase“) beschäftigt hält. Wenn diese nebensächlichen Betrachtungen die menschliche Ressource nicht ablenken würden, wäre der Aufwertungsprozess behindert, während das Konzept der Produktion auf sämtliche Teile des gesellschaftlichen Bereichs ausgedehnt und anschließend dazu eingesetzt wird, die im Finanzialisierungsprozess inhärenten Werte zu erhöhen.

§ 9.4.a Der US-Dollar (der Geldschein, der von der US-Notenbank, einer unabhängigen staatlichen Behörde, für die die Staatskasse der USA bürgt, ausgegeben wird) nimmt einen merkwürdigen Platz im Bereich der Währungen ein: Er ist zugleich eine Renten- und eine Fiat-Währung, und er wird nicht nur in der nationalen Wirtschaft der USA, sondern auch international zwischen Nationalstaaten als globale Reservewährung verwendet. Der US-Dollar spielt nicht nur die Rolle eines universalen Äquivalents zwischen Waren, sondern auch zwischen verschiedenen Währungen. Er verkörpert den relativen Wert sämtlicher Tauschvorgänge innerhalb der globalen politischen Ökonomie. In dem Fall, in dem die Fiat-Währung im

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Wesentlichen auf Zusicherungen in Bezug auf zukünftige Produktivität basiert, ist die Schuldenbasis hypertrophiert, wenn sämtliche Währung von einer unabhängigen Organisation ausgegeben wird (d. h., von der Notenbank der USA). Eine Rentenwährung entsteht dadurch, dass sie verliehen wird (d. h., dass eine Abgabe in dem Moment auferlegt wird, in dem sie entsteht, selbst wenn es sich nicht um eine Fiat-Währung handelt), und wie andere Arten von Fiat-Währung ist es eine Schuld, die grundsätzlich nicht zurückgezahlt werden kann, da dies einen Rückzahlungsbetrag erfordert, der größer als die Menge der sich in Umlauf befindenden Währung ist.15

§ 9.4.b Es wurde von einer Reihe von Beobachtern, einschließlich des früheren stellvertretenden Leiters der Staatskasse der USA, Paul Craig Roberts, sowie des früheren Gouverneurs von New York, Elliot Spitzer, angemerkt, dass das System der Notenbank der USA einem Ponzi-Schema gleicht.16 Den Parallelen zwischen der US-Notenbank und dem Ponzi-Schema nachzugehen ist daher instruktiv: Wie diese Beobachter angedeutet haben, kann das umfassendere System der US-Notenbank anhand des Ponzi-Schemas verstanden werden. Auf seiner einfachsten Stufe ist ein Ponzi-Schema ein Mikrokosmos der kapitalistischen Akkumulation, der nur so lange im Gleichgewicht bleibt, wie (1) eine Anzahl frei verfügbarer Ansprüche an zukünftigen Profiten konstant bleibt und (2) es Einkommensquellen gibt, die keine Rückzahlung erfordern (und so aus dem System von Tausch und Zirkulation „herausfallen“). Dennoch steht ein Zusammenbruch selbst mit diesen Einschränkungen potenziell unmittelbar bevor: Durch Investitionen erzeugte Profite lassen sich nur aufrechterhalten, solange sie aus Quellen entnommen werden, die außerhalb des Rahmens der Ansprüche auf künftiges Vermögen (des Investitionssystems selbst) liegen. Im umfassenderen System der US-Notenbank wird Erhöhungen im Wert der Fiat-Währung, die sich in Preiserhöhungen zeigen, durch die ausgleichende Kraft der Währungsabwertung entgegengewirkt: Es werden keine „Profite“ erzeugt, es findet lediglich eine semiotische Manipulation in Form von Währungszirkulation (Schuldscheine gegen zukünftige Produk-

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tion) statt. Dennoch suggeriert die in der Aura des Digitalen verdinglichte Ideologie, dass das Problem, welches aufgrund der inhärenten Instabilität und des potenziell unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs besteht, durch eine Verschiebung von der materiellen Produktion zur semiotischen (immateriellen) Produktion oder durch Finanzialisierung gelöst werden kann. Es handelt sich um eine ideologische Position, die das Erfordernis des Kapitalismus, aus begrenzten Ressourcen ein unbegrenztes Vermögen zu extrahieren, als produktive Teleologie durch beziehungsweise als die PonziNatur dieser Formulierung verdinglicht. Die Entwicklung von Vermögenswertblasen wird von diesem System nicht nur gefordert: Das Auftauchen dieser „Blasen“ ist der Beweis dafür, dass das System seinem Wesen nach funktioniert. Statt einen ungewöhnlichen Umstand darzustellen, verlangt das Wesen des Währungssystems selbst nach solchen Entwicklungen. Werden sie mit der immaterialistischen Ideologie des digitalen Kapitalismus selbst verbunden, vergrößert sich die Dimension dieser „Vermögenswertblasen“, und zwar aufgrund des Mangels an Einschränkungen der Expansion der Fiat-Währung.

§ 9.4.c Das Verständnis der im digitalen Kapitalismus geschaffenen besonderen Umstände, in denen die Fiat-Währung gleichzeitig von der universalen Äquivalenzware getrennt und als finanzielle Verbindlichkeit generiert wird, erfordert eine Betrachtung der Frage, wie das Ponzi-Schema als ein Modell für die Entwicklung dieses Systems funktionieren kann. Kapitalknappheit ist ein konstantes Merkmal dieses Arrangements, da es stets eine größere offene Schuld gibt, als Geld vorhanden ist, sie zurückzuzahlen. Das PonziSchema veranschaulicht diesen sich beschleunigenden Prozess der Zirkulation. Das Ponzi-Schema ist eine besondere Art von Investitionsbetrug, bei dem die normalen Bedingungen der Investitionen und der ausbezahlten Zinsen für das investierte Kapital ein explizites Beispiel dafür werden, dass jemand „Paul bestiehlt, um Paul zu bezahlen“.17 Wie bei allen Kapitalinvestitionen gilt, dass der früheste Investor den größten Profit erhält. Obwohl ein Ponzi-Schema anfänglich Profite produziert, verlieren alle Investoren

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jedoch letztlich ihre gesamte „Investition“, da die Struktur selbst ihre Rückzahlung nicht zulässt – ein Teil ihrer „Investition“ wurde ihnen bereits als ihr „Profit“ ausbezahlt. Daher hat das Ponzi-Schema einen ständigen Expansionsbedarf („ökonomisches Wachstum“), um sein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten: Es kommt zu keiner Produktion neuer Werte, nur zum Recycling und zur Vergrößerung von Ansprüchen an zukünftige Produktion. Die von der US-Notenbank ausgegebene Renten-/Fiat-Währung spiegelt den Plan der Rückzahlungen an die Investoren im Ponzi-Schema wider, der ihre eigenen Investitionen verwendet (die Erzeugung von Ansprüchen gegen zukünftige Produktion): Nur ist es die US-Notenbank, die die Position des Investors in diesem Schema einnimmt – die von der Bank ausgegebene Rentenwährung muss (wie bei den vom Ponzi-Schema verkauften Vermögenswerten) der Bank mit Steuern zurückgezahlt werden. Je mehr Rentenwährung sich in Zirkulation befindet, desto größer sind die Schulden bei der Bank; daher wird die digitale kapitalistische Wirtschaft unausweichlich einen „Crash“ herbeiführen, wenn die Grenzen der Produktivkraft (Arbeit) mit den Forderungen des virtualisierten Wertes über die Rentenwährung nicht Schritt halten können. Dies ist die inhärente Knappheit von Kapital innerhalb des digitalen Kapitalismus selbst. Zwei Bedingungen ermöglichen es dem Ponzi-Schema, weiterhin zu funktionieren: das Recycling der „Profite“ in Form neuer Investitionen (was die US-Notenbank tut, wenn sie von der Regierung der USA ausgegebene Staatsanleihen und damit im Grunde genommen ihre eigenen Schulden kauft);18 und die Einführung neuer Investitionsquellen über Derivate und die Finanzmärkte selbst. Die Ponzi-Struktur gibt sich durch Inflationszyklen der Vermögenswerte zu erkennen – die sogenannten „Blasen“, von denen die Immobilienblase von 2008 lediglich ein weithin sichtbares Beispiel ist, an das sich Perioden des Schuldenabbaus anschließen, in denen die Investitionen ihren Wert verlieren, wodurch sich der zu ihrer Rückzahlung benötigte Betrag verringert –, die das System ins Gleichgewicht zurückbringen. Der Widerspruch zwischen der Zukünftigkeit der Währung und der Realität der Arbeit, was als „Schuldenabwicklung“ bezeichnet wird, ist ein inhärentes Zeichen dafür, wie der digitale Kapitalismus ein Gleichgewicht durch bezie-

