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German Pages 424 [426] Year 2023
ZGS
Mit Beiträgen zum Schwerpunktthema „Kriegserinnerungen und Kriegsfolgen“
ZEITSCH RI FT
FÜR DIE GESCHICHTE
Thomas Dorfner Der Preis der Freiheit. Der Freikauf des Soldaten Bernhard Teutschmann aus osmanischer Gefangenschaft (1605 – 1611)
DER SAARGEGEND
Hans-Joachim Kühn Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 an seine Braut
AUSGABE
70 – 2022
Jutta Haag Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken: ein vergessenes Denkmal auf der Saarbrücker Bellevue … Anton Schwindt und Franz Josef Schäfer Der Schneider Mathias Steinmetz aus Uchtelfangen und seine Tochter Anna – Tagebuchschreiberin zum Ersten Weltkrieg Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr aus den Jahren 1917 bis 1920 Wolfgang Laufer Die Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig bei Kriegsbeginn 1939: Evakuierung oder Todeszug? – Ein Diskussionsbeitrag
Sowie weiteren Beiträgen von Joachim Conrad „Wir haben jeden Sonntag ein gefülltes Gotteshaus“ Die altkatholische Gemeinde im Saarland Michael Sander 100 Jahre parlamentarische Vertretung der Bevölkerung des Schwerindustriegebietes an der Saar: Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 Gisela Tascher „Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
Sabine Penth Joachim Conrad Elias Harth Hans-Christian Herrmann (Hrsg.)
Hans-Christian Herrmann 65 Jahre Bundesland Saarland – Identität im Wandel. Verblasst die Frankreich-Orientierung?
KRIEGSERINNERUNGEN UND KRIEGSFOLGEN
70 2022
wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-30008-2
WB 30008-2 ZGS Cover Ausg 70 2023_04_14.indd 1
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Sabine Penth Joachim Conrad Elias Harth Hans-Christian Herrmann (Hrsg.)
Kriegserinnerungen und Kriegsfolgen
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend Redaktion: Sabine Penth, Joachim Conrad, Elias Harth, Hans-Christian Herrmann
Im Auftrag des Historischen Vereins für die Saargegend e. V.
Band 70 (2022)
Sabine Penth Joachim Conrad Elias Harth Hans-Christian Herrmann (Hrsg.)
Kriegserinnerungen und Kriegsfolgen Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar
wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlagsabbildungen: Portrait von Alma Behr, Autorin des „Kriegstagebuchs A. Weiler“ [Privatarchiv Margaret und Eve Berman]; im Tagebuch von Alma Behr zum 2.12.1917 angehefteter Zeitungsausschnitt mit Wortlaut des Telegramms mit dem russischen Friedensangebot; Briefe von Hermann Dörken [Brief Nr. 3 vom 5. August 1870 aus Landsweiler bei Lebach, S. 1 und Brief Nr. 18 vom 12. Januar 1871 aus Thoire (Département Côte-d’Or)]; Foto von Johanna Eicken (Empfängerin der Briefe von Hermann Dörken) nach einer kaiserzeitlichen Photographie von Carl Freund aus Elberfeld (Wuppertal) Satz: Marie Luise Strohm-Georg, M.A. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-30008-2 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (pdf): 978-3-534-30008-2
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
INHALTSÜBERSICHT Nachruf Joachim Conrad Dr. Wolfgang Laufer (1940–2022) …..……………..……………….…..…………....……………………
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„Kriegserinnerungen und Kriegsfolgen“ Beiträge zum Schwerpunktthema Thomas Dorfner Der Preis der Freiheit. Der Freikauf des Soldaten Bernhard Teutschmann aus osmanischer Gefangenschaft (1605–1611) ………..…………………………………………………………..………......
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Hans‐Joachim Kühn Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch‐Französischen Krieg 1870/71 an seine Braut …………………………………………………………………………………………………………
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Jutta Haag Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken: ein vergessenes Denkmal auf der Saarbrücker Bellevue …………………………..………… 101 Anton Schwind† und Franz Josef Schäfer Der Schneider Mathias Steinmetz aus Uchtelfangen und seine Tochter Anna – Tagebuchschreiberin zum Ersten Weltkrieg ……………………………….……………………….. 135 Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr aus den Jahren 1917 bis 1920 ………………………………………………………………………………………………………… 161 Wolfgang Laufer† Die Räumung der Heil‐ und Pflegeanstalt Merzig bei Kriegsbeginn 1939: Evakuierung oder Todeszug? – Ein Diskussionsbeitrag ……………………….…………..…. 235
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Weitere Beiträge Joachim Conrad „Wir haben jeden Sonntag ein gefülltes Gotteshaus“ Die altkatholische Gemeinde im Saarland …………………………….……………………………… 249 Michael Sander 100 Jahre parlamentarische Vertretung der Bevölkerung des Schwerindustriegebietes an der Saar: Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 …………………………………………………… 295 Gisela Tascher „Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945 ……………...…….. 337 Hans‐Christian Herrmann 65 Jahre Bundesland Saarland – Identität im Wandel. Verblasst die Frankreich‐Orientierung? ………………………………..……………………………… 357
Miszellen Hubert Kesternich „Eisenzeit in SaarLorLux“ ‒ Auflistung der Errata ……….……………………………………… 397
Neues aus saarländischen Archiven und Bibliotheken Hans‐Christian Herrmann Digitalangebot des Saarbrücker Stadtarchivs «Jüdisches Leben in Saarbrücken und im Saarland» online …………….………….…..….. 415
Bericht über die Tätigkeit des Vereins ……………………………………………………… 421
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Nachruf
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
Dr. Wolfgang Laufer (17. März 1940 – 23. Mai 2022)
Am 23. Mai 2022 verstarb der frühere Leiter des Landesarchivs Saarbrücken, Dr. Wolfgang Laufer, im Alter von 82 Jahren und wurde in Dudweiler bestattet. Er war seit 1966 Mitglied im Historischen Verein für die Saargegend, engagierte sich in den Jahren 1974 bis 1989 im Wissenschaftlichen Ausschuss des Historischen Vereins und arbeitete im Redaktionskreis der „Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend“ von 1975 bis 1989 mit. In den Jahren 1977 bis 1988 war er Obmann im Vorstand des Vereins. In Bübingen verbrachte er seine Kindheit und erfuhr eine gediegene Ausbildung auf dem Dr. Wolfgang Laufer [Foto: Familienbesitz Barbara Keller] Aufbaugymnasium der Steyler Missionare in Geilenkirchen, bevor er 1958 an das Staatliche Aufbaugymnasium nach Lebach wechselte, wo er 1961 Abitur machte. Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität des Saarlandes promovierte er 1971 zum Dr. phil. in Saarbrücken. Es war sein Wunsch, in den Archivdienst zu gehen, und so absolvierte er seine Ausbildung an der Archivschule in Marburg und trat als Archivassessor in den Dienst des Landesarchivs Saarbrücken. 1988 wurde er zum Archivdirektor ernannt. Nach der Pensionierung von Prof. Dr. Hans-Walter Herrmann übernahm Dr. Wolfgang Laufer 1995 die Leitung des Landesarchivs, die er bis 2003 innehatte, aber erst im Jahr 2000 erfolgte die formale Ernennung zum Direktor des Landesarchivs. Neben seinen zahlreichen Aufsätzen unter anderem in der „Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend“ – auch in diesem Band erscheint ein Beitrag aus 9
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
seiner Feder posthum – sind drei Bücher besonders zu nennen: Zuerst seine Dissertation „Die Sozialstruktur der Stadt Trier in der frühen Neuzeit“, sodann seine beiden Bübingen-Bände, eine Verbeugung vor der Heimat. Der erste – Bübingen ein Dorf im Alten Reich – erschien 1989 und wurde vom Verfasser dieses Nachrufes in den „Saarbrücker Heften“ rezensiert als ein Musterbeispiel dafür, wie Ortschroniken aussehen sollten. Den zweiten Band über die Zeit 1815 bis 1914 rezensierte derselbe in der Zeitschrift des Vereins 2018. Prof. Dr. Heinz Quasten legte 2015 Laufers Aufsätze zur Herrschaft Blieskastel vor. Die Referate der Internationalen Archivfachtagung in Saarbrücken im Oktober 2000 publizierte er 2003 im Band „Archive diesseits und jenseits der Grenzen. Geschichte und Aufgaben, Gemeinsamkeiten und Unterschiede“. In allen seinen Werken spürt man die Genauigkeit des im Archivwesen geschulten Historikers. Sie haben bleibenden Wert. Wolfgang Laufer war verheiratet, hatte eine Tochter und Enkelkinder. Ihnen allen gilt unsere Anteilnahme. Dem Menschen und Forscher gebühren Dank und Respekt sowie eine bleibende Erinnerung. Prof. Dr. Joachim Conrad, Vorsitzender des Historischen Vereins für die Saargegend
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„Kriegserinnerungen und Kriegsfolgen“ Beiträge zum Schwerpunktthema
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
Der Preis der Freiheit Der Freikauf des Soldaten Bernhard Teutschmann aus osmanischer Gefangenschaft (1605–1611)* Von Thomas Dorfner
Am 1. Juli 1610 wurde Bernhard Teutschmann für vierzig Tage aus osmanischer Gefangenschaft entlassen, um in Prag sein Lösegeld zu holen. Teutschmann, Sohn eines Saarbrücker Goldschmieds, blickte zu diesem Zeitpunkt auf acht Jahre in Gefangenschaft zurück, die er teilweise in der Festung Yedikule bei Istanbul, teilweise auf einer Galeere im Mittelmeer verbracht hatte.1 Im Sommer 1610 erhielt er jedoch die Möglichkeit, in die kaiserlichen Erblande zu reisen, um die zuvor vereinbarte Summe von 2000 Gulden einzusammeln und „seinen beiden herrn, den Türcken“, zu bringen.2 Teutschmann reiste von der osmanischen Festungsstadt Ofen (Budapest) in die rund fünfhundert Kilometer entfernte Residenzstadt Prag, um dort seinen mit Abstand wichtigsten Korrespondenzpartner der letzten Jahre zu treffen: Matthias von Hirschbach, Kanzler des Grafen von Nassau-Saarbrücken, unterhielt seit 1606 einen intensiven Briefwechsel mit Teutschmann. Parallel dazu hatte der Kanzler „bey Chur, Fürsten, Grafen, Herrn, vom Adel und andern guten ehrlichen Leuten […] in Italien, in Ungarn, in Francken, wie nicht weniger in Teutschland“ um Unterstützung gebeten, um den mittellosen Gefangenen freikaufen zu können.3
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ * Dieser Aufsatz wurde erstmals veröffentlicht in: Frühneuzeit-Info 31 (2020), S. 126–139. Für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung danke ich der Redaktion der Frühneuzeit-Info herzlich. 1 Zur Chronologie des Langen Türkenkriegs vgl. Jan Paul Niederkorn: Die europäischen Mächte und der „Lange Türkenkrieg“ Kaiser Rudolfs II. (1593–1606), Wien 1993, S. 10–20; zur Festung Yedikule vgl. Hamide Burcu Özgüven: Early Modern Military Architecture in the Ottoman Empire, in: Nexus Network Journal 16 (2014), S. 737–749, hier S. 743–744. 2 Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 22. August 1610. Landesarchiv Saarbrücken (= LA). Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 94r. 3 Ebda., 95v. 13
Thomas Dorfner
Abb. 1: Festung Yedikule bei Istanbul 2013 [Foto: Maurice Jelinski]
Teutschmanns Fall mag auf den ersten Blick außergewöhnlich, ja spektakulär erscheinen, er ist jedoch – genau besehen – in doppelter Hinsicht repräsentativ. In den gut einhundert Jahren zwischen dem Beginn des Langen Türkenkriegs (1593) und dem Ende des Großen Türkenkriegs (1699) gerieten – erstens – tausende Kombattanten aus allen Regionen und sozialen Schichten des Alten Reiches in osmanische Gefangenschaft.4 Helmut Lahrkamp beispielsweise weist anschaulich einen kontinuierlichen „Strom entlassener Gefangener“ nach, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die denkbar weit von den Kriegsschauplätzen entfernten westfälischen Städte passierte.5 Zweitens gingen einer Freilassung oftmals zeitintensive Verhandlungen über die Höhe des Lösegelds („Ranzion“) oder die Auswechslung gegen einen osmanischen Gefangenen voraus.6 Das Gros der Gefangenen erlangte daher erst nach einigen Monaten beziehungsweise Jahren wieder die Freiheit.7 ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 4 Zur Teilnahme norddeutscher Soldaten an den Türkenkriegen, vgl. Antjekathrin Graßmann: „… er fragte den Teufel nach ihren Leuten!“ Lübecker im Türkenkrieg 1664, in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte 93 (2013), S. 167–194. 5 Helmut Lahrkamp: Rückwirkungen der Türkenkriege auf Westfalen, in: Westfälische Zeitschrift. Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 129 (1979), S. 89–108, hier S. 93. 6 Karl Jahn zeigte sich 1961 erstaunt, „wieviel Mühe, ja welchen Ärger“ Amtsträger mit dem Freikauf der zahlreichen Kriegsgefangenen hatten. Karl Jahn: Zum Loskauf christlicher und türkischer Gefangener und Sklaven im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 111 (1961), S. 63–85, hier S. 72. 7 Der Nürnberger Landsknecht Johann Wild geriet 1604 in Gefangenschaft und kehrte 1611 in seine Heimatstadt zurück. Vgl. Johann Wild: Reysbeschreibung eines Gefangenen Christen Anno 1604, hg. v. Georg Narciss, Stuttgart 1964. 14
Der Preis der Freiheit
Eine mikrohistorische Analyse des Falls Bernhard Teutschmann ist in dreifacher Weise geeignet, um Erkenntnisse über die Handlungsmöglichkeiten, Praktiken und Netzwerke, aber auch die Wahrnehmungen der an Lösegeldverhandlungen beteiligten Akteure zu gewinnen.8 Erstens wird mit diesem Aufsatz die agency eines einfachen Kriegsgefangenen im Osmanischen Reich umfassend analysiert. Es wird nachgewiesen, dass Teutschmann während seiner Haft keineswegs ,sozial totʻ war, sondern ü ber Handlungsmö glichkeiten verfügte, um letztlich seine Freilassung zu erwirken.9 Zweitens wird der Aufsatz erläutern, warum Obrigkeiten im Alten Reich sowohl ökonomisches Kapital als auch ein hohes Maß an Zeit investierten, um Soldaten niedriger sozialer Herkunft freizukaufen. Drittens kann die in den Kriegen zwischen Kaiser und Sultan gängige Praxis beleuchtet werden, dass Gefangene das Lösegeld für die Aufhebung ihrer Unfreiheit selbst abholten und überbrachten.10 Eine solche Analyse erscheint umso gebotener, da in der Forschung irrige Vorstellungen über das ,Ranzion holenʻ kursieren und die Praxis als ein „aus heutiger Sicht fast unverständliches Phänomen“ bezeichnet wurde.11 Die Forschung schenkte den Lösegeld- und Austauschverhandlungen in der habsburgisch-ungarischen Grenzregion lange Zeit kaum Beachtung, sondern widmete sich stattdessen bevorzugt der Mittelmeersklaverei, mithin dem Freikauf von Gefangenen aus den Händen maghrebinischer Korsaren.12 Es ist ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 8 Die methodischen Anregungen stammen zuvörderst von Otto Ulbricht: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main/New York 2009, bes. S. 10– 21; zur Frage nach der Repräsentativität von mikrohistorisch gewonnenen Erkenntnissen siehe Jürgen Schlumbohm: Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Zur Eröffnung einer Debatte, in: Ders. (Hg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte, komplementär oder inkomensurabel?, Göttingen 1998, S. 7–32, hier S. 28 f. 9 In Anlehnung an Orlando Patterson: Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge 1982. 10 Zur Unterscheidung zwischen „privaten Ranzionsholern“ und dem organisierten „fundraising“ klerikaler Orden siehe Stefano Saracino: Das Engagement griechisch-orthodoxer Almosenfahrer im Alten Reich für die Sklavenbefreiung. Hochmobile Akteure und ihre Verankerung in der frühneuzeitlichen „Kriegsökonomie“, in: Frühneuzeit-Info 30 (2019), S. 133–148, hier S. 136. 11 Leopold Toifl: Fürstenfeld im Ausnahmezustand. Die Besetzung der Stadt durch die Röderʼschen Arkebusierreiter im Frühjahr 1593, in: Zeitschri des Historischen Vereins für Steiermark 100 (2009), S. 381–396, hier S. 394. 12 Linda Colley: Captives. Britain, Empire and the World, 1600–1850, London 2002; und Robert C. Davis: Christian Slaves, Muslim Masters. White Slavery in the Mediterranean, the Barbary Coast, and Italy, 1500–1800, Basingstoke 2004. Aus der deutschen Forschung sind zu nennen Martin Rheinheimer: Der fremde Sohn. Hark Olufsʼ Rückkehr aus der Sklaverei, Neumünster 15
Thomas Dorfner
das Verdienst der BeiträgerInnen des Sammelbands von Géza Dávid und Pál Fodor, im Jahr 2007 sowohl die Lösegeldverhandlungen als auch die Versklavung von Kriegsgefangenen auf dem Balkan in den Blick genommen zu haben.13 In dem breit rezipierten Sammelband werden jedoch Kombattanten aus dem Alten Reich und deren Freikauf nicht beleuchtet. In methodischer Hinsicht ist indes zu monieren, dass Dávid und Fodor die Begriffe „Sklave“ und „Gefangener“ durchgängig synonym gebrauchen. Diese terminologische Unschärfe kritisierte bereits Manja Quakatz, die sich in mehreren Aufsätzen sowie in ihrer noch unpublizierten Dissertation muslimisch-osmanischen Kriegsgefangenen im Alten Reich widmet.14 Dieser Beitrag wird indes zeigen, dass sich Teutschmanns Status 1609 signifikant änderte: Der Kriegsgefangene ging durch eine Schenkung in die private Sklavenökonomie über, was u. a. eine signifikante Erhöhung des Lösegeldes zur Folge hatte.15 Für den Freikauf deutschsprachiger Kombattanten, die auf dem Balkan in osmanische Kriegsgefangenschaft geraten waren, fehlen hingegen Studien. Lediglich Elisabeth Watzka-Pauli analysiert in ihrer Dissertation das Fundraising sowie die organisierten Gefangenenfreikäufe des österreichischen Trinitarierordens.16 Watzka-Paulis Perspektive ist jedoch die des Ordens, folglich erscheinen Gefangene zumeist als zur Passivität verurteilte Objekte. Die Autorin untersucht zunächst in extenso Genese und Strukturen des Ordens, um dann im eigentlichen Hauptteil die 31 Befreiungsunternehmungen der Trinitarier chronologisch zu schildern. Der Mangel an Studien ist nicht zuletzt auf die diffizile Quellenlage zurückzuführen. Wie Daniel Hershenzon treffend betont, schu⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 2001; sowie Magnus Ressel: Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen. Nordeuropa und die Barbaresken, Berlin/Boston 2012. 13 Géza Dávid/Pál Fodor (Hg.): Ransom Slavery Along the Ottoman Borders (Early Fifteenth–Early Eighteenth Centuries), Leiden 2007. 14 Manja Quakatz: „… denen Sclaven gleich gehalten werden“. Muslimisch-osmanische Kriegsgefangene im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1683–1699), in: WerkstattGeschichte 66/67 (2014), S. 97–118, hier S. 107; sowie dies.: Die Sesselträger des Kurfürsten. Muslimisch-osmanische Gefangene aus dem Osmanischen Reich als religiöse Minderheit im München des späten 17. Jahrhunderts, in: Eric Piltz/Gerd Schwerhoff (Hg.): Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter, Berlin 2015, S. 387–411. 15 Salvatore Bono unterscheidet in seinen Publikationen zur Mittelmeersklaverei zwischen staatlichen und privaten Sklaven. Siehe z.B. Salvatore Bono: Schiavi. Una storia mediterranea (XVI– XIX secolo), Bologna 2016. 16 Elisabeth Watzka-Pauli: Triumph der Barmherzigkeit. Die Befreiung christlicher Gefangener aus muslimisch dominierten Ländern durch den österreichischen Trinitarierorden 1690–1783, Göttingen 2016. 16
Der Preis der Freiheit
fen die Lösegeldverhandlungen „an immense amount of paperwork“, eine systematische Suche nach einschlägigen Archivalien ist jedoch zeitintensiv.17 Entsprechend richtete die Geschichtswissenschaft ihr Augenmerk bisher vor allem auf die Berichte, die ehemalige Gefangene wie Hans Schildtberger oder Michael Heberer Jahre beziehungsweise Jahrzehnte nach ihrer Freilassung publizierten.18 Teutschmann hingegen veröffentlichte nach seinem Freikauf keinen Bericht über seine Jahre im Osmanischen Reich, weshalb ihn die Geschichtswissenschaft bis dato nicht wahrgenommen hat. Es existiert lediglich ein sechsseitiger Aufsatz des Saarbrücker Heimatforschers August Hermann Jungk aus dem Jahr 1909, der wissenschaftlichen Standards in keiner Weise genügt.19 Die Akte zur Causa Teutschmann wird im Landesarchiv Saarbrücken verwahrt und hat einen Umfang von 106 beidseitig beschriebenen Blättern. Sie enthält vierzehn Briefe Teutschmanns, außerdem zahlreiche von Kanzler Hirschbach verfasste Briefkonzepte sowie an ihn adressierte Schreiben verschiedener Akteure. Wie ein zeitgenössischer Vermerk belegt, ist nur rund ein Viertel des ursprünglich von Kanzler Hirschbach verwahrten Schriftguts erhalten geblieben, das im August 1610 stattliche „221. Stückh“ umfasste.20 Ein Teil des Schriftguts wurde wohl erst im Laufe des 19. Jahrhunderts kassiert, denn im Landeshauptarchiv Koblenz ist eine von Archivrat Heinrich Beyer (1806–1886) angefertigte Abschrift eines Briefes von Bernhard Teutschmann an seinen Vater Hans überliefert (6. Juni 1606).21 Das Original dieses Briefs findet sich nicht in ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 17 Daniel Hershenzon: The Captive Sea. Slavery, Communication, and Commerce in Early Modern Spain and the Mediterranean, Philadelphia 2018, S. 75; die Rechercheproblematik betont Martin Scheutz: „Ist mein schwalben wieder ausbliben“. Selbstzeugnisse von Gefangenen in der Frühen Neuzeit, in: Comparativ 13 (2003), S. 189–210, hier S. 189 f. 18 Siehe exemplarisch Michael Weithmann: Ein Baier unter „Türcken und Tartaren“. Hans Schiltbergers unfreiwillige Reise in den Orient, in: Hedda Reindl-Kiel/Seyfi Kenan (Hg.): Deutsch-türkische Begegnungen. Festschrift für Kemal Beydilli, Berlin 2013, S. 63–87; Claudia Ulbrich: „Hat man also bald ein solches Blutbad, Würgen und Wüten in der Stadt gehört und gesehen, daß mich solches jammert wider zu gedenken…“. Religion und Gewalt in Michael Heberer von Brettens „Aegyptiaca Servitus“ (1610), in: Kaspar von Greyerz (Hg.): Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500–1800), Göttingen 2006, S. 85–108; sowie Peter Burschel: Verlorene Söhne. Bilder osmanischer Gefangener in der Frühen Neuzeit, in: Birgit Emich/Gabriela Signori (Hg.): Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2009, S. 157–182. 19 August Hermann Jungk: Ein Saarbrücker in türkischer Gefangenschaft (Bernhard Teutschmann 1603–11), in: Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend 9 (1909), S. 265–270. 20 Der Vermerk findet sich auf der letzten Seite eines Schreibens von Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 22. August 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 95v. 21 Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 6. Juni 1606 [Abschrift]. Landeshauptarchiv Koblenz (künftig: LHA), Best. 700,060, Heinrich Beyer (1806–1886), Sachakte 23. 17
Thomas Dorfner
der Saarbrücker Akte. Trotz der substanziellen Kassation eignet sich der Fall Teutschmann für eine „aus großer Nähe vorgenommene Untersuchung“, um allgemeinere Aussagen über den Freikauf von Kombattanten treffen zu können.22 In diesem Aufsatz wird zunächst ein knapper Blick auf Teutschmanns Vita geworfen. Anschließend werden Teutschmanns Selbstdarstellungsstrategien sowie die Alteritätsdiskurse, auf die er zurückgriff, um osmanische Akteure zu charakterisieren, analysiert.23 In einem dritten Schritt werden Kanzler Hirschbachs intensive Bemühungen rekonstruiert, ein Netzwerk einflussreicher Vermittler und Fürsprecher zu etablieren, um den gräflichen Untertan freikaufen zu können.24 Im Anschluss wird das ,Ranzion holenʻ, also die gä ngige Praxis analysiert, Gefangene bzw. Sklaven für eine gewisse Zeit freizulassen, damit sie das vereinbarte Lösegeld selbst abholten und überreichten. Der Aufsatz wird mit der Frage abgerundet, welchen Preis Teutschmann nach seiner Rückkehr für seine Freiheit zahlen musste.
Die Odyssee vor der Gefangenschaft. Eine Annäherung an Teutschmanns Vita Teutschmann erhielt im April 1605 – nach über zweieinhalb Jahren Haft – die Erlaubnis, Briefe zu schreiben, um Geld für seinen Freikauf aufzubringen. Die osmanischen Amtsträger erachteten ihn für wertvoll genug, um ihn Freikaufbzw. Auswechslungsverhandlungen beginnen zu lassen.25 Teutschmanns erster Brief, verfasst am 10. April in der Festung Yedikule, ist an seine Eltern adressiert und wurde u. a. durch den Straßburger Kaufmann Matthias Karcher nach Saarbrücken transportiert.26 Für Teutschmann stellte die Kontaktaufnahme mit seinen Eltern allerdings eine enorme Herausforderung dar: Einerseits musste er ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 22 Carlo Ginzburg: Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 169–192, hier S. 181. 23 Grundlegend Almut Höfert: Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich, Frankfurt a. M. 2003. 24 Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 13. November 1606. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 31v. 25 Unbemittelten Kriegsgefangenen wurde ein Lösegeldverfahren nicht selten verwehrt. Vgl. Scheutz: „Ist mein schwalben wieder ausbliben“ (wie Anm. 17), S. 198. 26 Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 10. April 1605, LA Saarbrücken. Best. NassauSaarbrücken II Nr. 2883, 9r–11v. 18
Der Preis der Freiheit
seine Eltern, auf deren finanzielle Unterstützung er nun angewiesen war, um Verzeihung bitten, dass er sie „in 9 gantzer jahr nitt […] mit einem Wortt schrifftlich begrüßet habe“, ihnen also keinen einzigen Brief geschrieben hatte.27 Andererseits musste er sie über seinen Lebensweg zwischen 1596 und 1605 informieren – ein Glücksfall für HistorikerInnen. Vater Hans, ein Goldschmied, hatte 1594 und 1595 erhebliches ökonomisches Kapital aufgebracht, um Bernhard eine Karriere im Fürstendienst zu ermöglichen.28 Nachdem Bernhard in Metz Französisch erlernt und sein Latein perfektioniert hatte, sandte ihn der Vater 1596 nach Speyer, um am Reichskammergericht bei einem Prokurator oder Advokat juristische Kenntnisse zu erwerben.29 Allerdings reiste Bernhard nach nur kurzem Aufenthalt in Speyer eigenmächtig weiter nach Heidelberg, worüber er seinen Vater bereits nicht mehr informierte. 1605 rechtfertigt er seine rasche, eigenmächtige Weiterreise damit, dass aufgrund einer Seuche die „Doctores einer da, der andre dort hin verreist gewesen“ seien.30 Wie der Gemeine Bescheid des Reichskammergerichts vom 9. August 1596 belegt, grassierte zu dieser Zeit in Speyer tatsächlich eine Seuche, weshalb die wenigen in der Stadt verbliebenen Gerichtsangehörigen zu umfangreichen Vorsichtsmaßnahmen aufgerufen wurden.31 Mit der Weiterreise in die Residenz- und Universitätsstadt Heidelberg verband Teutschmann die Hoffnung, in die Dienste eines Adeligen treten zu können. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch weder in Heidelberg noch in den anschließend bereisten Städten Tübingen, Nürnberg sowie Regensburg. Erst am Kaiserhof in Wien gelang es Teutschmann, in die Dienste eines „Oestereichische[n] Freyherr[n] von Seyendorff [sic!]“ zu treten, den er auf dessen Bildungsreise nach Italien begleitete.32 ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 27 Ebda., 9r. 28 Teutschmanns Geburtsjahr konnte nicht ermittelt werden, da die evangelischen Kirchenbücher der Stadt Saarbrücken erst ab dem Jahr 1622 überliefert sind. 29 Zur Bedeutung Speyers um 1600 siehe Anette Baumann/Joachim Kemper (Hg.): Speyer als Hauptstadt des Reiches. Politik und Justiz zwischen Reich und Territorium im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin/Boston 2016. 30 Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 10.4.1605, LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 9r. 31 Peter Oestmann (Hg.): Gemeine Bescheide, Teil 1, Reichskammergericht 1497–1805, Köln/ Weimar/Wien 2013, S. 292–293. 32 Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 10.4.1605, LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 9r. Möglicherweise handelt es sich um Johann Georg von Zinzendorf, der 19
Thomas Dorfner
Die Reisegruppe hielt sich zunächst ein Jahr in der renommierten Universitätsstadt Padua auf. Während dieser Zeit sei er „so viel mihr möglich gewesen meinen Studiis“ nachgegangen.33 Wie diese verklausulierte Bemerkung bereits vermuten lässt, war Teutschmann nicht an der Universität Padua immatrikuliert.34 Im Anschluss unternahm die Gruppe eine eineinhalbjährige Italienrundreise, die – nach Aufenthalten in Florenz, Siena, Rom und Neapel – in Mailand ein abruptes Ende fand. Sein Herr sei „erkrancktt und mit todt abgangen“, woraufhin Teutschmann allein nach Padua zurückkehrte, um eine neue Anstellung zu finden, was jedoch misslang.35 Im Februar 1599 hatte Teutschmann seine Ersparnisse aufgebraucht und kehrte mittellos nach Wien zurück. Am Kaiserhof fand er dank seiner Sprachkenntnisse rasch eine neue Anstellung, die ihn jedoch in das Kriegsgeschehen auf dem Balkan verwickelte. Er diente ab Sommer 1599 einem „Italischen Graffen“ als „Dollmetsch“ und war als ziviler Bediensteter mittelbar am Gefecht um die Festung Pápa (1600) und an der Eroberung Stuhlweißenburgs (Székesfehérvár, 1601) beteiligt.36 Als osmanische Truppen im August 1602 versuchten, Stuhlweißenburg zurückzuerobern, befand sich Teutschmann unter den Belagerten. Er war wenige Monate zuvor in den Dienst des Stadtkommandanten, Johann Markus Graf Isolano, gewechselt.37 Als die Stadt am 29. August 1602 an die Osmanen übergeben wurde, töteten die Belagerer einen Teil der einfachen kaiserlichen Soldaten, Teutschmann hingegen hatte das Glück mit den Offizieren in Gefangenschaft geführt zu
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ zu dieser Zeit in Padua immatrikuliert war. Vgl. Elisabetta Dalla Francesca Hellmann (Hg.): Matricula iuristarum (1546–1605), Padua 2007, S. 418. 33 Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 10.4.1605, LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 9r. 34 Vgl. Lucia Rossetti (Hg.): Matricula Nationis Germanicae Artistarum in Gymnasio Patavino (1553–1721), Padua 1986; sowie Dalla Francesca Hellmann (Hg.): Matricula iuristarum (wie Anm. 32). 35 Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 10. April 1605. LA Saarbrücken. Best. NassauSaarbrücken II Nr. 2883, 9v. 36 Ebda., 9v. Die Festung Pápa wurde von französischen Truppen gehalten. Vgl. Caroline Finkel: French Mercenaries in the Habsburg-Ottoman War 1593–1606. The Desertion of the Papa Garrison to the Ottomans in 1600, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 55 (1992), S. 451–471. 37 Der ADB-Artikel zu Johann Ludwig Graf Isolano enthält einige biographische Anmerkungen zu dessen Vater, Graf Johann Markus. Herrmann Hallwich: Art. Johann Ludwig Graf Isolano, in: ADB 14 (1881), S. 637–640. 20
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werden.38 Er wurde zunächst über Ofen nach Belgrad transportiert, wo er ein Jahr lang Zwangsarbeit leistete. 1603 verlegte man ihn gemeinsam mit weiteren Gefangenen in die Festung Yedikule bei Istanbul, die im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einem Gefängnis für hochrangige Gefangene geworden war.39 Der Friedensvertrag von Zsitvatorok beendete am 11. November 1606 zwar den 13-jährigen Krieg zwischen Kaiser und Sultan, veränderte Teutschmanns Situation allerdings in keiner Weise. Die Kriegsparteien hatten in Artikel VII einen Gefangenenaustausch vereinbart, hiervon waren jedoch alle Gefangenen explizit ausgenommen, die in Haft bereits zugesichert hatten, ein Lösegeld zu zahlen.40 Teutschmann hatte spätestens im April 1605 eine entsprechende Lösegeldzusage über zweihundert Ungarischen Dukaten gegeben bzw. geben müssen – zu einer Zeit, als Sultan Ahmed I. Kaiser Rudolf II. durch mehrere Friedensinitiativen signalisierte, dass er an einer Beendigung des Kriegs interessiert sei.41 Es ist naheliegend, dass der Kommandant der Festung Yedikule seinen zukünftigen Kapitalgewinn sichern wollte, ehe in einem Friedensvertrag ein allgemeiner Gefangenenaustausch festgeschrieben wurde. Teutschmann musste somit auch nach Kriegsende seine Angehörigen bzw. seinen Landesherrn überzeugen, ihn freizukaufen. Die Höhe des Lösegelds entsprach nicht dem Gebrauchswert eines Sklaven, sondern wurde auf Grundlage von Teutschmanns Stand, Bildung und seiner Netzwerke festgelegt. Mit Michel Fontenay kann Teutschmann allerdings als „esclave de puissance“ bezeichnet
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 38 Joseph von Hammer-Purgstall: Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd. 2, 1520–1623, Pest 1834, S. 653. 39 Özgüven: Early Modern Military Architecture (wie Anm. 1), S. 743; 1622 wurde beispielsweise Sultan Osman II. in Yedikule inhaftiert und ermordet. Vgl. Gabriel Piterberg: An Ottoman Tragedy. History and Historiography at Play, Berkeley 2003, S. 28. 40 „Qui autem jam cum suis de redemptione concluserunt, id solvent”. Gabriel Noradounghian (Hg.): Recueil d'actes internationaux de l'Empire Ottoman, Bd. 1, 1300–1789, Paris 1897, S. 105. Zu Genese und Ratifikation des Vertrags siehe Gustav Bayerle: The Compromise at Zsitvatorok, in: Archivum Ottomanicum 6 (1980), S. 5–53. 41 Douglas H. Howard: Das Osmanische Reich, 1300–1924, Darmstadt 2018, S. 174–179; zu den Friedensinitiativen Sultan Ahmets siehe József Zachar: Der „Lange Krieg“ zwischen dem Osmanischen Reich und dem Habsburgerreich. Von der Kriegserklärung bis zum Friedensschluss 1593–1606, in: János Barta/Manfred Jatzlauk/Klára Papp (Hg.): „Einigkeit und Frieden sollen auf Seiten jeder Partei sein“. Die Friedensschlüsse von Wien (23.06.1606) und Zsitvatorok (15.11.1606), Debrecen 2007, S. 229–244, hier S. 241–242. 21
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werden.42 Sollte es ihm nicht gelingen, mittelfristig das Lösegeld aufzubringen, war die Gefahr groß, durch Verkauf bzw. Schenkung zu einem Privatsklaven zu werden. Dieser Gefahr war sich Teutschmann bewusst, wie seine Aussage aus dem September 1609 belegt: Falls er nicht bald auf freien Fuß komme, „so werde ich […] in frembde hende verschenkt unnd alß dan bin ich verlohrn“.43
„Darmit ich auß dieser viehischen Dienstbarkeit eximirt werde“. Narrative Strategien und Alteritätskonstruktionen in Teutschmanns Briefen Die Saarbrücker Akte enthält, wie erwähnt, vierzehn Briefe Teutschmanns; hiervon sind neun Briefe an Kanzler Hirschbach, drei an Graf Ludwig II. sowie zwei an Teutschmanns Eltern adressiert. In der Akte finden sich jedoch zahlreiche intertextuelle Verweise, die belegen, dass die Anzahl der Briefe, die Teutschmann während seiner Haft versenden durfte, mindestens drei Mal so hoch gewesen sein muss. Teutschmann erwähnt beispielsweise in einem Brief an Kanzler Hirschbach, er habe auch den Saarbrücker Hofprediger Gebhard Beilstein angeschrieben und um Hilfe gebeten.44 Der kaiserliche Gesandtschaftssekretär Bernardino Rossi, auf den noch zurückzukommen sein wird, betonte 1607 gegenüber Hirschbach, der Gefangene sei ihm aus den „villen seinen schreiben“ bereits gut bekannt.45 Die hohe Zahl eigenhändiger Briefe Teutschmanns ist bereits ein erster Beleg, dass auch Gefangene niederer sozialer Herkunft in den Lösegeldverhandlungen eine aktive Rolle spielen konnten. Allerdings war Teutschmanns agency mit seinen finanziellen Rücklagen verknüpft. Während seiner Haft in Yedikule musste er die Papierbögen bei den Aufsehern kaufen und ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 42 Michel Fontenay: Esclaves et/ou captifs. Préciser les concepts, in: Wolfgang Kaiser (Hg.): Le commerce des captifs. Les intermédiaires dans lʼéchange et le rachat des prisonniers en Méditerranée, XVe-XVIIIe siècle, Rom 2008, S. 15–24, hier S. 22. 43 Bernhard Teutschmann an Kanzler Hirschbach, 9. September 1609. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 77r. 44 Bernhard Teutschmann an Kanzler Hirschbach, 15. Juni 1606. LA Saarbrücken. Best. NassauSaarbrücken II Nr. 2883, 24r. Zu Hofprediger Beilstein siehe Hans Börst/Fritz Kirchner/Karl Rug: Die evangelischen Geistlichen in und aus der Grafschaft Nassau-Saarbrücken, in: ZGS 23/24 (1975/76), S. 43 f. 45 Bernardino Rossi an Matthias von Hirschbach, 16. März 1607. LA Saarbrücken. Best. NassauSaarbrücken II Nr. 2883, 38r 22
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griff dabei auf Almosen zurück, die Kaiser Rudolf II. sowie Graf Isolano ihm und seinen Mitgefangenen hatten zukommen lassen.46 Teutschmann war im schriftlichen Umgang mit administrativen Apparaten zweifelsohne erfahren, wie bereits die korrekte Verwendung der Anrede- und Devotionalformeln in den Briefen an Ludwig II. sowie dessen Kanzler zeigt.47 Ein noch stärkerer Beleg ist jedoch der geschickte, auf den jeweiligen Adressaten abgestimmte Einsatz von Textgattungen, narrativen Strategien und Alteritätskonstruktionen. Bei den ersten beiden an seinen Landesherren geschickten Schreiben handelt es sich um Suppliken.48 Entsprechend begab sich Teutschmann in die Rolle des demonstrativ unterwürfigen Untertanen, um einerseits rhetorisch die Handlungsoptionen Graf Ludwigs zu überhöhen.49 Es gebe, so Teutschmanns Beteuerung, „nach Gott dem Allmechtigen kein bössern helffer“ als Ludwig II., um ihn aus seiner Not zu retten.50 Andererseits appelliert Teutschmann wiederholt an die clementia des Grafen, indem er beispielsweise dessen angeborene „Mültigkeit, gütte auch barmhertzigkeit“ rühmte.51 Bei der Beschreibung osmanischer Akteure, die ebenfalls dazu diente, Ludwig II. zum Handeln zu animieren, griff Teutschmann auf den um 1600 gängigen „Feindbilddiskurs“ zurück.52 Er betont beispielsweise, dass die „über alle massen ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 46 Der Kauf von „etlichen bogen Papier“ wird geschildert im Brief von Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 6. Juni 1606. LHA Koblenz, Best. 700,060, Heinrich Beyer (1806–1886), Sachakte 23. 47 Die Relevanz korrekter Anrede- und Devotionalformeln für den Erfolg einer Supplik betont Otto Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 149–174, hier S. 153 48 Zum Supplikenwesen siehe Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hg.): Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), Berlin 2005. 49 Zum sprachlichen „Standardrepertoire frühneuzeitlicher Suppliken“ siehe Sabine Ullmann: „um der Barmherzigkait Gottes willen“. Gnadengesuche an den Kaiser in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Rolf Kießling/dies. (Hg.): Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Konstanz 2005, S. 161–183, hier S. 167. 50 Bernhard Teutschmann an Graf Ludwig II., 3. März 1607. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 41r. 51 Bernhard Teutschmann an Graf Ludwig II., 30. September 1607. LA Saarbrücken. Best. NassauSaarbrücken II Nr. 2883, 48r. Zur Herrschertugend clementia siehe Veronika Pokorny: Clementia Austriaca. Studien zur Bedeutung der clementia Principis für die Habsburger im 16. und 17. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 86 (1978), S. 310–364. 52 Almut Höfert: Alteritätsdiskurse. Analyseparameter historischer Antagonismusnarrative und ihre historiographischen Folgen, in: Gabriele Haug-Moritz/Ludolf Pelizaeus (Hg.): Repräsenta23
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Tyrannische Tractation“, die der Sultan zu verantworten habe, in der Weltgeschichte ihresgleichen suche: „Kein Phalaris, kein Diocletianus, kein Maxentius, ja kein ander Tyrann[,] so grewlich er auch gewest ist, hie in diesem Leben“, habe Gefangenen ein derart schweres Joch auferlegt.53 Teutschmann begnügte sich mit einem Beispiel für die inhumane Behandlung seiner Person, um zu verhindern, dass die Supplik zu weitläufig geriet: Er habe die zweite Hälfte des Jahres 1606 als Ruderer auf einer Galeere verbringen müssen. Dieses Beispiel war einerseits klug gewählt, stuften doch seine Zeitgenossen die Galeerenhaft als inhumanste Art der Gefangenschaft ein.54 Andererseits riskierte Teutschmann mit diesem Beispiel, dass die Zeitgenossen an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln könnten, da es von einer Galeere nur selten ein Entkommen gab.55 Graf und Kanzler jedenfalls waren irritiert, dass Teutschmann nach sechs Monaten auf einer Galeere zurück in die Festung Yedikule gebracht worden war. Nach einigen Recherchen konnte Hirschbach Graf Ludwig jedoch mitteilen, dass er mittels „anderer gefangenen Bericht“ Teutschmanns Aussage verifiziert habe.56 Teutschmanns Selbstdarstellungsgeschichte ist jedoch keineswegs eindimensional, wie seine Ausführungen zu den berüchtigten antiken Tyrannen belegen.57 Er präsentierte sich Ludwig II. auch als umfassend gebildeter, schrifterfahrener und damit wertvoller Untertan. Die Relevanz dieser Selbstdarstellung wird offenbar, wenn man das Angebot betrachtet, dass er seinem Landesherrn unterbreitete. Falls Ludwig II. Geld zur Freikaufsumme beisteuere, werde er nach seiner Rückkehr diese Summe nicht nur vollständig zurückzahlen, sondern die ihm erwiesene Gnade zudem in gräflichen Diensten abarbeiten. Dass es sich hierbei nicht um eine leere, der Textgattung „Supplik“ geschuldete Floskel handelte, wird später noch zu zeigen sein. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ tionen der islamischen Welt im Europa der Frühen Neuzeit, Münster 2010, S. 21–40, hier S. 30. 53 Bernhard Teutschmann an Graf Ludwig II., 3. März 1607. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 41r. 54 Watzka-Pauli: Triumph der Barmherzigkeit (wie Anm. 16), S. 26. 55 Dies gilt vice versa auch für muslimische Sklaven auf Galeeren christlicher Herrscher. Siehe Quakatz: „… denen Sklaven gleich“ (wie Anm. 14), S. 117. 56 Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 19. Juli 1608. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 50r. 57 Der Begriff „Selbstdarstellungsgeschichte“ stammt von Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1973, S. 67. 24
Der Preis der Freiheit
Nimmt man Teutschmanns Briefe an Matthias von Hirschbach in den Blick, wird rasch offenbar, dass der Feindbilddiskurs dort faktisch nicht existent ist, was jedoch nicht verwundert. Kanzler und Gefangener mussten im Laufe der jahrelangen Verhandlungen zahlreiche Optionen und Strategien erörtern, wie Letzterer die Freiheit erlangen könnte. Bei diesen Beratungen wären antiosmanische Invektiven, wie sie Teutschmann in seinen Suppliken an Ludwig II. in extenso gebrauchte, dysfunktional gewesen. In seinen Briefen an Hirschbach bezeichnet Teutschmann daher Sultan Ahmet I. als „Turggischen Kheyser“58 und hob ihn auf eine Stufe mit dem „Christlichen Kheyser“.59 An die Stelle des Feindbilddiskurses setzte Teutschmann phasenweise den Patronagediskurs, um Kanzler Hirschbach dauerhaft als Vermittler bzw. Fürsprecher bei Graf Ludwig II. zu verpflichten.60 Die asymmetrische Sozialbeziehung zwischen Kanzler und gefangenem Untertan erforderte von Teutschmann zudem ein starkes Gefühlsmanagement. Die diskursiven „Regeln des Sagbaren“, die er zweifelsohne gut kannte, erforderten es, seine Dankbarkeit für Hirschbachs Bemühungen ausführlich zur Darstellung zu bringen.61 Enttäuschung oder gar Verärgerung über Verhandlungsrückschläge durfte er gegenüber Hirschbach hingegen nicht äußern. Die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn war dagegen von gänzlich anderen Regeln des Sagbaren geprägt. Bernhard brachte in den Briefen vom 6. Juni 1606 bzw. 23. Januar 1607 seine zunehmende Verärgerung über die ausbleibende Unterstützung durch Vater Hans, der ihm weder ein „Trostbrieflein“ noch eine „Zehrung“ geschickt hatte, „frey herauß“ zu Papier.62 Zugleich argumentierte er gegen eine eschatologische Lesart seiner Haft an. Wie Peter Burschel anhand gedruckter Gefangenenberichte anschaulich gezeigt hat, deuteten viele Zeitgenossen eine Inhaftierung durch Nichtchristen als Strafe Gottes für begangene Sünden.63 Teutschmann bezeichnet sich jedoch kein einziges Mal ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 58 Bernhard Teutschmann an Kanzler Hirschbach, 12. Juli 1607, LA Saarbrücken. Best. NassauSaarbrücken II Nr. 2883, 45v. 59 Bernhard Teutschmann an Kanzler Hirschbach, 9. September 1609, LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 76r. 60 Zu vormodernen Patron-Klient-Beziehungen siehe Guido O. Kirner: Politik, Patronage und Gabentausch. Zur Archäologie vormoderner Sozialbeziehungen in der Politik moderner Gesellschaften, in: Berliner Debatte Initial 14 (2003), S. 168–183. 61 Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main 22018, S. 19–21. 62 Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 23. Januar 1607. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 32v. 63 Burschel: Verlorene Söhne (wie Anm. 18), S. 171–173. 25
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als Sünder, sondern versucht, seinem Leiden auf andere Weise Sinn zuzuschreiben. Beispielsweise belehrt er seinen Vater, dass die Inhaftierung „zu keiner Schand, sondern zu Ruhm u. Ehren [gereiche, T.D.], dieweil sie ob Errettung beides des Vaterlandes u. Bekenntnis des christlichen Glaubens geschicht“.64
Abb. 2: Die neue Moschee, Yeni Cami, in Istanbuls Hafen von Eminönü um 1895 [Abb.: Photochrom Prints Collection der Library of Congress. Lizenz CC BY 2.0 via Wikimedia Commons]
Einige Tage nachdem Teutschmann diese Zeilen verfasst hatte, musste er seinen sechsmonatigen Dienst als Ruderer auf einer Galeere antreten. Bei seiner Rück⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 64 Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 6. Juni 1607. LHA Koblenz, Best. 700,060, Heinrich Beyer (1806–1886), Sachakte 23; zu frühneuzeitlichen Ehrkonzepten siehe Klaus Schreiner/ Gerd Schwerhoff: Verletzte Ehre. Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: Dies. (Hg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/ Weimar/Wien 1995, S. 1–28. 26
Der Preis der Freiheit
kehr in die Festung Yedikule am 20. Januar 1607 hegte er die Hoffnung, entweder das gesamte Lösegeld oder zumindest eine gewisse Summe vorzufinden. Diese Hoffnung wurde jedoch enttäuscht, weshalb er in seinem drei Tage darauf verfassten Brief die Grenzen des Sagbaren mehrfach verletzte. Er schmähte Hans Teutschmann beispielsweise als Vater mit einem „steinernen unnd eissernen herzen“, ein eindeutiger Verstoß gegen das 4. Gebot.65 Obwohl Teutschmann noch dreieinhalb Jahre in Haft blieb, ist kein weiterer Brief an seinen Vater überliefert. Er war seit Spätsommer 1609 überzeugt, dass seine Eltern verstorben sein müssen, weshalb er sich als „armer Weiß“ bezeichnete und seine Hoffnungen fortan ganz auf Kanzler Hirschbach setzte.66 Wie jedoch ein Brief des Vaters an Kanzler Hirschbach belegt, war Hans Teutschmann zumindest Anfang Juni 1609 noch am Leben.67
Vermittler und Fürsprecher gesucht. Die Netzwerkarbeit von Kanzler Hirschbach (1606–1610) Kanzler Hirschbach wurde Ende Juni 1606 über Teutschmanns Gefangenschaft informiert.68 Er hielt sich zu dieser Zeit am Kaiserhof in Prag auf, um eine Lehnsangelegenheit zu regeln, als Ludwig II. ihm Abschriften von Teutschmanns Briefen zusandte und ihn anwies, zu eruieren, wie seinem Untertan geholfen werden könne.69 Wie ein Blick auf die Chronologie der Ereignisse zeigt, verstrichen 14 Monate, ehe Ludwig II. und seine Amtsträger auf Teutschmanns Schreiben vom 10. April 1605 reagierten. Dieser Phasenverzug ist auf Teutschmanns Eltern zurückzuführen, die zunächst vergeblich versucht hatten, in ihrem per⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 65 Bernhard Teutschmann an Hans Teutschmann, 23. Januar 1607. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 32r. 66 Bernhard Teutschmann an Kanzler Hirschbach, 9. September 1609. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 77r. 67 Hans Teutschmann an Kanzler Hirschbach, 3. Juni 1609. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 67r. 68 Graf Ludwig II. an Kanzler Hirschbach, 10. Juni 1606. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 26r. 69 Zu den Lehnsinvestituren am Kaiserhof siehe Thomas Dorfner: Zwei Rituale, sie alle zu binden. Überlegungen zu den Lehnsinvestituren am Kaiserhof (1650–1750), in: Josef Bongartz u. a. (Hg.): Was das Reich zusammenhielt. Deutungsansätze und integrative Elemente, Köln/Weimar/ Wien 2016, S. 39–53. 27
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sönlichen Umfeld das Lösegeld aufzubringen, das zu dieser Zeit zweihundert Ungarische Dukaten betrug.70 Teutschmanns Fall bestätigt somit Bernhard R. Kroeners Feststellung, Lösegeldforderungen hätten die Angehörigen „nicht selten an den Abgrund eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs“ geführt.71 An Hirschbachs Maßnahmen im Sommer 1606 lässt sich deutlich ablesen, dass er zunächst weder über das spezifische Wissen noch über das Netzwerk verfügte, um Lösegeldverhandlungen führen zu können. Er hörte sich sowohl am Prager Hof als auch in Wien nach Vermittlern um und wurde auf den kaiserlichen Gesandtschaftssekretär in Venedig, Abbate Bernardino Rossi, aufmerksam gemacht, der in der Vergangenheit kaiserliche Almosen an die in Yedikule Inhaftierten weitergeleitet hatte.72 Hirschbachs Kontaktaufnahme ist zwar nicht überliefert, aus Rossis Antwortschreiben geht jedoch dessen Bereitschaft hervor, sein weitgespanntes Netzwerk für den Kanzler sowie für Teutschmann zu aktivieren.73 Die Bekanntschaft mit Abbate Rossi eröffnete Hirschbach den Kontakt zu „relevanten Dritten“, beispielsweise Kaufleuten, die das Lösegeld transferieren, sowie gut vernetzten Experten in Istanbul, die das Lösegeld übergeben konnten.74 Im Sommer 1607 sah es daher vorübergehend so aus, als ob Teutschmann zeitnah freigekauft werden könnte: Ludwig II. hatte angesichts der Finanznot von Teutschmanns Eltern die zweihundert Ungarischen Dukaten bereitgestellt, obwohl er stets eine „Ledigmachung ohn entgeldt“, das heißt einen Austausch gegen einen gefangenen Osmanen, präferierte.75 Das Lösegeld sollte ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 70 Der ungarische Goldgulden bzw. Dukat war im 16. Jahrhundert in ganz Europa als Währung anerkannt. Vgl. János Buza: Der Wechselkurs des ungarischen und türkischen Dukaten in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Rainer Gömmel/Markus A. Denzel (Hg.): Weltwirtschaft und Wirtschaftsordnung, Stuttgart 2002, S. 25–44, hier S. 25. 71 Bernhard R. Kroener: Der Soldat als Ware. Kriegsgefangenenschicksale im 16. und 17. Jahrhundert, in: Heinz Duchhardt/Patrice Veit (Hg.): Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Theorie – Praxis – Bilder, Mainz 2000, S. 271–295, hier S. 274. 72 Zu Rossi siehe Jan Paul Niederkorn: Kaiser Rudolf II., ein krimineller Botschafter und Dürers „Marter der zehntausend Christen“, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 10 (2008), S. 128–139. 73 Exemplarisch Bernardino Rossi an Kanzler Hirschbach, 16. März 1607. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 38r–38v. 74 In Anlehnung an Boris Holzer: Netzwerke, Bielefeld 22010, S. 19; sowie an Michael Borgolte: Experten der Fremde. Gesandte in interkulturellen Beziehungen des frühen und hohen Mittelalters, in: Le relazioni internazionali nellʼalto medioevo, Spoleto 2011, S. 945–992. 75 Graf Ludwig II. an Kanzler Hirschbach, 10. Juni 1606. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 26r. 28
Der Preis der Freiheit
in Istanbul von Andrea Orlandi übergeben werden, jedoch erst, nachdem Teutschmann die Freiheit erlangt hatte. Hirschbach und Rossi hingegen berieten im Juni 1607 über Praktiken, mit denen sichergestellt werden könne, dass sich nicht ein anderer Gefangener als Teutschmann ausgebe. Bei der Freilassung solle Teutschmann gefragt werden „wie sein Landtherr heisse“.76 Außerdem solle er eine Schriftprobe abgeben, die Orlandi mit einem Brief Teutschmanns aus dem Jahr 1606 abgleichen sollte. Der Freikauf kam im Sommer 1607 allerdings nicht zu Stande, mutmaßlich, weil die osmanische Seite auf ein höheres Lösegeld drängte. Teutschmann jedenfalls zeigte sich im September 1607 gegenüber Graf Ludwig II. sehr skeptisch, „auß diesem Thurm mit so geringer Summa […] ledig zu werden“.77 Kanzler Hirschbach war sich der Gefahr bewusst, dass Teutschmann mittelfristig in die Sklaverei verkauft werden könnte. Seit Juli 1608 bemühte er sich daher um hochrangige Fürsprecher, die König Matthias von Ungarn sowie Funktionsträger Kaiser Rudolfs II. dazu bewegen könnten, sich ebenfalls für Teutschmann einzusetzen. Hirschbach bat beispielsweise Fürst Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg sowie Herzog Wilhelm August von BraunschweigHarburg, sich für Teutschmann zu verwenden.78 Es liegt die Vermutung nahe, dass Hirschbach aufgrund seines niedrigen sozialen Stands am Kaiserhof nur eingeschränkt Zugang zu den hochrangigen Funktionsträgern hatte. Er vertraute daher auf Fürsprecher, die dank ihres hohen Stands die „Barrieren des Palastes“ leichter überwinden konnten, obwohl sie das Anliegen aufgrund ihrer räumlichen Distanz nur mittelbar vortragen konnten.79 Ob die kontaktierten Adeligen die erbetenen Schreiben tatsächlich versandten, muss an dieser Stelle offenbleiben. Gesichert ist hingegen, dass im Herbst 1608 Adam Freiherr von Herberstein zu Hirschbachs wichtigster Kontaktperson avancierte.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 76 Kanzler Hirschbach an Bernardino Rossi, 20. Juni 1607. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 43v. 77 Bernhard Teutschmann an Graf Ludwig II., 30. September 1607. LA Saarbrücken. Best. NassauSaarbrücken II Nr. 2883, 47r. 78 Kanzler Hirschbach an Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg, 19. Juli 1608; sowie ders. an Wilhelm August von Braunschweig-Harburg, [1609]. Beide LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 50v. bzw. 74v. 79 Arndt Brendecke: Papierbarrieren. Über Ambivalenzen des Mediengebrauchs in der Vormoderne, in: Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573 (2009), S. 7–15, hier S. 11. 29
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Herberstein führte die 110 Personen umfassende kaiserliche Großbotschaft an, die im Juni 1608 nach Istanbul aufbrach.80 Dort gelang es ihm im Oktober, bei Sultan Ahmet zehn Gefangene aus der Festung Yedikule freizubitten und mit nach Ofen zu nehmen, wo über deren Freilassung verhandelt werden sollte.81 Wie ein Vermerk von Kanzler Hirschbach belegt, war Teutschmann einer der zehn Gefangenen, die „durch des Herrn von Herbersteins Oratoren intercession […] auff die grenze befördert“ wurden.82 Die anschließenden Bemühungen, Teutschmann gegen einen in den Erblanden gefangenen Osmanen auszutauschen, scheiterten allerdings, weil kein Gefangener gefunden wurde, der dem finanziellen Wert Teutschmanns entsprach.83 Als die Großbotschaft im Herbst 1609 Ofen verließ und nach Wien zurückkehrte, befand sich Teutschmann weiterhin in osmanischer Kriegsgefangenschaft.84 Hirschbachs jahrelange, intensive Netzwerkarbeit hatte nicht die Freilassung Teutschmanns zur Folge, dessen Situation im Frühjahr 1610 prekärer war denn je: Der Pascha von Ofen verschenkte ihn im Laufe des Jahres 1609 an zwei „herrn“, wodurch sich Teutschmanns Status änderte: Er war fortan ein Sklave in Privatbesitz. Mit der Statusänderung verschlechterten sich zudem seine Aussichten, in Freiheit zu gelangen. Seine beiden Herren erhöhten das Lösegeld von zweihundert Ungarischen Dukaten (ca. vierhundert Gulden) zunächst auf sechshundert, später sogar auf zweitausend Gulden.85 Angesichts der ersten Erhöhung gelangte Graf Ludwig II. zu der Überzeugung, Teutschmann habe sich gegenüber seinen neuen Herren einen höheren Stand angemaßt. Die vermutete Verletzung der Standesgrenzen war für ihn Grund genug, seinen Kanzler ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 80 Karl Nehring: Adam Freiherrn zu Herbersteins Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel. Ein Beitrag zum Frieden von Zsitvatorok (1606), München 1983, S. 43–58. 81 Gesandtschaftssekretär Brandstätter hielt im Itinerarium fest, die zehn Personen seien „maist […] zu Stulweissenburg gefangen“ worden. Die Quelle ist ediert in Nehring: Adam Freiherrn zu Herbersteins Gesandtschaftsreise (wie Anm. 80), S. 135. Zu Brandstätters Itinerarium siehe Wolfgang Geier: Südosteuropa-Wahrnehmungen. Reiseberichte, Studien und biographische Skizzen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2006, bes. S. 63–67. 82 Kanzler Hirschbach an Martin Steppan, 20. Juni 1609. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 70r. 83 Zur Bedeutung von Rang, Alter und Gesundheitszustand bei Austauschverhandlungen von Sklaven siehe auch Salvatore Bono: Piraten und Korsaren im Mittelmeer. Seekrieg, Handel und Sklaverei vom 16. bis 19. Jahrhundert, Stuttgart 2009, S. 274 f. 84 Zur Rückreise der Großbotschaft siehe Nehring: Adam Freiherrn zu Herbersteins Gesandtschaftsreise (wie Anm. 80), S. 58. 85 Graf Ludwig II. an Kanzler Hirschbach, 21. Juli 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 90r. 30
Der Preis der Freiheit
am 21. Juli 1610 anzuweisen, Teutschmann fortan keinerlei Unterstützung mehr zu gewähren.86 Wie der Befehl verdeutlicht, standen männliche Kriegsgefangene unter doppeltem Legitimationsdruck: Sie mussten einerseits glaubhaft darlegen, nicht zum Islam konvertiert zu sein, und andererseits nachweisen, sich keinen höheren sozialen Rang zugelegt zu haben, auch wenn dieser ihre Überlebenschancen erhöhte.87 Kanzler Hirschbach erhielt den gräflichen Befehl jedoch beinahe zeitgleich mit einem Brief Teutschmanns. Letzterer teilte ihm mit, endlich nach Prag reisen zu dürfen, um sein Lösegeld persönlich abzuholen.88
Einmal von Ofen nach Prag und zurück. Teutschmann als Ranzionsholer Am 1. Juli 1610 wurde Teutschmann für „40 tag außgelaßen“, nachdem er drei (mutmaßlich christliche) Bürger Ofens überzeugt hatte, mit ihrem Vermögen für seine Rückkehr zu bürgen.89 Offenbar hatte er sich vor seiner temporären Freilassung zu einem gewissen Grad frei in Ofen bewegen dürfen und die Bürgen, deren Namen nicht überliefert sind, eigenständig für sich gewinnen können. In den Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts war es üblich, dass ein Gefangener temporär „zu seiner parthey hinüber“ durfte, um das vereinbarte Lösegeld selbst abzuholen.90 Handelte es sich bei den Kriegsparteien um christliche Mächte, mussten Gefangene niedriger sozialer Herkunft eidlich versichern, das Lösegeld vollständig zu überbringen oder sich andernfalls wieder in Gefangen-
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 86 Ebda. 87 Zum Legitimationsdruck siehe Mario Klarer: Einleitung, in: ders. (Hg.): Verschleppt, verkauft, versklavt. Deutschsprachige Sklavenberichte aus Nordafrika. Edition und Kommentar, Köln/ Weimar/Wien 2019, S. 34; den Zusammenhang von Rang und Überlebenschance betont Kroener: Soldat als Ware (wie Anm. 71), S. 294. 88 Bernhard Teutschmann an Kanzler Hirschbach, 11. Juli 1610, LA Saarbrücken. Best. NassauSaarbrücken II Nr. 2883, 88r. 89 Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 22. August 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 94r. 90 Petrus Pappus: Corpus Juris Militaris recognitum […], Oder Neu verbessertes und vermehrtes Kriegs-Recht, Frankfurt 1674, S. 435. 31
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schaft zu begeben.91 Eine derartige Eidesleistung, bei der Gott als Zeuge angerufen wurde, erwies sich jedoch in den Kriegen zwischen Kaiser und Sultan als impraktikabel.92 Beide Parteien griffen stattdessen auf Geiseln, teilweise aber auch auf Bürgen zurück, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass der Ranzionsholer wieder zurückkehrte.93 Leopold Toifls Aussage, die Osmanen hätten Soldaten niedriger sozialer Herkunft „auf Ehrenwort und gegen das Versprechen[,] mit Lösegeld zurückzukehren“, freigelassen – sie also wie adelige Offiziere behandelt –, ist somit nicht haltbar.94 Teutschmanns Reise nach Prag endete jedoch bereits in der neunzig Kilometer nordwestlich von Ofen gelegenen, von kaiserlichen Truppen gehaltene Stadt Komorn (Komárom). Nachdem er die für seine Reise erforderlichen Papiere erst nach tagelanger Wartezeit erhalten hatte, musste er nochmals nach Ofen zurückkehren, um seine Herren um eine Fristverlängerung zu bitten.95 Diese wurde gewährt, woraufhin Teutschmann über Wien nach Prag reiste, wo er in der ersten Augusthälfte 1610 Kanzler Hirschbach in dessen Wohnung die Aufwartung machen konnte. Gemäß Hirschbachs Schilderung sei Teutschmann „warlich elend und armselig gekleidet [gewesen, T.D.], ohne mantel, mit sehr zurissenen [sic!] strümpen, wol geflickten kleidern, und starcken eysern fesseln, welche Ihme den schenckel geschwellet und aufgetrieben.“96
Teutschmann musste, wie zahlreiche andere Ranzionsholer, Eisenketten tragen, die seinen Status weithin sichtbar machten. Sie schränkten seine Bewegungs⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 91 Alberico Gentili: De iure belli libri tres, Bd. II, Kap. XI, hg. v. John C. Rolfe, Oxford 1933, S. 181. Adelige Offiziere wurden, wie Kroener treffend ausführt, hingegen „auf Ehrenwort“ temporär freigelassen. Kroener: Der Soldat als Ware (wie Anm. 71), S. 274. 92 Zu frühneuzeitlichen Eiden siehe André Holenstein: Seelenheil und Untertanenpflicht. Zur gesellschaftlichen Funktion und theoretischen Begründung des Eides in der ständischen Gesellschaft, in: Peter Blickle (Hg.): Der Fluch und der Eid. Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft, Berlin 1993, S. 11–64, hier S. 12. 93 Zu Bürgen siehe auch János Varga: Gefangenenhaltung und Gefangenenhandel auf dem Batthyány-Grundbesitz im 16.–17. Jahrhundert, in: Burgenländische Heimatblätter 57 (1995), S. 145–162, hier S. 157, sowie Karl Teply: Vom Los osmanischer Gefangener aus dem Großen Türkenkrieg 1683–1699, in: Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas (32) 1973, S. 33–72, hier S. 45. 94 Toifl: Fürstenfeld im Ausnahmezustand (wie Anm. 11), S. 394. 95 Die Relevanz der Papiere wird deutlich, wenn man bedenkt, dass Graz und andere Städte Ranzionsholern den Zutritt untersagten. Vgl. Toifl: Fürstenfeld im Ausnahmezustand (wie Anm. 11), S. 394. 96 Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 22. August 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 94r. 32
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freiheit massiv ein, brachten jedoch auch einige Erleichterungen mit sich. So hatten im Königreich Ungarn Ranzionsholer, die Eisenfesseln trugen, beispielsweise ein Anrecht auf freie Beförderung.97 Für Kanzler Hirschbach erwies sich Teutschmanns Aufwartung als diffizile Gratwanderung. In seiner Rolle als Kanzler waren ihm durch den gräflichen Befehl die Hände gebunden. Er musste Teutschmann mitteilen, dass Ludwig II. seine Zusage, die zweihundert Ungarischen Dukaten zu zahlen, unlängst zurückgenommen hatte. Als Christ hingegen war Hirschbach eindeutig zur Unterstützung verpflichtet, galt Gefangenenbefreiung doch – einerseits – konfessionsübergreifend als eines der sieben Werke der Barmherzigkeit.98 Andererseits erhöhte Teutschmann den Handlungsdruck, indem er sich in der Face-to-faceInteraktion (einmal mehr) als standhafter Christ darstellte: Er habe während der Gefangenschaft stets an seinem Glauben festgehalten, wohingegen einige Mitgefangene „zu Türcken worden“, also zum Islam konvertiert seien.99 In der Realität war ein derartiger Konversionsdruck jedoch nicht gegeben. Osmanische Amtsträger unterbanden vielmehr Konversionen, die allein dazu gedient hätten, Gefangenen die Freiheit zu verschaffen. Hirschbach indes löste das Dilemma, indem er Teutschmann seinen Kutschermantel, ein neues Hemd sowie Leinenstrümpfe schenkte, anschließend jedoch sein Bedauern ausdrückte, in seiner Rolle als Kanzler nichts für ihn tun zu können. In den Tagen nach der Aufwartung reagierten sowohl einige von Teutschmanns Kontaktpersonen in Prag als auch Personen aus Hirschbachs Umfeld mit Unverständnis auf den Sinneswandel des Grafen. Ein Kaufmann, der wiederholt Geld für Hirschbach transferiert hatte, habe – so der Kanzler – „es nicht glauben wollen, daß Ich […] die 200. Ducaten nicht erlegen würde“.100 In der Wahrnehmung der Zeitgenossen hatte Ludwig II. durch die Rücknahme der 1606 gegebenen Zusage sein unbeständiges Herz offenbart und wie ein Sünder
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 97 Watzka-Pauli: Triumph der Barmherzigkeit (wie Anm. 16), S. 386. 98 Siehe hierzu auch Saracino: Engagement (wie Anm. 10), S. 142. 99 Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 22. August 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 94r. Für frühneuzeitliche Konversionen zum Islam siehe Claire Norton: Conversion to Islam in the Ottoman Empire, in: Marlene Kurz/Thomas Winkelbauer (Hg.): Glaubenswechsel, Innsbruck 2007, S. 25–39. 100 Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 22. August 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 94v. 33
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gehandelt.101 Kanzler Hirschbach erhielt außerdem den Hinweis, sein Herr und er sollten sich „solche unbestendigkeit nicht laßen nachsagen“, da sie der Reputation des Hauses Nassau-Saarbrücken höchst abträglich sei.102 Angesichts dieser Entwicklung ließ Hirschbach Mitte August die zweihundert Ungarischen Dukaten an Teutschmann auszahlen, ohne nochmals Rücksprache mit Ludwig II. zu halten.103 Die Zahlung erschien Hirschbach geboten, um den drohenden Verlust von symbolischem Kapital rasch abzuwenden. Mit den zweihundert Ungarischen Dukaten hielt Teutschmann nur ein Fünftel der Lösegeldsumme in Händen, allerdings gewährten ihm auch andere Personen Unterstützung. Ein Verwandter von Graf Isolano, in dessen Diensten er 1602 gestanden hatte, schenkte ihm einhundert Taler, ein anderer, namentlich nicht genannter Adeliger ein Pferd. Außerdem – so Hirschbach – habe ein Geistlicher ihm „verheißen, mit einem Faß Wein auszuhelffen“.104 Das Verb „verheißen“ legt die Vermutung nahe, dass Teutschmann auch mit diesen drei Unterstützern bereits während der Haft korrespondieren und deren Zusagen einholen konnte. Wann er das Lösegeld in Ofen übergab, lässt sich nicht rekonstruieren. Aus einer undatierten Aktennotiz geht jedoch hervor, dass Teutschmann die zweitausend Gulden „theils an tuch, theils an bahr geld, theils an zwo HalsUhrn erlegen“ konnte.105 Er hatte nicht nur den Wein, sondern auch das Pferd zu Geld gemacht, um für seine Herren zwei Uhren zu kaufen, die sich allgemein bei Osmanen großer Beliebtheit erfreuten.106 Teutschmanns Freilassung erfolgte schließlich im Mai 1611. Er hatte acht Jahre und neun Monate in Gefangenschaft verbracht, mithin länger als beispielsweise Michael Heberer (1586–1589) oder Michael Wild (1604–1611). ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 101 Das Zedlerʼsche Lexikon konsta ert noch 1746, „Also ist ein Unbeständiger ein Sünder, ein großer Sünder“. Siehe Art. „Unbeständige Herzen“, in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 49, Leipzig/Halle 1746, Sp. 1111. 102 Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 22. August 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 94v. 103 Teutschmann musste die Auszahlung quittieren, 20. August 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 97r–98r. 104 Kanzler Hirschbach an Graf Ludwig II., 22. August 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 95r. 105 Aktennotiz, o. D. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 101r. 106 In der diplomatischen Gabenpraxis bevorzugten osmanische Amtsträger ebenfalls kostbare Uhren. Vgl. Peter Burschel: Der Sultan und das Hündchen. Zur politischen Ökonomie des Schenkens in interkultureller Perspektive, in: Historische Anthropologie 15 (1993), S. 408– 421, hier S. 412. 34
Der Preis der Freiheit
Zahltage. Teutschmann am Hof Graf Ludwigs II. Teutschmann hatte in Prag schriftlich zusichern müssen, die ihm geliehenen zweihundert Ungarischen Dukaten an den Grafen zurückzuzahlen.107 Nach seiner Freilassung reiste er daher an den Hof Ludwigs II. in Ottweiler, wo er im Juli 1611 eintraf, um seine Schulden – mangels finanzieller Mittel – in gräflichen Diensten abzudienen.108 In den folgenden fünf Monaten hielt sich Teutschmann am gräflichen Hof auf, wurde jedoch mit keinerlei Arbeitsaufträgen bedacht. Als im Dezember 1611 eine Seuche das Hofleben zusehends beeinträchtigte, ließ der Graf Teutschmann mitteilen, dass ihm die „wiederstattung der […] für-
Abb. 3: Schloss Ottweiler in der Zeichnung von Jost Höer 1617 [Stadtarchiv Saarbrücken. Nachlass Schleiden]
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 107 Bernhard Teutschmann, 20. August 1610. LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 97r–98r. 108 Zum gräflichen Schloss in Ottweiler siehe Barbara Purbs-Hensel: Verschwundene Renaissance-Schlösser in Nassau-Saarbrücken, Saarbrücken 1975, S. 61–69. 35
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gestreckten 400 fl. oder 200. Ducaten […] gnedig erlaßen“ sei.109 Für Ludwig II. erwies sich der Freikauf Teutschmanns zwar finanziell als ein Verlustgeschäft, jedoch dürfen seine symbolischen Profite nicht übersehen werden: Teutschmann musste Ludwig II. beispielsweise in einer Audienz vor höfischem Publikum seinen Dank abstatten; außerdem war Teutschmanns bloße Anwesenheit bei Hof ein prägnanter Beleg für die clementia des Grafen. Das weitere Leben Teutschmanns lässt sich nur fragmentarisch rekonstruieren,110 ehe Mitte der 1610er Jahre die Dokumentation gänzlich abbricht. Wie das Rechnungsbuch der Stadt St. Johann belegt, in dem eine kleine finanzielle Wegzehrung für Teutschmann vermerkt ist, verließ er die Grafschaft bereits im Dezember 1611 wieder.111 Nach dem Tod von Vater Hans in der zweiten Hälfte des Jahres 1609 hatte das elterliche Haus in Saarbrücken verkauft werden müssen, die Mutter lebte seither im städtischen Spital.112 Teutschmann bemühte sich zunächst in Kursachsen, anschließend in Italien um eine Anstellung in adeligen Diensten, jedoch ohne Erfolg. Erst nach seiner Rückkehr aus Italien, die nicht datiert werden kann, fand er eine Anstellung in der Armee Herzog Maximilians von Bayern, wo er fortan als Leutnant eines Generalwachtmeisters diente.113 Teutschmann blieb letztlich der massive soziale Abstieg erspart, den die Forschung bei zahlreichen Rückkehren aus maghrebinischer Gefangenschaft nachweisen konnte.114
Resümee Soldaten niedriger sozialer Herkunft waren weder in osmanischer Kriegsgefangenschaft noch als Privatsklaven auf dem Balkan ,sozial totʻ, sondern ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 109 Bericht über den Zahlungserlass, o.D., LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 101v. 110 Ebda. 111 Stadtarchiv Saarbrücken, St. Johann, Rechnungen, Bürgermeisterei bzw. Stadtrechnung St. Johann, 1611/12, 15r. 112 Jungk: Saarbrücker in türkischer Gefangenschaft (wie Anm. 19), S. 269. 113 In den einschlägigen Publikationen wird Teutschmann nicht erwähnt. Vgl. z. B. Keita Saito: Das Kriegskommissariat der bayerisch-ligistischen Armee während des Dreißigjährigen Krieges, Göttingen 2020. 114 Linda Colley konstatiert für EngländerInnen, die aus maghrebinischer Gefangenschaft freikamen, „descending into vagrancy was a common enough fate“. Colley: Captives (wie Anm. 12), S. 85. 36
Der Preis der Freiheit
konnten über substanzielle Handlungsmöglichkeiten verfügen, um ihren Freikauf zu erwirken. Bernhard Teutschmann konnte im Laufe seiner achtjährigen Gefangenschaft nachweislich über fünfzig, vermutlich sogar noch mehr Briefe verschicken. Er gebrauchte in seinen Briefen gekonnt unterschiedliche Textformen, narrative Strategien sowie Alteritätskonstruktionen, um Unterstützer zu gewinnen: In seinen Suppliken an Graf Ludwig II. griff er intensiv auf den um 1600 gängigen osmanischen Feindbilddiskurs zurück, um seinen Landesherrn zum Handeln zu animieren. Die Briefe an seinen Vater Hans sind hingegen u. a. von dem Bemühen gekennzeichnet, die zeitgenössische Vorstellung zu entkräften, wonach die Inhaftierung durch Nichtchristen eine Strafe Gottes für begangene Sünden sei. Nachdem der Pascha von Ofen Teutschmann 1609 in private Hände verschenkt hatte, erhöhten sich dessen Handlungsmöglichkeiten nochmals: Teutschmann durfte sich zeitweise frei in Ofen bewegen und konnte drei (mutmaßlich christliche) Bürger überzeugen, für ihn zu bürgen, damit er vierzig Tage in die Erblande reisen und das Lösegeld in Höhe von zweitausend Gulden bei seinen Unterstützern abholen durfte. Teutschmann war sich während der Haft in der Festung Yedikule seines prekären Status als „esclave en puissance“ bewusst und fürchtete sich vor den Konsequenzen eines Übergangs in die private Sklavenökonomie.115 Diese Sorge war keineswegs unbegründet, erhöhten seine Besitzer 1609 das Lösegeld doch signifikant, um mehr Kapital zu generieren. Freikäufer wie Ludwig II. hingegen, die ökonomisches Kapital sowie ein hohes Maß an Zeit investierten, konnten im Erfolgsfall symbolische Profite verbuchen: Nach der Freilassung musste sich Teutschmann fünf Monate am gräflichen Hof in Ottweiler aufhalten und u. a. in einer Audienz publikumswirksam seine Dankbarkeit für die clementia des Grafen zur Darstellung bringen. Wie bedeutsam symbolische Profite für die Freikäufer waren, verdeutlicht ein vergleichender Blick auf Orden wie die Trinitarier oder Mercedarier, die freigekaufte Personen verpflichteten, ein Jahr oder länger an öffentlichen Umzügen teilzunehmen.116 Allerdings war die Unterstützung des jeweiligen Landesherrn keineswegs unverbrüchlich: Wie die Forschung zutreffend betont, konnte der Verdacht, ein Gefangener sei zum Islam konvertiert, das sofortige Ende der Unterstützung ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 115 Fontenay: Esclaves et/ou captifs (wie Anm. 42), S. 22. 116 Watzka-Pauli: Triumph der Barmherzigkeit (wie Anm. 16), S. 310; siehe auch Colley: Captives (wie Anm. 12), S. 80. 37
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zur Folge haben. Der Fall Teutschmann zeigt überdies, dass Gefangene noch in weiterer Hinsicht unter Legitimationsdruck stehen konnten: Teutschmann musste glaubhaft machen, sich während der Haft keinen höheren sozialen Stand zugelegt zu haben. Zukünftigen Forschungen muss indes überlassen bleiben, die Interaktionen zwischen den Gefangenen genauer zu untersuchen. Die Saarbrücker Archivalien erlauben keinerlei Aussagen darüber, ob der schrifterfahrene Teutschmann seine Mitgefangenen beispielsweise unterstützte, Briefe an deren Landesherren bzw. Angehörige zu schreiben. Auch die Frage, welche Relevanz die während der Haft geknüpften Kontakte zu Mitinsassen nach der Freilassung hatten, muss unbeantwortet bleiben. Dass Netzwerke entstanden, die auch in Freiheit weiter gepflegt wurden, kann jedoch als gesichert gelten: Teutschmann reiste 1611 von Saarbrücken ins kursächsische Meißen, um dort Levin Ludwig I. Hahn zu treffen, der ab 1604 ebenfalls im Schwarzen Turm der Festung Yedikule inhaftiert gewesen war.117