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hungsweise als Virtualisierung von Werten aufrechterhält. In ihrem Verlauf erzwingt sie einen kontinuierlichen Prozess der Aufwertung, während das Bedürfnis, neue, noch nicht finanzialisierte Bereiche zu finden, die keine Rückzahlung erfordern, ständig zunimmt. Die agnotistische Dimension des digitalen Kapitalismus ist wesentlich, denn er kann nur so lange weiter funktionieren, wie es neue Investoren gibt (d. h. dem System neue Wertquellen zuwachsen), und auf diese Weise das Gleichgewicht durch einen beziehungsweise als Strom von „Profit“-Zahlungen aufrecht erhalten wird. Um die Ansprüche der Renten-/Fiat-Währung gegen zukünftige Arbeit zu erfüllen, wurden durch die Notwendigkeit des Gleichgewichts zahlreiche Folgeeffekte erzwungen: die Hinzufügung neuer Arbeitsquellen (Frauen treten in die Arbeiterschaft ein); die Verringerung des Werts der Arbeit selbst („Verlagerung von Arbeit ins Ausland“ (Offshoring und Globalisierung); die Expansion der Kapitalbildung in wertmäßig bislang noch nicht erschlossene Bereiche (Absicherung durch Verbriefung und andere innovative Formen der Investition sowie die Erfindung neuer „Märkte“ für Güter wie zum Beispiel „Kinder“); die Automation, die für die digitale Technologie charakteristische immaterielle Produktion und eine erhöhte Effizienz (oder eine Zunahme der Arbeit) ohne Erhöhung der Löhne. Das Auftauchen von affektiver Arbeit ist sowohl ein Beispiel für diese Erweiterung als auch ein Ermöglichungsfaktor für den Aufwertungsprozess innerhalb des Sozialen. Das Paradox von immateriellem Wert und Zukünftigkeit macht die Neubewertung der Renten-/Fiat-Währung unausweichlich, denn die Expansion, die erforderlich ist, um Rentenzahlungen weiterhin durchzuführen, nimmt ständig direkt proportional zu den bereits vorhandenen Verpflichtungen zu und stößt schließlich an die Grenzen, die durch Physikalität in Form der Knappheit von Kapital auferlegt werden. Eine solche Kollision führte zur „Immobilienblase“, als Hypothekennehmer nicht mehr in der Lage (oder dazu bereit) waren, die ihnen durch ihre Schulden auferlegten Verpflichtungen zu erfüllen. Wenn man es auf diese Weise betrachtet, liegt die offensichtliche Lösung des Problems bei den Schulden; da die Schulden jedoch systembedingt sind, macht das Wesen des digitalen Kapitalismus selbst das Eingehen auf die Ursachen der aufgeblähten Vermögenswerte unmöglich.

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§ 9.5 Der Unterschied zwischen der Bewertung von immateriellem und materiellem Kapital bestimmt die Erzeugung von „Kapital“ innerhalb des digitalen Kapitalismus. Da das Wesen des Tauschwertes in Form der Währung verdinglicht ist, haben die Beziehungen zwischen Währung und Vermögenswert Bedeutung für das Wesen von Kapital; da eine Fiat-Währung als rein gesellschaftlicher Wert existiert und die Aura des Digitalen eine systembedingte Kurzsichtigkeit verschleiert, die sich aus dem völligen Fehlen jeglicher Kommunikation zwischen Virtualität und Physikalität ergibt, wiederholt diese Aura die Trennung, die in der Knappheit materieller Produktion in physischer Herstellung in der realen Welt (der sogenannten produktiven Ökonomie) besteht, als die Knappheit des Kapitals in digitaler Reproduktion (die sich in der Unfähigkeit zeigt, den Widerspruch zwischen immateriellem Wert und Zukünftigkeit in der Fiat-Währung aufzufangen). Innerhalb des Renten-/Fiat-Währungssystems erscheint die Wirkung der Aura des Digitalen sowohl als expansives Verfahren als auch als immaterielle „Produktion“, und zwar auf dem Wege der Kommodifizierung virtueller „Vermögenswerte“ ohne Beziehung zu materiellen Vermögenswerten. Sie bewirkt, dass das kapitalistische Paradox eskalierender Werte das systemische Paradox der Renten-/Fiat-Währung durch die Unfähigkeit offenbart, die staatlichen Forderungen zu erfüllen, die durch die beiden Formen von Investitionsrenditen – den Grundzins und die Notwendigkeit, zur Sicherstellung der gesellschaftlichen Reproduktion Profit für Kapitalaufwand zu produzieren – auferlegt werden. Die Knappheit von Kapital zeigt sich innerhalb dieser Konstruktion im inhärenten Ungleichgewicht zwischen der Zahl potenzieller künftiger Ansprüche (unendlich) und dem Umfang der verfügbaren immanenten Arbeit (physischer, automatisierter und immaterieller) (endlich). Dieser Widerspruch manifestiert sich als ein systemischer Fehler im Tauschsystem: als dasjenige, was als „Einfrieren der Kredite“ bezeichnet wird, und zwar genau deshalb, weil der Wertzuwachs der Renten-/Fiat-Währung davon abhängt, dass eine größere Anzahl von Forderungen gegen zukünftige Produktion (d. h. die Erweiterung von „Krediten“) erzeugt wird. Da die Forderungen an die Arbeit die Fähigkeit,

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diese Forderungen zu erfüllen, übersteigt, offenbart sich die Renten- beziehungsweise Fiat-Währung als Zukünftigkeit, sichtbar geworden durch das Aufhören der Tauschvorgänge: Wenn sämtliche Arbeit bereits zugewiesen wurde, ist kein Tauschgeschäft mehr möglich. Nur die im Laufe der Zeit erfolgende (Rück-)Zahlung vorhandener Schulden oder ein vollständiger Schuldenschnitt (über ein „Ablassjahr“) kann es möglich machen, dass die Kreditzirkulation erneut beginnt.

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Über Immaterialismus Im Auftauchen des digitalen Kapitalismus als einer dominanten Ideologie spiegelt sich keine Flucht aus der Physikalität wider, sondern ein systematischer Versuch, sie zu leugnen. Diese Entwicklung ist die Folge davon, dass der zugrunde liegende Apparat – figuriert durch die Aura des Digitalen und die Dynamik von Agnotologie und Überwachung – begonnen hat, die politische Ökonomie zu dominieren, während die Ideologie der Automation menschliche Tätigkeit und Arbeit durch automatische Herstellung ersetzt. Die vollständige Umstellung hängt jedoch von einem ineinandergreifenden Satz struktureller Änderungen des historischen Wesens sowohl des Gebrauchswerts als auch des Tauschwerts (Geld) im Verhältnis zu ihren Grundlagen als Speicher von bereits produziertem Wert ab, der durch den relativen Wert von Vermögenswerten bestimmt wird und aus menschlicher Arbeit hervorgeht. Der sich in der digital entfalteten Finanzialisierung zeigende Immaterialismus ist ein Vehikel für die semiotische Entwicklung von Vermögen und die Akkumulation von Erträgen ohne materielle Produktion. Der als „Finanzialisierung“ bezeichnete Prozess ist ein Epiphänomen, ein Symptom dafür, wie die Aura des Digitalen die Rücksicht auf den Unterschied zwischen immaterieller und materieller Produktion ebenso abgestreift hat wie die Fähigkeit, ihn zu erkennen. Es ist diese immaterialistische (durch die Ideologie der Automation für gültig erklärte) Produktion, die die politische Ökonomie durch die Substitution von materieller Produktion durch immaterielle Werte und von manueller Herstellung durch Semiose dominiert, während sie ihre Vorrangstellung durch den Sicherheitsapparat aufrechterhält. Es ist der logische Endpunkt des Übergangs zu einer „digitalen Ökonomie“, in der sämtliche Waren, die digital geliefert werden können, mit digitaler Technologie geliefert werden, letztlich mit dem Ziel, die manuelle Herstellung weitestgehend durch die digitale Fabrikation materieller Objekte (bereits erkennbar im Print-on-Demand und in 3D-Druckern) zu eliminieren. Der Ersatz einer physischen Währung durch eine

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immaterielle (veranschaulicht durch Bitcoin sowie durch die Verwendung von Debit- und Kreditkarten) ist Teil dieser Verschiebung in Richtung auf eine auf digitaler Technologie basierenden Ökonomie. Das veränderte Wesen der digitalen Ökonomie, am deutlichsten sichtbar darin, wie die Finanzinstitutionen, die in den Jahren 2008 und 2009 Rettungsgelder erhalten haben, als Folge hiervon stärker wurden, zeigt die neue Beziehung zwischen der materiellen Warenform und dem immateriellen Wert (und dem zunehmend immateriellen Wesen) der Währung. Das Auftauchen des Immaterialismus stellt keinen Bruch mit der Materialität dar: Der Immaterialismus, der das bestimmende Merkmal des digitalen Kapitalismus ist, ist komplex und seinem Wesen nach mit der Materialität verbunden. Der „Bruch“, der durch die veränderte Beziehung zwischen materieller und immaterieller Produktion zum Ausdruck kommt, ist eine vom Immaterialismus im Gefolge der „Aura des Digitalen“ aufgestellte Behauptung; ein großer Teil der pathologischen und selbstzerstörerischen Aspekte des digitalen Kapitalismus entwickelt sich aus der Unwahrheit der Ideologie des Bruchs des Digitalen mit dem Physischen. Die Entwicklung der immateriellen Arbeit und ihre anschließende Verwendung der Finanzialisierung führt unausweichlich zu Aufblähungen von Vermögenswerten, gefolgt von Abstürzen, und zwar genau deshalb, weil die Leugnung der Physikalität, die das Wesen der Aura des Digitalen ausmacht, eine Illusion darstellt. (Dies ist die eigentliche Bedeutung der Aura des Digitalen: Sie ist eine Illusion, die die von der physischen Materialität auferlegten Einschränkungen bestreitet.) Das von immateriellem Wert im digitalen Kapitalismus dargestellte Problem deutet nicht auf einen dialektischen Gegensatz des Immateriellen und Physischen als vielmehr auf ein Herrschaftsspektrum hin, in dem physische und immaterielle Werte dynamisch existieren, mit sich gegenseitig durchdringenden Positionen größerer und geringerer Bedeutung, die sämtlich durch Agnotologie/Überwachung aufrechterhalten werden. Die Verlagerung von deckungsgleichen Werten zu diesem variablen, dynamischen Spektrum ist für die immaterielle Erzeugung von Wert durch Semiose wesentlich. Die innerhalb des digitalen Kapitalismus identifizierten, immateriellen Werte stellen eine logische Entwicklung dar, die aus einer Verschiebung in den fundamentalen Annahmen von Marx bezüglich Struktur und Beziehung von Warenform,

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Tauschwert, relativem Wert und Arbeit sowie ihrer Beziehung in der beziehungsweise ihrer Rolle als Währung. Marx muss auf die im digitalen Kapitalismus auftauchende Situation genau deshalb nicht eingehen, weil die Währung für ihn mit der Warenform zusammentrifft. In seiner Theorie ist Währung eine Dynamik, die vom Begriff der Warenform nicht getrennt werden kann. Der Widerspruch zwischen der Zukünftigkeit der Währung und der Wirklichkeit der Arbeit, der als „Schuldenabwicklung“ bezeichnet wird, ist ein inhärentes Merkmal dessen, wie der digitale Kapitalismus eine Virtualisierung von Werten einsetzt. Als sich der digitale Kapitalismus ausbreitete, nahm der US-Dollar die Rolle des universalen Äquivalents sowohl zwischen Waren als auch zwischen Währungen an. Sein Tauschwert ist der relative Wert sämtlicher Tauschvorgänge innerhalb der globalen politischen Ökonomie. Dass der US-Dollar zugleich außerdem zufällig eine Fiat-Währung ist, führt zum Auftauchen und zur gegenwärtigen Vorherrschaft der immateriellen Produktion. Die immaterielle Kraft des digitalen Kapitalismus entwickelt sich aus dem Zerbrechen der Doppelnatur von Währung und Warenform. Im digitalen Kapitalismus gibt es daher notwendigerweise kein „Aufbewahren“ des Werts vergangener Arbeit. Dem Ponzi-Schema folgend erzwingt dies einen ständigen Prozess der Aufwertung, während das Bedürfnis, neue, finanziell noch nicht erschlossene Bereiche zu finden, die keine Rückzahlung erfordern, ständig wächst. Historisch betrachtet hat dies zur Expansion von Arbeit oder zur Erfindung neuer Märkte geführt. Im digitalen Kapitalismus entwickelt sich hieraus eine spezielle neue Form der Aufwertung durch Automation, welche die Umwandlung gesellschaftlicher Tätigkeiten und Aktivitäten in eine Warenform ermöglicht, und zwar auf Weisen, die bislang (historisch) nicht möglich waren. Was der digitale Kapitalismus allerdings für die marxistische Analyse darstellt, ist kein harter Bruch mit etablierten Interpretationen, als vielmehr eine fundamentale Modifikation, um dem Immaterialismus gerecht werden zu können. Eine solche Modifikation bedeutet nicht, dass alle vorhandenen Interpretationen notwendigerweise nicht mehr anwendbar sind, sondern vielmehr, dass man nicht annehmen sollte, dass ihre Anwendung auf genau gleiche Weise funktioniert. Was ich als „digitalen Kapitalismus“ bezeichnet habe, ist weniger ein Bruch mit der Vergangenheit, als eine Intensivierung

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von Schlüsselelementen, die jederzeit im Kapitalismus präsent sind. Die Verlagerung der immateriellen Produktion in Positionen der Vorherrschaft bringt kein Verschwinden der Physikalität mit sich, sondern stattdessen ihre Verdrängung aus dem Bewusstsein.

§ 10.1 Während sich die digitalen Technologien in den 1960er-Jahren entwickelten, sich in den 1970er-, 1980er- und am sichtbarsten in den 1990er-Jahren durch unsere Kultur ausbreiteten, kam es zu einer allgemeinen Neuordnung der industriellen Kultur und Produktion rund um diese neue Technologie. Die Automatisierung sowohl der materiellen als auch der immateriellen Produktion, die Produktionsverlagerung ins Ausland im globalen Maßstab sowie die Vernetzung von Transport, Kommunikation und immateriellem Handel hängen sämtlich von diesen digitalen Technologien ab. Ohne sie wäre die Verkürzung der Wartezeit in der Kommunikation, die für die immaterielle Produktion unerlässlich ist, nicht möglich. Die Geschwindigkeit vieler dieser Transaktionen ist erstaunlich: Geschäftliche Transaktionen mit Hochfrequenzhandelsrobotern (automatisierten digitalen Systemen), die nur den Bruchteil einer Sekunde dauern, sind in der immateriellen Werterzeugung zur dominanten Produktionskraft geworden. Innerhalb des Digitalen haben wir eine Technologie, bei der es sich scheinbar wesentlich um eine Sache der Immaterialität handelt – dies ist natürlich nicht wahr; was jedoch von Interesse ist, ist die Tatsache, dass wir uns so zu verhalten scheinen, als ob es wahr wäre, und was von Bedeutung ist, ist dieses Verhalten. Immaterielle Produktion ist möglich, weil das Digitale ein semiotischer Bereich ist, in dem die Bedeutung eines Werkes von der materiellen Darstellung dieses Werkes verschieden ist; die „Aura des Digitalen“ beschreibt eine Ideologie, die eine Transformation von Objekten in semiotisch-basierte Immaterialität behauptet, die mit den konkreten Bedingungen der digitalen Technologie verbunden ist, am offensichtlichsten in der Beziehung einer digitalen „Kopie“ zum digitalen „Original“. Beide sind identisch (nicht nur äquivalent, sondern dasselbe). Da sie auf Implementierungen von Codes basieren, unterliegen sie keiner Abnutzung, wenn sie kopiert,

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verwendet oder reproduziert werden – was es möglich macht, ein digitales Werk gleichzeitig zu verkaufen und zu behalten. Dieser letzte Faktor ermöglicht die Ideologie der Akkumulation ohne Produktion, die für den digitalen Kapitalismus charakteristisch ist.

§ 10.2 Das Paradox von immateriellem Wert und Zukünftigkeit in einer FiatWährung lässt sich an der immateriellen Grundlage des Tauschwerts erkennen: Die Beziehung zwischen Währung und Ware ist nicht automatisch. Marx erkannte diese Tatsache an, indem er „Währung“ als rein gesellschaftliche Beziehung definierte. Daher ist der Gegensatz zwischen der virtualisierten Währung des digitalen Kapitalismus und der herkömmlichen Währung markant: traditionelle Währung ist eine physische Ware mit einem klar definierten Wert. Ihr symbolischer Wert war direkt mit ihrem Wesen als Ware verbunden, und ihr relativer Wert, im Verhältnis zu anderen Waren, war durch physische Produktion begrenzt. Die Änderung der traditionellen Beziehung von Ware und Geld verändert auch die Beziehung zwischen Währung und Arbeit: Immaterieller Wert taucht als geschuldete Arbeit auf. Währung behält ihre Tauschbasis durch die gesellschaftliche Beziehung im Kern der universalen Tauschware, doch die Verschiebung zur Produktion immaterieller, von physischer Produktion unabhängiger Werte bringt die Arbeit unausweichlich in einen Gegensatz zu Werten. Der virtualisierte (digitale), durch Semiose produzierte Wert ersetzt die physische Warenform, und immaterielle Arbeit ersetzt physische Produktion, was den Prozess der Verdinglichung offenbart, der Immaterialität als ein Vehikel der Vermögensbildung legitimiert. Marktbasierte Semiose erzeugt Vermögen ohne Aufwand über die spontane Schöpfung von Tauschwert ohne Arbeit oder den Verbrauch von Ressourcen, weil Semiose auf Transaktionen basiert und nicht produktiv ist. Diese Veränderung erscheint in Form von beziehungsweise auf dem Wege der Finanzialisierung. Die durch sie ermöglichte Akkumulation distanziert auch alle anderen Tauschvorgänge von ihren Verbindungen zu physischen Waren. Diese Distanzierung ist eine Funktion des digitalen Immaterialismus, und sie ist die Grundlage der Finanzialisierung. Es ist der Grund dafür, warum die gegenwärtige Finanzia-

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lisierung lediglich ein Symptom dafür ist, dass immaterielle Werte eine vorherrschende Position erlangen.