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 117 Georg C. F. Lisch: Geschichte und Urkunden des Geschlechts Hahn, Bd. 4, Schwerin 1856, S. 43–47; sowie Bericht über den Zahlungserlass, o.D., LA Saarbrücken. Best. Nassau-Saarbrücken II Nr. 2883, 101v. 38
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 an seine Braut Von Hans-Joachim Kühn
Bei der Vorbereitung der Ausstellung „Monumente des Krieges“ des Historischen Museums Saar, die vom 19. März bis zum 31. Oktober 2021 gezeigt wurde und sich am Beispiel des Deutsch-Französischen Krieges 1870–18711 mit Inszenierung und Instrumentalisierung von Krieg und Nation auseinandersetzte, stellte Frau Ingrid Wagenknecht aus Sankt Ingbert dem Museum eine Sammlung von Feldpostbriefen ihres Urgroßvaters zur Verfügung, die dieser während des Deutsch-Französischen Krieges seiner Braut Johanna Eicken schrieb. Eine Auswahl dieser Briefe wurde neben Druckgrafiken, Depeschen, Zeitungsberichten, Memoiren, Kriegspanoramen und Photographien in dieser Ausstellung gezeigt, eine ganze Reihe von Zitaten aus diesen Briefen warfen Schlaglichter auf einzelne thematische Bereiche der Ausstellung.2 Während für den Ersten und Zweiten Weltkrieg zahlreiche Soldatenbriefe erhalten und publiziert sind,3 finden sich Briefe aus dem Deutsch-Französischen ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 1 Klaus-Jürgen Bremm: 70/71. Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen, Darmstadt 2019; Christoph Jahr: Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang, 1864–1871, München 2020; Jochen Oppermann: Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, Wiesbaden 2020; Hermann Pölking/Linn Sackarnd: Der Bruderkrieg. Deutsche und Franzosen 1870/71, Freiburg im Breisgau 2020; Tobias Arand: Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen, Hamburg 2018, 32019. 2 Da die für die Ausstellung transkribierten Briefe in keiner Veröffentlichung des Historischen Museums Saar abgedruckt werden konnten, regte Museumsdirektor Simon Matzerath an, sie an anderer Stelle zu publizieren. Ihm und dem Historischen Verein für die Saargegend e. V. gilt daher mein Dank. 3 An neueren Publikationen von Kriegsbriefen wären zu nennen Imma Klemm (Hg.), Hanns-Josef Ortheil (Nachwort), Wilhelm Klemm: Tot ist die Kunst. Briefe und Verse aus dem Ersten Weltkrieg, Mainz 2013; Hermann Schüling (Hg.): Kriegsbriefe des 2. Weltkriegs von der Ostfront 1941–1945, Gießen 2012; Hermann Schüling (Hg.): Kriegsbriefe des 1. Weltkrieges nebst einem Kriegstagebuch nach den Originalen in chronologischer Ordnung, Gießen 2012; Heilwig 39
Hans-Joachim Kühn
Krieg (1870/71) wesentlich seltener; denn viele wurden als private Dokumente in den Familien der Soldaten gehütet und gelangen noch heute erst allmählich an die interessierte Öffentlichkeit. Zur Verbreiterung der Quellenbasis persönlicher Kriegszeugnisse will daher auch diese Edition ihren Beitrag leisten. Hermann Julius Dörken wurde am 18. Dezember 1845 in Gevelsberg an der Ennepe (15 km nordöstlich der heutigen Stadt Wuppertal) als neuntes von elf Kindern der Eheleute Peter Daniel Dörken (11. Januar 1808 – 3. Juni 1888) und Friederike Schürhoff (3. Mai 1806 – 16. Dezember 1860) geboren. Sein Vater war Kaufmann und Fabrikant zu Gevelsberg, stammte aus einer Familie von Hammer- und Kleinschmieden und hatte ein Handelshaus für den Vertrieb von Ennepetaler Industrieerzeugnissen mit Geschäftsbeziehungen bis nach Südamerika aufgebaut. Auch Hermann arbeitete nach dem Deutsch-Französischen Krieg als Handelsreisender im Familienunternehmen wie seine älteren Brüder Eduard und Heinrich, die die Handelsschule in Osnabrück besucht hatten und in Hermanns Briefen erwähnt werden. Sein jüngerer Bruder Ewald, der in Bonn Medizin studierte und im ersten klinischen Semester war, meldete sich 1870 in Wiesbaden zum Lazarettdienst, nachdem man ihn in Hagen zum aktiven Militärdienst abgelehnt hatte. Hermann Dörken hatte vom 1. April 1868 bis zum 31. März 1869 seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger im Niederrheinischen Füsilier-Regiment Nr. 39 der preußischen Armee geleistet; er war als überzähliger Gefreiter ausgeschieden. Bei der Entlassung bestätigte ihm sein Kompaniechef, „daß derselbe sich während seiner Dienstzeit recht gut geführt hat“. Als im Sommer 1870 der Krieg ausbrach, wurde Hermann Dörken zu seiner alten Einheit eingezogen und rückte mit dem Niederrheinischen Füsilier-Regiment Nr. 39 aus der Garnison Düsseldorf am 22. Juli ins Feld. Am Vorabend vor der Abreise zur Garnison fand seine Verlobungsfeier mit Johanna Eicken statt. Seitdem schrieb er seiner Verlobten 26 erhaltene Briefe, aus deren Text nicht eindeutig hervorgeht, ob dies alle von ihm während des Krieges verfassten Briefe sind oder ob weitere verlorengingen. Insbesondere zwischen dem 12. November (Brief Nr. 13) und dem 22. Dezember 1870 (Nr. 14) besteht eine größere zeitliche Lücke. Die vier bis fünf Wochen dauernden Zeitabstände zwischen den Briefen in den ersten Monaten des Jahres 1871 könnten auf die winterliche ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ Gudehus-Schomerus (Hg.): „Einmal muß doch das wirkliche Leben wieder kommen!“ Die Kriegsbriefe von Anna und Lorenz Treplin 1914–1918, Paderborn 2010. 40
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg
Witterung zurückzuführen sein, als die Truppen im französischen Jura eingeschneit waren. Johannas Antwortschreiben sind nicht erhalten, werden aber ebenso oft erwähnt wie mehrere Pakete, die Hermann Dörken von ihr erhielt. Die Norddeutsche Feldpost beförderte vom Kriegsbeginn bis zum 31. März 1871 an gewöhnlichen Briefen und Postkarten 89 659 000 Stück und 1 853 686 Privatpakete.4 Hermann Dörken nahm nach der Familienchronik seines Neffen an den Schlachten bei Saarbrücken (Spichern) und Gravelotte und an der Belagerung von Metz teil. Am 19. September 1870 fiel sein Schwager Georg, der Mann seiner Schwester Auguste. Hermann schrieb seiner Schwester aus dem Feld vor Metz einen Beileidsbrief, dessen Text sich in der Familienchronik findet. Gegen Ende des Krieges wurde Hermann zum Seconde-Lieutenant befördert, wie aus der Absenderangabe des Couverts vom 7. Mai 1871 hervorgeht. Auch nach dem Krieg engagierte er sich als Reserveoffizier im Kriegerverein Abb. 1: Johanna Eicken, die Adressatin der Briefe, des Amtes Ennepe zur Unterstützung nach einer kaiserzeitlichen Photographie von hilfsbedürftiger Kameraden. Im Februar Carl Freund aus Elberfeld (Wuppertal) 1872 kam Hermann mit seinem Bruder Adolf auf den Spuren der Marschroute seines Regiments durch die Eifel noch einmal nach Saarbrücken, wo die 39er zwei Offiziere, einen Feldwebel, zwei Unteroffiziere und 86 Mann verloren hatten und wo Hermann mit seiner Einheit am Tag nach der Schlacht über das Schlachtfeld gegangen und die Toten und Verwundeten aufgesammelt hatte; danach besuchten die Brüder ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 4 Die Norddeutsche Feldpost während des Krieges mit Frankreich in den Jahren 1870–71, Berlin 1871, S. 1–68 und beiliegende Karte, hier: S. 62 f.; diese Druckschrift informiert ausführlich über Organisation, technische Ausrüstung und Transportbedingungen der Feldpost und enthält auf S. 62–68 genaue statistische Übersichten. 41
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Metz und die umliegenden Gefechtsorte. Nach Frankreich durfte er als ehemaliger preußischer Offizier nicht einreisen. Die Hochzeit zwischen Hermann Dörken und Johanna Eicken (4. Oktober 1849 – 28. März 1924) wurde am 8. Mai 1872 gefeiert. Bald wurde Hermann Teilhaber an der väterlichen Firma und errichtete 1874 ein eigenes Wohnhaus in Gevelsberg. Am 30. September 1882 wurde ihm als Seconde-Lieutenant der Landwehr-Infanterie die II. Klasse der Landwehr-Dienstauszeichnung verliehen. Schließlich bewilligte ihm Kaiser Wilhelm I. am 14. April 1883 den Abschied aus dem 2. Bataillon (Iserlohn) des 7. Westfälischen Landwehr-Regiments Nr. 56 im Range eines Premier-Lieutenants und die Erlaubnis zum Tragen der LandwehrArmee-Uniform. Auf Dörkens Ersuchen vom 26. Mai 1885 hin verfügte der Kaiser am 10. November 1885 eine ab dem 1. September 1885 zu zahlende monatliche Unterstützung von 100 Mark aus dem Allerhöchsten Dispositionsfonds bei der Reichshauptkasse zu seinen Gunsten. Hermann Julius Dörken, zuletzt bettlägerig, verstarb bereits kurz darauf am 16. Dezember 1885 im Alter von kaum vierzig Jahren an einem Brustleiden, das auf die Strapazen des Feldzugs zurückzuführen war. Er hinterließ vier unmündige Kinder und wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt.5 Gerade die neueren militärgeschichtlichen Darstellungen stützen sich neben den Akten aus den Kriegsarchiven, besonders im Hinblick auf den Kriegsalltag, zunehmend auf Aussagen von Augenzeugen beider Kriegsparteien, da diese belegen, wie sich die Planungen der Generalstäbe vor Ort auswirkten. Schon unmittelbar nach dem Deutsch-Französischen Krieg erschien eine Sammlung von Feldpostbriefen, die während des Krieges bereits in der Tageszeitung „Hamburgischer Correspondent“ abgedruckt worden waren.6 Manfred Licht hat in einem Beitrag über den Krieg in der Gemeinde Illingen (Bürgermeisterei Uchtelfangen) neben amtlichen Verlautbarungen und Eintragungen in den lokalen Sterberegistern auch einen Brief des frisch verheirateten Reservisten Jakob Keßler an seine Frau Barbara Woll in Wemmetsweiler als Quelle benutzt; der Genannte war mit dem 4. Rheinischen Infanterieregiment ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 5 Die Angaben zur Person Hermann Dörken und zu seiner Familie verdanke ich weiteren Papieren aus Familienbesitz, insbesondere der 1948 zusammengestellten Familienchronik von Hermanns Neffen Fritz Dörken. 6 Theodor Vatke: Feldpostbriefe aus Frankreich 1870–71, zuerst erschienen im „Hamburgischen Correspondenten“, Berlin 1871. 42
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg
Nr. 30 bei der Belagerung von Straßburg eingesetzt und berichtete am 29. September 1870 über die Kapitulation der Stadt aus der Sicht eines einfachen Soldaten an seine Familienangehörigen.7 Der umfangreiche Briefwechsel eines Ehepaares aus Eiweiler (Gemeinde Nohfelden) besteht aus 51 Briefen des Schieferdeckermeisters und Unteroffiziers Johannes Schwickert (1843–1936), 35 Briefen seiner Ehefrau Maria, geb. Gärtner (1840–1921), und einigen weiteren Briefen; alle Schreiben sind nur in Auszügen publiziert, dafür aber unter Heranziehung weiteren Quellentextund Bildmaterials insbesondere von Franz Josef Schäfer mustergültig kommentiert und mit Literaturangaben versehen worden.8 Die Kriegserinnerungen des Feldgeistlichen Christian Müller aus dem Bistum Trier hat Frederik Simon ausgewertet und ausführlich kommentiert.9 Auch berichtet er über die Hintergründe der Entstehung des Konflikts, so dass diese hier nicht noch einmal ausgebreitet werden müssen. Tobias Arand hat in seiner Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges neben zahlreichen bekannten militärhistorischen Quellen ganz wesentlich auch Auszüge aus zahlreichen persönlichen Zeugnissen, darunter auch Briefen von Kriegsteilnehmern, herangezogen.10 Was die Grenzregion zwischen Saar und Mosel betrifft, so finden sich in der neueren Literatur immer wieder bislang unentdeckte Zeugnisse von Zeitge⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 7 Manfred Licht: Vor 125 Jahren – Deutsch-Französischer Krieg 1870–71, in: Wemmetsweiler Heimatblätter 16. Jg. (1995), S. 51–63, insbesondere S. 58 f. mit Abbildung des Couverts und der ersten Seite des Feldpostbriefs. 8 Franz Josef Schäfer: Briefwechsel eines saarländischen Ehepaares während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 35 (2009), S. 419–519, dort auch zahlreiche bibliographische Angaben zu Feldpostbriefen von 1870/71 (S. 425–427, Anm. 24) und zur Lage in der Saargegend (S. 428–431, Anm. 28–30); Klaus Müller: Berichte aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, in: Viktor Heck/Edwin Didas (Hg.): Eiweiler Lesebuch. Geschichte und Geschichten aus unserem Dorf, Nonnweiler 1999, S. 137–179. 9 Frederik Simon: Der Deutsch-Französische Krieg (1870/71) – Ein blinder Fleck in der Trierer Kirchengeschichtsschreibung?, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 73 (2021), S. 255–284 [Exemplar im Landesarchiv Saarbrücken, WZ 41] und die (gekürzte) Edition im Quellenteil S. 439–470 („Meine Erlebnisse während des Krieges mit Frankreich im Jahre 1870/71“. Die Kriegserinnerungen Pfarrer Christian Müllers); über seinen Kriegseinsatz „als Divisionspfarrer beim VIII. Artillerie-Korps“ (Simon, S. 257) muss es richtig heißen: „als Divisionspfarrer bei der 15. Division, zu der auch die Korps-Artillerie des VIII. Korps gehörte, die aus dem Rheinischen Feldartillerieregiment Nr. 8 bestand“. 10 Arand: Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen (wie Anm. 1). 43
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nossen.11 Auch die Rezeptionsgeschichte des Deutsch-Französischen Krieges und seine Bedeutung als einer der ersten industriell geführten Kriege in Europa ist inzwischen Gegenstand wissenschaftlichen Interesses.12 Daneben sind auch zeitgenössische Chroniken und insbesondere die alte Regimentsgeschichte der 39er zum Verständnis des konkreten Hintergrunds der Briefe sehr hilfreich.13 Hermann Dörkens Briefe sind meist mit Bleistift oder Tinte auf sehr dünnes Papier geschrieben, so dass der geringe farbliche Kontrast zwischen Schrift und Papier – vor allem beim Bleistift – das Lesen oft erschwert. Er benutzte unterschiedliche Papiere, von denen die meisten ca. 14 x 21 cm maßen, darunter kariertes Papier und feines englisches Briefpapier, das oben in der linken Ecke den Hochdruckstempel „Bath“ trägt. In der Regel nutzte er den auf den Papier⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 11 Gerd Arnold: Deutsch-Franz. Krieg 1870–1871. Auswirkungen auf Neunkirchen, Neunkirchen 2002; Karl-Werner Backes: Kriegstagebuch 1866 und 1870/71 eines Elversbergers, in: Heimatkalender Spiesen-Elversberg 24 (2001), S. 41–45; Heiner Baus: Die Kapelle auf dem Alten Friedhof in St. Ingbert, in: Saarpfalz. Blätter für Geschichte und Volkskunde 2009, Heft 2 (Nr. 101 der Gesamtzählung), S. 60–65; Dieter Robert Bettinger: Die Kriegs- und Soldatenchronik der Stadt Ottweiler, Ottweiler 2005; Nikolaus Grün: Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Jugenderinnerungen über die Kriegserlebnisse in Kleinblittersdorf, in: Die Eul’, Band 1, Heft 2, 2007, 2, S. 33–43; George F. R. Henderson: The battle of Spicheren, August 6th, 1870, and the events that preceded it, Solihull (West Midlands) 2009; François Hoff/Francis Pochon/Bernard Pollino: Champs de bataille du 6 août; Sarrebruck-Spicheren, in: Moselle 1870. Guide historique et touristique des monuments commémoratifs des champs de bataille, Metz 2015, S. 46–113; Jean-Claude Jacoby: 1870. La guerre en Moselle. De l’escarmouche de Sarrebruck à la capitulation de Metz, Metz 2014; Ernst Kohr: Das Hirteler Kreuz und sein personengeschichtlicher Hintergrund, Heusweiler 1999; Anton Korn/Peter Werth: Saarbrücken vor 130 Jahren. Der Krieg 1870/71 in zeitgenössischen Berichten zweier Saarbrücker Bürgerinnen, in: Saarländische Familienkunde 8 (1996/1999), S. 546–555; Klaus Müller: Berichte aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, in: Eiweiler Lesebuch, Nonnweiler 1999, S. 137–179; Lutwin Schreiner: Die Vierziger am Morgen der Schlacht bei Spichern noch in Merchweiler. Ein Erlebnisbericht aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71, in: Merchweiler Heimatblätter 19 (1999), S. 59–68; Johannes Schwickert (1843–1936): Weihnachts-Brief von der Front, in: Saarbrücker Zeitung, Nr. 298, Weihnachten 2000, S. 31; Ernst Steffny: Die Ereignisse auf dem Saargau 1870/71, in: Jahrbuch Kreis Trier-Saarburg, Trier 2004, S. 214–221; Ronald Zins: La bataille de Spicheren, 6 août 1870: Les Prussiens envahissent la Lorraine, Annecy-leVieux 2001. 12 Fabian Trinkaus: Nationaler Mythos und lokale Heldenverehrung. Die Schlacht von Spichern und ihre kulturpolitische Rezeption in Saarbrücken während des Kaiserreichs, Trier 2013; Rolf Wittenbrock: Die Schlacht bei Spichern in den Erinnerungskulturen beiderseits der Grenze, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 58 (2010), S. 89–101. 13 George Hesekiel: Deutsche Kriegs- und Sieges-Chronik 1870–1871, Berlin 51871; Max Dittrich: Tages-Chronik des deutsch-französischen Krieges 1870–71 sowie der Kämpfe mit der Pariser Kommune, Leipzig ohne Jahr [um 1873/74]; W[ilhelm] Rintelen: Geschichte des Niederrheinischen Füsilier-Regiments Nr. 39 während der ersten fünfundsiebenzig Jahre seines Bestehens 1818 bis 1893, Berlin 1893. 44
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bögen bestehenden Platz ganz aus und schrieb vier Seiten voll, mehrmals legte er zusätzliche Blätter ein, so dass manche Briefe sechs oder acht Seiten umfassen. Zu einem Großteil befinden sich die Briefe nicht mehr in den Couverts, von denen auch einige die Zeit überdauert haben. Jedoch können viele Briefe und Couverts anhand der Datierung am Briefanfang und auf dem Poststempel einander zugewiesen werden. Inhaltlich geht es in den Briefen um mehrere Themenbereiche: Da sind zunächst die unmittelbaren Kriegshandlungen, die nicht direkt angesprochen werden. Kein Sterbenswörtchen über die Schlacht bei Spichern, an der das Infanterieregiment Nr. 39 an den Brennpunkten der Gefechte teilgenommen hat. Immerhin geht aus den Briefen hervor, dass schon die Einteilung zum Vorpostendienst während der Belagerung von Metz lebensgefährlich war. Interessante Hinweise finden sich immer wieder zu Märschen, zur Verpflegung und Unterbringung der Truppen, besonders auch bei häufigem Regenwetter im Spätsommer und klirrender Kälte im Winter. Stets versichert Hermann seiner Braut seine treue Liebe und stellt ihr und sich eine rosige Zukunft als Ehepaar vor Augen. Er bedauert das Unglück des Krieges zutiefst und die damit verbundenen Verluste an Menschenleben und materiellen Schäden. Gleichwohl ist er überzeugt von der Gerechtigkeit der deutschen Sache und findet Trost in der Hinwendung zum christlichen Gott. Als Reserveoffiziersanwärter erscheint er keineswegs als Militarist, gleichwohl ist er auf seine Beförderungen und die zunehmende Übertragung von Offiziersaufträgen im Kriegsdienst stolz. Die Briefe sind frei von Hass gegen den französischen Kriegsgegner, mit dem er sich in französischer Sprache verständigen konnte, kriegsgefangene Franzosen werden teils mit Mitleid, teils despektierlich geschildert. Der Austausch von Informationen über das Kriegsschicksal von Verwandten und Bekannten, Grüße an die Lieben daheim und der Dank für erhaltene Feldpostpakete runden die Informationen aus dem Kriegsalltag ab. Deshalb mögen die Briefe aus Sicht des Herausgebers nicht nur für den Kriegsalltag, sondern auch für das Selbstverständnis der preußischen Soldaten, für den Umgang mit der Familie und für die Vorstellungen von einer glücklichen Ehe von Interesse sein und können über die militärhistorischen Bezüge hinaus auch als allgemeines Zeitdokument zur Mentalitätsgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelesen werden. Im Unterschied zu zahlreichen anderen Editionen wird deshalb hier eine ungekürzte, komplette Edition vorgelegt. 45
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Edition Der nachstehende buchstabengetreue Abdruck der Briefe folgt den üblichen Editionsrichtlinien.14 Auf eine zeilengetreue Transkription wurde verzichtet, da sie keinen Mehrwert erkennen lässt. Die Zeichensetzung, insbesondere der Kommata, wurde behutsam aktualisiert. Nr. 1 [S. 1] Küllburg b(ei) Trier, den 29. Juli 1870 Meine theure Johanna! Während Dich hoffentlich um dieser Stunde (es ist 1½ Uhr die Nacht) süße Träume umfangen, sitze ich hier hoch auf einer alten Burg gleichen Namens wie oben als Wachhabender. Vorerst, mein liebes Mädchen, muß ich Dir meine Lage einmal beschreiben. Also das Wachzimmer ein Rathhaussaal mit dem Geschworenentisch (und) Kruzifix darauf und was sonst so noch dazu gehört. Auf dem Boden auf Stroh umher meine Leute, alle ziemlich stark schnarchend, und ich bin das einzige lebende oder vielmehr wache Wesen in dem großen Gebäude, nein draußen. Mein Posten und der Wind, der um die alten Mauern bläst, machen noch etwas Geräusch. Ich sehe aber aus dem Dienste in die dunkle schöne Sommernacht hinaus und auf den Flügeln der Liebe eile ich hin zu Dir. In dieser Stunde schwindet die Entfernung. Ich bin bei Dir, mein ganzes Herz, das so rein, treu, o so einzig für Dich, meine theure Johanna, schlägt. O welches Glück, daß wir uns noch zur rechten Zeit gefunden haben, was sollte ich machen, [S. 2] wenn ich Dich treues Herz nicht hätte. Johanna, erst 8 Tage stark und welche Ewigkeit dünkt es mich schon, daß wir den so schweren Abschied nahmen und wann wird der frohe Augenblick endlich kommen, wo wir uns dem süßen Traum der Liebe hingeben dürfen. Ich sehe hinauf zu dem ewigen klaren Sternenhimmel und Glaube (und) Vertrauen erfüllen mein(e) Seele. Ja, Johanna, wir werden uns wiedersehen und hoffentlich froh (und) munter. Dein Ring (und) Dein Bild, sie sehen mich so freundlich an und ist es mir, als sähe ich in Deine lieben treuen Augen, o warum kann ich es nicht, warum mußte dieser unselige Krieg ausbrechen und so manches frohe Herz so gar traurig machen. Doch ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 14 In runden Klammern ( ) aufgelöste Abkürzungen, in spitzen Klammern < > vom Bearbeiter hinzugefügte, in geschweiften Klammern { } vom Bearbeiter gelöschte (sekludierte) Buchstaben. 46
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es ist der Wille des Höchsten und dem müssen wir uns beugen und unsere Pflicht thun. Johanna, denkst Du wohl mein in diesem selben Augenblick, wird mein Bild in Deinen Träumen wohl auch erscheinen? Ja, ja, ich weiß es, ich sehe aus weiter Ferne das seelige Lächeln der glücklichen ersten Liebe, allen Leiden und Verhängnissen der bitteren Gegenwart entrückt. [S. 3] Nur noch 3 Tage und dann liegen wir vorm Feinde, indem wir morgen nach Trier marschieren und von da p(er) Eisenbahn nach Saarlouis fahren werden, um das 40te R(e)g(imen)t als Vorposten abzulösen und kommen wir also dem Feinde zunächst. Aber hab deswegen keine Sorge weiter, für wen die Kugel bestimmt ist, der bekommt sie doch und ich will Gott bitten, daß er mich wieder gesund nach Hause kom(me)n läßt. Jeden Tag denke ich einen Brief von Dir zu erhalten, was aber leider bis jetzt noch nicht eingetroffen ist und hoffentlich sehr bald geschehen wird. Aus demselben werde ich dann wohl einmal sehen, wie es vor Allem Dir, mein treues Herz, und wie es unsern beiderseitigen lieben Eltern geht. Auch ob und was Carl geschrieben hat, werde ich dann wohl einmal erfahren. Ich setze bei Allen bestes Wohlergehen voraus. Zum Glück bin ich bis jetzt noch recht gesund geblieben, obwohl die Strapazen immer größer werden, wie z. B. heute bin ich bis Mittag marschiert und habe diese Nacht die Wache, werde dann wahrscheinlich morgen [S. 4] weiter marschieren müssen. Wie man es eigentlich aushält, ist unbegreiflich, wenn Du z. B. auf der Karte einmal anseh(en) willst von Düsseldorf bis Trier über die Eifel, welche Strecke das ist, und dann seit Sonntag marschirt. Über die Flecken und den mulprigen Bogen mußt Du wegsehen, indem dies das Einzige war, was ich hier zwar auf vieles Bitten von einem Polizeidiener bekommen konnt(e). Ich weiß aber auch, daß Du es gern übersiehst und froh bist, daß es mir noch gut geht. Vielleicht schreibe ich auch noch morgen nach Haus, aber ich bitte Dich, Albert auf jeden Fall sagen zu lassen, daß die ihm zuerst angegebene Adresse richtig sei. Sobald wie möglich schreibe ich auch Dir wieder, wenn auch nur einige Zeilen. Grüß mir die lieben Eltern und alle Geschwister beiderseits und denk immer und oft an Deinen Dir ewig treuen Hermann.
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Nr. 2 [S. 1] Wir müssen diese Nacht weiter nach Trier und kann ich an Albert nicht mehr schreiben, was Du ihm mitheilen wollest. Heute also 12 Stunde(n). [Rückseite] [Poststempel] Bitburg 1.8.70 Fräulein Johanna Eicken Gevelsberg b(ei) Elberfeld
Nr. 3 [S. 1] Langwiehe15 b(ei) Saarbrücken, 5.8.70 Meine theure Johanna! Nachdem ich gestern nach einem 12 Stunden langen Marsch glücklicherweise wohlbehalten hier angekommen bin, benutze ich das erste ½ Stündchen, um Dir wieder ein Lebenszeichen von mir zu geben. Ich hatte Dir vorgestern geschrieben und zwar im Bivouak, hatte den Brief auch schon abgegeben, nahm ihn jedoch zurück, weil er ganz naß geregnet war. Die Strapazen mehren sich jetzt mit jedem Tage, was Du schon an dem gestrigen Marsch sehen kannst. Dazu hatte ich 2 Tage kein Dach gesehen, (und) wir Nachts auf der blanken Erde liegen mußten, wo es, um die Sache voll zu machen, ganz gehörig regnete, so daß ich morgens keinen trocknen Faden mehr am Leibe hatte. Daß ich dabei noch so wohl bleibe, wundert mich selbst und hoffe, es wird auch so bleiben. Vorgestern wurden die ersten Brief vertheilt, so lange hatte ich mich darauf gefreut und um so größer meine Niedergeschlagenheit, als ich keinen Brief weder von Dir, meine liebe Johanna, noch von Haus bekam. Ich hätte so sehr gern einmal ein paar Zeilen von Dir bekommen, um einmal zu hören, wie es Dir, den lieben Eltern und Geschwistern beiderseitig gehe, ob Carl schon etwas geschrieben hätte, aber Nichts höre ich und bitte ich Dich freundlichst, schreibe mir doch gleich jedenfalls, ich habe sonst keine Ruhe mehr. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 15 Die letzten drei Buchstaben schwer lesbar, der Ortsname verballhornt aus der Mundartform Landswiller, gemeint ist Landsweiler, heute Stadtteil von Lebach, Landkreis Saarlouis; nach Rintelen: Geschichte des Niederrheinischen Füsilier-Regiments Nr. 39 (wie Anm. 13), S. 282–284, lag das Regiment am 5. August in Landsweiler (südlich von Lebach). 48
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[S. 2] O theure Johanna, was das ein Leben ist, so kannst Du es Dir nicht vorstellen, ich hatte mir es auch nicht so schlimm gedacht. Es ist wirklich ein wildes Dasein. Wenn wir nicht selbst sorgen, daß wir zu essen bekommen, gibt es sehr wenig, denn die Orthschaften hier an der Grenze sind effectiv abgesucht, daß für schires Geld Nichts zu haben ist. Butter (und) Milch habe ich seit 8 Tagen nicht mehr gesehen und muß ich mich mit schwarzem Kaffee (und) trocknem Brod begnügen müssen. Brot fehlt uns heut auch gänzlich und ist es nun ein wahres Glück, daß wir genügend Fleisch bekommen. Rindvieh wird einfach aus den Ställen geholt und abgeschlachtet und 2 Stunden nachher schon verzehrt. Ja, das Wort Krieg hat für den noch gar keinen Klang, der selbst keinen mitgemacht hat, das sehe ich immer mehr ein. Wäre ich nur einmal wieder bei Dir zu Haus, was würde ich glücklich sein, ich darf keine Vergleiche mit der Wirklichkeit anstellen, denn der Unterschied ist zu schrecklich. Zur Besinnung kommt man eigentlich nicht mehr an’s Nachdenken, nur in einer ruhigen Stunde wie jetzt, aber Dein Bild ist mir fortwährend vor Augen, wofür ich meinem Gott nicht genug danken kann. O Johanna, wenn ich Dich nicht hätte, wenn wir uns nicht gefunden hätten! Tausend, tausend Dank, Johanna, nochmals für dies eine Wort, Du wirst es nie bereuen, das glaube mir, es soll mein einziges Streben sein, Dich glücklich zu machen, da ich durch Dich so sehr, so sehr glücklich geworden bin. Aber immer tritt zwischen diese schönen Träume, dieser [S. 3] dumme,16 dieser unselige Krieg, warum mußte der kommen, warum so vieler Tausende Glück untergraben? Johanna, bete für mich, morgen kommen wir wahrscheinlich ins Feuer und mit Muth, ja Muth werden wir drauf los gehen, denn dies sind die Unheilstifter, sie müssen von der Erde vertilgt werden. Jeder, der jetzt liegen bleibt, wird mit Verachtung gestraft, denn wer nicht feige ist, kann kriegerliche Strapazen wohl überwinden. Ich werde mich gewiß nicht unnütz der Gefahr aussetzen, das bin ich Dir, mir selbst und allen Angehörigen schuldig, aber erst recht nicht werde ich mich zurückziehen, da wo es sich drum handelt, sondern als Soldat und Preuße bis zum letzten Augenblick meine Pflicht thun. Denn wofür kämpfen wir, für Sold? Nein, für uns selbst, für Heimath (und) Herd, für Freiheit (und) Familienglück. Was sollte es werden, wollte nicht jeder von dieser Gesinnung durchdrungen sein. Es ist ein wahres Glück, daß wir heute frei haben, wenigstens ein paar Stunden, denn nach 2 schlaflosen Nächten, starken Märschen und mangelhaften Essen waren wir doch sehr ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 16 Geschrieben dumen. 49
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abgemattet. Aber heute geht es wieder, da wir seit gestern Mittag fortwährend kochen (und) braten. Sähest Du mich einmal so ein ½ Stündchen hier hantieren, trotz der ernsten (und) kritischen Lage würdest Du lachen müssen, denn wenn ich Dir sage, daß meine Kartoffelsuppe auf dem Feuer ist, selbst zubereitet und Kartoffeln mit Specksauce, wirst Du [S. 4] Dir das Bild schon ein wenig ausmalen. Außerdem habe ich für 16 Mann zu sorgen, deren Familienhaupt ich jetzt bin, da sie alles, was sie erhalten, von mir bekommen, so daß ich jeden Morgen Fleisch, Kaffee etc. regelrecht theilen muß. Was es mit uns noch werden wird, wenn wir zusammengezogen werden, das weiß ich nicht, da man jetzt schon froh ist, wenn man ein Stück Brod bekommt. Wie wenig eigentlich zum Leben gehört, das sehe ich einmal recht ein, es ist wirklich Unrecht, wenn man an guten Tagen unzufrieden ist. An mir wirst Du später gewiß kein Gourmand finden, ähnliches wird Einem hier gründlich abgelehrt. Sobald ich eben kann, schreibe ich wieder, meine Leut drängen mich jetzt wegen der Suppe. Ich hoffe nun sicher, mit der ersten Feldpost Bericht von dort und von Dir den ersten sehnlichst erwarteten Brief zu erhalten, o bitte, meine theure Johanna, diese einzige Bitte erfülle mir doch, über mich kannst Du doch gewiß nicht klagen. Und dann wollest Du Albert sagen, er möchte mir doch auch einmal schreiben, ich hätte das schon längst erwartet und solle er es ja nicht vergessen. Grüß mir recht herzlich Vater (und) Mutter, Emilie, Auguste, Heinrich, überhaupt alle, und sag ihnen, daß ich trotz aller Unruhe ihrer stets gedenke, ebenso an unsere Haut und sei Du, theure treue Johanna, viel tausendmal gegrüßt und geküßt von Deinem Dir ewig treuen Hermann. Das schlechte Schreiben mußt Du wegen des mangelhaften Schreibmaterials entschuldigen.
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Abb. 2: Brief Nr. 3 vom 5. August 1870 aus Landsweiler bei Lebach, S. 1
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Nr. 4 [S. 1] Lagrange b(ei) Thionville, den 12. Aug(ust) 1870 Meine theure, theure Johanna. Zu meiner unendlichen Freude erhielt ich gestern einen schönen so lang ersehnten Brief von Dir und kann Dir zu meiner großen Freude sagen, daß ich bis heute noch ganz wohl bin, obwohl es wohl ganz anders sein könnte, da wir jetzt den 10ten Tag im Feinde liegen, was noch weniger schlimm wäre, wenn es nicht fast fortwährend regnete. 2 Tag haben wir vorgestern (und) gestern ununterbrochen im Wasser gelegen; doch ist außer Diarrhoe noch keine schlimme Folge bei den Leuten zu bemerken. Wir liegen hier wieder dicht vor dem Feinde auf dem Wege nach Metz, von wo wir noch 6 Stunden entfernt sind. Dort wird es jedenfalls ein Haupt-Corps geben, bei dem wir aber wohl Arriere-Guarde bilden werden, da wir am Samstag zu viel gelitten haben. Fr(iedrich) Ruthenbeck ist auch gefallen, wie ich höre, hat er einen Schuß in den Fuß erhalten. Im Ganzen hat unsere Division 2290 Mann (und) 98 Offiziere verloren, ein sehr ungünstiges Verhältniß. Meinen letzten Brief, in dem ich Dir das Gefecht annähernd beschrieb, wirst Du bei Empfang d(iese)s wohl in Händen haben und Dich recht gefreut haben, [S. 2] daß es noch einmal gut gegangen hat. Du bedauerst mich wegen des Geldes so sehr, was aber gar nicht so schlimm ist, indem wir keineswegs Hunger leiden und Annehmlichkeiten durchaus nicht zu beschaffen sind, selbst nicht das Allernöthigste, nicht einmal ein Stück Papier, und hätte ich die Karten entwerten können, wenn ich nicht dieses erhalten hätte, denkt Deine Vorsicht. O Johanna, wäre ich endlich einmal wieder bei Dir, wie lange wird es wohl noch dauern? Am Montag Abend hatten wir zum ersten Mal Gottesdienst, verbunden mit der Feier des h(eiligen) Abendmahles, an dem ich mich auch betheiligte. Ich glaube, es ist mir nur so traurig ums Herz gewesen wie Dir, besonders da wir zur Einleitung sangen „Ach bleib mit Deiner Gnade etc.“, was wir, wie Du weißt, auf E.’s Veranlassung zum Abschied zusammen sangen. Ich wollte es nicht, aber die Thränen rannen mir aus den Augen und nun, das muß ich nun leider sagen, bin ich mit solchem Ernst zum h(eiligen) Abendmahl gegangen. Es war auch ein sehr feierlicher Moment, alle die ernsten kriegerischen Gestalten, mancher Familienvater.
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[S. 3] O Johanna, da war ich bei Dir, in diese heiligen Ideen werde ich erst jetzt so richtig eingeweiht. Das, was ich bisher als gleichgültig betrachtet, gewinnt erst an Werth durch die eiserne Nothwendigkeit. Ja, Noth lehrt beten, diese Wahrheit habe ich erkennen lernen. Wie manches heiße innige Gebet ist wohl zum Himmel geflogen, als wir in den Kugelregen kamen, viele wohl zum erstenmal seit der Jugend. Wer weiß, ob wir morgen nicht wieder vorkommen, wovon ich Dir jedenfalls gleich übermorgen Nachricht geben werde. Welches Aufsehen unsere Verlobung dort erregt haben muß, kann ich mir lebhaft denken, besonders da es doch im Allgemeinen ziemlich unvermutet gekommen sein muß. Johanna, theure Braut, wie soll ich es Dir danken, daß Du mich so unendlich glücklich gemacht hast, nach allen Kräften werde ich es Dir vergelten. Daß Carl noch nicht geschrieben hat, wundert mich, aber bei Ansicht d(iese)s werdet Ihr jedenfalls schon Näheres gehört haben, ich hoffe, es geht ihm auch noch gut. Wie ich höre, soll das R(e)g(imen)t 56 auch hier in der Gegend sein, doch habe ich noch keinen Mann davon gesehen. [S. 4] Wie voll das hier ist, kannst Du wohl denken und bleibt den Bewohnern hier wohl Nichts über. Diesen Brief schreibe ich in einer Wiese auf einem Mantel liegend und wird um mich herum fleißig gekocht (und) gebraten. Ich habe nun einen Koch engagirt und brauche mich um Nichts zu kümmern. Den Gevelsbergern hier geht es noch gut, Hutstuck, Nelkenberg, Schulte, Buchholz etc., die ich noch gestern alle traf. Gestern las ich auch auf einmal eine Elberfelder Zeitung, aber schon vom 4. Aug(ust), was einem trotzdem noch freut. Leg mir jedenfalls in jeden Brief einen Bogen nebst Couvert und erinnere Albert an das Gewünschte. Den lieben Eltern nebst Geschwistern wird es wohl auch gut gehen und bitte ich alle recht herzlich zu grüßen. Dem Vater werde ich auch bald schreiben, die Zeit ist jetzt immer noch zu kurz. An unserm Hause grüße mir auch alle herzlichst. Bald in 2 oder 3 Tagen erwarte ich wieder einen Brief von Dir, theure Johanna, was mir immer das größte Vergnügen ist und werde ich ihn gleich beantworten. Mit tausend Grüßen (und) Küssen bleibe ich für ewig Dein treuer Hermann.
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Nr. 5 [S. 1] Marly,17 den 11. September 1870 Meine theure Johanna! Nachdem ich heute zum ersten Mal wieder in etwa zu Ruhe gekommen bin, beeile ich mich, Dir auf Deine beiden lieben Briefe, wenn auch nur mit einigen Zeilen zu antworten. Ich sitze hier bei einem Endchen kurzen (und) stumpfen Bleistift, den ich nicht einmal spitzen kann, da Niemand mehr ein Messer hat. Das waren noch einmal harte 12 Tage, Ich bin seit Donnerstag vor 8 Tagen ununterbrochen auf Vorposten, was, wie Du richtig vermuthest, nicht ohne Gefahr ist. Wir lagen die Nacht nur noch 80 Schritt von der franz(ösischen) Vorpostenlinie und wurde ununterbrochen geschossen, jedoch ohne besondere Folgen, da die Kerls nicht treffen können. Umgekehrt ging es besser, da unsere Jäger nicht umsonst anleg(en). Das schlimmste bei Allem war nun noch der fortwährende Regen. Ich kann Dir versichern, daß ich in all den Tagen keinen trockenen Faden am Leibe gehabt habe und konnte ich das Ende meiner Schäfte an den Stiefeln nicht mehr wiederfinden, da bis oben hin Hose (und) Alles ein dicker Schmutz war. So habe ich noch nie ausgesehen und was würdest Du wohl gesagt haben, wenn ich so einmal zu Dir gekommen [S. 2] wäre; ich weiß es ja ganz genau, theure Johanna, ich wäre doch ganz willkommen gewesen, gewiß noch mehr wie der Herr Schmitz, der also noch recht blank war. Er soll sich wohl wie viele Andere, wie wir sagen, gedrückt haben, sonst ist dies gar nicht möglich, wenigstens kann ich dies von mir keineswegs behaupten. 3 Tage (und) Nächste habe ich unter einer Appartementsthür, die meine Leute ausgehängt hatten, geschlafen, resp(ective) nicht geschlafen, die dann bei Tage meistens als Tisch diente. Ich mache Dir diese Erwähnung nur, um Dir eine leise Idee von dem Vorpostendienst zu machen. Seit 14 Tagen haben wir einen neuen Hauptmann bekommen, der sehr gut ist und sehr gut für uns sorgt, welch angenehmen Unterschied, wie Alle fast empfinden. Besonders hat er’s auf mich gut stehen und habe ich schon mehrmal Offiziersdienste gethan und die sichere Aussicht, in nicht lange Zeit weiter befördert zu werden. So hatte ich 48 Stunden eine Feldwache dicht vor dem Feinde von 70 Mann, die ich auf dem gefährlichen Posten selbständig führte, ein Fall, der mich in den Augen der Compagnie gewaltig groß gemacht hat. Doch das Alles ist ja [S. 3] Nebensache, wäre nur der süße, der so fest ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 17 Marly, Gemeinde 7 km südlich von Metz. 54
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ersehnte Friede da, den wir ja Alle so sehr sehr wünschen. Das Elend ist wirklich zu groß, was dieser unheilvolle Krieg hervorbringt. Die Leute hier sind alle geflohen, fast alle Häuser stehen leer, was einen trostlosen Eindruck macht. Morgen früh müssen wir wieder fort und nach Fleury südlich von Metz, wo wir hoffentlich Quartier bekommen werden, sonst geht es wieder, wie wir es schon 36 Nächte gekannt haben, wovon die Hälfte in strömendem Regen. Trotz aller der besonders in letzter Zeit gehabten Strapaze bin ich noch immer sehr wohl und auch immer gewesen, wofür ich Gott nicht genug danken kann. Besonders habe ich immer Appetit, was die Hauptsache ist. Unsere Verpflegung ist im Allgemeinen gut und können wir darüber nicht klagen, wenn nur die Jahreszeit nicht so weit vorgerückt wäre. Es macht sich auch in Folge dessen bei Vielen schon Gicht etc. bemerkbar. Alfred S. wird hoffentlich bald wieder hergestellt werden. Ewald, der mir vor ein paar Tagen schrieb, ist gewiß schon hier in der Gegend und theile [S. 4] ich Deinen Wunsch, mit ihm und Carl einmal zusammen zu kommen, in jeder Beziehung. Carl wird hoffentlich auch noch recht mobil sein. Für die mir nochmal gesandte Chocolade meinen herzlichen Dank, Du hast mir damit große Freude gemacht, sie ist sehr gut im Felde und zu Haus sehr selten. Ich hätte Dir so gerne schon früher geschrieben, doch war die Möglichkeit gar nicht da, es hieß nur immer Augen (und) Kopf auf dem rechten Fleck und schußfertig sein. Hoffentlich wird das Correspondirn nicht lange mehr nöthig sein und wir uns Arm in Arm unterhalten können, wird es noch lang dauern, Johanna? O, ich hoffe es nicht, sondern zu Gott, daß er uns gar bald wird zusammenführ. O Gott, wie viele haben das schon vergebens gehofft. Johanna, laß uns ihm danken, daß er mich noch so bewacht hat. Deine (und) Aller Gebete sie werden mich hoffentlich noch ferner beschützen. Grüß mir Alle dort recht herzlich, besonders auch an unserm Hause (und) Deine lieben Eltern, vielleicht schreibe ich morgen wieder, sonst so bald wie möglich. Mit tausend Grüßen (und) Küssen bleibe ich hier ewig Dein treuer Hermann.
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Hans-Joachim Kühn
Nr. 6 [S. 1] Fleury,18 den 13. September 1870 Meine theure Johanna! Bezugnehmend auf meinen letzten Brief von vorgestern konnte ich gestern meinem Versprechen, Dir wieder zu schreiben, nicht nachkommen, beeile mich aber heute, obwohl ich sehr müde und es schon spät ist, diesem nachzukommen. Besondere Erlebnisse habe ich allerdings seit meinem letzten Brief nicht gehabt und ist der einzige Unterschied meine Lage, daß ich ein gutes gegen ein sehr mangelhaftes Quartier vertauscht habe. Ich liege nämlich mit ca. 30 Mann in einem Stall 10’ 19, der allerdings in 2 Etagen unter anderm 10 Schweine, 4 Schafe, 2 Ziegen etc. beherbergt und kannst Du Dir leicht die tiefen Schattenseiten dieses Logis denken. Außerdem habe ich in jetzt ca. 14 Tagen noch nicht so weit kommen können, mich etwas waschen zu können, Du wirst Dir also leicht denken können, in welch schöner Gegend wir jetzt leben. Es ist die Hauptsache für uns, den Humor nicht zu verlieren, [S. 2] welch gute Sache glücklicherweise bei unserem Regiment der Fall ist. Mir geht es glücklicherweise noch immer gut und will hoffen, daß dies auch so bleiben wird. Sehr hat es mich gefreut zu hören, daß B. A.’s Damen so gute Zuflucht gefunden haben und besonders, daß Du also eine so gute Jugendfreundin gefunden hast. Du wolltest mir an sie gefl un freundl(iche) Grüße bestellen. In den letzten Tagen habe ich zu meiner großen Freude mehrere Briefe von Dir erhalten und glaube ich kaum, daß Deine Befürchtung, es gingen noch Briefe verloren, basirt ist. Ich glaube bald, daß der Vorwurf, den ich Dir häufig gemacht habe, Du seist im Rückstand, jetzt noch mehr mich selbst trifft, doch würde dies keineswegs der Fall sein, wenn ich nur in irgendeiner Weise es ermöglichen könnte, meiner Rencontre nachzukommen. Die Verwundung ...20 Wirminghaus, den ich ja sehr gut kenne, bedaure ich wirklich sehr, werde aber [S. 3] schwerlich Gelegenheit haben, mich nach seinem Aufenthaltsort zu erkundigen, da das 56. R(e)g(imen)t zu einem anderen Corps gehört. Carl wird jedenfalls dazu eher Gelegenheit haben, da er ja zu demselben Regiment gehört. Ihm wird es hoffentlich noch gut gehen und ich recht bald Nähes (und) Gutes von ihm hören. Seit einigen Tagen mehrt sich die ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 18 Fleury, Gemeinde 9 km südlich von Metz. 19 Dieses Quadrat dürfte für eine Flächengröße stehen, gemeint ist vielleicht eine Fläche von 10 Quadratmetern. 20 Unleserlich, vielleicht ein Vorname. 56
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg
Friedenshoffnung bei uns sehr und geben wir uns all der Hoffnung hin, recht bald wieder in die Heimath zurückkehren zu können. O, wenn es nur einträfe, wenn nur unsere Hoffnung nicht zu Wasser würde, dann wäre ja Alles gut. Ich kann Dir gar nicht sagen, mit welcher Sehnsucht wir Alle ohne Ausnahme an die lieben Angehörigen, an die theure Heimath und wie besonders ich an Dich, theure inniggeliebte Johanna, denke. Ich kann uns wirklich das Glück gar nicht ausmalen, wenn ich glücklich zu Dir zurückkommen sollte. Wie glücklich werden wir dann sein. [S. 4] An Albert habe ich gestern auch geschrieben und meine beiden Briefe vielleicht zusammen ankommen. Von Onkel Jul(ius) Klein erhielt ich 2 Pakete Taback und soll die Antwort noch folgen, was mir, das kann ich Dir versichern, große Freude gemacht hat. Heinrich wird also jetz auf der Tour sein und will ich hoffen, daß es sich den Umständen gemäß lohnen wird. Den Brief von Emilie, sowie von Dir wieder einen, erwarte ich nun bald. An die lieben Eltern (und) Geschwister, sowie an unserm Hause bitte ich die herzlichsten freundlichsten Grüße zu bestellen. Sobald ich kann, werde ich Dir wieder einmal schreiben, hoffentlich werde ich mehr Ruhe dazu bekommen wie jetzt. Erst recht hoffe ich, daß wir, meine theure Johanna, uns bald, recht bald wiedersehen, Gott wolle es geben und wir ihm dann ewig dafür danken. O Johanna, wann wird es sein? Bete für mich! Mit tausend herzlichen innigen Grüßen bleibe ich stets Dein treuer Hermann.
Nr. 7 [S. 1] Verny,21 den 13. Sept(ember) 1870 Meine theure Johanna! Nachdem ich den letzten Tagen Deine lieben Briefe mit mir sehr willkommener Begleitung erhalten habe, empfange ich soeben auch Deine theuren Zeilen vom 21ten d(iese)s. Schon früher würde ich Dir geantwortet haben, konnte aber niemals dazu kommen, da wir erstens zu 200 Mann in einem Hause liegen und Dir leicht denken kannst, wie es da mit dem Schreiben aussieht. Dann sind die Franzosen auch so unruhig in den letzten Tagen, daß wir 2 Tage hintereinander allarmirt ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 21 Verny, Gemeinde 14 km südlich von Metz. 57
Hans-Joachim Kühn
wurden. So finde ich denn endlich heute Abend ein paar freie Augenblicke, die natürlich Dir, meine theure Johanna, gehören. Gestern Abend erhielt ich von Heinrich die entsetzliche Nachricht von dem Tod meines mir so sehr lieben Schwagers Georg. O Johanna, das hat mich hart getroffen, das hat mir trotz des rauhen Kriegerlebens manche Thräne gekostet, er war so seelengut und ein so treuer [S. 2] Bruder. Und wie schrecklich ist meine arme unglückliche Schwester geschlagen, o Gott, wie wird sie das aushalten. Und die armen, armen 5 Kinder. Johanna, da kann kein Trösten helfen, die Zeit muß da lindern. Auguste muß sich mit den Tausenden von Frauen trösten, denen das Schicksal dieselbe Wunde schlägt. Für die ganze Familie ist es ein schwerer harter unvergeßlicher Schlag, wie er sie härter nicht treffen konnte. Möge Gott meine arme Schwester trösten und aufrichten, damit sie die Pflichten, die sie gegen die Kinder hat, erfüllen könne. Für die schönen, guten Sachen, die Du mir immer geschickt hast, sage ich Dir meinen herzlichen innigsten Dank und kann Dir versichern, daß mir die Chocolade ganz besonders gut geschmeckt hat. Sie ist das Beste, was man überhaupt genießen kann, besonders jetzt, wo sich hin und wieder die Ruhe bei den Truppen zeigt. Mir geht es, Gott sei Dank, sehr gut, besonders wo wir jetzt in Quartieren [S. 3] liegen. 2 Tage war ich zur Abwechselung einmal revierkrank, doch bin ich gründlich wieder hergestellt. Ich kann kaum schreiben, da um mich herum fortwährend die lautesten Unterhaltungen geführt werden und Einer die Zeitung vorliest. Von Onkel Julius erhalte ich regelmäßig Tabacksendung und möchte ich ihm so gern wie auch nach Haus und an Auguste schreiben, wenn ich nur einmal eine ruhige Stunde finden könnte. Wir müssen, trotzdem wir fast im Bereich der feindlichen Kanonen liegen, gehörig exerciren, was mir und Allen wenig paßt. Letztes mal vor 3 Tagen sind von unseren Feldwachen leider wieder 3 Mann gefallen, leider Einer todt. Sähen wir von Allem nur irgend welchen directen Erfolg, aber es bleibt hier immer das ewige Einerlei und glaube ich, es wird leider auch wohl vorläufig so bleiben. Wenn es aber endlich, endlich vorbei und ich wieder dort, bei Dir, theure Johanna, in geregelter Thätigkeit, wie sehr froh und glücklich würde ich sein. Johanna, ich kann [S. 4] Dir gar nicht sagen, wie leid ich dies rohe Leben bin, obwohl ich es im Allgemeinen ganz gut habe, da es der Hauptmann sehr gut auf mich stehen hat. Doch was ist das Alles, wäre ich nur wieder bei Dir, dann will ich alle überstandenen gefahren nichts rechnen. Es ist ein Glück, daß das Bivouakiren ein Ende hat, nur müssen wir alle 8 Tage 48 Stunden auf Vorposten, was natürlich sehr 58
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg
fatal und gefährlich ist. Doch mach Dir nur keine unnützen Sorgen, es ist nach unserer Seite von Metz aus am Wenigsten zu befürchten. Hoffentlich geht Dir’s, sowie Allen Angehörigen recht gut. Das Ereigniß bei Heinrich wird hoffentlich trotz der schrecklichen Geschichte gut vorbeigehen. Ich denke morgen von Haus weitere Details über diese traurige Sache zu erfahren. Sobald und soviel ich eben kann, werde ich Dir immer scheiben, davon wirst Du, theure Johanna, auch überzeugt sein. Für die gesandten Sachen sage ich Dir nochmals meinen herzlichsten innigsten Dank und halte mich zu ferneren Sendungen bestens empfohlen. Grüß mir Alle, besonders Vater und Mutter aufs Herzlichste, ich würde auch ihnen gern schreiben, wenn ich nur könnte. Mit tausend herzlichen Grüßen und Küssen, bleibe ich immer Dein Dir ewig treuer Hermann.
Nr. 8 [S. 1] Ars-Laquenexy,22 den 5. October 1870 Meine theure Johanna! Da ich gerade etwas Zeit habe, benutze ich dieselbe, Dir wieder einige Zeilen zukommen zu lassen, und ist es mein Erstes, Dir zu sagen, daß ich noch ganz wohl bin. Deine lieben Briefe, ferner die Chocolade, den Thee habe ich alles richtig erhalten und danke Dir herzlichst dafür. Es sind dies Sachen, die immer willkommen sind. Den mir avisirten langen Brief, auf den ich nun schon so lange warte, habe ich noch immer nicht erhalten, ich meine eben den von Carl. Die vermutliche Dislocution unserer Division fand richtig statt, jedoch schlug die angenehme Erwartung, uns zu verbessern, in das Gegentheil um, indem wir hier eine gefährliche Position haben, auf der wir noch bis Montag bleiben müssen, und von den 4 Tagen werden wir noch einen auf Vorposten zubringen. Wir alle haben diesen Dienst lang satt, so intressant wie er auch in den Zeitungen beschrieben wird. Über die näheren Details der letzten Vorpostennacht wirst Du vielleicht schon von Eduard, dem ich gestern [S. 2] schrieb, gehört haben, dieselben waren einmal wieder sehr gefährlichen Characters. Das nächste Mal am Sonntag werde ich wohl eine etwas bequemere Wache bekommen. Wir liegen hier fortwährend am Bereich der franz(ösischen) Granaten, die aber keinerlei Schaden thun. Mach Dir nun ja über meine vermeintene Lage ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 22 Gemeinde Ars Laquenexy, unmittelbar südwestlich an Metz angrenzend. 59
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keine unnützen Sorgen, da schon so viele hiergelegen und Glück gehabt haben. Nachdem wir abgelöst sind, werden wir es wohl so viel ruhiger bekommen. Hier kann ich kaum dazu kommen, Dir zu schreiben, da ich fortwährend gestört werde. Diesen Brief schreibe ich wieder auf dem Tornister sitzend, unter freiem Himmel, doch dürfen wir des Nachts in die Stallungen, in denen wir zu 800 Mann liegen, hineinkriechen, was uns schon als gewaltiges Glück erscheint. Vor einigen Tagen traf ich auch Carl Ruggeberg, dem es, sowie den übrigen Gevelsbergern, noch ganz gut geht. Ruttenbeck habe ich seit 8 Tagen nicht getroffen, konnte ihm daher die Grüße noch nicht bestellen. Sein Bruder wird wohl auf der Besserung bleiben, ebenso A. Schulte. Die Erkrankungen unserer Leute nehmen leider zu, besonders leiden viele an der Ruhr. [S. 3] Dir, sowie den übrigen Familienmitgliedern wird es hoffentlich noch gut gehen, worüber ich hoffentlich recht bald wieder hören werde. Ed(uard) schrieb mir über die Einzelheiten des Todes unseres unvergeßlichen Schwagers Georg, welche doch wirklich schrecklich sind. Wie wird Auguste noch darunter leiden. Du hast sie ja leider noch in trauriger Verfassung gefunden, was ja zu natürlich ist. Bei Heinrich ist also wieder ein Sohn angekommen, so geht es, Sterben und Leben, ein ewiger Wechsel. Ich hätte ihm diesmal ein Töchterchen gewünscht. Hoffentlich wird Marie sich bald erholen. Ich theilte Eduard mit, daß ich vielleicht in eine andere Compagnie versetzt werde, worüber ich zeitig Mittheilung machen werde, addressier nur Deine Briefe wie bisher und nur recht fleißig, darum bitte ich Dich, Johanna, ganz besonders, denn dies macht mir eine so große Freude. So oft ich aber kann, scheibe ich auch, ich habe nur zu selten Gelegenheit dazu bei diesem unruhigen Leben. O, wie lang wird das nur noch dauern, es scheint mir noch recht lange, welche Aussichten recht traurig für mich und uns Alle ja sind. Hoffen wir zu Gott, daß [S. 4] es so lenke, daß wir recht bald wieder in unsere Familien zurückkehren, wonach Alle so sehr verlangen. Hörte wenigstens das Blutvergießen endlich auf, dann käme es ja auf ein paar Tage und Wochen nicht an. Heinrich hat mir bis heute noch nicht geschrieben und muß ich auf seinen, sowie Carls Brief, auf den ich besonders gespannt bin, noch mit Geduld warten. Grüß mir Alle Angehörigen beiderseitig aufs Herzlichste, besonders die lieben Eltern. Ich muß schließen, da wir allarmirt werden sollen. Leb wohl, Johanna, bis bald, sobald ich kann, schreibe ich wieder. Mit tausend Grüßen bleibe ich Dein treuer Hermann.
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Nr. 9 [S. 1] Pont à Mauson23 près de Metz 14/10 1870 Meine theure inniggeliebte Johanna! Obgleich ich Dir noch vorgestern geschrieben habe und noch keinerlei Neuigkeiten mitteilen kann, benutze ich doch die freien Augenblicke, die ich grade habe, um Dir wieder einige Zeilen zukommen zu lassen und kannst Du einmal sehen, wie Unrecht Du mir gethan. Die mir angedrohte Strafe müßte eigentlich umgekehrt ertheilt werden, doch will ich Gnade vor Recht ergehen lassen. Womit sollte ich Dich auch eigentlich strafen, ja wenn ich könnte, wollte ich es schon machen, dann würde ich Dir ein Dutzend Küsse rauben, aber ich könnte es, da dies leider nicht möglich ist, auch anders machen und schreibe{n} einmal 6 Wochen nicht. Was würdest Du dann sagen, Johanna? Sei aber nur unbesorgt, so oft ich kann, schreibe ich Dir und davon wirst Du auch überzeugt sein. Heute Morgen habe ich auch an Onkel Julius geschrieben, der mich reichlich mit RauchRequisiten versieht, was mir besondere Freude macht. Auch an Marie habe ich geschrieben und kannst Du mal sehen, welche Ausdauer [S. 2] ich noch habe, um auch diesen, also den dritten Brief noch zu schreiben. Es geht mir nach wie vor noch recht gut und hoffe, dies wird auch bei Dir, sowie bei allen Familienmitgliedern beiderseitig der Fall sein. Die mir gesandten jedenfalls selbst fabricirten Pulswärmer gefallen mir sehr gut und habe ich sie gleich angezogen. Ich spreche Dir meinen herzlichsten innigsten Dank dafür aus, sehe ich doch in ihnen einen neuen Beweis Deiner mich so glücklich machenden herzlichen Liebe. O Johanna, käme doch einmal die Zeit, wo ich Dir alle Sorge, alle Liebe vergelten könnte, welche Freude würde mir das machen. Wird es noch lange dauern? Johanna, die Ungeduld wächst mit jedem Tage. Es ist ein trauriges Dasein hier, so zwecklos, aufreibend und endlos! Wie anders wäre es, wenn ich so Mittags zu Dir springen könnte, um Dir gesegnete Mahlzeit zu wünschen, so Abends zu Dir kommen könnte, um ein Stündchen zu plaudern. Wird diese schöne Illusion wohl noch bis [S. 3] Weihnachten zur Wirklichkeit werden? Ach, theure Johanna, ich glaube es kaum, komme im Gegentheil immer mehr zu der Ueberzeugung, daß wir den Winter in Frankreich zubringen werden. Jetzt momentan ist wieder ein starkes Gefecht im Gange und rast die Artillerie wieder drauf los. Ich bin durch Zufall zurückgeblieben, unsere Compagnie am Schanzenwerfen. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 23 Pont-à-Mousson, Stadt im Département Meurthe-et-Moselle (Lothringen), südlich von Metz. 61
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Es ist möglich, daß der Rest auch heute noch fort muß. Doch ist es an der andern entgegengesetzten Seit und höre ich eben, daß schon 2000 Mann gefangen sein sollen. Dies bedarf aber noch sehr der Bestätigung. Ich will hoffen, daß es wahr ist, wäre es doch schon wieder ein Vortheil. Fr(äu)l(ein) Arnoldi ist dann wohl bei Dir und wirst Du gewiß angenehme Tage mit ihr haben. Einen Gruß kannst Du mir wohl an sie bestellen. In meinem letzten Briefe habe ich Dir nicht geschrieben, daß ich das Offizier-Examen gemacht und mit „Gut“ bestanden habe. Ich hoffe binnen Kurzem Vice-Feldwebel zu werden, [S. 4] wodurch ich in ganz andere, bedeutend angenehmere Verhältnisse kommen würde. Ich werde Dir hierüber bald Näheres mittheilen. Es wäre wirklich Glück, als Gemeiner ausgerückt und möglicherweise als Offizier die Rückkehr, was würdest Du dann sagen? Von Carl höre ich noch immer Nichts und möchte doch so gern einen Brief haben. Heinrich hat mir auch nicht geschrieben. Auguste wird wohl jetzt nicht mehr schimpfen, bitte grüß mir sie doch herzlichst. Heute Abend hoffe ich sicher einen Brief von Dir zu erhalten, oder doch spätestens morgen früh. Schreibe mir doch so häufig wie eben möglich, es macht mir immer große Freude. Zum Schluß bitte ich Dich, mir Alle recht herzlich zu grüßen, besonders Vater, Mutter, Emilie. In einigen Tagen schreibe ich Dir wieder, bis wohin mit tausend herzlichen Grüßen (und) Küssen, die ich mir viel lieber holte, ich stets bleibe Dein Dir treuer Hermann.
Nr. 10 [S. 1] Pont à Mauson, den 18. October 1870 Meine theure Johanna! Soeben erfahre ich, daß wir morgen wegmarschiren müssen, und benutze ich die paar freien Augenblicke, die mir heut noch bleiben, Dir noch einmal zu schreiben, da ich nicht voraussetzen kann, ob ich morgen noch Zeit dazu finden werde. Wie es scheint, wird hier sehr bald die Endkatastrophe eintreten und glaubten wir Alle, dies würde heute an dem denkwürdigen Erinnerungstage24 geschehen, was aber doch nicht so scheint. Ich hoffe, der letzte Schritt wird wohl unblutig bleiben, da das Gegentheil doch entschieden zwecklos wäre. Die Zustände in Metz müssen jetzt ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 24 Der 18. Oktober war der 55. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig 1815. 62
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg
wohl sehr trauriger Natur sein, soviel wir hier davon erfahren haben. Gestern und auch heute kamen hier franz(ösische) Verwundete vorbei, deren elendes Aussehen Einem wirklich mit Bedauern erfüllt. Alle werden königlich froh sein, wenn wir hier einmal endlich eine Änderung haben würden, denn es wird denen doch schließlich zu langweilig. Die letzten Tage haben wir [S. 2] ein recht bequemes Dasein gehabt so für die jetzigen Verhältnisse. Dort würde ich es ein Hundeleben nennen. Sehr angenehm ist es besonders, daß bis hier alle möglichen Händler kommen, so daß man viele gute Sachen, wenn auch zu colossalen Preisen haben kann. Für 1 Th(a)l(er) hat man nicht viel und doch muß man sich abends erholen, da der Körper doch zu sehr strapazirt ist. Sonst kann ich auch heute wie früher sagen, daß ich glücklicherweise recht wohl bin. Im Allgemeinen könnte der Gesundheitszustand wohl besser sein, momentlich haben wir fortwährend viel Ruhrkranke. Die Leute verschulden dies zwar meistens selbst durch zu unsinniges Leben. Wenn meine Gesundheit so bleibt, will ich Gott danken. Dir wird es doch auch wohl gut gehen und auch Allen Anderen. Seit einigen Tagen warte ich wieder sehnlichst auf einen Brief von Dir, erhielt aber gestern ein Paketchen mit Chocolade, für die ich Dir herzlichst danke. Sie ist das Beste, was man Abends zu sich nehmen [S. 3] kann. Für den Gruß von Fr(äu)l(ein) Arnoldi meinen herzlichsten Dank und bitte ich um freundliche Erwiderung desselben. Deine Voraussetzung, daß ich ihr25 auch ein Plätzchen in Deinem Herzen gönnte, ist gewiß richtig, bin ich doch Deiner treuen Liebe mir stets und so sicher bewußt. Und dieses Bewußtsein und die angenehme süße Hoffnung, bald wieder an Dein Herz, in Deinen Arm zurückkehen zu können, ist ja mein Einziges und Alles, mein einziger Trost in trüben Stunden. Ja Johanna, das wollen wir hoffen und Gott darum bitten, daß ich bald wieder in die liebe Heimath zurückkehren kann und daß dann nie wieder der grausige Krieg unser Glück störe. O Johanna, wenn ich mir das ausmale, wie schön wird es sein, käme nur endlich, endlich der Tag, der leider noch nicht so nahe zu sein scheint. Hier vor Metz scheint es, wie gesagt, bald zu Ende zu sein, aber was wird dann mit uns geschehen? Ich denke und hoffe, daß es eher fallen wird ohne [S. 4] wir wieder auf Vorposten kommen, was ungefähr noch 12–14 Tage dauern wird. Gestern bekam ich von Auguste einen Brief, der noch so traurigen verzweifelten Inhalts war, daß ich gar nicht davon abdenken kann. Es ist auch wirklich schrecklich für sie, das ganze Leben einsam zu durchleben. Und dann die 5 schon so früh vaterlosen Kinderchen, ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 25 Nach ihr gestrichen nicht. 63
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welch trauriges, ergreifendes Bild! Sobald ich kann, werde ich dem Vater auch schreiben, heute wird es zu spät. Auch Dir schreibe ich sobald wie eben möglich wieder, hoffentlich bald aus Metz oder wenigstens mit der frohen Botschaft von seinem Fall. Laura, Emilie, Auguste und besonders die lieben Eltern grüß mir herzlichst, auch Heinrich, der sowie Carl nichts von sich hören lassen. Morgen werde ich dann wohl einen Brief von Dir bekommen. Mit tausend herzlichen Grüßen und Küssen bleibe ich immer Dein Dir treuer Hermann.
Nr. 11 [S. 1] Coincy,26 den 23. October 1870 Meine theure innigstgeliebte Johanna! Vorgestern erhielt ich Deinen lieben Brief als Antwort auf meinen vorletzten und sehe mit großer Freude, daß es sowohl Dir als auch allen Angehörigen noch recht gut geht. Dies kann ich Dir denn von mir auch sagen und brauchst Du ja nicht zu glauben, daß es nicht ganz genau so sei. Wenn ich Dir letzt schrieb, daß ich längere Zeit nicht so ganz wohl gewesen sei, so hast Du Dir das etwas zu schlimm aufgefaßt, was es keinesfalls und fast auch nicht erwähnenswert war. Ich will hoffen, daß mein Gesundheitszustand so bleiben möge bis zur hoffentlich baldigen Beendigung des unglückseligen Feldzuges. Meine Hoffnung, daß wir hier bald fertig sein würden, scheint sich noch nicht so bald zu erfüllen und werden wir uns aufs Neue gedulden müssen. Immerhin [S. 2] glaube ich, daß wir es hier besser aushalten können wie die franz(ösischen) Truppen in Metz, wo es denn doch bald traurig aussehen muß. Von Paris hört man auch Nichts und ist das einzige Belangreiche die Einnahme von Soissons. Seit Donnerstag liegen wir hier in Coincy nah bei dem Schlachtfelde vom 14. (und) 16. August, wieder ziemlich nahe dem Feinde und in einem so schmutzigen Loch, daß man vor Dreck nicht weiß, wohin man soll. Bis heute 8 Tage werden wir wohl hier liegen bleiben, wenn nicht Besonderes eintritt, worauf wir Alle sehnlichst warten. Du wirst in dieser Woche schwerlich einen Brief erhalten können und wollest Du Dich deßhalb nicht ängstigen. Wenn wir von hier fort kommen, sollst Du mir jetzt gleich so viel mehr Briefe erhalten. Ich denke wenigstens, Du wirst jetzt ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 26 Coincy, Gemeinde 7 km östlich von Metz. 64
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zufrieden mit mir sein. Hoffentlich werde ich [S. 3] heute oder morgen auch von Dir wieder einen erhalten, und wenn es mir, was ich zwar nicht glaube, möglich ist, schreibe ich Dir auch noch wieder. Recht herzlich freue ich mich, daß Du damit einverstanden bist, daß ich noch avanciren will und werde, konnte zwar von Dir auch Nichts anderes erwarten. Mit dem Lieutenant wird es zwar noch etwas dauern, da dazwischen noch der Vice-Feldwebel liegt, welche Charge ich wohl binnen 14 Tagen bekleiden werde. Nichtsdestoweniger bin ich schon Zugführer geworden und fehlt mir nur noch der Titel. Aber Alles verschwindet gegen den so sehnlichen, heißen Wunsch, bald zu Dir zurückzukommen, dessen Erfüllung wohl leider noch einige Zeit dauern wird. Doch will ich nicht klagen, so lange ich gesund bleibe. Die Folgen der Strapazen machen sich aber schon bei Vielen bemerkbar und wandern [S. 4] täglich welche ins Lazareth. Meistens sind es aber solche, die Nichts zuzusetzen haben und nur von dem Gelieferten leben müssen. Ich pflege mich, so weit es eben möglich ist, und ist es ein wahres Glück, daß man hauptsächlich Rothwein hat, der uns von den Ärzten sehr empfohlen wird. Ueber den Zustand von A. S. (und) F. R. freue ich mich, d. h. in der Hoffnung, daß letztere noch besser hergestellt werden wird. Fr(äu)l(ein) Arnoldi bitte freundl(ich) wieder zu grüßen, vielleicht ist sie aber schon abgereist. Ebenso bitte ich alle Andern herzlichst zu grüßen. Leider muß ich so eilen, da ich gleich wieder in Dienst muß, werde aber, sobald wie möglich so viel mehr schreiben. Doch, theure Johanna, Du weißt ja, daß es mir die liebste Beschäftigung ist, mich mit Dir zu unterhalten und ebenso, wie sehnlich ich immer auf Deine Briefe warte, und hoffe ich sicher recht bald wieder von Dir zu hören. Leb wohl, theure Johanna, und sei tausendmal herzlich gegrüßt (und) geküßt von Deinem treuen Hermann.
Nr. 12 [S. 1] Borny,27 den 8. November 1870 Theure Johanna! Da ich endlich von meinem Commando erlöst bin und alle Franzosen spedirt sind, will ich Dir denn, so schlecht ich auch jetzt wieder die Zeit habe, doch wenigstens wieder ein Lebenszeichen von mir geben. Unsere Division war für Thionville be⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 27 Borny, ehemalige Gemeinde 3 km östlich von Metz, seit 1961 Stadtteil. 65
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stimmt und wandert seit dem 6t(en) d(ie)s(es) hin und her, so daß wir gestern …28 Quartier haben. Wohin wir eigentlich sollen, weiß ich nicht, werde aber bis morgen wohl was erfahren. Mein Commando war, als ich die letzte Zeile sandte, sehr anstrengend, doch geht es einem mit der Uebung besser und hatte ich es die letzten Tage besser, nur mußte ich immer am Platz sein. Meine und auch Deine Hoffnung, daß ich bei bester Gelegenheit Carl einmal treffen würde, hat sich leider nicht erfüllt und ist dies für den Feldzug jetzt wohl zur Unmöglichkeit geworden, da das 10t(e) Corps ja fort nach dem Süden ist. Vielleicht wird Carl nicht zu marchiren brauchen, oder doch, wenn er dies muß, dies hoffentlich gut aushalten können. Am Sonntag erhielt von dem Lagercommandeur Urlaub nach Metz und habe ich mir diese so viel genannte Festung einmal ganz genau besehen, bin dabei zu der Ueberzeugung gekommen, daß mit Gewalt wir sie wohl nie bekommen hätten. Da habe ich denn zum erstenmal ordentlich und anständig gegessen und kann ich Dir gar nicht sagen, welch wohlthuendes Gefühl das für mich war. Hauptsächlich angenehm war es, sich in einem anständigen [S. 2] Bade zu bereinigen, da ich in der ganzen Campagne kein ordentliches Zimmer gesehen habe, sondern nur Schmutz und Stroh. Man sieht doch, was die Gewohnheit thut, ich habe mich ordentlich über eine tapezierte Wand gewundert. Eine angenehme Ueberraschung war es für mich, in Metz H(er)rn Dr. Gerstein zu treffen, der noch recht wohl war und Alle grüßen läßt. Auch er hatte wie Alle große Sehnsucht nach Haus. Nachdem ich eben in Metz gewesen bin, ist diese bei mir auch wieder so lebhaft erwacht, daß ich es kaum mehr aushalten kann. Käme doch endlich, endlich einmal der süße Friede wieder, könnte ich doch endlich, wenn auch nur für eine Stunde zu Dir zurückgehen. Aber es hilft ja das Klagen nicht, darum vorwärts. Nur das Unbestimmte ist ja sehr unangenehm. Sehr wundert es mich, daß der ..h..29 Schmitz schon zum 2te mal dort gewesen ist, doch ist es für mich der klarste Beweis, daß er es meisterlich versteht, sich, wie wir es nennen, zu drücken. Um so mehr freut es mich, theure Johanna, daß Du Ähnliches von mir nicht erwartet hast und es noch viel weniger wünschst. Schön wäre es gewiß einmal ein paar Tage nach dort zu kommen, aber weg mit solchen Gedanken! Meine Beförderung ist der unruhigen u(nd) aufregenden Tage wegen noch nicht erfolgt, wird aber nicht lange mehr auf sich warten lassen. Der Aufenthalt [S. 3] in dem Lager der Gefangenen war abgesehen von der Anstrengung sehr ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 28 Unleserlich wegen der abgegriffenen Falz des Briefpapiers. 29 Unleserlich, wohl ein Vorname. 66
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intressant. Die Soldaten waren förmlich ausgehungert und war es schrecklich anzusehen, wie sie über jedes Eßbare herfielen. Auch gab es sehr viele Kranke und starben uns auch in einer30 Nacht 15 Mann. Ich muß wirklich sagen, daß ich in dem Feldzuge wohl so ziemlich alle Chancen durchmache. Leider ist unser so sehr guter Hauptm(an)n abcommandirt, doch haben wir auch einen ganz guten Nachfolger. Er ist Elberfelde und Reserve-Offizier. Daß der liebe Vater wohl und glücklich seinen 57. Geburtstag gefeiert hat, freut mich sehr und bedaure nur auch, daß er mir zum erstenmal gleich nicht31 vergönnt ist, ihm meine herzlichsten Glückwünsche darzubringen. So sehr gern ich dies nun wenigstens schriftlich nachholen würde, ist es mir leider unmöglich, da ich wieder in Dienst muß und ich ka…32 auch nicht sehen kann. Sollte es mir morgen irgendwie möglich sein, werde ich es noch denn thun, jedenfalls bitte ich Dich herzlichst, in meinem Namen für mich es besorgen zu wollen, Ja, theure Johanna, wollen wir hoffen und Gott bitten, daß er uns noch lange ihn und auch besonders die liebe [S. 4] Mutter erhalten möge. Auch sie bitte ich herzlichst grüßen zu wollen. Mit dem schreiben wird es wahrscheinlich wieder unregelmäßig werden, da wir ja wieder marschieren müssen. Jedenfalls aber, theure Johanna, schreibe ich Dir sooft es eben möglich ist, ist mir dies doch die liebste Beschäftigung. Hier liegen wir ½ Stunde von Metz in einem recht properen Dorf aber wieder à 16 Mann in einem Zimmer. Fr(äu)l(ein) Arnoldi grüße mir freundlich. Wenn sie die schuld ist, daß ich weniger Briefe erhalte, möchte ich ihr fast böse werden. Herm(ann) Schulte ist noch recht wohl, doch ich kann nicht mehr sehen, muß deßhalb zum Schluß eilen. Nochmals bitte ich Alle herzlichst von mir zu grüßen und mir recht oft zu schreiben. Hoffentlich werden wir bald unsere Unterhaltungen mündlich machen können, wonach ich mich so unendlich sehne, doch Geduld! Theure Johanna, lebe wohl und empfange die Herzlichsten Grüße (und) Küsse tausendmal von Deinem Dir ewig treuen Hermann.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 30 Unterstrichen einer. 31 Nach nicht gestrichen erfolgt. 32 Zwei oder drei Buchstaben durch die Unterlänge der vorausgehenden Zeile unleserlich. 67
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Nr. 13 [S. 1] Hagondance,33 den 12. Nov(em)b(e)r 1870 Meine theure inniggeliebte Johanna! Gestern Abend erhielt ich Deine lieben Zeilen vom 8ten d(iese)s und benutze gleich heute Morgen die ersten freien Augenblicke, Dir zu antworten. Sehr freuet es mich, daß Du noch wohl bist und setze dies auch bei allen Andern voraus. Kann es auch glücklicherweise von mir sagen. Leider ist jetzt der Winterfeldzug im Gange, indem es seit gestern hier ziemlich viel geschneit hat. Also Heinrich ist wohlbehalten wieder angelangt und ist es jedenfalls sehr angenehm für Euch, wieder Gesellschaft zu haben. Jetzt wird er dann endlich auch wohl mir schreiben, was er noch nicht ein einzigesmal gethan hat. Nun bitte ich, ihn daran zu erinnern. Carl hat sein Wort besser gehalten, indem ich vor 14 Tagen schon einen längeren Brief von ihm erhielt, worin er mir von dem gemeldeten Unwohlsein nichts schreibt und wird es denn zum Glück nicht schlimm gewesen sein. Leider hat es das Glück nicht gewollt, daß wir uns in Metz getroffen haben, obwohl ich dort 3 mal [S. 2] war und wie ich schrieb, den Dr. Gerstein dort traf. Unsere Division hat Pech, indem wir leider wieder Thionville belagern müssen und dorthin auf dem Wege sind. Ich habe zwar keine große Vorstellung davon, doch wird es jedenfalls als Minimum einige Wochen dauern. Meine Hoffnung, Weihnachten dort mit Dir feiern zu können, wird wohl schwerlich in Erfüllung gehen, indem es den Anschein gewinnt, als wolle es noch eine Weile dauern. Dies hatte ich mir schon lange so schön ausgemalt, so einige Tage vor diesem schönen Fest wieder in der lieben Heimath anzukommen und es mit Dir in nie dagewesener Freude und Würdigung dieses Tages zu feiern. O theure Johanna, wie schön wäre es, sollte es wohl noch möglich sein? Ich sitze hier am offenen Fenster, um die frische Luft in den kleinen übervollen Stuben zu genießen und die Schneeflocken sie fallen, es ist so schön friedlich und still; ach da zieht sie Sehnsucht und die Erinnerung an [S. 3] Alles daheim so mächtig in meine Seele ein, die Erinnerung der so schönen gemüthlichen Winterabende, die Ueberzeugung und die Gewißheit, wie viel schöner noch sie jetzt für mich, für uns sein könnten, und dabei kommt dann immer wieder das kalte Unmöglich! Was hilft aber alles Klagen, alles Sehnen und Wünschen, bin ich doch Gott, der mich bisher so sehr beschützt hat, so großen Dank schuldig und wäre es ja Unrecht von mir zu klagen. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 33 Hagondange (Hagendingen), Gemeinde 13 km südlich von Thionville. 68
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg
Wie ich schon gestern an meinen Vater schrieb, sind bis jetzt nicht weniger als 122 Mann unserer Compagnie von denen, die Anfangs ausgerückt sind, ins Lazareth gekommen oder todt, also über die Hälfte, das sind traurige Resultate. Und wie viele werden noch folgen! Wir alle denken, nachdem wir das große starke Metz bezwungen haben, sehr klein von Thionville und wer weiß, was uns noch dort grade bevorsteht. Wahrscheinlich werden wir morgen Mittag weiter nach Ucange34 gehen, welcher Ort noch 1 Stunde von T(hionville) liegt. Der intressante schreckliche Vorpostendienst wird dann wohl [S. 4] von Neuem wieder anfangen und will ich nur hoffen und wünschen, daß es nicht lange damit dauern wird. Fr(äu)l(ein) Arnoldi ist dann wohl abgereist und werde ich vielleicht davon den Vortheil haben, mehr und längere Briefe zu erhalten. Den Tod der Frau Schüren, unter der ich die alte Frau Anfangs verstanden hatte, bedaure ich sehr, welches Unglück sucht den Mann doch heim. Von meiner armen Schwester Auguste höre ich Nichts, hoffe aber, sie wird sich allmälig fassen, so schwer und schrecklich es auch ist. Ich erhielt vor etwa 3 Wochen noch von ihr die Photographie des lieben Verstorbenen. Diese Woche werde ich hoffentlich einen Brief noch von Dir erhalten und ihn jedenfalls auch gleich beantworten, vorausgesetzt, daß es mir möglich sein wird. Die lieben Eltern und überhaupt Alle grüße mir herzlichst, an den Vater werde ich recht bald einmal schreiben, sobald mir möglich. Leb denn wohl, Johanna, und empfange die herzlichsten Grüße und Küsse von Deinem Dir ewig treuen Hermann.