§ 10.3 Der digitale Kapitalismus ist ein globales Phänomen und nicht lediglich ein Symptom hegemonialen Niedergangs, und zwar aus mehreren miteinander verschränkten Gründen: (1) der US-Dollar fungiert als globale Reservewährung, was bedeutet, dass der Wert aller anderen Währungen und ihr Umtausch in ihrer Beziehung zum US-Dollar besteht beziehungsweise erfolgt, und (2) trotz der tiefen systemischen Verschiebungen in der amerikanischen Industrialisierung durch die Verlagerung von Arbeit ins Ausland und die Globalisierung – die zur Folge hatten, dass die USA zu einem Netto-Exporteur von Rohmaterialien für die Herstellung in China, Japan und anderswo wurde (eigentlich gleichen sie in ihrer Abhängigkeit von ausländischer Herstellung einem Entwicklungsland) –, bleibt die USA in einer Position globaler ökonomischer Vorherrschaft. Während (2) fast mit Sicherheit eine Funktion von (1) ist – dass die wirtschaftliche Vorherrschaft eine Funktion der Rolle ist, die der US-Dollar in globalen Wirtschaften spielt –, lässt sich David Harveys Krise der Überakkumulation von Kapital (bei der der lokale Markt nicht mehr in der Lage ist, ausreichend profitable Investitionen in Produktion und Infrastruktur bereitzustellen, was die Bewegung zur Finanzialisierung vorantreibt) nicht mit der Wirklichkeit von (3) vereinbaren: dass China, wie Japan in den 1980er-Jahren vor ihm, seinen Handelsüberschuss nicht in die Entwicklung und den Ausbau seiner heimischen Infrastruktur und seines Binnenmarktes, sondern stattdessen in Staatsanleihen der USA und andere immaterielle Vermögenswerte investiert. Die von Japan und jetzt von China geleiteten, asiatischen Investitionen in Wertpapiere der Staatskasse der USA, einschließlich in zweitklassige, durch Hypotheken gesicherte Derivate, offenbart den globalen Maßstab dieses immaterialistischen Prozesses in Aktion, bei dem immaterielle Werte physische Waren und materielle Produktion dominieren. Diese Diskrepanz zwischen Harveys Modell (und den von Giovanni Arrighi und Immauel Wallerstein aufgestellten ebenso) und dem tatsächlichen Marktverhalten findet eine Auflösung oder Erklärung in Faktor (3).

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Die internationale Basis des digitalen Kapitalismus wird durch den Aufstieg des Immaterialismus logisch vorausgesagt (und gefordert). Dass er den dominanten wirtschaftlichen Interessen der USA dient, folgt aus der zentralen Position, die der US-Dollar als globale Reservewährung spielt und aus der Beziehung zwischen dem US-Dollar und dem chinesischen Yuan. Die globale Ökonomie in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ist mit derjenigen der Vereinigten Staaten von Amerika auf komplizierte Weise verbunden. Da es kein Warenäquivalent gibt, ist eine Fiat-Währung keine Verkörperung produktiver Tätigkeit oder ein Speicher von bereits geschaffenem Wert, und zwar genau deshalb, weil sie über keine Warenbasis verfügt und daher nicht in eine Ware übersetzt werden kann. Sie hebt die Bewahrung von Werten, die durch vergangene Arbeit geschaffen wurden, durch beziehungsweise als Währung auf. Diese Grundlage erfordert das Auftauchen von internen Vermögenswertblasen in China (Kredite, Immobilien etc.); nach Harveys Modell sollten sich diese nicht entwickeln. In seinem Modell ist die Blasen produzierende Finanzialisierung ein Symptom des Niedergangs hegemonialer Dominanz und der Überakkumulation von Kapital, ohne Möglichkeiten für produktive Investitionen. Ähnliche Blasen entwickelten sich in Japan in den 1980er-Jahren und sind gegenwärtig überall auf dem globalen Markt vorhanden: Man denke an die Konstruktions- beziehungsweise Schulden-Blase in Dubai und die verschiedenen Probleme der sogenannten „PIIGS“-Länder1 in Europa im Jahr 2011 und danach, denen während der Expansion der Immobilienblase im Jahr 2008 von Investitionsbanken geholfen wurde. Man denke auch an die Diskrepanzen im Wert der Arbeit in Form der Mindestlöhne zwischen den USA und den Standorten, an denen die ins Ausland verlagerte Produktion stattfindet, einschließlich Chinas; und dass Chinas Währung direkt an den US-Dollar gebunden ist, auf die gleiche Weise, auf die der US-Dollar vor seinem Übergang zu einer Fiat-Währung an eine bestimmte Goldmenge gebunden war (1 Unze = 35 US $, festgelegt durch das Bretton-Woods-Agreement von 1946). Diese Fakten sind der wichtigste Unterschied zwischen seinem Konzept der Überakkumulation von Kapital und meinem Vorschlag bezüglich der Knappheit von Kapital. Es ist nicht so, dass es im globalen System zu viel Kapital gibt, sondern dass es zu wenig gibt, um die Verpflichtungen zu

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erfüllen, die durch die Produktion von immateriellen Werten im globalen Maßstab dargestellt werden, wobei die Aktienmärkte und Investitionsfirmen der USA eine zentrale Position einnehmen. Daher wird die gegenwärtige Verschiebung in Richtung Finanzialisierung nicht durch einen Mangel an physisch produktiven Standorten für Investitionen in diesen sich entwickelnden Märkten vorangetrieben, sondern eher durch (1) eine Ideologie des Bruchs zwischen materiellem und immateriellem Wert, der als Aura des Digitalen erkennbar ist, und (2) die Verwendung von einer Fiat-Währung als global dominante Reservewährung. Der mögliche Übergang zu einer Währung, die durch die Sonderziehungsrechte (SZR) des Internationalen Währungsfonds (IMF) geschaffen wurde, wäre der Austausch einer gesellschaftlichen Verdinglichung (FiatWährung) gegen eine andere. In dieser Hinsicht könnte die Knappheit von Kapital eine negative Widerspiegelung (oder logische Umkehrung) von Harveys Überakkumulation von Kapital sein, entsprechend sowohl mit homologen Wirkungen als auch bedeutenden Unterschieden.

§ 10.4 Der Aufstieg der Aura des Digitalen ist die Vorherrschaft immaterieller Belange vor solchen und gegen solche der Materialität. Es ist diese Vorherrschaft einer immateriellen Ideologie, nicht eine Trennung von der Materialität, die den digitalen Kapitalismus hervorbringt. Die Aura des Digitalen ist in dieser immateriellen Produktion offensichtlich, weil digitale Technologie eine Illusion von Produktion ohne Konsumtion möglich macht. Diese Verschiebung von einer Grundlage in begrenzenden Faktoren und Knappheit ist der Immaterialität, die durch das Digitale dargestellt wird, inhärent. Gleichzeitig leugnet sie, wie Knappheit von Kapital durch die doppelten Formen von Zinsen und Profit für Kapitalaufwendungen aufgezwungen wird. Die Art und Weise, wie diese Dynamik sich abspielt, erzeugt sowohl Aufblähungen von Vermögenswerten als auch ihren Zusammenbruch. Das Problem der Blasen immaterieller Vermögenswerte besteht jedoch nicht darin, dass sie letztlich zerplatzen, sondern stattdessen in dem Glauben an Strukturen, die sie hervorbringen: Es ist eine Frage des Verhaltens und der Ideologie.