Nr. 14 [S. 1] Lafrancheville35, den 22. Dez(ember) 1870 Meine inniggeliebte Johanna! Vor einer Stunde bin ich von einer eisig kalten Feldwache, auf der ich 2 Tage zubringen mußte, zurückgekehrt und finde zu meiner sehr großen Freude Deinen (und) Heinrichs lieben Brief vom 14ten d(iese)s M(ona)ts sowie 2 Visitenkarten von Emi (und) Auguste, die mir zum Geburtstag gratulieren, vor. Obwohl abstrapazirt, setze ich mich doch gleich hin, um Dir ihn zu beantworten. Es geht mir glücklicherweise sehr gut und habe mich heute Morgen nach solch einer Tour über mich selbst ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 34 Uckange, Ückingen, Département de la Moselle, ca. 10 km südlich von Thionville. 35 La Francheville, Département des Ardennes, ca. 8 km westlich von Sédan. 69
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gefreut, daß ich noch so munter und frisch in’s Wetter schaue. Ich sehe effectiv doppelt so gut aus, wie ich früher that, aber das hat auch seinen Grund, wenn man immer von so lieben Händen solch schöne, wohlschmeckende, kräftige Sachen bekommt, braucht man sich eigentlich gar nicht zu wundern. Für diese alle sage ich Dir meinen wärmsten herzlichsten Dank und denke ich bei jedem Bissen, den ich davon nehme, der lieben, guten Spenderin, meiner theuren, heißgeliebten Johanna. O theures Kind, könnte ich doch Weihnachten bei Dir sein, nur eine einzige Stunde, nur eine Minute, um mir als liebstes Geschenk einem Kuß und einen liebevollen Blick aus Deinen treuen Augen holen, wie glücklich würde [S. 2] ich sein und wie bitter ist leider die Wirklichkeit. Mein Weihnachtsbaum sind einige alte Buchen, die trostlos bei dem kalten Sturm gen Himmel ragen, als wollten sie klagen über all das Weh und Elend, das in der Welt ist und noch täglich in dieselbe kommt. Meine Lichter werden sie klaren Sterne sein, die in gleicher Pracht von Gottes klarem Himmel herunterschauen auf uns armen Kerls, die wir wie die Hunde frierend hier herumliegen. Welch mancher Seufzer, welch manche Bitte aber auch leider welch mancher Fluch steigt zu ihnen empor. Mein Loblied an dem heiligen Morgen, das wird Kanonendonner und Gewehrfeuer sein, vermischt mit dem Jammergeschrei derer, die da wieder fallen werden. O Johanna, welch traurige Tage sind das für mich, wie erfaßt mich schon jetzt die Sehnsucht nach Dir, nach dem trauten Familienkreise so gewaltig, daß ich eilen möchte ohne Aufhören, bis ich mich an Deiner treuen Brust ausweinen könnte und mich wieder zu neu erwachtem Leben stärken und freuen könnte. Doch ich will nicht auch Dich noch traurig Stimmen und nach Kräften all diese Bilder, deren Verwirklichung nun einmal nicht möglich ist, verscheuchen, vielmehr mich auch freuen und Gott danken, mit dem Gedanken, daß Ihr, besonders Du, doch im Geiste bei mir seid. [S. 3] Ich schickte Dir letzt einige flüchtige Zeilen aus der Nähe von Montmedy36, das sich sehr schnell ergeben hat, indem es der Wirkung unserer Artillerie, besonders der einigen neuen Geschütze, nicht widerstehen konnte. Ich lag in einer Batterie als Bedeckung mit 50 Mann und hatte durch die Freundlichkeit eines Artillerie-Offiziers ein Fernrohr, durch das ich alles haarscharf sehen konnte. Die Granaten, die über 200 (Pfund) wogen, durchschlugen die Mauern vollständig, so daß die Citadelle bald ein Trümmerhaufen war. In Montmedy bin ich nur ½ Tag gewesen, als uns das II. Bataillon ablöste und wir wieder weiter mußten. M. Rethenbeck (und) H. Schulte, sowie die übrigen Gevels⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 36 Montmédy, Département de la Meuse. 70
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berger des R(e)g(imen)ts sind infolge dessen Alle dort geblieben als Garnison, jedoch nur so lange, bis Landwehr sie ablöst, jedoch immerhin Zeit, sich ein bißchen zu erholen. Nach sehr anstrengenden langen Märschen kamen wir durch berühmt gewordene Orte und das Schlachtfeld von Sedan,37 nach Sedan selbst und zwar am Sonntag Nachmittag. Die Bilder waren entsetzlich, ein Ort von 3000 Einwohnern, von denen welche auf die Baiern geschossen hatten,38 war der Erde gleich gemacht und stand von ca. 800 Häusern etc. nur noch ein Einziges, dessen Besitzer unsern Soldaten Waffen gebracht hatte. Nur der Beschreibung nach kann man sich solch ein Bild gar nicht vorstellen, [S. 4] es ist wirklich zu schrecklich. Von da weiter führte der Weg nach Sedan nur durch einen großen Kirchhof, da links und rechts fortwährend neue Gräber auftauchten, von denen die meisten schon so eingesunken waren, daß man nur an der etwas frischen Erde sie noch erkennen konnte. Das sind die tiefen Schattenseiten des Krieges. Die Vorstadt von Sedan hatte auch stark gelitten, während die Festung selbst noch eben zeitig capitulirt hatte und verschont geblieben war. Sedan ist sehr hübsch, hat ca. 15 000 Einwohner und schöne, namentlich Tuchfabricken. Wir fanden da die von der Capitulation herrührenden Kriegsvorräthe, die bis jetzt nicht transportirt werden konnten, jetzt aber wohl spedirt werden. Es standen da noch einige hundert Kanonen und 50 Mitrailleusen,39 ein Anblick, der uns trotz des strömenden Regens sofort „die Wacht am Rhein“ entlockte. Besonders die Kaffeemühlen40 machten uns Spaß. In Sedan hatte ich das Glück, ein sehr feines Quartier zu bekommen, was eine wahre Wohlthat war. Mein Bursche selbst hatte ein viel feiners Zimmer, wie ich es ja für unsere Offiziere gemacht hatte. Mein Diner bestand aus 8 Gängen, dazu die feinsten Weine und feine, aber sehr liebenswürdige Familien. Da habe ich es noch einmal recht empfunden, wie angenehm es für [S. 5] mich ist, französisch zu sprechen, womit ich jetzt fast flüssig fertig werde. Du kannst wohl denken, wie leid es mir that, schon am Montag Morgen fort zu müssen und welchen Unterschied ich empfand, als wir zu 10 Offizieren in einer kleinen Schenke in ein Zimmer campiren mußten. Doch war es ein guter Uebergang, indem ich den Dienstag Morg(en) nach 10stündigem Marsche auf erwähnte Feldwache gehen mußte, die außerdem, daß es recht kalt, ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 37 Sédan, Département, Ort der Entscheidungsschlacht am 1. und 2. September 1870. 38 Zweifellos Bazeilles, Département des Ardennes, ca. 3 km südöstlich von Sédan. 39 Nach 50 gestrichen Geschütze und über der Zeile ergänzt Mitrailleusen. 40 Unterstrichen Kaffeemühlen. Gemeint sind die Mitrailleusen. Vgl. Abb. 2 im Beitrag von Jutta Haag. 71
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ich glaube 12°C war, nur noch das Unangenehme hatte, daß wir fortwährend von Kugeln begrüßt wurden, die allerdings, schlecht gezielt, keinen Schaden thaten. Doch das sind die Wechselfälle des Krieges und ein guter Soldat muß Alles zufrieden aufnehmen und seine Hoffnung auf die Zukunft setzen, die ja besonders für mich so glücksverheißend ist. An meinen Geburtstag hatte ich wenig gedacht und merkte es erst in Sedan, daß ich ihn hatte, indem einer Thür angeschrieben stand 15 Mann 18/12.41 Ich deute Dir dies nur an, damit Du sehen kannst, wie sehr die Leute hier mit Einquartirung geplagt sind. Da weilten allerdings meine Gedanken um dort bei Dir, doch habe ich mir den Tag auch nicht versauern lassen, sondern mit meinem guten Freunde Westhofen, Reisender von P. L. Schmidt [S. 6] in Elberfeld am Abend eine feine Flasche Wein im vergnügten Sinne getrunken. Jetzt haben wir hier Mezières cernirt, was wir wohl bis zum 1. Jan(uar) haben werden. Es ist eine prachtvolle Gegend und besonders von unsern Bergen (Ardennen42) aus gewährt M(ezières) einen herrlichen Anblick und erfüllt es Einen mit Trauer, wenn man denkt, daß bald nur Elend und Jammer dort herrschen wird. Unsere Artillerie kommt heute an und wird Weihnachten das Bombardement beginnen. Sind das nicht traurige Weihnachten? Heinrichs drolliger Brief hat mich recht amüsirt und werde ich ihn gelegentlich beantworten, was wohl noch etwas dauern wird, da ich Niemanden habe, der mich dazu knuscht, wie er schreibt. Em(ilie) (und) A(uguste) bitte ich herzlichst zu grüßen und ihnen für ihren Glückwunsch zu danken mit der Bitte an Beide, mir recht bald einmal zu schreiben, was mir Em(ilie) auch verspricht. Das eiserne Kreuz habe ich noch nicht erhalten, indem seit 6 Wochen keine mehr an unsere Division vertheilt sind, was aber wahrscheinlich bald wieder geschehen wird. Daß ich es bekomme, ist sicher, nur soll man den Tag nicht vor dem Abend loben und ärgere ich mich über meinen Vorwitz, der allerdings durch die Anrede meines [S. 7] Hauptmanns hervorgerufen wurde. Den Tod der Frau Ruppberg hatte ich schon erfahren und bedaure ihn sehr. Sie war eine gute Frau und für die Söhne, namentlich für Fritz ist es recht hart. Welch Unglück bringt doch der Krieg noch immer hervor. Daß der Besuch des Fr(äu)l(ei)n(s) Brenner nicht lange gewährt hat, freut mich, werde ich doch dadurch wenigstens nicht in meinen Briefen be…t. Vor einigen Tagen erhielt ich noch einen Brief von Ida Pruckel, die mir recht vergnügt schrieb und herzlichst zur Verlobung gratulirte. Die Weihnachtsfeiertage ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 41 Der Autor der Briefe hatte am 18. Dezember Geburtstag (s. o.). 42 Nach Bergen unter der Zeile eingefügt Ardennen. 72
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wirst Du hoffentlich gesund und wohl verleben, verbittere sie Dir nur nicht durch trübe Gedanken, sondern halte immer fest an der Hoffnung, die uns nicht zu Schanden werden läßt, darum bitte ich Dich herzlichst, theure Johanna. Daß Carl viele Strapazen hat, glaube ich gern, liest man es doch täglich in den Zeitungen. Es fehlt an solchen wohl keinem Einzigen in der Armee. Von Onkel Julius erhielt ich auch vor einigen Tagen einen recht freundlichen Brief, den ich auch noch beantworten muß, ebenso an den Vater, meinen Vater, Eduard (und) Heinrich, Adelina, die mich Alle so freundlich bedacht haben und kannst Du denken, daß ich noch viel zu thun habe und bald die lange Epistel, die viel länger geworden ist, wie sie sollte, beendigen [S. 8] muß. Aber die Unterhaltung mit Dir ist mir immer so angenehm, daß ich nie ein Ende finden kann. Ich hoffe, recht bald wieder von Dir gute Nachrichten zu hören. Ehe ich es vergesse, danke Dir herzlichst für Deinen Glückwunsch zum Geburtstage und will ich mit Dir hoffen, daß sich die Wünsche alle erfüllen mögen. Sobald ich kann, schreibe ich Dir wieder mit der hoffentlichen Nachricht von Mezières Einnahme. Ich wünsche Dir nun von Herzen (und) allen Andern recht schöne Weihnachten, die ich leider nicht mitfeiern kann, und schließe mit tausendfachem warmen Gruß (und) Kuß. Denk nun an den frohen Tagen an den armen Feldwebel da draußen auf einsamer kalter Feldwache. Nun nochmals Adieu, theure inniggeliebte Johanna, sei guten Muthes auf hoffentlich baldiges Wiedersehen. Tausend Grüße von Deinem Dich ewig und einzig liebenden Hermann.
Nr. 15 [S. 1] Lafrancheville,43 den 27. Dezember 1870 Meine theure einzig geliebte Johanna! Obgleich auf meine letzten Briefe noch ohne Antwort, kann ich doch nicht umhin, diese grade freie Stunde vorübergehen zu lassen, ohne Dir wieder ein Lebenszeichen von mir zu geben. In meinem letzten Briefe schrieb ich Dir, daß ich die beiden Tage auf Feldwache zubringen würde, was glücklicherweise nicht der Fall war, indem noch eine Compagnie eingeschoben wurde und ich dadurch erst morgen früh an die Reihe komme. Sehr groß war der Unterschied grade nicht, indem wir an Stelle dessen auf der nächsten Bahnstation 30 Waggon Granaten und Bomben ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 43 La Francheville, Département des Ardennes, ca. 8 km westlich von Sédan. 73
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und eine Parthie Geschütze abladen mußten. Das war eine recht passende Arbeit für den Tag, nicht wahr, liebes Kind? Gefroren haben wir, wie die jungen Hunde, aber wie alles vorübergeht, so sind wir auch damit fertig geworden. Ich hoffe, daß die Erinnerung an dieses schöne Fest bei Dir nur angenehm sein wird und mußt Du mir gleich einmal [S. 2] ganz genau den Verlauf der beiden Tage beschreiben, indem ich Dir, meine theure Johanna, versichere, daß ich auch für das Unbedeutenste großes Intresse habe. Trotzdem, daß ich so wenig Gelegenheit hatte, an die Heimath zu denken, habe ich Dich im Geiste jedes Thun und Treiben dort verfolgt, indem ich ja genau weiß, was Du um die (und) die Stunde begannst. Bei meinem Erwachen am ersten Morgen – o Johanna, wie zog es mich so allgewaltig zu Dir hin – da sah ich deutlich die freudigen Gesichter um den Weihnachtsbaum, da sah ich auch deutlich den trüben Schatten auf Deinem lieben Gesicht, daß da nicht dort war, dem Du ja allein angehörst, da sah ich auch deutlich den trüben Schatten auf dem lieben Angesicht der werthen Eltern, die in der Zahl ihrer Lieben eine große Lücke fanden. O theure Johanna, das war eine stille wehmüthige Stunde und als es 9 Uhr wurde, da hörte ich deutlich die Klänge der feindlichen Glocke, die da rief: Bereitet Euch vor, zu kommen zum Hause unseres Gottes. Und als es 10 Uhr war, da sah ich Dich, meine theure heißgeliebte Braut, da sah ich Dich hingehen und weiß, daß da von Dir heiße Gebete für die fernen [S. 3] Lieben hinaufstiegen zu dem, der allein und nur allein uns helfen und uns den Frieden, den so heiß ersehnten Frieden wiedergeben kann. Sollte der gute Gott nicht diese tausende von Bitten erhören? Johanna, wir wollen hoffen, hoffen ist ja das Einzige, was wir können und was uns aufrecht erhalten kann. Dich hat das Christkindchen gewiß reichlich bedacht, wen könnte es auch lieber haben und bedenken, als meine gute, treue Johanna. Mir ist es leider versagt, Dir dies Jahr eine Freude zu bereiten, und ist es das Einzige, Dir nochmals zu versichern, daß ich Dich allein von ganzem Herzen so heiß und innig liebe. O Johanna, mit der Dauer der so langen, langen Trennung wächst meine Liebe, die doch eigentlich nicht größer sein kann. Schreibe mir einmal ganz genau das Verzeichnis alle der schönen, guten Sachen auf, die Du bekommen hast. An mir ist nun das Weihnachtsfest so ganz unbemerkt auch nicht vorbei gegangen, indem ich am ersten Abend von unserm Bataillions-Commandeur eine Einladung erhielt, zur Weihnachtsfeier. Es war da das ganze OffiziersCorps und hatten wir einen großen Weihnachtsbaum [S. 4] arrangirt, wobei Punsch-Bowlen getrunken wurden und hatte ich wider alle Erwartung einen ganz angenehmen Abend. Auch erhielt ich von ihm ein Weihnachtsgeschenk, und zwar einen sehr 74
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hübschen Federhalter mit Bleistift, Federmesser etc. zum Andenken an diese Weihnachtsfeier. Ist die Sache zwar unbedeutend, so gewinnt es doch durch die Art (und) Weise, wie ich es erhalten habe, an Werth. Hätte ich nur Tinte gehabt, dann könnte ich Dir, wie es sich gehört, schreiben, aber sie ist zum Eisklumpen geworden und hoffe, Du wirst auch noch einmal einen mit Bleistift geschriebenen Brief lesen können. Seit 3 Tagen haben wir ununterbrochen Kanonendonner, da die Franzosen unsere Arbeiten beim Batteriebau zu stören versuchen, und haben leider schon 1 Offizier und 8 Mann dabei verloren, die meistens sehr schwer verletzt sind. Damit habe ich nun nichts zu thun, Du also keinen Grund, Dir unnütz Sorge zu machen, meine gute Johanna, Seit einigen Tagen ist es furchtbar kalt und fängt es heute Morgen wieder an zu schneien, so daß wir wohl einen ordentlichen Winter haben werden. Es geht mir [S. 5] aber noch recht gut und wünsche ich mir, daß wir das Frostwetter noch eine Zeitlang behalten werden. Von Eduard erhielt ich gestern, datirt vom 20ten, einen Geldbrief,44 dessen richtigen Empfang Du ihm dankend bestätigen wollest. Wenn ich von Feldwache komme, werde ich ihm antworten. Ebenso werde ich Dir vor Neujahr noch einmal schreiben und will Dein weniges Schreiben in der letzten Zeit mit den Vorbereitungen zu Weihnachten entschuldigen, denke aber, Du wirst die Tage benutzt haben, um mir wenigstens einen recht langen Brief zu schreiben. Dasselbe setze ich von Emilie voraus. Gestern traf ich Fritz Post vor dort, dem es noch recht gut ging. Ebenso eine Jugendbekannten von mir H. Krutkopf aus Dahle,45 Reisender von Carl Jung aus Hagen, welches Zusammentreffen immer eine Freude ist. Von Hugo Sch. und W. R. habe ich lange Nichts gesehen, wohl aber gehört, daß es beiden noch gut geht. Obwohl wir [S. 6] alle hier um Mezières liegen und um ½ Stunde auseinander, sehen wir uns doch nie. Uebermorgen beginnt das Bombardement und werden wir bis zum 2ten oder 3ten wohl fertigsein. Wehe der armen Stadt, 100 Geschütze stehen zu ihrer Vernichtung fertig und werden sie bald in einen Trümmerhaufen verwandeln. Doch nun will ich schließen und thue dies mit der freundl(ichen) Bitte, mir Alle, besonders die lieben Eltern, recht herzlich von mir zu grüßen.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 44 Nach 20ten über der Zeile eingefügt einen Geldbrief. 45 Dahle, heute Ortsteil der Stadt Altena im Märkischen Kreis in Nordrhein-Westfalen. 75
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Von Carl höre ich hoffentlich in Deinem nächsten Briefe. Leb denn wohl, meine innigst geliebte Johanna, es umarmt und Küßt Dich viel tausendmal Dein Dir ewig treuer Hermann.
Nr. 16 [S. 146] Reims, den 6. Jan(uar) 1871.47 Theure Johanna! In aller Eile im Coupée! Von Mezières nach Paris bestimmt, erhalten wir Contre nach Chatillon. Mir geht’s ganz gut. Alles wohl, hoffentlich dort dasselbe. In einigen Tagen Weiteres. Jetzt nur meinen herzlichen Gruß (und) Glückwunsch zum neuen Jahr! Es ist fast dunkel (und) der Wagen schüttelt so, daß ich kaum schreiben kann. Meinen herzlichen Gruß Hermann.
Abb. 3: Beschrifteter Briefumschlag: Feldpostbrief | Fräulein Johanna Eicken | Gevelsberg | b(ei) Elberfeld, | Abs(ender:) Vice-Feldwebel | Dörken, 10(. Compagnie/Regiment) 39, | 27. Brigade) / 14. Div(ision), | 7tes Corps; auf dem Stempel: o K(ÖNIGLICH) PR(EUSSISCHES) FELD-POST | RELAIS N . 25 | 6/1; der Umschlag gehört zum Brief Nr. 16, der mit Bleistift im fahrenden Zug geschrieben wurde; 7,2 x 11,2 cm.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 46 Nur eine Seite ist beschrieben. 47 Geschrieben 1870, dann 0 überschrieben mit 1. 76
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Nr. 17 [S. 1] Chatillon sur Seine, den 8. Jan(uar) 1871. Meine theure Johanna! So sehr gern hätte ich Dir schon am 1ten d(iese)s meine herzlichen Glückwünsche zum angefangenen Jahr dargebracht, doch dies gehörte wieder zu den Unmöglichkeiten. Da ich nun wie gewöhnlich auch wieder auf Wache und gerne auch Hauptwache hier bin, finde ich endlich eine freie Stunde, die allerdings auch noch fortwährend an Unterbrechung leidet, Dir wieder einige Zeilen zukommen zu lassen. Vorerst dann, meine theure gute Johanna, meinen herzlichen Glückwunsch zum neuen Jahr, mögest Du es ebenso gesund, nur fröhlicher verleben als das vergangene, möge es uns endlich den so lang ersehnten süßen Frieden wiederbringen. Wie ich in der Neujahrsnacht an meinen Vater schrieb, hatte ich die gute Absicht, auch noch an Dich und die lieben Eltern zu schreiben, aber Wollen und Können ist zweierlei. Das Bombardement von Mezières erreichte gegen 3 Uhr Morgens seinen Höhepunkt und war die ganze unglückliche Stadt nur ein [S. 2] Feuermeer. Gegen Morgen zog sie die weiße Flagge und capitulirte à la Metz. Aber welch ein Anblick, welch ein Jahresanfang für die armen Bewohner. Fast kein Haus mehr da, die Straßen mit Granatsplittern besäet und Alles, Alles zerstört. Wir besetzten gleich die Citadelle und Wachen und habe ich da noch einmal mich überzeugen können, wie elend eine solche Truppe von Mobilgarden etc. ist. Fast alle Gewehre zerbrochen, Geschütze vernagelt, kurz und gut Alles zertrümmert. Es gab da verschiedene Hôtels, die abgebrannt waren, aber noch gute Weinkeller hatten, und haben sich da unsere Jungens noch einmal gemütlich für den strammen Vorpostendienst gütlich gethan. Von da marschirten wir am 4ten nach Roctroy,48 kamen aber nicht so weit, da das Räubernest aus lauter Angst vor unserer Ankunft schon capitulirte. Wir machten also nach Mezières zurück und bekamen plötzlich die Ordre „nach Paris!“ Da war der Jubel groß. Obgleich der Marsch ein sehr langer war, marschirte doch Jeder gern, da das Ziel der Reise [S. 3] Jedem frische Kraft einflößte. Wir kamen Abends bei furchtbarem Schneegestöber an der Bahn an underhielt ich wider Erwarten, aber nur dank der Kenntniß der franz(ösischen) Sprache, ein ganz pas-
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 48 Rocroi/Rocroy, Département des Ardennes, Festungsstadt an der Maas, Ort der entscheidenden Schlacht am 19. Mai 1643 während des Französisch-Spanischen Krieges (1635–1659). 77
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sables Quartier. Am 5ten d(iese)s Morgens fuhren wir nach Reims ab,49 von wo ich aus dem Coupee einige flüchtige Worte an Dich richtete. Wie ich Dir sagte, erhielten wir da Contre Ordre und, nachdem eben der Brief fort war, die Nachricht, zum Essen auszusteigen. Die Botschaft war sehr willkommen, da wir seit 18 Stunden nichts Warmes gehabt hatten. Ich speiste als angehender Offizier natürlich mit dem Stabe und zwar sehr gut, wobei der Champagner nicht geschont wurde h. d. auf Kosten der Etappe. So reiht sich Vortheil an Vortheil bei meinem Avancement, was mir seit dem 1ten d(iese)s auch 40 Th(a)l(e)r Gehalt monatlich einbringt, abgerechnet, daß ich an Lebensmitteln das Doppelte und außerdem immer Offizier Quartier erhalte. Frisch gestärkt fuhr ich [S. 4] denn von Reims nachts ab über Epernay, Chalons sur Marne nach Chaumont, wo wir wieder ein warmes Essen erhielten und kamen denn vorgestern Abend hier in Chatillon an. Glücklicherweise erhielt ich ein feines gutes Quartier bei einer alten Witwe, die aber Mehr Geld hat, als sie gebrauchen kann. Aber von dem guten Quartier habe ich leider nicht viel, da ich wie gewöhnlich fast immer auf Wache bin. Wenn das noch lange dauert, dann werde ich noch rein zum Nachtwandler und dann möchte ich Dich einmal sehen, meine theure, gute Johanna, wenn ich einmal so spät nach Haus käme. Aber Spaß bei Seite, käme nur endlich einmal die Zeit, wo ich wieder regelmäßig leben könnte, o Johanna, es dauert zu lange, man muß alle Kraft zusammen nehmen, um noch den Leuten mit gutem Beispiel vorangehen zu können, was doch [S. 5] so sehr, sehr nöthig ist. Aber mit ungebrochener Kraft und Beharrlichkeit wird grade jetzt der Krieg fortgesetzt und Alles aufgeboten, ihn zu einem baldigen, hoffentlich baldigen Ende zu führen. Hier wird viel Truppen angehäuft, den ganzen Tag kommen Militärzüge an, was mir zwar auch nöthig scheint, da nah bei uns Belfort, Langres und die Armee Garibaldis50 liegt. Es kommen schon den ganzen Tag Ordonnanzen und heißt es, daß gestern ein großes, siegreiches Gefecht nah von hier stattgefunden haben soll. Nun, meine gute Johanna, ich will den Muth nicht verlieren, sondern hoffen, daß der liebe Gott, der mich bisher so sehr beschützt hat, dies auch ferner thue und mich recht bald, recht bald in Deine Arme, an Dein treues Herz zurückführen möge. Von Ida B. erhielt ich vor einigen Tagen auch einen mir recht angenehmen Brief, ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 49 Gemeint ist: Am 5. dieses (Monats) fuhren wir morgens nach Reims ab. Die Datumsangabe am 5. d(iese)s (Monats) folgt alter Tradition, vgl. lateinisch quinta die huius (mensis); die Tageszeitangaben Morgens, Nachmittags, Abends schreibt er als Genetivi temporis groß. 50 Das Freiwilligenkorps des italienischen Freiheitskämpfers Giuseppe Garibaldi (1807–1882), mit dem dieser auf Seiten der Französischen Republik in den Krieg eingriff. 78
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den ich auch noch bald beantworten muß. Das gute Kind hat auch [S. 6] immer so viel Sorge um den lieben Carl. Hoffentlich habt Ihr von ihm auch wieder und gute Nachrichten. Bei Paris scheint man doch auch Ernst zu machen und bin ich jetzt neugierig, wie lang es da noch dauert. Johanna, ich habe seit einigen Tagen das Gefühl so in mir, als ob der Krieg bald zu Ende ginge, viel schneller, als wir es vielleicht Alle ahnen, welches Glück und welche Freude würde das sein! Aber Illusionen dürfen wir uns auch nicht hingeben. Doch ich muß zum Schluß eilen, da ich noch die Stadt abpatroulliren muß. (Hier war am 21. Nov(ember) der Ueberfall des Landwehrbataillons Unna etc.). Alle Angehörigen, besonders die lieben Eltern, grüße mir aufs Herzlichste und sei Du, meine innigst geliebte Johanna, dies besonders viel tausendmal mit tausend Grüßen (und) Küssen von Deinem dir ewig treuen Hermann. Hauptwache Chatillon sur Seine im Theatergebäude, Nachts 2 Uhr [Couvertvorderseite] K. Pr. Feld-Post-Relais No. 81, 9/1 [Stempel] Fräulein Johanna Eicken Gevelsberg B(ei) Elberfeld Feldpostbrief [Couvertrückseite] Abs(ender) Vice Feldw(ebel) H(ermann) J. Dörken, 10te Comp(agnie) 39tes Füsilier-Regiment, 27te Brigade, 14te Division, 7tes Armeecorps [Stempel teils unleserlich]
Nr. 18 [S. 1] Thoire,51 den 12. Januar 1871. Meine theure innigstgeliebte Johanna! endlich erhalte ich soeben nach langer Unterbrechung einen so lange sehnlichst erwarteten Brief von Dir und sage Dir für ihn meinen herzlichsten Dank. Besonders ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 51 Thoires, Gemeinde im Département Côte-d’Or (Burgund), ca. 12 km nordöstlich von Châtillonsur-Seine, vgl. Rintelen, Geschichte des Niederrheinischen Füsilier-Regiments Nr. 39 (wie Anm. 13), S. 448, dort fälschlich Choires. 79
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freut es mich, daß es Dir, theures Mädchen, und der ganzen Familie noch so wohl geht, was ich Dir Gott sei Dank auch von mir noch sagen kann. Meine letzten Zeilen ab Chatillon wirst Du hoffentlich erhalten haben. Sehr freut es mich, auch von Carl wieder gute Nachrichten erhalten zu haben, besonders, da in einem soeben von Onkel Julius erhaltenen vom 10. d(ieses) M(onats) datirten Brief ich sah, wie sehr Ihr mit Recht um ihn besorgt waret. Auch Wilh(elms) Brief habe ich erhalten und hat mich sehr erfreut, werde ihm auch durch einige Zeilen danken. Ueber ihn hatte ich schon direkt Gutes gehört, da wir seit 14 Tagen einen seiner Lehrer, Herrn Dr. Wetzel, als Lieutenant bei der Compagnie haben, der ihn für seinen tüchtigsten Schüler erklärte. Der Herr W(etzel) gefällt [S. 2] mir sehr gut, ist ein tüchtiger Soldat und Offizier, der auch mir sehr freundl(ich) entgegen gekommen ist. In Chatillon, von wo wir seit 2 Tagen ausgerückt sind, hatte ich ein sehr gutes Quartier, nur so viel Dienst, daß ich solches außer zum Essen fast gar nicht zu sehen bekam, da ich ja fast ununterbrochen auf Wache war. Dies war auch gestern Nacht hier wieder der Fall und hätte eigentlich den Schlaf sehr nöthig, konnte es aber nicht unterlassen, Dir auf Deinen so lieben Zeilen eben zu antworten. Ja, Johanna, wäre es endlich, endlich vorbei, das ist ein Seufzer, den man jede Nacht ausstößt, der aber leider noch immer nicht sich erfüllen will. Und doch ist es grade meinerseits Unrecht zum Klagen, muß ich doch dem lieben Gott immer danken, daß er mich so wunderbar erhält, schwindet doch die Zahl derer, die am 22ten Juli mit ausgerückt sind, immer mehr in Nichts zusammen. Auch mein guter Freund Westhofen, der [S. 3] sich bis jetzt so brav gehalten hatte, ist seit gestern im Lazareth, was mir recht leid gethan hat; ich glaube, er hat das gastrische Fieber. Es ist wirklich ein Wunder zu nennen, bei diesem schrecklichen Leben noch immer gesund zu bleiben, sind wir doch fast von 4 Tagen 2 auf Wache, Nun mußt Du Dir, meine liebe, gute Johanna, dies nicht so ganz schrecklich vorstellen, sind wir doch die meiste Zeit in warmen Localen und habe ich ja nur die Ablösungen und Patrouillen zu besorgen. O theures Kind, mach Dir doch nicht soviel unnütze Sorge, schreib mir doch nicht so traurige Briefe, sie stimmen auch mich immer so traurig, sondern blicke fest und muthig in die Zukunft, die ja so golden winkt. Sie wird einmal zur Gegenwart werden, hat doch Alles einmal ein Ende und auch dieser unseelige Krieg. Fest und ruhig behalte ich nur das eine Ziel im Auge bis zum letzten Augenblicke mit allen Kräften mitzuwirken, um mir nach[S. 4]her sagen zu können, daß auch ich, wenn auch nur in bescheidenem Maaße, beigetragen habe, das große Werk, die große Sache des Vaterlandes fördern zu helfen. Johanna, wenn ich mir 80
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das so ausmale, an Deiner Seite zu sitzen, Dir zu erzählen von Allen Erlebnissen allem Gedanken, überstandenen Gefahren, Schrecknissen während der schon so schrecklich langen Trennung, o dann kommen wohl Augenblicke der Ungeduld, des Unmuthes, aber eben so schnell auch wieder das Pflichtgefühl, das mich zu neuen Anstrengungen fordert (und) mich Alles dies Unmögliche vergessen läßt. Der Tag der Heimkehr, den ich mir immer in den glänzendsten Farben ausmale, wird mir schon Lohn genug sein. O, Johanna, dieses Wiedersehen, wenn ich zum ersten Mal an Deinem treuen Herzen ruhe, welche Wonne, welches Glück wird es sein. Dann wollen wir den Bund für’s Leben, den wir in so ernster Stunde geschlosssen, erst recht befestigen, O Johanna, es beschleicht [S. 5] mich so häufig in stiller Sunde so ein Gefühl des Vorwurfs, daß ich Dein Lebensglück in so unsichere Bahnen geleitet habe, und doch spricht mich jede Zeile eines Deiner lieben Briefe frei von allem Unrecht. Du könntest jetzt so ruhig leben und hättest der Sorge um den lieben Carl schon genug, aber es ist wohl die Stimme Gottes gewesen, die uns noch im letzten so schweren Augenblick zusammen führte. O wie danke ich ihm, wie danke ich Dir und kann diesem Dank nur Worte geben in der Versicherung, daß es immer mein einziges Bestreben sein soll und wird, Dich glücklich zu machen, Dir durch Liebe und Achtung nach Kräften zu vergelten, was Du Gutes mir durch das Eine Wort gethan hast. Gebe der gute Gott nur, daß dies bald geschehen könne und ich gesund und wohl in Deine Arme zurückkehre. In meinem letzten Briefe habe ich es leider ganz vergessen, Dir, theure Johanna, für das [S. 6] jedenfalls schöne Geschenk herzlichst zu danken, ist es mir doch ein neuer Beweis Deiner warmen Gegenliebe. Sollte die Paketverbindung wieder anfangen, bitte ich Dich herzlichst, mir solches zuzusenden, um durch seinen Gebrauch auch noch immer an Dich erinnert zu werden. Und was kann ich Dir schenken, Nichts, gar Nichts, o es ist sehr wenig, nur ein Beweis, wie arm wir hier im Felde sind. Nur die Versicherung meiner treuen Liebe{n} und das ist Dir ja Alles. Briefe von Em(ilie) (und) Aug(uste) würden mich sehr erfreuen und ich sie gleich gern beantworten. Von Dir erwarte ich auch morgen einen, da letzter schon 14 Tage alt ist, doch ich muß jetzt schließen, thue dies mit der Bitte, mir Alle, besonders die lieben Eltern, herzlichst zu grüßen, was Du, meine einzig geliebte Johanna, besonders seiest von Deinem Dir ewig treuen Hermann.
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Abb. 4: Brief Nr. 18 vom 12. Januar 1871 aus Thoire (Département Côte-d’Or), S. 2–3
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Nr. 19 [S. 1] Eterelles,52 den 21. Januar 1871. Theure Johanna! Die 5 Minuten Zeit, die ich habe, benutze ich schleunigst, Dir ein paar Worte zur Beruhigung zu senden. Seit 8 Tagen sind wir auf beständigen Märschen, die bei den weichen Wegen furchtbar anstrengend sind. Dabei sind wir von allen Verbindungen total abgeschnitten und leben nur von Requisitionen, so daß unsere Lage keineswegs angenehm ist. Doch sind wir schon so südlich, daß wir vom Winter nicht sehr viel merken und marschiren immer flott drauf los. Es geht mir ganz gut und hoffe dasselbe auch von Dir (und) Allen Andern. Sobald ich kann, schreibe ich wieder und bleibe mit tausend herzlichen Grüßen und Küssen Dein treuer Hermann. P.S.: Seit 14 Tagen Nichts von dort erhalten.
Nr. 20 [S. 1] Soulliot,53 den 30. Januar 1871. Meine theure Johanna! Obwohl ich nun seit dem 11ten d(iese)s keine Sylbe von dort gehört habe, kann ich doch nicht umhin, Dir in der großen Freude meines Herzens einige eilige Zeilen zu schreiben. O Johanna, Dank sei Gott, endlich, endlich wird unser heißes Flehen und Wünschen erhört und erfüllt, endlich klingt es nicht mehr fern Friede! Ich kann Dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin! Friede! Welchen Klang hat dies so kurze Wort für mich. Und wie froh bin ich besonders, daß Du, meine so heißgeliebete theure Johanna, endlich von dem Angstgefühl, das Du immer so sehr um mich hattest, befreiet bist. Wie froh und glücklich wirst auch Du sein und ebenso Alle Angehörigen, die lieben Eltern, besonders auch um den lieben Carl und der, der wird froh sein! Und seine Ida, o welche Freude ist es, im ganzen großen einigen Deutschland, für unsern greisen Heldenkaiser Wilhelm der Große. O! Johanna, Thränen der Freude möchte ich weinen in dem beseeligenden Gefühl, Dich bald wieder in meinen Arm ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 52 Étrelles, heute Villers-Chemin-et-Mont-Lès-Étrelles, Gemeinde im Département Haute-Saône (Franche-Comté); Rintelen, Geschichte des Niederrheinischen Füsilier-Regiments Nr. 39 (wie Anm. 13), S. 404, gibt Étrelles an. 53 Le Soulliot, Gemeinde Chapelle-d’Huin im Département Doubs (Franche-Comté). 83
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schließen zu können, bald wieder mit Dir vereinigt zu sein. Ja, es ist wirklich wahr, wir können Gott nicht genug danken, daß er Carl und mich so gnädig bewahrte, vor Krankheit und Wunden und Tod. Vieles [S. 2] Schreckliches haben wir, besonders ich, durchgemacht und gelitten, hauptsächlich grade noch in den letzten 3 Wochen. Doch es ist überstanden und überstandene Leiden sind und bleiben immer eine angenehme Erinnerung fürs ganze Leben. Sind wir auch noch nicht am Ziele, auch noch nicht fertig und sicher, so wollen wir doch zu Gott hoffen, daß er uns jetzt einen festen dauernden Frieden gebe. Schrecklicher könnte nun gar nichts für mich sein, als wenn die schwebenden Verhandlungen noch nicht zum Ziele führen sollten. Aber daran wage ich gar nicht zu denken, sondern blicke jetzt mit froher Zuversicht in die Zukunft. Und welch eine Aussicht ist das für mich! Johanna, noch einmal sage ich Dir aus Grund Meines Herzens meinen innigsten Dank dafür, daß Du mich so glücklich gemacht hast. Deine Gebete werden gewiß immer um mich gewesen sein und der Gute Gott hat sie so kräftig erhört. Die letzten Tage waren wirklich ganz dazu geeignet, Einen auf eine harte Probe zu stellen, es wurden wirklich übermenschliche Anforderungen an uns gestellt. Nur die Beschreibung der letzten 2 Tage würde{n} genüge, Dir solches begreiflich zu machen. Also vorgestern rückten wir Morgens um ½ 7 Uhr, also im Dunkeln, aus und nach einem furchtbar anstren[S. 3]genden Marsche über die Vorläufer des Jura Gebirges durch fußtiefen Schnee- (und) Eisfeldern vorbei kamen wir Abends um 9 Uhr in’s Quartier d. h. zu 4 Off(i)z(ieren) (und) 6 Burschen zu einem früheren Diener (und) Frau, wo wir mit knapper Noth etwas Kaltes auftrieben, nachdem wir den ganzen Tag Nichts bekommen hatten. Gestern Morgen um 6 Uhr erhoben wir uns von unsern Strohsäcken, um wieder loszusegeln, doch wenn wir glaubten, Tags zuvor viel geleistet zu haben, so kam es gestern noch besser. Durch unwegsame Gegenden, an tiefen Schluchten (und) Abgründen vorbei ging es sehr langsam vorwärts, da unsere Avant-Garde auf den Feind gestoßen war, der aber fortwährend retirirte und brachten unsere Husaren ununterbrochen Gefangene ein, wohl an 3000 Mann und welche Gefangenen! Aus allen Truppentheilen zusammen gelaufenes Gesindel{n} und in allen möglichen Uniformen, kurz und gut das reinste Lumpengesindel{n}, im wahren Sinne des Wortes zerissen und zerlumpt, die reinen Galgengesichter, braune und schwarze, Alles durcheinander. Und dagegen führen wir nun schon wochenlang Krieg, wahrhaftig für eine deutsche Armee ein elendes Dasein. [S. 4] Doch um so größer ist auch jetzt unsere Freude. Nach einem kurzen Gefecht erhielten wir endlich gestern Abend todtmüde und halb todt vor Kälte unsere Quartiere ange84
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wiesen und zwar diese Nacht um ½ 1 Uhr, nachdem wir ebenfalls den ganzen Tag Nichts gegessen hatten. Und nun unser Quartier! Die ganze Comp(agnie) in ein einziges Haus, so daß wir zu 4 Off(i)z(ieren), 6 Burschen, 4 U(ntero)ff(i)z(ieren), 3 Ordonnanzen und den Leuten aus dem Hause in einem einzigen schmutzigen Zimmer liegen, in dem außerdem noch 1 Schneider (und) 1 Schuster arbeiten, doch Alles ist Nichts, Alles wird übertönt durch den so lang ersehnten Waffenstillstand. Wir haben noch ein Faß Wein auf dem Wagen, das wir an unsere Leut ausgeben werden, um auch ihnen heut eine Freude zu bereiten. Die armen Jungens haben es doch gar zu schlimm, liegen schon seit langem immer zu 40–50 Mann zusammen, während sie auch obendrein nur mangelhaft verpflegt werden. Möchte es nur bald, recht bald so weit kommen, daß sie ihre Familien und dem ruhigen Leben zurückgegeben werden, sie haben es Alle wirklich sehr, sehr nöthig. Die in meinem letzten Briefe erwähnte Erkältung [S. 5] macht mir ein paar Tagen viel zu schaffen, schlug dann aber zu einem gesunden Hautausschlag um und kann Dir schon heute melden, daß ich wieder ganz hergestellt bin und mich recht wohl fühle. Letzteres hoffe ich auch von Dir und Allen Angehörigen und erst recht morgen oder übermorgen endlich die so lange schon ersehnten Briefe von Dir und Allen zu erhalten, da ich voraussetze, daß die Verbindung mit der übrigen Welt sich wieder herstellen lassen wird. Morgen früh marschiren wir wieder weiter, d. h. rückwärts, um hoffentlich feste Quartiere zu beziehen bis zum Friedensschluß. O welch süßes Wort! Nun, meine gute Johanna, das sollst Du sehr bald erfahren, indem ich durch so viel mehr Briefe das Versäumte nachholen werde. Hätte ich nur erst einmal von Dir (und) Allen gute Nachricht! Jetzt muß ich zum Schluß eilen, da es dunkel und zu unruhig wird, bitte an Laura Einlage eben zu überreichen und ihr in meinem Namen den Gratulationskuß zu geben. [S. 6] Grüß mir alle Angehörigen, besonders die lieben Eltern aufs Herzlichste und vergiß mir das Schreiben nicht. Mit tausend herzlichen Grüßen und Küssen, besonders an Dich, meine inniggeliebte Johanna, umarme ich Dich und bleibe für immer Dein treuer Hermann.
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Nr. 21 [S. 1] C(ompagnie) Q(uartier) Argilly54 b(ei) Dijon, den 19. Febr(uar) 1871. Theure innigstgeliebte Johanna! Obwohl nun schon 2 Briefe geschrieben, finde ich doch noch Lust, auch Dir, mein gutes Kind, einige Zeilen zu senden, voraussetzend, daß Du Zeit finden wirst, sie zu lesen. Vorerst will ich Dir dann mitteilen, daß ich heute am Sonntag Morgen durch 3 Briefe erfreut wurde und von den 3 Briefen war 1 von Fr(äu)l(ein) Johanna E(icken), der die Ehre hatte, zuerst gelesen zu werden und den Leser am meisten zu intressieren. Sehr freute er sich besonders, die frohe Kunde zu erhalten, daß genannte Dame sich recht wohl befinde und überzeugt sei, daß dies auch mit dem Schreiber dieser Zeilen der Fall sei, der diese Nachricht heute wiederholen kann. Ja, meine gute Johanna, so ist es, ich sitze hier breitspurig im Maire’s Schlafzimmer, das er dem Prussien abtreten mußte und rauche eine furchtbar schlechte Lieferungs-Cigarre, die Zwischenpausen der einzelnen Züge rasch [S. 2] benutzend, Dir diese Worte zu senden. Nun bin ich überzeugt, Du glaubst, ja endlich hat er gute Tage und kann sich pflegen. Das ist nun zwar heute am Sonntag der Fall, an dem wir Ruhe haben, aber im Allgemeinen keineswegs, denn seit 8 Tagen müssen wir stramm exerciren und soge(nannten) Parademarsch üben. Ich kann Dir versichern, daß mir dieser Dienst noch weniger behagt wie das Marschiren, es ist zu eintönig. Da stehen die alten Kerls, deren Jungens bald in die Aushebung komen (wenn es auch 10 Jahre noch dauert) und müssen kloppen55 wie und mit den Rekruten. Nun habe ich schon 2 mal selbstständig die Compagnie exercirt und fühlte56 mich dabei, das sage ich Dir. Wenn ich nicht längst ausgewachsen wär, glaube ich, wär ich gleich 1 Zoll in die Höhe geschossen. Dazu haben wir einen neuen Capitein bekommen, der ziemlich streng ist, obwohl außer Dienst die Freundlichkeit selbst. Wir leben jetzt ganz genau [S. 3] wie in der Garnison, nur mit dem Unterschiede, daß solche nur 300 Einwohner hat. Unsere Verbindung mit Deutschland ist endlich etwas geregelter, bis vorige Woche dauerte es immer 3 Wochen mit den Briefen. Ich hatte mich nun der angenehmen Hoffnung hingegeben, so ziemlich alle 2–3 Tage mit Briefen von Dir erfreut zu werden, was ich nun leider nicht bestätigt finde und muß ich Dir bestimmt auf das allerstrengste vorschreiben, pro Woche mindestens ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 54 Argilly, Gemeinde im Département Côte d’Or (Burgund). 55 Im Original unterstrichen kloppen. 56 Im Original unterstrichen fühlte. 86
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2 lange Briefe zu schreiben, sonst treten Strafen ein, merk Dir das. Wenn Du Gelegenheit hättest, in diesem Augenblick den strengen Blick, der die Worte begleitet, zu sehen, würdest Du es gewiß thun. Nun, ich denke, Gehorsam ist wohl bei Dir vorauszusetzen. Daß B. dann dort oder vielmehr Ida jetzt noch dort ist, hat mich trotz Allem sehr gefreut, ist es doch immerhin ein großer Schritt und hoffe ich, daß die gute Mutter es bald einsehen wird, daß es Carls [S. 4] Glück und doch nicht zu ändern ist. Daß die liebe Ida durch die Verhältnisse momentan keine sehr angenehme Stellung hat, ist ja natürlich und thut sie mir leid, wird dem lieben Vater um so dankbarer für seine Liebe sein. Hoffen wir, Johanna, daß sich bald Alles zum Besten wende. Jedenfalls bitte ich Dich, sie herzlichst von mir zu grüßen. Also Lina ist wieder nach England, wozu sie sich gewiß schwer entschlossen hat, hoffentlich geht es ihr gut. Daß Ida Carls Rückkehr abwartet, bezweifle ich sehr, bin im Gegentheil fest davon überzeugt, daß wir, trotz des Friedens, den man doch sicher machen wird, noch längere Wochen hier bleiben müssen. Das ist nun nicht zu ändern, jedoch ja nicht so schlimm, wenn nur nicht von Neuem angefangen wird, woran ich zwar gar nicht denke. Die Tage werden mir zwar furchtbar lang, denn die Sehnsucht nach der Heimath und besonders nach Dir, meine [S. 5] innigstgeliebte Johanna, läßt mir keine Ruhe mehr. Letzte Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum, so glücklich und zufrieden waren wir, daß ich diesen Morgen tief bedauerte, daß er noch nicht Wirklichkeit war, doch ich will ihn Dir lieber nicht schreiben, sondern später einmal erzählen. Wir haben hier das prachtvollste Wetter, der reine Frühling, nur sind die Nächte etwas kalt. Erbsen, Bohnen etc. wird schon gepflanzt. Es ist ein wahres Vergnügen, einen Spaziergang zu machen. Dazu bin ich heute vom Comp(agnie-)Chef zu einem feinen Diner eingeladen, habe also heute einen guten Tag. Der Champagner wird dabei auch nicht fehlen und freue ich mich schon drauf. Appel muß ich auch noch abhalten und zwar einen sehr strengen, da unser Major anscheinend schlecht geschlafen hat und herum geht wie ein brüllender Löwe. Er wohnt in einem prachtvollen Schloß und liegt [S. 6] in Sammt und Seide, ist aber noch nicht zufrieden. Ueber Carls Befinden bin ich nun auch beruhigt und werde ihm vielleicht heute einmal schreiben. Mit der Verlobung von B. S. scheint es nach einem Brief von Albert, den ich soeben erhalte, ja noch nicht recht zu stimmen, großes Vertrauen habe ich dazu nicht gehabt, es soll mich einmal wundern. Da sind wir doch glücklicher, nicht wahr, gutes Kind? Das eiserne Kreuz will noch immer nicht kommen, man muß dazu Protection haben und die fehlt mir, trotzdem
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bin ich aber fest57 davon überzeugt, daß ich es noch erhalte und mit ihm nach Haus komme. Sollte es nicht der Fall sein, nun dann nicht, ich trage wenigstens das Bewußtsein in mir, es verdient zu haben, was auch das einstimmige Urtheil der ganzen Compagnie ist. Wir werden sehen. [S. 7] Auch von Eduard erhielt ich soeben einen Brief und hatte ihm schon vorher geschrieben. Sag ihm doch eben, daß ich vorläufig kein Geld nöthig hätte, indem für die Kasse der Kaiser genügend sorge. Die 2 vom Comitee werden trotzdem willkommen sein und werde ich den höfl(ichen) Dank nicht vergessen. Doch nun Ade, Johanna, ich muß zum Appel. Leb wohl, mein Kind, grüße mir Alle aufs Herzlichste und sei Du dies besonders von Deinem Dir ewig treuen, Dich umarmenden Hermann.
Nr. 22 [S. 1] Toul,58 den 24. März 1871. Theure innigstgeliebte Johanna! Mit Recht wirst Du gewiß lange vergebens auf Einen Brief von mir gewartet haben, doch auch gleichzeitig Davon überzeugt gewesen sein, daß es mir nicht möglich war. Vorgestern Abend sind wir nach 16 tägigem Marsche endlich hier angekommen und damit wenigstens etwas zur Ruhe. Die Befürchtung, die ich immer hegte, ist nun leider eingetroffen, nämlich, daß grade wir dazu bestimmt werden würden, hier zu bleiben, und bleibt unser 3tes Bataillon in Toul als Garnison. Du kannst wohl denken, wie groß und bitter diese Enttäuschung für mich und alle ist, die wir uns Alle so unendlich auf die Heimkehr gefreut hatten. So groß unser Jubel war, als wir am 7ten Marschordre erhielten, eben so groß war der Rückschlag. Doch bin ich und Alle der festen Ueberzeugung, daß man uns Reserven entlassen wird, da man ja Linientruppen genug hat, um nicht mit denen die Besatzung zu machen. Doch wird sich jedenfalls unsere Rückkehr mindestens 14 Tage verzögern, wenn es nur damit geschehen ist. Man verliert factisch alle Lebenslust dabei, eine Täuschung folgt der andern und dabei fangen die Halunken in Paris59 noch die Revolution an, wer weiß, was daraus noch werden kann! Hier ist man [S. 2] zwar allgemein der Ansicht, daß es nur ein Strohfeuer ist und sieht man diesen schrecklichen Ereignis⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 57 Im Original unterstrichen fest. 58 Toul, Stadt im Département Meurthe-et-Moselle (Lothringen). 59 Er spielt hier auf den Aufstand der Kommune an. 88
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sen mit tiefer Trauer zu, hoffen wir nur, daß wir nicht aufs Neue hinein verwickelt werden. Sehr habe ich den Tod des guten Robert betrauert, die armen Eltern haben auch viel Unglück. Er war ein so prächtiger Junge und grade mein Liebling, ich kann mir noch gar nicht vorstellen, daß er wirklich todt sein soll. Wie viele Lücken finde ich doch in den paar Monaten entstanden. Hoffentlich geht es mit dem Kleinsten wieder besser. Elisens netter Brief hat mich sehr gefreut, besonders wundere ich mich über die nette Hand und amüsire mich über den naiv drolligen Inhalt. Ihr werde ich auch einmal einen Brief schicken. Carl wird jedenfalls sehr bald zurückkommen, da ich voraussetze, daß man sich mit der Demobilmachung nach Möglichkeit beeilen wird, um dem Lande die colossalen Kosten zu ersparen. Das wird eine Freude sein, besonders für Ida, die ja, wie ich höre, noch dort ist. Dann kann meine gute Johanna zusehen und warten noch ein bischen bis der kommt, der so unendlich gern sich gleich in den Zug setzen und zu ihr eilen möchte. Nur 1¼ Tag brauche ich zu fahren, um dort zu sein, und doch geht es nicht, warten muß ich, bis Alles wandert, der lieben theuren Heimath zu. [S. 3] Vor 8 Tagen bin ich einstimmig zum Offizier gewählt, ein nicht sehr häufiger Fall, und erwarte sehr bald mein Patent. Dabei habe ich 10 ältere Vice-Feldwebel übersprungen, ein eben so seltener Fall. Ein derartiges Avancement kommt selten vor und habe ich viele Neider. Das ganze Offizier-Corps behandelt mich sehr freundlich, so daß ich mich häufig selbst darüber wundern muß. Es ist mir in so fern sehr lieb, als ich dadurch wieder in die Lage komme, selbständig zu leben und nicht immer der Familie mit Geldsendungen kommen zu müssen. Wenn ich auch weiß, daß es mir gern geschickt wird, ist es natürlich doch angenehmer, wenn es nicht nöthig ist. Ich hatte wirklich gar nicht daran gedacht, noch Offizier zu werden, und nun habe ich doch noch mein Ziel erreicht. Mein Dienst als Fourrir-Offizier in der Zeit vom 6–22ten war sehr aufreibend, keine Ruhe bei Tag und Nacht, dabei immer den Aerger mit den immer frecher auftretenden Einwohnern etc. machte mir das Leben sehr sauer, so daß ich Gott dankte, wie wir hier einzogen und fühle ich diese strapaziöse Tour noch immer in den Gliedern. Sonst geht es mir ganz gut, habe auch ein ganz gutes Zimmer, d. h. das ist auch Alles, denn essen etc. müssen wir Alle [S. 4] im Hôtel, was gemeinschaftlich gemacht wird, so daß wir immer eine Tafel von ca. 40 Offizieren haben. Incl(usive) Wein bezahlen wir 5 fr(an)cs täglich, eigentlich den Verhältnissen nach nicht sehr theuer, aber immerhin für mich bei 9 S(ilber)gr(oschen) Gehalt ein kostspieliges Leben. Dies würde sich bei meiner Beförderung natürlich ändern, weßhalb ich solche sehnlichst erwarte. Nachdem wir auf den Märschen meistentheils schlech89
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tes Wetter hatten, haben wir seit unserer Ankunft hier wieder einigen Sonnenschein und eine so warme Temperatur, daß man sehr gern schon den Schatten aufsucht. Dort ist es vielleicht auch so, wenigstens ersehe ich dies aus Deinem letzten mir so lieben Briefe vom 12ten d(iese)s. Ach, Johanna, wie wollen wir noch ganz anders singen, lachen und musiciren, wenn wir einmal Alle wieder zusammen sind, was hoffentlich recht bald der Fall sein wird. Die in Deinem letzten Briefe erwähnte Nachtigall ist wahrscheinlich wieder ausgeflogen, andernfalls bitte sie freundl(ich) unbekannter Weise zu grüßen. Auguste, der ich direct gratulirt haben würde, hätte ich ihren Geburtstag gewußt, bitte ich Dich, nachträglich herzlichst in meinem Namen zu gratuliren. Ich wünsche [S. 5] von ganzem Herzen, daß sie diesen Tag noch recht oft in Gesundheit mit uns erleben möge. An Mutter hatte ich am 15ten (dieses) auch geschrieben, konnte den Brief aber gar nicht los werden, was dann endlich vorgestern der Fall war, und wird sie ihn bei Ankunft d(iese)s wohl erhalten haben. Hoffentlich habe ich die angedrohte Strafpredigt dadurch schon ein gutes Stück abgebrochen. Morgen ist katholischer Feiertag, an dem wir dienstfrei sind und werde ich ihn benutzen, auch dem lieben Vater noch einmal zu schreiben. Heute bin ich Offizier du jour, ein sehr lästiges Amt, was mich zwingt, diese Nacht noch ca. 2 Stunden in der Stadt herumzulaufen, um die Wachen zu revidiren. Also die Iserlohner Landwehr ist schon wieder zurück, nun ein Glück, ein Anfang und wollen wir das Ereigniß als ein gutes Omen betrachten. An Onkel Julius werde ich dieser Tage auch noch einmal schreiben, um ihm gleichzeitig zum Geburtstag zu gratuliren. Wie alt wird der gute Mann denn eigentlich? Der Geburtstage gibt es jetzt aber so viele, daß [S. 6] ich bald in jedem Briefe gratuliren kann. Doch nun will ich schließen, hoffe sicher heute noch einen Brief von Dir zu erhalten, da der letzte schon vom 12ten ist. Alle Familien-Mitglieder, Ida und besonders die lieben Eltern bitte ich herzlichst zu grüßen, was Du, meine einzig geliebte Johanna, auch seiest von Deinem Dir ewig treuen, Dich umarmenden Hermann.
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Nr. 23 [S. 1] Fontenoy b(ei) Toul,60 den 9. April 1871. Meine theure innigstgeliebte Johanna! Obwohl ich auf meinen letzten Brief noch ohne Antwort bin, macht es mir doch Freude, hinreichend Zeit zu haben, Dir heute wieder einige Zeilen zu senden. Seit Donnerstag nämlich bin ich mit 50 Mann von Toul aus nach hier commandirt, um die Eisenbahn von da nach Nancy zu bewachen. Am 22ten Jan(uar) ist hier durch Franctireurs die Eisenbahnbrücke gesprengt worden sowie das Wachcommando gefangen genommen und ein Landwehrmann ermordet, ein anderer schwer verwundet worden. An diesem Ueberfall, der auf ein Haar einen ganzen Militärzug ins Unglück gebracht hätte, sollen sich die Einwohner des Dorfes betheiligt haben, weßhalb man dasselbe vollständig zerstört hat, so daß von ca. 100 Häusern nur nothdürftig 2 erhalten sind, dazu der Bahnhof, meine jetzige Residenz. Die ersten 2 Tage war ich ganz unglücklich, da ich effectiv nicht wußte, wie ich die Stunden herumbringen sollte, ohne Beschäftigung, ohne Unterhaltung, Lectüre, ohne Alles, dazu beständig die Ruinen vor Augen, in denen sich so langsam die Unglücklichen wieder einfinden, welche [S. 2] uns natürlich nur mit finstren Gesichtern betrachten. Jetzt habe ich mich schon mit meinem Schicksal ausgesöhnt, da wir außerden, daß wir seit gestern, Charfreitag, das herrliche Wetter haben, unmittelbar an der schönen Mosel liegen. Jetzt ist die wunderschöne Gottes Natur Gesellschaft und Abwechslung genug. Ach, Johanna, die Feiertage, von denen ich sicher erwartet hatte, sie mit Dir vereint im Familienkreise zu feiern, ich werde sie zwar einsam aber doch immerhin schön zubringen. Heute Morgen da stand ich an meinem Fenster, Alles atmet Friede und Freude, die schöne klare Fluth, sie rauscht so angenehm vorrüber, die Fische hüpfen vor Freude aus ihrem nassen Heim heraus, von einem nahem Dorf tönte so feierlich die Meßglocke an mein Ohr, o da trugen die frischen Lüfte all mein Sinnen und Denken in die auch so schöne, ferne Heimath, in das herrliche Thal, wo Jemand weilt, dem allein ich angehöre, die gewiß mit allen Kräften mich diese schönen Festtage herüberziehen möchte. Das Ziel ist um so nahe, das Mittel, es zu erreichen, liegt vor mir, jede Stunde ein Zug, der in wenigen Stunden das deutsche Vaterland erreicht, aber es gibt noch ein Hinder[S. 3]niß, das ist die Pflicht, die mich jetzt noch an unsere ruhmbedeckte zerfetzte Fahne feßelt. Johan⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 60 Fontenoy-sur-Moselle, Gemeinde im Département Meurthe-et-Moselle (Lothringen). 91
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na, ich danke Gott und ich bin stolz darauf, daß ich mit leider so sehr Wenigen von Anfang zu Ende diesen schrecklichen, doch glorreichen Feldzug durchgehalten und sämmtliche blutige Rencontres mitgemacht habe. Und diese 8 Tage der vollständigsten Ruhe, die frische gesunde Luft, sie fachen den jugendlichen Muth und Kräfte wieder an und fühle ich mich so wohl, wie seit langer Zeit nicht. Damit will ich nun nicht sagen, daß ich seit langer Zeit unwohl war, aber geistig und körperlich fühl ich mich frischer, dazu selbständiger Commandant unabhängig von Allem, ein Gefühl, was ich leider lange nicht hatte. Was unsere Küche anbelangt, so sind wir, wie im Anfang des Feldzuges, wieder ganz auf und selbst angewiesen und mache ich mir das Vergnügen, die Sachen selbst zuzubereiten.61 So habe ich gestern Mittag einen soeben frisch aus der Mosel gezogenen 3 (Pfund) schweren Barsch fein gebraten, dazu Kartoffeln gekocht und schmeckte mir das, sowie ein Teller bester Bohnensuppe ganz vortrefflich. Hättest Du mich da einmal mit den Töpfen und Pfannen wirthschaften sehen, würdest Du gewiß herzlich [S. 4] über Deinen Zukünftigen gelacht haben. Nun lach nur, Schaden hast Du davon nicht, wenigstens wirst62 Du nie finden, daß ich sage „das liebe ich nicht.“ Jetzt habe ich eine Kartoffelsuppe auf dem Feuer, die sehr gut zu werden scheint. In solch einer Campagne lernt man doch wirklich Alles. Hättest Du heute Morgen mich Kaffee trinken sehen, ich hatte vielleicht schönere Bratkartoffeln wie Du. Nächste Woche Donnerstag marschire ich wieder nach Toul zurück und hoffe sehr bald weiter. Man fügt sich und tröstet sich eben so gut wie möglich, aber zeitweise, besonders die Abende, da zieht es Einem doch mit solch unwiderstehlicher Gewalt nach der Heimath, nach Allen Lieben in der Ferne, daß man meint, man könne es nicht aushalten und doch muß man und besonders darf ich mir als Vorgesetzter Nichts davon merken lassen, es wäre doch ein Zeichen von Schwäche. Freitag nächster Woche soll meine Ernennung kommen, ich wünschte es sehr, je eher je lieber, da ich außer andern Vergnügen für später eine 6wöchentliche Dienstleistung damit spare, jedenfalls ein Punkt, der sehr in die Waage fällt. Ich glaube wenigstens nicht, daß es meine gute Johanna gern sehen würde, wenn ihr Hermann plötzlich [S. 5] wieder sechs Wochen lang den rothen Kragen anziehen würde, was zwar im günstigsten Falle 1 mal der Fall sein wird. Carl wird es wohl gehen wie mir, er wird also auch noch in Frankreich bleiben müssen. Ich habe zwar in den letzten Tagen gehört, daß die Entlas⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 61 Nach zuzubereiten gestrichen selbst. 62 Geschrieben wird. 92
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sungen sehr bald kommen würden, was ich nur zu gern glaube, doch auch sicher hoffe. Es kommen wenigstens hier täglich 3 Züge durch, mit denen Militär zurückbefördert wird, mir ein Zeichen, daß man von Paris, von dem ich im Uebrigen Nichts höre, doch nicht Schlimmes befürchtet. Sehr angenehm wäre es mir und sicher erwarte ich das auch, wenn nicht heute, dann morgen so viel sichere Briefe von Dir zu erhalten, daß da ich nun schon seit vorig(er) Woche ohne Nachricht bin. Die Feiertage werden für Euch gewiß auch ziemlich still vorrüber gehen, da Ida fort und Heinrich noch nicht zurück sein wird. Wie ganz anders würden solche sein, wenn Carl und ich dort wären, wir müssen uns noch einmal auf Pfingsten freuen, an welch schönem Feste wir ja viel sicherer dort sein werden und welches wir dann so viel schöner feiern können. O wie sehr werden wir doch auf die Probe [S. 6] gestellt, ein Tag, eine Woche, ein Monat reiht sich an den andern und noch immer müssen wir uns mit der Zukunft trösten. Alein diese winkt so freundlich und wird so schön sein, daß man gern sich dem Schicksal fügt und geduldig wartet. Ist doch jetzt alle Gefahr vorrüber, die Zeit des Wartens wird auch noch vorrüber gehen. Doch nun habe ich wieder und theilweise Unsinn geschrieben, daß ein paar liebe treue Augen ihn zu lesen müd werden können, deshalb will ich schleunigst schließen. Theures Kind, feiere die schönen Festtage so froh und glücklich und denk auch zuweilen an Jemand, der auf dem einsamen Bahnhof Fontenoy sitzt und in Gedanken stets bei Dir ist. Grüß mir die ganze Familie beiderseitig aufs herzlichste, Allen wünsche ich recht angenehme Feiertage und besonders Dir, inniggeliebte Johanna. Mit Tausend Grüßen und Küssen umarmt Dich Dein treuer Hermann.
Nr. 24 [S. 1] Pont-à-Mousson,63 den 7. Mai 1871. Theure innigstgeliebte Johanna! Gern benutze ich eine Stunde des heutigen Sonntag Morgens, Dir, trotzdem ich auf meinen Letzten noch ohne Antwort bin, wieder einige Zeilen zu schreiben. Wie ich vermuthete und Dir auch schon schrieb, wurde ich von meinem Posten durch einen Linien-Offizier abgelöst und gleichzeitig von der 5ten zur 6ten Comp(agnie) versetzt, in Folge dessen ich hier in P. à M. liege. Der Wechsel ist mir keineswegs ange⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 63 Pont-à-Mousson, Stadt im Département Meurthe-et-Moselle (Lothringen). 93
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nehm, es war da in dem Frouard so wunderschön, eben mit den Kameraden (und) der Compagnie bekannt geworden, da mußte ich wieder fort. Zwar konnte ich bei diesem Wechsel gleichzeitig wieder keine bessere Compagnie treffen, wie die 6te, aber ich muß mich doch erst wieder eingewöhnen, besonders vermisse ich die gute deutsche Küche. W. Ruthenbeck ist auch bei der Comp(agnie) und mußte vor mir stramm Front machen, es ist wirklich komisch, in welche Fälle und Verhältnisse man kommen kann. Es geht ihm sehr gut, er sieht ganz anders aus wie damals und bat mich gestern, Dich gelegentlich freundlichst zu [S. 2] grüßen. Nicht so gut macht es H. S., der auch von seinem so unbedeutenden Posten, seiner Unzuverlässigkeit halber, entbunden ist. Hätte er sich da nur etwas zusammen genommen, er hatte da einen ganz schön ruhigen Posten. Mit der Wohnung habe ich es wieder gut getroffen, ein gutes Zimmer und Bett und was das schönste ist, ein prachtvoller Garten, in dem 2 Nachtigallen ununterbrochen und zwar grade vor meinem Fenster schlagen und das wunderschön. Nägelchen etc. steht in vollster Blüthenpracht. Dagegen die Leute so kalt wie Eis, die mir noch nicht einmal ein Tasse Kaffee geben. Der Mann ist zwar recht freundlich und besuchte mich schon 2 mal, steht aber so unterm Pantoffel, daß er sich auch nicht mucken darf. Kämen wir endlich einmal aus diesen Verhältnissen heraus in freundliche Kreise, in denen man mit Liebe begrüßt wird, während hier die Leute, in deren Leben (und) Familienkreise man, ohne es zu wollen, störend eingreift, Einem mindestens dahin wünschen, wo der Pfeffer wächst. Aber das steht ihnen ja frei, deshalb gehen wir noch lange nicht. Gestern Morgen verbreitete sich plötzlich das [S. 3] Gerücht wie ein Lauffeuer, daß wir am 10ten d(iese)s marschieren und zwar nach Deutschland64 marschieren würden. Wenn man auch durch so manche unangenehme Täuschung klug geworden, nicht so leichtgläubig ist, so wurde es eben so glaubwürdig erzählt, daß man anfing, es zu glauben, und kannst Du denken, welche Spannung herrschte. Aber wie immer, so hatte man aus einem Floh einen Elephanten gemacht und reducirte sich das Ganze auf das Minimum, daß einige Regimenter dislocirt werden sollten. Anders hatte ich zwar nicht erwartet, aber eine Täuschung bleibt es dann doch. Das Ziel unserer Rückkehr sollen wir wohl von Pfingsten noch ein bischen weiter rücken müssen, bis dahin können wir bei sofortigem Abmarsch gar nicht dahin ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 64 In lateinischen Buchstaben gesperrt geschrieben Deutschland. 94
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg
kommen und bleibt nichts Anders über, als solchen Tag als Gevelsberger auf den berühmten Termin „Kirmeß“ zu setzen. Hoffen will ich es zwar nicht, aber ich fange schon an, mich mit diesem Termin vertraut zu machen, dann hätten wir grade das Jahr voll gemacht. O Johanna, es thut mir immer um Dich so unendlich leid, welch eine Verlobungszeit, die schönste des Lebens, mußt Du [S. 4] armes Kind durchmachen, aber tröste Dich, meine gute Johanna, nach dieser langen bangen Zeit werden auch bald bessere Tage kommen und die werden so viel schöner sein, hoffen wir, daß diese goldene Zeit bald anbreche. Am 5ten, als ich hörte, daß ich versetzt werden würde, habe ich den Versuch gemacht, Urlaub zu bekommen, aber wie gedacht, wurde derselbe direct verweigert. Ich hatte mir alles schon in den schönsten Farben ausgemalt, die Reise, vor allem die Ueberraschung, die schönen paar Tage u.s.w., doch auch das Gegentheil bedacht, aber es war mir doch sehr hart, diese schönen Träume nicht realisirt zu sehen. Dagegen sollst Du meine Photographie diese Woche haben, die am Mittwoch fertig werden, hoffentlich gut getroffen. Heute denke ich aber sicher einen Brief von Dir zu erhalten, da ich jetzt seit ca. 8 Tagen keinen mehr bekommen habe. Werde mir nur nicht loß65 in der Correspondenz, sonst führe ich meine Drohung von früher aus. An die ganze Familie bitte ich die freundlichsten Grüße zu bestellen und empfange Du solche aber besonders von Deinem Dich mit tausend Küssen umarmenden treuen Hermann.
Nr. 25 [S. 1] Pont-à-Mousson,66 den 22. Mai 1871. Meine einzig geliebte Johanna! Schon vor einigen Tagen hatte ich die Absicht, Dir wieder auf Deine mir so lieben Zeilen vom 12ten (und) 17ten zu antworten, doch läßt mich mein sehr bindender Dienst gar nicht dazu kommen. Mit großer Freude erwähnst Du von Deinem Unwohlsein nichts mehr, weßhalb ich voraussetze, daß es gehoben ist. Zum Ueberfluß ist hier seit vorgestern am Bahnhof auch noch die Douane eingeführt und kannst Dir leicht denken, welch Spektakel, das hier immer ist. Immerhin gefällt mir mein ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 65 Lose, lasch. 66 Pont-à-Mousson, Stadt im Département Meurthe-et-Moselle (Lothringen). 95
Hans-Joachim Kühn
Posten ganz gut, bringt viel Bewegung, Beschäftigung und läßt mir die Zeit viel kürzer erscheinen. Endlich scheint das Ziel unsers so lang ersehnten Wiedersehens etwas näher gerückt, indem die Ereignisse der letzten Tage die Beschleunigung unsers Rückmarsches wahrscheinlich machen. Doch ist Alles so verworren und unbestimmt, daß man ruhig abwarten muß, bis definitive Marschordre kommt. Der Eine sagt in 4 Wochen, der andere in [S. 2] 8 Tagen und der 3te will sogar bestimmt Wissen schon am Donnerstag dieser Woche. Du siehst also, liebes Kind, wie man hier hingehalten wird, nur das Eine ist doch mit Bestimmtheit anzunehmen, daß wir sehr bald marschiren werden. O, Johanna, die Aussicht, Dich bald wieder an mein Herz drücken zu können, sie ist zu schön und läßt mir trotz Allem jeden Tag eine Ewigkeit erscheinen, wenn ich mich ihm so recht hingebe. Endlich scheint dann doch unser so oft ausgesprochener einziger Wunsch in Erfüllung gehen zu sollen. Carl wird dann Auch nicht lange mehr bleiben, da die R(e)g(imen)t(er) No. 56 (und) 16 unserem Corps attachirt, resp(ective) wieder einverleibt werden, während wir 74 (und) 77 wieder dem 10ten Corps zurück geben. Carl schrieb mir auf meinen schon erwähnten Brief, er ist auch sehr ungeduldig, schimpft nach den Noten, tröstet sich aber auch wie ich mit dem einen unaussprechlich frohen Gedanken auf unser Wiedersehen, auf unsere Doppel Verlobung. Gebe Gott nur, daß dann auch die Mutter ihr sonst so gutes Herz auf Ida öffne, [S. 3] damit der Tag ein Freudentag und nur ein Freudentag werde. Ja, Johanna, an dem Tag sollen uns sogar die Götter um unser Glück beneiden. Nach so langer Trennung, nach so vielen Gefahren, Entbehrungen, ein solches Wiedersehen. Ja, wären wir nur einmal am Traben, wie leicht soll uns das werden, da wird gewiß Jeder denken, er habe Siebenmeilenstiefel an und wie schnell und gern wird Jeder sein Reisebündel schnüren, Du glaubst gar nicht, wie gern wir Alle und besonders Dein Hermann dem so schönen Frankreich Ade sagen wird,67 ohne lang zu singen „Ihr Berge lebt wohl etc.!“ Der Gesangverein soll also wieder auferstehen, es wird Heinrich wohl Mühe kosten, und ich fürchte, meine Stimme wird wohl verbivouakirt,68 sein, wenigstens noch eine Oktav gesunken. Ob wir dann beitreten werden, müssen wir einmal sehen, tritt Du doch auf jeden Fall bei, ich glaube kaum, daß ich als actives Mitglied wieder mitmachen werde. [S. 4] Aber Dich Donnerstag Abends abzuholen, das wäre doch ein gar großes Vergnügen für mich, Dir dann einmal zu erzählen, was ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 67 Über der Zeile eingefügt wird. 68 Neugebildetes Verb bzw. Partizip zu Bivouac, Biwak; er meint, daß seine Stimme wie nach einer Übernachtung im Feldlager unter freiem Himmel klinge. 96
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg
ich früher gedacht, wenn ich da auf einmal das Vergnügen hatte, und daß ich oft gedacht: Werden sich diese deine innersten einzigen Wünsche wohl jemals realisiren? Dank Dir tausendmal, daß Du mir dieses Glück beschieden hast, o Johanna, noch oft werde ich Dir erzählen, was ich empfunden, als ich den ersten Kuß und als ich auch gleich darauf mit tiefem Weh im Herzen Dir den ersten Scheidekuß geben mußte. Aber jetzt, Johanna, bald, ja bald, ich fühle es, ruhe ich wieder an Deinem treuen Herzen. O, das Glück, wird es nicht zu groß sein? Hoffen wir, daß es bald geschehe und mit dieser Hoffnung will ich heut schließen. Bureaufeder (und) Tinte sind so schändlich, daß ich mich schämen muß, den Brief abzusenden, doch ich weiß, daß er trotzdem meiner guten Johanna willkommen ist. Leb denn recht wohl und sei Du, wie die ganze Familie, herzlichst gegrüßt und Du tausendmal umarmt von Deinem Dir ewig treuen Hermann.
Nr. 26 [S. 1] Pont-à-Mousson, den 26. Mai 1871. Theure Johanna! Endlich kann ich Dir mit Bestimmtheit sagen, daß ich bald wieder bei Dir sein werde, bald wieder an Deinem treuen Herzen ruhen werde. Endlich ist gestern der Befehl zu unserm so unendlich lange schon ersehnten Rückmarsch gekommen. Du kannst Dir kaum denken, wie glücklich Alle und besonders Dein treuer Hermann ist. Am 4ten Juni treten wir den Rückmarsch an und zwar nach Saarlouis, wo wir am 8ten ankommen und Ruhetag haben werden. Am 10ten werden wir verladen und kommen am 12ten nach Düsseldorf, glücklicherweise nicht, wie es Anfangs hieß, nach Coblenz zur Besatzung. O, dieses Glück, es ist zu groß, mit welchem Jubel werden wir den Vater Rhein überschreiten, den wir so brav vertheidigt, den wir von fremden Gelüsten für immer befreit haben. Wie wird uns an unserm [S. 2] Ehrentag das erste Glas deutschen Rheinweins munden, welchen Genuß wir so lange nicht hatten. Wäre nur der 4te da, aber das sind noch 8 Tage und dazwischen das schöne liebliche Pfingstfest, das ich so sehr gern mit Dir gefeiert hätte. Wie herrlich wäre es gewesen, wenn wir da zusammen solch einen schönen Ausflug hätten machen können, ja, Johanna, das hätte mich schon für so viel Entbehrtes belohnt. Aber ich will mich ja gern trösten, der Gedanke, so bald bei Dir zu sein, er läßt mir ja Alles im schönsten Sonnenlichte erscheinen. Wenn ich einen Stellvertreter finden 97
Hans-Joachim Kühn
resp(ective) nehmen kann für meinen lästigen Posten, werde ich 1 Tag nach Metz gehen, um noch einmal die Stätte zu sehen, wo wir so furchtbar geblutet haben, wo wir aber gleichzeitig Deutschland69 den Sieg sicherten. Gravelotte, Mars-la-Tour noch einmal besuchen, die Grabstätte so vieler Gefallener. Zu Tausenden liegen sie da, (und) es ist wirklich grauenvoll, [S. 3] dieser Gedanke – und wie leicht könnte man selbst dabei sein! Ja, wir können unserm Gott nicht genug danken, der uns so wunderbar geschützt hat. Hoffentlich werde ich von Düsseldorf gleich entlassen, vielleicht hält man uns noch einige Tage fest, doch hoffe ich sicher bis zum 20ten Juni dort zu sein, um mir nach so langer Zeit den ersten Kuß von meiner Johanna zu holen. Vorher wollen wir uns auch nicht wiedersehen, damit dies wenigstens ungestört sei, und durch keinen Schatten getrübt sei, das wäre doch zu schade. Sollte ich dagegen nicht gleich fortkommen, dann werde ich allerdings dem so gewaltigen Drange meines Herzens nicht widerstehen können. Andernfalls ist es besser, wir sehen uns erst dort und nach meiner definitiven Entlassung wieder. O Johanna, innigstgeliebtes Kind, es ist mir noch gar nicht faßlich, daß dies so bald der Fall sein würde und doch ist es endlich wirkliche Wahrheit! [S. 4] Das Schönste ist nun noch, daß Carl auch gleich entlassen wird, da das 56te R(e)g(imen)t zu unserm Corps zurückversetzt wird, also auch zurückgeht. Wie wird sich der auch freuen! Gestern traf ich W. Münster von dort, von dem ich allerseitiges Wohlbefinden erfuhr. Er schien sehr niedergeschlagen zu sein, daß er wieder fort mußte. Morgen kommen 7000 Kriegsgefangene hier durch, was jedenfalls für mich ein sehr harter Tag sein wird. Ebenso den 1ten Pfingsttag. Den 2ten bin ich hoffentlich frei. Einen Brief sollst Du noch aus Frankreich haben, dann noch einen aus dem lieben Vaterlande und dann will ich Dir’s in’s Ohr flüstern, was ich Dir immer sagen will, daß ich Dich unendlich und ewig und treu liebe und immer lieben werde. Schreib mir recht bald wieder, grüß mir die ganze Familie herzlich und sei Du dies, meine innigstgeliebte, gute Johanna ganz besonders von Deinem Dich umarmenden Hermann.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 69 In lateinischen Buchstaben gesperrt geschrieben Deutschland, ebenso wie die französischen Ortsnamen Gravelotte und Mars-la-Tour. 98
Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg
Anhang Qualifications-Attest Dem Unteroffizier Hermann Julius Dörken, geboren am 18ten December 1845 zu Gevelsberg, Kreis Hagen, welcher seiner activen Dienstpflicht als einjährig Freiwilliger vom 1ten April 1868 bis 31ten März 1869 bei der 10ten Compagnie des unterhabenden Regiments genügte, gegenwärtig in Folge der Mobilmachung bei der vorgenannten Compagnie wieder eingezogen ist, sich während dieser Zeit als ein moralischer junger Mann bewiesen, auch im Dienst regen Eifer und guten Willen gezeigt hat, wird hiermit auf Grund des von ihm bestandenen Examen sowie in Uebereinstimmung mit dem von seinen Compagnie-Ofizieren ausgestellten Zeugnisse bescheinigt, daß er sich zur dereinstigen Beförderung zum Reserve-Offizier empfiehlt. C(ompagnie-)Qu(artier) Ars-Laquenexy, den 8ten October 1870 Commando des Niederrheinischen Füsilier-Regiments No. 39 Eskens Oberst und Regiments-Commandeur
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Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken: ein vergessenes Denkmal auf der Saarbrücker Bellevue Von Jutta Haag
Selbst alteingesessene Saarbrücker verbinden mit dem Begriff ‚Lulustein‘ nur eine kleine Straße auf der Bellevue im Ortsteil Alt-Saarbrücken. Dass dieser Name auf einen unscheinbaren anthrazitfarbenen Stein inmitten eines Gebüschs hinter der ATSV-Halle zurückgeht, dürfte den wenigsten bewusst sein und auch die Geschichte des kleinen Denkmals ruht weitestgehend im Dunkeln. Im Zuge des 150-jährigen Jubiläums des Deutsch-Französischen Krieges und der Schlacht von Spichern geriet der Gedenkstein wieder etwas vermehrt in den Blick der Öffentlichkeit, doch meist beschränken sich die Erklärungen zu dessen Herkunft auf wenige dürre Fakten. Allgemein bekannt ist nur, dass von dieser Stelle Lulu, der Sohn des französischen Kaisers Napoleon III., an der Seite seines Vaters der Beschießung Saarbrückens am 2. August 1870 während des Deutsch-Französischen Kriegs beiwohnte. Auch der Wikipedia-Eintrag hierzu ist dürftig: „Nach mündlicher Überlieferung soll hier, auf dem damaligen Exerzierplatz von Saarbrücken, der 14-jährige Napoléon Eugène Louis Bonaparte, Kosename ‚Lulu‘, am 2. August 1870 zu Beginn des Deutsch-Französischen Krieges zum ersten Mal eine Kanone abgefeuert haben.“1 In einem Band über die Flurnamen der Stadt Saarbrücken heißt es: „Ein Gedenkstein, der an der Stelle aufgerichtet wurde, wo am 2. August 1870 Louis, der Sohn Napoleons III., unter der Aufsicht seines Vaters einen Mitrailleusenschuss auf Saarbrücken auslöste.“2 Die genauen Hintergründe für die Entstehung des Denkmals bleiben im Ungefähren. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 1 https://de.wikipedia.org/wiki/Lulustein, abgerufen am 15.07.2021. 2 Gerhard Bauer: Die Flurnamen der Stadt Saarbrücken, Bonn 1957, S. 151. Bei einer Mitrailleuse (von frz. mitraille „Kartätsche“) handelt es sich um eine manuell bediente SchnellfeuerSchusswaffe. Mit ihr konnten bis zu 125 Schuss pro Minute abgefeuert werden. 101
Jutta Haag
Sonderbar ist auch, dass kaum jemand – vor allem von den lokal Forschenden – die Frage stellt, weshalb man für den Sohn eines Kriegsgegners ein Ehrenmal errichtet. In der Ausstellung „Monumente des Krieges“ des Historischen Museums Saar wird der Lulustein zwar erwähnt, aber er findet sich eingereiht inmitten sonstiger nach dem Deutsch-Französischen Krieg in Saarbrücken errichteter Erinnerungsstätten. Den wenigsten ist bewusst, dass dieses Denkmal unter ihnen eine Sonderstellung einnimmt. Der Historiker Tobias Arand war in seiner Monographie über den Krieg von 1870/71 einer der ersten, der ihn explizit als das bezeichnet, was er ist, nämlich ein „überheblichverhöhnend gemeintes Symbol des Siegers gegen die französische Glorifizierung“.3 Der heute so unscheinbar daherkommende Stein steht zum einen als ein Monument für den Niedergang des „Second Empire“, des französischen Zweiten Kaiserreichs, und zum anderen für den Aufstieg der kleinen, unbedeutenden von der großen Geschichte vergessenen Grenzstadt Saarbrücken zur selbstbewussten aufstrebenden Montanstadt inmitten des neu entstanden Deutschen Kaiserreichs. Im Folgenden soll versucht werden, etwas Licht ins Dunkel der Entstehungsgeschichte des Denkmals zu bringen.
Napoleon III. – der Medienkaiser Die Anwesenheit des französischen Kaisers zu Kriegsbeginn in Saarbrücken – vor allem aber auch die seines Sohnes – war hauptsächlich eine Inszenierung für die Öffentlichkeit. Napoleon war alles andere als überzeugt von der Notwendigkeit des Krieges. Zudem war er an einem schmerzhaften Steinleiden erkrankt, und die Reise an die Front, geplagt von Koliken, die es vor der Öffentlichkeit zu verbergen galt, bedeutete für ihn immense Strapazen. Dennoch wusste er, wie wichtig seine Präsenz bei den Truppen war, einerseits um deren Motivation zu erhöhen und andererseits, um seine Regentschaft zu festigen. Auf den Plakaten mit dem Aufruf zum Krieg wurde dieses Vorhaben dann auch groß der Öffentlichkeit angekündigt: „Franzosen! Ich eile an die Spitze unseres tapferen Heeres. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 3 Tobias Arand: 1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen, Hamburg 2018, S. 218. 102
Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken
[…] Ich führe meinen Sohn mit mir; sein jugendliches Alter hält mich keineswegs zurück. Mein Sohn kennt die Pflichten, die sein Name ihm auferlegt.“ 4 Er und sein Sohn brachen am 28. Juli 1870 am Bahnhof von St. Cloud auf, um ins Kriegsgebiet zu fahren. Nach einer Zwischenstation in Metz reisten sie nach Forbach weiter. Schon seit frühester Kindheit war Louis, das einzige Kind, das aus der Ehe von Napoleon mit Eugénie de Montijo hervorgegangen war, auf seine kommende Rolle als Kaiser vorbereitet worden. Truppenbesuche und Manöver an der Seite seines Vaters waren fester Bestandteil seiner Erziehung. 1863 berichtete „Die Gartenlaube“ von seinem Aufenthalt im Camp von Châlons im Alter von acht Jahren: „Obschon noch Kind, so ist ihm doch schon in dem großen Lagerleben eine Rolle übertragen. Sie besteht hauptsächlich darin, sich beliebt zu machen, Capital für die Zukunft zu sammeln. Und wahrlich, das Kind versteht seine Aufgabe; sie muß ihm gut einstudirt sein. Jede Bewegung, jeder Blick, jedes Lächeln ist ein Minutenstein auf der großen Rue Napoleon, welche mitten durch das Lager und von da zu dem Throne von Frankreich führt.“5
Und bereits ein Jahr vor dem Deutsch-Französischen Krieg, als Napoleon aus gesundheitlichen Gründen die Inspektion der Truppen im Lager von Châlons nicht persönlich abhalten konnte, war Louis an der Seite von General Frossard, seines Erziehers, für den Kaiser eingesprungen.6 Im Krieg gegen Preußen jedoch bot sich für den Prinzen die erste Gelegenheit, allen zu zeigen, dass er seinen zukünftigen Aufgaben auch im Ernstfall gewachsen sein würde. Die Phantasieuniformen seiner Kindheit hatten vor Beginn des Feldzuges ausgedient, Regent zu sein, war nun im Krieg endgültig kein Spiel mehr. Der Prinz, der mit seinen 14 Jahren zu jung war, einen militärischen Rang zu bekleiden, trug zu diesem Anlass Uniform und Képi eines Unterleutnants der Infanterie ohne Epauletten.7 Napoleon I., sein Großonkel, hatte seine militärische Karriere ebenfalls als Sous-Lieutnant begonnen, allerdings mit einem richtigen Offizierspatent, das er nach einer Ausbildung an der renommierten École Mili⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 4 Proklamation seiner Majestät des Kaisers Napoleon III., Saarländisches Landesarchiv, Plakatsammlung HV 28. 5 Die Gartenlaube, Leipzig 1863, S. 646. 6 Der Maler Olivier Pichat hält dieses Ereignis in seinem Werk „Le Prince impérial au camp de Châlons“ fest, Musées du Second Empire, Compiègne. Jacques Kuhnmunch: Le Prince impérial au camp de Châlons, dans Catalogue des peintures du château de Compiègne, mis en ligne le 2020-06-15, https://www.compiegne-peintures.fr/notice/notice.php?id=573, letztmals eingesehen am 10.10.2022. 7 Lónce Dupont: Le quatrième Napoléon, Paris 1874, S. 152. 103
Jutta Haag
taire in Paris bereits im Alter von 16 Jahren erworben hatte. Diese Uniform spielte bewusst auf das berühmte Vorbild an und signalisierte den legitimen Anspruch des Thronfolgers auf die Herrschaft, Louis stand in der Linie der Bonapartes und garantierte ihren Fortbestand. Um diese Botschaft in die Öffentlichkeit zu transportieren, wurden auch geschickt die neuen Medien genutzt. Vom Prinzen in Uniform hatte der Kaiser zahlreiche Aufnahmen von renommierten Fotografen anfertigen lassen,8 bei denen nichts dem Zufall überlassen wurde. Vor den Aufnahmen wurden sogar die lockigen Haare des Heranwachsenden von Caumont, dem kaiserlichen Hoffriseur, kurz geschnitten, um ihn männlicher wirken zu lassen.9 Das hochAbb. 1: Der Kronprinz im Alter von 14 Jahren in der Uniform eines Unteroffiziers mit unter den wertige und sehr teure Original bei solchen Arm geklemmtem Képi. [photographie] von Bingham, Robert Jefferson (1824–1870). Fotografien erhielt der Auftraggeber, es [Photographe - Bibliothèque nationale war aber üblich, dass die Ateliers Kopien de France, France - No Copyright Other Known Legal Restrictions. anfertigten, die ein Massenpublikum erhttps://www.europeana.eu/de/item/ reichten und mit dem Verkauf nicht un9200518/ark__12148_btv1b53022585z?lang=fr] erhebliche Einnahmen generierten. Bei beliebten Sujets waren Auflagen von mehreren tausend oder gar zehntausend Stück keine Seltenheit. Und so zierten gerahmte Bilder des kleinen Prinzen im sogenannten Carte de Visite-Format Privatwohnungen oder wurden in Sammelalben zusammen mit Aufnahmen anderer Berühmtheiten konserviert. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 8 Von diesem Sujet lassen sich verschiedene Aufnahmen finden. Mindestens vier Fotos von Augustin Aimé Joseph Le Jeune, das „Portrait en pied de Louis Napoléon en uniforme de souslieutenant d’infanterie“ eines unbekannten Fotografen (Musée Carnavalet, Inv. Nr. PH4142-3), Robert Jefferson Bingham „Le Prince impérial, à mi-corps, de face, en uniforme, le képi sous le bras et tête nue“, https://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb415238286, letztmals eingesehen am 10.10.2022. 9 Vgl. Jean-Claude Lachnitt: Le prince impérial Napoléon IV, Paris 2010, S. 131. 104
Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken
„La Bataille de Sarrebruck“ – die Schlacht vor der Schlacht An jenem Morgen des 2. August hatte General Frossard, Kommandant des 2. Corps der Rheinarmee, mit 18 Bataillonen die Höhen vor der Stadt Saarbrücken besetzt, in deren Kasernen sich nur eine kleinere Zahl preußischer Soldaten befand. Die Stadt war vielleicht auch noch aus anderen Gründen für den ersten Angriff gewählt worden: In ihr befand sich ein strategisch wichtiger Bahnknotenpunkt, mit dessen Besetzung der Gegner empfindlich geschwächt werden konnte, außerdem hoffte man, durch die Eroberung dieses Gebiets und weiteres Vorstoßen in Richtung Pfalz einen Keil zwischen die Truppen der Preußen, die von Norden kamen, und denen der süddeutschen Staaten, die von Süden anrückten, zu treiben und die Vereinigung der gegnerischen Kräfte zu verhindern. Nicht zuletzt wandelte man auf den Spuren des großen Vorbilds, denn auch Napoleon hatte bei seinen Feldzügen mehrfach die Saar bei Saarbrücken überquert. Von diesen Höhen aus begann Frossard also, die gegnerischen Linien zu beschießen. Einige wenige Geschosse trafen freistehende Gebäude und einen Teil des Bahnhofs. Später rückten die Truppen bis zu dem Gelände an der heutigen ATSV-Halle auf der Bellevue vor. Bei diesem Gefecht wurden auch die die mitgeführten Mitrailleusen, die ersten Schnellfeuergewehre mit mehreren Läufen, die als neue Wunderwaffe galten, erprobt und dem anwesenden Kaiser vorgeführt.10 Glaubt man dem Bericht eines französischen Korrespondenten, der für den Londoner „Standard“ arbeitete, hatte sich der Kaiser mit zwei Generälen und sechs Offizieren sogar bis auf ungefähr 300 Meter dem preußischen Zündnadelgewehrfeuer genähert, Kugeln waren ihnen um die Ohren geflogen und einer ihrer Begleiter wurde leicht verletzt. Louis hatte beim Anblick zweier getöteter Soldaten zunächst sehr bewegt gewirkt, dann aber wieder Fassung gewonnen und ihnen zu Ehren sein Képi gelüftet.11 Die preußischen Truppen, mit nur drei Kompanien stark in der Unterzahl, räumten mittags die Stadt und zogen sich auf den Rastpfuhl und nach Riegelsberg zurück, um auf Verstärkung zu
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 10 La Patrie, journal quotidien, politique, commercial et littéraire, 6. August 1870, S. 2. 11 Vgl. Edmund Ollier: Cassell’s history of the war between France and Germany, 1870–1871, Bd. 1, London/Paris/New York 1871, S. 21. 105
Jutta Haag
warten.12 Auf beiden Seiten wurden nur leichte Verluste verzeichnet. Der Kaiser und sein Sohn reisten noch am Nachmittag desselben Tages nach Metz weiter, General Frossard sicherte dem Bürgermeister von Alt-Saarbrücken Johann Carl Schmidtborn den Schutz der eingenommenen Stadt und die Unversehrtheit der Bürger zu.13 Der Krieg schien für die Franzosen gut zu beginnen, und auch das tapfere Verhalten des kaiserlichen Prinzen inmitten des Getümmels konnte als Erfolg gewertet werden. So sah sich dessen Vater Napoleon III. dazu veranlasst, abends eine offizielle Depesche an die Presse zu verfassen, in der er mitteilen ließ, dass er in Begleitung seines Sohnes an der Beschießung Saarbrückens teilgenommen und der kaiserliche Prinz in seiner Begleitung dort seine Feuertaufe erhalten habe.14 Ein weiteres Telegramm richtete Napoleon an seine Gattin Eugénie, in dem er als stolzer Vater schilderte, wie tapfer und kaltblütig der Sohn gewesen war, während Gewehr- und Kanonenkugeln zu ihren Füßen eingeschlagen hatten. Ebenso erwähnte er, dass Loulou, wie er von seinen Eltern genannt wurde, eine Kugel als Souvenir aufbewahrt und dass die Soldaten beim Anblick seiner Tapferkeit geweint hatten.15 Beide Dokumente belegen nicht, dass der Thronfolger eine Mitrailleuse oder gar eine Kanone abgefeuert hatte. Stets auf Außenwirkung bedacht, hätte der Kaiser ein solches Ereignis sicher nicht in seinem ersten an die Öffentlichkeit gerichteten Telegramm unterschlagen, auf jeden Fall aber hätte er es seiner Frau in dem privaten Schreiben mitgeteilt. Gegen den Schuss des Prinzen spricht auch, dass die Bedienung dieser Waffen eher kompliziert war und eine eigens dafür geschulte Mannschaft erforderte. Und nicht zuletzt wäre es militärtaktisch unverantwortlich gewesen, ausgerechnet den Regenten und den Thronfolger in eine für sie gefährliche Lage, sprich in Schussweite des gegnerischen Feuers, zu bringen. Die Abbil⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 12 Vgl. Karl Ruppersberg: Saarbrücker Kriegschronik: Ereignisse in und bei Saarbrücken und St. Johann, sowie am Spicherer Berge 1870, Saarbrücken 1902, S.118 f. 13 Vgl. Charles-Auguste Frossard: Rapport sur les opérations du deuxième corps de l’armée du Rhin dans la campagne de 1870, Bd. 1, Paris 1871, S. 22. 14 „L’empereur assistait aux opérations et le prince impérial, qui l’accompagnait partout, a recu sur le premier champ de bataille de la campagne le baptême du feu.“ Depesche des Innenministers aus Metz vom 2. August, 4:30 Uhr, in: Le Gaulois vom 4. August 1870. 15 „Deux août. Louis vient de recevoir le baptême du feu: il a été admirable de sang-froid, il n’a été nullement impressionné […] Nous étions en première ligne et les balles et les boulets tombaient à nos pieds. Louis a conservé une balle qui est tombée auprès de lui. Napoléon.“ Telegramm Napoléons an die Kaiserin, Le Gaulois vom 4. August 1870. 106
Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken
dung 2, die auf einer von einem Artillerieoffizier vor Ort angefertigten Zeichnung beruht, scheint ein realistisches Bild der Situation wiederzugeben.
Abb. 2: Der französische Kaiser mit seinem Sohn bei der Beschießung von Saarbrücken am 2. August. Bei diesem Anlass wurde im Beisein Napoleons und ranghohen Offizieren erstmals die neue Wunderwaffe, die Mitrailleuse eingesetzt. Les mitrailleuses à la prise de Sarrebrück, Holzstich aus Le Monde Illustré, um 1870 [Saarländisches Landesarchiv, B NL Hellwig 666]
Zu einer ähnlichen Einschätzung kam bereits Louis Saintmarie, ein Kriegsveteran aus dem elsässischen Schlettstadt, in seiner Analyse über den Kanonenschuss des Prinzen aus dem Jahr 1908.16 Er verweist außerdem auf den Bericht des preußischen Generalstabs, wonach man durch einen Gefangenen erfahren hatte, „dass der Kaiser und der kaiserliche Prinz Zuschauer des un⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 16 Louis Saintmarie: La Lumiere sur 1870, Mulhouse 1908, S. 359 f. 107
Jutta Haag
gleichen Kampfes gewesen waren“,17 wohlgemerkt Zuschauer und nicht Akteure, und dass dieser Zeuge, der dem Prinzen vor Ort begegnet war, sicher „nicht vergessen hätte hinzuzufügen, dass er ihn die Kanone hätte abschießen sehen, oder zumindest dass er davon gehört hätte“.18 Selbst General Frossard, immerhin Augenzeuge des Geschehens, spricht in seiner Darstellung über den Kampf am 2. August nur davon, dass der Kaiser und sein Sohn an diesem Tag inmitten der Truppen gewesen seien.19 Der Prinz selbst schildert das Geschehen in Saarbrücken seinem Lehrer Augustin Filon in einem Brief nach Paris wie folgt: Nach der Ankunft gegen elf Uhr in Forbach sei die Fahrt in einer Kutsche in Richtung Grenze gegangen, das königliche Paar habe das Lokal „Zur Bellevue“ passiert, wo französische Kräfte zwei preußische Soldaten erschossen hätten, deren Leichen er auch von nahem gesehen habe. Das Kampfgeschehen sei nur aus der Ferne verfolgt worden und als sein Vater, um besser sehen zu können, sich etwas nach vorn bewegt habe, hätten sie das Geräusch von ein paar Kugeln vernommen. Seiner Erzählung nach haben der Kaiser und er die Mitrailleusen nur gehört: „quand il s’en alla, il entendit les mitrailleuses“.20 Louis gibt seine Erlebnisse sehr detailliert wieder, und sie decken sich mit den anderen Schilderungen; hätte er tatsächlich eine Waffe abfeuern dürfen, hätte er seinem Lehrer, der ihn ausdrücklich um Details gebeten hatte, davon erzählt. Sollte sich der Aufenthalt tatsächlich so zugetragen haben – und alles spricht dafür – wäre sogar die oben erwähnte Darstellung, auf der das kaiserliche Paar unweit der Mitrailleusen steht, geschönt. Als zusätzliches Indiz sind auch die bildlichen Darstellungen des Kaiserbesuchs heranzuziehen. Es findet sich keine, auf der der Prinz beim Abfeuern einer Waffe dargestellt ist.21
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 17 Der deutsch-französische Krieg, 1870–71. Redigirt von der Kriegsgeschichtlichen Abtheilung des Grossen Generalstabes, Bd. 1, Berlin 1874, S. 144. 18 Übersetzung der Verfasserin. Saintmarie: La Lumiere (wie Anm. 16), S. 359. 19 Frossard: Rapport (wie Anm. 13), S. 19. 20 Vgl. Augustin Filon: Le prince impérial. Souvenirs et documents (1856–1879), Paris 1912, S. 76 f. 21 Im Laufe der Arbeit zu diesem Aufsatz stieß ich auf einen Artikel der Saarbrücker Zeitung, in dem die Forschungen des lothringischen Hobbyhistorikers Edouard Klein erwähnt werden, der die Geschichte des Mitrailleusenschusses ebenfalls in den Bereich der Legenden verweist. Der Aufsatz ließ sich in der Kürze der Zeit jedoch nicht auffinden. Ludwig Haben: Stücke des Lulusteins sollen sogar nach Amerika gewandert sein, in: Saarbrücker Zeitung 1992: Ausgabe West, Nr. 147 vom 27./28. Juni. 108
Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken
Der Krieg der verhängnisvollen Depeschen Louis hatte sich also bewährt, die Stadt war eingenommen und alles schien bestens für die Franzosen zu laufen. Endlich ging der Krieg los, und mit dem ersten Erfolg verstummten diejenigen, die bisher noch Zweifel am Sinn des französischen Engagements angemeldet hatten. Mit dem Kampf bei Saarbrücken hatte der Krieg in Frankreich die Höhe seiner Popularität erreicht.22 Der kleine Sieg hatte auch einen großen Effekt auf die Moral der Truppe, die, des Wartens müde, endlich einen erfolgreichen Angriff durchgeführt hatte. Der Schriftsteller Emile Zola beschrieb die Erwartungen, die sich mit diesem Sieg verknüpften, sehr treffend in seinem Roman „La Débâcle“, nämlich als „le premier pas dans la marche glorieuse; et le prince impérial, qui avait froidement ramassé une balle sur le champ de bataille, commençait sa légende“.23 Die französische Presse jubelte, sprach von der Überlegenheit der französischen Waffen und berichtete, dass Saarbrücken brenne und die Brücken gesprengt worden seien24 – Angaben, die keineswegs den Tatsachen entsprachen. Jedoch selbst in der französischen Hauptstadt gab es inmitten der Euphorie Stimmen, die vor allzu großen Erwartungen warnten. Die Pariser Tageszeitung „Le Siècle“ lieferte eine sehr realistische Bewertung des Kampfes und riet abzuwarten, ob die Einnahme von Saarbrücken sich als „simple démonstration“ oder als „Le premier acte d’une grande marche en avant“ erweisen würde.25 Das republikanische Blatt „Le Rappel“ konstatiert „Viel Lärm um nichts“.26 Im fernen Wien sprach man von einem „kleinen Gefechte bei Saarbrücken, das man von französischer Seite zu einer Schlacht hinaufschwindeln will“,27 und einen Tag später hieß es dort: „Es scheint ein großartiges Feuerwerk zu Ehren des Kaisers und Lulu’s stattgefunden zu haben.“28 Nachdem die folgenden Schlachten bei Spichern, Weißenburg und Wörth von den Franzosen verloren worden und ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 22 Vgl. auch: Stéphane Audoin-Ronzeau: 1870. La France dans la Guerre, Paris 1989, S. 93. 23 Émile Zola: La Débâcle, Paris 1984, S. 30: „[…] den ersten Schritt eines glorreichen Marsches; und der kaiserliche Prinz, der kaltblütig auf dem Schlachtfeld eine Kugel aufgelesen hatte, begann, an seiner Legende zu stricken.“ (Übersetzung d. Vf.). 24 Le Petit Journal vom 5. August 1870, S. 2. 25 Le Siècle vom 4. August 1870, S. 1. 26 Le Rappel vom 5. August 1870, S. 1. 27 Neue Freie Presse, Wien, Morgenblatt vom 4. August 1870, S. 1. 28 Neue Freie Presse, Morgenblatt vom 5. August 1870, S. 2. 109
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preußische Truppen ins Land einmarschiert waren, kippte die Stimmung zusehends. Die bei Saarbrücken erstmals als Wunderwaffe eingesetzte Mitrailleuse entpuppte sich ebenfalls als Enttäuschung. Auf sie waren von den Franzosen große Hoffnungen gesetzt worden. Das mechanische Schnellfeuergewehr mit 25 Läufen war in der Lage, bis zu 125 Schuss pro Minute abzufeuern, und da von französischer Seite entsprechende Propaganda betrieben wurde, war die Waffe beim Gegner gefürchtet. Zeitungsberichte, die von ihren verheerenden Wirkungen im Gefecht bei Saarbrücken berichteten, taten ein Übriges. Doch bald schon war dieses Kriegsgerät entzaubert. Ein in der Schlacht von Wörth erbeutetes Exemplar war nach Stuttgart gebracht und von dem jungen Ingenieur Carl Teichmann, Professor des Maschinenbaues an der dortigen königlichen Baugewerkschule, untersucht worden. In seinem Artikel über „Die französische Kugelspritze“29 kam er zu dem ernüchternden Schluss, dass die hohe Schussfrequenz nur erreicht werden konnte, „wenn auf das Zielen verzichtet wird“.30 Zudem kam es recht häufig zu einer Verstopfung einzelner Läufe, und die nicht abgefeuerten und in der Waffe verbliebenen Patronen explodierten beim Nachladen. „Dieser Umstand sowie die durchaus nicht beträchtliche Leistungsfähigkeit machen den Werth der Mitrailleuse als Feldgeschütz illusorisch [...]. Der Infanterie Mitrailleusen mitzugeben, ist gewiß ein unglücklicher Gedanke. Ein Dutzend gute Scharfschützen leisten hier gewiß ebensoviel […].“
So endete der peinlichst vorbereitete Truppenbesuch des Kaisers in einem Kommunikationsdesaster. Vor allem die bereits oben erwähnte zweite Depesche des Kaisers an seine Gattin hatte ungeahnte Folgen. Dieses zweite nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Schriftstück wurde auf Drängen des Ministerpräsidenten Ollivier und des Innenministers Chevandier de Valdrôme von der Kaiserin an die Presse weitergegeben und prangte am 4. August 1870 prominent auf der Titelseite der Pariser Tageszeitung „Le Gaulois“.31 Die in gutem Glauben publizierte Depesche Eugénies löste einen Sturm der Entrüstung aus und entzweite die Öffentlichkeit. Während es die eine Seite unverantwortlich ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 29 Carl Teichmann: Die französische Kugelspritze (Mitrailleuse), in: Polytechnisches Journal 1870, Band 197, Nr. CXXIII, S. 484–488. 30 Ebda., S. 488. 31 Vgl. Lachnitt: Le prince impérial (wie Anm. 9), S. 136. 110
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fand, ein Kind, noch dazu den Thronfolger, einer derartigen Gefahr auszusetzen, empörten sich andere darüber, wie abgebrüht und vermeintlich kaltschnäuzig Louis an einem Schauplatz des Krieges reagiert hatte, bei dem Menschen verletzt wurden oder ihr Leben ließen.32 Napoleon selbst wurde vorgeworfen, seinen Sohn für ein „scheußliches Spektakel“ missbraucht und mit der Veröffentlichung der Depesche ganz Europa gegen sich aufgebracht zu haben.33 Noch verheerender war jedoch, dass der Prinz von nun an der Lächerlichkeit preisgegeben war. Man spürte in Frankreich sehr wohl, dass die Einnahme Saarbrückens nicht die Heldentat war, als die man sie der Öffentlichkeit präsentieren wollte.34 Die französische Armee war mit fast 30 000 Mann angerückt, um eine nahezu schutzlose kleine Garnisonsstadt, in der sich ungefähr 1500 Soldaten aufhielten, anzugreifen, und der Kaiser war sich nicht zu schade, dieses Scharmützel durch seine Anwesenheit aufzuwerten und als Heldentat zu verkaufen. Man muss an dieser Stelle gerechterweise anmerken, dass die französischen Heerführer nicht über die exakte Truppenstärke oder die Bewegungen der gegnerischen Verbände Bescheid wussten, auch hatten die wenigen in Saarbrücken stationierten Soldaten mit Täuschungsmanövern den Franzosen erfolgreich eine viel größere Streitmacht vorgegaukelt. Aber selbst französische Journalisten gaben nach dem Ereignis unumwunden zu „Le jeune prince a reçu le baptême du feu, il est probable que ce premier combat avait été un peu préparé à son intention.“35
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 32 Vgl. Clément Vautel: Le prince impérial. Histoire du fils de Napoléon III, Paris 1946, S. 115. 33 Vgl. Jules-Nicolas Guyard: Journal d’un conscrit au 42e régiment d’infanterie de marche pendant la guerre de 1870–1871, o.O. 1909, S. 10. 34 Vgl. Taxile Delord: Histoire du Second Empire, Bd. 6, Paris 1875, S. 259: „Cette parade, préparée pour tromper l’impatience de la nation, et en même temps pour donner au Prince impérial ‚Le baptême du feu‘ et la médaille militaire, fut de la part du général Frossard le sujet d’un rapport des plus brillants. Les journaux annoncèrent en grosses lettres en tête ‚la victoire de Sarrebruck‘.“ 35 Edouard Auguste Spoll: Metz 1870, Notes et souvenirs, Paris 1873, S. 56: „Der junge Prinz hat die Feuertaufe erhalten, es ist wahrscheinlich, dass dieser erste Kampf ein wenig für ihn vorbereitet war.“ (Übersetzung d. Vf.). 111
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Vom tapferen Thronfolger zum „Enfant de la Balle“ Die großartige Feuertaufe des künftigen Kaisers war fehlgeschlagen. Dieser Fauxpas lieferte der Opposition in Paris einen Anlass für allerlei Spott, und der Thronfolger wurde in der öffentlichen Meinung vom Hoffnungsträger der jungen Monarchie zum „Enfant de la balle“,36 zum „Kind der Kugel“. Dahinter steckt ein Wortspiel in doppeltem Sinne. Louis-Eugènes Präsenz auf dem Schlachtfeld wird nicht nur auf das bloße, rührselige Aufheben einer fehlgeleiteten Kugel reduziert, im Französischen meint der Ausdruck „enfant de la balle“ auch so etwas wie „von der Pike auf lernen“ oder „mit der Muttermilch aufsaugen“. Der Junge, der also von Kindesbeinen an das Kriegshandwerk herangeführt werden Abb. 3: „Titi-Louis“. Karikatur des Kronprinzen auf einem Schaukelpferd. Beim Gefecht von Saarbrücken hatte der Prinz sollte, erweist sich im Ernstfall seine Feuertaufe bestanden. In der Hand hält er eine Kugel vor der ganzen Welt nicht als vom Schlachtfeld als Souvenir. „Un titi“ bezeichnet – ähnlich wie „une gosse“ eigentlich ein Pariser Arbeiterkind aus den tapferer Held, als Nachfolger des Vororten. Handkolorierte Lithographie von De La Tremblais, großen Napoleon und künftiger Paris ca. 1870-1871, Victoria & Albert Museum London, https://collections. vam.ac.uk/item/O185333/titi-louis-princeNapoleon IV., als richtiges „enfant imperial-print-de-la-tramblais/ de la balle“, das souverän auf einem Schlachtfeld agiert. Anstatt im Krieg gegen Preußen den wichtigen Schritt vom jungen Prinzen zum späteren Herrscher zu nehmen, versagt er und bleibt Kind. Seine ganze Leistung im Gefecht beschränkt sich darauf, eine Kugel mitzunehmen, die er womöglich nicht einmal selbst aufgesammelt hatte, ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 36 Lachnitt: Le prince impérial (wie Anm. 9), S. 136. 112
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sondern ihm von einem Soldaten zugesteckt worden war. Man wirft Vater und Sohn vor, unfähig zu sein, in einem Krieg zu bestehen und einen Staat lenken zu können. Die Schlacht von Saarbrücken, die ein bloßes Scharmützel war, und der verunglückte Auftritt der beiden wurden alsbald in Frankreich in unzähligen Karikaturen verarbeitet. Eine zeigt beispielsweise Loulou auf einem Schaukelpferd sitzend, in der einen Hand die bereits erwähnte Kugel, in der anderen einen Luftballon mit der Aufschrift „Empire“, aus dem die Luft entweicht.37 Auch Spottverse wie „Et le petit prince rammassait les balles, qu’on avait mis là tout exprès“ („und der kleine Prinz hob die Kugeln auf, die man extra dort hingelegt hatte“)38 waren in Umlauf, und der Dichter Rimbaud verarbeitete die Saarbrücken-Episode mit bissigem Humor in seinem Gedicht „L’éclatante victoire de Sarrebrück“, in der die Schlacht eher einem Mittagsschläfchen gleicht. General Frossard, wird in einer zeitgenössischen Lithografie gar zum „Grand porte balle du Prince Impérial“, zum großen Kugelträger des Prinzen, degradiert.39 Der Medienprinz wird zum Medienopfer. In Preußen wurde dieses Ereignis genauso ausgeschlachtet und diente Presse und Karikaturisten als Steilvorlage. Umso bitterer für die Franzosen, weil der „Sieg von Saarbrücken“ ihre einzige gewonnene Schlacht in einem sonst von Niederlagen geprägten Kriegszug war. Das vermeintlich so gut geplante Unternehmen war der Anfang vom Ende des Zweiten Kaiserreichs. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 37 „Titi-Louis“ (Prince-Impérial). Sur son cheval de Saarbruck“, Karikatur von De La Tremblay, 1870, online unter https://collections.vam.ac.uk/item/O185333/titi-louis-prince-imperialprint-de-la-tramblais, letztmals eingesehen am 10.10.2022. 38 Vom Komponisten Paul Burani stammt das Lied „Le Sire de Fisch-Ton-Kan“ (etwa „Der Herr von Verpiss-Dich“): Par un étrange phénomène, Voilà qu’il eut un héritier, Un héritier. Et pour prouver qu’c’était d’sa graine, On en fit d’suite un p’tit troupier, Un troupier. Dans des batailles pyramidales, On voyait l’pèr’ mais pas d’très près, Pas d’très près; Et le p’tit ramassait les balles, Qu’on avait mis là tout exprès, Là tout exprès.
39 Apothéose Badinguet. Empire Français de Chislehurst, Lithografie 1871, Musee Carnavalet, Paris, https://www.parismuseescollections.paris.fr/de/node/301171, letztmals eingesehen am 10.10.2022. 113
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Bereits einen Monat nach der „Affaire de Sarrebruck“ kapitulierte die französische Armee, und am 6. September erreichte Louis das englische Exil. Mit der Zeit rückte das Bild des „Enfant de la Balle“, des lächerlichen und feigen Kindes, aber immer mehr in den Hintergrund. Vor allem auf deutscher Seite erfährt die Episode noch eine etwas andere Lesart. Im Zentrum fast jeden Berichts stand nun die vom Thronfolger auf die wehrlose Stadt abgefeuerte Mitrailleuse oder Kanone. Dies betonte die Heldenhaftigkeit der Stadt und der dort stationierten Regimenter, gleichzeitig wurde so der Feind moralisch abgewertet. Die angerichteten Schäden wurden von preußischer Seite vielfach übertrieben dargestellt. So berichtet die „Frankfurter Zeitung“ am 3. August: „Das Bahnhofs- und viele umliegende Gebäude und Strassen wurden von 11 bis 2 Uhr mit unzähligen Granaten beschossen, so dass die dadurch angerichtete Verwüstung eine schreckliche ist.“40 Die Presse sah ihre Aufgabe darin, ihren Teil zum Sieg beizutragen. Ein Feuilletonist im fernen Wien stellte beispielsweise die Frage: „Was macht ein Schriftsteller in so wildbewegten Tagen, zumal, wenn er über das Alter hinaus ist, mit in den Kampf zu ziehen?“ Um gleich selbst darauf die Antwort zu geben „Die Feder ist seine Waffe“41 und weiter berichtet er von Hohn- und Spottliedern, die gedruckt in tausenden von Exemplaren auf Bahnhöfen an die in den Kampf ziehenden Soldaten verteilt wurden. So auch das folgende: Wie Napoleon Saarbrücken nahm: Schnapphahn Bonapart’ der Dritte Denket: Ei die Kriegsvisite Bei den Deutschen wird mir schwer; Steh’n in Waffen an die Zähne, D’rum ’nen Coup, ja, eine Scene, Für Paris mit meinem Heer! […] „En avant! Ja bei Saarbrucken Wollen wir hinüberrucken, Wenig Volk und offne Stadt. Siebenhundertfünzig Preußen
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 40 Georg Hirth: Tagebuch des Deutsch-Französischen Krieges. Eine Sammlung der wichtigeren Quellen. Dem siegreich heimkehrenden deutschen Heere und seinen Führern gewidmet, Berlin 1871, S. 558. 41 Neue Freie Presse, Wien, Morgenblatt vom 7. September 1870. 114
Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken Stehen dort, die wir zerreißen, Die Affaire gehet glatt.“ Und er sammelt dreißigtausend Fußsoldaten, ’s folgen sausend Reiterregimenter drei, Der Kanonen sechsunddreißig, Mitrailleusen spritzen fleißig’ Ach! das ganze Land entzwei. Nach drei Stunden Manövriren Sieht er endlich retiriren Siebenhundertfünfzig Mann. „Großer Sieg! Saarbruck genommen, Und wir sind im Blut geschwommen,“ Schreibt er an Eugenien dann. „Lulu, unser Heldensohne Holte sich die Lorbeerkrone, Ward im Feuer heut’ getauft, Hinterm Schuß sehr viel Courage! Hat bei Knechten der Bagage Feindeskugeln sich gekauft.“ […]42
Ein Verlag in Würzburg brachte gar ein „Lulu-Bilderbuch“ heraus, das auf knapp 15 bebilderten Seiten die Rolle des Kronprinzen im Kriegsgeschehen umreißt.43 Auf dem Titelblatt des Werks sieht man Louis – als kleines Kind dargestellt – zwischen seinem Vater und dem Artilleriegeneral und Generalstabschef Edmond Leboeuf. Im Hintergrund des Bildes finden sich all die Schrecken der französischen Armee vereint: die legendäre Mitrailleuse, der bedrohliche schwarze Zuave und die neuartigen „Aérostiers“, Fesselballons, die zur Gefechtsbeobachtung und Kommunikation dienten. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 42 Dieses Lied findet sich später auch in zahlreichen Liederbüchern wieder, etwa in Woldemar Götze: Schlachtfanfaren und Heroldsrufe. Deutschlands große Zeit in geharnischten Liedern für die deutsche Jugend, Leipzig 1874, Nr. 173, S. 139 f., dort Wolfgang Müller von Königswinter zugeschrieben. 43 Lulu-Bilderbuch für Jung und Alt. Zur Erinnerung an den Siegeszug der Deutschen in Frankreich 1870–71 gemalt und mit kurzweiligen Reimchen versehen von Füsilier Kutzschke, Würzburg 1871. 115
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Abb. 4: Die Titelseite des „Lulu-Bilderbuchs“ zeigt Louis zwischen seinem Vater Napoleon III und dem Artilleriegeneral und Generalstabschef Edmond Leboeuf im Deutsch-Französischen Krieg. Im Hintergrund sind alle vermeintlichen Schrecken der französischen Armee vereint: die legendäre Mitrailleuse, der bedrohliche schwarze Zuave und die neuartigen „Aérostiers“, Fesselballons, die zur Gefechtsbeobachtung und Kommunikation dienten. Lulu-Bilderbuch für Jung und Alt. Würzburg 1871, Bayerische Staatsbibliothek, https://api.digitale-sammlungen.de/iiif/image/v2/bsb10984533_00001/full/full/0/default.jpg
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In dasselbe Horn stößt folgender Bericht einer zeitgenössischen Illustrierten über den Einsatz der Mitrailleusen in Anwesenheit des Thronfolgers am 2. August: „Jedenfalls aber zeugt schon die Thatsache, daß Napoleon seinen vierzehnjährigen Sohn zum Zuschauer dieses Gefechts machte, von der grenzenlosen Rohheit seines Gemüths, welche durch Turcos, Spahis und Zephyrs noch weitere Illustrationen erhält.“44
Ein Denkmal des Spotts An Boshaftigkeit kaum zu übertreffen war der Einfall, genau an die Stelle in der Nähe des Saarbrücker Exerzierplatzes, an der Napoleon mit seinem Sohn gestanden hatte und die auch genau die Stelle war, an der die französische Armee am weitesten in deutsches Gebiet vorgestoßen war, dem Thronfolger ein steinernes Denkmal zu setzen, das die Niederlage der Franzosen sozusagen für alle Zeiten sichtbar machen sollte. Die Errichtung des Steines lässt sich ungefähr auf den Frühsommer 1871 datieren.45 Ende Juli findet sich in der örtlichen Presse eine kurze aber hintersinnige Meldung hierzu.46 Ein alter Herr aus Bremen habe „mit Hülfe eines 7. Ulanen die Stelle auf dem Saarbrücker Exerzierplatz ermittelt, auf welcher das Luluchen einen Schuß in die weite Welt abgefeuert“ und habe gedacht „willst doch dem armen Kind für seine ausgestandene Angst eine kleine Freude bereiten und hat deshalb auf besagter Stelle einen Denkstein setzen lassen“. Der Autor des Textes gibt vor, das Werk noch nicht persönlich in Augenschein genommen zu haben, sobald dies aber erfolgt sei, „dann wollen wir den Denkstein noch näher beschreiben und dem Vater des Lulu eine Zeichnung davon zum Einrahmen übersenden“. Kurze Zeit später erlangt die Errichtung des Denkmals überregionale Verbreitung. Im November 1871 berichtet das „Illustrierte Kreuzerblatt“ in ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 44 Illustrierte Welt: Deutsches Familienbuch. Blätter aus Natur und Leben, Wissenschaft und Kunst, Stuttgart 1871, S. 88. 45 Der Heimatforscher Ruppersberg irrt wohl in seiner Datierung des Denkmals. Er gibt an, dass am 2. Pfingsttag 1871 bereits der zweite Stein aufgestellt wurde. Albert Ruppersberg: Saarbrücker Kriegs-Chronik. Ereignisse in und bei Saarbrücken und St. Johann, sowie am Spicherer Berge 1870, Saarbrücken 1902, S. 98. 46 St. Johanner Zeitung vom 29.7.1871. 117
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Augsburg darüber, als Urheber wird ein Bremer Kaufmann genannt.47 Um dieselbe Zeit vermeldet die Zeitschrift „Die Gartenlaube“: „Einen Denkstein der eigenthümlichsten Art hat jetzt wohl Deutschland aufzuweisen; es ist dieß der Lulustein auf dem Exercierplatz bei Saarbrücken.“48 Diese Quelle nennt nun auch den Stifter: H. H. Baumann, ein Veteran der Befreiungskriege von 1814/15, der die Schlachtfelder von Spichern bereiste, hatte den „launigen Einfall“ hierzu und veranlasste die Errichtung des Steins. In diesem Text taucht dann auch die vermeintlich vom Thronfolger abgefeuerte Kanone auf: „Nach Angabe eines gefangenen Franzosen vom 2. August vorigen Jahres hat an dieser Stelle […] Napoleon seinen Sohn die erste Kanone abfeuern lassen.“
Abb. 5: Der 1871 errichtete Lulustein wurde bald zum Anziehungspunkt für Touristen, die die Orte der Schlacht bei Saarbrücken besuchten. Holzstich um 1871 [Saarländisches Landesarchiv, B NL.Hellwig 671]
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 47 Illustriertes Kreuzerblatt: Eine Wochenschrift für jedermann. Nr. 46, 1871, S. 184. 48 Die Gartenlaube, Heft 45, Leipzig 1871, S. 753–760. 118
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Der aus Bremen stammende Baumann hatte beim 1813 gegründeten Lützower Freikorps gedient, einem Freiwilligenverband der preußischen Armee, zu dem sich auch Bürger anderer Staaten des Rheinbunds meldeten, unter ihnen viele Intellektuelle.49 Nach der Niederlage Napoleons wurden die Lützower als nationale Helden verehrt, der junge Dichter Theodor Körner, der bei der Einheit im Kampf gefallen war, wurde „zum symbolischen Märtyrer der Bewegung“.50 Aus diesem Umfeld glühender Patrioten, deren Ziel „die wilde Jagd und die deutsche Jagd auf Henkersblut und Tyrannen“51 war, stammte Baumann. Nach Ende des Deutsch-Französischen Krieges, der die Reichseinigung nach sich zog, hatte er bereits an der Siegesparade im April 1871 in München teilgenommen, sogar ein Bild von ihm bei der Veranstaltung war in der Zeitschrift „Daheim“ erschienen.52 Vermutlich wollte er in seinem patriotischen Eifer auch andere bedeutende Stätten des Kriegsgeschehens aufsuchen, und so muss es ihn nach Saarbrücken gezogen haben. Dort habe er sich „nach der Stelle erkundigt, von der aus Lulu am 2. August vorigen Jahres auf Saarbrücken herabschaute und die ‚Feuertaufe‘ empfing“.53 An diesem Ort, „in der Mitte der vorderen Pappelreihe des Exercierplatzes“54 ließ er den Stein errichten. Als Vorbild für dieses eigenartige Denkmal diente womöglich der sogenannte „Napoleonstein“ auf dem Windknollen bei Jena. Auf dieser Anhöhe hatte Napoleon in der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 biwakiert. Nach seinem Sieg über die Preußen soll er als Zeichen des Triumphes ein „N“ in einen dort aufgestellten Grenzstein einmeißeln haben lassen, der später durch einen richtigen Gedenkstein ersetzt wurde.55 Dieses steinerne Zeichen des napoleonischen Triumphes auf ihrem eigenen Territorium wurde von den ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 49 So etwa der Pädagoge Friedrich Fröbel, der Dichter Johann von Eichendorff, der Historienmaler Ferdinand Hartmann oder der Turner Friedrich Jahn. 50 Otto Dann: Nation und Nationalismus in Deutschland, München 1993, S. 82. 51 Gedicht: „Lützows wilde Jagd“ von Theodor Körner. 52 „Der alte Lützower unter den einziehenden Officieren in München“, Holzstich in: Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen, 1871, Nr. 46, S. 733, online unter https://www. digitale-sammlungen.de/en/view/bsb10943880?q=%28Daheim.+7,%5B2%5D%29&page=322, 323, letztmals eingesehen am 10.10.2022. 53 Daheim. 1872, Nr. 5, S. 80, online unter https://www.digitale-sammlungen.de/en/view/ bsb10943882?q=%28Daheim.+1872%29&page=90,91, letztmals eingesehen am 10.10.2022. 54 Daheim. 1872, Nr. 5, S. 80, mit Zeichnung des Steins, online unter https://www.digitale-sammlungen.de/en/view/bsb10943882?q=%28Daheim.+1872%29&page=90,91, letztmals eingesehen am 10.10.2022.. 55 Vgl. Holger Nowak/Birgitt Hellmann: Die Schlacht bei Auerstedt und Jena am 14. Oktober 1806, Jena 1994, S. 29. 119
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Preußen als Demütigung empfunden. Ein weiterer Napoleonstein, sozusagen das Gegenstück zum ersten, findet sich in Probstheida bei Leipzig. Dort wurde nach dem Sieg der Preußen über Frankreich von patriotischen Bürgern Geld für einen Gedenkstein gespendet, der jedoch zunächst keine Inschrift erhalten durfte, da von den Behörden solches Engagement kritisch beäugt wurde.56 Der Veteran Baumann dürfte diese Denkmäler gekannt haben, und so lag es nur nahe, dass er als Spender eines solchen auftrat, um den preußischen Sieg – oder besser die verheerende Niederlage der Franzosen – für alle Ewigkeit der Öffentlichkeit kundzutun. Der hochbetagte Veteran – selbst wenn er 1814 erst zwanzig Jahre alt gewesen war, so musste er 1871 mindestens 77 sein – wollte am Ende seines Lebens seinen persönlichen Triumph auskosten, und es erfüllte ihn wohl mit großer Genugtuung, Zeitzeuge des Niedergangs dreier Generationen Bonapartes zu sein. Der Lulustein fiel als Denkmal aus der Reihe. Er war nicht der Stein, der einem großen Herrscher huldigte oder der die Wichtigkeit der Stadt Saarbrücken betonte, da auf diesem Fleckchen Erde der französische Thronfolger gestanden hatte, seinen Glanz sozusagen auf den Ort übertrug, dieser Stein war eindeutig ein Denkmal des Spotts. Von offizieller Seite wäre ein solches sicherlich nie errichtet worden, auch die Ehre des unterlegenen Gegners musste schließlich respektiert werden. Die am Denkmal angebrachte Inschrift „Lulu’s erstes Debut, 2. August 1870“57 weist ebenfalls darauf, dass es sich nicht um ein offizielles Monument handeln kann. Der französische Prinz wird keck mit seinem Kosenamen bezeichnet und bei dem „ersten Debut“ handelt es sich um einen Pleonasmus – ein Debut erfolgt immer zum ersten Mal. Ein semantischer Fehler, der weder dem Stifter noch dem Steinmetz aufgefallen war. Da zu dieser Zeit die Errichtung von Denkmälern im öffentlichen Raum von der Baupolizei genehmigt werden musste und diese offensichtlich keine Einwände erhob, wurde das Unternehmen auch von Seiten der Stadt, wenn nicht gutgeheißen, so doch gebilligt. Zur selben Zeit begannen auch die ersten Bauarbeiten zum Krieger-Denkmal auf dem Winterberg, ein Vorhaben, von einem lokalen Komitee initiiert, dem aber nationale Bedeutung zugemessen wurde. „Es hat eine doppelte Be⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 56 Vgl. R. Naumann: Der Napoleonstein am Thonberge bei Leipzig, Leipzig 1871, S. 12. 57 St. Johanner Zeitung vom 27.7.1871. 120
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deutung: es soll ein Monument werden, gewidmet der bedeutsamsten Episode der deutschen Volksgeschichte, ein Monument, gewidmet den Heldensöhnen, welche durch ihren Tod diese Episode zum Abschluß haben bringen helfen.“58 Beiden Denkmälern ist immerhin gemein, dass Bürger sie geplant und auch bezahlt hatten.
Schlachtentourismus zu den Kriegsstätten um Saarbrücken In Saarbrücken hatte sich schon unmittelbar nach Ende der Schlacht von Spichern ein enormer Reiseverkehr entwickelt. Anfangs hatte der Besuch von Saarbrücken meist praktische Gründe: Angehörige besuchten verletzte Soldaten, die in der Stadt gepflegt wurden, organisierten den Heimtransport Verwundeter oder Toter oder versuchten, vor Ort Neuigkeiten über das Schicksal Vermisster in Erfahrung zu bringen. Später wurden von den Verwandten die Gräber ihrer Verstorbenen aufgesucht oder die Orte besucht, an denen diese mutmaßlich gefallen waren. Das Schlachtfeld wurde zunächst zum Ort des Trauerns und Gedenkens. Doch schon bald wurde Saarbrücken auch zum Sehnsuchtsort erlebnishungriger Schlachtfeldtouristen. Die Stadt war sehr gut an das Bahnnetz angebunden und von überall erreichbar. Aus dem ganzen Reich strömten Besucher in die Stadt. Der Besuch der Kampfstätte machte den Krieg für sie fassbar. Zivilisten, die die Kriegsereignisse bisher nur aus Zeitungsberichten kannten, nicht am Geschehen beteiligt waren, konnten sich den Raum des Schlachtfeldes aneignen und so den Krieg nacherleben. Spichern war jedoch mehr. Die Schlacht wurde zum Symbol, zum Kristallisationspunkt des nationalen Erbes und nahm identitätsstiftende Züge an.59 Vor dem Krieg hatte Saarbrücken nicht gerade als beliebtes Reiseziel gegolten. Obwohl der kleinen Stadt mit ihren zahlreichen Gärten, dem Schloss und der sie umgebenden Landschaft eine gewisse Schönheit nicht abgesprochen werden konnte, vermeldete „Le Petit Journal“ in Paris, dass sich gewöhnlich nur sehr wenige Touristen auf dem Weg zu einer Rheinreise in sie ver⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 58 Saarbrücker Zeitung vom 4. November 1871. 59 Vgl. Stefanie Samida: Schlachtfelder als touristische Destinationen: zum Konzept des Thanatourismus aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Zeitschrift für Tourismuswissenschaft 10 (2018), S.267–290, hier S. 272. 121
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irrten.60 Der mit der Schlacht von Spichern nach und nach aufkommende Tourismus wurde von der Saarbrücker Bevölkerung sehr schnell als willkommene Einnahmequelle erkannt, und so öffneten beispielsweise neue Wirtshäuser. Bereits im Mai 1871 findet sich die Annonce des Wirtes vom „Gasthaus zum Spicherer Berg“, der „einem verehrlichen hiesigen und reisenden Publikum“ die Errichtung seiner Wirtschaft an der Neuen Bremm kundtut. An Sonnund Feiertagen bot er sogar einen Shuttleservice an, der Besucher gegen ein geringes Entgelt zum Ausflugslokal brachte,61 wenige Tage später wird an der Goldenen Bremm eine Restauration mit Gartenwirtschaft eröffnet.62 In einer weiteren Anzeige wird um auswärtige Gäste explizit mit dem Argument geworben, dass der Wirt Zeuge der Schlacht am 6. August gewesen sei.63 Plakativ wurde diese Botschaft weithin für alle sichtbar auf die Außenwand des Wirtshauses aufgebracht: „J. Stalter. Einziger Bewohner der Goldenen Bremm am 6. August 1870“.64 Doch auch sonst wurde Besuchern und Einheimischen einiges geboten: Der Handwerker-Verein veranstaltete für Interessierte eine MitrailleusenAusstellung, deren Erlös Verwundeten zugutekam,65 und in einer Bude in St. Johann wurde eine Gemäldeausstellung mit Ansichten vom Kriegsschauplatz präsentiert.66 Mancher Bürger verdingte sich als Fremdenführer oder Souvenirverkäufer. Sehr beliebt bei den Reisenden waren Andenken, die einen unmittelbaren Bezug zum Krieg hatten. So war es üblich, Blumen oder Blätter von Gräbern der Gefallenen mitzunehmen und gepresst in einem Reisealbum zu konservieren.67 Reißenden Absatz fanden auch Souvenirs vom Schlachtfeld, Kugeln oder Granatsplitter etwa, die man entweder selbst vor Ort suchen oder bei findigen Verkäufern, oft Kindern, erstehen konnte.68 Diese Art des Verdienstes wurde weiter professionalisiert, es entstand eine ganze Souvenirindustrie, die aus Geschossteilen Aschenbecher oder Briefbeschwerer fertigte, es wurden ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 60 Le Petit Journal vom 4. August 1870. 61 Saarbrücker Zeitung vom 9.5.1871. 62 St. Johanner Zeitung vom 19.5.1871. 63 St. Johanner Zeitung vom 1.7.1871. 64 Postkarte des Gasthauses zum Spicherer Berg an der alten goldenen Bremm. LA Saarbrücken, B HV 681/1. 65 Saarbrücker Zeitung vom 20.4.1871. 66 St. Johanner Zeitung vom 8.4.1871. 67 Illustriertes Kreuzerblatt, 1871, S. 184. 68 Über Land und Meer, Allgemeine illustrierte Zeitung, Nr. 47, Stuttgart 1871, S. 6. 122
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Fotografien, Postkarten, Schlachtenbilder und Reiseführer produziert, die wiederum weitere Reisende anzogen. Die Siebert’sche Buchhandlung brachte im September 1871 „photographische Ansichten“ heraus, die in drei unterschiedlichen Formaten erhältlich waren. Abgelichtet waren u. a. der Spicherer Berg, das Ehrental, Forbach, die Bellevue, „das projectirte Denkmal auf dem Winterberge“ und auch der Lulustein.69 Ob es sich bei dieser Auflage bereits um Fotografien des bekannten Kreuznacher Fotografen Carl Heinrich Jacobi handelt, lässt sich nicht eindeutig belegen.70 Ein Jahr später jedoch vermeldet das Miltair-Wochenblatt das Erscheinen verschiedener Abbildungen Jacobis beim Verlag Siebert in Saarbrücken, darunter eine vom „Gedenkstein am Standort Napoleons am 2. August 1870 auf dem Exerzirplatz bei Saarbrücken“.71 Schon 1873 taucht der Lulustein in den ersten Reiseführern auf. „Voigtländer’s Pfalzführer“ schlägt dem Reisenden eine drei- bis vierstündige Tour zu den Sehenswürdigkeiten des Krieges vor und empfiehlt auch den Kauf der eben genannten Fotografien.72 Dass den Anregungen der einschlägigen Führer wohl minutiös gefolgt wurde, zeigt die Schilderung eines Obertertianers aus demselben Jahr, der von seinen Eltern als Belohnung für bestandene Prüfungen im September eine Reise
Abb. 6: Bereits drei Monate nach seiner Errichtung diente der Gedenkstein für den Prinzen als Motiv für eine Fotografie, die die Siebert’sche Buchhandlung in Saarbrücken verkaufte. Auch die Bezeichnung „Lulustein“ hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon etabliert
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 69 St. Johanner Zeitung vom 21.9.1871. 70 Weder im Zeitungsartikel noch in der von Siebert am 27.9.1871 in der St. Johanner Zeitung inserierten Werbung wird der Name des Fotografen genannt. 71 Militair-Wochenblatt Nr. 87 vom 16.10.1872, S. 788. 72 Voigtländer’s Pfalzführer: Wegweiser für die Besucher der bayrischen Pfalz, Kreuznach/Leipzig 1873, S. 43. 123
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zu den Schlachtfeldern unternehmen durfte:73 „Wir nahmen unseren Weg zu der nächsten Buchhandlung, wo wir ein Buch über die Kämpfe vom 1.–.6. August erkauften.“ Am nächsten Tag der Reise wurde eine viereinhalbstündige Wanderung auf die Spicherer Höhen unternommen, dort kam man mit einem Kriegsversehrten ins Gespräch. „Nach einem Geschenke und Abkauf mehrerer Photographien, deren Handel der Invalide noch nebenbei betrieb, entfernten wir uns, um den berühmten Lulustein zu besichtigen.“ An dieser Stelle taucht dann auch die Legende vom Mitrailleusenschuss des Prinzen auf die ungesicherte Stadt auf. Da die eigene Suche nach Kriegssouvenirs wohl nicht so ergiebig gewesen war: „Auf all den Kampfplätzen war es uns nur gelungen, eine Chassepot-Kugel aufzufinden“, war es den Reisenden „ganz willkommen, dass uns ein Junge einen französischen Helmadler und eine Zündnadelkugel verkaufte […]“. Der Besuch des Vergnügungslokals an der Goldenen Bremm, dessen Hauswände mit Kugellöchern übersät und wo „eine Granate im Tanzsaal krepirt“ war, gehörte mit zum schaurigen Programm. „Wir wandten uns nun zurück nach Saarbrücken, holten im Hôtel unser Gepäck, bezahlten die Rechnung und wanderten langsam dem Bahnhof zu.“ Und so bot der Tourismus etlichen Saarbrückern lange Zeit ein Auskommen. Selbst 25 Jahre nach der Schlacht fanden sich im Laden des Kunstdrechslers und Galanteriewarenhändlers Morgenstern in der Bahnhofstraße Andenken an den Krieg zum Verkauf, und er fertigte aus Bäumen, in denen Geschossteile steckten, hübsch polierte Möbelstücke.74
Der Lulustein wird zum Opfer von Souvenirjägern Baumann scheint mit seinem Gedenkstein den Nerv der Zeit getroffen zu haben. „Es vergeht nicht ein Tag, wo dieser nicht von Reisenden besucht wird“,75 und landauf, landab verbreiteten Zeitungen die Meldung von dem kuriosen Denkmal. Das einst so verschlafene Saarstädtchen war durch die Kriegsereig⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 73 Zur Erinnerung an Hans vom Rath, geb. 28. Februar 1860, gest. 5. Februar 1874. Gewidmet von seinem Vater, o. O. 18[...], S. 33. 74 Karl Lohmeyer: Erinnerungen „Dem Süden zu“. Eine Wanderung aus alten rheinisch-fränkischen Bürgerhäusern nach dem Land jenseits der Berge, Heidelberg 1960, S. 63. 75 Die Gartenlaube, 1871, S. 760. 124
Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken
nisse und den Lulustein zum Gespräch geworden. Doch mit zunehmender Bekanntheit wurde der Lulustein auch zum Opfer allzu eifriger Andenkensammler. Viele Besucher schlugen sich kleine Stücke des Steines als Souvenir ab, sogar vor den umstehenden Pappeln wurde kein Halt gemacht. Bereits wenige Monate nach seiner Errichtung war das Denkmal arg lädiert, nach zwei Jahren „durch den Zerstörungseifer Reliquiensammelnder Touristen so weit demoliert, daß schließlich nur noch ein kaum aus dem Erdboden herausragender Stein die Stelle bezeichnete, wo Lulu den historischen Mitrailleusenschuß gegen Saarbrücken abfeuerte“.76
Abb. 7: Der mutmaßlich vierte Lulustein, der als Ersatz für seine zerstörten Vorgänger vom Verschönerungsverein St. Johann zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet wurde [Abbildung in: Saintmarie, Louis: La Lumière sur 1870, Mulhouse 1908, S. 353]
Dies bewog einige Saarbrücker Bürger dazu, ihn erneuern zu lassen, und am Sonntag, den 15. Juni 1873, wurde das Monument von diesen höchstpersönlich an Ort und Stelle gebracht.77 Die Maße des neuen Denkmals wurden mit zwei Fuß Dicke und drei Fuß Höhe und Breite angegeben, damit dürfte es etwas stattlicher geraten sein als das ursprüngliche, es wies jedoch eine völlig andere Gestaltung auf. Und war der erste Stein in seiner Aussage bereits sehr spöttisch, ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 76 Der Sammler. Ein Blatt zur Unterhaltung und Belehrung. Beilage zur Augsburger Abendzeitung, Bd. 42, Augsburg 26. Juni 1873, S. 268. 77 Der Sammler vom 26. Juni 1873, S. 268. 125
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so war die Botschaft des zweiten noch derber und ging eindeutig ins Beleidigende. An der dem Exerzierplatz zugekehrten Seite war eine Metalltafel angebracht, auf der die ursprüngliche Inschrift zu lesen war. Auf der Gegenseite, die zur Stadt zeigte, fand sich das Datum der Schlacht. Das eigentlich Interessante sind jedoch die Figuren auf den beiden Schmalseiten des Steins. Auf der einen befand sich ein Männchen machender Hase, ein Symbol, das auf die Feigheit des Feindes abzielte, auf der anderen eine blaue Hand, was der Autor sogleich erklärte, denn dies „möchte aber doch späteren Forschern Kopfzerbrechens machen […] derselbe wurde nämlich aus Beiträgen der Stammgäste des hiesigen Bierlokales ‚Zur blauen Hand‘ hergestellt“.78 Das in der Alt-Saarbrücker Vorstadt gegenüber dem Eingang zur Linsengasse gelegene Lokal war ein Treffpunkt der örtlichen Honoratioren. Die Kaufleute, Beamten oder Professoren verkehrten dort, obwohl oder gerade weil es eher einfach und ursprünglich war, und in der engen Stube wurde billiges Flaschenbier getrunken.79 Jeder der illustren Gäste der „allerkleinsten, aber auch allervornehmsten Saarbrücker Wirtschaft“ hatte seinen eigenen festen Sitzplatz.80 Man war unter sich und konnte fernab der Blicke der Öffentlichkeit trinken und die Geselligkeit pflegen. Die Idee dieses Steines war also im wahrsten Sinne des Wortes aus einer Bierlaune heraus geboren. Ein emanzipiertes, wirtschaftlich erfolgreiches Bürgertum benutzte das Denkmal als Vehikel zur Selbstdarstellung. Man klopfte sich auf die Schulter und zelebrierte die eigene Überlegenheit. An die Besucher wurde appelliert, das neuerrichtete Denkmal von ihrer Sammelwut zu verschonen, auch die Metalltafel war sicher in der Absicht angebracht worden, den Stein wenigstens etwas vor Vandalismus zu schützen, aber der in nahezu jedem Reiseführer und zahlreichen Zeitungen erwähnte zweite Lulustein entwickelte sich mehr und mehr zu einer Kultstätte, an der sich Reisende aus der ganzen Welt trafen, picknickten und manche Flasche Wein leerten. Folgende Schilderung des „Grenzboten“ aus dem Jahr 1876 lässt einen unwillkürlich an Jim Morrisons Grab auf dem Pariser Friedhof „Père Lachaise“ denken: „Zu beiden Seiten des Lulusteins sah ich zwei transatlantische Herren im Grase liegen, die ihren Betrachtungen soeben die gediegene ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 78 Ebda. 79 Peter Burg: Saarbrücken 1789–1860. Von der Residenzstadt zum Industriezentrum. Blieskastel 2000, S. 364. 80 Eduard Haas: Jugenderinnerungen aus der alten Saarbrücker Zeit, Saarbrücken 1912, S. 31. 126
Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken
Grundlage eines Frühstücks gaben. Jeder von ihnen hielt eine Flasche in der Hand […]“.81 Die umliegenden Bäume waren bis in zwei Meter Höhe ihrer Rinde beraubt. Diese frühen „Fans“ lassen sich jedoch nicht einer homogenen Gruppe zuordnen. Die einen feierten die Idee der nationalen Einigung, die vermeintliche Unfähigkeit des Feindes – was die eigene Nation unwillkürlich überhöhte – und sich selbst. Die zweite Gruppe wandelte wohl tatsächlich auf Napoleons Spuren. Hierbei handelte es sich meist um Engländer, von der Presse als „sonderbare Schwärmer“ bezeichnet,82 die auch in Waterloo anzutreffen waren und die den Lulustein „lothweis in ihre Heimat getragen“. Man darf nicht vergessen, dass Louis Napoléon sich zu dieser Zeit im Exil in England befand, dort nach seines Vaters Tod zum Kaiser proklamiert worden und eine Person des öffentlichen Lebens war. Bei einer nicht unerheblichen Anzahl dürfte es sich auch um betuchte Vergnügungssüchtige handeln, bei denen der Besuch von Schlachtfeldern ein wohliges Schauern auslöste. Nicht zu vergessen sind auch die Einheimischen, denen der sonntägliche Spaziergang zum Lulustein zur Gewohnheit geworden war. Von dieser leicht erhöht liegenden Stelle bot sich eine schöne Aussicht auf die Stadt. Das Vergreifen am Gedenkstein ist auch nicht im Sinne von Zerstörung zu sehen, vielmehr machte einen die Aneignung eines winzigen Stücks Stein zu einem Teil eines Kollektivs. Mit dem heimgenommenen Erinnerungsstück überdauerte das Erlebnis, aber auch die Botschaft wurde mittransportiert und in die Welt getragen. Der Lulustein war im wahrsten Sinne des Wortes ein Stein zum Anfassen. Die anderen Denkmäler der Stadt eigneten sich hierfür nicht. Stücke von Gedenksteinen für die Gefallenen der Regimenter oder gar von Grabsteinen abzuschlagen, wäre einem Tabubruch gleichgekommen, und das erhabene Winterbergdenkmal, das Sinnbild für die preußisch-deutsche Kraft und des Sieges über Frankreich, war für solches Tun auch denkbar ungeeignet. Als im Sommer 1873 das auf den Spicherer Höhen gelegene Ehrenmal für das Hohenzollernsche Füsilier-Regiment Nr. 40 nachts demoliert wurde, empörte sich die örtliche Presse sogleich darüber. Als Schuldige, so wurde gemutmaßt, kämen womöglich in Spichern wohnende und zur Arbeit nach Saarbrücken pen-
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 81 Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, Leipzig 1876, S. 422. 82 Beilage zur Bohemia, Nr. 263, 22.9.1875, S. 1. 127
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delnde Franzosen in Frage, die ihren „Haß gegen alles Deutschthum“ stellvertretend an dem Denkmal ausgelassen hatten.83
Eine Kavalkade von Lulusteinen Wie lange der zweite, metallverstärkte Stein die Zeit überdauerte, lässt sich nicht belegen. In einem Reiseführer von 1895 wird aber von einem Stein mit einer gusseisernen Platte mit der Inschrift „Lulus erstes Debut, 2.ten August 1870“ berichtet, der als Nachfolger für den mit dem „sich löffelnden Hasen“ errichtet worden war.84 Der Autor gibt dieses Denkmal fälschlicherweise als zweites Denkmal an, das erste, das höchstens zwei Jahre gestanden haben dürfte, war wohl ebenso schnell aus der öffentlichen Erinnerung verschwunden. Dieser Stein wäre folglich der dritte innerhalb von ungefähr 20 Jahren. Die Angaben in einem Wanderführer aus demselben Jahr stützen diese Vermutung, denn der Verfasser spricht vom Lulustein als Wahrzeichen der Stadt, wo Lulu den „weltbekannten Kanonenschuss auf Saarbrücken abfeuerte“, und dass dieser Stein bereits der dritte und „gleichfalls schon arg zugerichtet“ sei.85 Auf einem Foto aus dem Jahr 1908 taucht schließlich ein weiteres Modell auf.86 Da keine gusseiserne Platte erkennbar ist, dürfte es sich um Modell Nr. 4 handeln. Dieses trägt die Inschrift „Lulu-Stein, 2ten August 1870“, darunter lassen sich die Initialen „VV“ erkennen, die auf den Stifter des Denkmals, den Verschönerungsverein St. Johann, verweisen. Auf diesen Verein, einen Zusammenschluss Saarbrücker Kaufleute, etwa mit einem heutigen Verkehrsverein vergleichbar, ging die Anlage des Ehrentals im Jahr 1871 zurück. Der Jahresbericht aus dem Jahr 1910/11 erwähnt das Engagement des Vereins, bei der Pflanzung von Nutz- und Waldbäumen, an denen auch Schilder mit den entsprechenden botanischen Namen angebracht wur-
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 83 St. Johanner Zeitung vom 6.8.1873. 84 Wilhelm Lichnock: Führer durch St. Johann – Saarbrücken und nähere Umgegend, St. Johann 1895, S. 24. 85 Max Dittrich: Deutsche Heldengräber im Reichslande. Wanderstudien über die Schlachtfelder von 1870 in Elsaß-Lothringen, Rathenow 1895, S. 45. 86 Louis Saintmarie: La Lumière sur 1870, Mulhouse 1908, S. 353. 128
Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken
den, mit dem Ziel „der Belehrung und Instruktion“87 der Bürger. 1912 ließ der Verein den Luisenbrunnen in einem Park an der Saar errichten. Diesem ehrenwerten Verein schien aufgefallen zu sein, dass ein Denkmal, das den besiegten Gegner mit einem feigen Hasen vergleicht, kein allzu gutes Licht auf dessen Stifter wirft. Da der Stein mittlerweile aber zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden war, das unbedingt erhalten werden musste, wurde vermutlich als Kompromiss eine dezentere Variante aufgestellt.
Abb. 8: Der Lulustein auf einer Postkarte von 1910. Ein schmiedeeiserner Zaun sollte das Denkmal vor Zerstörung durch Besucher schützen. Postkarte ca. 1910 [Saarländisches Landesarchiv Bildersammlung 1720/57]
Auf die Franzosen nahe der Grenze, aber auch auf Reisende aus Frankreich müssen die Denkmäler seltsam gewirkt haben. Zur Rezeption des ersten Modells ließen sich keine Quellen finden, doch mehr als 25 Jahre nach seiner Errichtung störte sich der Schriftsteller Charles Malo bei seinem Besuch am ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 87 Jahresbericht des Verschönerungsvereins St. Johann pro 1910/11, Stadtarchiv Saarbrücken, Bestand Großstadt 1907. 129
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Lulustein an der Inschrift „d’un goût plus que douteux“, die also von mehr als zweifelhaftem Geschmack zeugte.88 Dabei durfte es sich hierbei bereits um Stein Nr. 3 ohne die Hasenverzierung gehandelt haben. Noch deutlicher wurde der französische Journalist Karman, der 1912 zum Jahrestag der „Bataille de Sarrebruck“ in der Stadt war. Er berichtet von einer kleinen, schmucklosen Stele, einem Kilometerstein ähnlich, die ein rechteckiger, eiserner Zaun umgab und auf der „Lulustein, Zweiten August 1870“ zu lesen war.89 Den Standort des Steins, den kleinen Exerzierplatz, beschreibt er als hässlichen und schmutzigen Platz, uneben, kahl und ganz schwarz vor Kohlenstaub. Das war der Stein des Verschönerungsvereins, der nun durch ein Gitter geschützt war. Die Intention hinter dieser Version war nicht nur, die Aussage weiter abzumildern, auch die dezentere Gestaltung und die nachträglich angebrachte schmiedeeiserne Begrenzung dürften wohl in der Absicht errichtet worden sein, den Stein unnahbarer zu machen, sprich, wilde Zechereien und Zerstörungen zu verhindern.90 Und auch hier findet sich eine Parallele zum bereits erwähnten Popstar Morrison. Dessen Grab wird heute auf ähnliche Weise geschützt: es erhielt einen Metallzaun, der die Besucher auf Abstand halten soll. Doch selbst die Ansicht dieses Steins löste bei Karman Unbehagen aus. Ihn störte der in seinen Augen allzu familiäre Umgang mit einer nebensächlichen Anekdote, die den Prinzen der Lächerlichkeit preisgab. Kurioserweise entdeckte er bei seinem Aufenthalt aber noch einen weiteren Lulustein, der etwas abseitsstand. Bei diesem schien es sich um einen älteren Vorgänger aus Sandstein zu handeln, den eine Metalltafel mit den Worten „Lulus erstes Debut“ zierte und den man nicht entfernt hatte. Der Journalist zeigte sich über die Existenz solcher Denkmäler Jahrzehnte nach dem Kriegsende und vor allem 33 Jahre nach dem Tod des Thronfolgers sehr enttäuscht. Diese verletzten seiner Meinung nach eindeutig die Spielregeln im Umgang der Völker untereinander und strapazierten die französischen Empfindlichkeiten. Was bewog eine so stolze und prosperierende Stadt dazu, solcherlei Ressentiments zu schüren? ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 88 Vgl. Charles Malo: Champs de bataille de France, descriptions et récits, Paris 1898, S. 275. 89 Journal des débats politiques et littéraires vom 3.8.1912, Paris. 90 Dass selbst der schützende Zaun zum Objekt von Souvenirjägern werden kann, beweist ein Zufallsfund in einer Ausstellung zum 200. Todestag Napoleons. Von seinem Grab in St. Helena hatten Besucher Stücke der eisernen Einfriedungsstäbe abgesägt. („Napoléon n’est plus“, Musée de L’Armée, Paris, 19.05.2021–31.10.2021). 130
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Vielleicht schämten sich die Saarbrücker tatsächlich für ihr aus der Zeit gefallenes Denkmal und beseitigten zumindest das anstößigere der beiden noch vorhandenen. Das zweite noch verbliebene diente zwar noch als Motiv für Ansichtskarten, aber zumindest in den Reiseführern wird der Lulustein nicht mehr wie in früheren Auflagen als eine der Hauptattraktionen verkauft, sondern findet eher beiläufige Erwähnung, auch auf Abbildungen von ihm wird in den Führern verzichtet.91
Abb. 9: Der Lulustein findet sich heute ganz versteckt hinter der ATSV-Halle [Foto: Lutz G. Keller]
Der Lulustein fungierte immerhin noch mehrmals als Namensgeber: Der Wirt Johann Karl eröffnete unweit des Denkmals am Oberen Hagen 19 Mitte der zwanziger Jahre eine Restauration mit Namen „Zum Lulustein“,92 die später von seiner Tochter übernommen wurde, und zu Beginn der 1970er Jahre den ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 91 Vgl. Führer durch die Saarstädte und über das Schlachtfeld von Spichern, St-Johann-Saarbrücken 1904. 92 Im Einwohnerbuch der Stadt Saarbrücken 1926/27 findet sich hierzu ein Eintrag. 131
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Betrieb einstellte93. Im Jahr 1968, also fast 100 Jahre nach dem Ereignis, erhielt die Straße, in der sich der Stein befindet, den Namen „Lulustein“, und an ihrem Ende befindet sich auch eine Bushaltestelle gleichen Namens. Spätestens mit Errichtung der ATSV-Sporthalle im Jahr 1956 „verschwand“ der Gedenkstein in die zweite Reihe. Das ihn umgebende Gitter wurde entfernt, der Stein um 180 Grad gedreht, so dass der Betrachter die Inschrift von der Straße aus lesen kann. Was aus praktischen Gründen gut gemeint war, verkehrt den Sinn des Steins. Man blickt vom Lulustein nicht mehr auf die eroberte Stadt, sondern in die Gegenrichtung – nach Frankreich. Der einst im ganzen Land bekannte Stein fristet ein Dasein im Verborgenen, über ihn, seine Geschichte und den berühmten Namensgeber ist im wahrsten Sinne des Wortes Gras gewachsen.