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Der zyklische Boom-Krise-Charakter des Kapitalismus war ein dauerhaftes Merkmal seiner Geschichte, das sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Was sich geändert hat, ist nicht, dass sich diese Zyklen weiterhin ereignen – sie sind unvermeidlich. Während Versuche, materielle Vermögenswerte anzusammeln (um sich gegen die Währung betreffende Ängste abzusichern), einer Aufblähung von Vermögenswerten und ihrem Zerplatzen folgen, taucht stattdessen eine neue Vermögenswertblase auf (an die sich eine andere Krise anschließt). Die zyklische Natur dieser Expansionen und Zusammenbrüche intensiviert den Konflikt zwischen Arbeit und Wert, da die Reaktionen des digitalen Kapitalismus dazu tendieren, die bereits wirksame immaterielle Basis zu verstärken, wodurch die Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Klassen mit jedem neuen Konflikt größer werden. Dramatische Vergrößerungen des Umfangs der sich in Zirkulation befindlichen Geldmenge sind ein wesentliches Merkmal des akkumulativen Verfahrens, das auf immateriellen Vermögenswerten basiert. Der Wert einer Fiat-Währung existiert nur als Ergebnis gesellschaftlichen Handelns und des Vertrauens in die Fiat-Währung. Die Erzeugung von neuem Wert ohne Produktion ist nur möglich, wenn Währung (das universale Äquivalent) von einer Basis in Vermögenswerten getrennt wird – es handelt sich um eine virtuelle Ökonomie, in der Werte nicht infrage gestellt werden können, ohne das gesamte Wertsystem infrage zu stellen. Die diesem immateriellen System drohenden Gefahren zwingen die Akteure innerhalb dieses Systems notwendigerweise dazu, immaterielle Werte durch eine Rettungsaktion und die Aussetzung normaler Handelsregeln zu erhalten oder stattdessen das gesellschaftliche Vertrauen zu verlieren, das für das fortgesetzte Funktionieren der Fiat-Währung unerlässlich ist. Aufgrund der einzigartigen Rolle, die dem US-Dollar im globalen Tauschsystem zukommt, stellt der digitale Kapitalismus für diese traditionelle Lösung der Asymmetrie von Wert und Arbeit allerdings eine besondere Situation dar. Da sich der digitale Kapitalismus daraus entwickelt, dass (1) eine Fiat-Währung das universale Äquivalent ersetzt; (2) diese als Vermittler zwischen allen Tauschgeschäften global eingesetzt wird und (3) ein Übergang zur semiotischen Wertschöpfung der Finanzialisierung stattfindet, bedeutet dies, dass die traditionellen Lösungen nicht eingesetzt werden

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können, ohne dass dadurch die Gefahr entsteht, dass das Vertrauen, welches die gesellschaftliche Basis der Fiat-Währung ist, zusammenbricht. Wie das Ponzi-Schema nahelegt, ist der digitale Kapitalismus von unmittelbarem Zusammenbruch bedroht, wenn diese Zirkulation aufhört. „Blasen“ von Vermögenswerten werden von diesem System nicht nur benötigt: Sie sind eine Funktion des digitalen Kapitalismus in Aktion. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von Rettungsprogrammen, wenn die aufgeblähten Vermögenswerte zerplatzen. Knappheit von Kapital innerhalb dieses Konstrukts zeigt sich anhand des inhärenten Ungleichgewichts zwischen vorhandenen Werten und der Zahl potenzieller zukünftiger Forderungen, die ein Derivatenmarkt stellt, dessen Wert deutlich größer ist als die Menge immanenter Arbeit (materieller, automatisierter und immaterieller), die zur Verfügung steht, um neue materielle Werte zu produzieren, die diesen Forderungen entsprechen. Es ist jedoch keine Frage des Gegensatzes zwischen den Werten von Waren und spekulativen Werten, sondern zwischen Ertragsansprüchen und Produktionskapazität. Innerhalb des Systems der Fiat-Währung besteht die Wirkung der Aura des Digitalen sowohl in einer expansiven Verfahrensweise, als auch darin, virtuelle „Vermögenswerte“ zu einer Ware zu machen, ohne dass eine Beziehung zu materiellen Vermögenswerten besteht. Der Mangel an Kapital ist ein ständiges Merkmal dieses Arrangements. Es gibt immer eine größere, noch ausstehende Schuld als Währung, sie zurückzuzahlen. Das Modell hierfür ist das Ponzi-Schema, das diesen beschleunigten Prozess der Zirkulation und den sich daran notwendigerweise anschließenden Zusammenbruch demonstriert. Das biopolitische Paradigma der Ablenkung, das als „affektive Arbeit“ bezeichnet worden ist, ist ein Symptom der Agnotologie, welches sämtliche Teilnehmer betrifft, selbst diejenigen, die mit der „Verwaltung“ des digitalen Kapitalismus beauftragt sind. Die begrenzten Horizonte, die innerhalb dieses sozialen Netzwerks von Akteuren und immateriellen Vermögenswerten produziert werden, schränken das Bewusstsein möglicher Lösungen auf diejenigen ein, die die etablierte Dynamik verstärken, und zwar genau deshalb, weil es der ermöglichende Faktor für die Perpetuierung des Zyklus der Vermögenswertblasen und der durch sie geschaffenen Eskalation von Werten ist. Die in der Aura des Digitalen verdinglichte Ideologie

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suggeriert, dass das Problem, das diese inhärente Instabilität und der möglicherweise unmittelbar bevorstehende Zusammenbruch darstellt, durch eine Verschiebung von materieller Produktion zu semiotischer (immaterieller) Produktion gelöst werden kann. Sie erscheint im digitalen Kapitalismus als ein Reflex des Wunsches, diese Zyklen hinter sich zu lassen. Die Behauptung, dass diese Zyklen überwunden worden sind, war während der gesamten Zeit der Steigerung der Anlagewerte allgemein verbreitet, am deutlichsten zu erkennen in der Behauptung (von Alan Greenspan und anderen), es gebe keine „Immobilienblase“. Die Instabilität des digitalen Kapitalismus, die zu Zusammenbrüchen führt (und zur Bewegung in Richtung auf einen Untergang), ist im Wesentlichen das Ungleichgewicht, welches durch das Ponzi-Schema der Akkumulation vorausgesagt wird: die Unfähigkeit der Produktion, die durch das Kapital gestellten Forderungen zu erfüllen. Diese immaterielle Produktion ist durch semiotische Manipulation gekennzeichnet. Werte werden durch Tauschzyklen generiert, die zu Aufblähungen von Vermögenswerten führen; sie sind eine Funktion der semiotischen Neukombination und Übertragung von Derivaten (sekundären und tertiären) immaterieller Vermögenswerte. Dies ist ein System, das von dem Versuch verfolgt wird, sich bis zur Unendlichkeit zu erweitern, der dem Wesen des Kapitalismus im Allgemeinen entspricht. Die Verschiebung zu einer Fiat-Währung (ebenso wie die Verwendung einer Rentenwährung) erscheint ebenso wie die Aura des Digitalen als Lösung dieses inhärenten Paradoxes. Ironischerweise sind diese „Lösungen“ Übertreibungen der zugrunde liegenden Problematik selbst. Dieser Faktor ist jedoch die ideologische Blindheit, die – ebenso wie das Auftauchen der Agnotologie – die Verschiebung in Richtung des Immaterialismus durch die Aura des Digitalen und den Aufstieg des digitalen Kapitalismus ermöglicht.

Anmerkungen Einführung 1

Der Ausdruck „digitaler Kapitalismus“ wurde 1999 erstmals von Dan Schiller in seinem gleichnamigen Buch verwendet. Während seine Beschreibung von derselben technischen Basis ausgeht wie meine, sind es Beispiele für konvergierendes Denken, das auf ähnlichen Ausgangsprämissen beruht. Die gegenwärtige Diskussion und Theoriebildung ist von seiner früheren Konzeption unabhängig, obwohl beide von ähnlichen Beobachtungen ausgehen. 2 Juan Christóbal Calvete de Estrella, El Felicísimo Viaje del Muy Alto y Muy Poderoso Príncipe Don Felipe (Madrid: La Sociedad de Bibliófilos Españoles, 1930), 73– 77. 3 Jean-Baptiste Weckerlin, Musiciana; extraits d’ouvrages rares ou bizarres, anecdotes, lettres, etc. concernant la musique et les musiciens (Paris: Garnier Frères, 1877), 349. Für weiteres Material über die Erzählung dieser Prozession, siehe Claude-François Ménestrier, Des Représentations en musique anciennes et modernes (Paris: Chez R. Guinard, 1681) sowie Samuel Bauer, Denkwürdigkeiten, Bd. XI (1830). 4 „Arthur Ewing and His Musical Mice“, Monty Python’s Flying Circus, BBC, 12. Oktober 1969, geschrieben von John Cleese, Graham Chapman, Terry Jones, Eric Idle et al. 5 Lance Bertlesten, „Journalism, Carnival, and Jubilate Agno“, ELH 59.2 (Sommer 1992): 375 [357–384]. 6 Siehe www.jinglecats.com

Kapitel 1  Die Ideologie der Automation 1

Dion Dennis, „The Digital Death Rattle of the American Middle Class: A Cautionary Tale“, CTheory, 2003, a136, www.ctheory.net/articles.aspx?id= 402. 2 Martin R. Ford, The Lights in the Tunnel: Automation, Accelerating Technology and the Economy of the Future (New York: Acculant Publishing, 2009). 3 Dennis, „The Digital Death Rattle“. 4 T. J. Jackson Lears, No Place of Grace: Anti-Modernism and the Transformation of American Culture, 1880–1920 (New York: Pantheon, 1981), 19–20. 5 Dennis, „The Digital Death Rattle“. 6 Dennis, „The Digital Death Rattle“. 7 Siehe die Webseite des statistischen Bundesamtes der USA: https://www.census. gov/topics/education/educational-attainment.html

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Anmerkungen

8 Yuppies = young, upwardly mobile professionals = junge, karrierebewusste Fachkräfte. 9 Der Federal Trade Commission Act, der die Bundeshandelskommission als eine Agentur ins Leben rief, deren Auftrag darin bestand, unfaire Geschäftspraktiken zu untersuchen und rechtlich zu verfolgen, trat am 26. September 1914 in Kraft. 10 Clement Greenberg, The Collected Essays and Criticism, Band 1, Hrsg. John O’Brian (Chicago: University of Chicago Press, 1986), 5–11. 11 Dave Stutz, „Some Implications of Software Commodification“, 2004, http://www. synthesist.net/writing/commodity_software.html 12 Betrachtet man sie aus der Innenperspektive dieses warengesteuerten Systems, lassen sich die Sorgen um Rechte an intellektuellem Eigentum leicht verstehen. 13 Douglas R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid (New York: Basic Books, 1979), 100–101. 14 „by hammer and by hand do all things stand“. 15 Cohen, The Threat of Intelligent Capital.

Kapitel 2  Das Aufkommen der immateriellen Physikalität 1

„The New Aesthetic“ war der Titel des Blogs, den James Bridle zur Sammlung seines Materials verwendete: new-aesthetic.tumblr.com. Er begann am 6. Mai 2011 zu posten und notierte am 12. Mai 2012, dass „The New Aesthetic“ derzeit geschlossen sei. Am 20. August setzte er dann das Posten neuen Materials fort. 2 Joe Houston, Post-Digital Painting (Bloomfield Hills: Cranbrook, 2002). 3 Anm. d. Übers.: Markenname eines am Kopf getragenen Minicomputers. Das Gerät ist umstritten, weil es erlaubt, die Umgebung des Trägers unbemerkt auszuspähen. 4 James A. Baker III und Lee H. Hamilton, Co-Vorsitzende, The Iraq Study Group Report (New York: Vintage, 2006). 5 Marx, Grundrisse. Zitiert nach: https://marxwirklichstudieren.files.wordpress. com/2012/11/mew_band42.pdf, 608. 6 Marx, Grundrisse. Zitiert nach: https://marxwirklichstudieren.files.wordpress. com/2012/11/mew_band42.pdf, 592. 7 Nikolaus Pevsner, Pioneers of Modern Design: From William Morris to Walter Gropius (Bath: Palazzo Editions, 2011). 8 Anm. d. Übers.: Griechische Insel, vor der Taucher im Jahr 1900 in einem Schiffswrack Teile eines Gerätes gefunden haben, das astronomisch-kalendarische Zusammenhänge anzeigen konnte, wie etwa die Bewegungen von Sonne und Mond sowie vergangene und künftige Mondfinsternisse. 9 Marx, Das Kapital: Band 1. Zitiert nach: https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band23.pdf, 50 f. 10 Critical Art Ensemble, Electronic Civil Disobedience and Other Unpopular Ideas (Brooklyn: Autonomedia, 1996), 59.

Anmerkungen

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Kapitel 3  Die Aura des Digitalen 1 2 3

4

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7 8

9

Hans Abbing, Why are Artists Poor? The Exceptional Economy of the Arts (Amsterdam: Amsterdam University Press, 2004), 307. Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Sonderausgabe (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003 ), 13. Dies gilt nur „im Prinzip“, da eine unendliche Reproduktion tatsächlich unmöglich ist. Dennoch kann eine unbegrenzte Anzahl von Kopien ohne jegliche Abweichung hergestellt werden. Vgl. hierzu Ralph Abraham, Peter Broadwell und Ami Radunskaya, „MIMI and the Illuminati“, Pomona College [Seiten der Fakultät], 1996, pages.pomona.edu/ ~aer04747/mimi/miminotes.html Vgl. Brian O’Doherty, Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space. Revidierte Ausgabe (Berkeley: The University of California Press, 2000). Anm. d. Übers.: Der britische Ökonom Thomas Robert Malthus (1766–1834) stellte die Theorie auf, dass die Bevölkerung eines Landes schneller zunehme als die zu ihrem Erhalt erforderliche Menge an Lebensmitteln. Das Konzept des „Leserechts“ geht auf Richard Stallman von der Free Software Foundation (http://www.fsf.org/) zurück. Siehe Vlada Petric, Constructivism in Films: The Man with a Movie Camera (Cambridge: Cambridge University Press, 1987) und Dziga Vertov, Kino-Eye: The Writings of Dziga Vertov. Hrsg. Annette Michselson, Übers. Kevin O’Brien (Berkeley: University of California Press, 1984). Patrick Smith, Andy Warhol’s Art and Films (Ann Arbor: UMI Research Press, 1986), 195–202.

Kapitel 4  Der immaterielle Vermögenswert 1

Satoshi Nakamoto, „Bitcoin: A Peer-to-Peer Electronic Cash System“, 2008, http:// www.bitcoin.org/bitcoin.pdf 2 Bitcoin wurde am 9. November 2008 registriert; der erste „Block“ wurde am 3. Januar 2009 freigegeben, die Handelssoftware folgte am 11. Januar, und die erste Verwendung von Bitcoin in einer Transaktion erfolgte am 12. Januar; vgl. https://en.bitcoin.it/wiki/Bitcoin 3 „Satoshi Nakamoto“ ist möglicherweise ein Pseudonym; vgl. die Seite zu Satoshi Nakamoto auf der Bitcoin-Wikiseite: https://en.bitcoin.it/wiki/Satoshi_Nakamoto. 4 Vgl. https://en.bitcoin.it/wiki/Bitcoin 5 Es gibt eine Reihe bekannter Investoren und Finanzanalysten, die seit 2010 für Bitcoin geworben haben; siehe Max Keiser, „Some other alternatives to fiat currencies“, Max Keiser, 2010, http://www.maxkeiser.com/2010/12/some-other-alternativestofiat-currencies/ sowie Chamath Palihapitiya, „Why I Invested in Bitcoin“, Bloomberg View, 2012: http://www.bloombergview.com/articles/2013–05–30/bitcoin-theperfect-schmuck-insurance

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Anmerkungen

6 Vgl. die zusammenfassende Diskussion der Tatsache, dass das „Schürfen“ von Bitcoins große Mengen Strom (physischer Ressourcen) verbraucht, in Katie Davies, „The Monster Machines Mining Bitcoins in Cyberspace that Could Make Techies a Small Fortune (but cost $160,000 a day to power)“, in Daily Mail Online, 2013, http://www.dailymail.co.uk/news/article- 2309673/Techies-building-powerful-computers-Bitcoins-new-digitalcurrency- make-millions.html 7 Simon Barber, Xavier Boyen, Elaine Shi und Ersin Uzun, „Bitter to Better – How to Make Bitcoin a Better Currency“, in: Financial Cryptography and Data Security, Hrsg. Angelos D. Keromytis (Berlin: Springer, 2012), 399–414. 8 Während die Probleme für anonyme Transaktionen gut dokumentiert sind, behaupte die Wiki-Seite von Bitcoin, dass ein derartiges Problem nicht existiert. Vgl. http://en.bitcoinwiki.org/Bitcoin_history 9 Barber et al., „Bitter to Better“, 400. 10 Nakamoto, „Bitcoin“, 1. 11 Nakamoto, „Bitcoin“, ebd. 12 Nakamoto, „Bitcoin“, 5. 13 Die Webseite „The Silk Road“, auf die ausschließlich durch den Browser TOR zugegriffen werden kann, ist ein anonymer Markt, der für seine Transaktionen ausschließlich Bitcoin akzeptiert. Vgl. http://veilednetwork.com/silk-road-url/ und http://en.wikipedia.org/wiki/Silk_Road_(marketplace) 14 Nicholas Christin, „Travelling the Silk Road: A Measurement Analysis of a Large Anonymous Online Marketplace“, ein Vortrag auf der International World Wide Web Konferenz vom 13.–17. Mai 2013 in Rio de Janeiro, Brasilien, http://www2013. org/proceedings/p213.pdf 15 Nakamoto, „Bitcoin“, 2. 16 Barber et al., „Bitter to Better“, 399–414. 17 Vgl. Nicky Woolfs „Silk Road’s Dread Pirate Roberts Convicted of Running an Online Drug Marketplace“. In: The Guardian vom 4. Februar 2015: http://www.theguardian.com/technology/2015/feb/04/silk-roadross-ulbricht-convicted-drug-charges 18 Anm. d. Übers.: Als Digital Wallet („elektronische Brieftasche“), E-Wallet oder Cyberwallet bezeichnet man ein auf einer elektronischen Plattform gespeichertes Guthaben, mit dem man Waren und Dienstleistungen im Internet bezahlen kann. 19 Nakamoto, „Bitcoin“, 6. 20 Fergal Reid und Martin Harrigan, „An Analysis of Anonymity in the Bitcoin System“. In: Security and Privacy in Social Networks. Hrsg. von Yaniv Altshuler et al. (New York: Springer, 2013), 197–223.