Lulu – ein Thronfolger ohne Reich Das Leben des Prinzen, an das so viele Hoffnungen geknüpft waren, endete auf tragische Weise. Im englischen Exil besuchte er die königliche Militärakademie in Woolwich; nach dem Tod seines Vaters 1873 war er der Erbe der BonaparteDynastie und entwickelte dessen politische Ideen, die vor allem auf grundlegende soziale Reformen abzielten, weiter. Im Jahr 1879, der Prinz war inzwischen 23 Jahre alt, meldete er sich zunächst gegen den Willen seiner Mutter und Königin Viktorias, die seine Taufpatin war, als Freiwilliger für den Zulukrieg in Südafrika. Er wollte nicht als reicher, zur Untätigkeit verdammter Thronerbe bei seiner Mutter sein, während seine bei der Militärausbildung gewonnenen englischen Freunde ins Feld zogen. Eugenie, vehement gegen solcherlei Pläne, schreibt ratlos an Louis Großmutter: „Il dit […] qu’il a un nom trop lourd à porter pour ne rien faire et qu’il voit une occasion pour lui de faire son métier et qu’il ne veut pas la perdre.“94 Gegen allen Widerstand bei Mutter und Patin ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 93 Vgl. Stücke des Lulusteins sollen sogar nach Amerika gewandert sein, Saarbrücker Zeitung vom 27./28.6.1992, Ausgabe Stadtverband Saarbrücken, S. L 5. 94 „Er sagt, […] er habe einen Namen, der zu schwer wiege, um nichts zu tun, und dass er eine Gelegenheit für sich sähe, seinen Beruf auszuüben und er sie nicht verpassen wolle.“ (Übersetzung d. Vf.), Lettres familières de l’impèratrice Eugénie, Bd. 2, Paris 1935, S. 83, zit. nach: Lachnitt: Le prince impérial (wie Anm. 9), S. 282. 132
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erzielte der Prinz einen Kompromiss: Der junge Offizier sollte in Afrika als eine Art Beobachter ausschließlich an ungefährlichen Einsätzen teilnehmen. Unglückliche Umstände führten aber dazu, dass seine Einheit, die zu einem Erkundungsritt aufgebrochen war, in einen Kampf verwickelt wurde, bei dem die Gegner in der Überzahl waren. Louis starb von mehreren Speeren durchbohrt. Auch bei diesem Unternehmen hatte die Pflichterfüllung zu keinem guten Ende geführt. Die eigentliche Tragik seines Lebens besteht darin, dass Louis im Grunde genommen nur seine ihm von Geburt an auferlegten Aufgaben erfüllt hatte, dem Land zu dienen und das imperiale Erbe fortzuführen, also genau die Ideale, die in dieser Zeit auch von Preußen so hochgehalten wurden. Sogar in seinem Testament hält er diesen Gedanken fest: „Les devoirs de notre Maison envers le pays ne s’éteignent pas avec ma vie: moi mort, la tâche de continuer l’oeuvre de Napoléon Ier et de Napoléon III incombe au fils aîné du prince Napoléon […]“.95 Die Errichtung eines Denkmals zu Ehren des Prinzen in Paris stand ebenfalls unter einem schlechten Stern. Der frühe Tod von Louis im Jahr 1879 hatte zunächst großes Mitgefühl hervorgerufen und zu Spenden aus der Bevölkerung von über 100 000 Francs in Gold geführt, was seiner Mutter Eugénie den Ankauf eines Grundstücks nahe dem Champ-de-Mars ermöglichte, wo alsbald auch mit dem Bau eines Mausoleums begonnen wurde. Aus Angst vor Zerstörungen wurde der Bau aber nie vollendet. Erst 30 Jahre später unternahm sie einen neuen Anlauf und ließ das Denkmal in den Park des Schlösschens Malmaison, den vor den Toren von Paris gelegenen ehemaligen Wohnsitz der Kaiserin Joséphine, transportieren. Dort stoppte der Erste Weltkrieg die Bauarbeiten, und erst nach dem Tod Eugénies konnte das Mausoleum vollendet werden. Das Gelände war mittlerweile in Staatsbesitz übergegangen und bereits wenige Jahre nach seiner Errichtung war der Bau so marode, dass ein Neubau erforderlich war. Auch die eigens für diese Stätte angefertigte Statue war nicht mehr auffindbar und musste durch eine Bronzefigur – eine Kopie der berühmten Darstellung „Le Prince impérial et son chien Néro“ des Bildhauers ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 95 „Die Pflichten unseres Hauses gegen das Land erlöschen nicht mit meinem Leben: wenn ich tot bin, fällt die Aufgabe, das Werk Napoleons des Ersten und Napoleon des Dritten weiterzuführen, an den erstgeborenen Sohn des Prinzen Napoleon“. (Übersetzung d. Vf.), Lachnitt: Le prince impérial (wie Anm. 9), S. 316 f. 133
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Jean-Baptiste Carpeaux96 – ersetzt werden. Heute ist dieser Teil des Gartens mit der Erinnerungsstätte vom ursprünglichen Park in Malmaison abgetrennt, und Besucher, die auf den Spuren Napoleons wandeln, werden bei der Besichtigung des Schlösschens nur durch Zufall auf das kleine Monument stoßen. In Vergessenheit geraten sind auch die nach dem Prinzen benannten Rosen. Hatten bei seiner Geburt gleich zwei renommierte Züchter, Pradel in Montauban und Granger in Suisnes, Kreationen mit dem schönen Namen „Prince impérial“ auf den Abb. 10: Noch ein Denkmal, das der Vergessenheit anheimgefallen ist: Nahe dem Schloss von Malmaison wurde von Markt gebracht und damit Kaiserin Eugenie ein Mausoleum für ihren 1879 im Alter von wettgeeifert, wessen Gewächs 23 Jahren im Zulu-Feldzug getöteten Sohn errichtet [Foto: Jutta Haag] erfolgreicher sein würde, dürften die Züchtungen – die eine eine karminrote Bourbonrose, die andere eine bräunlich rote RemontantHybride – heute als ausgestorben gelten. Nach des Prinzen Tod tauchen beide noch einige Zeit in der einschlägigen Fachliteratur auf,97 1902 listet die „Roseraie de L’Haÿ“, ein Rosarium nahe Paris, nur noch eine Variante98 und heute findet sich selbst in Rosenenzyklopädien kein Nachweis mehr.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 96 Online unter https://www.musee-orsay.fr/fr/oeuvres/le-prince-imperial-et-le-chien-nero-5770, letztmals eingesehen am 10.10.2022. 97 Max Singer: Dictionnaire des roses ou, Guide général du rosiériste, Bd. 2, Berlin 1885, S. 220. 98 Jules Gravereaux: Les roses cultivées à l’Haÿ en 1902: Essai de classement, Paris 1902, S. 223. 134
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
Der Schneider Mathias Steinmetz aus Uchtelfangen und seine Tochter Anna – Tagebuchschreiberin zum Ersten Weltkrieg Von Anton Schwind† und Franz Josef Schäfer
Einführung Das Deutsche Tagebucharchiv Emmendingen verwahrt unter der Signatur 1059 sechs Kriegstagebücher zum Ersten Weltkrieg von Anna Steinmetz, verh. Schwind (1896–1951), aus Uchtelfangen. Constantin Magnis (*1979) veröffentlichte 2014 in „Cicero. Magazin für politische Kultur“ eine Reportage über Uchtelfangen in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Der Autor interviewte den 100-jährigen Bergmann Hugo Maas (1913– 2016), der das Kriegsende noch bewusst in Erinnerung behalten hatte. Magnis’ Grundlage bildeten die Tagebücher von Anna Steinmetz.1 Lisbeth Exner (*1964) und Herbert Kapfer (*1954) zitieren in „Verborgene Chronik 1915–1918“ an 29 Stellen Tagebuchauszüge von Anna Steinmetz. In ihrer biografischen Skizze heißt es: „Steinmetz, Anna (4.9.1896 Uchtelfangen/Saarland–2.10.1951 Trier) führte nach dem Tod der Mutter den Haushalt für den Vater, der Schneider war, und vier Geschwister. Von November 1917 bis November 1918 arbeitete sie als Haushaltshilfe in Porz und Köln. Nach dem Krieg heiratete sie und hatte vier Kinder“2 Franz Josef Schäfer (*1953) wertete 2017 die Tagebücher aus.3 In einer didaktischen Publikation zum Ersten Weltkrieg nahm Johannes Chwalek (*1959) ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 1 Constantin Magnis: Donner über Uchtelfangen, in: Cicero. Magazin für politische Kultur 10 (2014), S. 58–64. 2 Lisbet Exner/Herbert Kapfer: Verborgene Chronik 1915–1918, hg. vom Deutschen Tagebucharchiv, Köln 2017, S. 743. 3 Franz Josef Schäfer: Aus den Kriegstagebüchern von Anna Steinmetz, in: Eppelborner Heimathefte 16 (2017), S. 32–47. 135
Anton Schwind† und Franz Josef Schäfer
Bezug auf die Tagebücher von Anna Steinmetz.4 Birgit Jahns, geb. Schwind (Ingelheim bei Mainz), Enkelin von Anna Steinmetz, stellte Johannes Chwalek (Mainz-Kostheim) und Franz Josef Schäfer (Illingen) für ihre Arbeiten einen unveröffentlichten Aufsatz von Dr. Anton (Toni) Schwind (1922–2006)5 über den Werdegang seines Großvaters Mathias Steinmetz (1867–1947) und Vater von Anna Steinmetz zur Verfügung. Außerdem gab Frau Jahns Informationen für den Anmerkungsapparat und stellte Fotos aus Familienbesitz bereit. Uchtelfangen ist seit 1. Januar 1974 ein Ortsteil der Gemeinde Illingen im Landkreis Neunkirchen. Der Text Anton Schwinds war ursprünglich für Nachfahren des Protagonisten bestimmt. Er Abb. 1: Anna Steinmetz um 1930 [Foto privat] enthält neben biografischen Daten zu Familienangehörigen auch Angaben zum historischen Kontext und zum damaligen Milieu Uchtelfangens, so dass eine ungekürzte Veröffentlichung sich anbietet. Franz Josef Schäfer ergänzte zu einzelnen Personen, die Erwähnung finden, Anmerkungen. Die Darstellung Schwinds wird hier ungekürzt veröffentlicht.6
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 4 Johannes Chwalek: Der Erste Weltkrieg. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, Braunschweig 2021, S. 74 f., 94 f. 5 Anton Schwind wurde in Trier geboren und starb in Edinburgh. Vgl. Anton Schwind: Baiern und Rheinländer. Ein Wesensvergleich aus dem Pressehumor von München und Köln. Mit einer Bibliographie der Münchner und Kölner Humorpresse und 31 Abbildungen, Dissertation München vom 12. November 1957; ders.: Da legst di nieder! Humor aus Bayern, Pfaffenhofen/Ilm 1957, 81968; ders.: Bayern und Rheinländer im Spiegel des Pressehumors von München und Köln. Ein Beitrag zur Wesenskunde zweier Stämme, München 1958; ders.: Der Spaßvogel. Ein Witzbuch für Kinder, München 1961; ders.: Der Mensch war niemals tugendhaft. Eine amüsante Sittengeschichte von der Steinzeit bis heute, Herrenalb/Schwarzwald 1964; ders.: Bayrisch von A bis Z, Pfaffenhofen/Ilm 1966, 31968. 6 Offenkundige Tippfehler wurden behoben. Der Text Toni Schwinds wurde an die neue Rechtschreibung von 2000 angepasst und mit Zwischenüberschriften versehen. 136
Der Schneider Mathias Steinmetz aus Uchtelfangen
Anton Schwind: Biographie von Mathias Steinmetz (1867–1947) Mathias Steinmetz – Bilzingen Am 17. Januar 1867 bringt die Frau des Leinwebers Mathias Steinmetz in Bilzingen Zwillinge zur Welt, die einen Tag später in der Pfarrkirche von Wincheringen getauft werden, der eine nach dem Heiligen des 17. Januar, Anton, der andere auf den Namen seines Vaters, Mathias. Es sind zweieiige Zwillinge, die sich später wenig ähnlichsehen, und die ersten Kinder des jungen Paares, das ein Jahr zuvor geheiratet hatte. Der Bräutigam war damals 23, seine Braut, Anna Rock aus Wincheringen, 28 Jahre alt.7 Bilzingen, ein Dörfchen von etwa 150 Einwohnern, das heute [seit 17. März 1974] zur Gemeinde Wincheringen gehört, ist einer der westlichsten Orte des Regierungsbezirks Trier und von der Mosel, die die Grenze zu Luxemburg bildet, nur fünf Kilometer entfernt. Vor 1794 war Wincheringen, wie damals zahlreiche andere Gemeinden östlich der oberen Mosel, luxemburgisch, während Bilzingen zum Kurfürstentum Trier gehörte. Der Annektion der ganzen Landschaft durch Frankreich folgte 1814 die Besetzung durch Preußen, dem im Jahr darauf der Wiener Kongress das ehemalige Kur-Trier samt den früher luxemburgischen Gebieten rechts der Mosel zusprach.8 1867 war das erste Jahr nach dem deutschen Bruderkrieg von 1866, nach dessen Ausbruch man an der Obermosel gebangt hatte, ob Frankreich für Österreich Partei ergreifen und die Heimat zum Kriegsschauplatz werden würde. Aber damals ging diese Gefahr vorüber, und die wenigen Dorfgenossen, die auf preußischer Seite am Krieg gegen Österreich und fast alle übrigen deutschen Staaten teilnehmen mussten, während man im Trierer Land für den Sieg Österreichs betete, waren alle wieder lebend zurückgekehrt. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 7 Mathias Steinmetz wurde am 5. Juli 1842 in Bilzingen als erstes von acht Kindern der Eheleute Stephan Steinmetz (*1811–1896) und Johanneta geb. Zeimet (1816–1859) geboren. Mathias’ Eltern hatten am 14. Mai 1841 geheiratet. Stephan Steinmetz’ Frau aus erster Ehe (1839) starb Ende 1840. Sohn Peter (1840–1922) wanderte 1863 in die USA aus. Susanna Rock wurde am 23. September in Wincheringen geboren. Sie war die Tochter von Peter Rock (1789–1841) und Susanna Kraemer (1800–1846). Angaben aus Heinrich Wagner: Familienbuch Wincheringen St. Peter mit: Bilzingen, Söst und Rehlingen von 1732–1900, Trier 1997. 8 Vgl. Franz Fisch: Ortschronik Wincheringen, Trier 1960; Chronik Wincheringen, Bilzingen, Söst, hrsg. von der Ortsgemeinde Wincheringen, Red. Leo Holbach u. a., Wincheringen 1993; Festschrift anläßlich der 1100-Jahrfeier der Ortsgemeinde Wincheringen. 25. Juni–4. Juli 1993, Wincheringen 1993. 137
Anton Schwind† und Franz Josef Schäfer
Nachdem Frankreich im Juli 1870 Preußen den Krieg erklärt hatte, versteckten die Bewohner dieses Jahrhunderte hindurch von fremden Heeren, besonders aber von den Franzosen, heimgesuchten Landstrichs von ihren Habseligkeiten alles, was sie in Gefahr sahen, einschließlich Leinen und Rauchfleisch. Diese Vorsicht erwies sich zum Glück als überflüssig. Der französische Traum, die eigene Armee binnen kurzem in Berlin einziehen zu sehen, verwirklichte sich nicht. Vielmehr rückte das preußische Heer wenige Wochen nach Kriegsbeginn in Lothringen ein. Zu dieser Zeit war die Welt des kleinen Mathias noch vor allem das Elternhaus, in dem der Vater am Webstuhl saß, während die Mutter den Haushalt versorgte und die Kinder betreute. Deren Zahl war inzwischen auf vier angewachsen, denn zweieinhalb Jahre nach dem ersten Zwillingspaar hatte sich [am 16. August] 1869 ein weiteres eingestellt, wieder zwei Jungen, die auf die Namen Peter und Franz getauft worden waren. Ein Mädchen, Maria, kam [am 27. April] 1873 dazu, dem Jahr, in dem der kleine „Metz“, wie man an der Obermosel für Mathias sagt, gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder zum ersten Mal den Weg zur Schule in Wincheringen antrat. Von dem, worin man ihn dort unterrichtete: Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion und Singen – viel mehr enthielt der Lehrplan für die unteren Klassen nicht – dürften ihm die beiden letztgenannten Fächer die liebsten gewesen sein. Jedenfalls blieb ein dickes Buch mit den Lebensgeschichten zahlreicher Heiliger, die „Heiligenlegende“, bis zuletzt seine Lieblingslektüre, und selbst im Alter sang er, obgleich mehr laut als schön, wenn immer ihn die Lust dazu ankam. Die Angliederung Elsass-Lothringens an das Deutsche Reich hatte die deutsch-französische Grenze um ein gutes Stück nach Westen verschoben. Den Menschen an der Obermosel war damit Metz näher gerückt, aber die wichtigste Stadt blieb für sie nach wie vor Trier, der Sitz des Bischofs und derjenige der höheren Schulen und Behörden, die Stadt, in der mancher von ihnen Arbeit fand, und wo etliche junge Bilzinger und Wincheringer bei einem Handwerksmeister in die Lehre gingen. So auch der junge Mathias Steinmetz. Während sein Bruder Anton später den Beruf des Vaters übernahm, trat Mathias eine Schneiderlehre an, bei einem Meister in der Rahnenstraße, einer Seitengasse der Weberbach. Trier war damals eine aufstrebende Stadt. Durch die Garnison hatte sich die große Armut, die dort noch zu Anfang des Jahrhunderts geherrscht hatte, 138
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deutlich vermindert. Die Gründerjahre nach dem gewonnenen Krieg von 1870/71 ließen auch hier neue Unternehmen entstehen, und für Schneider gab es Arbeit in Hülle und Fülle. Ob der junge Mathias bis zum Antritt seines Militärdienstes in Trier blieb, ist unbekannt. Wir wissen nur, dass er, als er das Wehrpflichtalter erreichte, zu den Dragonern eingezogen wurde, zweifellos wegen seines Körperbaus, denn klein und verhältnismäßig leicht, wie er war – sein Hochzeitsbild zeigt ihn so noch mit 27 Jahren –, hatte er die ideale Reiterfigur. Die Wehrpflichtigen traten im damaligen Preußen im Allgemeinen mit 20 Jahren ihren Militärdienst an, der drei Jahre dauerte. Da die Einberufung in der Regel im Oktober erfolgte, müsste der junge Mathias also vom Herbst 1887 bis Herbst 1890 Soldat gewesen sein. Er diente in Saarbrücken im Dragonerregiment Nr. 7, dessen Kaserne auf dem linken Saarufer lag und, entweder voroder nachher, in Metz bei einem Regiment der gleichen Waffengattung. Zwar lag die dortige Kavalleriekaserne, ein roter Backsteinbau, ganz am Rand der Stadt, so dass Mathias und seine Kameraden hier viel stärker von der Bevölkerung abgesondert waren als in Saarbrücken, aber die Stimmung, die unter den Einheimischen herrschte, kann ihm trotzdem nicht verborgen geblieben sein. Die eingesessenen Metzer, deren Muttersprache fast in allen Fällen Französisch war, wollten von den Deutschen nichts wissen, besonders, seit deren Zahl durch Zuwanderung aus dem Reich die der Einheimischen immer weiter überstieg. Viele Metzer waren ja 1871 wegen der Angliederung ihrer Heimat an das Deutsche Reich nach Frankreich geflohen. Im Zweiten Weltkrieg erlebte ein Enkel von Mathias Steinmetz als Soldat in einem großen Gasthaus in der Metzer Altstadt, dass die Bestellungen von Wehrmachtsangehörigen auf eine Tasse Kaffee jedes Mal mit dem Ruf: „Un café pour un Allemand“ in die Küche weitergeleitet wurden, was dort wohl kaum zur Wahl eines gehaltvolleren Aufgusses geführt hat. Die Einstellung gegenüber den Deutschen, die aus dieser Praktik sprach, dürfte sich von derjenigen, auf die Mathias Steinmetz bei den damaligen Bewohnern der lothringischen Hauptstadt stieß, wenig unterschieden haben, zumal die Metzer nach dem Tod des bis 1885 amtierenden Statthalters von Elsass-Lothringen, Edwin von Manteuffel, verstärkt zu ihrer alten Abneigung gegen die „Boches“ zurückgekehrt waren. Manteuffel hatte den Elsässern und Lothringern sehr viel mehr Verständnis entgegengebracht als alle seine Vorgänger, was auch in Metz eine gewisse Entspannung des Verhältnisses zwischen Einheimischen und Deutschen bewirkt 139
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hatte. Unter seinem Nachfolger nahmen auf Grund stärkeren Drucks von Berlin die Spannungen wieder zu, und nach der Thronbesteigung Wilhelms II. im Jahre 1888 war der alljährliche Besuch des Kaisers in der Festungsstadt nicht dazu angetan, das Missbehagen der alten Metzer zu vermindern. Obwohl anzunehmen ist, dass Mathias Steinmetz den Kaiser bei wenigstens einem dieser Besuche gesehen hat, hat er später seinen obersten Landesherrn von damals so gut wie nie erwähnt und schon gar kein Loblied auf ihn angestimmt, wie es manche seiner Generationsgenossen noch lange nach dem Ersten Weltkrieg taten. Seiner ganzen Art nach hätte Mathias Steinmetz gut in die Schweiz gepasst, und vielleicht hat zu seinem fast verklärten Urteil über dieses Land, das er irgendwann besucht hatte, der Umstand beigetragen, dass es dort keine Fürstenthrone und keine Untertanen gab. Mathias Steinmetz – Uchtelfangen Auf die Frage, warum er nach seiner Militärzeit ausgerechnet in Uchtelfangen ansässig wurde, hat Mathias Steinmetz später geantwortet, einer seiner damaligen Kameraden, der aus Uchtelfangen stammte, habe ihm vorgeschlagen, sich an diesem Ort niederzulassen, weil es dort keinen Schneider gab. Mathias folgte diesem Rat, und er tat zweifellos gut daran. Uchtelfangen, in jenen Jahren ein Dorf von etwa 1700 Einwohnern, liegt im östlichen und damals auch nördlichen Saarland, etwa 15 km von St. Wendel entfernt. Es gehört heute zu Illingen, einer größeren Gemeinde in der weiteren Umgebung von Neunkirchen. Die meisten Uchtelfanger waren in dieser Zeit und noch lange danach Kleinbauern und Bergleute, viele von ihnen beides zugleich. Die Gegend war im Ganzen überwiegend katholisch, wenn auch in manAbb. 2: Mathias Steinmetz [Foto: privat] chen Bezirken vorwiegend Evangelische
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Der Schneider Mathias Steinmetz aus Uchtelfangen
wohnten, denn ein Teil des Saarlands hatte Fürsten gehört, die in ihren Territorien die Reformation eingeführt hatten, und noch bis zum Zweiten Weltkrieg deckten sich die alten Gebietsgrenzen vielfach mit denen der Verbreitung des religiösen Bekenntnisses. Der junge Schneider von der Obermosel scheint in seiner neuen Umgebung rasch Wurzeln geschlagen zu haben. Jedenfalls heiratete er im Juli 1891, bald nach seiner Umsiedlung, ein Mädchen namens Elisabeth Hermanny, das aus Reichweiler bei Kusel stammte und ein Jahr älter war als er.9 Aber sein Glück war nur von kurzer Dauer. Die beiden Kinder, die Elisabeth zur Welt brachte, Peter und Maria, starben im zartesten Alter.10 Sie selbst überlebte die Geburt ihrer Tochter nur um wenige Tage und starb im Dezember 1893, kurz vor ihrem 28. Geburtstag. Mathias Steinmetz hat den Tod seiner ersten Frau nie wirklich verschmerzt. Die Art, in der er noch nach Jahrzehnten von ihrer Liebenswürdigkeit und ihrem guten Herzen sprach, ließ erkennen, was ihr Verlust für ihn bedeutete. Trotzdem blieb er, damals erst Mitte zwanzig, nicht lange allein. Er lernte ein Mädchen kennen, das er sich als seine zweite Frau vorstellen konnte. Sie war vier Jahre jünger als er, hieß mit Vornamen Catharina und stammte, ihren sehr östlichen Gesichtszügen zum Trotz, aus dem benachbarten Wiesbach.11 Dass sie in einem Uchtelfanger Gasthaus als Bedienung tätig war, wo Mathias sie wohl zuerst sah, hing mit ihrer Lebenslage zusammen. Ihr Vater, der Wagner und Landwirt Wendel Krämer, war 1893 gestorben und hatte sechs minderjährige Kinder hinterlassen.12 Für ein junges Mädchen, das, wie damals Katharinas Geschlechtsgenossinnen ja fast alle, keinen Beruf erlernt hatte, gab es unter ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 9 Die Ehe wurde am 8. Juli 1891 in Illingen geschlossen. Die Eltern der Braut, der Hufschmied Peter Hermanny und Elisabeth Mosmann, hatten am 13. Dezember 1865 in Reichweiler geheiratet. 10 Peter Steinmetz wurde am 9. Mai 1892 und Maria Steinmetz am 18. November 1893 in Uchtelfangen geboren. 11 Catharina Krämer wurde am 22. März 1871 in Wiesbach geboren. Die standesamtliche Eheschließung mit Mathias Steinmetz erfolgte am 10. Oktober 1894 in Illingen. 12 Wendel Krämer wurde am 23. Dezember 1827 in Wiesbach geboren und starb am 5. Juli 1893 in Wiesbach. Er war das vierte von acht Kindern des Ackerers Wendel Krämer (1797–1864) und Anna Krämer geb. Huppert (1794–1863). Seine erste Ehe schloss er am 9. Februar 1866 in Dirmingen mit Barbara Meiser (1843–1874). Aus der Ehe stammen vier Kinder, darunter Catharina als drittes Kind. Wendel Krämer schloss am 12. Juni 1875 in Dirmingen seine zweite Ehe mit Margaretha Schmidt (1845–1921). Aus dieser Ehe gingen sieben Kinder hervor. 141
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solchen Umständen nicht viele Möglichkeiten, sich durchzubringen, es sei denn, sie heiratete, und eben dazu bot sich ihr nun Gelegenheit. Man sollte annehmen, dass Catharina auf den Antrag des jungen Schneiders mit Freuden eingegangen wäre, zumal ihr gewiss bewusst war, wie wenig ihre Erscheinung und ihr verschlossenes Wesen sie hoffen lassen konnten, mit derartigen Anträgen überhäuft zu werden. Aber bei dem Ja, das sie Mathias schließlich gab, scheint ihr trotzdem nicht ganz wohl gewesen zu sein. Jedenfalls wirkt sie auf dem Hochzeitsbild, im Gegensatz zu dem siegessicher aussehenden Bräutigam, eigentümlich gedrückt, so als ahnte sie, dass ihr Schweres bevorstand. Sie sollte sich nicht getäuscht haben. Dabei sah zunächst alles rosig aus. Nach der Trauung, die am 13. Oktober 1894 in der neuen, erst kurz zuvor eingeweihten Uchtelfanger Pfarrkirche stattfand,13 führte der frischgebackene Ehemann seine Frau in das Haus, das er gleich gegenüber der Kirche in der Josefstraße hatte errichten lassen und das ebenfalls gerade erst fertig geworden war. Es war zweistöckig, mit roten Ziegeln gedeckt und hatte, wie viele Häuser dieser Landschaft, vor dem Eingang eine Steintreppe, die zu beiden Seiten von Mäuerchen eingefasst war. Auf ihnen saßen später am Feierabend die Hausbewohner und unterhielten sich miteinander oder mit anderen Dorfgenossen. Die Küche lag im Erdgeschoss, links vom Hausflur. Durch ihr großes Fenster sah man auf den Garten, in dem sich der Hausherr, ein leidenschaftlicher Obst- und Blumenzüchter, betätigte, wann immer er dazu Zeit fand. Seine Werkstatt richtete er sich gegenüber der Küche ein. Das Schlafzimmer lag im ersten Stock. Auf dem Treppenabsatz dazwischen fand die schöne, holzgeschnitzte Truhe ihren Platz, die Katharina mit in die Ehe gebracht hatte. Sie war ein Werk ihres Vaters, dessen Name zusammen mit ihrem Entstehungsjahr auf der Vorderseite eingeschnitzt war. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 13 Die Einsegnung nahm Pfarrer Peter Nick am 30. September 1894 vor. Das erste Hochamt feierte der aus Uchtelfangen stammende Pfarrer Johann Gustav Jochem (1855–1908). Die Predigt hielt Pfarrer Peter Müller (1826–1916), von 1854–1868 Pfarrer in Uchtelfangen. Bischof Michael Felix Korum (1840–1921) konsekrierte die Kirche am 2. Juli 1895. Vgl. Peter Müller: Festrede bei der Grundsteinlegung zur neuen katholischen Kirche in Uchtelfangen am 21. Mai 1888, Eppelborn 1888; Klaus Maas: Zur Geschichte der Pfarrei in den letzten 100 Jahren, in: Festschrift zum 100jährigen Jubiläum der Kirche St. Josef Uchtelfangen, Illingen 1994, S. 16–41; 800 Jahre Uchtelfangen. 1200–2000, hg. vom Ortsrat Uchtelfangen/Arbeitskreis Bildband „800 Jahre Uchtelfangen“, Illingen-Uchtelfangen 2000; Kristine Marschall: Sakralbauwerke des Klassizismus und Historismus im Saarland, Saarbrücken 2002, S. 352. 142
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Als die junge Braut in das neue Haus einzog, war darin noch reichlich Platz. Aber schon bald fing es an, sich zu füllen. Knapp ein Jahr nach der Hochzeit kam das erste Kind, ein Mädchen, zur Welt, das Barbara Franziska getauft wurde.14 Das zweite, Anna, folgte im Jahr darauf15 und 1898 ein Sohn, Johannes, der aber schon nach sechs Monaten starb.16 1899 brachte Katharina, inzwischen 28 Jahre alt, eine dritte Tochter, Klara, zur Welt, 1901 einen Sohn, Peter, und im nächsten Jahr als sechstes Kind wieder eine Tochter, die den Namen Maria erhielt.17 Die Entbindungen müssen für die Mutter ein Martyrium bedeutet haben, denn sie litt an einer Unterleibserkrankung. Worin diese im Einzelnen bestand, wusste später Abb. 3: Haus Steinmetz in Uchtelfangen [Foto: privat] von ihren Töchtern niemand, nur dass sie mit häufigen Blutungen verbunden war und schließlich eine große Operation nötig machte. Aus der Straßburger Universitätsklinik, wo dieser Eingriff vorgenommen wurde, hat die Patientin an ihre Kinder einen Brief ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 14 Barbara Franziska Steinmetz, verheiratete Dörrenbächer, wurde am 25. August 1895 in Uchtelfangen geboren und starb am 24. Juni 1982 in Merchweiler. 15 Anna Steinmetz wurde am 9. April 1896 in Uchtelfangen geboren. Am 30. Mai 1921 heiratete sie Anton Schwind in Trier. Er wurde am 1. Juni 1897 in Fell geboren und starb am 10. August 1968 in Trier. Aus der Ehe gingen die Kinder Dr. Anton Peter Schwind (1922–2006), Karl Heinz Schwind (1928–2016), Wolfgang Schwind (1932–2017) und Irmgard Schwind (1938–2020) hervor. Anna Schwind geborene Steinmetz starb am 10. Februar 1951 in Trier. 16 Johann Matthias Steinmetz wurde am 5. Mai 1898 in Uchtelfangen geboren. 17 Klara Magdalena Steinmetz, verheiratete Menden, wurde am 6. September 1899 in Uchtelfangen geboren und starb dort am 11. Februar 1975. Peter Steinmetz wurde am 11. Februar 1901 in Uchtelfangen geboren und starb am 30. Juni 1963. Therese Maria Steinmetz, verheiratete Weiler, wurde am 24. Dezember 1902 in Uchtelfangen geboren. Maria Weiler, geb. Steinmetz, starb in Uchtelfangen am 11. November 1982. 143
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geschrieben, der noch erhalten ist und der ein Feingefühl verrät, das bei dieser von ihrer Mitwelt als kühn und spröde empfundenen Frau überrascht. Ihrem letzten Kind schenkte sie an Allerheiligen 1904 das Leben. Es war ein Mädchen, das Agatha getauft wurde. Die Mutter überlebte die Entbindung aber nur um wenige Monate.18 33jährig starb sie am 9. März 1905 und ließ sechs Kinder im Alter von neun Jahren bis vier Monaten zurück. Mathias Steinmetz heiratete kein drittes Mal, obwohl er damals erst 38 war. Seine große praktische Begabung befähigte ihn, vieles, was sonstwo zu den Obliegenheiten der Hausfrau gehört, selbst zu erledigen. Die Schwester eines seiner Schwiegersöhne, die als junges Mädchen eine Zeitlang in seiner Werkstatt tätig war, sagte später von ihm: „Er konnte alles“. Das gilt bis zu einem gewissen Grad sogar für die Behandlung von Krankheiten. Irgendwann hatte er sich mit den Anwendungen des Pfarrers Kneipp vertraut gemacht und kurierte seine Kinder, wenn sie krank wurden, mit Bädern, Wickeln und Güssen. So holte er einmal seinen an einer Lungenentzündung erkrankten, hoch fiebrigen Sohn Peter mit einem kalten Wickel vom Rand des Todes zurück. Seine Töchter, die er in der Kneipp-Methode ausbildete, wandten sie später mit Erfolg bei ihren eigenen Kindern an. Noch mehr war er mit dem zweiten großen Bereich der Kneipp-Methode, der Anwendung von Heilkräutern, vertraut. Von seinen Spaziergängen durch Feld und Wald brachte er ganze Bündel von Heilpflanzen mit, die er auf dem Speicher seines Hauses zum Trocknen aufhängte. Die gedörrten Kräuter zerkleinerte er und hob sie in kleinen Schachteln auf, von denen auf jeder fein säuberlich ihr Inhalt vermerkt war. So hatte er Wermut gegen Magenbeschwerden, Huflattich und Spitzwegerich gegen Husten, Augentrost gegen Augenschmerzen, Hirtentäschel gegen Blutungen, Tausendgüldenkraut gegen Appetitlosigkeit und Verdauungsbeschwerden, getrocknete Heidelbeeren gegen Durchfall und natürlich die viel verwendbaren Kamillen gegen innere und äußere Entzündungen. Eine seiner Lieblingspflanzen war das Johanniskraut, dessen goldgelbe Blüten die Fingerspitzen violett färben, wenn man sie zwischen ihnen zerreibt. Die gleiche Farbe hatte das Johannisöl, das er daraus
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 18 Katharina Agathe, verheiratete Quint, wurde am 1. November 1904 in Uchtelfangen geboren und starb am 2. Juni 1976 in Homburg/Saar. 144
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gewann und das er das ganze Jahr über zur Behandlung von Quetschungen, Verbrennungen und dergleichen bereithielt. Die Vorliebe für die Kräuterheilkunde muss bei ihm auf eine angeborene Neigung zurückgegangen sein. Jedenfalls ist sie auch bei seinen Nachkommen auffallend oft vertreten, und das Fachgebiet eines seiner Urenkel, des Professors Elmar Weiler, der an der Universität Bochum Pflanzenphysiologie lehrt, könnte ebenfalls zu dieser Anlage in Beziehung stehen.19 Jeden, der Mathias Steinmetz und seine Leidenschaft für die Kräuterheilkunde kannte, muss es eigentümlich berühren, wenn er hört, dass der Inhaber eines der größten Heilkräutergeschäfte in Amsterdam ebenfalls Steinmetz hieß. Das ließe sich leichter als bloßes Spiel des Zufalls abtun, wenn sich bei E. F. Steinmetz, dessen Firma an der Amsterdamer Keizersgracht bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bestand, nicht eine weitere Neigung feststellen ließe, die sich auch bei verschiedenen Verwandten von Mathias Steinmetz findet: das besondere Verhältnis zum Lateinischen. Bei E. F. Steinmetz war es sichtbar in dem von ihm neben anderen Werken ähnlicher Art herausgegebenen „Vocabularium botanicum“, einem Wörterbuch der botanischen Bezeichnungen in ihrer lateinischen, griechischen, niederländischen, deutschen, englischen und französischen Form, in dem dem Lateinischen mehr Platz eingeräumt ist, als der Sachlage nach erforderlich gewesen wäre.20 Von Mathias Steinmetz’ lebenden Verwandten haben sich bisher zwei beruflich ganz dem Lateinischen verschrieben, nämlich ein Enkel seines in Wemmetsweiler ansässig gewordenen Bruders Peter, der in Illingen geborene Peter Steinmetz, bis 1990 Professor für Klassische Philologie an der Universität
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 19 Prof. Dr. rer. nat. Elmar Weiler wurde am 13. Juni 1949 in Bochum geboren. 1977 promoviert, 1982 habilitiert, 1983–1985 Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum, 1984–1988 Prof. an der Universität Osnabrück, Lehrstuhl für Pflanzenphysiologie, 1988–2006 Prof. an der RuhrUniversität Bochum, Lehrstuhl für Pflanzenphysiologie, 2006–2015 Rektor der Ruhr-Universität Bochum, 2009 erster „Rektor des Jahres“. 20 F. J. Steinmetz: Vocabularium botanicum. Planten-Terminologie. Woordenlijst in 6 talen (Latijn, Grieksch, Nederlandsch, Duitsch, Engelsch en Fransch) van de voornaamste wetenschappelijke woorden, die in de plantkunde gebruikt worden, Amsterdam 1947, 21953; ders.: Codex vegetabilis, Amsterdam 1947, 21957, Nördlingen 1999; ders.: Materia medica vegetabilis. Bd. 1, Amsterdam 1954; ders.: Drug guide for importers, exporters, dealers etc. of botanical drugs and spices througt the word, Amsterdam 1959; ders.: Piper methysticum. Kava – Kawa – Yaqona. Famous drug plant of the South Sea islands. Illustrates, Amsterdam 1960. 145
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Saarbrücken,21 und durch seine Veröffentlichungen in der Fachwelt bekannt, sowie ein Enkel seiner Tochter Anna, Dr. Johannes Schwind, der im Fach Latein ebenfalls die Hochschullaufbahn eingeschlagen hat.22 An gemeinsame Vorfahren für Mathias und E. F. Steinmetz zu denken, erscheint auch vom Geographischen her nicht völlig unsinnig. Die geringe Entfernung zwischen den Niederlanden und dem Luxemburger Raum, aus dem Mathias’ Ahnen stammten, und die zeitweilig enge staatliche Verbindung zwischen den beiden Regionen begünstigte das Überwechseln von der einen in die andere. Trotzdem lässt sich natürlich aus diesen Erwägungen allein kein zwingender Beweis für verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Namensvettern und Heilkräuterkundigen ableiten. Dem stünde schon entgegen, dass die Berufsbezeichnung Steinmetz wie die meisten Handwerkernamen im Mittelalter gleichzeitig an den verschiedensten Orten zum Familiennamen geworden ist. Aber erwähnenswert sind die angeführten Überlegungen wohl doch. Was Mathias Steinmetz selber betrifft, so kannte er das Lateinische nur aus dem Gottesdienst, und was ihm an Wörtern aus dieser Sprache geläufig war, ging über „Dominus vobiscum“ und „Pater noster“ kaum hinaus. Mit fremden Zungen hatte er es nicht, und wenn ihm ein paar französische Wörter, wie „cornichon“ für Salzgurke, „fourchette“ für Gabel und „rideau“ für Vorhang, vertraut waren, so lag dies daran, dass sie, in nur wenig veränderter Aussprache, zu seiner Obermoseler Heimatmundart gehörten, die übrigens mit dem Dialekt der Dörfer auf dem Luxemburger Moselufer weitgehend übereinstimmt. Zwar versagte Mathias Steinmetz es sich, in seiner saarländischen Umgebung so zu sprechen, wie man es in Bilzingen tat. Vielmehr bediente er sich einer dem Schriftdeutschen angenäherten Sprache. Aber die Lautfärbung ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 21 Prof. Dr. phil. Peter Steinmetz wurde am 2. März 1925 in Illingen geboren und starb am 12. Dezember 2001 in Sulzbach. Gymnasium Wendalinum St. Wendel, Kriegsteilnehmer, kurze Kriegsgefangenschaft, 1946–1951 Studium der Klassischen Philologie und Alten Geschichte in Mainz und Saarbrücken, 1951 Erstes Staatsexamen, 1954 Zweites Staatsexamen, 1954–1964 Ludwigsgymnasium Saarbrücken, 1961–1990 Universität des Saarlandes; 1957 Promotion, 1963 Habilitation, 1960 Ordinarius für Klassische Philologie, 1972/73 Dekan der Philosophischen Fakultät, 1973–1975 Vizepräsident der Universität des Saarlandes. Sein Sohn Matthias Steinmetz (*1966) ist Astrophysiker. Vgl. Severin Koster: Peter Steinmetz †, in: Gnomon. Kritische Zeitschrift für die gesamte klassische Altertumswissenschaft 72 (2002), S. 569 f.; Jonas Binkle: Art. Peter Steinmetz, in: Saarländische Biografien, online unter: http://www.saarlandbiografien.de/frontend/php/ergebnis_detail.php?id=3007, letztmals eingesehen am 2.10.2022. 22 Dr. Johannes Schwind (*1961) ist Akademischer Oberrat an der Universität Trier, Klassische Philologie, Schwerpunkt Latinistik. 146
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seiner alten Heimatmundart konnte er trotzdem nicht verleugnen. So sagt er für Milch „Millich“ und nicht wie die Saarländer „Milsch“, und für Kirche nicht „Kärsch“, sondern „Kirich“, für ihn eines der wichtigsten Wörter überhaupt, denn die Kirche stand bis zuletzt im Mittelpunkt seines Daseins. Doch war es der Geist der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts, der sein Denken und Handeln bestimmte, einer Glaubensgemeinschaft, die zu dieser Zeit noch weit von dem Umbruch entfernt war, den ein halbes Jahrhundert später Johannes XXIII. einleitete. Aus vielen ihrer Vorschriften sprach damals noch jener Geist der Strenge, der auch die Haltung ihrer Gläubigen prägte, ganz besonders im Bereich der Erziehung. Die Steinmetz-Kinder bekamen dies stärker zu spüren, als ihnen lieb war. Das hielt sie aber nicht davon ab, den Namenstag ihres Vaters am 24. Februar als eines der Hauptfeste des Jahres zu begehen. Dem Geburtstag schenkte man zu dieser Zeit in den meisten katholischen Ländern ja noch wenig Beachtung. Aber Mathias Steinmetz hatte nicht nur an seinem Namenstag Grund, mit seinen Kindern zufrieden zu sein, denn sie machten sich, obwohl noch schulpflichtig, in seinem mutterlosen Haushalt das ganze Jahr hindurch nach Kräften nützlich. Die beiden Ältesten nahmen, sobald sie die Schule verlassen hatten, vollends die Pflichten der Hausfrau wahr, zu denen ja nicht nur das Kochen und all die anderen Hausarbeiten gehörten, sondern auch die Betreuung der jüngeren Geschwister, mit Ausnahme der kleinen Agatha, die in einem Waisenhaus aufwuchs. Auch sonst konnte Mathias Steinmetz zufrieden sein. Die spürbare Verbesserung der Lebensverhältnisse, die in den letzten Jahrzehnten in Deutschland wie in vielen anderen Ländern eingetreten war, vermehrte auch seine Einkünfte. Vierzig Jahre ununterbrochenen Friedens trugen ihre Früchte. Am Schluss waren es 43 Jahre gewesen, eine Zeit, die am 28. Juni 1914 mit den Schüssen von Sarajewo zu Ende ging. Erster Weltkrieg – Die Chronistin Anna Steinmetz In den folgenden Wochen überstürzten sich die Ereignisse. Am 28. Juli erklärte Österreich Serbien den Krieg, am 30. machte Serbiens mächtiger Verbündeter Russland mobil, worauf das mit Österreich verbündete Deutschland einen Tag später Russland in einem Ultimatum eine Frist von zwölf Stunden für die
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Rücknahme der Mobilmachung setzte. „Schon den ganzen Tag, es war Freitag, lag es wie Blei in der Luft“, schrieb Anny Steinmetz am 31. Juli in ihr Kriegstagebuch. „Es war, als wenn alles ausgestorben wäre. Die Leute hatten keine Lust mehr zum Arbeiten. Es war die Stille vor dem Gewitter.“ Abends um 9 Uhr bekamen die Uchtelfanger Reservisten ihren Gestellungsbefehl, der bei ihnen, wie bei der Masse der Einberufenen im übrigen Deutschland, die Wogen der vaterländischen Begeisterung hochschlagen ließ. Sie zogen durch das Dorf und sangen „Deutschland über alles“ und „Die Wacht am Rhein“, obwohl zwischen Deutschland und Frankreich noch gar kein Kriegszustand herrschte. „Am nächsten Morgen“, so Anny Steinmetz weiter, „gab es überall schmerzlichen Abschied, und es flossen viele Tränen“. Als am Abend desselben Tages die Russland gesetzte Frist ablief, ohne dass die Mobilmachung der russischen Armee rückgängig gemacht worden war, erklärte Deutschland dem Zarenreich den Krieg. Zwei Tage später folgte die Kriegserklärung an das mit Russland verbündete Frankreich. Nach dem deutschen Einmarsch in Belgien, der angeblich demjenigen der Franzosen zuvorkommen sollte, trat am 4. August als Bündnispartner Frankreichs Großbritannien in den Krieg gegen Deutschland ein. In diesen Tagen wachsender Spannung, in denen man auch in Uchtelfangen jeden Morgen mit Ungeduld auf die Zeitung wartete, hatte, wie Anny schreibt, niemand rechte Lust zur Arbeit. Auf ihren Vater, einen unermüdlich tätigen Mann, dürfte das allerdings zuletzt zugetroffen haben. Aber obwohl der 47-jährige, der keine Einberufung zu gewärtigen hatte, darauf hielt, dass unter seinem Dach, den Weltläuften zum Trotz, alles seinen geregelten Gang ging, konnte er doch nicht verhindern, dass die Wirklichkeit des Krieges auch in sein Haus eindrang. In der Nacht vom 11. auf den 12. August 1914 wurden in Uchtelfangen Infanteristen aus Ostdeutschland einquartiert, die auf dem Weg zur Westfront waren, im Steinmetz-Haus ein Vizefeldwebel und ein Sergeant. Als sie ein paar Tage später wieder weiterzogen, bedankten sie sich angelegentlich für die Bewirtung und schrieben ihren Gastgebern aus dem Feld noch nach Monaten. Mathias Steinmetz war glücklicher als viele andere. Er, der für den Krieg von 1870 zu jung gewesen war, war für den jetzigen zu alt und sein einziger Sohn als 14-jähriger noch nicht wehrpflichtig. Dass das Saarland zum Kriegsschauplatz würde, wie viele nach einigen Anfangserfolgen der französischen 148
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Armee befürchtet hatten, war unwahrscheinlich. Die deutschen Truppen waren in Frankreich auf dem Vormarsch und standen 100 km vor Paris. Die französische Armee erlitt eine Niederlage nach der anderen. Durch das Fenster seiner Werkstatt sah Mathias Steinmetz immer wieder lange Züge mit Kriegsgefangenen durch das Tal fahren. In diesem ersten Kriegssommer kündigten die Glocken vom nahen Kirchturm einen deutschen Sieg nach dem anderen an, läuteten nun aber auch immer öfter für einen gefallenen Mitbürger. Nach der Marneschlacht im September wurden die Siegesmeldungen von der Westfront selten, und allmählich wurde klar, dass sich die anfängliche allgemeine Hoffnung auf ein Kriegsende noch vor Weihnachten nicht erfüllen würde. Der Bewegungskrieg hatte sich in einen Stellungskrieg verwandelt, und nun begann sich auch die alliierte Blockade bemerkbar zu machen. Die Knappheit an Lebensmitteln und vielen anderen Dingen nahm zu. So wurde Weihnachten 1914 auch im Haus Steinmetz ein trauriges Fest. Über den weiteren Verlauf des Krieges ist der Hausherr besser unterrichtet als mancher seiner Mitbürger. In seiner Schneiderstube trifft sich regelmäßig eine Anzahl Dorfgenossen, fast alle Ruheständler oder Invaliden, zur täglichen Unterhaltung, zum „Maien“, wie man im Saarland sagt. Wurde dabei vor dem Krieg besonders oft in Erinnerungen an die eigene Militärzeit geschwelgt, so ist jetzt der Hauptgesprächsstoff das Neueste von der Front oder richtiger, den Fronten, vor allem das, was von den Urlaubern und in die Heimat zurückgekehrten Verwundeten berichtet wird, aber nicht in den Zeitungen steht. Doch den Hauptpunkt bilden die Nachrichten vom Tod oder der Verwundung von Dorfgenossen. Bis Mitte 1915 sind mehr als 30 Uchtelfanger gefallen. Die Zahl der Verwundeten beträgt mehrere hundert. Im Februar 1915 war noch einmal ein großer Sieg gefeiert worden. Die Winterschlacht in Masuren, bei der viele Saarländer eingesetzt gewesen waren, hatte mit einer schweren Niederlage der Russen geendet. Aber diese Feiern treten nun immer mehr in den Hintergrund. Was die Gemüter beschäftigt, ist die wachsende Knappheit aller Waren und der steile Anstieg der Preise, dazu die feindlichen Fliegerangriffe, bei denen es in Saarbrücken und St. Ingbert schon Tote und Verletzte gegeben hat. In Annys Tagebuch ist nun zum ersten Mal von allgemeiner Kriegsmüdigkeit die Rede.
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Aber der immer stärker herbeigesehnte Friede kommt 1915 so wenig wie im Jahr darauf. Was 1916 bringt, ist die Verschärfung des Stellungskriegs, zunehmende Mehl- und Brotknappheit und in der zweiten Jahreshälfte die Einführung von Kleidermarken. Die alliierte Blockade des deutschen Nachschubs wirkt nun so stark, dass immer neue Ersatzstoffe entwickelt werden müssen, um die Versorgungslücken zu schließen. Als dann im Sommer 1917 die Kirchenglocken abgeholt werden, deren Metall für die Rüstung Verwendung finden soll, sehen darin viele den Anfang vom Ende. Geweihte Gegenstände ihrem Zweck zu entfremden, kann, so denken fast alle, keinen Segen bringen. Anny schreibt, dass in Uchtelfangen beim Abtransport der Glocken ein Auflauf entstand und viele Zuschauer ihre Tränen nur mit Mühe zurückhalten konnten. Mit der Knappheit der Lebensmittel nimmt auch die Zahl der Felddiebstähle zu, um sie zu bekämpfen, werden in Uchtelfangen Dragoner eingesetzt, die Tag und Nacht auf Trab sind. Im Zeitalter des Grabenkriegs hat diese Waffengattung ja längst ihre frühere Bedeutung verloren. Bei Mathias Steinmetz weckt der Anblick der Berittenen Erinnerungen an die Zeit, als er selber zu ihnen gehörte. Gemischte Gefühle vermutlich, denn nach dem Wort „Wes das Herz voll ist, des läuft der Mund über“ hätte er gewiss öfter und mit mehr Begeisterung von seiner Militärzeit gesprochen, wenn er mit Leib und Seele Soldat gewesen wäre. So aber hörte man von ihm über diese Jahre wenig mehr als die Feststellung, dass bei der Kavallerie immer zuerst das Pferd und erst dann, mit großem Abstand, der Mensch komme, die alte Klage wohl aller Kavalleristen der Welt, soweit sie keine Pferdenarren sind, und ein solcher war Mathias Steinmetz gewiss nicht. Anfang Oktober 1917 greift der Luftkrieg auch auf die Umgebung von Uchtelfangen über. Französische Flugzeuge bombardieren den Bahnhof von Wemmetsweiler, wobei es einen Toten gibt. Ende des Monats erscheinen die Flieger wieder, ziehen aber ein so wütendes Feuer der zahlreichen Abwehrkanonen auf sich, dass in Uchtelfangen der Boden zittert, die Fensterscheiben klirren und die Uchtelfanger für ihren Ort das Schlimmste befürchten. Aber die Gefahr geht vorüber, das Dorf bleibt unversehrt. Wovon es allerdings nicht verschont blieb, war die sogenannte Spanische Grippe, die im Herbst 1918 im Saarland wütete und auch die Bewohner des Steinmetz-Hauses befiel. Selbst den Hausherrn, der sonst nie krank war, zwang 150
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sie für eine Woche ins Bett. Noch schlimmer als in Uchtelfangen wütete die Krankheit in der Umgebung. In Illingen, Merchweiler, Wemmetsweiler und Wiesbach starben die Befallenen, meist jüngere Menschen und unter ihnen vor allem Mädchen und Frauen, in so großer Zahl, dass sie schließlich in Massengräbern bestattet werden mussten. Als endlich am 11. November 1918 ein Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und den westlichen Alliierten geschlossen wurde, atmete man auch in Uchtelfangen auf. Noch einmal erlebte das Dorf die Einquartierung von Soldaten der eigenen Seite, nämlich von Angehörigen der österreichisch-ungarischen Armee, die auf dem Weg nach Hause waren, meist Galiziern, Kroaten, Bosniern und Ungarn. Ins Steinmetz-Haus kam ein Unteroffizier, der im Zivilberuf Apotheker und im Soldatenrat Hauptmann war, zusammen mit seinem Burschen, einem Polen. „Es waren nette Menschen“, heißt es in Annys Tagebuch, „und wir taten alles, es ihnen bei uns gemütlich zu machen. In der Küche konnte man sich so manches nicht so leisten, wie man’s wohl gerne getan hätte, aber den beiden Quartiergästen hatte es sehr gefallen bei uns, und als sie Sonntag Morgen ausrückten, schieden sie schweren Herzens, obwohl’s zu Muttern ging.“ Für die Uchtelfanger war es ein ungewohnter Anblick, zu erleben, wie die Soldaten der K.u.k.-Armee ihre Ausrüstung verkauften oder gegen Lebensmittel eintauschten. Manche gaben ihr Pferd für 20 bis 30 Mark her, einer tauschte sein Gewehr gegen zwei dicke Butterbrote. Das Kriegsende bescherte den Schneidern im Saarland unerwartet eine Menge zusätzliche Arbeit. Kurz vor dem Einzug der Franzosen wurden in den Kasernen von Neunkirchen und Saarbrücken die restlichen deutschen Uniformen an alle ausgegeben, die sie haben wollten, wobei es zu tumultartigen Szenen kam. Anschließend wurde, wie seine Berufskollegen, auch Mathias Steinmetz mit Änderungsaufträgen überhäuft. Mit dem Einzug der Franzosen begann in der Geschichte des Saarlandes ein neuer Abschnitt. In Uchtelfangen marschierten sie mit Sang und Klang am 1. Dezember 1918 ein. Die Soldaten erwiesen sich als freundlich und zuvorkommend, aber die Militärregierung gab sich der Bevölkerung gegenüber von einer anderen Seite. Bahnfahrten waren jetzt nur noch mit einer Bescheinigung der Kommandantur möglich. Wer einen Brief absenden wollte, musste ihn zum Bürgermeisteramt in Illingen bringen. Der Postverkehr mit dem rechtsrheinischen Deutschland war eingestellt. Für eine Reise über den Rhein 151
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erhielt man nur in seltenen Fällen einen Pass. An den Orten mit französischer Besatzung herrschte von 6 Uhr abends bis 7 Uhr morgens Ausgehverbot. Zum Glück gehörte Uchtelfangen nicht dazu. Ob im anderen Fall aber der Einbruch verhindert worden wäre, der Anfang 1919 im Steinmetz-Haus verübt wurde, steht dahin. Mathias Steinmetz hatte in einem Zimmer, das an seine Werkstatt anstieß, einen kleinen Textilladen eröffnet, für den seine Tochter Klara Kleider nähte. Eines Morgens fand man das Fenster des Ladens, das ein gewöhnliches Zimmer- und kein Schaufenster war, weit offen und den Fußboden mit durchwühlten leeren Schachteln bedeckt. Stoffe, Spitzen, Hemden und Strümpfe, vor allem aber die von Klara angefertigten Kleider, waren verschwunden, ebenso einige Kleidungsstücke, die ihr selbst gehörten, alles in allem ein Schaden von etwa 7000 Mark. Der Verlust traf die Bestohlenen umso empfindlicher, als der Laden nicht gegen Diebstahl versichert war. Die Polizei konnte die Täter in diesem Fall ebenso wenig ermitteln wie bei vielen der anderen Diebstähle, die damals in der Gegend von Uchtelfangen verübt wurden. Allerdings nicht nur dort. Die Rückkehr der Soldaten aus dem Feld hatte die Zahl der Arbeitslosen steil ansteigen lassen, und in den Kriegsjahren war auch in dieser Gegend nur zu vielen das Gefühl für Recht und Unrecht abhandengekommen. Peter Steinmetz – Frater Silvius OFM Dieser Einbruch blieb im Steinmetz-Haus nicht der einzige. Wenige Jahre später wurde Peter, damals um die 20, eines Nachts durch ein verdächtiges Geräusch geweckt, das aus dem Keller kam. Mit einer Pistole in der Hand lief er dorthin und schoss – man darf annehmen nach einem Warnruf, der ohne Antwort geblieben war – zwischen den Stufen der Leitertreppe hindurch ins Dunkle. Der Schuss, der den Einbrecher nur hatte erschrecken sollen, verletzte ihn tödlich. Es stellte sich dann heraus, dass mehrere Männer in den Keller eingedrungen waren, wohl um in dieser Zeit der wachsenden Geldentwertung das Schwein zu stehlen, das im Steinmetz-Haus gehalten wurde. Auch die Einbrecher waren bewaffnet. Nachdem sie ihren verletzten Genossen in den Garten hinter dem Haus geschleppt hatten, schossen sie von dort aus in das
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Fenster der Küche. Der Verletzte, der aus Kaisen stammte, wurde dann in großer Eile in einem Auto zum Krankenhaus gebracht, starb aber, bevor er dort ankam. Peters Erschütterung über diesen Vorfall war so groß, dass er nun wahrmachte, was er schon früher angekündigt hatte. Als sein Vater an jedem Mädchen, das er ihm als seine mögliche künftige Frau vorstellte, etwas auszusetzen fand, hatte Peter ihm schließlich erklärt, wenn er weiterhin so schonungsloser väterlicher Kritik begegne, werde er ins Kloster gehen. Das tat er nun, wobei er sich für den Franziskaner-Orden entschied. Vier Jahre nach seinem Eintritt in ein Kloster bei Sigmaringen23 legte er 1929 in Fulda die ersten Gelübde ab und wurde noch im selben Jahr als Bruder Silvius nach Sapporo auf der japanischen Insel Hokkaido geschickt, wo der Orden eine NiederAbb. 4: Peter Steinmetz – lassung besaß. Pater Silvius OFM, 1901–1963 [Foto: privat] Mit dem Missionieren hatte Peter dort allerdings so gut wie nichts zu tun. Als gelernter Schneider war er an seiner neuen Wirkungsstätte in seinem Beruf tätig, als Mensch mit ausgeprägtem Maschinenverstand kümmerte er sich außerdem um die technischen Geräte der Station, wenn dies nötig wurde. Seinem Vater und seinen Schwestern, die inzwischen alle verheiratet waren und Kinder hatten, schickte er aus Japan Briefe mit anschaulichen Berichten über Land und Leute sowie kleine Puppen mit echtem, rabenschwarzem Japanerhaar, dazu Götterbilder, Fächer, auf denen der heilige Berg Fujiyama oder Szenen aus dem japanischen Leben zu sehen waren, Sandalen aus Stroh und viele eigene Fotografien, die Sapporo zu allen Jahreszeiten zeigten, besonders im Winter, wenn der Schnee dort mehrere Meter hoch lag. Dieser Schneereichtum war es ja, der die Stadt Jahrzehnte später zum Austragungsort der Olympischen Winterspiele von 1972 werden ließ. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 23 Kloster Gorheim. Franziskaner lebten von 1892 bis 2000 in diesem Kloster. Von 1894–1967 war in Kloster Gorheim eine Theologische Hochschule zur Ausbildung des Ordensnachwuchses untergebracht. 153
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Letzte Lebensjahre von Mathias Steinmetz Im alten Elternhaus in Uchtelfangen lebten nun drei Generationen: der Vater, seine Tochter Maria mit ihrem Mann Willi Weiler und den Kindern der beiden, dem 1925 geborenen Werner und dem zweieinhalb Jahre jüngeren Josef, zu denen 1931 noch eine Tochter, Agnes, hinzukam. Im Gegensatz zu vielen anderen Großvätern wollte sich Mathias Steinmetz aber nicht mit der Rolle des Altenteilers abfinden, sondern betrachtete sich nach wie vor als Oberhaupt der Familie. Bei den Mahlzeiten stand er wie eh und je am Kopfende des Tisches und zerlegte, für ihn eine fast heilige Handlung, das Fleisch, um davon jedem seine Portion zuzuteilen. Am Sonntag wachte er unerbittlich darüber, dass die Kinder seiner Tochter, die das Schulalter erreicht hatten, nicht nur eine, sondern, was sie ihm nie vergaßen, alle Messen und auch noch die Nachmittagsandacht besuchten, und er verbot, geräuschempfindlich, wie er war, in seiner Gegenwart das Rundfunkgerät einzuschalten, das sein Schwiegersohn in der Wohnküche aufgestellt hatte. Dass Mathias Steinmetz so bewusst als Herr im Haus auftrat, musste das Verhältnis zwischen ihm und dem Mann seiner Tochter noch weiter belasten, denn dieses Verhältnis war ohnehin gespannt. Das hatte seinen Grund nicht nur in dem Wesensgegensatz zwischen dem geselligkeitsliebenden Moselländer und dem ebenso schweigsamen wie hartschädeligen Alemannen, der Willi Weiler, ein bei Lörrach aufgewachsener Sohn von Eltern aus dem Züricher Land, nun einmal war: viel schwerer wog in den Augen des Schwiegervaters, dass sein Schwiegersohn von Hause aus Protestant und nur deshalb katholisch geworden war, um Maria heiraten zu können. Die ablehnende Einstellung, die man in den so gut wie rein katholischen Moseldörfern bis ins 20. Jahrhundert hinein allem Protestantischen entgegenbrachte, hatte Mathias Steinmetz in seine Wahlheimat mitgenommen, während im konfessionell uneinheitlichen Saarland die Kluft zwischen den religiösen Bekenntnissen weit geringer war. Maria hätte unter dem Gegensatz zwischen ihrem Mann und ihrem Vater gewiss weniger gelitten, wenn sie öfter Gelegenheit gehabt hätte, sich mit jemandem auszusprechen. Aber ihre Schwestern, bei denen sie dies noch am ehesten tun konnte, sah sie nur selten. Ihr geringes Bedürfnis nach Geselligkeit, zweifellos ein mütterliches Erbteil, hinderte die Steinmetz-Töchter daran, sich öfter zu treffen, obwohl sie, mit Ausnahme der in Trier lebenden Anna,
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nicht weit voneinander entfernt wohnten. So war der Hauptanlass, an dem sie sich sahen, der Namenstag ihres Vaters, zu dessen Feier seine Kinder und Kindeskinder, die in der näheren Umgebung lebten, alljährlich in seinem Haus zusammenkamen. Mangel an Geselligkeit war das letzte, was man Mathias Steinmetz hätte vorwerfen können. Er fühlte sich am wohlsten, wenn er mit anderen zusammen war. Seine Werkstatt verlor auch nach dem Krieg nichts von ihrer Anziehungskraft auf die Dorfbewohner, die sich dort zum Gespräch einfanden. Während er zuschnitt, nähte und bügelte, entspann sich zwischen den Anwesenden, nicht selten für Stunden, eine angeregte Unterhaltung. Dass es Mathias Steinmetz, wenn er an manchen Abenden ins Gasthaus ging, dort vor allem um die „gute Gesellschaft“, wie er sich ausdrückte, zu tun war, konnte man ihm durchaus glauben, denn er, der ohnehin kein Bier, sondern nur Wein trank, gestattete sich auch davon wenig. Auf das Gegenteil reagierte sein Organismus unfreundlich, was bei einem Mann von so robuster Gesundheit überraschte. Auch seine Reisen machte er am liebsten in Gesellschaft. Diejenigen in die alte Heimat trat er gewöhnlich zusammen mit seinem Bruder Peter an, der sich, ebenfalls als Schneider, in Wemmetsweiler niedergelassen hatte. Später nahm er auf diese Fahrten nicht selten noch seinen Enkel Werner Weiler mit, der ihm besonders nahestand und der ihn auch in Uchtelfangen sehr oft auf seinen Spaziergängen begleitete, wobei ihm der Großvater die Pflanzen am Weg oder, wenn es dunkel geworden war, die Sterne am Himmel erklärte. Bei seinen Besuchen in Bilzingen ging es Mathias vor allem um das Wiedersehen mit seinem Zwillingsbruder Anton, der ihm mehr bedeutete als irgendjemand sonst. Ein besonderes Verhältnis verband ihn auch mit seinem Neffen Matthias Fisch, dem Sohn seiner Schwester Maria, den er fast wie seinen eigenen Sohn betrachtete und für dessen Kinder der Besuch von „Onkel Metz“ aus Uchtelfangen immer ein großes Ereignis war. Zu dieser Zeit hatte Mathias Steinmetz die Sechzig längst überschritten und war als vielfacher Großvater das, was ihm am besten stand. Seinen eigenen Kindern war er ein überstrenger Vater gewesen, seine Enkel suchten seine Nähe und fühlten sich bei ihrem Opa meist viel wohler als bei ihren anderen Verwandten, denn er beschenkte sie, beschäftigte sich mit ihnen, hörte aufmerksam dem zu, was sie zu erzählen hatten und zeigte ihnen manches, was neu für sie war, z. B. wie man mit einem Vergrößerungsglas die Sonnenstrah155
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len bündeln konnte, um sie in die eigene Haut stechen oder ein Loch in ein Stück Papier brennen zu lassen. Aber am meisten beeindruckte es sie, wenn er eine seiner Feiertags-Zigarren rauchte und dabei blaue Ringe in die Luft blies. All das und vieles mehr ließ sie die rauen Zärtlichkeiten in Kauf nehmen, mit denen ihr Großvater sie bedachte und die einem Außenstehenden als reichlich befremdend vorkommen mussten. Dass der Opa seine harten Bartstoppeln schmerzhaft an zarten Kinderwangen rieb, konnte man ja vielleicht noch hinnehmen, aber dass er die kleinen Enkel, mit denen er zusammen am Tisch saß, unversehens am Handgelenk packte und ihre Ellenbogen auf die Tischplatte aufstieß, was er offenbar für einen großen Spaß hielt, war doch mehr als seltsam und fraglos der Ausdruck einer verborgenen Aggressivität, die sich noch deutlicher zeigte, wenn er, was er besonders gerne tat, seine Zähne in ihre Handkanten drückte. Das konnte indessen nichts an der großen Zuneigung ändern, die seine Enkel ihm entgegenbrachten. Dort, wo der Opa als seltener Gast auf Besuch kam, wie außer in Bilzingen vor allem bei seiner Tochter Anna in Trier, wurde er von den Kindern schon lange vorher mit Ungeduld erwartet, und sein Abschied löste bei ihnen Trauer aus. Reiselustig, wie er war, hielt es ihn niemals lange an einem Ort. Von Trier aus reiste er oft nach Koblenz weiter, um dort auf dem Arenberg, einer bekannten Wallfahrtsstätte, den Pfarrer Nick zu besuchen, der jahrelang in Uchtelfangen gewirkt hatte.24 Bei all diesen Reisen und auch einer großen, zusammen mit Annas Mann unternommenen, die ihn durch den Schwarzwald nach Sigmaringen zum Kloster seines Sohnes und von dort bis nach Ulm führte, musste er die Grenze des Saargebiets überqueren und sich von französischen Beamten nach zollpflichtigen Waren fragen lassen. Das Saarland war 1919 auf Grund einer Bestimmung des Versailler Vertrags für 15 Jahre der Verwaltung des Völkerbunds unterstellt und in das französische Zollgebiet einbezogen worden. Es hatte zwar eigene Briefmarken, aber französisches Geld. Nach Ablauf der 15 Jahre sollten die Saarländer über das weitere Schicksal ihrer Heimat durch eine Volksabstimmung ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 24 Peter Nick, geboren am 24. September 1856 in Sien, geweiht am 12. August 1883 in Straßburg, Schlosskaplan und Seelsorger beim Grafen von Brühl in Pförten in der Niederlausitz, 1886 Kaplan in Völklingen, 20. Oktober 1891 Pfarrer in Uchtelfangen, 3. Dezember 1917 Pfarrer in Arenberg, gestorben am 14. Mai 1921 in Arenberg. 156
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entscheiden. Als sie dies am 13. Januar 1935 taten, stimmten sie mit großer Mehrheit für die Rückkehr nach Deutschland. Für Mathias Steinmetz war diese Abstimmung von besonderer Bedeutung, denn um an ihr teilzunehmen, kam sein Sohn Peter aus Japan nach Uchtelfangen, und das Foto, das den Franziskaner auf dem Schiff zeigte, das ihn nach Europa brachte, erschien mit der Unterschrift „Er hatte den längsten Weg zur Saarabstimmung“ in ungezählten deutschen Blättern. Mathias Steinmetz war stolz auf seinen Sohn, der doch in vielem so anders war als er selber. Seiner eigenen, bis an die Grenze des Jähzorns reichenden Reizbarkeit stand Peters Gelassenheit und Ausgeglichenheit gegenüber, der autoritären Grundhaltung des Vaters die Unaufdringlichkeit des Sohnes, der trotz seines Franziskanerhabits selbst in Glaubensfragen weniger streng dachte als sein Vater, zumindest was die christliche Lehre von der Höllenstrafe anging. Dass sie ewig sein sollte, war für Peter ausgeschlossen. Eine solche Vorstellung lasse sich, so sagte er, mit Gottes Güte nicht vereinbaren. Die Rückkehr des Saarlands nach Deutschland bedeutete zwangsläufig seine Einbeziehung in das Überwachungssystem des Dritten Reichs. Dessen Wirksamkeit bekam Mathias Steinmetz, der als gläubiger Katholik der Hitlerherrschaft ohnehin ablehnend gegenüberstand, wenige Jahre später zu spüren. In einem Brief, den er in die Schweiz geschickt hatte, hatte er erwähnt, dass das Futter für die Hühner, die sein Schwiegersohn in seinem Hause hielt, immer schwerer zu bekommen sei. Wenig später sprach bei ihm ein Mann vor, der sich als Gestapo-Beamter zu erkennen gab und ihm erklärte, dass sein Brief geöffnet worden sei und dass ihm dringend nahegelegt werde, sich in seiner Korrespondenz mit dem Ausland in Bezug auf die Verhältnisse in Deutschland künftig größere Zurückhaltung aufzuerlegen. Es war aber nicht nur das Hühnerfutter, das schon etliche Zeit vor Kriegsbeginn knapp wurde: Auch unter den Stoffen, die Mathias Steinmetz in seiner Werkstatt verarbeitete, wurden solche aus reiner Wolle zusehends seltener. Stattdessen gab es Mischgewebe, bei denen ein Teil der Fasern aus Holz hergestellt war, so wie im damaligen Deutschland auch auf anderen Gebieten immer mehr Ersatzstoffe an die Stelle der echten traten. Es war kein Geheimnis, dass die Hitler-Regierung die ihr zur Verfügung stehenden Devisen vor allem für die Rüstung verwendete. Für Mathias Steinmetz war das nichts Neues. Im Ersten Weltkrieg hatte er Ähnliches erlebt. 157
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Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 änderte an seinem Arbeitstag ebenso wenig, wie es 1914 der Beginn des Ersten getan hatte. Nur sein Alter machte sich allmählich bemerkbar. Immerhin hatte er 1937 seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Ein Jahr späAbb. 5: Mathias Steinmetz mit vier Enkeln, v.l.: Heinz Schwind; Anton ter, beim Tod seines Schwind; Wolfgang Schwind, auf dem Schoß seines Großvaters; Zwillingsbruders, der r. Werner Weiler [Foto: N. Haas, Trier] im März 1938 starb, muss er sich gefragt haben, wieviel Jahre ihm selber noch vergönnt sein würden. Aber da er kein Freund trüber Gedanken war, dürfte er die Antwort auf diese Frage eher in der Lebensdauer seines Vaters gesehen haben, der 82 Jahre alt geworden war, während sein Großvater, Stephan Steinmetz, es sogar auf 85 gebracht hatte. Diese leichte Verkürzung der Lebenszeit bei den männlichen Angehörigen der direkten Linie Steinmetz von einer Generation zur anderen sollte sich übrigens bei ihm selber fortsetzen, wie später auch bei seinem Sohn Peter, bei dem sie allerdings eine andere Ursache hatte. In Brasilien, wohin Peter 1941 von seinem Orden versetzt worden war, wurde er von einem giftigen Insekt gestochen und starb an den Folgen 1963 im Alter von 62 Jahren. Gegen Ende des Krieges zeigten sich bei Mathias Steinmetz – er war inzwischen 78 geworden – deutliche Verfallserscheinungen. Er, der kaum jemals krank gewesen war, verbrachte nun immer mehr Zeit im Bett und ließ zunehmende Verwirrtheit erkennen. Wenn er zum Essen in die Wohnküche kam, geschah dies immer öfter zur falschen Tageszeit. Schließlich verließ er sein Bett überhaupt nicht mehr, sprach kaum noch und zerriss in seinen letzten Lebenswochen wiederholt sein Bettzeug in lauter kleine Stücke. Am 15. Januar 1947, zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag, starb er friedlich im Beisein seiner Tochter Maria und seiner Enkelin Agnes. Als Todesursache stellte der Arzt 158
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Altersschwäche fest. An einem bitterkalten Januarmorgen geleitete man ihn zur letzten Ruhe auf dem Uchtelfanger Friedhof. Die Überreste von Mathias Steinmetz sind seit langem umgebettet, sein Grab besteht nicht mehr, und doch ist sein Andenken bei denen, die ihn kannten, noch immer so lebendig, als läge sein Tod nur Wochen und nicht schon fast ein halbes Jahrhundert zurück. Die Erklärung dafür liegt wohl nicht zuletzt in der Wirkung, die auf andere von der Tatkraft eines Menschen ausgeht, besonders wenn sie sich, wie bei ihm, mit Selbstvertrauen, Geradlinigkeit und Verlässlichkeit verbindet. Vor allem seine Enkel, zu denen auch der Schreiber dieser Zeilen gehört, wären ohne die Erinnerung an ihren Großvater in Uchtelfangen um vieles ärmer. Quellen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
René Bour: Histoire de Metz, Metz 1978. Wilhelm Freiherr von Fircks: Taschenkalender für das Heer, Berlin 8 (1885) (Dienstjahr vom 1. Oktober 1884–30. September 1885). Franz Fisch: Ortschronik Wincheringen, Trier 1960. Kirchenbücher der Pfarrei Wincheringen im Bistumsarchiv Trier. Kirchenbücher und sonstige Archivalien der Pfarrei Uchtelfangen. Stammbaum-Auszug „Erbfolge nach Alois Krämer“. Im Auftrag von Rechtspfleger Paul-Gerhard Zeiger, Ottweiler. Graphisch gestaltet von Heinz Kuhn. Kriegstagebuch von Anny Steinmetz. 1914–1919, Sechs Schreibhefte. Auskunft des Militärarchivs des Bundesarchivs, Freiburg/Br. Auskunft des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Freiburg/Br. Auskunft der Verbandsgemeindeverwaltung Baumholder. Persönliche Erinnerungen der Steinmetz-Töchter Anna, Franziska und Maria; der Enkel Werner Weiler, Agnes Linnebach, Heinz Menden, Mathilde Schäfer und Ottmar Quint sowie des Großneffen Peter Fisch, Bilzingen, und von Frau Else Paulus, ebendort; Frau Therese Bender, Trier, sowie eigene Erinnerungen.
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Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr aus den Jahren 1917 bis 1920 Von Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger
Margret Berman zum 100. Geburtstag
Kriegstagebücher sind wichtige Quellen, die Rückschlüsse ermöglichen auf die Stimmungslage der Bevölkerung in Extremzeiten. In unserem Beispiel liegt die Besonderheit darin, dass es sich bei den Verfassern um eine jüdische Familie handelt in der damals westpfälzischen, heute saarländischen Stadt Homburg, deren Tagebuch aus den letzten beiden Jahren des Ersten Weltkrieges bis zu den Anfängen der Regierungskommission des Saargebietes Anfang 1920 überliefert ist. Unser Beitrag besteht aus drei Teilen. Zunächst wird das familiengeschichtliche Umfeld der Familien Weiler und Behr von Helmut Sittinger aufgezeigt.1 Diese Angaben bieten Hintergrundinformationen zu Personen, auf die im Tagebuch verwiesen wird. Ihr Werdegang nach dem Ersten Weltkrieg wird ebenfalls aufgezeigt. Einige Familienmitglieder konnten in der Zeit des NS-Regimes emigrieren und somit ihr Leben retten, andere, die ein solch einzigartiges Verbrechen wie den Holocaust für unwahrscheinlich hielten, wurden ermordet. Im zweiten Teil werden die Tagebucheinträge veröffentlicht. Bei der Transkription des in Sütterlin verfassten Textes wurden keine Korrekturen vorgenommen. Lediglich heute wenig gebräuchliche Fachbegriffe werden erklärt. Im dritten Teil nimmt Franz Josef Schäfer eine Analyse des Tagebuches vor. Dabei soll nicht so sehr auf Hintergründe der im Tagebuch erwähnten Schlach⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 1 Die Autoren danken den Nachkommen der Familien Weiler und Behr sowie weiteren Informanten für ihre außerordentlich freundliche und wertvolle Unterstützung mit Erinnerungen, Dokumenten und zahlreichen Fotos. Insbesondere erwähnt seien Margaret und Eve Berman, Hilary Lipka, Leslie Haas Koelsch, Karina Kloos und Sigrid Eisel (Stadtarchiv bzw. Bürgeramt Homburg), Hubert Diwo, Florian Jung und Josef Wintringer. 161
Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger
ten, etwa die 10., 11. und 12. Isonzoschlacht, in militärgeschichtlicher Hinsicht eingegangen werden. Die Darstellung des Tagebuches ist hier hinreichend. Die Schreiber und ihre Haltung zum Krieg, zum deutschen Kaiser, aber auch zur Demokratie, der Novemberrevolution 1918 und den nachfolgenden Geschehnissen werden im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.
Zur Verfasserfrage Das uns überlieferte Kriegstagebuch wurde am 14. Januar 1917 eröffnet. Da der Vorname des Schreibers oder der Schreiberin lediglich mit A. abgekürzt ist, ergibt sich bei der Identifizierung ein Problem. Da mehrfach von Onkeln und Tanten im Tagebuch gesprochen wird, kann angenommen werden, dass die Einträge von Alma Behr vorgenommen wurden, dem Pflegekind von Aron Weiler und Klara Weiler, geborene Behr. Am 21. April 1917 heißt es zwar: „Schon 3 Wochen ist nichts in unser Tagebuch eingetragen worden, nicht, daß nichts wesentliches passiert wäre, sondern nur, weil keiner Zeit dazu fand. Über Ostern war ich 10 Tage zu Haus.“ Dieser Eintrag lässt darauf schließen, dass mehrere Personen Einträge in das Kriegstagebuch vorgenommen haben. Ein Schriftvergleich lässt allerdings keine gravierenden Unterschiede erkennen. Vielleicht wurden viele Details über die Lage auf dem Kriegsschauplatz im Hause Weiler besprochen und Alma schrieb sie nieder, so dass das Tagebuch stets auch von Aron und Klara Weiler eingesehen werden konnte. Der Eintrag „A. Weiler“ könnte sich folglich auf den Hausherrn Aron Weiler beziehen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Einträge von Alma Behr stammen, dann sollten wir berücksichtigen, dass die Schreiberin ein sechzehnjähriges Mädchen war. Seit knapp vier Jahren lebte sie im Haus ihrer Pflegeeltern Aron und Klara Weiler in Homburg. Die Tatsache, dass ihr sechs Jahre älterer Bruder Isidor seit Juli 1915 Soldat war, könnte mit ein Grund dafür gewesen sein, dass Alma ein Kriegstagebuch eröffnete. Dass sie damit nicht bereits mit dem Kriegsausbruch begann oder dem Kriegseintritt ihres Bruders, könnte damit begründet werden, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch zu jung war, um das Weltgeschehen aufmerksamer wahrzunehmen und zu kommentieren.
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr
Familienhistorische Hintergründe zum Kriegstagebuch Weiler Ein in Homburg geschriebenes Kriegstagebuch mit dem Titel „Kriegstagebuch A. Weiler“, das durch Darstellung vieler lokaler und regionaler Ereignisse der Jahre 1917 bis 1920 für die Saarpfalz von besonderem Interesse ist, fand sich bei Recherchen zu Juden des südpfälzischen Ortes Leimersheim.2 Die Mikrobiologin Margaret Berman (*1922), Tochter der in Leimersheim geborenen Flora Strauß, geborene Behr, und des Studienprofessors Dr. Karl Strauß, hat es vom Leo Baeck Institut New York als Digitalisat ins Netz stellen lassen.3 Obwohl auf dem Buchdeckel nur „Kriegstagebuch A. Weiler“ steht, findet man beim Lesen der 180 handgeschriebenen Seiten die eigentliche Autorenschaft inklusive Adresse heraus. Die vielen erwähnten familiären Bezüge belegen, dass das Buch von einer Nichte von Aron Weiler geschrieben wurde: Amalia/Alma Behr. Diese lebte seit April 1913 als „Pflegekind“ bei ihrer kinderlos gebliebenen Tante Klara und deren Ehemann Aron Weiler in unmittelbarer Nachbarschaft des Homburger Bahnhofs. Aron Weiler wurde am 26. Juli 1866 als Sohn des jüdischen Handelsmannes Leopold Weiler und dessen Ehefrau Amalie, geborene Fried, in Steinbach am Glan geboren. Er wuchs mit zwei Brüdern und zwei Schwestern bei den Eltern in dem auch als „Judensteinbach“ genannten Dorf in der Westpfalz auf, dessen Einwohner mit 217 Juden im Jahr 1848 bis zu einem Drittel Juden waren.4 Der ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 2 Vgl. Helmut Sittinger: Schicksal einer religiösen Minderheit. Die Geschichte der Leimersheimer Juden ist mehr als 250 Jahre alt, in: Die Rheinpfalz. Pfälzer Tageblatt vom 27. Dezember 1983, 4. Januar 1984, 5. Januar 1984; ders.: Mit Orden ausgezeichnete Veteranen und deren Familien ermordet. 23 Leimersheimer Juden wurden Opfer des NS-Regimes – Tagebücher bieten interessanten Lesestoff, in: Die Rheinpfalz. Pfälzer Tageblatt. Ausgabe Rheinschiene vom 9. November 2018; Ernst Marthaler: Die ehemalige jüdische Gemeinde in Leimersheim, in: Leimersheim. Die Geschichte eines pfälzischen Dorfes am Rhein. 778–2003, hg. von der Ortsgemeinde Leimersheim, Leimersheim 2002, S. 343–356. 3 Homepage des Leo Baeck Instituts: https://www.lbi.org/. Das Kriegstagebuch findet sich zusammen mit weiteren Dokumenten zum Download online unter http://archive.org/details/ margaretstraussb01berm/page/n79/mode/1up?view=theater, letztmals eingesehen am 9.10. 2022. Vgl. Hilde Schmidt-Häbel: Die Familie des Dr. Karl Strauß. Lehrerschicksal im 3. Reich, in: Vorbei – Nie ist es vorbei. Beiträge zur Geschichte der Juden in Neustadt an der Weinstraße, Band 13, hg. von Paul Habermehl und Hilde Schmidt-Häbel, Neustadt an der Weinstraße 2005, S. 197–203; Eberhard Dittus: Jüdisches Neustadt an der Weinstraße. Einladung zu einem Rundgang, Haigerloch 2009, S. 29 f. 4 Vgl. Roland Paul: Die jüdische Gemeinde Steinbach am Glan vom 18. Jahrhundert bis zu ihrem Ende in der NS-Zeit, in: 1355–2005. 650 Jahre Steinbach am Glan. Eine Ortschronik, hg. von der Ortsgemeinde Steinbach, Steinbach am Glan 2005, S. 159–173; Hubert Diwo: Familienbuch der 163
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Ort gehörte im 19. Jahrhundert zum Bezirksamt Homburg und zum Königreich Bayern.5 Als Aron Weiler geboren wurde, begann in der kleinen Landgemeinde bereits der über Jahrzehnte anhaltende Wegzug der überwiegend vom Handel lebenden jüdischen Gemeindemitglieder. Die schlechte Infrastruktur und Verkehrsanbindung und der nicht im selben Tempo mit der jüdischen Bevölkerung gewachsene Absatzmarkt von Handelsprodukten im ärmeren Westrich dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass viele in größere Städte zogen oder nach Amerika auswanderten, um „ein besseres Leben führen zu können“. Infolge dieser Landflucht sank die Anzahl jüdischer Bürger in Steinbach bis 1907 auf 82.
Abb. 1: Aron Weiler: Der Vieh- und Pferdehändler (im Vordergrund) mit Ehefrau Klara, deren Schwester Isabella/Bella Behr, Nichte Amalia/Alma Behr und einquartierten Soldaten um 1919/20, v.l.n.r. im Hintergrund [Privatarchiv Margaret und Eve Berman]
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ früheren jüdischen Gemeinde Steinbach am Glan. Unveröffentlichtes Manuskript o. J.; https:// www.alemannia-judaica.de/steinbach_glan_synagoge.htm, letztmals eingesehen am 3.10.2022. 5 Vgl. Martin Baus/Bernhard Becker/Jutta Schwan (Hg.): Bayern an der Blies. 100 Jahre bayerische Saarpfalz (1816–1919), St. Ingbert 2019. 164
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Die beiden Brüder von Aron Weiler, Albert und Oscar, wanderten 1875 bzw. 1887 in die USA aus. Beide lebten im St. Louis County, Missouri, wo Albert 1932 und Oskar 1958 starb. Die ältere Schwester Adelheid heiratete 1880 in GlanMünchweiler Nathan Weis und verließ damit Steinbach. 1920 wohnte sie, bereits verwitwet, in Kaiserslautern. Als Aron Weiler mit 21 Jahren nach damaliger Rechtslage volljährig wurde, lebte außer ihm nur noch die jüngste, 1880 geborene Schwester Alwina mit im Elternhaus in Steinbach. Sie heiratete 1900 in Bruchsal Heinrich Odenheimer, von dem sie in Bruchsal zwei Söhne bekam. Die seit 1933 verwitwete Alwina emigrierte infolge der nationalsozialistischen Judenverfolgung 1937 in die USA, wo sie 1939 in Chicago starb.
Abb. 2: Haus in Steinbach, Hauptstraße 86, in dem Aron Weiler bis 1913 wohnte [Privatarchiv Leslie Haas Koelsch]
Aron Weiler blieb als Einziger der fünf Geschwister in Steinbach und führte die Geschäfte seines Vaters fort, der 1889 starb. Er wurde Viehhändler, so wie die 165
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Hälfte aller jüdischen Familienväter in Steinbach Mitte des 19. Jahrhunderts. Bald war Aron Weiler einer der erfolgreichsten unter den ortsansässigen Händlern. Er gehörte dem Gemeinderat an und im Jahr 1902 zu den drei wohlhabendsten Juden in Steinbach. Dies ist dem Beitrag zum Gehalt des SynagogenVorbeters zu entnehmen, der sich am Vermögen der israelitischen Gemeindemitglieder orientierte. Der Aktionsradius des Vieh- und Pferdehändlers war schon vor dem Ersten Weltkrieg so groß, dass er selbst bis in die Hauptstadt des Königreichs Bayern, nach München, reisen musste. So entstand die Notwendigkeit, aus Steinbach in die nahegelegene Bezirksstadt Homburg mit Bahnanschluss umzuziehen. Außerdem dürfte ihm das Haus in der Hauptstraße 86 in Steinbach, wo er laut Adressbuch für die Westpfalz 1911 noch wohnte, zu klein geworden sein, weshalb er es an die mit ihm verwandte Familie Löb verkaufte. Am 14. November 1912 stellte Aron Weiler in Homburg ein Baugesuch. In dem entsprechenden Stadtratsprotokoll heißt es: „Genannter hat die Absicht auf dem Grundstücke neben dem Hotel Bach einen
Wohnhaus-Neubau zu errichten. Weiler wurde zufolge Regierungsentschließung vom 29. Oktober 1912 von der Vorschrift im § 1 Abs. III der Bauordnung unter der Bedingung dispensiert, daß er sich der Stadt gegenüber in rechtsverbindlicher Weise verpflichtet, das Gebäude zwischen dem Hotel Bach und seinen Neubauten in einer Breite von 10 Metern und auf die Länge seines Bauplatzes kostenlos an die Stadt abzutreten, falls dort im Generalbaulinienplan eine Straße vorgesehen wird und das Gebäude auf erste Anforderung zum Straßenbau freizugeben. Herr Bürgermeister Cappel oder dessen Stellvertreter wird ermächtigt, mit Weiler im vorstehenden Sinne notariellen Vertrag abzuschließen.“6
Es war Aron Weiler also sehr wichtig, in Bahnhofsnähe bauen zu können und nicht in einem anderen Baugebiet des Stadterweiterungsplans von 1913. Da war er sogar zu dem im Stadtratsprotokoll genannten Risiko bereit. Sicherlich war der Bauplatz nicht für jedermann erschwinglich. Im Mai 1913 war das stattliche Wohnhaus in der Eisenbahnstraße 42 mit Scheune, Stall, Wagenremise und Waschküche nebst Hof fertiggestellt, sodass das Ehepaar Weiler am 1. Mai 1913 einziehen konnte.7 Nahezu zeitgleich zog Klaras Nichte Amalie/Alma von Leimersheim zu ihnen und wurde von ihrer ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 6 Stadtarchiv Homburg, Stadtratsprotokolle 1912. 7 Das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. 166
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kinderlos gebliebenen Tante und ihrem Onkel als „Pflegekind“ aufgenommen, wie es in der Einwohnermeldekartei der Stadt Homburg heißt.8
Abb. 3: Stadterweiterungsplan von Homburg von 1913 mit Aron Weilers Anwesen zwischen Bahnhof (oben) und kgl.-bayr. Forstamt (unten) [Stadtarchiv Homburg]
Diese drei Personen lebten also zusammen, als der Erste Weltkrieg ausbrach und im Januar 1917 das „Kriegstagebuch A. Weiler“ begonnen wurde. Isabella/ Bella Behr, die jüngste und ledige Schwester von Klara, wohnte bereits Anfang 1917 bei den Weilers in Homburg, zog endgültig und offiziell jedoch erst im Dezember 19239 zu ihrer Schwester, nachdem Aron Weiler am 25. Dezember 1922 plötzlich und unerwartet starb. Noch zwei Jahre zuvor hatte er für den ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 8 Stadtarchiv Homburg, Einwohnermeldekartei. 9 Ebda. 167
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Homburger Stadtrat kandidiert, allerdings erfolglos. Ab Januar 1924 wohnte Hedwig Behr aus Leimersheim, eine andere Nichte Klara Behrs, für eine nicht genau bekannte Zeit mit im Haushalt.
Abb. 4 (o.): Hauptbahnhof Homburg 1938: links von der Straßenkurve am linken Bildrand befand sich das Hotel Bach [Stadtarchiv Homburg] Abb. 5 (u.l.): Hotel Bach in den 1930er Jahren – Das Hotel in direkter Nachbarschaft zum Bahnhof gelegen, genoss einen ausgezeichneten Ruf. Es wurde nach dem Kriege abgerissen. Links neben dem Hotel, hinter dem blühenden Baum, war Aron Weilers Wohnhaus [Stadtarchiv Homburg] und Abb. 6 (u. r.): Bahnhofsvorplatz von Homburg in den 1930er Jahren: am rechten Rand das Haus von Aron Weiler, links daneben das Forstamt [Stadtarchiv Homburg]
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Das den Homburger Weilers verwehrte Familienglück – die 1892 geschlossene Ehe blieb kinderlos, Geschwister zogen nach Übersee – wurde offensichtlich durch enge Kontakte zur Leimersheimer Familie von Klara Weiler, geborene Behr, zum Teil kompensiert.
Abb. 7: Aron Weilers Haus in Homburg: zwischen dem kgl.-bayerischen Forstamt (links) und dem Hotel Bach (rechter Bildrand) [Stadtarchiv Homburg]
Wie es damals bei den vielen kleinen Landjudengemeinden üblich war, wurde wohl auch die Ehe von Aron Weiler mit der aus der Vorderpfalz stammenden Klara Behr über Heiratsvermittler oder die schon bestehenden überregionalen familiären Verbindungen arrangiert. Möglicherweise spielten dabei auch berufliche Kontakte zwischen den jüdischen Händlern eine Rolle. Aron Weilers Frau Klara Behr kam am 20. Januar 1867 in Leimersheim als siebtes von acht Kindern der Eheleute Joseph Behr III und Helena, geborene Weil, zur Welt. In dem am Rhein zwischen Karlsruhe und Speyer gelegenen kleinen Ort Leimersheim lebten 1870 genau 109 Juden, knapp acht Prozent der Einwohner. In den folgenden Jahren ging auch hier der jüdische Bevölkerungsteil stetig zurück bis auf 42 im Jahr 1910 und 28 im Jahr 1925, 1,8 Prozent der Einwohner. Dies erklärte der Gemeinderat von Leimersheim bereits 169
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Abb. 8: Alma, Klara, Isabella und Hedwig Behr um 1920, v.l.n.r. [Privatarchiv Hilary Lipka, Enkelin von Hedwig]
1890 damit, „daß die israelitischen Handelsleute seit mehreren Jahren häufig nach den Städten verziehen, während dem ein Zuzug in die kleinen Gemeinden und namentlich dahin, wo nicht günstige Verkehrsverhältnisse vorhanden sind, ein seltener Fall ist“.10 Der Vater von Klara war – wie auch die Weilers aus Steinbach – Handelsmann. Er handelte aber vorwiegend mit Lumpen, weshalb sein Beruf auch mit „Lumpensammler“ angegeben wurde. Bis auf das jüngste Kind Isabella (1869–1936) heirateten alle Kinder von Joseph (1818– 1862) und Helena Behr (1830–1902). Und bis auf Klara und Isabella bekamen sie alle auch Kinder.11
Abb. 9 (l.): Todes-Anzeige von Aron Weiler von 1922. Erwähnt werden die Wohnorte der Geschwister: Es lebten in Kaiserslautern die verwitwete Schwester Adelheid, in Bruchsal Schwester Alwina mit Familie und in Nordamerika die beiden Brüder Albert und Oskar (Westricher Tageblatt vom 28. Dezember 1922); Abb. 10 (r.): Grab von Aron Weiler auf dem jüdischen Friedhof in Homburg [Foto: Helmut Sittinger]
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 10 Gemeindearchiv Leimersheim, Gemeinderatsprotokolle. 11 Verbandsgemeinde Rülzheim, Zivilstandsakten Leimersheim; Gemeindearchiv Leimersheim. 170
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Klara und ihre bei ihr wohnende jüngste und ledig gebliebene Schwester Isabella meldeten sich am 8. Oktober 1934 in Sarreguemines (Saargemünd), Rue de la Montagne an.12 Zuvor musste Klara ihr stattliches Anwesen „als Jüdin unter dem Zwang der damaligen Verhältnisse [...] verkaufen. Unter normalen Verhältnissen hätte sie niemals daran gedacht diese Übertragung vorzunehmen, ebensowenig wie sie sich je zur Auswanderung entschlossen hätte. Kurz nach dem Verkauf ist sie emigriert. Der Kaufpreis war keineswegs angemessen. Er betrug 200 000,– Franken für dieses Anwesen, dessen realer Wert sich damals auf mindestens 500 000,– Franken belief.“13
Dies stellten in der Klage vor dem Landgericht Saarbrücken vom 9. September 1949 die sechs Erben fest: Fred Odenheimer, Saargemünd; Alma Simon geborene Behr, New York; Paula Herrmann geborene Süßel, New York; Erna Weinberger geborene Behr und Dr. Sigmund Weinberger, New York sowie Adolf Weinberger, London. Die Adresse von Klaras Neffe Fred Odenheimer legt nahe, dass diese und ihre Schwester 1935 zu den bereits nach Saargemünd emigrierten Verwandten flohen. Klara Weiler starb noch vor den Novemberpogromen am 24. September 1938 in Luxemburg und wurde auf dem Jüdischen Friedhof von Sarreguemines bestattet. An ihrer Beerdigung nahmen die Eltern von Margaret Berman teil, worüber sie in erhalten gebliebenen Briefen an ihre Tochter berichteten. Darin ist auch zu lesen, dass man nach der Beerdigung die damals im luxemburgischen Ehner lebenden Karl und Paula Herrmann besuchte. Isabella Behr starb am 21. August 1936 in Sarreguemines (Saargemünd). Deklarantin war ihre Nichte Paula Herrmann, geborene Süssel, Tochter von Rosa Antonia Behr, Schwester von Isabella und Klara Behr. Paula war mit ihrem Mann Karl Herrmann 1936 nach Ehner emigriert. Im Sterbeeintrag heißt es, dass Paula Herrmann in „Ehnerhof commune de Saeul (Luxemburg)“ wohnte. Ihre Schwägerin Alwine Odenheimer, die jüngste Schwester von Aron Weiler, konnte noch rechtzeitig in die USA emigrieren.14
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 12 Auskun des Leiters des Stadtarchivs Saargemünd, Didier Hemmert (†), vom 5. Dezember 2019. 13 Landesarchiv Saarbrücken, LG.SB 1799, Restitutionsklage wegen eines Hausgrundstücks in Homburg, Bexbacher Straße 49. 14 Dieter Blinn: Juden in Homburg. Geschichte einer jüdischen Lebenswelt 1330–1945, Homburg 1993. Mitteilungen von Margaret und Eve Berman. Vgl. Michael Lintz: Geschichte der Juden im Saarpfalz-Kreis, in: Saarpfalz-Sonderheft 1989. 171
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Abb. 11 (l.): Amalia/Alma Behr vor dem Anwesen ihres Onkels Aron Weiler in Homburg [Privatarchiv Margaret und Eve Berman] und Abb. 12 (r.): Alma Behr, Autorin des „Kriegstagebuchs A. Weiler“ [Privatarchiv Margaret und Eve Berman]
Die am 12. Oktober 1900 in Leimersheim geborene Nichte der Weilers, Amalia/Alma Behr, die seit 1913 bei ihre Tante Klara Weiler in Homburg als „Pflegekind“ wohnte und dort das „Kriegstagebuch A. Weiler“ schrieb, heiratete am 25. Februar 1925 in ihrem Heimatort Leimersheim den in Neunkirchen tätigen Kaufmann (Tabakwarengroßhandel) Jakob Simon, geboren am 5. Juli 1894 in Seligenstadt. Er war am 15. Oktober 1919 von Darmstadt nach Neunkirchen, Wellesweilerstraße 68, zugezogen. Die Geschäftsaufgabe erfolgte am 22. November 1935. Die Eheleute, die zuletzt in Neunkirchen, Hospitalstraße 2, gewohnt hatten, emigrierten am 13. Februar 1936 nach New York. Sie konnten sich auf das „Römische Abkommen“ beziehen, das vor der Rückgliederung des Saargebiets an das Deutsche Reich auf Veranlassung und Druck Abb. 13: Alma und Jakob Simon vor ihrem Restaurant, frühe internationaler jüdischer Organisationen vom Fünfzigerjahre [Privatarchiv Völkerbund mit der Reichsregierung am 3. DeMargaret und Eve Berman] 172
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zember 1934 unterzeichnet wurde. In diesem Abkommen wurde für Saarländer eine einjährige Schutzfrist festgelegt, innerhalb derer sie ungehindert auswandern konnten. Am 1. April 1936 endete diese Schutzfrist. Amalia Simon starb 1987 kinderlos in Forest Hills Queens, NY.15 Warum Amalia mit 13 Jahren von ihren Eltern, die erst 1927 bzw. 1932 starben, an die Tante in Homburg gegeben wurde, ist nicht bekannt. Sie pflegte jedoch die Kontakte nach Leimersheim bis zuletzt, was auch ihren späteren Erinnerungen zu entnehmen ist. Und mit ihren Leimersheimer Verwandten, von denen mehrere Mitglieder im Krieger- und Militärverein waren, teilte sie die im Kriegstagebuch wiedergegebene patriotische Gesinnung. Am 30. März 1984 teilte Alma Simon Helmut Sittinger brieflich Folgendes über die Leimersheimer Juden mit: „[...] Die jüdische Gemeinde war liberal: es waren einfache Menschen, Mittelklasse; jeder besass sein eigenes Haus, hatte etwas Land, das zum Teil selbst bebaut oder verpachtet wurde. Mein Vater gab Seder an Pesach16 und wir hatten eine Suckah,17 die als Erntedankfest mit Früchten und Laub geschmückt war. Ungefähr um 1910 oder 1911 oder 1912 wurde die Synagoge renoviert; wir Schulkinder halfen die Leuchter und sonstigen Geräte polieren und zur Einweihung war der Bürgermeister Emmerling und der Gemeinderat eingeladen und wohnte dem Gottesdienst bei.18 Das Verhältnis mit der katholischen Bevölkerung war normal. An der Kirchweihe tanzten wir wie alle jungen Leute in den verschiedenen Wirtschaften. [...]“
Zu den Novemberpogromen in Leimersheim äußerte sich Alma Simon in einem Brief an Helmut Sittinger vom 21. Januar 1984 entsetzt: „[...] Es ist mir unmöglich, meine Gefühle zu beschreiben. Ich kann kaum glauben, dass die Leimersheimer, mit denen unsere Familien in Frieden und Harmonie lebten und wo Kinder für einige Zeit die katholische Schule besuchten, ein solches Verbrechen als Schauspiel ansehen konnten.“
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 15 Landesarchiv Saarbrücken, LEA 9490, Entschädigungsakte Alma Simon geborene Behr. Mitteilungen der Verwandten des Ehepaares Simon, insbesondere von Margaret Berman und Tochter Eve. 16 Seder: Bezeichnung für die sechs Hauptabteilungen von Talmud und Mischna. In der Regel wird der Begriff als Kurzbezeichnung für den Sederabend des jüdischen Pessachfestes verwendet. Das Pessachfest erinnert an den Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. 17 Sukka: deutsch Laubhütte. Biblische Bezeichnung für eine aus Ästen, Zweigen, Laub, Stroh erstellte Hütte. Religiöse Juden errichteten jährlich eine Sukka für das Laubhüttenfest. 18 Vgl. „... und dies ist die Pforte des Himmels“. Synagogen Rheinland-Pfalz – Saarland. Bearbeitet von Stefan Fischbach und Ingrid Westerhoff, Schriftleitung Joachim Glatz und Meier Schwarz, hg. vom Landesamt für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz mit dem Staatlichen Konservatoramt des Saarlandes und dem Synagogue Memorial Jerusalem, Mainz 2005, S. 233 f.: Leimersheim. 173
Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger
Die im Kriegstagebuch A. Weiler erwähnten Orte und Angehörigen von Klara Weiler, geborene Behr, (Schwestern, Nichten und Neffen) werden in der folgenden Übersicht durch Fettdruck hervorgehoben:
Kinder von Joseph Behr III (1818–1862) und Helene Behr geborene Weil (1830–1902), alle in Leimersheim geboren, und im Jahre 1917 noch lebende Enkel 1.
Bertha Behr *20.06.1852 in Leimersheim 30.10.1920 in Leimersheim 25.02.1876 in Schriesheim Benjamin Weinberger, Kaufmann in Schriesheim *05.02.1846 in Schriesheim 18.12.1923 in Schriesheim 1.1 Sigmund Weinberger, Arzt *02.03.1878 in Schriesheim 13.12.1968 in Jackson Heights, Queens, N.Y. nahm am Ersten Weltkrieg teil, emigrierte 1937 in die USA, heiratete als Witwer die ebenfalls verwitwete Ernestine/Erna Katz geborene Behr 1.2 Adolph Weinberger *21.03.1880 in Schriesheim, 1966 in Großbritannien wohnte mit Ehefrau und Tochter in Frankfurt am Main, emigrierte nach Großbritannien.
2.
Johanna Behr *11.08.1854 in Leimersheim 07.10.1921 in Mutterstadt ⚭ 02.12.1880 in Leimersheim Adolph Dellheim, Handelsmann in Mutterstadt *11.06.1854 in Mutterstadt 12.12.1924 in Mutterstadt Die zehnköpfige Familie findet im Kriegstagebuch keine Erwähnung. Es sind jedoch Verbindungen ins Saarland nachweisbar. Die drittälteste Tochter Karoline heiratete 1909 Adolf Heimann in Neunkirchen.
3.
Rosa Antonia Behr *05.04.1857 in Leimersheim 23.10.1913 in Oberhausen ⚭12.07.1883 in Speyer Sigmund Süßel, Kaufmann in Speyer und Oberhausen *07.07.1857 in Oberhausen 12.07.1900 in Speyer
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr 3.2 Paula Süßel *03.12.1887 in Speyer 1965 in den USA ⚭ 1911 Karl Herrmann *30.01.1882 in Greimerath 1945 in Harrington Park, New Jersey Paula und Karl Herrmann wohnten in Oberhausen und bekamen dort zwei Kinder, am 30.11.1912 ihre Tochter Liesel. Die Familie, incl. Sohn Fritz, *13.09.1920, emigrierte 1936 nach Ehner in Luxemburg und von dort 1938 in die USA. 3.3 Julius Süßel *26.07.1890 in Oberhausen 23.03.1943 in Luxemburg Geistig behindert, lebte in einer betreuten Einrichtung. 4.
Adolph Behr, Kaufmann *19.08.1859 in Leimersheim 10.01.1927 in Leimersheim ⚭ 24.05.1888 in Alsheim Friederike Reiss *30.08.1858 in Alsheim 07.05.1932 in Leimersheim 4.2 Isidor Behr, Kaufmann *06.05.1894 in Leimersheim September 1942 in Chełmno [für tot erklärt] ⚭ 08.06.1925 in Leimersheim Ernestine Eva Herrmann *21.07.1897 in Greimerath September 1942 Chełmno [für tot erklärt] Das Ehepaar lebte nach seiner Ausweisung aus der Rheinpfalz im November 1938 mit seinen drei Kindern Margot, *29.05.1928 in Karlsruhe, Walter, *01.09.1930 in Leimersheim, und Gerson, *01.11.1940 in Köln, bis zu seiner Deportation am 30.10.1941 in Köln. Dort musste Isidor beim Rheinbau arbeiten. Sie kamen zunächst ins Ghetto Litzmannstadt/Łódź und wurden im KZ Chełmno ermordet. 4.3 Alma Behr *12.10.1900 in Leimersheim 1987 in Forest Hills Queens, N.Y. ⚭ 25.05.1925 Leimersheim Jakob Simon, Kaufmann in Neunkirchen/Saar *05.07.1894 in Seligenstadt 1968 in Forest Hills Queens, N.Y. Das Ehepaar emigrierte 1936 in die USA, wo Alma verwitwet und kinderlos in Queens, N.Y. lebte.
5.
Moses Behr, Handelsmann *03.01.1862 in Leimersheim 20.06.1936 in Leimersheim ⚭ 26.01.1904 in Leimersheim
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Laura Behr *07.09.1905 in Leimersheim 07.03.1940 in Regensburg 5.2 Hedwig Behr *03.02.1905 Leimersheim 18.10.1966 in Hartfort, Connecticut ⚭ 17.03.1932 in Leimersheim Herbert Julius Baer, Rechtsanwalt *28.07.1903 in Untergrombach 10. August 1983 in Queens, N.Y. Ab Januar 1924 wohnte Hedwig Behr für eine unbekannte Zeit bei ihrer Tante Klara Weiler in Homburg. Das Ehepaar emigrierte mit Tochter Leonore/Lorle, *30.09.1935 in Leimersheim, 1941 in die USA. Lorle, die Mutter von Hilary Lipka, starb am 30. September 2015 in der Bronx, N.Y. 6.
Aron Behr, Kaufmann *30.04.1864 in Leimersheim 08.01.1913 in Leimersheim ⚭ 22.06.1893 in Pfeddersheim Elisabeth Hesselberger *11.05.1865 in Pfeddersheim 20.02.1927 in Leimersheim 6.2 Florentine/Flora Behr *16.02.1895 in Leimersheim September 1942 Auschwitz ⚭ 16.02.1921 in Leimersheim Dr. Karl Albert Strauß, Studienrat, Vorstand der Jüdischen Gemeinde Bad Dürkheim und der Jüdischen Gemeinde der Pfalz *16.07.1883 in Bad Dürkheim September 1942 Auschwitz Eltern der 1922 in Speyer geborenen Margaret Berman geborene Strauß 6.3 Erna Behr *27.11.1899 in Leimersheim 15.10.1991 in den USA II⚭ nach 1938 in New York Sigmund Weinberger
7.
Klara Behr *20.01.1867 in Leimersheim 24.09.1938 in Sarreguemines/Saargemünd19 ⚭ 24.06.1892 in Leimersheim Aron Weiler, Vieh- und Pferdehändler *26.07.1866 Steinbach am Glan 25.12.1922 in Homburg/Saar
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 19 Jean-Pierre Bernard: Les cimetières israélites de Moselle. Relevés des tombes, Band 2: De Metzervisse à Waldwisse, Paris 2001. 176
Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr 8.
Isabella/Bella Behr, ohne Gewerbe, ledig *17.07.1869 in Leimersheim 21.08.1936 in Sarreguemines/Saargemünd wohnte bei Klara Weiler in Homburg
Die bisher genannten familiengeschichtlichen Hintergründe ermöglichen ein besseres Verständnis des Kriegstagebuchs mit den Erwähnungen mehrerer Angehöriger von Klara und Alma Behr. Eine besondere Beachtung bekam im Tagebuch Almas einziger Bruder Isidor.
Isidor Behr, Bruder der Tagebuchschreiberin Alma Der 1,68 m große, schlanke, dunkelblonde Isidor Behr wurde mit knapp 21 Jahren im Sommer 1915 zum 18. Infanterie-Regiment in Landau eingezogen und kämpfte von Oktober 1915 bis März 1918 an der Westfront. Am 3. Mai 1916 erlitt er im Hohenzollernwerk bei La Bassée durch eine englische Granate schwere Verletzungen an Rücken, Hüfte und Bein. Nach längeren Lazarettaufenthalten wurde er im Februar 1917 zur Bayerischen Fliegerabteilung in Schleißheim bei München versetzt und zum Funker ausgebildet. Von November 1917 bis März 1918 nahm er an Stellungskämpfen bei Reims und in der Champagne teil. Anschließend verweilte er bis zu seiner Entlassung nach Leimersheim erneut in verschiedenen Lazaretten, zuletzt in Meißen.20 Als Kriegsveteran und deutscher Patriot war Isidor Behr 1926 ordentliches Mitglied des Krieger– und Militärvereins Leimersheim. 1925 heiratete er Ernestine Eva HerrAbb. 14: Alma mit Ehemann Jakob Simon, Kaufmann in mann aus Greimerath. Das Paar bekam drei Kinder. Neunkirchen [Privatarchiv Bis zu seiner Verhaftung am 10. November 1938 Margaret und Eve Berman] führte Isidor Behr mit Erfolg das von seinem 1927 verstorbenen Vater übernommene Textilwarengeschäft in Leimersheim und betrieb Reisegeschäfte. Isidor Behr kam als so genannter Schutzhäftling ins KZ ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 20 Kriegsranglisten und -stammlisten des Königreichs Bayern, Erster Weltkrieg. 177
Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger
Dachau. Die Familie musste die Pfalz verlassen und zog nach Köln. Als nach wie vor deutscher Patriot und Teilnehmer am Ersten Weltkrieg wollte er nicht wahrhaben, was den deutschen Juden passierte und noch drohte, weshalb er nicht an Emigration dachte. Am 30. Oktober 1941 wurde die gesamte Familie von Köln nach Litzmannstadt/Łódź deportiert und im Vernichtungslager Chełmno ermordet.21 Im Kriegstagebuch von Isidors Schwester Alma lesen wir schon auf den ersten Seiten, wie diese sich um ihren Bruder Sorgen machte und dabei auch kritisch zu militärischen Entscheidungen Stellung nahm: Sonntag, 4. Februar 1917 „[...] Diese Woche haben sie Isidor wieder k. v. [kriegsverwendungsfähig] gemacht. Es ist doch nicht recht, kranke Leute wieder felddienstfähig zu machen.“ Einen Zusammenhang sah sie dabei mit einem „baldigen Angriff von seiten der Verbündeten, sodaß bei uns große Rüstungen vorgenommen werden und große ärztliche Untersuchungen stattfinden“. (10. Februar 1917).
Alma ist auch in der Folgezeit über den Aufenthalt ihres Bruders informiert und offensichtlich entlastet zu hören, dass er „nach Schleißheim bei München zu der Funkerschule bei der Fliegerabteilung gekommen [ist]. Wie es scheint, gefällt es ihm dort gut.“ (25. Februar 1917). Doch auch hier gibt es unter anderem aufgrund der vielen, im Tagebuch mehrfach erwähnten Zugunglücke Grund für „schreckliche Angst“, so bei dem schweren Eisenbahnunglück vom 18. April 1917 bei Augsburg, über das im Tagebuch am 21. April 1917 ausführlich berichtet wird: „Es kostete 23 Tote, 61 Verwundete. Wir standen am Freitag schreckliche Angst aus, da wir Isidor in dem D-Zug wußten und noch keinerlei Lebenszeichen von ihm hatten. Abends meldeten uns dann die Leimersheimer seine glückliche Ankunft in München, wir waren alle wie erlöst. Es ist ein wahres Wunder, daß er gut davon kam, da besonders der Militärwagen stark gelitten hatte. Auch bei Schweinfurt ist gestern ein Zug entgleist. Die vielen Eisenbahnunglücke in letzter Zeit sind auf den Mangel an geschultem Personal zurückzuführen.“
Zwischen Isidors Rückkehr „ins Feld“ (25. November 1917) und einer weiteren Verwundung mit erforderlichen Lazarettaufenthalten (14. April 1918) hatte seine Tagebuch schreibende Schwester entweder keine Informationen über ihn, ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 21 Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution, 2.2.2.2 / 76703137; 0.1 / 62303587; 0.1 / 14593106; Gemeindearchiv Leimersheim. 178
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oder sie war während seiner Zeit an der Front gegen Ende des Krieges emotional abgehärtet. Zumindest finden sich keine weiteren Einträge über ihn im Kriegstagebuch.
Abb. 15: Isidor Behr mit seiner Cousine Hedwig Behr in Leimersheim [Privatarchiv Sittinger]
Onkel Aron und Tante Klara Weiler, „Pflegeeltern“ der Tagebuchschreiberin Dem im Hause von Aron Weiler geschriebenen Kriegstagebuch sind der Wohlstand und die gesellschaftlich gehobene Position des geschäftlich bis nach München aktiven Pferdehändlers zu entnehmen (21. Januar 1917), den man deshalb auch in die Enteignungskommission wählte (29. April 1917). Auch finden sich zahlreiche Hinweise darauf, welche Bedeutung das Ehepaar der Pflege der verwandtschaftlichen Beziehungen beimaß. Immer wieder bekommt es Besuch von Angehörigen – Flora und Erna Behr von Leimersheim (29. Mai 1917), Siegmund Weinberger mit seiner ersten Ehefrau (2. Januar 1918), Karl Herrmann mit Ehefrau Paula und Tochter Liesel von Oberhausen (21. April 1918) – oder besucht solche (14. April 1918). Auch setzt man sich selbst für ferne Angehörige ein: „29. Juli 1919 [...] Emil ist auf unser Gesuch hin bis zum 15. Spt. zurückgestellt worden.“ Trotz Krieg vergisst das Ehepaar Weiler nicht mit den Verwandten seine Silberne Hochzeit zu feiern (8. Juli 1917). Es beteiligt sich bei allerlei Hilfeleistungen, wie zum Beispiel in Form von Kleiderspenden (16. Juni 1918) oder Mitwirkung bei der Abgabe von Milch im Lazarett (8. Juli 1917). Erholung in Bad Herrenalb und die Überreichung des Ludwigskreuzes waren sicherlich Ausdruck größeren Engagements von Tante Klara Weiler (20. August 1917, 3. September 1917, 14. Oktober 1917).
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Dass der Handel mit Vieh im Laufe des Krieges kein größeres Geschäft mehr war, lesen wir im Tagebucheintrag vom 9. Dezember 1917: „Onkel hat diese Woche für 2 Geisen 326 M bekommen.22 Das ist doch fast unglaublich.“ Aron Weiler hilft auch mit körperlichem Einsatz, wie dem Tagebucheintrag vom 13. Januar 1918 zu entnehmen ist: „In der Nacht vom 7. auf 8. Januar hat sich bei Bruchmühlbach ein schreckliches Eisenbahnunglück zugetragen. [...] Onkel eilte mit Verwalter Müller sofort an die Unglücksstelle, wo er tüchtig mithalf, die Toten und Verwundeten aus den Trümmern hervorzuschaffen.“
Aufgrund der Nachbarschaft zum Homburger Bahnhof bekommt das Ehepaar Weiler besonders intensiv mit, wie sich die kriegerischen Ereignisse entwickeln: „17. Februar 1918 [...] Im Westen bereitet sich irgend was großes vor; täglich gehen zahlreiche Transporte nach dorten hier durch. Gestern abend sahen Tante und Onkel an der Bahn die ersten Gefangenen Amerikaner, die an der Westfront gefangen wurden. [...] 1. Juli 1918. Verflossene Nacht wurden wir um 1 h. durch einen heftigen Krach, der alles erzittern machte, geweckt, gleich darauf folgte ein zweiter und dann krachten die Schreckschüsse: Fliegeralarm. Die 2 ersten waren schon Bombeneinschlag. Sofort flüchteten wir, ebenso Verwalters in den Keller, wo wir blieben, bis die Sirene heulte, ein Zeichen, daß die Gefahr überstanden ist. Von Arbeitern erfuhren wir, daß in den Bahnhof Bomben eingeschlagen hätten. Etwa um ¾ 2 h. gingen Herr Müller, Onkel und ich zur Unglücksstelle. Auf dem Wege zum Bahnhof lagen unendlich viele Glassplitter; am Hohlbach hatte es eine Menge Scheiben gekostet. Am Bahnhof war eine Bombe auf dem ersten Bahnsteig, seitlich rechts vom Stationsgebäude eingeschlagen und hatte in den weichen Boden ein großes trichterförmiges Loch gewühlt.“
Der Krieg endet bei der Familie Weiler mit Einquartierungen von Soldaten und bis zu acht Offizieren, für die zunächst von zwei Köchen in der Küche von Klara Weiler gekocht wurde. Nach dem Abzug derselben stand Klara selbst für den Stadtkommandanten und dessen Adjutanten und Ordonnanz am Herd. Offensichtlich wurde das stattliche Haus insbesondere von militärischem ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 22 Ziegen/Geißen wurden im Ersten Weltkrieg als „die Kuh des kleinen Mannes“ bezeichnet. Offensichtlich musste sich auch der erfolgreiche Vieh- und Pferdehändler Aron Weiler mit solchen „Kühen“ begnügen. Die Ziegenpreise wiesen eine beträchtliche Spannweite auf: Laut Berliner Zeitung vom 11. Juni 1918 musste man für gute Tiere bis 300 Mark bezahlen, in Anzeigen wurden 230 bis 260 Mark, für eine Ziege mit halbjährigem Lamm 280 Mark verlangt (BZ vom 1. und 3. Oktober 1918), siehe https://blogs.sub.uni-hamburg.de/bergedorf/?p=5593, letztmals eingesehen am 3.10.2022. 180
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Führungspersonal ausgewählt, dessen Höflichkeit und Dankbarkeit dennoch nicht die erfahrenen Einschränkungen ausgleichen konnten. „Zwar können wir nicht klagen, die Einquartierung ist höflich und zuvorkommend, doch man ist ja nimmer sein eigener Herr. Zu Neujahr bekamen Tante und ich von unsern Offizieren je eine Tafel Schokolade. Der Bezirk Homburg ist einem Militärverwalter, Major Mennetrier, unterstellt, der bei uns ißt“ (8. Dezember 1918 und 5. Januar 1919).
Tante Bella und Tante Berta Neben Alma Behrs Tante Klara finden auch deren jüngste Schwester Bella Behr und die älteste Schwester Berta Weinberger, geborene Behr, im Kriegstagebuch Erwähnung. Tante Bella blieb ledig und kinderlos und lebte schon 1917 bei den Weilers in Homburg. Die älteste Schwester heiratete 1876 den Kaufmann Benjamin Weinberger. Nach zwei Totgeburten und dem frühen Tod des jüngsten Sohnes Anfang 1916 im Alter von 33 Jahren sorgte sich die Familie besonders um die beiden verbliebenen Söhne Sigmund und Adolph, die beide längere Zeit im Krieg waren. Insbesondere erwähnt sei ein Krankenbesuch von Bella bei Berta in Schriesheim im März 1917, der die bereits erwähnte familiäre Kontaktpflege und Unterstützung von Almas Tanten belegt (18. März 1917). Sigmund Weinberger, Cousin der Tagebuchschreiberin Sigmund Weinberger, ältester Sohn von Tante Berta, studierte in Heidelberg Medizin und arbeitete seit 1902 als Arzt (Internist). Er heiratete nach seiner Emigration in die USA, bei der seine erste Frau starb, seine verwitwete Cousine Erna Katz, geborene Behr.23 Der Kontakt zur Verwandtschaft in Homburg wurde selbst während und direkt zu Beginn eines Heimaturlaubs gesucht, wie ein Eintrag vom 2. Januar 1918 belegt: „Donnerstag und Freitag war Siegmund mit seiner Frau hier; er kam direkt aus dem Felde.“ Unterstützung wurde offensichtlich auch bei beruflichen Plänen nach Kriegsende bei Weilers angefragt: ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 23 Joachim Maier: Die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung und „Euthanasie“ aus Schriesheim. Ein Gedenkbuch, Ubstadt-Weiher/Neustadt a. d. W./Basel 2019. 181
Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger „Gestern hat Sigmund geschrieben, er würde sich gerne in Saarbrücken niederlassen, da die Vorgänge im Rechtsrheinischen jedweden Patriotismus töteten. Doch besteht augenblicklich keine Möglichkeit dazu, da selbst diejenigen, die vor dem 1. August 1914 nicht im Linksrheinischen wohnten, sondern erst während des Krieges zugezogen sind, ausgewiesen werden“ (4. Mai 1919).
Adolph Weinberger, Cousin der Tagebuchschreiberin Adolph Weinberger, Sigmunds jüngerer Bruder, arbeitete als Kaufmann in Frankfurt am Main bis zur Emigration nach Großbritannien, wo er 1966 starb.24 Er findet im Kriegstagebuch lediglich in einem Eintrag vom 10. Februar 1917 Erwähnung. Dort heißt es, dass er aufgrund eines erwarteten Angriffs zeitgleich mit Isidor Behr wieder kriegsverwendungsfähig gemacht wurde.
Karl Herrmann und Frau Paula, Tochter von Klaras drittältester Schwester Rosa Antonia Die seit 1900 verwitwete Rosa Antonia Süßel, geborene Behr, starb bereits 1913 in Oberhausen, wo ihre Tochter Paula auch nach ihrer Heirat mit Karl Herrmann im Jahr 1911 blieb. Karl Herrmann kämpfte im Ersten Weltkrieg bei der preußischen Armee in Russland, wo er zunächst als vermisst galt, bis seit Januar 1917 bekannt wurde, dass er in russischer Kriegsgefangenschaft war. Von dort kehrte er laut den deutschen Verlustlisten Anfang 1918 zurück. Die 1912 geborene Tochter Lieselotte/Liesel emigrierte bereits 1934 nach New York, gefolgt von ihrem Bruder Fred 1935 und den Eltern 1938. Karl starb 1945 und Paula 1965 in den USA. In Almas Kriegstagebuch sind an mehreren Stellen die Hoffnungen auf Freilassung des Ehemannes ihrer Cousine Paula aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft wiedergegeben: „23. Dezember 1917 [...] Aus Rußland kommen täglich neue für uns günstige Nachrichten. Die neue Regierung hat schon die Freilassung der Kriegsgefangenen angeordnet. Welch eine Nachricht für Paula!! [...]
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 24 Ebda. 182
Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr 10. Februar 1918 [...] Der Gefangenenaustausch wird wohl bald stattfinden, viele tausende unserer Gefangenen befinden sich ohne Überwachung auf dem Wege nach den westlicheren Gebieten. Wenn nur Karl auch darunter wäre!! [...] 5. März 1918. Mit Rußland ist Frieden! Am Sonntag abend 5 h. wurde er in Brest-Litowsk von den Delegierten unterzeichnet. Heute früh hat Paula telefoniert, Karl hätte ein Telegramm geschickt, daß er bereits auf deutschem Boden sei und zwar im Kriegslazarett. Gott sei Dank, daß er in Sicherheit ist. [...] 10. März 1918 [...] Von Karl haben wir noch nichts weiter gehört. [...] 17. März 1918 [...] Karl ist in Zegrze in Polen; er hofft bald heimzukommen. Seine Freude kann man sich denken.“ Abb. 16: Adolph (links) und Sigmund Weinberger Das Verhältnis zu Paulas Familie im Ersten Weltkrieg muss so eng gewesen sein, dass man [Privatarchiv Margaret und Eve Berman] sich nach der Rückkehr ihres Mannes aus der Kriegsgefangenschaft gleich gegenseitig besuchte (14. April 1918, 21. April 1918).
Flora und Erna Behr, Töchter Aron Behrs, Klara Weilers jüngstem Bruder Der Vater von Erna und Flora Behr, Aron Behr (1864–1913), warb in Leimersheim mit „Ältestes und größtes Manufaktur-, Kurz- und Wollwaren-Geschäft am Platze“. Seine Frau Elisabeth verlor 1913 ihre älteste Tochter Klara im Alter von 18 Jahren und starb selbst 1927. Erna Behr heiratete 1926 den Kaufmann Josef Katz, der 1932 kinderlos starb. Sie führte mit ihrer Cousine das Textilwarengeschäft in Leimersheim fort und emigrierte im August 1938 in die USA. Dort heiratete sie ihren verwitweten Cousin Sigmund Weinberger und starb 1991 kinderlos.
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Abb. 17: Gerettet: Erna Behr mit Sigmund Weinberger, ihrem zweiten Ehemann, und der Tochter von Hedwig Baer geb. Behr, Leonore/Lorle nach geglückter Emigration in New York [Privatarchiv Margaret und Eve Berman])
Florentine/Flora Behr heiratete 1921 den in Speyer bzw. Neustadt tätigen Studienrat Dr. Karl Albert Strauß. Die 1922 in Speyer geborene Tochter Margaret wurde rechtzeitig in die USA geschickt. Flora und ihr Mann wurden am 22. Oktober 1940 von Mannheim aus ins Internierungslager Gurs deportiert und 1942 in Auschwitz ermordet. Die heute 100-jährige und nach wie vor rüstige Margaret Berman, geborene Strauß, und ihre Tochter Eve haben einen Teil des Familienarchivs dem Leo Baeck Institut und einer Online-Datenbank zur Verfügung gestellt. Der Kontakt zur Verwandtschaft in Leimersheim wurde von der Tagebuchschreiberin stets gepflegt, was sie nicht nur im Tagebuch an mehreren Stellen festhielt. Ihre Cousinen Flora und Erna besuchten sie beispielsweise an Pfingsten 1917 in Homburg (29. Mai 1917).
Emil Behr Die Angaben im Kriegstagebuch und die genaue Kenntnis der Verwandtschaft der Tagebuchschreiberin lassen keine sichere Identifikation des erwähnten Emil Behr zu. Möglicherweise handelt es sich um den 1900 in Leimersheim geborenen Emil Behr (1900–1983), einen fernen Verwandten der gleichaltrigen Tagebuchschreiberin Alma Behr.25 Immerhin findet er fünf Mal in ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 25 Vgl. Florian Stark: „Mir geht es gut“ – Briefe aus Auschwitz entdeckt, in: Die Welt vom 2. März 2013. Monique Behr widmete ihrem Großvater im Jüdischen Museum Frankfurt am Main eine Ausstellung: „Emil Behr. Briefzeugenschaft vor – aus – Auschwitz“. Monique Behr/Jesko Bender (Hg.): Emil Behr. Briefzeugenschaft vor, aus, nach Auschwitz 1938–1959, Göttingen 2012; Kurt Grünberg/Friedrich Markert: Emil Behr. Briefzeugenschaft vor, aus, nach Auschwitz. Zum szenischen Erinnern der Shoah, in: Jan Lohl/ Angela Moré (Hg.): Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien, 184
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Almas Tagebuch Erwähnung dahingehend, dass er – unter anderem auf Gesuch von Aron und Klara Weiler – zurückgestellt wurde (4. März 1917, 21. April 1917, 29. Juli 1917, 23. September 1917, 25. November 1917).
Kriegstagebuch A. Weiler – Edition Homburg, 14. Januar 1917 Schon wieder ist die Hälfte des Januar vorüber und nichts Wesentliches hat die Sachlage verändert. In Rumänien liegt die letzte Festung, die unseren weiteren Vormarsch nach Rußland hindert, im Feuer unserer Artillerie. Die Franzosen planen im Westen eine große Frühjahrsoffensive. Auch wir bereiten uns tüchtig vor um fest standhalten zu können. Jeder glaubt, daß das Frühjahr große mörderische Schlachten bringen wird, die hoffentlich eine für uns günstige Entscheidung bringen. Täglich gehen große Truppenzüge durch, ebenso Proviant und Munition, teils nach Rumänien, teils nach Westen. Auch die älteren Jahrgänge werden eingezogen. Sogar sollen die Zuchthäuser geöffnet werden. Die Sträflinge, die früher nicht würdig genug waren, den Rock des Königs zu tragen, jetzt ist man froh mit ihnen. Als Kanonenfutter sind sie gut genug. – Seit einigen Tagen haben wir richtigen Winter. Es hat fest geschneit, doch bleibt der Schnee nicht liegen, da es zu warm ist. Die Lebensmittelnot steigert sich mit jedem Tag. Kartoffeln werden jetzt auch rar, was für den ärmeren Teil der Bevölkerung sehr hart ist. Sonntag, 21. Jan. 1917 Seit gestern abend ist Onkel in München. Von der Kriegslage gibt es nichts Neues zu melden. In den Vogesen finden heftige Artilleriekämpfe statt, wie uns der heftige Kanonendonner anzeigt. Überall fliegen Gerüchte umher, daß man die Franzosen hereinlassen will um sie dann tüchtiger durchklopfen zu können. Es hieß auch, daß Saarburg und Saarbrücken geräumt sei, was jedoch nicht wahr ist. Sonntag, 28. Jan. 1917 Noch immer sind keine besonderen Ereignisse eingetreten. Der gestrige Tagesbericht meldete von einem Sturmangriff auf einer Länge von 1600 m, der auf der Höhe 304 stattfand. Die Beute betrug 500 Gefangene und 14 Offiziere. Gestern, zu Ehren von Kaisers Geburtstag, war überall geflaggt, Gottesdienst und gestern abend fand eine patriotische Feier statt, die sehr besucht war. Jeder glaubt, daß uns große Ereignisse bevorstehen. Die vom Felde beurlaubten Soldaten sind alle wieder telegrafisch einberufen worden. Auch jeder Urlaub aus den Garnisonen ist eingestellt.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ Gießen 2014, S. 197–207; Monique Behr: Emil Behr (1900–1983). Ein Jude in Mannheim im unverrückbaren Glauben an das Gemeinwesen, in: Angela Borgstedt/Sibylle Thelen/Reinhold Weber (Hg.): Mut bewiesen. Widerstandsbiographien aus dem Südwesten, Stuttgart 2017, S. 291–299; dies.: „Schreib mir doch immer gleich ... ich brauche es nötiger wie das Brot. Briefe aus Auschwitz, in: Das Archiv. Magazin für Kommunikationsgeschichte (2012), H. 3, S. 80–83. 185
Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Feindliche Flieger waren wieder über Saarbrücken, Neunkirchen und auch in Karlsruhe, ohne jedoch irgend welchen Schaden anzurichten. Sonntag, 4. Februar 1917 In einer Note, die diese Woche dem amerikanischen Botschafter ausgehändigt wurde, erklärt die deutsche Regierung die rücksichtslose Verschärfung des U-Boot-Krieges. Jetzt wird es den Engländern hoffentlich gehörig an den Kragen gehen, damit sie endlich mal spüren, was es heißt, ausgehungert zu werden. Es macht sich überall eine große Kohlennot bemerkbar. In München wurden sogar die Theater und Schulen geschlossen, da es an Brennmaterial fehlt. Diese Woche haben sie Isidor wieder k. v. [= kriegsverwendungsfähig] gemacht. Es ist doch nicht recht, kranke Leute wieder felddienstfähig zu machen. Die Zivildienstpflicht wird jetzt aufs Frühjahr eingeführt werden, denn überall kommen Frauen auf die Posten und das männliche Personal wird eingezogen. – Zur Zeit wird hier im Kriegerheim ein Schuhkurs abgehalten, der sehr stark besucht wird. Tante Bella geht auch hinein. Es ist sehr schön, die Damen Schuhe vorgehn zu sehen. Vom Roten Kreuz wird noch ein Säuglingsheim errichtet, damit die Kriegerfrauen durch ihre Kinder nicht aufgehalten werden, sich Geld zu verdienen. – Schon über 3 Wochen herrscht eine grimmige Kälte, die gar nicht aufhören will. Heute morgen waren es 11 Grad unter Null. Samstag, 10. Februar 1917 Viel Großes hat sich im Lauf der Woche ereignet. Als Antwort auf die Note [Woodrow] Wilsons, welche er im Wortlaut an den amerikanischen Kongreß mitgeteilt hat, worin er seine Friedensbemühungen weiter pflegen will, wobei er von allen kriegführenden Mächten für jeden ein freies Meer und für alle unterjochten Staaten Selbstherrschaft verlangt. Mit diesen beiden Punkten war unsere Staatsleitung einverstanden und antwortete in einer Note an Wilson, daß sie zur rascheren Erfüllung dieser Punkte und zu rascherem Ende dieses Krieges den bisher eingeschränkten U-Bootskrieg in einen uneingeschränkten umwandeln werde und zwar mit sofortiger Wirksamkeit. Gezwungen war unsere Heeresleitung zu diesem U-Bootskrieg, um endlich einmal die von England uns zugedachte Aushungerung auf die Engländer selbst auszudehnen. Hoffentlich mit baldigem und gutem Erfolg!! Als Antwort auf unsere Note an Amerika ließ Wilson seine Maske fallen, zeigte sich wie man schon lange von ihm vermutet hatte, als englischer Lump und brach mit uns die diplomatischen Beziehungen ab. Weiter versuchte er alle neutralen Staaten gegen uns aufzuhetzen, jedoch ohne Erfolg, da dieselben nicht so dumm waren um für England und Amerika die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Man erwartet einen baldigen Angriff von seiten der Verbündeten, sodaß bei uns große Rüstungen vorgenommen werden und große ärztliche Untersuchungen stattfinden, wobei Adolf und Isidor wieder kriegsverwendungsfähig gemacht wurden. – Heute Nacht ½ 12 h. wurden wir unlieb aus dem Schlummer geweckt, indem zwischen hier und Limbach durch feindliche Flieger 4 Bomben abgeworfen wurden, wodurch der Schnellzug nach Saarbrücken zum Entgleisen gebracht wurde. An Menschenleben ist nur der Lokomotivführer, der infolge seiner Brandwunden starb, zu beklagen. Sonntag, 18. Februar 1917 Auf den Kriegsschauplätzen, besonders im Westen geht’s wieder lustig her. Bis hierher hört man das Donnern der Geschütze. Am Dienstag abend war Fliegeralarm; wir haben erst morgens davon erfahren, da wir nichts davon gehört hatten. Am samstag morgen, kurz vor 7 ging wieder das Signal. Wir machten alles bereit um in den Keller zu wandern. Doch als wir uns erkundigten, hör-
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr ten wir, daß es Brandsignal war. Ein Güterzug war mit einem leeren Lazarettzug zusammengestoßen, wodurch ein Brand entstand. Vom Personal sind einige verwundet. Gestern mittag gingen wir zur Unglücksstelle, die zwischen hier und Waldmohr liegt. Die vier ersten Wagen des Güterzuges, die mit Klein-Kohlen und dergl. gefüllt waren, verbrannten vollständig. Nur noch die Eisengestelle der Wagen waren noch vorhanden und es kostete große Mühe die Wagen auf Gestelle zu bringen und dann mittels Lokomotive fortzuschaffen. – Der verschärfte U-Boot-Krieg hat den Feind schon große Opfer gekostet. An einem Tag allen wurden 35 Dampfer versenkt. Amerika hat sich noch immer nicht entschieden. Scheinbar traut sich der brave Wilson nicht, ohne Hilfe der europäischen Neutralen mit uns völlig zu brechen. Auch steht die Sache zwischen Amerika und Japan nicht ganz gut. Vom 15. April ab soll wieder wie letztes Jahr die Sommerzeit eingeführt werden. Seit den letzten Tagen haben wir Tauwetter. Sonntag, 25. Febr. 1917 Am Donnerstag stieß ein Personenzug mit einem Güterzug zusammen; ein Beamter wurde tot gedrückt. Durch unsere U-Boote wurde ein italienischer Truppentransportdampfer versenkt. Über 1000 Mann ertranken. Die Ladung, Gold, Munition und Geschütze war auch nicht mehr zu retten. Die Engländer sind vollkommen von allem Seeverkehr abgeschlossen, so daß man hofft, daß nach einiger Zeit ihr Lebensmittelvorrat erschöpft sein wird. Dann werden auch sie spüren, was Hunger ist. Die Not bei uns steigert sich mit jedem Tag. Am 1. März ist wieder Kartoffelausmachen. Dann solls nur ¾ Pfund geben täglich. Wie das werden wird, weiß niemand. Drüben, in Bayern besonders ist große Not. Wie wir gestern erfuhren, sollen von der Stadt Nürnberg 5000 Kinder abgegeben werden, da die Lebensmittel nicht reichen. Da dürfen wir uns noch nicht beklagen. Gestern hat mit vielen anderen Sigmund Hirsch von hier einrücken müssen. Dem wird’s auch hart vorkommen. Isidor ist diese Woche nach Schleißheim bei München zu der Funkerschule bei der Fliegerabteilung gekommen. Wie es scheint, gefällt es ihm gut dort. – Amerika wagt noch immer nicht, gegen uns vorzugehen; doch wird’s wohl zu etwas führen; dazu ist Wilson viel zu fest Engländer, als daß er nicht gern gegen uns losschlüge. Sonntag, 4. März 1917 Emil ist bis 30. April zurückgestellt worden. Eben finden sehr große Truppenverschiebungen statt, auch müssen sehr viele wieder einrücken. Von den Kriegsschauplätzen ist nichts besonderes zu melden. Unsere U-Boote haben wieder viele Schiffe versenkt. Gestern abend ist unweit hier ein Flieger niedergegangen. Diese Woche wurden die Kartoffeln wieder aufgenommen. Sogar sollen Haussuchungen unternommen werden. Eben ist die Kontrolle an der Bahn sehr streng. Alle diejenigen, die Pakete haben, werden durchsucht. Sonntag, 11. März 1917 Graf Zeppelin ist infolge einer Lungenentzündung im Sanatorium in Charlottenburg gestorben. Unendlich viele Truppentransporte gehen nach Westen zu ab. Wer weiß, was es da noch geben wird. Im Laufe der Woche wurden wieder feindliche Schiffe mit Mann und Maus versenkt. Sonntag, 18. März 1917 In Petersburg ist Revolution ausgebrochen. Es waren Lebensmittel in die Stadt gekommen, die ja doch nur an die Beamten verteilt wurden. Daraufhin streikten die Arbeiter, stürmten die
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Lebensmittelhäuser. An ihre Seite stellten sich 30 000 Mann der Besatzung der Hauptstadt. Einige Minister wurden ins Gefängnis geworfen; 12 Dumamitglieder, Engelhard an der Spitze, haben die Macht. Der Zar mußte abdanken, an seine Stelle kam sein Vetter Michael Paulowitsch oder so ähnlich. Man glaubt, daß hinter der ganzen Sache der Großfürst [Nikolai] Nikolajewitsch [Romanow] steckt, der sich selbst zum Zaren machen will. – Die ungeheuren Truppenverschiebungen dauern noch an. Gestern nacht waren wieder Flieger in Neunkirchen. Man hörte hier die Bomben platzen. – Tante Bella ist gestern nach Schrießheim gereist, da Tante Berta erkrankt ist. Hoffentlich ist es nur vorübergehend. Sonntag, 25. März 1917 In Rußland geht’s eben nicht schön zu. Eine Gegenrevolution ist ausgebrochen, da das Volk endlich sah, daß auch die neue Regierung nicht den Frieden will. Der gewählte Zar hat wieder abgedankt und jeden Tag ist ein anderer am Steuer. Überall herrscht große Unruhe, in Petersburg und Moskau kam es zu blutigen Aufständen, 3 000 Geheimpolizisten wurden getötet. Als die Zarin von der Abdankung ihres Mannes hörte, machte sie einen Selbstmordversuch, der jedoch entdeckt und vereitelt wurde. Nun sitzt das russ. Zarenpaar gefangen. Der Zar hat sogar auch für seinen Sohn, den Thronfolger, abgedankt. Auch in Italien gärts. Hoffentlich geht’s denen nicht besser wie den Russen. Gestern abend hörten wir sogar, daß die Russen die Waffen niedergelegt hätten. Hoffentlich beruht das Gerücht auf Wahrheit. – Die Truppenverschiebungen dauern noch an. Man sollte gar nicht meinen, daß in den Kasernen noch so viel Militär steckt. Vom 15. April an gibt’s nur noch 170 g Brot dafür aber ein Pfund Fett. Das wird noch schlimmer, denn vom dürren Fleisch kann man sich nicht satt essen. – Seit gestern abend ist das Bahntelefon für 5 Tage gesperrt. Wahrscheinlich, daß nichts verraten werden kann. Sonntag, 1. April 1917 Schon wieder ist ein Monat zu Ende. Was wohl der April bringen wird? Man hofft noch immer auf einen für uns günstigen Ausgang der Revolution in Rußland. Das Zarenpaar ist der Spionage verdächtigt worden, was doch der helle Blödsinn ist. Denn es ist doch ein Ding der Unmöglichkeit von Petersburg aus mit Berlin in Verbindung zu stehen und dazu noch unter den jetzigen Verhältnissen. Samstag, 21. April 1917 Schon 3 Wochen ist nichts in unser Tagebuch eingetragen worden, nicht, daß nichts wesentliches passiert wäre, sondern nur, weil keiner Zeit dazu fand. Über Ostern war ich 10 Tage zu Haus. Viel Großes und Wichtiges hat sich in diesen 3 Wochen zugetragen! In Rußland gärts; die Arbeiter, die der Sozialdemokratie angehören verlangen durch ihre Vertreter in der Duma den Frieden. In schwungvollen Reden sprechen sie für die Freiheit der niederen Schichten. Sie gestehen, daß nicht Deutschland es war, das den Weltenbrand entfachte, sondern ihre eigenen Alliierten, die die russischen Minister durch Geld und große Versprechungen gekauft hätten und das alles nur aus Neid, puren Krämerneid. Das Zarenpaar sitzt derzeit wohlbehütet hinter Schloß und Riegel, getrennt von einander und in ihrer Lebensweise eingeschränkt. Sogar haben sich die deutschen Sozialdemokraten mit den russischen durch Kopenhagen in Verbindung gesetzt, indem sie die Unternehmungen ihrer russischen Parteibrüder gutheißen. – Im Westen, in der Champagne und an der Aisne ist eine schwere Schlacht entbrannt, das gewaltigste Ringen, das die Weltgeschichte aufzuweisen hat. Herüber und hinüber geht das Schlachtenglück, doch ist es uns bis jetzt im
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr allgemeinen treu geblieben. Freiwillig haben unsere Truppen große Gebiete geräumt, ja, sogar St. Quentin, das jetzt die Franzosen gänzlich zusammengeschossen haben. Zwar hat es von uns schon eine große Menge von Opfern gefordert, aber sie ist gering zu der des Feindes. Auch die Tätigkeit in den Lüften und tief unten im Meer, durch Flieger u. U-Boote hatte sehr großen Erfolg. – Am Mittwoch, 18. d. M. ist bei Augsburg auf der Station Nannhofen [heute Mannendorf/Kreis Fürstenfeldbruck] ein schweres Eisenbahnunglück passiert. Abends um 10 Uhr ist bei starkem Schneegestöber der nach München gehende D-Zug mit einem von München kommenden Zug zusammengestoßen. Beide Züge sind sehr stark beschädigt. Es kostete 23 Tote, 61 Verwundete. Wir standen am Freitag schreckliche Angst aus, da wir Isidor in dem D-Zug wußten und noch keinerlei Lebenszeichen von ihm hatten. Abends meldeten uns dann die Leimersheimer seine glückliche Ankunft in München; wir waren alle wie erlöst. Es ist ein wahres Wunder, daß er gut davon kam, da besonders der Militärwagen stark gelitten hatte. Auch bei Schweinfurt ist gestern ein Zug entgleist. Die vielen Eisenbahnunglücke in letzter Zeit sind auf den Mangel an geschultem Personal zurückzuführen. – Emil war in der Musterung, ist k. v. geworden. Sonntag, 29. April 17 Die Schlacht im Westen, die Riesenschlacht, wie sie der Tagesbericht nennt, ist etwas abgeflaut. Siegreich haben unsere Tapferen gegenüber der Übermacht ihre Stellung behauptet. Tagelang lagen sie im schrecklichen Trommelfeuer, um dann immer wieder den anstürmenden Feind mit blutigen Verlusten zurückzuschlagen. Freilich auch von uns hat es viele Opfer gekostet. Tausende sind verwundet, tot, gefangen. Doch können wir uns sagen, daß das viele Blut nicht umsonst, wie bei unseren Feinden, geflossen ist und noch täglich fließt. Die Lage im Osten ist unverändert. Vom 1. Mai an erfährt unsere Viehanlieferung eine große Umstellung. Der Bezirk hat das bisherige Selbstversorgungsrecht verloren; er bekommt jetzt das Vieh von Kaiserslautern zuerteilt. Wir müssen jetzt jede Woche 205 Stück Großvieh, eine große Anzahl Kälber und Schweine u. 8 Schafe anliefern können. Wird das Vieh von den Besitzern nicht freiwillig hergegeben, so tritt die Enteignung in Kraft. Onkel ist in der Enteignungskommission; das ist nichts weniger als angenehm. – Seit voriger Woche gehen täglich sehr viele Truppenzüge, alle nach Westen zu, durch. Sonntag, 13. Mai 1917 Die letzten 14 Tage waren arm an besonderen Ereignissen. Die großen Schlachten bis Maas und in der Champagne dauern fort; mit glänzenden Erfolgen für uns. Man hofft und glaubt überall daß es die Entscheidungskämpfe sind. Serail mit seinen bunt zusammengewürfelten Truppen hat in Mazedonien auch eine Offensive begonnen und zwar mit demselben Mißerfolg wie seine Freunde im Westen. Daß unsere Lage sich täglich günstiger gestaltet, beweisen unsere enormen Erfolge zu Wasser und in der Luft, indem durch U-Boote im Monat April 1 100 000 Tonnen versenkt wurden, während unsere Flieger in demselben Monat 362 feindliche Flugzeuge herunterholten. Am 15. Mai tagt in Stockholm die internationale Sozialistenkonferenz und sind wir sehr gespannt, ob sie gute Früchte bringt. Sonntag, 20. Mai 1917 Auch die letzten 8 Tage haben unsere Truppen trotz größter Anstrengung unserer Feinde ihre Stellung tapfer behauptet. Unsere Verbündeten, Bulgaren und Türken, gelang es ebenso wie unseren Soldaten, den furchtbaren Anstoß der Italiener, Russen, Engländer und Franzosen in Mazedo-
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger nien abzuweisen und auch unsere österreichischen Bundesbrüder vermochten die angefangene Isonzoschlacht, die die Italiener nach langem Zögern endlich unternahmen, ebenso blutig wie ihre Vorgeherinnen abzuwehren und sogar über 3 000 Gefangene zu machen. In Rußland geht die Revolution weiter und scheint sich zu unseren Gunsten zu wenden nachdem die größten Friedensgegner und von den Engländern bezahlten Minister [Iwan] Godnew und [Pawel Nikolajewitsch] Miljukow aus dem Ministerrat austreten mußten. Unsere U-Boote machen immer kräftig weiter, sodaß [sie] die auf sie gesetzte Hoffnung, den Krieg zu erledigen, hoffentlich recht bald erfüllen. – Wieder ist ein neues Kochrezept herausgekommen: Spinat aus Rot-Klee zu kochen! Es soll sogar recht gut schmecken. Von jungem Löwenzahn haben wir schon lange welchen gekocht. Dienstag, 29. Mai 1917 Pfingsten ist vorbei. Wir hatten Besuch, Flora und Erna von Leimersheim waren hier. – Die Italiener haben sich am Isonzo wieder tüchtig Schläge von den Österreichern geholt. Wie es hieß, sollten auch viel deutsche Truppen an den dortigen Kampfplatz geschafft worden sein. Vom Westen ist nichts Besonderes zu melden. Immer wieder schlagen unsere Tapferen den an Zahl uns überlegenen Feind zurück. Überall bei unseren Feinden macht sich jetzt unter dem Volke Kriegsmüdigkeit bemerkbar, leider nur unter dem Volke. In England herrscht wie bei uns große Lebensmittelnot. Die U-Bootoffensive zeitigt ihre Früchte. – Letzte Woche streikten hier die Arbeiter der Seitnertschen Fabrik. In großen Rotten zogen sie aufs Bezirksamt und verlangten Lebensmittel. Das gleiche wieder bei den Arbeitern der Dinglerschen Maschinenfabrik in Zweibrücken. Sonntag, 3. Juni 1917 Diese Woche steht im Zeichen der abflauenden Offensive auf allen Fronten, wobei unsere Feinde einsehen mußten, daß sowohl die Osterweihe wie auch wir auch der größten Kraftanstrengung ihrerseits gewachsen sind und die Feinde können die Frühjahrsoffensive von Ostern wie im Westen als ein Fiasko buchen. Montag, 11. Juni 1917 In Flandern haben unsere Feinde wieder eine große Offensive eröffnet, die ihnen bis jetzt wenig, ja nur kleinen Erfolg brachte. Einigemal waren sie in unsere Stellungen eingedrungen, doch mußten sie bald wieder das Feld räumen. – Im hiesigen Lazarett herrscht großer Zorn gegen den Bezirksamtmann. Vorige Woche rief ihm sowie dem Hauptmann Molter aus Waldmohr der Pöbel „Spitzbube“ nach. Und er konnte sich noch nicht dagegen wehren. Es hieß überall in den Ortschaften, er habe sich Lebensmittel beiseite geschafft, was jedoch nicht wahr ist. Unter den Leuten herrscht große Not. Es gibt fast keine Kartoffeln mehr, die Brotrationen sind kleiner geworden. Es ist bei der größten Sparsamkeit unmöglich, damit auszureichen. Letzte Woche war ich zufällig auf dem Lebensmittelamt, als Kartoffelkarten ausgegeben wurden. Es gab Öl, 1 l zu 16 M. Wir bekamen für nur M 12,– Öl. Die Leute waren stundenlang in glühender Sonnenhitze gestanden. Vielen war es elend geworden und als sie sich endlich am Ziel glaubten, waren die Kartoffeln schon vergeben. Es ist also kein Wunder, wenn Erbitterung herrscht. Der Hunger tut gar weh. Letzte Woche war nachts um ½1 Uhr Fliegeralarm. Feindliche Flieger belegten Zweibrücken und das Saargebiet mit Bomben, ohne jedoch größeren Sachschaden anzurichten. Sie überflogen auch Homburg und warfen bei Elschbach einige Bomben in die Kornfelder. Hier ging zwar die Sirene, doch haben sie uns mit ihrem Segen verschont.
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr Sonntag, 17. Juni 1917 Die Schlacht bei Ypern dauert bei wechselndem Schlachtenglück noch fort, sonst nichts von Wichtigkeit. Montag, 25. Juni 1917 Auf den Kriegsschauplätzen ist keine wesentliche Änderung eingetreten. Neuerdings haben wir 2 Luftschiffe verloren. Leider konnte die Besatzung nicht gerettet werden. Mit den Lebensmitteln geht es noch nicht viel besser. Man hofft, daß eine reichliche Obsternte viel Hunger stillen wird. Sonntag, 1. Juli 1917 Von den Kriegsschauplätzen ist nichts Besonderes zu melden. Wir sind schon mitten in der Obsternte. Kirschen gibt es eine Masse, auch Heidelbeeren. Nur ist alles noch zu teuer. – Mit den Kleidungsstücken muß man sich sehr vorsehen. Man sagt, daß es gar keine Schuhe und Stoffe mehr geben solle und haben wir uns verschiedenes, besonders in Schuhen vorgekauft. Sonntag, 8. Juli 1917 Die Russen haben letzte Woche heftig angegriffen. Einigemal gelang es ihnen örtliche Erfolge zu erzielen, doch wurden ihnen alle eroberten Gebiete wieder abgenommen. Zuerst versuchten sie, durch Demonstrationen unsere Heeresleitung vorzuführen, was ihnen jedoch nicht gelang. – Am Freitag feierten Tante und Onkel die Silberne Hochzeit. Die Verwandten hatten dazu wirklich schöne Geschenke gemacht. Alles war schön und gut, und nicht: – die Achilo!!! Mit dem besten Willen konnten wir zur Feier des Tages nichts Besonderes aufbringen. – Vom Freitag auf Samstag waren feindliche Flieger über Neunkirchen, im Saargebiet, in Westfalen, Mannheim, Ludwigshafen und Karlsruhe. Sie richteten großen Schaden an. Dieser Besuch war die Antwort auf den Besuch deutscher Flieger in Harwich und London. Es gehen wieder dunklere Gerüchte um, von denen man nicht weiß, ob sie wahr sind. In Kreuznach soll auf den Kaiser und zwei seiner Generäle geschossen worden sein, was einem Chauffeur das Leben kostete. Große Dinge gehen vor. Der Kaiser hat nach seiner Rückkehr von Wien, wo er einige Stunden weilte, den Reichskanzler und Hindenburg nach Berlin beordert. Es gärt allenthalben, schon oft kam es in den großen Industriestädten des Niederrheines zu größeren Aufständen wegen Mangel an Lebensmitteln. So sollen in Köln die Kirschen 1,20 pro Pfund kosten. Das ist unerhört, da es dieses Jahr so eine große Menge gibt. – Seit einiger Zeit hilft Tante jeden Sonntag morgen, im Lazarett die Milch abgeben. Sonntag, 15. Juli 1917 Noch immer weiß man nichts Bestimmtes, wie es jetzt im Reichstag zugeht. Nachdem der Sozialdemokrat [Matthias] Erzberger [recte: Zentrumsabgeordneter] vom Reichskanzler [Theobald von Bethmann Hollweg] ganz energisch die Veröffentlichung der Kriegsziele gefordert hat, und sich ihm auch das Centrum anschloß, hat der Kaiser den Kronrat einberufen. Zwar forderten die Reichstagsabgeordneten, zu hören, was beschlossen worden wäre, doch verweigerte der Kanzler jede Auskunft. Doch müssen große Dinge am Werk sein, denn der Kaiser hat [Paul von] Hindenburg und [Erich] Ludendorff nach Berlin kommen lassen. Eine große Blamage vor dem Auslande ist diese innere Unruhe. Das wird unseren Feinden wieder neuen Mut machen, trotzdem der Tagesbericht der letzten Woche große Niederlagen derselben verzeichnet. – Mit den Lebensmitteln ist es noch nicht besser. Die Kartoffeln sind aufgegessen, neue dürfen vor dem 20. nicht ausge-
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger macht werden. Gemüse gibt es zwar, doch ohne Kartoffeln und ungeschmelzt, ist es auch nicht viel wert. Die Not unter der Bevölkerung ist groß, auch der Groll und die Wut gegen die Regierung, besonders gegen das Bezirksamt und die dortigen höheren Beamten. Auch die höheren Klassen haben darunter zu leiden. Anständig angezogen kann sich niemand auf dem Lebensmittelamte sehen lassen, ohne nicht die größten Beleidigungen anhören zu müssen. Wie soeben bekannt wird, hat der deutsche Reichskanzler v. Bethmann Hollweg abdanken müssen. An seine Stelle ist Exc. Dr. [Georg] Michaelis getreten. Sonntag, 22. Juli 1917 Reichskanzler Dr. Michaelis hatte seine erste Rede gehalten. Über die wirklichen Kriegsziele hat er sich auch nicht richtig ausgesprochen. Der Abgeordnete [Philipp] Scheidemann dagegen hat eine sehr scharfe Rede gehalten. Er sagte unter anderem, daß das Volk von dem neuen Kanzler erwarte, daß er die schnelle Herbeiführung des Friedens unterstütze. Er möge die Zensur entfernen, die die Wahrheit nicht aufkommen läßt. Das Volk solle zum Volke sprechen, nicht Herrscher zu Herrscher. Das wäre der einzig richtige Weg, um dem schrecklichen Morden ein schnelles Ende zu bereiten. Die Verurteilten und Gefangenen, deren Ehre unangetastet wäre und die ihr trauriges Geschicke nur den traurigen jetzigen Zuständen zu verdanken hätten ([Karl] Liebknecht u. Konsorten) möge man frei geben. Hierauf wurde er vom Präsidenten zur Ordnung verwiesen, weil er die bekrittelt hätte. – Es wäre wirklich an der Zeit, dem Kriege ein Ende zu machen. Letzte Woche sind in Kaiserslautern und Speyer ernstliche Unruhen ausgebrochen, sodaß das Militär einschreiten mußte. Auch in Landstuhl war Krawall. Ungefähr 40 Frauen kamen hierher aufs Bezirksamt und wollten Kartoffeln und Brot. Sie sollen dort ganz schrecklich getobt haben. – An unsere Kartoffeln war das Fabriklerchores auch schon. Aus Willkür haben sie die Stricke herausgerissen. Es ist ganz schrecklich, was aber vergeht mit der Achilo.26 Sonntag, 29. Juli 1917 In Galizien haben die Russen versucht, vorzustoßen. Unsere Gegenoffensive jedoch jagte sie in wilder Flucht zurück. Die Russen selbst bekennen, daß nur die Kriegsmüdigkeit und Uneinigkeit der Truppen die furchtbare Niederlage verschuldet hätten. Tarnopol und mehrere wichtige Orte fielen in unsere Hände, dazu 15 000 Mann und 100 Geschütze und täglich mehrt sich die Beute. Emil ist auf unser Gesuch hin bis zum 15. Spt. zurückgestellt worden. Montag, 6. August 1917 3 Jahre sinds jetzt, seit der mörderische Weltenbrand entfacht, 3 Jahre und noch immer keine Ende abzusehen, trotzdem unser Reichskanzler auf Betreiben des Zentrums und der Sozialdemokraten im Reichstag unumwunden erklärt hat, daß wir keinen Eroberungskrieg führen und zu einem Verständigungsfrieden alle Zeit bereit sind, obs wohl Wert hat!!?? Währenddessen geht unsre Offensive in Galizien, der Bukowina so stetig vorwärts, daß wir Galizien ganz und die Bukowina zum größten Teil befreit haben. Die längst kommen sehende Offensive von seiten der Engländer in Flandern hat mit einem bis jetzt noch nie aufgebotenem Geschützfeuer und Infanteriekämpfen
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 26 Jüdischer Begriff für mit Fieber einhergehenden Knochenschmerzen. „Achilo is a febrile illness causing pains in the bons. Perhaps this is the pain of osteomyelitis.“ Avraham Steinberg: Encyclopedia of Jewish Medical Ethics. A compilation of Jewish medical law on all topics of medical interest, Jerusalem 1998, S. 539. 192
Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr begonnen und ist schon am ersten Tage so im Blute stecken geblieben, daß heute am 4. Tage die Engländer zu keiner größeren Kampfhandlung sich aufraffen konnten. Der Vorsprung aller unserer von der Front kommenden Soldaten heißt: durchkommen sie nicht! Das ganze Volk ist in diesem Glauben so bestärkt, daß es trotzdem es an Nahrungsmitteln fehlt, auch daheim tapfer aushält. Sonntag, 12. August 1917 Auch China hat sich durch eine Kriegserklärung zu unseren Feinden gesellt. Wer wird wohl noch dazu kommen??? Von den Kriegsschauplätzen ist nichts besonderes zu berichten. Die größte Not mit Kartoffeln ist jetzt vorbei. Wir hatten von der Stadt 1 Pfund täglich pro Kopf. Wir haben schon einige mal in Wellesweiler Kohlen holen lassen, da es über Winter sehr wenig geben soll. Auch für warme Kleider muß man sich schon sorgen, da man später nichts mehr bekommt. Wir haben uns diese Woche alle Schuhe mit Holzsohlen gekauft. Die sind praktisch bei Eis und Schnee. Montag, 20. August 1917 Auch diese Woche stand wieder im Zeichen großer Fliegerangriffe. 1. die Engländer versuchten nochmals ihr Glück an der Ypernfront in Gestalt einer ganz gewaltigen Offensive, welche mit demselben negativen Erfolg wie die vorhergehende. Auch die Franzosen ergriffen im Artoisgebiet eine erfolglose Offensive. Schwere Artilleriekämpfe bei Verdun zeigen auch dort eine bevorstehende Offensive. Der wichtigste Punkt in der vergangenen Kriegswoche bildete die Friedensunternehmen des Papstes in Rom, das dieser in Gestalt einer diplomatischen Note an alle kriegführenden Mächte ergehen ließ, worin er nicht nur dieselben um Frieden bittet, sondern auch darin Vorschläge zu einer Friedenskonferenz unterbreitet. Sehr gut meint er es mit seinen Vorschlägen nicht mit Deutschland und werden auch wir nie auf diese Vorschläge eingehen. Heute morgen reiste Tante Klara ins Bad, wohin noch unbekannt. Montag, 3. September 1917 Schon wieder ein Monat zu Ende und noch ists Krieg! Das Friedensangebot des Papstes wurde strikt abgelehnt. Auf den Kriegsschauplätzen geht’s lustig zu, doch immer halten sich unsere Truppen tapfer. – Tante war einige Tage in Herrenalb im Bad, sie hatte dringend Erholung nötig. Sonntag, 9. September 1917 Die letzte Woche war für Deutschland wieder eine freudig bewegte, brachte sie uns doch den Fall von Riga und Dünemünde. Eine groß angelegte Offensive wurde von unseren Truppen glatt nach Wunsch erledigt. Hoffentlich sehen unsere Feinde jetzt bald ein, daß sie uns militärisch nie niederringen werden, besonders auch, wo die tapferen Österreicher, die mit der größten Kraftentfaltung begonnenen Offensive der Italiener an der Isonzofront glatt aufhalten. Sonntag, 23.9.17 Die elfte Isonzoschlacht ist beendet, wieder mit einem vollständigen Fiasko der Italiener. Wieder haben die Engländer versucht in Flandern unsere Linien zu durchbrechen, wieder ohne Erfolg. Mit ungeheuren Waffen wälzten sie sich gegen unsere Stellungen vor und es ist bewundernswert, von unseren Truppen, daß es ihnen trotzdem mißlang unsere Stellungen zu stürmen. Auf den Friedensvorschlag des Papstes antwortete unsere Regierung, daß sie bereit sei, auf Friedensverhandlungen einzugehen. – Emil muß am 10.10. wieder einrücken, unser Gesuch wurde nicht mehr genehmigt.