Kapitel 5  Die Aufwertung des Autors 1

Roland Barthes, „The Death of the Author“. In: Image – Music – Text. Übers. von Stephen Heath (New York: Hill & Wang, 1977), 148. Deutsche Übersetzung zitiert nach: F. Jannidis et al. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft (Stuttgart: Reclam, 2000), 192.

Anmerkungen

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2 Michel Foucault, „What is an Author?“. In: Language, Counter-Memory, Practice. Übers. von Donald F. Bouchard und Sherry Simon. Hrsg. von Donald F. Bouchard (Ithaca: Cornell University Press, 1977), 124–177. In deutscher Übersetzung zugänglich, in: F. Jannidis et al. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, 198–229. 3 Foucault, „What is an Author?“, 124. Deutsche Übersetzung zitiert nach F. Jannidis et al. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, 211. 4 Anm. d. Übers.: In Gustave Flauberts nachgelassenem Roman Bouvard et Pécuchet. 5 Barthes, „The Death of the Author“, 142–148. Deutsche Übersetzung zitiert nach F. Jannidis et al. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, 190 f. 6 Jonathan Cullen, The Literary in Theory (Stanford: Stanford University Press, 2006), 181. Das Wittgensteinzitat stammt aus seinen Philosophischen Untersuchungen. Zitiert nach Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt: Suhrkamp, 21980), 38 [Anm. zu § 38] (Anm. d. Übers.). 7 Umberto Eco, „Interpreting Serials“, in: The Limits of Interpretation (Bloomington: University of Indiana Press, 1994), 87–89. 8 Es ist die Produktion und Modulation dieser Träumerei, die das implizite „Subjekt“ des avantgardistischen Filmemachers Hollis Framton in seinem Film von 1971 (Nostalgia) bildet, in dem die Hintergrunderzählung und das Bild, welches die Erzählung beschreibt, dissoziiert sind – die Erzählung läuft dem Bild in der Serie voraus. 9 Vlada Petric, Constructivism in Films: The Man with a Movie Camera (Cambridge: Cambridge University Press, 1987); vgl. auch Dziga Vertov, Kino-Eye: The Writings of Dziga Vertov. Hrsg. Annette Michselson, Übers. Kevin O’Brien (Berkeley: University of California Press, 1984). 10 Es gibt zahlreiche Quellen für diese Behauptung, doch sie spielt eine prominente Rolle in Douglas Crimp’s „Appropriating Appropriation“, in: On the Museum’s Ruins (Cambridge: The MIT Press, 1995), 126–136. 11 Eco, „Interpreting Serials“, 83–100. 12 Nicholas Rombes, „The Rebirth of the Author“. CTheory, 2005, www.ctheory.net/articles.aspx?id= 480. 13 Betancourt, „The Aura of the Digital“, vgl. S. 61–84 dieses Buches.

Kapitel 6  Die „Black Box“ der vergangenen Erfahrung 1 2 3 4 5 6 7 8

Umberto Eco, „Interpreting Serials“. In: The Limits of Interpretation (Bloomington: University of Indiana Press, 1994), 87–89. Complex Adaptive Systems (CAS). Vgl. John Holland, Hidden Order: How Adaptation Builds Complexity (Reading: Perseus Books, 1995). Eco, „Interpreting Serials“, 95. Eco, „Interpreting Serials“, 84 f. Eco, „Interpreting Serials“, 84–87. Eco, „Interpreting Serials“, 91–93. Eco, „Interpreting Serials“, 87. Eco, „Interpreting Serials“, 97.

258

Anmerkungen

9 Eco, „Interpreting Serials“, 88–99. 10 Eco, „Interpreting Serials“, 91. 11 Holland, Hidden Order, 11. 12 Holland, Hidden Order, 53. 13 Holland, Hidden Order, ebd. 14 Eco, „Interpreting Serials“, 96. 15 Holland, Hidden Order, 53–56. 16 Eco, „Interpreting Serials“, 88. 17 Eco, „Interpreting Serials“, 94. 18 Eco, „Interpreting Serials“, 86–87. 19 Holland, Hidden Order, 61–76. 20 Holland, Hidden Order, 79. 21 Eco, „Interpreting Serials“, 97–98. 22 Eco, „Interpreting Serials“, 95.

Kapitel 7  Der Zustand umfassender Kenntnis 1

Vgl. Samuel Nunn, „Tell Us What’s Going to Happen: Information Feeds to the War on Terror“. CTheory, 2006, www.ctheory.net/articles.aspx?id= 518. 2 Zitiert nach: Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, hrsg. von G. E. M. Anscombe und G. H. von Wright nach der mit Rush Rhees neu durchgesehenen Ausgabe. Frankfurt 1970, Nr. 109 f. 3 Jean Baudrillard, Impossible Exchange. Übers. von Chris Turner (New York: Verso, 2000), 3, 19. 4 Douglas R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid (1979; repr. New York: Basic Books, 1999), 94. 5 David Z. Albert, Quantum Mechanics and Experience (Cambridge: Harvard University Press, 1992), 15. 6 Albert, Quantum Mechanics and Experience, ebd. 7 Louis Albert Necker, The London & Edinburgh Philosophical Magazine and Journal of Science 1 (1832), 329–337. 8 Nancy J. Woolf and Stuart Hameroff, „A Quantum Approach to Visual Consciousness“. Trends in Cognitive Science 5.11 (2001), 472–478. 9 Wolfgang Einhäuser, Kevan A. C. Martin und Peter König, „Are Switches in Perception of the Necker Cube Related to Eye Position?“ European Journal of Neuroscience 20.10 (2004), 2811–2818. 10 Woolf and Hameroff, „A Quantum Approach to Visual Consciousness“. 11 Ernest Nagel and James R. Newman, Gödel’s Theorem (1958; repr. New York: New York University Press, 1986), 58. 12 Nagel and Newman, Gödel’s Theorem, 10 f. 13 Eugen Bleuler, The Theory of Schizophrenic Negativism. Übers. William A. White (New York: Journal of Nervous and Mental Disease, 1912), 266. 14 Bleuler, The Theory of Schizophrenic Negativism, ebd.

Anmerkungen

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15 Mark Garrison, „The Poetics of Ambivalence“. Spring: An Annual of Archetypal Psychiatry and Jungian Thought (1982): 224 [213– 232]. 16 Garrison, „The Poetics of Ambivalence“, 223. 17 Eugen Bleuler, Dementia Praecox, or the Group of Schizophrenias (New York: International Universities Press, 1950), 271–286. 18 Holland, Hidden Order, 53. 19 Holland, Hidden Order, 79. 20 Holland, Hidden Order, 61–76. 21 Umberto Eco, The Limits of Interpretation (Bloomington: University of Indiana Press, 1994), 97–98. 22 Roland Barthes, The Responsibility of Forms: Critical Essays on Music, Art, and Representation. Übers. von Richard Howard (Berkeley: The University of California Press, 1985), 141. 23 Rey Parlá, „Organic Harmonies“. In: Rostarr, Wreckless Abandon (Miami: O. H.W. O. W., 2008). 24 Garrison, „The Poetics of Ambivalence“, 226–229. 25 Barthes, The Responsibility of Forms, 141. 26 Sonia K. Katyal, „Semiotic Disobedience“. In: Washington University Law Review 84.2 (2006), 489–570. 27 Katyal, „Semiotic Disobedience“, 493, Fußnote 18. 28 Hakim Bey, Temporary Autonomous Zone (Brooklyn: Autonomedia, 1985), http:// hermetic.com/bey/taz_cont.html 29 Albert, Quantum Mechanics and Experience, 15. 30 Die Implikationen einer solchen Konstruktion liegen außerhalb des Rahmens dieser vorläufigen Beschreibung des Zustands selbst.

Kapitel 8  Die Forderungen der Agnotologie/Überwachung 1

Giorgio Agamben, What is an Apparatus? Übers. David Kishik und Stefan Pedatella (Stanford: Stanford University Press, 2009), 7. 2 Vgl. Stephen Farrell, „BCP 188: Pervasive Monitoring Is an Attack“. Dokument der Internet Engineering Task Force von Mai 2014, http://www. rfc-editor.org/rfc/ rfc7258.txt 3 Jean Baudrillard, Simulations. Übers. von Phil Beitchman, Paul Foss und Paul Patton (New York: Semiotext(e), 1983), 30–32. 4 Vgl. Derek Thompson, „Google’s CEO: ‚The Laws are Written by Lobbyists‘“, The Atlantic, 2010, http:// www.theatlantic.com/technology/archive/2010/10/googles-ceothe-laws-are-writtenby- lobbyists/63908/#video 5 Siehe Yasha Levine, „The Psychological Dark Side of Gmail“. Alternet, 2013, http:// www.alternet.org/media/google-usinggmail- build-psychological-profiles-hundreds-millions-people 6 Siehe Luke Harding, „How Edward Snowden Went from Loyal NSA Contractor to Whistleblower“. The Guardian, 2014, http://www.theguardian.com/world/ 2014/ feb/01/edward-snowdenintelligence-leak-nsa-contractor-extract

260

Anmerkungen

7

David Cole, „We Kill People Based on Metadata“. New York Review of Books, 2014, http://www.nybooks.com/blogs/nyr blog/2014/may/10/we-kill-people-based-metadata/ 8 Das Programm „Total Information Awareness“ wurde in der Presse ausführlich behandelt und diskutiert. Als Zusammenfassung bietet The Center for Media and Democracy Hintergrundinformationen über solche Programme durch seine Webseite „Source Watch“: http://www.sourcewatch.org/index.php?title=Total_Information_ Awareness 9 Wolfgang Sutzl, „Tragic Extremes“. CTheory, 2007, http://www.ctheory.net/articles. aspx?id= 582. 10 Michel Foucault, The Birth of the Clinic: An Archaeology of Medical Perception (London: Routledge, 2003), 200–201. 11 Anm. d. Übers.: kostenloses Mittagessen. Anspielung auf den idiomatischen Ausdruck „There is no such thing as a free lunch“ (Es gibt kein kostenloses Mittagessen), d. h.: Nichts ist umsonst. 12 Farrell, „BCP 188: Pervasive Monitoring Is an Attack“. 13 James Tully, „Communication and Imperialism“. CTheory, 2006, http://www. ctheory.net/articles.aspx?id= 508. 14 Levine, „The Psychological Dark Side of Gmail“. 15 Karl Marx, Capital, Vol. 3, ed. Friedrich Engels (New York: International Publishers, 1999), 181; online version, (Hrsg.) Tim Delaney und M. Griffin, https://www. marxists.org/archive/marx/works/ down load/pdf/Capital-Volume-III.pdf. Zitiert nach: http://www.mlwerke.de/me/me25/me25_000.htm 16 Anm. d. Übers.: Vgl. https://focusweb.org 17 Naomi Klein, „The Rise of Disaster Capitalism.“ In: The Nation, 14. April 2005, http://www.thenation.com/article/rise-disaster-capital ism/ 18 Nanex Flash Crash Summary Report, 2010, http://www.nanex.net/FlashCrashFinal/ FlashCrashSummary.html 19 Marx, Capital, Vol. 3, 150–151. Zitiert nach: http://www.mlwerke.de/me/me25/ me25_221.htm 20 Adolph Loos, Crime and Ornament: The Arts and Popular Culture in the Shadow of Adolph Loos. Hrsg. Bernie Miller und Melony Ward (New York: XYZ Books, 2002), 30 f. 21 Loos, Crime and Ornament, 33. 22 Critical Art Ensemble, Digital Resistance: Explorations in Tactical Media (Brooklyn: Autonomedia, 2001). 23 Critical Art Ensemble, Electronic Civil Disobedience (Brooklyn: Autonomedia, 1996), 28 f.

Kapitel 9  Die Knappheit von Kapital 1

Simon Johnson, früherer Chefökonom des Weltwährungsfonds, zitiert in Bill Moyers Journal, 2010, http://www.pbs.org/moyers/journal/04162010/profile.html: „Die

Anmerkungen

261

großen Banken wurden als Ergebnis des Rettungsschirms stärker. Dies mag als außerordentlich erscheinen, ist jedoch tatsächlich wahr. Sie verwandeln diese gewachsene ökonomische Macht in größere politische Macht; und sie verwenden diese politische Macht, um sich in die Welt zu begeben und Risiken von derselben Art einzugehen, die uns im September 2008 ins Verderben gestürzt haben.“ 2 In seinem Brief an den SEC-Direktor Richard C. Breeden vom 1. November 1990 schreibt Alan Greenspan: „Der Vorstand ist der Überzeugung, dass das am Marktwert orientierte Rechnungswesen eine große Anzahl bedeutsamer Fragen aufwirft, die gelöst werden müssen, bevor die – vollständige oder teilweise – Durchsetzung einer solchen Vorgehensweise für Banken erwogen werden kann. Es sollten Methoden der Rechnungsführung entwickelt werden, mit denen sich die Ergebnisse einer bestimmten geschäftlichen Absicht oder Strategie messen lassen; sie ist kein Selbstzweck. Für eine Institution, deren wirtschaftliches Ziel darin besteht, Tagesgeschäfte mit marktfähigen Vermögenswerten abzuwickeln, würden beispielsweise Marktwerte bei Tagesschluss den Erfolg oder Misserfolg dieses speziellen wirtschaftlichen Ziels messen. In diesem Beispiel ist eine für den Markt bestimmte Tagesabschlussbilanz offensichtlich das angemessene Verfahren der Rechnungsführung. Im Allgemeinen besteht die Geschäftsstrategie kommerzieller Banken andererseits darin, ihre Krediteinblicke bezüglich bestimmter Kreditnehmer dazu zu verwenden, ein breit gefächertes Portfolio von wesentlich illiquiden, bis zur Endfälligkeit gehaltenen Vermögenswerten zu erwerben. Der Erfolg oder Misserfolg einer solchen Strategie wird nicht durch die Bewertung solcher Darlehen auf der Basis eines Preises bemessen, der den Wert bei sofortiger Übergabe angibt. Ein Wertaspekt eines Tauschgeschäfts ist klarerweise seine Laufzeit. Doch der angemessene Preis für die meisten Bankdarlehen und außerbilanziellen Verpflichtungen ist der ursprüngliche Kaufpreis, angepasst um die Gewinnerwartung bei Fälligkeit. Nur wenn dieser Preis vom Buchwert des Vermögenswertes abweicht, ist eine Anpassung angemessen.“ 3 Vgl. Benjamin Bernanke, „Four Questions about the Financial Crisis“. Rede vom 4. April 2009 am Morehouse College in Atlanta in Georgia: www.federalreserve. gov/newsevents/speech/bernanke2009041 4a.html 4 Das TARP-Programm wurde von der Federal Reserve Bank am 14. Oktober 2008 ins Leben gerufen. Für weitere Informationen über dieses erste Programm und sich daran anschließende Programme, siehe http://www.treasury.gov/initiatives/financialstability/ TARP-Programs/Pages/default.aspx 5 Vgl. Bernanke, „Four Questions about the Financial Crisis“. 6 Während diese Verschiebung dem Vorschlag von Hyman Minsky, die US-Notenbank solle der „Kreditgeber letzter Instanz“ sein, folgte, tat auch sie nichts, um auf das zugrunde liegende Problem der Immobilienblase von 2008 einzugehen; siehe Stephan Mihm, „Why Capitalism Fails“, in: The Boston Globe vom 13. September 2009, http://www.boston.com/bostonglobe/ideas/articles/2009/ 09/13/why_capitalism_fails 7 Karl Marx, Capital, Vol. 1. Übers. von Ben Fowkes (New York: Penguin Classics, 1992), 160. Zitiert nach MEW 23, 82.

262

Anmerkungen

8 Marx, Capital, Vol. 1, 141–154. 9 Marx, Capital, Vol. 1, 126. 10 Marx, Capital, Vol. 1, 162–163; zitiert nach MEW 23, 84. 11 Marx, Capital, Vol. 1, 137. 12 Diese Bezeichnung folgt dem Vorschlag von Robert N. Proctor, der Agnotologie als die systematische, trügerische Produktion von „Wissenschaft“ beschrieb, die von der Tabakindustrie dazu bestimmt war, Verwirrung bezüglich der Gesundheitsrisiken des Rauchens zu erzeugen. 13 Anm. d. Übers.: Vgl. Fußnote 11 zu Kapitel 8. 14 Juan Martin Prada, „Economies of Affectivity“. Caring Labor: An Archive, 2010, https://caringlabor.wordpress.com/2010/07/29/juan-martin-pradaeconomies-of-affectivity 15 Bob Chapman, „Liquidity Injection Won’t Cure Wall Street Disease“. The International Forecaster, 2008, http://theinternationalforecaster.com/International_Forecaster_Weekly/ LiquidLiquidity_Injection_Wont_Cure_Wall_Street_Disease 16 Daniel Tencer, „Spitzer: Federal Reserve is ,a Ponzi scheme, an inside job‘“. Global Research, 2009, http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid= 14559 17 Anm. d. Übers.: Anspielung auf die Redewendung „to rob Peter to pay Paul“, d. h. Schulden zu machen, um andere Schulden zu bezahlen. In diesem Fall wird allerdings jemandem Geld (als Profit) ausbezahlt, was ihm selbst gestohlen wurde. 18 Craig Torres, „Fed to Buy $300 Billion of Longer-Term Treasuries“. Bloomberg News, 2009, http://www.bloomberg.com/apps/news?pid= 20601068&sid=aPlq8GB5FWSc

Kapitel 10  Über Immaterialismus 1

Anm. d. Übers.: PIIGS ist eine in 2010, während der Eurokrise, für die fünf EuroStaaten Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien eingeführte Abkürzung.

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