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Sonntag, 30. September 1917 Die vergangene Kriegswoche brachte uns endlich die längst ersehnte Aussprache im Reichstag, in der sowohl der Reichskanzler wie der Minister des Äußeren die politische Lage klarlegten. Danach steht Deutschland fest und einig in Erwartung des baldig kommenden Friedens. Die 4. Flandernschlacht endigen wie ihre Vorgängerinnen mit blutigem negativem Erfolg für die Engländer. Sonntag, 14. Oktober 1917 Eine heftige Schlacht ist wieder in Flandern geschlagen worden. Mit unermeßlicher Wucht stürzte sich der Feind gegen unsere Linien, doch an der eisernen Mauer unserer Feldgrauen brachen sich seine Massen. Ungeheuere Verluste haben unsere Feinde, besonders die Engländer. Gestern gelang es ihnen einen kleinen örtlichen Erfolg zu erzielen, der jedoch von keiner Bedeutung ist. Im Reichstag war ganz gehöriger Krawall. Der Reichskanzler schwankte bedenklich im Sattel. In der Marine waren Meutereien entstanden, worauf die Anführer einfach direkt erschossen wurden. Dagegen lehnte sich die Sozialdemokratische Partei auf. Sie hätten zumindest die Aufwiegler vor ein Kriegsgericht stellen sollen, ehe sie so kurzen Prozeß gemacht haben. In der Presse hat man nichts davon gelesen; die Nachrichten sollten viel als möglich der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Am Donnerstag hat Tante das Ludwigskreuz überreicht bekommen, Onkel bekommt es wahrscheinlich auch. Sonntag, 21.10.17 Die 7te Kriegsanleihe ist wieder gezeichnet worden. Alle, auch die höchsten Erwartungen sind übertroffen: über 12 Milliarden sind zusammengekommen. Das ist mehr, als die Kühnsten hofften. Ein tüchtiger Schlag für unsere Feinde wird es sein, für uns ein Zeichen, daß wir noch Geld im Land haben. Unsere Bundtruppen haben diese Woche im Verein mit unserer Flotte die Insel Ösel im Rigaischen Meerbusen gestürmt, dabei 10 000 Gefangene gemacht und unzähliges Material erbeutet. Durch die Besetzung der Insel ist sogar die Hauptstadt Petersburg bedroht. Gestern standen 2 Todesanzeigen von gefallenen Glaubensgenossen in der Zeitung: Emil Hirsch von hier, ein Bruder von Leo Hirsch; und Leo Roos, Sohn von Leonhard Roos aus Brücken. Der letzte Fall ist besonders hart, da der 21jährige der älteste von 11 Geschwistern ist und der Eltern Hoffnung war. Sonntag, 28.10.17 Diese Woche verloren wir 4 Zeppeline, die nach London gefahren waren. Im englischen Bericht sollen es 6 Stück sein. In der einen Gondel fand man noch 2 Insassen, die erfroren waren. – Die 12. Isonzoschlacht ist geschlagen, Seite an Seite kämpften zum ersten Male Deutsche und Österreicher gegen den ehemaligen Bundesbruder Italien, der so schlecht und untreu geworden. Ungeheuer ist die Siegeslaute, die sich noch mit jedem Tage mehrt. Bis jetzt sind 60 000 Gefangene und 450 große Geschütze in unsrer Hand. Von den anderen Kriegsschauplätzen ist nichts zu melden. – Diese Woche wurde das Saargebiet schwer von Fliegern heimgesucht. Trotz Sturm und Regen zeigten sich in den mondhellen Nächten mehrmals feindliche Flieger, sogar ein französisches Luftschiff. Auch in der Vorderpfalz waren die Flieger, ohne jedoch größeren Schaden anzurichten. Unheimlich schön ist es zu beobachten, wenn beim Donnern der Abwehrkanonen die Scheinwerfer schielen und die kleinen Sternen und Lichtfünkchen der Schrapnells platzen.
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr Sonntag, 4. November 1917 In unaufhörlichem siegreichem Vordringen sind die vereinten deutschen und österreichischen Truppen schon in der friaulischen Ebene angekommen, die italienischen Truppen in wilder Flucht vor sich hertreibend. Am Tagliamento, einem Alpenfluß, wurden 60 000 italienische Soldaten derart eingeschlossen, daß sie sich ergaben. Die Beute beträgt bis jetzt 180 000 Gefangene und über 1500 Geschütze, das weitere erbeutete Material ist an dieser Beute zu ermessen. Auch die Zivilbevölkerung flieht, die ersten Flüchtlinge sind bereits in Rom angekommen und haben viel Schrecken in die Kaiserstadt gebracht. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben sich die 60 000 Italiener aus Hunger übergeben, denn in ihren Rucksäcken fand man gar keinen Proviant mehr. Anderen soll sich einem Gerücht nach vergiftet haben. An der Westfront ist es uns nicht so gut gegangen. Unsre geschwächten Linien mußten zurückgenommen werden und dabei bleiben zahlreiche Gefangene in den Händen unserer Feinde. – Unser Reichskanzler Dr. Michaelis hat den Abschied bekommen. Nicht lange hat er sich im Sattel gehalten, sein Wort beim Antritt, sich nicht so schnell das Heft entreißen zu lassen, hat sich also als trügerisch erwiesen. In seiner Stellung als Kanzler hat er sich nicht als Mann gezeigt; binnen weniger Tage hat er seine Kriegsziele geändert und das hat ihn unmöglich gemacht. An seine Stelle ist ein Graf [Georg von] Hertling, früher bayrischer Ministerpräsident und Zentrumsabgeordneter gekommen. Es ist zu verwundern, daß das ¾ protestantische Deutschland einen katholischen Kanzler bekommt. – Im Laufe der Woche waren wieder verschiedenemal die Flieger im Saarrevier, ohne jedoch erheblichen Schaden anzurichten. Sonntag, 11.11.17 Die Siegesbeute aus der 12. Isonzoschlacht beläuft sich jetzt auf 250.000 Gefangene und über 2300 Geschütze. [Alexander Fjodorowitsch] Kerenski, der während der russischen Revolution die ganze Regierung an sich gerissen hatte, ist geflohen und von seinen Feinden schon aufgegriffen worden. Hoffentlich bekommt er den ihm gebührenden Lohn. An seine Stelle ist [Wladimir Iljitsch] Lenin gekommen, der den Frieden will. Er hat als erstes Waffenstillstand und die Anknüpfung von Friedensverhandlungen angeordnet. Hoffentlich ist das der Anfang vom Ende. – Unser Staatssekretär [Karl] Helfferich hat abgedankt! Lange hat seine Herrschaft auch nicht gedauert. Sonntag, 18.11.17 Die Lage in Rußland ist noch nicht geklärt. Kerenski wie auch Lenin haben sich Truppen gesammelt und bekämpfen sich im eigenen Land, Brüder gegen Brüder. Bisher ist es noch keinem von ihnen geglückt den anderen zu besiegen, doch steht Kerenskis Sache nicht sehr günstig. – Vom Westen hört man heftigen Kanonendonner da ist sicher wieder eine neue Schlacht im Gange. Die wirtschaftliche Not hat sich nun soweit gebessert, daß man der Bevölkerung durch die überreiche Kartoffelernte wenigstens den ärgsten Hunger stillen kann. Sonst ist es für den Mittelstand und die ärmere Bevölkerung sehr schwer, durchzukommen. Für die Butter werden die höchsten Wucherpreise gefordert und bezahlt, Kleiderstoffe bekommt man überhaupt nimmer und für 1 Paar Schuhe wird 100 M verlangt, für 1 Paar zu sohlen 18–20 M. Und so geht’s mit allem. Sonntag, 25.11.17 Nach Telegrammen, die Reuter von Kopenhagen abgefangen hat, hat die russische Friedenspartei um Waffenstillstand angesucht zwecks Einleitung von Friedensverhandlungen. Etwas Näheres hat man noch nicht gehört.
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Von den Kriegsschauplätzen hat man nichts Besonderes gehört. Letzte Woche ist Isidor wieder ins Feld gekommen. Emil ist noch immer in Landau. Sonntag, 2. Dezember 1917 Der letzte Monat des Kriegsjahres 1917 hat seinen Anfang genommen. Neue Hoffnungen auf einen baldigen Frieden sind wieder aufgetaucht, angeregt durch die Vorgänge in Rußland. Die Leninsche Partei hat die Oberhand, Kerenski ist abgesetzt. Nun hat der russische Minister Trotzki einen Aufruf erlassen an die Regierungen und Völker der kriegführenden Länder. In Wien ist ein teilweise verstümmelter Funkspruch eingegangen, der ergänzt folgenden Sinn ergibt, wie angehefteter Zeitungsausschnitt zeigt. Dieses Telegramm ist an sämtliche am Kriege teilnehmenden Staaten ergangen und man dürfte auf die Gegenäußerungen dieser Länder an Rußland sehr interessiert sein. Österreich hat als erstes Land sich bereit zu Friedensverhandlungen gezeigt, wir nicht minder. Auch in Italien gärts. Die allzu großen Verluste am Isonzo haben das heißblütige Volk unzufrieden gemacht, auch macht sich der Hunger allmählich bemerkbar.
Abb. 18: Im Tagebuch zum 2.12.1917 angehefteter Zeitungsausschnitt mit Wortlaut des Telegramms mit dem russischen Friedensangebot
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr Sonntag, 9. Dezember 1917 Mit Rußland ist Waffenruhe vom 7.–17.12. zum Abschluß von richtigen Waffenstillstandsverhandlungen. Auch Rumänien hat sich angeschlossen, da es ohne die Hilfe Rußlands nichts machen kann. Es ist doch wenigstens ein Ausweg aus dem Elend. In Flandern haben die Engländer unter Einsatz ganz ungeheurer Menschenmassen wieder Angriffe gemacht. Doch an unsren tapferen Männern mußten sie zurückweichen. 9000 Engländer sind als Gefangene in unsere Hände gelangt. Auch in Italien geht’s gut vorwärts. Den Italienern wurden wieder 15 000 Gefangene genommen, ebenso fiel viel Kriegsmaterial in unsere Hände. -----Onkel hat diese Woche für 2 Geisen 326 M bekommen. Das ist doch fast unglaublich. Sonntag, 16.12.17 Mit Rußland haben wir jetzt Waffenstillstand, der hoffentlich recht lange anhält oder einem baldigen Frieden Platz macht. In den letzten Tagen waren in der Umgegend wieder Flieger; sogar in Dörrenbach, einem kleinen Dörfchen bei St. Wendel, wo es einen Knaben von 9 Jahren beim Schleifen tötete. Das war wohl die Revanche dafür, daß unsre Flieger wieder in feindlichen Gebieten waren und durch Bombenabwurf großen Schaden verursachten. In Flandern nahmen wir unsre Stellungen um 10 km zurück; das soll allem Anschein nach wieder eine Falle für die Engländer geben; wenn sie nur darauf eingehen! Sonntag, 23.12.17 Noch ist nichts Besonderes im Westen passiert, alles ist verhältnismäßig ruhig, die Stille vor dem Sturm; denn daß etwas vorbereitet wird, das beweisen die zahlreichen Truppentransporte, die alle nach der Westfront gehen. Aus Rußland kommen täglich neue für uns günstige Nachrichten. Die neue Regierung hat schon die Freilassung der Kriegsgefangenen angeordnet. Welch eine Nachricht für Paula!! Die Truppen an den Fronten warten den Demobilisierungsbefehl gar nicht mehr ab, sondern verlassen scharenweise die Stellungen, um in ihre Heimat zu eilen. Dazu hat Wilson, der so sehr englisch gesinnte Wilson in einer Note der Entente mitgeteilt, daß er in einem Jahr nur 100 000 Mann als Truppen auf den europäischen Kriegsschauplatz schicken könne. Was bedeuten bei dem jetzigen Massenmord der Völker 100 000 Mann, und dazu noch in einem Jahr, wo doch in einem Zeitraum von nicht 14 Tagen 250 000 Italiener gefangen genommen wurden. – Um Rußland von Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten abzuhalten, hat die englische Lügenpresse ausgeschrenzt, daß, sobald Rußland mit uns Frieden mache, Japan vom Osten her in Rußland einfallen werde. Doch auch hier war die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn die japanische Regierung teilte Rußland mit, daß dieses Gerücht auf Unwahrheit beruhe, und daß es der japanischen Regierung nicht einfalle, Rußland in seinem Vorhaben zu hindern. Sonntag, 30. Dezember 1917 Wieder ist ein Jahr verronnen, wieder fragen wir: wird das neue uns den heißersehnten Frieden bringen? Voll blutigen Ringens, voll großer Opfer war das alte Jahr erfüllt gewesen; hoffentlich beginnt mit dem neuen Jahr auch eine neue, bessere Zeit. – In Brest-Litowsk sind die Friedensverhandlungen eifrig im Gang. Die russischen Gesandten haben im Namen ihrer Regierung erklärt, daß die russische Regierung gewillt sei einen Frieden ohne Annexion und ohne Kriegsentschädigung zu schließen und zwar sollte dieser Frieden alle kriegführenden Staaten umfassen. Ferner solle den kleinen Staaten wie Belgien, Serbien und dergl. ihre Selbständigkeit wiedergegeben
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger werden und die Kolonien und abhängigen Staaten sollten durch Volksbestimmungen selbst ihre Zugehörigkeit zu einem gewissen Staat erklären. Diese Bedingungen haben unsre und die österreichischen Vertreter angenommen. Es fragt sich nur, wie die übrigen Staaten sich dazu verhalten. Frankreich, dessen Traum Elsaß-Lothringen ist, England das uns am liebsten zersplittert sähe, Italien, das uns verraten, um Triest zu erkämpfen?? Bei uns sind die Stimmungen sehr geteilt; die Liberalen und Nationalliberalen schimpfen über solchen Frieden, der uns so gar nichts bringt und doch so ungeheure Opfer forderte; die Sozialdemokraten und das Zentrum begrüßen ihn. Wer von den Parteien wohl recht hat? Sonntag, 6. Januar 1918 Schon 1 Woche im neuen Jahre ist vergangen; eine Woche voll Spannung und Zweifel. Am 4. ds. war das der Entente gestellte Ultimatum abgelaufen, aber noch ist es ruhig, noch weiß man nichts bestimmtes. Es ist als sicher anzunehmen, daß die Entente ablehnt, da ein Frieden ohne Annexion und ohne Entschädigungen ganz und gar nicht Englands hochtrabenden Zielen entspricht. Und für uns wäre das Wasser auf die Mühle, denn dann könnten wir ihnen im Westen noch tüchtig das Fell verdreschen, bis sie von selbst das Hasenpanier ergreifen. Schon seit einer Woche geht ein Truppenzug nach dem anderen hier durch, nach Westen zu. Da scheint sich etwas vorbereiten zu wollen. Diese Woche wurden sämtliche Stallungen und Scheunen zur Beherbergung von Pferden aufgenommen. Wir können 20 Stück stellen. Es soll nämlich Einquartierung geben. Wir bekamen Militär, das zum Nachschub an die Front; Saarbrücken sei schon zum Operationsgebiet erklärt worden und da werden wir wohl auch dazu gehören. Gestern nacht wurden hier 1000 Italiener abgespeist. – Bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk sind Differenzen entstanden. Die Russen verlangen, daß die Verhandlungen in Stockholm fortgesetzt werden; doch darauf gehen die Unsren nicht ein; doch hofft man, daß es dennoch zu einem befriedigenden Abschluß führt. Sonntag, 13. Januar 1918 In der Nacht vom 7. auf 8. Januar hat sich bei Bruchmühlbach ein schreckliches Eisenbahnunglück zugetragen. Der um 11 h fällige Schnellzug von Ludwigshafen her stieß bei dem heftigen Schneetreiben auf einen Etappenzug. Laut Aussage der Bahnbeamten ist entweder das Einfuhrsignal fälschlich gestellt worden; der Zugführer behauptet, er hätte weißes Signal gesehen, zum Zeichen, daß die Strecke frei sei, dagegen behauptet der Stationsbeamte, er habe rotes Signal gestellt, das bedeutet die Geleise sind nicht frei. Die genaue Ursache kann nicht festgestellt werden. Da der Zugführer des Schnellzuges das Geleis frei vermutete fuhr er mit einer Geschwindigkeit von 100 km, da er noch 23 Minuten Verspätung einholen wollte. Von einer Entfernung von nicht mehr 100 m bemerkte er den auf Station Bruchmühlbach stehenden Güterzug. Der Zugführer bremste, doch zu spät. Mit aller Wucht sauste der Schnellzug gegen die hinteren Wagen des Güterzuges., warf diese aus dem Geleis und fuhr auf die anderen Wagen auf. Die Lokomotive überstürzte sich einigemal und schlug dann kopfüber ins Wiesenland, während die ersten Personenwagen in Höhe einer Telegrafenstange aufgestaut waren. Die anderen wurden ineinandergeschoben und vollständig demoliert. Nur die letzten Wagen kamen ziemlich heil davon. Schrecklich war die Lage bei den unglücklichen Insassen des Schnellzuges, der voll besetzt war bis auf die Packwagen. Sie wurden herausgeschleudert ins nasse Wiesental, teils unter den Trümmern lebendig begraben. Nachts um 1 h. wurden wir geweckt und erfuhren das Schreckliche. Onkel eilte mit Verwalter Müller sofort an die Unglücksstelle, wo er tüchtig mithalf, die Toten und Verwundeten aus den Trümmern hervor-
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr zuschaffen. Die Sanitäter von K’lautern, Landstuhl und Homburg, die Einwohner von Bruchmühlbach und Miesau beteiligten sich am Rettungswerk, leider noch zu wenige, um viele der Unglücklichen vor dem Tode unter den Trümmern zu bewahren. Die Verstümmelung der Toten bis zu Unkenntlichkeit, die schrecklichen komplizierten Verwundungen spotten jeder Beschreibung. Die Verwundeten wurden in die Lazarette K’lautern, Homburg, Bruchmühlbach und Miesau gebracht, wo schon viele starben. Bis jetzt sind es 32 Tote und 88 Verwundete. Begreifliche Aufregung herrschte in unserem Homburg, die schon früh morgens die Leute scharenweise zum Bahnhof lockte. Von der Unglücksstelle sind die Trümmer jetzt beseitigt und der Zugverkehr wird bald wieder hergestellt sein. Am Freitag kam Regierungspräsident Exzellenz [Adolf] von Neuffer im Auftrag des Königs hierher um die Verwundeten zu besuchen. Auch spendete der König 1000 M für die Linderung der augenblicklichen Not. Schrecklich waren auch die Bilder in den Lazaretten, wo die Angehörigen die Reihe der Verwundeten und Toten nach ihren Lieben absuchten. Die Opfer waren fast nur Soldaten, die zur Front zurückwollten und nun ereilte sie schon in der Heimat der Tod. ---Die Verhandlungen in Brest-Litowsk nehmen ihren Fortgang, die Streitigkeiten sind wieder beigelegt und man hofft auf ein befriedigendes Ende. Gerüchte über eine Abdankung Ludendorffs gehen umher, genaues weiß man nicht. Sonntag, 20.1.18 Und wieder ist ein schreckliches Eisenbahnunglück passiert, diesmal hervorgerufen durch entfesselte Elemente. Auf den hohen Schnee folgte die Schmelze und zwar ganz plötzlich, durch warmen Regen verursacht. Es entstand überall Hochwasser, nicht nur am Rhein, sondern auch am Glan, an der Nahe, der Blies und allen kleineren Gewässern. An der Nahebahn Münster a. St. – Neunkirchen, wo sich der Bahndamm teils am Lauf der Nahe entlangzieht, teils sie überbrückt, hatte das Hochwasser eine beängstigende Höhe erreicht und den Damm gelockert. Der Mangel an Personal war hauptsächlich schuld daran, daß man den Defekt nicht merkte. Der heranbrausende Schnellzug brachte den Damm in der Nähe von Kirn zum Rutschen, der Zug fuhr weiter und direkt in die Nahe. Die Lokomotive mit 2 Personenwagen ist vollständig verschwunden, die anderen Wagen sind abgerissen und stehen noch, 1 Wagen hängt halb im Wasser. Die unglücklichen Insaßen der Wagen, meist wieder Militär, sind spurlos verschwunden, eine Rettung oder nur Bergung war bisher unmöglich, auch ist die Zahl der Vermißten noch nicht festgestellt, die Bahnstrecke ist natürlich gesperrt, sodaß viele der Züge über Homburg geleitet wurden. Auch im Glantal bei Meisenheim war der Bahnkörper überschwemmt, sodaß der Zug nicht weiter gehen konnte. Diese 2 in 8 Tagen sich ereigneten Unglücke sind die beste Warnung vor unnützen Eisenbahnfahrten. – Bei den Verhandlungen von Brest-Litowsk geht es oft stürmisch zu. Die Russen, durch die anfängliche allzu große Nachgiebigkeit unserer Vertreter frech geworden, verlangten unmögliche Dinge, sodaß die Verhandlungen abgebrochen wurden und erst vor kurzem wieder aufgenommen wurden. Donnerstag und Freitag war Siegmund mit seiner Frau hier; er kam direkt aus dem Felde. Sonntag, 27. Januar 1918 Die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk werden fortgesetzt. Viele Schwierigkeiten gilt es zu überwinden; die russischen Delegierten stellen oft Bedingungen, die für uns unmöglich sind. Günstiger steht unsre Sache mit den Ukrainern. Sie zeigen sich äußerst bereitwillig, sodaß man auf
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger einen recht baldigen Abschluß rechnen darf. Die Verhandlungen mit Rußland ziehen sich noch in die Länge, doch auch hier wird es zu dem erhofften Ende kommen. Im Westen gibt es nichts Neues. Trotz heftigen Ringens können die Franzosen und Engländer nicht den geringsten Erfolg verzeichnen. Schon einige Male waren wieder feindliche Flieger im Saargebiet, jedesmal natürlich Sachschaden anrichtend. Auch unsere U-Boote sind fleißig bei der Arbeit, das beweist die endlose Reihe versenkter feindlicher Dampfer. Sie bilden das Schreckgespenst für das „meerbeherrschende“ Albion [Großbritannien]. Schon hat Lloyd George die Rationierung der Lebensmittel einführen müssen; das ist der beste Beweis dafür, daß auch in England sich die Lebensmittelnot bemerkbar macht dank der eifrigen Tätigkeit unsrer U-Boote. – Bei uns hat die schlimme wirtschaftliche Lage ihren Höhepunkt erreicht; die Wucherei ist unerhört. Butter, Eier, Kleider, Schuhe, Fett, kurz alles was man zum täglichen Leben gebraucht, ist unermeßlich teuer und nur auf ungeradem Wege zu bekommen. Sonntag, 3. Februar 1918 In Berlin ist ein großer Streik ausgebrochen. Ungefähr 300 000 Arbeiter haben die Arbeit verweigert und verlangen, daß sofort Frieden gemacht werden, ebenfalls wollen sie mehr Lebensmittel. Die Geschäfte werden von Militär bewacht. Auch in Kiel legten die Werftarbeiter die Arbeit nieder. Sie wollen alle ohne Unterschied Frieden, ohne jede Annexion und ohne Kriegsentschädigung. In Berlin sind schon mehrere Verhaftungen vorgenommen worden. In BrestLitowsk werden die Verhandlungen fortgesetzt. Die Rumänen haben mit den Bolschewiki, der regierenden Partei in Rußland Meinungsverschiedenheiten, die nur mit dem Schwerte beigelegt werden können. Sonntag, 10. Februar 1918 In Brest-Litowsk wird es große Neuigkeiten geben. Trotzki scheint uns hinhalten zu wollen. Seine Absicht war, bei uns Unruhen hervorzurufen und zwar dadurch, daß er uns Forderungen stellte, die es uns unmöglich machten, darauf einzugehen. Unsre Arbeiter haben ja dann auch wirklich teilweise die Arbeit niedergelegt, doch sind jetzt alle Unruhen beseitigt. Mit der Ukraine haben wir Frieden. Die Ukraine zählt zu den fruchtbarsten Gebieten des ganzen Zarenreiches; vielleicht, daß sie uns Rohprodukte ausführen kann. Der Gefangenenaustausch wird wohl bald stattfinden; viele tausende unserer Gefangenen befinden sich ohne Überwachung auf dem Wege nach den westlicheren Gebieten. Wenn nur Karl auch darunter wäre!! In Frankreich scheint sich etwas vorzubereiten, es finden wieder große Truppenverschiebungen nach dem Westen statt. – Wieder sind in nächster Nähe 2 Eisenbahnunglücke passiert, eines in Schönenberg, das andere in Matzenbach. Es hat verschiedene Verwundete gegeben, immer wieder Soldaten. Sonntag, 17. II.18 Die Friedensglocken läuteten; ein Telegramm hatte von amtlicher Seite gemeldet, daß auch Großrußland Frieden gemacht hätte. Leider mußte man zu schnell erfahren, daß es wiederum eine Falle von Trotzki sein sollte, denn er wollte einen Frieden ohne jeglichen schriftlichen Vertrag, der ihn also zu nichts binden konnte. Natürlich fielen die Unseren nicht darauf rein, da Trotzki auch sofortige Räumung des besetzten Gebietes beantragte. Dann allerdings hätte er machen können was er wollte. Im Westen bereitet sich irgend was großes vor; täglich gehen zahlreiche Transporte
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr nach dorten hier durch. Gestern abend sahen Tante und Onkel an der Bahn die ersten Gefangenen Amerikaner, die an der Westfront gefangen wurden. Sonntag, 24. II.18 Deutschland hat Rußland, nachdem Trotzki so den Schlechten gemacht hatte, den Waffenstillstand gekündigt und zugleich sind unsre Truppen weiter ins Innere vorgegangen. Sie stießen auf fast gar keinen Widerstand und konnten so in ein bis 2 Tagen über 2500 Gefangene machen, darunter hohe und höchste Offiziere und unzähliges Kriegsmaterial erbeuten. Sogar in Minsk sind sie eingezogen. Darauf haben Lenin und Trotzki eine Abordnung nach Berlin geschickt mit einem Friedensangebot, das von Lenin und Trotzki unterzeichnet ist. Uns jedoch eilt es jetzt mit einem Frieden nicht so sehr; denn jetzt haben wir sie in der Hand und können ihnen den Frieden, wie er uns paßt, diktieren. Derweil sich mit Rußland dies abspielt, ist Staatssekretär [Richard von] Kühlmann mit dem Grafen [Ottokar] Czernin in Rumänien, um mit den Rumänen zu verhandeln. Diese befinden sich auch in einer heiklen Lage. Mit dem Vierbund wollen sie unter allen Umständen zu einem Abschluß kommen, denn sie haben bereits angefangen, ihre Truppen gegen Odessa marschieren zu lassen und dort die Großrussen anzugreifen. Es haben bereits Kämpfe stattgefunden. Der Grund zu diesem neuen Krieg ist der, daß die Großrussen den Frieden der Ukraine mit uns nicht anerkennen und ihrerseits in Kiew und andere Städte der Ukraine eingedrungen. Da kamen die Rumänen dem Nachbarstaat zu Hilfe und griffen die Großrussen an ihrer empfindlichsten Stelle, dem Hafen Odessa an. Auch die Kleinrussen, das sind die westlichen Staaten Rußlands, wie Kurland, Estland, Livland, Finnland und die baltischen Provinzen schließen sich der Ukraine an und empören sich gegen die Großrussen, deren Herrschaft sie schonlange als drückend empfunden haben. In Rußland ist also ein ganz wirres Chaos, aus dem niemand recht klug wird. Der Zar mit seiner Familie sitzt ja schon wie lange gefangen und hat die Lebensmittel genau so rationiert wie jeder andere Bürger, dabei entbehrt seine Wohnung jeglichen Komfort. Der Großgrundbesitz wurde vom Volke an sich gerissen und verteilt. Es gibt keine Standesunterschiede mehr, alle sind nur Bürger. Und dabei herrscht Mord und Totschlag. – In Frankreich soll die Nachricht von den Vorgängen in Rußland geradezu niederschmetternd gewirkt haben. Sonntag, 3. III. 18 Viel Hin und Her hat es mit Rußland gegeben. Nachdem der Waffenstillstand gekündigt, drangen unsre Truppen weiter in Rußland ein und besetzten die nördlichen baltischen Provinzen, deren Einwohner aufatmeten, als ihnen Hilfe gegen die Bolschewiki kam. Die Russen haben den Hafen Reval geräumt, wo wir bereits eingezogen sind. Reval ist einer der wichtigsten Ostseehäfen und für uns von größter Bedeutung. Auf unsrem Vormarsch nach Rußland gewannen wir unermeßliche Kriegsbeute; in Minsk wurden 20 000 Maschinengewehre und 500 000 Gewehre aufgestapelt. Da erst bequemten sich Trotzki und Lenin dazu ein Telegramm nach Berlin zu schicken wegen Wiederaufnahme der Verhandlungen. Jetzt hat es den Unseren nicht so geeilt, denn jetzt können wir den Frieden nach unsrem Kopfe diktieren. Bald kam auch eine Abordnung nach Berlin, die Friedensvertrag unterzeichnete. Unsre Truppen befinden sich jedoch noch in Rußland, um die Bevölkerung vor den umherstreifenden wilden Horden der roten Guarde zu schützen, die überall sengen und brennen. Mit Rumänien sind Verhandlungen im Gang, die jedoch zu nicht verpflichten. Unsere Regierung weigert sich, mit einem wortbrüchigen König Verhandlungen einzuleiten. Nur wenn er abdankte, können solche zu einem Ziele führen.
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Dienstag, 5. III. 18 Mit Rußland ist Frieden! Am Sonntag abend 5 h. wurde er in Brest-Litowsk von den Delegierten unterzeichnet. Heute früh hat Paula telefoniert, Karl hätte ein Telegramm geschickt, daß er bereits auf deutschem Boden sei und zwar im Kriegslazarett. Gott sei Dank, daß er in Sicherheit ist. Sonntag, 10. III.18 Von Karl haben wir noch nichts weiter gehört. Mit Rußland ist also Frieden, ebenso mit der Ukraine. Diese muß uns durch den Vertrag eine große Menge Lebensmittel liefern, hoffentlich wird dadurch unsre wirtschaftliche Lage etwas besser. Mit Rumänien ist Waffenstillstand; Friedensverhandlungen sind im Gange. Auch hier werden wir gut abschneiden, schon sind die Rumänen bereit, einen Teil ihres Landes zu Bulgarien abzutreten, dafür soll ihnen Bessarabien zugeführt werden. Ebenso brauchen wir 1 Milliarde für Requisition nicht zu zahlen. In den Vorverhandlungen wurde noch ausgemacht, daß der Seeweg für uns frei wird. Jetzt, da die Entente sieht, daß trotz aller Hetzereien ihrerseits im Osten und Süden doch Frieden ist, jetzt will sie die Staaten gegeneinander hetzen. Mit allen Mitteln arbeitet sie daran Japan dazu zu bringen in Sibirien einzufallen, also gegen Rußland zu kämpfen. Bis jetzt ist noch nichts entschieden; die Japaner sind ebenso schlau wie die Engländer, die ermessen erst vorsichtig das Hin und Wieder, ehe sie sich in so ein Abenteuer stürzen. An der Westfront wird es wohl auch bald losgehen; bisher hat nur geringere Kampftätigkeit dort geherrscht. 200 000 Amerikaner sind zur Verstärkung der Entente an die Westfront gekommen. – Gestern war Fliegeralarm, die Flieger waren von Kaiserslautern und Zweibrücken gemeldet. Sonntag, 17. III.18 Auch gestern war Fliegeralarm. Ganz deutlich konnte man die Flieger als kleine weiße Vögel am blauen Himmel sehen. Wir waren auch einige Minuten im Keller. In Zweibrücken wurden 6–8 Bomben abgeworfen, 1 Frau und 1 Kind getötet. – Unaufhörlich dröhnen von Westen her die Geschütze, ob das der Anfang der großen Offensive ist?? Die Entente hat an Holland ein Ultimatum gerichtet. Holland solle binnen weniger Tage seinen sämtlichen Schiffsraum der Entente geben, sonst würden die holländischen Dampfer an der amerikanischen Küste alle beschlagnahmt werden und Holland nicht mehr mit Brotgetreide versorgt werden. Man kann gespannt sein auf die Entscheidung der Niederlande, die bisher doch immer deutschfreundlich waren. Allerdings bleibt ihnen keine große Wahl. Unsre Truppen sind in Odessa, dem großen russischen Schwarzenmeerhafen eingezogen. – In einer Versammlung hat Lenin erklärt, der Friede sei vorläufig geschlossen worden, damit Rußland in aller Ruhe Truppen sammeln könnte Zu einem neuen Angriff gegen Deutschland. Ob sie es also fertig bringen ein neues Heer zu sammeln, das ist die große Frage. Das alles ist wieder England zu danken, den Hetzereien der Entente. Es werden wieder Stimmen laut, die aufs neue den Zarismus wollen. Auch jetzt nach Friedensschluß herrscht noch ein großes Wirrwarr in Rußland. – Die Japaner sind von Osten her in Sibirien eingedrungen und haben bereits einen wichtigen Stützpunkt eingenommen. Nach einer nichtamtlichen Meldung soll Amerika dagegen Einspruch erhoben haben. Wenn die beiden nur gehörig hintereinander kämen! Karl ist in Zegrze in Polen; er hofft bald heimzukommen. Seine Freude kann man sich denken. Sonntag, 24.III.18 Die große Frühjahrsoffensive im Westen hat begonnen. Durch heftigen Artilleriekampf wurde sie eingeleitet. Auch österreichische Artillerie war stark beteiligt. An der Aisne, dem altbekannten
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr Flüßchen der Champagne begann das Ringen, das bis jetzt einen äußerst günstigen Verlauf nahm. In einigen Tagen wurden 25 000 Maschinengewehre und 400 Geschütze erobert. Welch niederschmetternde Nachricht für die siegesgewisse Entente!! In der letzten Woche wurde die Pfalz häufig von feindlichen Fliegern besucht, so Ludwigshafen, K’lautern und gestern nacht Zweibrücken. Die Schießerei war schrecklich. Wir standen auf, es war gestern nacht ½1 h. und blieben im Gang sitzen bis ½3 h. Verwalter Müller war auch dabei. – Die 8. Kriegsanleihe wird eben gezeichnet. Sonntag, 7.IV.1918 Die fürchterliche Schlacht im Westen dauert fort. Unsre Truppen stehen vor Amiens, das wohl auch nicht mehr lange unseren Anstürmen standhalten wird. Die Beschießung von Paris dauert fort. Alle Versuche unsrer Feinde, die Stellung unserer neuen so sehr wirksamen Geschütze auszukundschaften, war bisher vergebens. Für uns ist die baldige Einnahme von Amiens von größter Wichtigkeit, denn dann haben wir den Knotenpunkt der Eisenbahnstrecke Paris. Calais. Unsre bisherige Beute betrug 90 000 Gefangene, die Beute an Material ist unermeßlich. Über Ostern sind viele Verwundete hierhergekommen. Sie sind alle ohne Ausnahme guten Muts und voll Siegeszuversicht. Sonntag, 14. IV.18 Aufs neue ist die Schlacht entbrannt und zwar diesmal bei Armentieres, das nach heftigem Austürmen auch genommen wurde. Die Beute ist groß, 20 000 Gefangene, darunter Portugiesen, ebenso unzähliges Material aller Art und ein großes Bekleidungslager. – Amiens, ebenso Paris wird täglich beschossen. Durch die Einnahme von Armentiers ist die feindliche Stellung bei Ypern bedroht. Seit Donnerstag ist Karl zu Hause, Tante ist heute hingefahren nach Oberhausen. Isidor wurde im Leib operiert und kam nach Meißen (Sachsen) ins Lazarett. Sonntag, 21.IV.18 Die Schlacht im Westen ruht einige Tage. Jedenfalls sollen die Truppen wieder frische Kräfte sammeln zu einem erneuten Vorstoß. Im Laufe der Woche wurden die Höhen von Witschede erstürmt, um die schon voriges Jahr erbittert gekämpft worden war. – Ein Brief Kaiser Karls an seinen Schwager, den Prinzen Sixt von Bourbon, hat großes Aufsehen erregt. Prinz Sixt ist französischer Abstammung, der Bruder der Kaiserin Zita und dient beim belgischen Roten Kreuz. Ohne Wissen seines treuen Beraters des Grafen Czernin, hat Kaiser Karl den Brief geschrieben, der von dem Prinzen der französischen Regierung zur Verfügung gestellt und von der Presse verfälscht wiedergegeben wurde. Darin heißt es, daß Österreich die Forderungen Frankreichs nach ElsaßLothringen vollkommen billigen würde und bestrebt sei Deutschland dieser Forderung gegenüber gefügig zu machen; daß der Kaiser und mit ihm sein Reich von Hochachtung erfüllt sein für das tapfere Franzosenheer, und dergleichen mehr; in dem wirklichen Brief das gerade Gegenteil. Graf Czernin hat diesen Brief sofort als gänzlich erfunden bezeichnet und da er von seinem Irrtum vom Kaiser aufgeklärt wurde, hat er den Abschied eingereicht. Der Kaiser hat den wahren Inhalt veröffentlichen lassen; Telegramme wurden zwischen Kaiser Wilhelm und Kaiser Karl gewechselt, kurzum, es war ein großer Skandal. Letzten Sonntag ist Tilli Heimann aus Hermeskeil an Hirnhautentzündung gestorben, sie war erst 24 ½ Jahre alt. – Am Dienstag und Mittwoch waren Karl, Paula und Liesel von Oberhausen hier.
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Sonntag, 28.IV.1918 Bei Ypern ist von neuem die Schlacht entbrannt, der Kemmelberg, die Ypern beherrschende Höhe, ist von unsren Truppen gestürmt worden. Jetzt wird’s wohl Ypern an den Hals gehen. Bei Amiens ist es ziemlich ruhig, eine Kampfpause. Die Truppen sind durch das fortwährende Vorgehen zu angegriffen, als daß sie weiter fest standhalten könnten. Bei einem Erkundungsflug ist unser bester Flieger, Rittmeister Freiherr v. Richthofen, abgestürzt und fand hinter den englischen Linien den Tod. Er hatte 80 Luftsiege gewonnen und ist daher die Trauer eine allgemeine und tiefe. Sonntag, 5.V.18 Im Westen ist keine besondre Kampftätigkeit. Ypern soll durch die Engländer geräumt werden. Nach einer Meldung aus England sollen die Ärzte Lloyd George zum Rücktritt geraten haben aus gesundheitlichen Gründen; die allgemeine Ministerkrankheit. Sonntag, 12.V.18 Immer von neuem versuchen die Engländer, den Kemmelberg bei Ypern zurückzugewinnen, jedoch vergebens – Mit Rumänien ist der Friede jetzt endgültig unterzeichnet worden, schon kommen Truppen hier durch nach dem Westen, die in Rumänien abgeschoben wurden. Pfingstmontag, 20.V.18 Gestern waren wir in Steinbach und machten bei Josef Löb Trauerbesuch, da deren Sohn Sigmund gefallen ist. Es ist schrecklich, wie viele Opfer die Kämpfe im Westen fordern. Letzte Woche waren unsere Flieger wieder in Calais und Dünkirchen, wo sie großen Schaden anrichteten. Als Revanche bombardierten einige Tage später englische Flieger einen Truppentransportzug bei Saarbrücken, wobei es viele Tote gab. Wie die Pfälzische Rundschau schreibt, hat Graf Hertling erklärt, die Staatsmänner aller kriegführenden Länder sich in Holland treffen wollten um Friedensverhandlungen anzubahnen. Man schenkt dieser Meldung nicht viel Glauben, die Erfüllung wäre zu schön. – Wie in letzter Zeit verlautbar wird, soll jede Familie einen Herrenanzug freiwillig abgeben, andernfalls Zwang geübt werden muß. Die Anzüge sind zur Bekleidung der Arbeiter dringend nötig. – Zwischen Deutschland und Frankreich ist ein Abkommen getroffen worden, daß Kriegsgefangene, die mehr als 16 Monate in Gefangenschaft sind, gegenseitig ausgetauscht werden sollen. Natürlich dürfen dieselben nicht mehr an der Front verwendet werden. Zirka 120.000 Deutsche und ebensoviele Franzosen sollen demnach ausgetauscht werden. Die Offiziere kommen in die Schweiz, wo sie interniert bleiben. – Bei unsrem Vormarsch in Rußland bei der Besetzung der Halbinsel Krim ist der Großfürst Nikolajewitsch, dessen Bruder, Neffe und die alte Zarin-Mutter in unsre Hände gefallen. Sonntag, 2. Juni 1918 Der zweite Teil der großen Offensive hat mit großem Erfolg seinen Anfang gemacht. Soissons, Craonne und viele, viele andere bedeutende Ortschaften, die wir bei unsrem Rückzug geräumt hatten, sind wieder in unsrer Hand. Viele tausende Gefangene, sowie unzählbares Kriegsmaterial sind die Beute. Bis dicht an Reims sind die deutschen Truppen gekommen. Die Beschießung von Paris nimmt ihren erfolgreichen Fortgang. Feindliche Flieger belegten Karlsruhe mit Bomben, 4 Menschen wurden getötet. Auch hier war gestern Fliegeralarm.
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr Sonntag, 16.VI.18 Im Westen dauern die Kämpfe noch immer an. Viele tausend Gefangene und Geschütze waren bis jetzt unsre Beute. Immer wieder versuchen unsre Feinde mit allen zu Geboten stehenden Mitteln uns aus den Stellungen zu vertreiben, jedoch vergeblich. – Feindliche Flieger waren diese Woche wieder in Saarbrücken. Wir konnten sie ohne Glas beobachten. Hier war auch Fliegeralarm, unsre Abwehrgeschütze feuerten. Die ganze Stadt lag voll von Abwehrgeschossen. Anzug von Onkel an die Altbekleidungsstelle abgegeben. Sonntag, 23. Juni 1918 Die Schlacht im Westen ist seit einigen Tagen etwas abgeflaut. Täglich gehen seit dem 15. ds. Urlauberzüge hier durch in die Heimat. – Große Erbitterung herrscht im Volke gegen unsren Bundesgenossen Österreich-Ungarn. Denen reichen ihre Lebensmittel, Brot, Kartoffeln, Fleisch nimmer und sie berufen sich darauf, Deutschland hätte ihnen versprochen, dafür Sorge zu tragen, daß die Lebensmittelrationen nicht verringert zu werden brauchen. Dieses Versprechen hätten wir nicht gehalten. Allerdings hatte Deutschland seinem Bundesgenossen versprochen, die erste Lebensmittelausfuhr, die man sehr groß schätzte, nach Österreich gehen zu lassen. Durch die inneren Unruhen in der Ukraine konnte jedoch nur ein geringer Prozentsatz von dem, was man sich erhofft hatte, ausgeführt werden und dieses Wenige kam nach Österreich. Daß wir selbst nicht viel haben, geht doch auch schon darauf hervor, daß unsre Brotrationen bedeutend vermindert werden mußten. Das also ist der Dank Österreichs, dem wir in der Not beigestanden sind und dem wir unsre Teilnahme am Krieg verdanken. Sonntag, 30. Juni 1918 Nach amtlichen Nachrichten, die an den Darmstädter Hof gelangten, ist der russische Zar ermordet worden. Der Zarewitsch, der älteste Sohn des Zarenpaares ist gestorben; er war lungenkrank gewesen. In Petersburg herrscht Hungersnot. 3 Tage in jeder Woche gibt es weder Kartoffeln, noch Brot, noch andre Lebensmittel. Die Leute sinken auf den Straßen um vor Elend. Montag, 1. Juli 1918 Verflossene Nacht wurden wir um 1 h. durch einen heftigen Krach, der alles erzittern machte, geweckt, gleich darauf folgte ein zweiter und dann krachten die Schreckschüsse: Fliegeralarm. Die 2 ersten waren schon Bombeneinschlag. Sofort flüchteten wir, ebenso Verwalters in den Keller, wo wir blieben, bis die Sirene heulte, ein Zeichen, daß die Gefahr überstanden ist. Von Arbeitern erfuhren wir, daß in den Bahnhof Bomben eingeschlagen hätten. Etwa um ¾ 2 h. gingen Herr Müller, Onkel und ich zur Unglücksstelle. Auf dem Wege zum Bahnhof lagen unendlich viele Glassplitter, am Hohlbach hatte es eine Menge Scheiben gekostet. Am Bahnhof war eine Bombe auf dem ersten Bahnsteig, seitlich rechts vom Stationsgebäude eingeschlagen und hatte in den weichen Boden ein großes trichterförmiges Loch gewühlt. Ein Postkarren, der gerade dort gestanden hatte, wurde auf ein Dach geschleudert, das eine Rad darüber hinaus. Im zweiten Geleise waren 2 Bomben eingeschlagen, die Erde war aufgewühlt, darüber lagen die Schienen wie 2 Stränge frei in der Luft. Überall lagen Steine, Erdklumpen, Holzklumpen umher. Sofort traten Arbeiter unter Aufsicht der Beamten an um den Platz aufzuräumen. Überall herrschte große Aufregung ob der nächtlichen Störung. Wie man heute morgen hörte, sollen in die Pulverfabrik von
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Papst, sowie in die Oberlandeszentrale auch Bomben gefallen sein, ohne jedoch größeren Schaden zu verursachen. Mittwoch, 17. Juli 1918 Seit 2 Tagen hat wieder eine Offensive begonnen, diesmal in der Champagne an der Marne, bei Reims. In einer Front von 80 km griffen unsre Truppen an, und überschritten schon die Marne, den Feind zurückwerfend. 13 000 Gefangene und viel Material sind bis jetzt das Ergebnis. Feindliche Flieger waren heute nacht in Neunkirchen und Zweibrücken. Wir hatten auch Alarm und waren im Keller. – In Petersburg ist unser Gesandter, Graf [Wilhelm von] Mirbach von Sozialdemokraten ermordet worden. Man vermutet, daß da die Entente wieder einmal die Hände im Spiel hat; gleich nach der Tat hat auch der Anführer der Sozialdemokraten und der französische Gesandte eine Reise zusammen unternommen. Montag, 22. Juli 1918 Gestern nacht waren wir wieder im Keller. Feindliche Flieger überfuhren Homburg ohne jedoch Bomben abzuwerfen. Sie waren in Speyer, richteten jedoch keinen Schaden an. Jetzt ist Vollmond, da können wir wieder jede Nacht in den Keller wandern. Was gibt das nur im Winter?? Die Zeitung schreibt heute, daß ziemlich in der Nähe von Homburg ein feindlicher Flieger einen Spion auf einem entlegenen Platz abgesetzt hat. Derselbe ist jedoch verhaftet worden und es stellte sich heraus daß es ein Amerikaner sei. Durch solche Spionage sollen auch die Homburger Fabrik u. Bahnhofsanlagen verraten worden sein. Bestimmtes weiß man nicht, man kann nur vermuten. Die Offensive scheint etwas abgeflaut, jedenfalls sind die Erfolge nicht die, welche erwartet wurden. – Im Auswärtigen Amt hat Staatssekretär v. Kühlmann abdanken müssen. An seine Stelle ist ein Herr [Paul] v. Hintze gekommen. Kühlmann hatte seinerzeit die Verhandlungen in Brest-Litowsk und Bukarest geführt und auch beendet. Mittwoch, 31. Juli 1918 Heute abend um 6 h. waren es 4 Jahre, seit die Mobilmachung über Deutschland verhängt worden ist. Vier Jahre Weltkrieg und wie lange noch? So fragt ein jeder und niemand weiß eine Antwort. Unsre Lage ist ziemlich gut, aber ohne Aussichten auf einen baldigen Frieden. Die Begeisterung der Mobilmachungsstelle ist verschwunden und hat einer immer mehr wachsenden Unzufriedenheit Platz gemacht. Die Lebensmittel sind knapp, teuer, die notwendigsten Gebrauchsartikel nicht zu bekommen; dazu kommt der Mißerfolg unsrer letzten Offensive, die täglichen Nachrichten über Verluste; dies alles trägt nicht dazu bei, die Stimmung zu heben. Dazu kommt heute noch die Nachricht, daß unser Führer im Osten, Generalfeldmarschall [Hermann] v. Eichhorn und sein Adjutant [Hauptmann Walter von Dreßler] einem Attentat zum Opfer gefallen sind. Gestern nachmittag 2 h, als die beiden vom Kasino zur Wohnung fuhren wurden durch einen Unbekannten Bomben in den Wagen geworfen, die auch wirkten. Der Attentäter [Boris Mikhailovich Donsky] gehört zu der Partei der Mörder des Grafen [Wilhelm von] Mirbach[-Harff]. Auch da steckt die Entente dahinter. – Zum Nachfolger des Grafen Mirbach in Moskau wurde Dr. [Karl] Helfferich, der ehemalige Staatssekretär, ernannt. Dr. Helfferich hat seinen Posten bereits angetreten. – Heute waren die Flieger wieder in Saarbrücken; von 11 Flugzeugen wurden 7 heruntergeschossen. In Koblenz wurden 6 Flieger heruntergeschossen; sie hatten die Absicht Homburg zu bombardieren. Einer der In-
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr sassen wäre ein Homburger namens Schleck; dessen Vater wäre wegen Unterschlagung nach Amerika durchgebrannt und der Sohn will seine Vaterstadt bombardieren!! Sonntag, 11.8.18 Im Westen steht es nicht zum besten. Die Franzosen haben die unseren erst in die Falle gelockt und dann fast ganz umzingelt. Man spricht von einigen tausend Gefangenen, die es uns gekostet hat. Immer weiter sind die Franzosen und Engländer in unsre Stellungen eingedrungen, bis wir sogar Soissons hergeben mußten. Unter der Bevölkerung glaubt keiner mehr an ein gutes Ende. Jeder glaubt, daß wir verlieren, die Stimmung ist dadurch nicht die beste. – In Rußland sind große Wirren. Der Zar ist wirklich erschossen worden, nachdem er zuvor ein fürchterliches Leben in der Gefangenschaft gehabt hatte. Man kann es ihm gönnen, dem Blutzaren. Eine englische Abteilung hat einen bekannten sibirischen Hafen besetzt. Sonntag, 18.8.18 Die Schlacht im Westen ist wieder etwas abgeflaut, nachdem die Feinde wieder Teile ihrer von uns eroberten Stellungen haben hergeben müssen. Seit ein paar Tagen sind die Nächte wieder mondhell; natürlich haben wir seitdem wieder Fliegerbesuch. Hier sollen diese Woche zwei Bomben gefallen sein, außerhalb der Stadt. Heut nacht waren wir wieder im Keller. Wie heute morgen bekannt wurde, soll auf Grube Heinitz bei Neunkirchen ein Blindgänger unsrer Abwehrgeschütze eingeschlagen haben. Es gab 7 oder 8 Tote, 14 Schwerverwundete und viele Leichtverwundete. Da gerade Schichtwechsel war, waren viele Arbeiter in den Wasch– und Speisehallen. In Rußland sind noch immer verworrene Zustände. Auch die Japaner sind von Osten her eingedrungen. Sonntag, 25.8.18 Auf den Kriegsschauplätzen im Westen sind die Feinde nach heftigen Kämpfen wieder in ihre alte Stellung geworfen worden. Feindliche Flieger griffen in den mondhellen Nächten der vergangenen Woche deutsche Städte an, darunter auch verschiedene pfälzische. Auch wir wurden in Mitleidenschaft gezogen, mußten verschiedene mal nachts in den Keller. Auf Grube Heinitz bei Neunkirchen wurden durch eine Bombe 8 Leute, alles Bergleute getötet und unzählige schwerer oder leichter verwundet. Auf dem Websweilerhof mußte ein Flieger landen, die Insassen, englische Offiziere wurden gefangen genommen. Das Flugzeug hatte noch 16 Bomben von je 1 Zentner, außerdem 3 Maschinengewehre; es war ein großes Kampfflugzeug. Bei Schmittweiler bei Zweibrücken stürzte ein brennendes Flugzeug ab, die Insaßen waren tot. Sonntag, 1. Sept. 1918 Im Westen haben unsre Truppen wieder einige Ortschaften aufgegeben. Montag, 9. Sept. 1918 Rosch ha schanah ist vorbei, das 5. im Kriege, wie viele werden wir noch in solcher Zeit feiern können? Die Stimmung unter der Bevölkerung ist keine gute. Die Leute sind sehr niedergeschlagen, weil unsre Stellungen im Westen zurückgenommen wurden, teils planmäßig, teils von den Feinden zurückerkämpft. Allgemein heißt es, wir verlieren den Krieg, wir gehen keiner guten Zukunft entgegen und so weiter. In Rußland ist auch noch immer keine Ruhe. England hetzt und
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger hetzt. Deutsche Truppen kommen jetzt nach Sibirien, um die Engländer aus dem von ihnen besetzten sibirischen Hafen hinauszuwerfen. Montag, 23. Sept. 1918 Schon lange habe ich nichts mehr hingeschrieben; die Feiertage lassen einen zu nichts kommen. Ich war auch 8 Tage zu Haus. – Währenddessen haben wir schon wieder verschiedene Male die Flieger gehabt; natürlich immer abends oder nachts. Am Kolnidre, gerade als wir die Synagoge verließen, krachte die Signalbombe und gleich fängt auch der Flak an zu schießen. Entgegen aller Vorsicht eilten wir nach Haus, es ist so unheimlich in andren Kellern Schutz zu suchen. Herr und Frau Moses Mai übernachteten bei uns und nachts durften wir noch 6 mal aufstehen und in den Keller flüchten. Das war richtige Buße; es krachte, so heftig wie bisher nie und man wußte nie, sind es Bomben oder Flak. Auch darauffolgende Nacht war 6 mal Alarm, wir waren aber nur 2 mal im Keller. Jedoch die Nachtruhe ist immer gestört. In K’lautern war es sogar verboten, daß Frauen und Kinder am Jomkippur den Gottesdienst besuchten. In andren pfälzischen Städten richteten die Flieger erheblichen Schaden an und forderten sogar Menschenopfer. Die Stimmung unter der Bevölkerung ist sehr gedrückt. Unsre Truppen mußten an der Westfront vor der Übermacht zurückgehen und nun glauben viele, wir würden verlieren, oder die Franzosen kämen ins Land und wir würden französisch. Man spricht sogar von einer Fernbeschießung von Metz, die schon erhebliche Opfer gefordert hätte. Auch solle Metz geräumt werden. Das alles sind Gerüchte, die man nicht laut sagen darf. Jeder schimpft über den Kaiser und unsre Heeresführung. Zudem kommt die Sorge, daß die Kartoffeln nicht reichen. K’lautern und L’hafen kann diese Woche schon keine verteilen, da keine da sind. Und bei uns schließen die Preußen hier Wucherpreise so lange aus, bis kein mehr da sind. Sonntag, 29.9.18 Der Tagesbericht aus dem Westen ist besser geworden. Unsre Truppen weichen keinen Fingerbreit mehr zurück aus der Siegfriedstellung. Die erneuten heftigsten Angriffe unsrer Feinde brechen immer vor unsren Gräben zusammen. Österreich-Ungarn hat unsren Feinden den Frieden angeboten, wurde jedoch mit Hohn zurückgewiesen. Auch der bulgarische Staatsminister hat, allerdings ohne Vorwissen den Königs die Entente um Waffenstillstand gebeten. Allgemeine Empörung herrscht über diese Schritte unsrer Alliierten. Gerade jetzt, wo es an der Front nicht zum Besten steht, jetzt wollen diese Staaten die Waffen strecken; was würde das für uns bedeuten!! Augenblicklich heißt es wieder: zeichnet Kriegsanleihe, die neunte. Diesmal wird sie wohl nicht überzeichnet werden, eher befürchtet man, daß es eine Zwangsanleihe gibt. – Die Fernbeschießung von Metz beruht auf Wahrheit; bei Saarburg werden sogar Ortschaften, die im Feindbereich liegen, geräumt. – In Rußland sind zwischen den einzelnen Parteien in Rußland große Wirren. Keiner ist mehr sicher. Auf einen bloßen Verdacht hin werden Hunderte ergriffen, in die beschmutzten überfüllten Gefängnisse geworfen und tags darauf vielleicht schon erschossen. Waren und Kampfgegenstände, sowie Grundstücke und Häuser werden willkürlich requiriert; die Soldaten und der Pöbel teilen sich hierin. Und all dieses Chaos hat die Revolution, hat die Entente verschuldet!
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr Sonntag, 6. Oktober 1918 Die Lage hat sich immer noch nicht gebessert; der gestrige Tagesbericht meldete sogar einen neuen planmäßigen Rückzug unsrerseits bei Chemin-des-Dames. Die Stimmung ist demgemäß nicht die beste. Es sind wieder viele Angsthasen da, die schon packen und Angst haben, die Franzosen kommen. Man spricht davon, daß wir an 200 000 Gefangene eingebüßt hätten. – Im Reichstag hat es gewaltigen Umsturz gegeben; Reichskanzler Graf Hertling hat abgedankt; sein Nachfolger wurde Prinz Max von Baden. Als Staatssekretär ohne Portefeuille wurden ihm die Abgeordneten Scheidemann, Groeber und Erzberger von der sozialdemokratischen Partei zur Seite gestellt. Es ist das erste mal, daß Vertreter dieser Partei, die früher als nicht gleichberechtigt angesehen wurde, direkt zur leitenden Regierung kamen. Die Konservativen, die bis jetzt die Hauptstütze der Krone waren, wurden ganz zurückgesetzt. Die neue Regierung hat sogleich Wilson, der aber Machthaber bei der Entente ist, um Waffenstillstand zwecks Einleitung von Friedensverhandlungen gebeten. Wilson hat in einer Rede mitgeteilt, unter welchen Bedingungen die Entente Frieden machen werde. Es sind dies 14 Punkte. Die wichtigsten und zugleich schwierigsten sind: die Rückgabe Belgiens mit Entschädigung, Selbstständigungmachung Elsaß-Lothringens zu einem unabhängigen Staat. – Man hört nichtamtlich, daß England und Frankreich das Friedensangebot strikt abgelehnt hätten. Bulgarien hat mit der Entente Frieden gemacht. König Ferdinand von Bulgarien hat abgedankt und ist mit seinem Gefolge in Koburg eingetroffen. Unsre Truppen wurden von der Front in Mazedonien zurückgezogen. – Hier werden eben viel neue Baracken direkt hinter unserem Haus errichtet; es gibt eine Urlaubersammelstelle; dieselbe war bisher in Metz und wird jetzt nach hier verlegt. Ebenso wird ein Offizierslazarett errichtet. Man spricht davon, daß auch die Etappe hierkommen soll, wie es 1914 war. Das wäre für uns nicht gut; da hätten wir dauernd die Flieger. Zu allem Unglück herrscht aber noch eine Epidemie hier; die Spanische Krankheit, nur daß sie aber gleich in Lungenentzündung ausartet und nicht sterblich verläuft. Heute allein sind 5 Leute nach ganz kurzem Krankenlager gestorben, nicht ganz junge Leute. Über 800 Personen sind daran erkrankt. Freitag, 1. November 1918 Lange bin ich nicht zum Schreiben gekommen, ich habe die Grippe gehabt und die geht nicht so schnell wieder. Schon viele Opfer hat sie gefordert und erst langsam flaut sie ab. Wie viel ist in den letzten Tagen passiert. Auf die Note Deutschlands hat Wilson geantwortet, daß er und mit ihm die ganze Entente nur mit einer Regierung, die sich aus Vertretern des Volks zusammensetzt, Frieden machen werde und nicht mit den bisherigen Machthabern. Das heißt mit anderen Worten, daß der Kaiser und seine Getreuen abgeschoben werden soll. Darauf hat die Regierung geantwortet, daß sie mit allen Sätzen der Wilsonschen Note einverstanden sei und weitere Erklärungen abwarte. Jetzt natürlich schwirren alle möglichen Gerüchte umher. Einmal hat der Kaiser abgedankt, ein anderesmal Hindenburg. Ludendorff hat schon vorige Woche freiwillig abgedankt. Die Lage ist für uns äußerst trist. Auch Österreich-Ungarn hat sich von uns losgelöst und hat kapituliert. Wo sind unsre treuen Verbündeten alle, denen wir diesen Krieg verdanken? Alle haben sie uns verlassen und jetzt können wir eben sehen, wie wir allein fertig werden. Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich sehr gewandelt. Jeder sagt, was er denkt und alle denken gleich: Frieden unter allen Umständen, besiegt sind wir ja doch einmal und Weiterkämpfen bringt uns nur den Feind ins Land. Der Kaiser soll abdanken, die Krone hat ihre Macht verloren. Doch der zögert, es handelt sich eben um seine ganze Existenz. Doch muß man sich eingestehen, daß ein Weiterkämpfen gar keinen Sinn
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger hat und nur unser eigenes Land zerstört. Wir alle müßten fliehen, wir sind ja so nahe an der Grenze. Das wäre das schrecklichste. Da wohl nächstliegende ist wohl, daß wir die Nationalität wechseln müßten. Die Friedensbedingungen werden wohl sehr scharf sein. Jeder rechnet damit, daß Elsaß-Lothringen und wohl auch das ganze linke Rheinufer französisch werden. Die Pfälzische Post schreibt in einem Artikel unter dem Titel „Besiegt“: Besiegt sind wir nun einmal, das ist nicht abzuleugnen. Ein Weiterkämpfen ist zwecklos, da wir doch unterliegen werden. Hunderttausend Menschen werden dabei ihr Leben lassen müssen, ohne die Gefangenen und Verwundeten. Wollte man diese Opfer der Schlachten von einem Monat zusammennehmen, so würden sie die Einwohnerzahl einer Provinz machen. Da ist es doch besser, diese Provinz verlieren wir durch Abtreten, als daß dieselbe überhaupt ganz ausstirbt.– Hinter unserem Haus ist ein ganzes Barackenlager errichtet worden; es soll ein Urlauberbahnhof sein, so heißt es wenigstens. Eine neue Bahnhofskommandantur ist errichtet worden; wir sollten gestern einen Leutnant mit Burschen ins Quartier bekommen; doch da ich noch zu Bett lag, bekamen Verwalters den Leutnant und wir den Burschen. Samstag, 9.11.18 Bayern ist Republik! Ganz unerwartet ist diese Nachricht gekommen. In München hat sich ein Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat gegründet unter Führung des Unabhängigen Sozialdemokraten Kurt Eisner. Dieser hat in allen Teilen der Hauptstadt anschlagen lassen, daß die bisherige Regierung gestürzt sei. Der Wortlaut ist folgender: Um nach jahrelanger Vernichtung aufzubauen, hat das Volk die Zivil- u. Militärbehörden gestürzt und die Regierung selbst in die Hände genommen. Die bayr. Republik wird hiermit proklamiert!! Die oberste Behörde ist der von der Bevölkerung gewählte Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat, der provisorisch eingesetzt ist, bis endgültige Volksvertretung geschaffen sein wird. Er hat gesetzgeberische Gewalt. Die ganze Garnison hat sich der republikanischen Regierung zur Verfügung gestellt. Generalkommando und Polizeidirektion stehen unter unserem Befehl. Die Dynastie Wittelsbach ist abgesetzt. Hoch die Republik!!! Weiter hat der Rat einen Aufruf erlassen an die Soldaten, daß diese einen Kasernenrat gründen sollten und sich dessen Befehlen unterstellen. Ferner gibt die neue Regierung bekannt, daß sie keine inneren Unruhen veranlassen wolle, die Beamten und Offiziere sollten, sobald sie sich fügen, in ihren Ämtern bleiben. Auf der Theresienwiese hatten sich zehntausende versammelt. Die verschiedenen Gewerkschaften rückten geschlossen an. Reden wurden gehalten, in denen die Abdankung des Kaisers und seines Hauses stürmisch verlangt wurde. Hierauf zog alles, unter Voranmarsch einer Musikkapelle durch die Stadt hin zum königlichen Schloß. Viele Soldaten aller Waffengattungen waren dabei. Es heißt, der König sei geflohen. Nicht allein in München sind Unruhen, auch in den übrigen bayrischen Städten, in Frankfurt, Köln, Kiel, in Braunschweig haben sie sogar den Herzog gezwungen, abzudanken. Er ist des Kaisers Schwiegersohn. Verschiedentlich wurden den Offizieren die Achselstücke und Kokarden abgerissen; in Kiel kam es zu Meutereien, auf offener Straße wurde auf den Prinzen Heinrich, den Bruder des Kaisers geschossen. Nur mit Mühe konnte er entkommen. Bei uns hier ist es bis jetzt noch ruhig. In Zweibrücken haben sie auch einen Kasernenrat gebildet und verlangten vom Bürgermeister sich an der Versammlung zu beteiligen. Man ist gespannt auf das weitere. Heute mittag 3 h. hat der Kaiser mit seinem Hause abgedankt. Aber erst, nachdem er von den Sozialdemokraten ein Ultimatum erhielt, daß er entweder abdanken solle oder die Demokraten von der Regierung zurücktreten würden. Bis hier, als ihm dieser Gedanke schon ziemlich nahe gelegt
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr wurde, hat er immer geantwortet, er möchte das deutsche Volk in dem nun entstehenden Chaos nicht allein lassen. Schon seit einer Woche hielt er sich im Großen Hauptquartier auf, weil er sich in Berlin nicht sicher fühlte. – Die letzten Tage haben überhaupt seltsame Dinge enthüllt. So zum Beispiel hörte man, daß ein General Rein, einer der stärksten Kriegshetzer, von der Firma Krupp Essen bezahlt wurde, von der selben Firma, bei der der Kaiser oft zu Gast weilte. Die neue Regierung will darüber die Firma Krupp zur Verantwortung ziehen. – Auch hier liefen schon Soldaten mit roten Fahnen herum; in Zweibrücken hat sich auch ein Soldatenrat gebildet; in St. Ingbert sollen sie das Lebensmittelamt gestürmt haben. Samstag, 16.11.18 Waffenstillstand! Unter fast unmöglichen Bedingungen wurde er von unsren Gegnern angeboten: Räumung aller besetzten Gebiete, Elsaß-Lothringen und des linken Rheinufers bis zum 1. Dezember, Abtretung von tausenden von Lokomotiven, Waggon, U-Booten, Munition, Schiffe, Freilassung der Gefangenen ohne Gegenaustausch, Besetzung der von uns geräumten Gebiete und der Brückenköpfe Köln, Koblenz und Straßburg, Räumung bis 30 km rechts des Rheins als neutrale Zone, Fortdauer der Blockade. Gegen letzteren Punkt hat Reichskanzler Ebert, der Nachfolger des Prinzen Max, Einspruch erhoben, da dadurch viele des deutschen Volkes dem Hungertode preisgegeben wären. So wurde denn zugebilligt, daß wir wenigstens Lebensmittel erhalten. Seit einigen Tagen geht der Rückzug unsrer vielfach aufgelösten Truppen vor sich. Viele sind einfach nach Haus. Proviant wird fortgeschafft, alles Material, alles, was eben irgendwie fortgeschafft werden kann. Und wie viel muß noch zurückbleiben. Hier ist eben ein Leben wie zur Zeit des Aufmarsches 1914. Die ganze Stadt wimmelt von Militär. Flieger, Autos, alle Arten von Wagen kommen durch; Montag kommt 1 Generalkommando hierher; gerade uns gegenüber ist eine Funkerstation errichtet worden; die ganze Stadt hat Einquartierung; wir haben 1 Inspektor, 2 Burschen und 4 Pferde. Ein großes Proviantamt ist errichtet worden, das die durchkommenden Truppen mit Essen versieht. Alle möglichen Gerüchte tauchten wieder auf. Diese Woche hieß es, General [Ferdinand] Foch sei ermordet, dann wieder sind die Franzosen schon in Metz. Doch werden wir sie bald genug im Land haben. Unser früherer Kaiser ist nach Holland geflohen und interniert, ebenso der Kronprinz. Die Kaiserin und Kronprinzessin befinden sich in Potsdam; das Palais ist jedoch dem Soldatenrat unterstellt. Im allgemeinen ist es ruhig; der Soldatenrat hier hat eine Bürgerwehr gegründet, die gründlich aufräumt. Im Soldaten- und Arbeiterrat sind von der aller niedersten Sorte. Aber man glaubt nicht, daß sie sich lange am Ruder halten; wenn auch die demokratische Regierung bleibt. – Die Gefangenen laufen frei umher und können anfangen, was sie wollen. – Seit einigen Tagen ist die Stadt wieder hell erleuchtet wie im Frieden. Man sagt allgemein, daß das linke Rheinufer ein Pufferstaat geben sollte. Doch es weiß ja niemand, wie es noch kommt. Montag, 18.11.18 Alle pfälzischen Soldaten werden entlassen Jeder bekommt noch einen neuen Anzug und 50 M. Gestern sind die ersten Franzosen in Metz eingezogen. War das wohl ein Jubel! Wir hörten heute, daß die Franzosen berechtigt seien, täglich 16 km weiter deutsches Land zu besetzen. Demzufolge wären sie also nächsten Freitag schon hier. Wie das noch weiter geht!! Die Gefangenen sind abgerückt, am Sonntag ist auch unser Lorenz mit Sack und Pack davon. Heute wurde hier Holz versteigert. Dasselbe gehörte der Militärverwaltung und präsentierte ungefähr einen Wert von 9 Millionen Mark. Um es nicht den Franzosen zu überlassen, wird es Kubikmeter weise abgegeben
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger und zwar spottbillig. 1 Kubikmeter kostet höchstens 1 M – 1,50 M. Man erzählt, daß in Feindesland (dem von uns besetzten Gebiet) und in Metz den Feinden noch unzählige Vorräte in die Hände gefallen seien. Die Zeit zum Räumen ist auch gar zu kurz. – Seit heute ist ein Generalkommando hier und unzähliges Militär. Die Schulen sind geschlossen, die Säle werden zu Massenquartieren für Soldaten verwendet. Morgen muß zu Ehren unsrer heimkehrenden Truppen geflaggt werden; damit wenigstens dadurch gezeigt wird, daß man ihre Tapferkeit trotz allem nicht vergessen hat. – Der Verkehr mit der Eisenbahn wird vom 21. ds. ab eingeschränkt; man darf nur noch mit einem Ausweis vom Bezirksamt reisen. Sonntag, 24. Nov.1918 Noch immer befindet sich unsre Armee auf dem Rückzug über den Rhein. Unzählige Truppen aller Waffengattungen, Autos, Kraftwagen, Bagage, Geschütze fahren täglich durch, werden einquartiert und kommen nach kurzer Rast weiter. Der Holzplatz ist noch immer nicht leer; noch mehr als die Hälfte ist dort und fällt wohl den Feinden in die Hände. In Saarbrücken sind schon die Franzosen; in Metz und Straßburg wurden sie von Teilen der Bevölkerung mit Jubel empfangen; überall wurde sofort die Trikolore gehißt. Unendliche Vorräte fielen in ihre Hände. In Elsaß-Lothringen wurden unsere heimkehrenden Truppen schlecht aufgenommen. Offiziere und Mannschaften erhielten von der Bevölkerung nur in Scheunen Quartier; so tief wurzelt der Haß gegen die Deutschen, zu denen sie doch fast ein halbes Jahrhundert gehörten. Gestern abend hieß es, die Franzosen seien im südlichen Bezirk Zweibrücken, worauf sämtlicher Flaggenschmuck in den Straßen verschwinden mußte. Am Freitag kamen gefangene französische, englische und amerikanische Offiziere hier durch. Sie gingen in der Stadt frei herum, alle in tadellosen, neuen Uniformen. – Die Stadtverwaltung hat noch den Soldatenrat unter sich. Die Vorsitzenden sind: Arbeitersekretär Leiser, Karl Spies, früher Russenwachmann, und Milchhändler Harth. Ein andrer, Herr Peter, oder, wie er genannt wird: das „rote Peterchen“, spielt auch eine große Rolle. Er ist schon wiederholt mit Bürgermeister Cappel zusammengeraten, sodaß dieser abdanken wollte. Doch das litt Regierungsrat Schlosser nicht; er stellte es als einen Akt der Feigheit hin, jetzt seinen Posten zu verlassen. Jetzt, wenn die Besatzung kommt, wird es aus sein mit der Herrschaft des Soldatenrates, denn dann wird wohl die feindliche Kommandantur die Verwaltung besorgen. Allgemein besteht die Angst, daß die Besatzung requirieren könnte, denn das Requisitionsrecht wurde ausdrücklich in die Waffenstillstandsbedingungen vorbehalten. – Das Lazarett ist aufgelöst; die Verwundeten wurden forthinausgeschickt, das Personal entlassen. Sonntag, 1. Dezember 1918 Heute haben die Feinde das Recht, die Pfalz zu besetzen. Im Elsaß und dem Saargebiet sind sie schon. Auch einige südpfälzische Ortschaften waren für ein paar Tage besetzt, doch da dies entgegen den Waffenstillstandsbedingungen war, wurden die Truppen wieder zurückgezogen. Seit heute nacht 12 h. ist jeglicher Personen- u. Güterverkehr am Bahnhof eingestellt, auf unbestimmte Zeit. Grund dazu weiß man nicht. Heute früh sollen schon einige Franzosen hier gewesen sein. Die Besatzung wird uns wohl in vielen Dingen Fesseln anlegen; bisher war vollkommene Redefreiheit; jetzt wird wohl jeder seine Zunge im Zaum halten müssen. – Die Besatzung ist eingerückt, bis jetzt nur Franzosen; mit Autos, auf den Maschinengewehre eingebaut sind, kamen sie von Zweibrücken her. Wie viele hierherkommen und wie alles noch kommen wird, weiß man nicht.
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr Sonntag, 8. Dezember 1918 Die ersten 8 Tage der Besatzung sind vorbei. Die Soldaten und Offiziere bezogen teilweise Bürgerquartiere. Wie hatten bis gestern 1 Kaptein (Hauptmann) mit Burschen, 2 Pferde mit Bedienten, 2 Köche, die in unsrer Küche für 6–8 Offiziere kochten, außerdem noch 1–2 Ordonnanzen zum Essen. Als Eßzimmer mußten wir den Offizieren unser Eßzimmer zur Verfügung stellen. Gestern ist ein Teil unsrer Mannschaften abgerückt; jetzt haben wir keinen mehr zum Schlafen, nur noch den Stadtkommandanten mit Adjutant und Ordonanz zum Essen. Auf Bitte des ersteren kocht jetzt Tante, da die Köche abgerückt sind. Mittwoch, 18. Dezember 18 Über 14 Tage der Besatzung sind vorbei; Die meisten sind fort, doch haben wir noch genug. In der Stadt ist noch viel Militär. Unendliches Material, darunter auch Geschütze passieren täglich die Straßen. Wie wir erfuhren, werden am Rhein, auch in Leimersheim, Geschütze eingebaut; was das bedeutet, weiß man nicht. In einigen deutschen Städten mußte auf Anordnung des Kommandanten die französische Sprache in allen Schulen eingeführt werden, ebenso wurde auf verschiedenen Plätzen die Trikolore gehißt. Der hiesige „Administrateur militaire“, Herr Mennetrier, der bei uns ißt, ist ein feiner Mann, bisher ist es uns noch gut gegangen. Von abends 8–morgens 6 h. französische Zeit darf niemand ohne besondere Erlaubnis die Straße betreten; auch ist es nötig zum Reisen eine besondere Bescheinigung, einen „Laissez-passer“ oder „Permis“ zu haben. Unsere Einquartierung ist sehr höflich, wir können uns darüber nicht beklagen, nur ist eben alles aus dem Geleise gebracht. Diese Woche kamen 9000 kg französisches Weißbrot für die arme Bevölkerung und die Arbeiter. – Im übrigen Deutschland geht es nicht schön zu. Wir erfahren ja fast nichts; alles wird streng zensiert, oft sind in den Zeitungen ganze Spalten gestrichen. In München war eine große Judenhetze. Kurt Eisner ist Jude und ihm gibt man die Schuld an der ganzen jetzigen Lage, natürlich müssen mit ihm die übrigen Juden leiden. Hauptsächlich das Zentrum hat die Judenhetze in Szene gebracht; die Sozialdemokraten stehen den Juden bei. Mittwoch, 25. Dezember 1918 Erster Weihnachtstag! Was war sonst an diesem Tage ein Verkehr; alles still und ruhig heute. Man hat ja keine Ausweise erhalten. – Der Major vom Kartonnement unterschreibt prinzipiell keine Ausweise und ist daher mehr gehaßt als geliebt. Sonntag, 5. Januar 1919 Das neue Jahr hat seinen Anfang genommen. Wer hätte das vorigen Sylvester gedacht, daß es so mit uns kommen würde. Damals hat man noch so zuversichtlich auf den Sieg gehofft und heute sind wir so tief gesunken, der Erbfeind ist im Land. Zwar können wir nicht klagen; die Einquartierung ist höflich und zuvorkommend, doch man ist ja nimmer sein eigener Herr. Zu Neujahr bekamen Tante und ich von unsern Offizieren je eine Tafel Schokolade. Der Bezirk Homburg ist einem Militärverwalter, Major Mennetrier, unterstellt, der bei uns ißt. Derselbe gibt die Bekanntmachungen heraus, kontrolliert mit seinem Adjutanten alles, was im Bezirk vorgeht. Am Bürgermeisteramt Bezirksamt und den Wohnungen der Generäle ist die französische Fahne aufgepflanzt, ebenso befindet sich überall ein Posten; auch der Bahnhof wird streng bewacht. Zum Verreisen bedarf man eines Erlaubnisscheines; viele, die sich einen solchen auf unrechtmäßige Weise verschafft haben und ertappt wurden, sind entweder eingesperrt oder mit Geld gestraft worden. Jeden
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Morgen um 9h wird unter den Klängen der Marseillaise die Trikolore am Bürgermeisteramt gehißt und die neue Wache zieht auf; jeden Sonntag mittag 3h ist auf dem Marktplatz Militärkonzert. Am 30. Dezember war der Oberbefehlshaber der französischen Armee, Marschall [Philippe] Pétain und der Oberbefehlshaber über die Pfalz, General [Emile] Fayolle hier und hielten Truppenparade ab. Sonntag, 12. Januar 1919 Am 19 ds. finden die Wahlen statt. In den Zeitungen wird, soweit die Zensur es zuläßt, viel Propaganda gemacht. Man ist gespannt, wer den Sieg davontragen wird: Demokratie oder Sozialdemokratie. In Berlin ist großes Durcheinander. Spartakuspartei und Sozialdemokratie bekämpfen sich aufs heftigste, selbst mit den Waffen. Auch in München geht es hoch her. Wir im besetzten Gebiet sind in der Beziehung am besten dran. Bei uns herrscht Ruhe. Wir haben noch 2 Offiziere zum Essen bekommen, im ganzen jetzt 4. Neuerdings wurde der Bezirk Homburg dem 8. Französischen Armeekorps unterstellt, dessen Bestimmungen anscheinend strenger sind. Nämlich sofort wurde die Polizeistunde (der Verkehr auf der Straße) wieder auf 8 h. verlegt, während er bis jetzt auf 10 h. gesetzt war. Diese Woche mußten wir 25 Großvieh ans Militär liefern, heute nochmals 25. Wer sie bezahlt, weiß man noch nicht. – Der Verkehr mit den unbesetzten Gebieten beschränkt sich nur für geschäftliche Dinge, betreffend Lebensmittelverfügung. Wir haben schon versucht Karten nach Oberhausen und Schriesheim zu schmuggeln, eine nach Oberhausen ging durch. Sonntag, 2. Februar 1919 Unsere Einquartierung ist noch da. Homburg hat überhaupt eine große Garnison; ist Proviantlager und Sammelplatz für die Urlauber. Es ist noch nötig, daß man zum Reisen einen Erlaubnisschein hat. Auch muß jetzt jede Person über 12 Jahren einen Ausweis mit Photographie und Signalement haben, der auch in der Stadt abverlangt werden kann. – Die Wahlen für den Reichstag sind beendet, Sozialdemokraten und Demokratie hatten überall die Mehrheit; das ist gut, die Konservativen und übrigen Kaisertreuen haben die Minderheit. Heute ist Landtagswahl; gestern abend war sozialdemokratische Versammlung. Ein Herr [Eduard] Klement aus K’lautern hat tadellos gesprochen. Er führte die Gründe an, warum wir verloren; er nannte den Kaiser einen feigen Deserteur, der sein Volk in der größten Not verließ; er überzeugte jeden von der Wahrhaftigkeit der Sozialdemokratie, „den schlechten roten Prolen“ wie er sich ausdrückte und hat sich wohl viel Achtung erworben. Augenblicklich läßt die französische Militärverwaltung die Ursache des Krieges in den Zeitungen veröffentlichen, das Gegenteil von dem was man uns sagte. Sonntag, 24.2.19 In ganz Deutschland ist ein großen Durcheinander. In München wurde auf Kurt Eisner ein Attentat verübt. Als er am Freitag den 20. ds. Mts. sich ins Landtagsgebäude begeben wollte, schoß ein Leutnant auf ihn, er erlag sofort seinen Wunden. Am nächsten Morgen als Minister [Erhard] Auer im Landtag den schnellen Tod Eisners bedauerte, wurde aus dem Vorsaal und den Tribünen geschossen; Auer ist schwer verwundet, 1 Abgeordneter tot und noch einige verwundet. Überall in ganz Deutschland gärt es wieder. Die Spartakisten fangen wieder allenthalben an; im Ruhrgebiet waren große Streike; in Mannheim war diese Woche auch Krawall. Der Sitz der deutschen Regierung wurde nach Weimar verlegt; dort tagt auch die Nationalversammlung. Sozialdemokratie und Demokratie haben die Mehrheit. Als Reichspräsident wurde Ebert ernannt, der Sohn eines Schneiders, der das Sattlerhandwerk gelernt hat. Der Waffenstillstand war am 17. II. abgelaufen.
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr Die Entente verlängerte ihn, aber mit 3 tägiger Kündigung. Für uns heißt es also, auf alle Bedingungen eingehen, anderenfalls der Krieg von neuem losgeht. In den französischen Zeitungen steht, daß Deutschland den Alliierten 1.200 Milliarden zu bezahlen hätte (nach einer Meldung des „Merlin“). Für die Zinsen ließe man uns 20 Jahre Zeit, dann müsse mit dem Abtragen der Hauptschuld begonnen werden. Es blieb uns auch freigestellt, uns beim Abtragen der Kriegsschulden von Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei helfen zu lassen. Man ist gespannt, wie die Friedensbedingungen, die am 15. III. heraus kommen, lauten. – Letzte Woche ist die ehemalige Königin von Bayern, Therese, gestorben. Ohne Sang und Klang, wenn man bedenkt, was früher bei solcher Gelegenheit ein Apparat in Bewegung gesetzt wurde. – Unsere Einquartierung haben wir noch immer und werden sie wohl auch noch lange haben. Sonntag, 2. März 1919 Die Ermordung Eisners hat schon schwere Folgen gehabt. In München wurde die spartakistische Republik ausgerufen. Von den Arbeiter- und Soldatenräten wurden Geißeln aus den feinsten Aristokratiekreisen Münchens genommen, so zum Beispiel der frühere Kriegsminister [Otto] Kreß von Kressenstein; Minister [Otto] v. Dandl außerdem wurden die Namen von 50 Offizieren notiert. Sobald wieder ein Anschlag auf einen Sozialisten gemacht wird, werden die beiden Minister erschossen und die 50 Offiziere arretiert. Es würde nämlich vermutet, daß der Anschlag auf die jetzige Regierung schon lange von der Gegenpartei geplant war und daß der Adel dahintersteckte. Auch den Erzbischof [Michael] von Faulhaber hat man verhaftet. Der Attentäter [Anton] Graf [von] Arco-Valley, Reichsrat der Krone Bayerns, ist nahe mit dem bayr. Königshaus verwandt; man vermutete daher, daß auch der Exkronprinz Rupprecht daran beteiligt war. In München hat man auch den Prinzen Eitel Friedrich, einen Sohn des Kaisers verhaftet gehabt, der sich unter anderem Namen eingeführt hatte. Er wurde jedoch wieder freigelassen. In Mannheim war auch ein großer Putsch. Die Spartakisten regten sich kolossal über den Tod Eisners auf und verlangten stürmisch die Proklamation der badischen Republik nach bayrischem Muster. Sie zogen in alle Gefängnisse, befreiten die Gefangenen, besetzten den Bahnhof und die Zeitungsredaktionen. Im Schloß warfen sie aus der Abteilung Landgericht sämtliche Akten und viel Bürogerät auf die Straße und verbrannten es. Auch zu Schießereien kam es verschiedene Male, wobei es einige Opfer gab. – Überall in ganz Deutschland gärt es; im Ruhrgebiet, in Thüringen, in Sachsen, überall waren und sind Streiks. Auch im Saargebiet bei Saarbrücken, Neunkirchen und St. Ingbert sollen die Arbeiter gestreikt haben, weil die Löhnung herabgesetzt worden ist. In Neunkirchen sollen sogar französische Maschinengewehre aufgestellt worden sein. – Um die Verschleppung des Spartakismus ins linksrheinische Gebiet zu verhüten, wurde jeder Personenverkehr über den Rhein strengstens untersagt und alle Bestimmungen sind verschärft. Sonntag, 30. März 1919 In den letzten Wochen ist viel und auch wieder nichts passiert. In München ist Hoffmann Ministerpräsident geworden; im allgemeinen ist es ruhiger. Am 22. März sollten die Friedensbedingungen herauskommen. Bis jetzt hat man jedoch noch nichts bestimmtes gehört. Jedoch sollen die Bezirke St. Ingbert, Zweibrücken und Homburg noch an Frankreich fallen. Die Franzosen wollen das ehemalige Herzogtum Saarbrücken wiederherstellen und dazu gehörten die 3 Bezirke. Homburg gäbe demnach die Grenze. Auch bekommen wir vom 1. April ab Lebensmittel aus Frankreich. Da wird dann hoffentlich die größte Not behoben werden. Die letzten Wochen gab es fast kein Fleisch;
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger die Bauern verschmuggeln alles um unsinnige Preise an preußische Metzger, sodaß das Schlachtvieh nicht einmal für den Bezirk Homburg reicht. Es sollte Vieh von Bayern kommen, doch bleib es meistens ganz oder zur Hälfte aus. Auch für die Kartoffeln werden unsinnige Preise bezahlt, z. B. 45 M pro Zentner. – Morgen geht Kommandant Mennetrier fort, nachdem er seit 2. Dezember bei uns war. Er wurde nach Ludwigshafen versetzt. Noch einen neuen Offizier haben wir zum Essen bekommen. Sonntag, 6. April 1919 Die Offiziersküche umfaßt jetzt 5 Offiziere, demnächst wird jedoch Oberleutnant Wachekourt, der schon 3 Monate da ist, fortkommen. Die politische Lage hat sich noch nicht geändert. Von den Friedensbedingungen und was eigentlich mit dem linken Rheinufer werden soll, verlautet nichts genaues. Ab 1. April sollen uns von Frankreich Lebensmittel, wie Kaffee, Fleisch, Dürrgemüse, Reis, Mehl zugeteilt werden. Diese Woche gibt’s Kaffee, 100 gr. pro Kopf. Sonntag, 4. Mai 1919 Ostern ist vorüber; unsre Delegierten sind in Paris und Versailles zur Unterzeichnung des Präliminarfriedens eingetroffen. Was bisher von den Friedensbedingungen verlautete, ist sehr hart für uns um nicht zu sagen unmöglich. Die Alliierten sollen demgemäß bis auf weiteres das linke Rheinufer besetzt halten; außerdem wird den Franzosen die Nutznießung des Saarbeckens auf 15 Jahre zugesprochen das heißt, für 15 Jahre wird das Saargebiet von Deutschland losgetrennt und der Oberherrschaft Frankreichs unterstellt. Wenn nach Verlauf dieser 15 Jahre Deutschland dieses Gebiet wieder zurückhaben will, muß es die Kohlengruben von Frankreich loskaufen und jedenfalls nicht billig. Zu dem Saargebiet, angeschlossen an Saarbrücken gehören auch die 3 westpfälzischen Bezirke Homburg, Zweibrücken, St. Ingbert. Dieselben sind mit Lebensmitteln entschieden besser gestellt als die anderen pfälzischen Bezirke. Jede Woche gibt es Gefrierfleisch, Speck und sonst alles, was man kaufen will. Natürlich ist alles sehr teuer, da unser Geld nur 30 Centimes gilt. Auch die übrigen pfälzischen Bezirke werden jetzt mit Lebensmitteln versorgt. Die Friedensbedingungen sprechen ferner von 125 Milliarden Kriegsentschädigung für das zerstörte Gebiet, die in Raten bezahlt werden soll. Im rechtsrheinischen Deutschland ist alles drunter und drüber. In München kämpften die verschiedenen Parteien mit wechselndem Glück gegeneinander. Der Regierungssitz wurde der Unruhen halber nach Bamberg verlegt. München und Umgebung gleichen einem Kriegsschauplatz. Gestern hat Sigmund geschrieben, er würde sich gerne in Saarbrücken niederlassen, da die Vorgänge im Rechtsrheinischen jedweden Patriotismus töteten. Doch besteht augenblicklich keine Möglichkeit dazu, da selbst diejenigen, die vor dem 1. August 1914 nicht im Linksrheinischen wohnten, sondern erst während des Krieges zugezogen sind, ausgewiesen werden. Sonntag, 11.V.19 Am Mittwoch mittag 3 h wurden den deutschen Delegierten in Versailles die Bedingungen zum Präliminarfrieden ausgehändigt. Sie sind äußerst schwer für uns. Im Osten soll ein großer Teil Schlesiens u. Posens an Russland abgetreten werden; wahrscheinlich auch der nördliche Teil Schleswigs. Im Westen soll das Saarbecken während 15 Jahren von Deutschland losgelöst und als neutraler Staat unter französische Vorherrschaft gestellt werden. Die Kohlengruben sollen 15 Jahre lang alle Erträgnisse an Frankreich liefern, als Ersatz dafür, daß alle Kohlengruben in Nordfrankreich und Belgien zerstört sind. Zum Saargebiet gehören die Kreise Saarbrücken, Saarlouis,
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr St. Wendel, St. Ingbert und teilweise die Bezirke Zweibrücken und Homburg. Homburg Stadt kommt noch dazu und bildet die östliche Grenze, dagegen wird schon Erbach zur Pfalz gehören. Für den Bezirk ist das hart so getrennt zu werden. Die Besatzung im übrigen Teil des linken Rheinufers bleibt wie vor; die Zone Köln soll, wenn die Kontributionen genau entrichtet werden, in 5 Jahren die Besatzung verlieren, Koblenz in 10 Jahren, Mainz und der übrige Teil auch in 15 Jahren. Zu dieser letzten Zone gehört auch die Pfalz. Zunächst sind 20 Milliarden zu zahlen; die Entente nimmt sich bis 1921 Zeit, die Summe der gesamten Kriegsschulden festzusetzen. Nachdem in Versailles diese Bedingungen durch [Georges] Clemenceau verlesen worden waren, antwortete Graf [Ulrich von] Brockdorff-Rantzau, Wilson habe versprochen einen Rechtsfrieden zu diktieren, doch dies hier sei ein Friede aus Haß und Gewalttat diktiert. Doch wird alles nichts nützen, wir werden wohl unterzeichnen müssen. – Die Bedingungen fordern ferner den ehemaligen Kaiser Wilhelm vor ein außerordentliches Kriegsgericht, ebenso alle Mitschuldige am Kriege. Sonntag, 18. Mai 1919 Die Nationalversammlung hat einstimmig erklärt, daß man die Friedensbedingungen nicht unterschreiben wird, da sie den vollkommenen Niedergang Deutschlands mit sich ziehen. Für immer will man Deutschland klein machen, daß es als Großmacht ganz ausschaltet; will ihm die besten seiner Provinzen nehmen, seine Kolonien; kurzum alles. Man hat erklärt, das Saargebiet solle 15 Jahre lang unter französische Verwaltung kommen und nach dieser Zeit soll in der Bevölkerung abgestimmt werden, wer deutsch und wer französisch werden will. Die Mehrheit entscheidet. Stimmt die Bevölkerung für deutsch, so müssen die Saargruben mit Geld zurückgekauft werden und das ist ein Ding der Unmöglichkeit, da wir ja fast kein Geld haben und außerdem alle Lebensmittel in Geld bezahlt werden müssen. Sonntag, 25. Mai 1919 Die deutschen Delegierten in Versailles baten um eine Verlängerung der Frist, nach deren Verlauf die Gegenvorschläge eingereicht werden sollen; die Frist wurde bis 29. Mai verlängert. Von überall hört man Protest gegen die harten Friedensbedingungen; in der Schweiz, die Frauenvereine haben sogar dagegen protestiert. Leider wird dies alles nicht viel Wert haben; doch ist man überall der Meinung, wenn nichts an den Bedingungen gemildert wird, so unterschreiben unsere Delegierten nicht und die Alliierten können auch noch den übrigen Teil rechts des Rheines besetzen. Große Truppenbewegungen in der Richtung nach dem Rhein sind zu beobachten; dort hat wohl jeder Ort Einquartierung. Am Montag war sogar Marschall Foch hier und in K’lautern, um die militärischen Maßnahmen selbst anzuordnen, im Falle die Deutschen nicht unterzeichnen. Es sind Bestrebungen im Gange die Pfalz zu einer unabhängigen Republik zu machen und wirtschaftlich an Frankreich anzuschließen; dadurch bekäme sie keine Besatzung. Überall sind Propagandazettel angeschlagen. Den Franzosen wäre das mehr als willkommen, denn dann hätten sie ja sozusagen die Pfalz unter ihrer Oberherrschaft. Aber auch Gegenbestrebungen sind in Gang; auch diese verbreiten Flugblätter und ist es gefährlich diese zu lesen und zu unterstützen, da die Franzosen sofort diejenigen strafen oder über den Rhein transportieren. So zum Beispiel wurden in Landau der Oberbürgermeister [Friedrich] Mahla und ein Oberstaatsanwalt verhaftet, weil sie diese Gegenbestrebungen zu lebhaft unterstützten. Regierungspräsident [Theodor] v. Winterstein wurde über den Rhein geschafft, warum weiß man noch nicht.
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Sonntag, 1. Juni 1919 Am Mittwoch früh sind bereits die deutschen Gegenvorschläge eingereicht worden. Sie enthalten einen Protest gegen die Abtretung von Länderstreifen im Osten und Angliederung an Polen. Um das Saarbecken reißen sie sich weniger. Die Deutschen brachten fertig, daß, wenn die Bevölkerung der Saar nach 15 Jahren zu Gunsten Deutschlands stimmt, Deutschland das Saarbecken mit noch anderen Werten als Geld allein zurückkaufen darf. Acht Tage nach Friedensschluß wird schon die Grenze gesteckt werden und zwar wird dabei den Wünschen der angrenzenden Bewohner Rechnung getragen. Wenn also ein angrenzender Ort auch zum Saargebiet will, wird er ohne Umstände aufgenommen. Ob aber der Frieden unterzeichnet wird, ist noch eine Frage. Graf Brockdorff-Rantzau erklärt, er unterschreibe nicht einen Frieden, dessen Bedingungen man doch nicht halten kann. Und dann würden die Alliierten weiter über den Rhein und dann werden sie mit uns machen, was sie wollen. – Die Bestrebungen, die Pfalz als unabhängige Republik zu erklären, sind stark im Gange. Gestern tagte in Neustadt eine Versammlung in diesem Sinne und Gerüchten zufolge soll heute in Speyer die Republik proklamiert werden. Die Franzosen protegieren die Bestrebungen sehr. Pfingstmontag, 9. Juni 1919 Am letzten Montag war hier auch Krawall. Mittags 1 h waren mehrere hundert Menschen, meist Arbeiter auf dem Marktplatz; unsere hielten Reden gegen die Ausrufung der Republik. Alles rief „Hoch lebe Deutschland, nieder mit Frankreich; nieder mit den Blaujacken, nieder mit der Republik!“ Zuerst geschah von seiten der Franzosen nichts; doch als die Dolmetscher verstanden, was eigentlich los sei, griff die Wache ein und zerstreute gewaltsam die Leute; die Redner und diejenigen, die sich weigerten, wurden festgenommen und noch am gleichen Abend durch ein Kriegsgericht verurteilt. Überall wurde die Wache verstärkt. Zur gleichen Zeit waren in allen pfälzischen Städten dieselben Putschversuche, die jedoch überall von der Besatzung sofort unterdrückt wurden. – In Wiesbaden wurde die „Rheinische Republik“ ausgerufen, die das ganze linksrheinische Gebiet, auch die Rheinpfalz umfaßt. Als Präsident wurde ein Dr. [Hans Adam] Dorten genannt. Die Pfälzer sind jedoch nicht einverstanden, daher überall diese Demonstrationen. Wir wissen momentan überhaupt nicht, was wir sind, oder wer uns regiert, da der Regierungspräsident v. Winterstein ausgewiesen und ins Rechtsrheinische geschafft wurde. Was und wie es jetzt mit uns kommt, weiß man nicht. Das Saargebiet bleibt wohl, denn in den Gegenvorschlägen und dem weiteren Verlauf der Verhandlungen zu Versailles hört man nur noch von Schlesien, vom Saargebiet ist gar keine Rede mehr. Demnach ist das schon fest in den Händen Frankreichs. Sonntag, 29. Juni 1919 Noch immer sind wir zwischen Krieg und Frieden. Die Friedensdelegation in Versailles versuchte ihr Möglichstes um die Bedingungen zu mildern. Doch die Entente in ihrem Siegesbewußtsein änderte nichts. Die Frist wurde immer wieder um einige Tage verlängert, bis die Entente endlich ein Ultimatum stellte, daß, wenn Deutschland bis zum 23. ds. Abends 7 h. ihre Bereitwilligkeit zur Unterzeichnung des Friedens nicht erklären, die Truppen weiter vorrücken über den Rhein und der Kampf von neuem losgeht. Unzählige Truppentransporte bewegten sich vorwärts in der Richtung gegen den Rhein. Endlich, in letzter Minute erklärten die Delegation ihre Bereitwilligkeit, doch erst, nachdem Graf Brockdorff-Rantzau und Minister Scheidemann vom Amte zurückgetreten waren. Sie sagten, es vertrage sich nicht mit ihren Prinzipien, einen Frieden, der den Niedergang Deutschlands bedingt, zu unterzeichnen. Viele Stimmen sprechen gegen eine Unterzeichnung, doch
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr dann brächte ein neuer Kampf Verheerung in unser eigenes Land und von 2 Übeln muß man das kleinste wählen. Minister Erzberger und die anderen Obersten des Reiches weigern sich jedoch auch, den Frieden selbst zu unterzeichnen. Zuerst sollte der Friede mit Protest gegen die Auslieferung des Kaisers und der Hauptschuldigen unterschrieben werden; doch die Entente verlangt: entweder ganz oder gar nicht! So erklärte man sich für das erste. Nach mehreren stürmischen Sitzungen im Ministerrat erklärten sich endlich Hermann Müller und Dr. [Johannes] Bell, „zu dem größten persönlichen Opfer“ bereit den Vertrag zu unterzeichnen. Gestern nacht sind diese Delegierten in Versailles eingetroffen und man denkt, daß gestern im Lauf des Tages der Friede unterzeichnet wurde. Näheres hat man noch nicht gehört. Nach fast fünf Jahren Krieg endlich Frieden; doch was für einer: schmachvoller, wie ihn die Weltgeschichte jemals gekannt, mit Hurrajauchzen und Siegeszuversicht ging das deutsche Volk in diesen Krieg; innerlich zerrissen, dem Bürgerkrieg nahe, mit Schmach bedeckt und gedemütigt steht es vor dem Frieden. Überall ist Aufstand; die deutsche Besatzung der in Scagen-Bucht unterminierten deutschen Kriegsschiffe versenkte selbst sämtliche Schiffe, direkt vor der Auslieferung an die Entente, das selbe geschah im Hafen zu Kiel. In Berlin wurden vor dem Denkmal Friedrichs des Großen sämtliche französische Fahnen von 1870 zerrissen und verbrannt; dieselben sollten auch ausgeliefert werden. Die Entente verlangt noch eine Extraentschädigung jetzt für die Schiffe. Die französische Presse spricht davon, als Rache und um den Nationalstolz der Deutschen etwas zu demütigen, das Niederwalddenkmal, die den Rhein beschützende deutsche Siegesgöttin Germania niederreißen zu wollen. In Berlin sind große Eisenbahnerstreiks; man sucht sie durch Lebensmittel zu schlichten, doch immer wieder beginnen sie von neuem. In Hamburg wurden die Schiffe mit Lebensmittel geplündert, es kam sogar zu blutigen Kämpfen. Auch in Mannheim war wieder Krawall, bei dem es viele Tote gab und zwar auch wegen Lebensmittel. Die französische Behörde hatte gedroht, wenn in Mannheim ein Schuß fiele, so nehmen sie die ganze Stadt unter Artilleriefeuer. Das deutsche Volk ist nicht mehr einig unter sich und das ist das größte Unglück. In gemeinsamer Arbeit wären die Wunden des Krieges am schnellsten zu heilen; so aber ist nichts als Streit, Mißgunst, Neid, Sinnlosigkeit. Verachtet sind wir von aller Welt. Jetzt in diesen schweren Tagen, wo sich das Geschick des ganzen Volkes entscheidete, wo wir gedemütigt sind von den Feinden, jetzt finden Bälle, Tanzvergnügungen statt, die überfüllt sind, gibt es Frauen, die sich den Franzosen, die sich doch nur an unsrer Niederlage freuen, an die Brust werfen, gibt es Männer, die ihnen mit schönen Worten schmeicheln. Welche Achtung muß die Welt vor einem solchen Volke haben, dessen Frauen als rein, dessen Männer als treu besungen wurden. – Soeben hörten wir der Friede sei gestern mittag 3.12 unterzeichnet worden; die deutschen Delegierten haben zuerst unterzeichnet. Sonntag, 13. Juli 1919 Friede! Endlich ist der schreckliche Krieg, der 4 ½ Jahre hindurch Verwüstung und Schrecken nach Europa brachte, beendet; der Friede unterzeichnet und auch schon ratifiziert, das heißt, von den Regierungen anerkannt. Wir merken bis jetzt keinerlei Veränderung. Morgen soll die Blockade aufgehoben werden. Wie die Sache sich weiter gestaltet, weiß man nicht. Allerlei Gerüchte gehen um, was jetzt mit dem Bezirksamt hier wird, mit den Verwaltungsbeamten, da doch Homburg zum Saarland gehört. Die Grenze ist noch nicht abgesteckt. – Durch die Annahmen der Friedensbedingungen muß der Kaiser ausgeliefert werden. Der frühere Reichskanzler Bethmann-Hollweg bat die Alliierten, ihn zu richten, da er als Kanzler verantwortlich sei für die Politik Deutschlands, ebenso tat Hindenburg und die 5 jüngeren Söhne des Kaisers wandten sich dieserhalb ebenfalls an den
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Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger König von England. Morgen, am 14. Juli feiert Frankreich sein Nationalfest und zugleich sein Siegesfest. Es wird überall Tanzmusik veranstaltet, die Frauen und Mädchen sind von den Franzosen eingeladen, den Männern ist der Zutritt verboten. Sonntag, 25. Januar 1920 Lange, lange, hatte das Buch Ruhe. „Friede“ sei es, trug ich das letzte Mal ein. Es ist mehr, Friede ist, der Donner der Kanonen ist verstummt, das Morden auf den Schlachtfeldern hat ein Ende. Doch wie ganz anders ist dieser Friede, als wir ihn uns dachten. Nach siegreichem Kampfe wollten wir mit neuer Kraft die Arbeit des Friedens wieder aufnehmen. Und heute!! Besiegt, zerstückelt, voll innerer Unruhen liegt Deutschland am Boden und vermag nicht, sich aufzuraffen. Ein grausamer Friedensvertrag bindet dem Fleiß die Hände und was schlimmer ist als das; innere Unruhen, Streike. Keiner will mehr arbeiten. Der Lohn des Arbeiters steigt von Tag zu Tag. Immer unverschämter, immer unsinniger werden die Forderungen. Selbst die 8stündige Arbeitszeit erscheint ihnen jetzt zu viel. Dabei wird das Geld vergeudet, bei Vergnügen verpraßt, wer nichts mehr hat, stiehlt sich. Kurz und gut, auch moralisch liegen wir darnieder. Schiller sagte einst: „Es lösen sich alle Bande sittlicher Scheu“ und so sieht es jetzt auch bei uns aus. Natürlich muß man in diesen Wirrnissen nach einem Sündenbock suchen und da versucht man es wieder mit dem alten, der schon so oft herhalten mußte: mit den Juden. In den Großstädten überall werden Hetzzettel verbreitet, daß die Juden es wären, die den Kriegsgewinn eingesteckt hätten, die während des Krieges nicht im Felde gewesen wären. So heftig die Sozialdemokraten auch dagegen ankämpften, die Konservativen sind froh, ihre Schuld auf Unschuldige wälzen zu können und ergreifen gerne die günstige Gelegenheit. Zu Ausschreitungen mit schlimmen Folgen ist es bis jetzt noch nicht gekommen. Hoffen wir, daß die Sache sich zum Guten wendet. Amerika hat die Ratifikation des Friedensvertrages abgelehnt. Das Volk protestierte dagegen einen Frieden gutzuheißen, der nicht auf der Basis des Rechts und der Menschlichkeit geschlossen wurde. Wilson ist krank; auf ihm ruht ein gut Teil der Schuld an unsrem jetzigen Elend. Vor 10 Tagen hat erst Frankreich ratifiziert, seit dieser Zeit sind wir hier beim Saarstaat. Zwar ist derselbe noch nicht offiziell proklamiert, aber das Zollwesen deutscher und französischerseits ist bereits in Kraft. Am Bahnhof wird Gepäck visitiert und verzollt, die Züge werden abgesucht, die Straßen sind von Zollbeamten besetzt, die jedes Fuhrwerk anhalten und untersuchen. Der Kontrolloffizier ist jetzt Delegierter der interalliierten hohen Kommission. Zwar haben wir noch unsere deutschen Behörden, doch wohl nicht mehr lange. Dann wird der Bezirk verteilt unter die Nachbarbezirke Zweibrücken, Kusel, K’lautern; Bezirksamt, Sparkasse und die öffentlichen Ämter kommen weg, Homburg verliert dadurch viel. Sogar will die deutsche Behörde eine Bahn bauen, die Homburg umgeht, also hat man das Saargebiet bereits deutscherseits aufgegeben. Man wird ja wohl recht haben. „Wo es mir gut geht, ist mein Vaterland“ und das Sprichwort ist ein wahres Wort. Es wird wohl wenige geben, denen der Patriotismus über den Geldbeutel geht. Die Zeitungen schreiben, daß die Franzosen den Saarfrank einführen wollen; das wäre die Rettung, denn bei der jetzigen Valuta ist es unmöglich im Elsaß oder Frankreich einzukaufen. Der Franc gilt 6 Mark. Und Deutschland schließt uns die Grenze. Schon jetzt bekommen wir aus Bayern kein Vieh mehr wie immer bisher. Man ist gespannt, wie die Dinge sich weiter entwickeln werden. – Im 2. Stock unseres Hauses wohnt ein französischer Zollbeamter, ein Elsässer. – In den letzten Wochen sind im Saargebiet mehr als 20 Mädchen verschwunden. Sie sind Mädchenhändlern in die Hände gefallen, die mit Autos die Mädchen von der Straße rauben und dann fortschaffen, wer weiß wohin. Es ist nirgends mehr sicher. – Die Alliierten
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr verlangen von Holland die Auslieferung des Kaisers. Holland jedoch weigert sich. Wie es da wohl weiter kommen wird?
Historischer Kontext des Kriegstagebuches A. Weiler Das Kriegsjahr 1917 Mit dem Satz „Schon wieder ist die Hälfte des Januar vorüber und nichts Wesentliches hat die Sachlage verändert“, wird das Tagebuch am 14. Januar 1917 eröffnet. Der Eintrag stammt aus einer Zeit, als die Kriegseuphorie weiter Teile der deutschen Bevölkerung in Kriegsmüdigkeit und Lethargie umschlug. Die Bevölkerung erlebte 1916/17 den so genannten Steckrübenwinter. Missernten und die britische Seeblockade riefen eine Hungersnot hervor. Bis Kriegsausbruch importierte das Deutsche Reich etwa ein Drittel seiner Lebensmittel aus dem Ausland. Großbritannien verhängte 1914 ein Handelsembargo gegen Deutschland und errichtete eine zunehmend wirksame Handelsblockade zur See. Zudem fehlten die Importe aus Russland. Im Januar 1917, also zu Beginn des Tagebuches, stoppten auch die USA den heimlichen Handel mit Deutschland über neutrale Staaten. Im Mai 1916 wurde das Kriegsernährungsamt gegründet, das für die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung zuständig war. Bereits der Eröffnungssatz lässt auf eine gewisse Ungeduld schließen und zeigt die Hoffnung, dass sich bald „Wesentliches“ ändern möge. Bereits der Anschlusssatz zeigt die erhoffte Erwartung, nämlich einen deutschen Siegfrieden. Die Kapitulation Russlands wird herbeigesehnt. Nur noch eine letzte Festung in Rumänien hindere „unseren weiteren Vormarsch nach Russland“. Diese liege aber „im Feuer unserer Artillerie“. Gleich zwei Mal wird das Personalpronomen „uns‟ verwendet, was unmissverständlich aufzeigt, dass die Schreiberin oder Aron bzw. Klara Weiler, falls sie ihrem Pflegekind diesen Satz diktierten, sich voll und ganz mit den deutschen Kriegszielen identifizierten. Sicher über Tageszeitungen hatten sie erfahren, dass Frankreich „eine große Frühjahrsoffensive“ plane. Die Durchhalteparolen der Obersten Heeresleitung, vollen Einsatz zu zeigen, auch an der so genannten Heimatfront, haben Amalie Behr oder ihre Pflegeeltern voll und ganz verinnerlicht. „Auch 221
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wir bereiten uns tüchtig vor[,] um fest standhalten zu können. Jeder glaubt, daß das Frühjahr große mörderische Schlachten bringen wird, die hoffentlich eine für uns günstige Entscheidung bringen.“ Alma Behr berichtet mit einer gewissen Genugtuung, dass täglich „große Truppenzüge“ den Homburger Bahnhof passieren, beladen mit Proviant und Munition, die sowohl die Ost-, als auch die Westfront zum Ziel haben. Nun wurden auch ältere Jahrgänge eingezogen, sogar Strafgefangene, „die früher nicht würdig genug waren, den Rock des Königs zu tragen“. Jetzt sei man mit ihnen froh. „Als Kanonenfutter sind sie gut genug.“ Der Begriff „Kanonenfutter‟ wurde eher von Kriegsgegnern verwendet. Der Kontext der Tagebucheinträge lässt eher die Deutung zu, dass sich die Verfasserin bzw. Aron oder Klara Weiler von Menschen distanzieren, die Straftaten begangen hatten und sie es folglich nicht bedauerten, dass diese Personen an Frontabschnitten eingesetzt wurden, wo es kaum Überlebenschancen gab. Neben Angaben zur Lage auf dem Kriegsschauplatz wird stets auch die Situation in Homburg thematisiert, vor allem die wirtschaftlichen Engpässe. „Seit einigen Tagen haben wir richtigen Winter. Es hat fest geschneit, doch bleibt der Schnee nicht liegen, da es zu warm ist. Die Lebensmittelnot steigert sich mit jedem Tag. Kartoffeln werden jetzt auch rar, was für den ärmeren Teil der Bevölkerung sehr hart ist.“ Der zweite Teil des ersten Tagebucheintrags lässt auf eine gewisse Empathie für die Lage der sozial Schwachen schließen, einer Schicht, der Familie Weiler nicht angehörte. Auf Arons Weilers Grabstein wurde in hebräischer Schrift eine Inschrift angebracht, die die Freigebigkeit des Verstorbenen herausstellte. Hier ist begraben ‒ er diente Gott in Lauterkeit, „war freigebig den Bedürftigen“,27 es ist Aharon, Sohn des Herrn Jehuda, verschieden am Tag 2, 6. Tewet 683 der kleinen Zählung. Seine Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens.
Am 21. Januar 1917 erwähnt die Schreiberin heftiges Artilleriefeuer in den Vogesen. Kriegsstrategien sind Stadtgespräch. „Überall fliegen Gerüchte umher, daß man die Franzosen hereinlassen will[,] um sie dann tüchtiger durchklopfen zu können.“ Alma überprüft Meldungen auf ihre Richtigkeit. Die Be⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 27 Das Zitat der Grabinschrift stammt aus Psalm 112,9. 222
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hauptung, Saarbrücken und Saarburg seien geräumt, bezeichnet sie als Falschmeldung. Einen Tag nach Kaisers Geburtstag, am 28. Januar 1917, wird aus dem Tagesbefehl zitiert. „Die Beute betrug 500 Gefangene und 14 Offiziere. Gestern, zu Ehren von Kaisers Geburtstag, war überall geflaggt, Gottesdienst[,] und gestern abend fand eine patriotische Feier statt, die sehr besucht war. Jeder glaubt, daß uns große Ereignisse bevorstehen.“ Die patriotischen Feiern werden wertneutral dargestellt. Die Tatsache, dass die Feier sehr gut besucht war, lässt darauf schließen, dass sie selbst bzw. ihre Pflegeeltern daran teilgenommen hatten. Als Jüdinnen und Juden identifizieren sie sich uneingeschränkt mit Deutschland. Wir können bereits an dieser frühen Stelle davon ausgehen, dass es sich um eine assimilierte jüdische Familie handelte. Zumindest über die Familienmitglieder Behr aus Leimersheim heißt es: „assimilierte Juden, mehr Deutsche als Juden“.28
Die „rücksichtslose Verschärfung des U-Boot-Krieges“ wird begrüßt und mit einem Satz ergänzt, der Schadenfreude erkennen lässt. „Jetzt wird es den Engländern hoffentlich gehörig an den Kragen gehen, damit sie endlich mal spüren, was es heißt, ausgehungert zu werden.“ (4. Februar 1917). Die Politik des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson wird sehr negativ kommentiert. Wilson sei ein „englischer Lump“ (10. Februar 1917). Die Siegeszuversicht hielt auch in der Folge weiter an. „Auf den Kriegsschauplätzen, besonders im Westen[,] geht’s wieder lustig her. Bis hierher hört man das Donnern der Geschütze. Am Dienstag abend war Fliegeralarm.“ (18. Februar 1917). Auch ist eine Solidarität mit jüdischen Glaubensgenossen zu erkennen. „Gestern hat mit vielen anderen Sigmund Hirsch von hier einrücken müssen. Dem wird’s auch hart vorkommen.“ (25. Februar 1917). Sigmund Hirsch (1874–1934) war zu diesem Zeitpunkt fast 43 Jahre alt. Die Februarrevolution in Russland wird im Kriegstagebuch aus deutscher Sicht wertend dargelegt. „Der Zar hat sogar auch für seinen Sohn, den Thronfolger, abgedankt. Auch in Italien gärts. Hoffentlich geht’s denen nicht besser wie den Russen. Gestern abend hörten wir sogar, daß die Russen die Waffen niedergelegt hätten. Hoffentlich beruht das Gerücht auf Wahrheit.“ (25. März ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 28 Helmut Sittinger: Mit Orden ausgezeichnete Veteranen und deren Familien ermordet. Geschichten aus der Geschichte. 23 Leimersheimer Juden wurden Opfer des NS-Regimes ‒ Tagebücher bieten interessanten Lesestoff, in: Die Rheinpfalz. Pfälzer Tageblatt – Ausgabe Rheinschiene vom 9. November 2018. 223
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1917). Im selben Eintrag wird auf die angekündigte Lebensmittelverknappung eingegangen. „Vom 15. April an gibt’s nur noch 170 g Brot[,] dafür aber ein Pfund Fett. Das wird noch schlimmer, denn vom dürren Fleisch kann man sich nicht satt essen.“ Auch noch im Mai 1917 ist die Hoffnung auf einen Siegfrieden ungebrochen. „Daß unsere Lage sich täglich günstiger gestaltet, beweisen unsere enormen Erfolge zu Wasser und in der Luft, indem durch U-Boote im Monat April 1.100.000 Tonnen versenkt wurden, während unsere Flieger in demselben Monat 362 feindliche Flugzeuge herunterholten. Am 15. Mai tagt in Stockholm die internationale Sozialistenkonferenz und sind wir sehr gespannt, ob sie gute Früchte bringt.“ (13. Mai 1917). Es erstaunt, dass überhaupt von der Stockholmer Friedenskonferenz bzw. dem Internationalen Sozialistenkongress der Zweiten Internationale Notiz genommen wird. Diese informelle Diplomatie wurde von den am Krieg beteiligten Regierungen mit großem Misstrauen verfolgt. Sie blieb wirkungslos, da vor allem die alliierten Regierungen die Anreise der Delegierten aus ihren Ländern verhinderten. Aus Deutschland reisten zum Rumpfkongress sowohl Vertreter der MSPD wie Philipp Scheidemann und Hermann Müller, als auch der USPD wie Hugo Haase, Eduard Bernstein und Karl Kautsky. Am 11. Juni 1917 wird auf den Zorn gegen Beamte eingegangen, die Lebensmittelverschiebungen geduldet hatten. „Es gibt fast keine Kartoffeln mehr, die Brotrationen sind kleiner geworden. Es ist bei der größten Sparsamkeit unmöglich, damit auszureichen.“ Die Bemühungen der Parteien des Interfraktionellen Ausschusses (SPD, Deutsche Zentrumspartei, Fortschrittliche Volkspartei FVP), auf einen Verständigungsfrieden hinzuarbeiten, werden im Kriegstagebuch nicht begrüßt. „Noch immer weiß man nichts Bestimmtes, wie es jetzt im Reichstag zugeht. Nachdem der Sozialdemokrat Erzberger [recte: Zentrumsabgeordneter] vom Reichskanzler ganz energisch die Veröffentlichung der Kriegsziele gefordert hat, und sich ihm auch das Centrum anschloß, hat der Kaiser den Kronrat einberufen. Zwar forderten die Reichstagsabgeordneten, zu hören, was beschlossen worden wäre, doch verweigerte der Kanzler jede Auskunft. Doch müssen große Dinge am Werk sein, denn der Kaiser hat Hindenburg und Ludendorff nach Berlin kommen lassen. Eine große Blamage vor dem Auslande ist diese innere Unruhe. Das wird unseren Feinden wieder neuen Mut machen, trotzdem der Tagesbericht der letzten Woche große Niederlagen derselben verzeichnet.“ (15. Juli 1917).
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Matthias Erzberger regte im Hauptausschuss des Deutschen Reichstages am 6. Juli 1917 die Einstellung des unbeschränkten U-Boot-Krieges und die Fortführung des Krieges an. Der Reichstag nahm am 19. Juli 1917 eine Friedensresolution an mit den Stimmen der SPD, der Deutschen Zentrumspartei und Fortschrittlichen Volkspartei. Es war das erste Mal, dass der Reichstag aktiv in das politische Geschehen im Krieg einzugreifen versuchte. Am 22. Juli 1917 wird näher auf eine Rede Scheidemanns eingegangen. Anscheinend wurde im Hause Weiler über die Politik der Obersten Heeresleitung (OHL) und der Mehrheitsfraktionen im Reichstag gesprochen. Die Forderungen der Parlamentsmehrheit werden nun begrüßt. „Es wäre wirklich an der Zeit, dem Kriege ein Ende zu machen.“ Ernüchtert wird am 6. August 1917 eine Bilanz von drei Jahren Krieg gezogen. „3 Jahre sinds jetzt, seit der mörderische Weltenbrand entfacht, 3 Jahre und noch immer kein Ende abzusehen, trotzdem unser Reichskanzler auf Betreiben des Zentrums und der Sozialdemokraten im Reichstag unumwunden erklärt hat, daß wir keinen Eroberungskrieg führen und zu einem Verständigungsfrieden alle Zeit bereit sind, obs wohl Wert hat!!??“
„Mörderischer Weltenbrand“ ist eine Bezeichnung, die eine Distanzierung von den Durchhalteparolen der OHL unmissverständlich zum Ausdruck bringt. Am 20. August 1917 wird auf die Friedensresolution von Papst Benedikt XV. Bezug genommen. Diese wird zwar als der „wichtigste Punkt in der vergangenen Kriegswoche“ bezeichnet, aber nicht positiv bewertet. „Sehr gut meint er es mit seinen Vorschlägen nicht mit Deutschland und werden auch wir nie auf diese Vorschläge eingehen.“ Ohne Kommentar wurde am 23. September 1917 im Kriegstagebuch festgehalten: „Auf den Friedensvorschlag des Papstes antwortete unsere Regierung, daß sie bereit sei, auf Friedensverhandlungen einzugehen.“ Papst Benedikt XV. schlug am 1. August 1917, dem dritten Jahrestag des Kriegsbeginns, als neutraler Vermittler allen am Krieg beteiligten Mächten Friedensverhandlungen vor. Er forderte Abrüstung, eine effektive internationale Schiedsgerichtsbarkeit zur Vermeidung künftiger Kriege und den Verzicht auf Gebietsabtretungen. Der Plan wurde ausgeschlagen, da sich jede Kriegspartei durch ihn benachteiligt sah.
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In der Folgezeit werden Friedenssignale dankbar aufgenommen, und dennoch werden gleichzeitig siegreiche Schlachten mit Freude festgehalten, etwa am 30. September 1917: „Die vergangene Kriegswoche brachte uns endlich die längst ersehnte Aussprache im Reichstag, in der sowohl der Reichskanzler wie der Minister des Äußeren die politische Lage klarlegten. Danach steht Deutschland fest und einig in Erwartung des baldig kommenden Friedens. Die 4. Flandernschlacht endigen wie ihre Vorgängerinnen mit blutigem negativem Erfolg für die Engländer.“
Und am 14. Oktober 1917 wird voller Pathos notiert: „Eine heftige Schlacht ist wieder in Flandern geschlagen worden. Mit unermeßlicher Wucht stürzte sich der Feind gegen unsere Linien, doch an der eisernen Mauer unserer Feldgrauen brachen sich seine Massen.“
In den letzten Einträgen des Jahres 1917 wird vor allem Anteil an der russischen Oktoberrevolution genommen und den vermeintlichen positiven Folgen für Deutschland, da Lenin mit einem sofortigen Waffenstillstand einverstanden war. Am 30. Dezember 1917 wurde Rückschau gehalten auf das zu Ende gehende Jahr. „Wieder ist ein Jahr verronnen, wieder fragen wir: wird das neue uns den heißersehnten Frieden bringen? Voll blutigen Ringens, voll großer Opfer war das alte Jahr erfüllt gewesen; hoffentlich beginnt mit dem neuen Jahr auch eine neue, bessere Zeit.“
Was die Zukunft anbelangt und eine evtl. neue politische Ordnung, ist man im Hause Weiler noch unschlüssig. „Bei uns sind die Stimmungen sehr geteilt; die Liberalen und Nationalliberalen schimpfen über solchen Frieden, der uns so gar nichts bringt und doch so ungeheure Opfer forderte; die Sozialdemokraten und das Zentrum begrüßen ihn. Wer von den Parteien wohl recht hat?“
Das Kriegsjahr 1918 Von der Tendenz her gibt es im Vergleich zu den Einträgen des Jahres 1917 keine Unterschiede. Zu Beginn werden die Friedensverhandlungen mit Russland in Brest-Litowsk ausführlich begleitet und die Bestimmungen begrüßt. Auch Kampfhandlungen im Westen werden dargelegt, die Versorgungslage im Land beschrieben, einzelne Gefallene genannt, wenn es sich um jüdi226
Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr
sche „Glaubensgenossen“ gehandelt hatte. Die wirtschaftliche und seelische Not scheint auch die Bewohner näher an den jüdischen Glauben herangeführt zu haben, wie aus dem Eintrag vom 9. September 1918 zu entnehmen ist. „Rosch ha schanah ist vorbei, das 5. im Kriege, wie viele werden wir noch in solcher Zeit feiern können? Die Stimmung unter der Bevölkerung ist keine gute. Die Leute sind sehr niedergeschlagen, weil unsre Stellungen im Westen zurückgenommen wurden, teils planmäßig, teils von den Feinden zurückerkämpft. Allgemein heißt es, wir verlieren den Krieg, wir gehen keiner guten Zukunft entgegen und so weiter. In Rußland ist auch noch immer keine Ruhe. England hetzt und hetzt. Deutsche Truppen kommen jetzt nach Sibirien, um die Engländer aus dem von ihnen besetzten sibirischen Hafen hinauszuwerfen.“
Und am 23. September 1918 wird ein Synagogenbesuch vermerkt. „Am Kolnidre, gerade als wir die Synagoge verließen, krachte die Signalbombe und gleich fängt auch der [sic!] Flak an zu schießen. Entgegen aller Vorsicht eilten wir nach Haus, es ist so unheimlich in andren Kellern Schutz zu suchen. Herr und Frau Moses Mai übernachteten bei uns und nachts durften wir noch 6 mal aufstehen und in den Keller flüchten. Das war richtige Buße; es krachte, so heftig wie bisher nie und man wußte nie, sind es Bomben oder Flak.“
Kol Nidra wird vor dem Abendgebet am Versöhnungstag, Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, gesprochen. Zusammen mit dem zehn Tage davor stattfindenden zweitägigen Neujahrsfest Rosch Haschana bildet er den Höhepunkt und Abschluss der zehn Tage der Reue und Umkehr. Im Stil eines neutralen Berichterstatters wird über die Umwandlung Deutschlands von einer Konstitutionellen Monarchie in eine Parlamentarische Monarchie Ende Oktober 1918 berichtet. „Im Reichstag hat es gewaltigen Umsturz gegeben; Reichskanzler Graf Hertling hat abgedankt; sein Nachfolger wurde Prinz Max von Baden.
Als Staatssekretär ohne Portefeuille wurden ihm die Abgeordneten Scheidemann, Groener und Erzberger von der sozialdemokratischen Partei zur Seite gestellt. Es ist das erste mal, daß Vertreter dieser Partei, die früher als nicht gleichberechtigt angesehen wurde, direkt zur leitenden Regierung kamen. Die Konservativen, die bis jetzt die Hauptstütze der Krone waren, wurden ganz zurückgesetzt. Die neue Regierung hat sogleich Wilson, der aber Machthaber bei der Entente ist, um Waffenstillstand zwecks Einleitung von Friedensverhandlungen gebeten. Wilson hat in einer Rede mitgeteilt, unter welchen Bedingungen die Entente Frieden machen werde.“ (6. Oktober 1918). 227
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Das Kabinett Baden amtierte vom 4. Oktober bis 9. November 1918. Die Sozialdemokraten Gustav Bauer (1870–1944) und Philipp Scheidemann und die Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, Adolf Gröber und Karl Trimborn gehörten ihm an. Irrtümlich wird im Eintrag Wilhelm Groener als Minister und Sozialdemokrat bezeichnet. Vermutlich wurde er mit Adolf Gröber verwechselt. Dennoch hatte Wilhelm Groener maßgeblichen Anteil an der Oktoberverfassung 1918. Nach der Entlassung Erich Ludendorffs am 26. Oktober 1918 war Groener faktisch Chef der Obersten Heeresleitung. Bei der Novemberrevolution unterstützte er die Politik des Rats der Volksbeauftragen unter Vorsitz des Sozialdemokraten Friedrich Ebert, um eine sozialistische Räterepublik zu verhindern. Sehr ausführlich wird über die Geschehnisse der Novemberrevolution am 9. November 1918 berichtet. Auf die Vorgänge war man im Hause Weiler nicht vorbereitet. „Bayern ist Republik! Ganz unerwartet ist diese Nachricht gekommen. In München hat sich ein Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat gegründet unter Führung des Unabhängigen Sozialdemokraten Kurt Eisner“ (9. November 1918).
Mit dem Homburger Arbeiter- und Soldatenrat kann sich die Verfasserin nicht anfreunden. „Im allgemeinen ist es ruhig; der Soldatenrat hier hat eine Bürgerwehr gegründet, die gründlich aufräumt. Im Soldaten- und Arbeiterrat sind von der aller niedersten Sorte. Aber man glaubt nicht, daß sie sich lange am Ruder halten; wenn auch die demokratische Regierung bleibt“ (16. November 1918).
In den weiteren Einträgen seit der Novemberrevolution werden Gerüchte über die Politik der französischen Besatzer angesprochen. Wir erhalten aber auch ein anschauliches Bild über die Umbrüche und Wirrnisse einer Übergangszeit. „Die Besatzung wird uns wohl in vielen Dingen Fesseln anlegen; bisher war vollkommene Redefreiheit; jetzt wird wohl jeder seine Zunge im Zaum halten müssen. – Die Besatzung ist eingerückt, bis jetzt nur Franzosen; mit Autos, auf den Maschinengewehre eingebaut sind, kamen sie von Zweibrücken her. Wie viele hierherkommen und wie alles noch kommen wird, weiß man nicht“ (1. Dezember 1918).
Über die im Haus einquartierten französischen Soldaten gibt es keine Klagen. Bedauert wird aber die Pressezensur, so dass über die Lage im Reich nur wenige Informationen durchsickern. Mit Sorge wird die Gefahr des sich verstärkenden Antisemitismus gesehen. 228
Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr „In München war eine große Judenhetze. Kurt Eisner ist Jude und ihm gibt man die Schuld an der ganzen jetzigen Lage, natürlich müssen mit ihm die übrigen Juden leiden. Hauptsächlich das Zentrum hat die Judenhetze in Szene gebracht; die Sozialdemokraten stehen den Juden bei“ (18. Dezember 1918).
Das Jahr 1919 Am 5. Januar 1919 wurde wieder zum Tagebuch gegriffen und in gewohnter Weise Rückschau auf das vergangene Jahr gehalten. „Das neue Jahr hat seinen Anfang genommen. Wer hätte das vorigen Sylvester gedacht, daß es so mit uns kommen würde. Damals hat man noch so zuversichtlich auf den Sieg gehofft und heute sind wir so tief gesunken, der Erbfeind ist im Land. Zwar können wir nicht klagen; die Einquartierung ist höflich und zuvorkommend, doch man ist ja nimmer sein eigener Herr.“
Unreflektiert werden die französischen Besatzer als Erbfeind bezeichnet. Jedoch werden Franzosen, mit denen die Familie unmittelbaren Umgang hat, nicht auf Grund ihrer Nationalität verdammt, sondern ihr menschlich korrekter Umgang anerkannt. Am 12. Januar 1919 wird über das Ergebnis der Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung gemutmaßt. In vereinfachter Weise wird unterschieden zwischen Demokraten und Sozialdemokraten. „Man ist gespannt, wer den Sieg davontragen wird: Demokratie oder Sozialdemokratie. In Berlin ist großes Durcheinander. Spartakuspartei und Sozialdemokratie bekämpfen sich aufs heftigste, selbst mit den Waffen. Auch in München geht es hoch her. Wir im besetzten Gebiet sind in der Beziehung am besten dran. Bei uns herrscht Ruhe.“
Am 2. Februar wurde das Wahlergebnis kommentiert. „Die Wahlen für den Reichstag [recte: verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung] sind beendet, Sozialdemokraten und Demokratie hatten überall die Mehrheit; das ist gut, die Konservativen und übrigen Kaisertreuen haben die Minderheit. Heute ist Landtagswahl; gestern abend war sozialdemokratische Versammlung. Ein Herr [Eduard] Klement aus K’lautern hat tadellos gesprochen. Er führte die Gründe an, warum wir verloren; er nannte den Kaiser einen feigen Deserteur, der sein Volk in der größten Not verließ; er überzeugte jeden von der Wahrhaftigkeit der Sozialdemokratie, ‚den schlechten roten Prolen‘[,] wie er sich ausdrückte und hat sich wohl viel Achtung erworben.“
Eduard Klement wurde 1867 in Nekla bei Posen geboren, wuchs in Berlin auf und kam 1893 nach Kaiserslautern. Von 1894 bis 1914 gehörte er der Gemeindevertretung an. Zudem war er in Bayern Mitglied der Kammer der Abgeord229
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neten von 1905 bis 1918, des Provisorischen Nationalrates, 1918 bis 1919, und des Landtags von 1920 bis 1924. Als Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates in Kaiserslautern vertrat er einen gemäßigten Kurs. Klement starb 1940 in Kaiserslautern. Hier können wir sehen, dass sich Familie Weiler und auch Amalie Behr relativ früh mit der Weimarer Republik abgefunden haben, SPD-Versammlungen besuchen und durchaus auch bejahen können, dass eine Wiedereinführung der Monarchie nicht wünschenswert ist. Auch die Wahl des Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten wird positiv bedacht. „Überall in ganz Deutschland gärt es wieder. Die Spartakisten fangen wieder allenthalben an; im Ruhrgebiet waren große Streike; in Mannheim war diese Woche auch Krawall. Der Sitz der deutschen Regierung wurde nach Weimar verlegt; dort tagt auch die Nationalversammlung. Sozialdemokratie und Demokratie haben die Mehrheit. Als Reichspräsident wurde Ebert ernannt, der Sohn eines Schneiders, der das Sattlerhandwerk gelernt hat“ (24. Februar 1919).
Die nächsten Einträge beziehen sich stark auf eventuelle Pläne der Franzosen hinsichtlich der Saarregion. Die Angaben vom 4. Mai 1919 kommen der tatsächlichen Regelung im Versailler Friedensvertrag schon recht nahe. „Was bisher von den Friedensbedingungen verlautete, ist sehr hart für uns[,] um nicht zu sagen unmöglich. Die Alliierten sollen demgemäß bis auf weiteres das linke Rheinufer besetzt halten; außerdem wird den Franzosen die Nutznießung des Saarbeckens auf 15 Jahre zugesprochen[,] das heißt, für 15 Jahre wird das Saargebiet von Deutschland losgetrennt und der Oberherrschaft Frankreichs unterstellt. Wenn nach Verlauf dieser 15 Jahre Deutschland dieses Gebiet wieder zurückhaben will, muß es die Kohlengruben von Frankreich loskaufen und jedenfalls nicht billig. Zu dem Saargebiet, angeschlossen an Saarbrücken[,] gehören auch die 3 westpfälzischen Bezirke Homburg, Zweibrücken, St. Ingbert. Dieselben sind mit Lebensmitteln entschieden besser gestellt als die anderen pfälzischen Bezirke.“
Am 1. Juni 1919 waren der Bevölkerung Homburgs also die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages bekannt. Östlich der Stadt wurde eine Grenze zum Reichsgebiet markiert. „Acht Tage nach Friedensschluß wird schon die Grenze gesteckt werden[,] und zwar wird dabei den Wünschen der angrenzenden Bewohner Rechnung getragen. Wenn also ein angrenzender Ort auch zum Saargebiet will, wird er ohne Umstände aufgenommen.“
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Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr
Konservative Züge der Tagebuchschreiberin treten zu Tage, wenn sie sich am 29. Juni 1919 mokiert über deutsche Frauen, die mit französischen Soldaten tanzen oder Männern, die sich mit der Besatzungsmacht gut stellen. „Jetzt in diesen schweren Tagen, wo sich das Geschick des ganzen Volkes entscheidete [sic!], wo wir gedemütigt sind von den Feinden, jetzt finden Bälle, Tanzvergnügungen statt, die überfüllt sind, gibt es Frauen, die sich den Franzosen, die sich doch nur an unsrer Niederlage freuen, an die Brust werfen, gibt es Männer, die ihnen mit schönen Worten schmeicheln. Welche Achtung muß die Welt vor einem solchen Volke haben, dessen Frauen als rein, dessen Männer als treu besungen wurden.“
Nach dem 13. Juli 1919, wo ebenfalls gerügt wurde, dass Frauen und Mädchen zu Tanzveranstaltungen am französischen Nationalfeiertag eingeladen, Männer aber der Zutritt verboten wurde, blieb das Tagebuch unberührt bis zum 25. Januar 1920. Deutschland liege besiegt, zerstückelt und voller innerer Unruhen am Boden und vermöge nicht, sich aufzuraffen. Die Arbeiter würden immer dreistere Lohnforderungen stellen und ihr Geld verprassen. Und erneut wird ein Sittenverfall beklagt. Hierzu wird ein Zitat aus dem Gedicht „Das Lied von der Glocke‟ von Friedrich Schiller abgewandelt. „Es lösen sich alle Bande sittlicher Scheu.“ Bei Schiller heißt es stattdessen: „Nichts Heiliges ist mehr, es lösensich alle Bande frommer Scheu; der Gute räumt den Platz dem Bösen, und alte Laster walten frei.“
Mit Weitsicht wird abschließend der Frage nachgegangen, welchen Sündenbock weite Kreise der Bevölkerung für die Misere der Nachkriegszeit finden werden. Diesbezüglich sensibilisiert, wird nicht lange gesucht. „Natürlich muß man in diesen Wirrnissen nach einem Sündenbock suchen[,] und da versucht man es wieder mit dem alten, der schon so oft herhalten mußte: mit den Juden. In den Großstädten überall werden Hetzzettel verbreitet, daß die Juden es wären, die den Kriegsgewinn eingesteckt hätten, die während des Krieges nicht im Felde gewesen wären. So heftig die Sozialdemokraten auch dagegen ankämpften, die Konservativen sind froh, ihre Schuld auf Unschuldige wälzen zu können und ergreifen gerne die günstige Gelegenheit.“
Hier wird mit hoher Wahrscheinlichkeit an die so genannte Judenzählung von 1916 angeknüpft. Am 11. Oktober 1916 erging der Erlass des preußischen Kriegsministers Adolf Wild von Hohenborn „Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden“. Dies erfolgte insbesondere auf Druck anti-
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semitischer Verbände. Die Ergebnisse wurden in der Kaiserzeit nicht veröffentlicht. Seriöse Hochrechnungen zeigen, dass unter rund 550 000 deutschen Staatsbürgern jüdischer Religionszugehörigkeit knapp 100 000 Kriegsteilnehmer waren, darunter 10 000 Kriegsfreiwillige, von denen 77 Prozent an der Front standen. Allein die Zahl von 30 000 Kriegsauszeichnungen und 12 000 Gefallenen beweist ihre Opferbereitschaft. Nach 1933 wurden die „Frontkämpfer“ daher zunächst noch von einigen antijüdischen Maßnahmen des Nazi-Regimes ausgenommen, doch spätestens 1935 war es auch damit vorbei. Kein im Weltkrieg erworbenes Eisernes Kreuz schützte sie später vor der Deportation in den Tod. Dieses Schicksal ereilte auch Alma Behrs Bruder Isidor, seine Frau und ihre drei Kinder.
Fazit Das „Kriegstagebuch A. Weiler“ ist eine vorzügliche Primärquelle zur Geschichte der Westpfalz in der Endphase des Ersten Weltkrieges. Es beleuchtet die Bewertung der Lage auf den Kriegsschauplätzen, aber auch die Stimmungslage in Homburg in den Jahren 1917 bis 1919. Die Sichtweise der jüdischen Familie Weiler dürfte sich nur unwesentlich von derjenigen ihrer christlichen Mitbürgerinnen und Mitbürger Homburgs unterschieden haben, die Doris Grieben dargelegt hat.29 Sie weist nach, dass in der Homburger Synagoge in den Gottesdiensten für den Sieg der deutschen Waffen und in einem Bittgottesdienst „um glücklichen Ausgang des dem deutschen Reiche aufgezwungenen Krieges“ gebetet wurde. Familie Weiler war wohlhabend und befürwortete die deutschen Kriegsziele. Die Presseberichterstattung wurde aufmerksam verfolgt und nicht näher hinterfragt. Leise Zweifel an der Richtigkeit der deutschen Politik kamen auf, als die wirtschaftliche Situation sich zunehmend schwieriger entwickelte und auch Familie Weiler kürzertreten musste. Jetzt wurde dem Wunsch nach einer Beendigung des Krieges häufiger Ausdruck verliehen, aber nicht um jeden ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 29 Doris Grieben: Zur Geschichte des 1. Weltkrieges, in: Saarpfalz. Blätter für Geschichte und Volkskunde. Sonderheft 2014. 232
Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr
Preis. Wenn Frieden geschlossen wird, dann soll der Friedensvertrag günstig im deutschen Sinne gestaltet werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch Familie Weiler Kriegsanleihen gezeichnet hatte. Am 21. Oktober 1917 wird berichtet, dass die 7. Kriegsanleihe gezeichnet wurde mit einem Ergebnis, das die kühnsten Erwartungen übertroffen habe. „Über 12 Milliarden sind zusammengekommen. Das ist mehr, als die Kühnsten hofften. Ein tüchtiger Schlag für unsere Feinde wird es sein, für uns ein Zeichen, daß wir noch Geld im Land haben.“
Die 8. Kriegsanleihe wurde kommentarlos genannt und von der 9. Anleihe hieß es am 29. September 1918: „Augenblicklich heißt es wieder; zeichnet Kriegsanleihe, die neunte. Diesmal wird sie wohl nicht überzeichnet werden, eher befürchtet man, daß es eine Zwangsanleihe gibt.“
Als der Reichstag sich 1917 erstmals aktiv in das aktuelle außenpolitische Geschehen einmischte, wozu er nach dem Reichsverfassung von 1871 nicht berechtigt war, wurde die Argumentation der Parteien des Interfraktionellen Ausschusses, die 1919 die Weimarer Koalition bilden sollten, im Kriegstagebuch durchaus reflektiert. Es ist aus den Einträgen herauszulesen, dass Aron und Klara Weiler und wohl auch Alma Behr ahnten, dass der Weg Deutschlands zur Demokratie sich anbahnte, und man dabei nicht im Abseits stehen wollte. Selbst Sozialdemokraten, die im Kaiserreich als vaterlandslose Gesellen verschrien waren, fanden nun Gehör. In der Zeit des Übergangs vom Kaiserreich zur Weimarer Republik wurde sogar eine SPD-Versammlung besucht. Die Argumentation des Abgeordneten Eduard Klement, der die Gründe für das Scheitern der Monarchie erläuterte und die kommende Ordnung vorstellte, fielen auf fruchtbaren Boden. Es galt, ein Sowjet-Deutschland nach russischem Vorbild zu verhindern. Eine Kaufmannsfamilie wie die Familie Weiler konnte auf keinen Fall einen Sieg des Bolschewismus in Deutschland wünschen. Bezüglich Reichspräsident Friedrich Ebert wurde seine Bescheidenheit und Ehrlichkeit anerkannt. Hier endet aber auch schon die Konformität mit der SPD. Übertriebene Lohnforderungen und einen angeblich üppigen Lebenswandel mancher Arbeiter wurden stark gerügt. Der letzte Eintrag stammt vom 25. Januar 1920: „Es wird wohl wenige geben, denen der Patriotismus über den Geldbeutel geht.“ Mit Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920 wurde das Saargebiet für 15 Jahre 233
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dem Völkerbund unterstellt. Am 27. Januar 1920 löste die vom Völkerbund ernannte fünfköpfige Regierungskommission des Saargebietes die bisherige französische Militärregierung ab. Die Errichtung des Saargebietes mit französischer Dominanz wurde von Familie Weiler sehr skeptisch und besorgt gesehen. Sie bleibt auch jetzt ihrem deutschen Patriotismus treu. Was den angeblichen Sittenverfall nach dem Ersten Weltkrieg betrifft, wurde nicht näher nach den tieferen Ursachen gefragt. An diesem Beispiel lässt sich erkennen, dass im Hause Weiler eine konservative Grundhaltung vorherrschte. Auch wenn sich Aron und Klara Weiler und Alma Behr sehr als Deutsche fühlten, hatten sie mit der Synagogengemeinde nicht gebrochen. An hohen Festtagen besuchten sie die Gottesdienste und nahmen am Schicksal jüdischer „Glaubensgenossen“ Anteil.
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Die Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig bei Kriegsbeginn 1939: Evakuierung oder Todeszug? – Ein Diskussionsbeitrag Von Wolfgang Laufer†
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 wurde das Gebiet zwischen der deutsch-französischen Grenze und der Hauptkampflinie des Westwalls von der Schweizer Grenze bis zur Südeifel geräumt.1 Die Bevölkerung dieser Roten Zone wurde in die sogenannten Bergungsgebiete in Mitteldeutschland evakuiert. In der Räumungszone lag auch die Stadt Merzig. Ihre Einwohner wurden ab dem 1. September in die Harzregion verbracht, auch nach Halberstadt und Umgebung.2 Die im Stadtgebiet liegende Heil- und Pflegeanstalt Merzig, gegründet 1876,3 wurde wie alle Krankenhäuser und auch Gefängnisse evakuiert. Schon am 4. und 21. Juni 1939 waren insgesamt 152 Merziger Patienten4 ins Rechtsrheinische in die Anstalten Eichberg, Weilmünster und Herborn verlegt worden. Es waren Kranke, „die sich ohne fremde Hilfe nicht fortbewegen“ und deren „Abtransport […] im Falle drohender Kriegsgefahr […] besonders große Schwierigkeiten“5 bereiten würde. Betroffen waren vor allem ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 1 Hans Walter Herrmann: Die Freimachung der Roten Zone 1939/1940. Ablauf und Quellenlage, in: ZGS 32 (1984), S. 64–89; Nicolas Williams: Grenzen der „Volksgemeinschaft“. Die Evakuierung 1939/40 in Deutschland und Frankreich, in: ZGS 60 (2012), S. 113–126; Irmgard PellerSeguy: Vom „Adventskranz“ bis „Hinterhaus“, in: Saarheimat 1969, S. 205–209; Paul Burgard: Das Saarland im Nationalsozialismus, in: Das Saarland, St. Ingbert 2012, S. 298 ff.; Doris Seck: Es begann vor 40 Jahren. Saarländische Kriegsjahre, Saarbrücken 1979. 2 LA Saarbrücken. Best. Fragebögen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung Nr. 6: Stadt Merzig, 1955. 3 Torsten Mergen: Vom Irrenhaus zur Reformeinrichtung. Das Landeskrankenhaus Merzig 1876–1998, in: ZGS 48 (2000), S. 222–275. Er konnte die unveröffentlichte Magisterarbeit von Christoph Braß, Saarbrücken 1992, einsehen. 4 Im Folgenden werden unter „Patienten“, „Kranken“, „Insassen“ etc. immer männliche und weibliche Personen verstanden. 5 So Anstaltsdirektor Dr. Emil Ennen (1922–1940) in seinem Vorabschreiben vom 24. Mai 1939; vgl. Christoph Braß, Zwangsterilisation und „Euthanasie“ im Saarland 1933–1945, Paderborn 235
Wolfgang Laufer†
Alte, Kinder, Jugendliche, körperlich Behinderte, Tuberkulosekranke und zuletzt sogenannte Straftäter. Die Anordnung zur Evakuierung hatte der „Reichskommissar für das Saarland“ nach Rücksprache mit den Sanitätsstellen der Wehrmacht und dem Oberpräsidenten in Wiesbaden getroffen. Die Hauptevakuierung der Anstalt Merzig fand in der Nacht vom 31. August auf den 1. September 1939 statt,6 von Donnerstag auf Freitag. Nach dem Eindruck des Direktors Dr. Emil Ennen, der den Transport begleitet hatte, verlief sie „in guter Ordnung“.7 Gegenüber dem Hauptgebäude war auf der Trasse der Bahnstrecke Abb. 1: Direktor Emil Ennen Saarbrücken-Trier ein Sonderzug bereitgestellt worden. [LA Saarbrücken. NL Ennen] Um den Kranken den Zustieg zu erleichtern, hatte man ein Kappesfeld abhauen, eine Lichtleitung legen und eine hölzerne Rampe bauen lassen. Die insgesamt 786 Patienten,8 403 Männer, 383 Frauen, wurden in die Anstalten Weilmünster und Scheuern verlegt, was dort zu Überbelegungen führte. Direktor Ennen stellte in seinem Bericht bedauernd fest: „Die Kranken sind in ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 2004, S. 199 ff.: Zitate S. 200; Statistik der Verlegungen im Sommer und bei Kriegsbeginn S. 205; Mergen charakterisiert ihn als innovationsorientiert und aufgeschlossen für alle neuen Behandlungsarten; vgl. Mergen: Vom Irrenhaus zur Reformeinrichtung (wie Anm. 3), S. 246. Ein kleiner Nachlass mit persönlichen Papieren befindet sich im LA Saarbrücken. Ennen, dessen Dienstzeit regulär am 1. April 1940 geendet hätte, starb am 14. Februar 1940 anlässlich einer Dienstreise zum Reichsstatthalter in Kaiserslautern an einem Herzinfarkt; frdl. Auskunft des Stadtarchivs Bonn vom 21. Mai 2021. Mit was mag er dort wohl konfrontiert worden sein? Vielleicht hatte er erstmals von Hitlers „Euthanasieerlass“ erfahren! Ein Nachruf in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 43 (1941), Nr. 7. 6 Braß: Zwangsterilisation und „Euthanasie“ (wie Anm. 5), S. 194 ff. Hier auch über die Verlegungen aus der Anstalt Homburg bei Kriegsbeginn 1939. 7 Ennen hat seiner in Bonn weilende Familie nach der Rückkehr aus Weilmünster knapp berichtet. Seine Tochter, Dr. Edith Ennen, damals wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bonner Instituts für Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, hat seinen Bericht in ihre neunseitigen maschinenschriftlichen autobiographischen Aufzeichnungen über die turbulenten ersten Kriegsmonate aufgenommen: „Der Sonderzug hielt vor der Anstalt, ein Kappesfeld wurde abgehauen, eine Lichtleitung gelegt, sodass die Kranken bequem zum Zug konnten. Die Kranken sind in nassauischen Anstalten zum Teil sehr notdürftig untergebracht.“ LA Saarbrücken. Best. Nachlass Ennen. Einen Brief Edith Ennens, in dem sie ebenfalls über die Evakuierung berichtet, war in ihrem Nachlass leider nicht mehr aufzufinden. Zu Ennen: In den 1960er Jahren Saarbrücker Geschichtsprofessorin, Vorsitzende des Historischen Vereins für die Saargegend sowie der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, vgl. Wolfgang Laufer: Edith Ennen (1907–1999), in: ZGS 48 (2000), S. 11–13. 8 Namentlich bekannt sind 634 Personen; vgl. Braß: Zwangsterilisation und „Euthanasie“ (wie Anm. 5), S. 195. 236
Die Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig
nassauischen Anstalten zum Teil sehr notdürftig untergebracht“. Mitte Oktober wurden Merziger Patienten in die Anstalten Haina und Marxhausen weiterverlegt. Für viele wurden sie Zwischenstation vor der Ermordung in der „Euthanasie-Anstalt“ Hadamar 1941.9 Die vorstehende Schilderung der Evakuierung steht in direktem Widerspruch zu dem, was die saarländische Regionalforschung schon vor über drei Jahrzehnten herausgefunden haben wollte:10 Die Evakuierung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig bei Kriegsbeginn 1939 sei in Wirklichkeit eine „Scheinevakuierung“, eine „Deportation“ gewesen. Tatsächlich sei ein „Todeszug“ abgefertigt worden!11 Die Räumung sei, so die These, die verbrecherische Vorbereitung der 1941 beginnenden „Euthanasiemorde“. Sie bildete – wie auch die spätere „Verschleppung“ der Homburger Patienten – die „erste Phase“ des nationalsozialistischen „Euthanasieprogramms“. Luy und Gerber schilderten in diesem Sinn den konkreten Ablauf der Räumung – gestützt auf zwei Zeitzeugen, die nachstehend zitiert werden: „Diese Verlegung, die offiziell im Rahmen der kriegsbedingten Räumung der sogenannten ‚Roten Zone‘ erfolgte, bot eine günstige Gelegenheit, die Merziger Patienten außer Landes zu schaffen, um sie in der Anonymität hessischer Anstalten umzubringen. Von den 670 Patienten wurden 412 nach Weilmünster im Taunus, die restlichen 258 nach Scheuern bei Bad Nassau verlegt. Die Begleitumstände dieses Transports, wie sie aus der Sicht ehemaliger Pfleger geschildert wurden, verdienen festgehalten zu ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 9 Nach Braß waren im September 1939 ca. 1500 Merziger und Homburger Kranke verlegt worden. Davon lassen sich 418 unter den über 10 000 Opfern des Jahres 1941 der „Tötungsanstalt“ Hadamar namentlich nachweisen; wahrscheinlich seien es jedoch mehr gewesen. Den Krieg überlebte nicht einmal ein Viertel der saarländischen Psychiatriepatienten. Vgl. Braß: Zwangsterilisation und „Euthanasie“ (wie Anm. 5), S. 284. 10 Die Beschäftigung mit dem Thema stand offensichtlich im Zusammenhang mit der damals öffentlich aufgeworfenen Frage, ob die Anstalten Merzig und Homburg Beihilfe zu diesen „Euthanasiemorden“ in Hadamar geleistet hatten. Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken hatte 1987 Ermittlungen aufgenommen; vgl. Peter Luy/Thomas Gerber: Zwangssterilisierung und klinische Vernichtung, in: Zehn statt tausend Jahre. Die Zeit des Nationalsozialismus an der Saar (1935– 1945). Ausstellungskatalog, Saarbrücken 1988, S. 219–226, hier S. 219. Nach freundlicher Auskunft der Staatsanwaltschaft Saarbrücken vom 25. Mai 2021 war ein Verfahren jedoch nicht „zu identifizieren“, d. h. es war kein Verfahren eingeleitet worden. Man darf anfügen: Warum auch, denn das Hadamar von 1938 war nicht das der Jahre 1941/42. 11 Interessant ist der Hinweis von Matthias Klein auf eine Parallele in Trier: „In der Trierer Lokalgeschichte wurde die Räumung der (Trierer) Anstalt oft in einem Zug mit den Patiententötungen genannt“; vgl. Matthias Klein: NS-“Rassenhygiene“ im Raum Trier. Zwangssterilisationen und Patientenmorde im ehemaligen Regierungsbezirk Trier 1933–1945, Köln 2020, S. 287. 237
Wolfgang Laufer†
werden, da sie den zutiefst menschenverachtenden Charakter dieser Aktion verdeutlichen: In einer wahren Nacht- und Nebelaktion wurden die Patienten über eine Holzrampe in die Waggons eines bereitstehenden Sonderzuges verfrachtet, der gegenüber der Anstalt hielt. In einem Waggon wurden etwa 65 Patienten eingepfercht, eng gedrängt, um Platz zu sparen. Als Toiletten fanden Eimer und Nachttöpfe Verwendung, die Fenster durften während der gesamten Fahrt nicht geöffnet werden.“12 Merziger Ärzte und Pfleger waren nach dieser Schilderung unmittelbar an der Verlegung in die hessischen Vernichtungslager beteiligt.13 Welche Überzeugungen stehen hinter dieser Darstellung? Zunächst vor allem diejenige, dass der Merziger Anstalt, deren Leitung und auch deren Personal bereits zu einem frühen Zeitpunkt Hitlers „Euthanasieprogramm“ bekannt gewesen sein soll14 und dass sie sich bereitwillig durch Inszenierung einer „Scheinevakuierung“ und Schikanen gegenüber ihren bisherigen Schutzbefohlenen dem nationalsozialistischen Vernichtungswillen unterworfen hätten. Man muss nicht in die „Euthanasie“-Forschung einsteigen, um zu erkennen, dass die Annahme, die Anstalt Merzig habe damals von solchen Absichten und Planungen gewusst und entsprechend gehandelt, völlig abwegig ist! Die beiden Autoren können ihre so bestimmt vorgetragenen „Forschungsergebnisse“ auch mit keiner Quelle belegen. Hitler hatte den sog. Gnadentoderlass Mitte Oktober 1939 unterzeichnet, aber die „Euthanasiemorde“ begannen in Hadamar als einer von mehreren deutschen Tötungsanstalten erst im Januar 1941.15 Luy und Gerber berufen sich bei ihrer Schilderung nur auf die Jahrzehnte später gemachten Aussagen zweier ehemaliger Merziger Pfleger, die Gerber ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 12 Luy/Gerber: Zwangssterilisierung und klinische Vernichtung (wie Anm. 10), S. 223. Ebenfalls 1988 führte Gerber aus: Nach dem Bericht eines Pflegers habe die Verlegung „wie eine ganz normale Evakuierung gewirkt“. Für „die meisten der vermeintlich Geisteskranken“, so der Verfasser weiter, „wurde diese Bahnreise eine Odyssee, die in der Vernichtungsanstalt Hadamar (Limburg) endete.“ Vgl. Thomas Gerber: Alles wirkte wie eine normale Evakuierung: Auch saarländische Psychiatrie-Patienten wurden von den Nazis vergast, in: Arbeitnehmer 1988, S. 85– 88, hier S. 85. Vgl. auch den umfangreichen Artikel von Michael Jungmann: Saarbrücker Zeitung vom 21./22. November 1987. 13 Mergen: Vom Irrenhaus zur Reformeinrichtung (wie Anm. 3), S. 248. 14 Auch hier lohnt ein Blick in die Trierer Forschung. Klein schreibt: „Martini implizierte, dass die (Barmherzigen) Brüder bereits zum Zeitpunkt des Abtransports der Patienten aus der Anstalt wussten, dass diese umgebracht werden sollten“. Vgl. Klein: NS-“Rassenhygiene“ im Raum Trier (wie Anm. 11), S. 287. 15 Braß: Zwangsterilisation und „Euthanasie“ (wie Anm. 5), S. 238 ff. 238
Die Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig
wohl bei der Vorbereitung seines Beitrages im „Arbeitnehmer“ 1988 befragt hatte.16 Der zeitgenössische Ennen-Bericht, der von mir erstmals herangezogen wird, war ihnen nicht bekannt. Der erste Zeuge sagte aus: „Die Evakuierung war vorbereitet. Viele Patienten waren schon vorher nach Hessen verlegt worden. Abends, gegen 22.30 Uhr hielt ein Sonderzug gegenüber der Anstalt […]. Jeder Patient hatte ein Bündel mit Anstaltskleidern. Über eine Holzrampe sind die Patienten in den Zug gestiegen […]. Als Begleitpersonal waren Merziger Pfleger und Schwestern sowie normales Zugpersonal dabei […]. Ich hatte nicht den Eindruck, daß die Patienten zur ‚Euthanasie‘ abgeholt werden sollten. Alles wirkte wie eine normale Evakuierung auf Grund des Krieges […].“ Der zweite Zeuge berichtete: „Die Patienten sind nicht in Personenwagen, sondern in Güterwagen abtransportiert worden. In einem Wagen saßen etwa 65 Patienten, eng gedrängt, um Platz zu sparen[…]. Als Toiletten dienten Nachttöpfe und Eimer, die Fenster konnten nicht geöffnet werden[…].“ Wie unschwer zu erkennen ist, standen hinter den Aussagen teilweise gezielte suggestive Fragen: Nach eventuell polizeilichen oder sogar SS-Kräften als Begleitpersonal; ob die Evakuierung wirklich „normal“ war, und tatsächlich nicht die bevorstehende Euthanasie eine Rolle spielte. Wahrscheinlich war auch nach Güterwagen als Beförderungsmittel gefragt worden, vielleicht sogar nach dem Einsatz von Viehwagen. Vorab kann festgestellt werden, dass keine einzige der geschilderten Maßnahmen auch nur ein Hauch schikanöser Behandlung der Kranken erkennen lässt; Luy und Gerber haben vielmehr den „zutiefst menschenverachtenden Charakter“ der Evakuierungsaktion herausgelesen, den sie zuvor hineingelesen haben. Die Anstalt Merzig hatte die Evakuierung tatsächlich lange zuvor vorbereiten können. Der Befehl zum Aufbruch dagegen kam kurzfristig; das traf aber auf die Räumung der „Roten Zone“ ganz allgemein zu. Wie erwähnt, war bereits im Juni 1939 eine Teilevakuierung der Heilanstalt erfolgt. Mit logistischen Problemen bei Kriegsbeginn war man trotz der Konkurrenz zu Truppentransporten nicht belastet, weil der Sonderzug ohne Schwierigkeiten planmäßig bereitgestellt worden war. Dass die Fahrt in die Nacht verlegt wurde, sollte eigentlich nicht befremden; sie wurde erst in der Sicht von Luy und ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 16 Gerber (wie Anm. 12), S. 86 zitiert die Aussagen mit Auslassungspunkten. Sicherlich wären auch diese ausgelassenen Teile der Befragung von Interesse gewesen! 239
Wolfgang Laufer†
Gerber eine „Nacht- und Nebelaktion“. Die Abfertigung erfolgte – so offenbar deren Annahme – in aller Heimlichkeit, um das mörderische Vorhaben vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Die erwähnten Vorbereitungen, u. a. Installation einer Lichtleitung, sprechen gegen diesen Verdacht. Es ist auch anzunehmen, dass wahrscheinlich nicht nur viele Merziger als Zuschauer herbeigeströmt waren, sondern dass sich vor allem zahlreiche Angehörige aus Sorge um das Wohlergehen ihrer Kranken am Zug eingefunden hatten und bei deren Betreuung mithalfen. Nicht anders war es bei der Evakuierung der Saarlouiser Krankenhäuser.17 Die Merziger Kranken wurden mit einem Personenzug befördert. Dass einer der Zeugen „Güterwagen“ erwähnt, muss dem nicht widersprechen; es wäre dies auch kein Hinweis auf „menschenverachtende“ Behandlung, wie wiederum ein Blick auf die Evakuierungen der Krankenhäuser bzw. Kranken im benachbarten Kreis Saarlouis zeigt: Hier wurden am 30. August und 3. September 1939 drei Züge abgefertigt, von denen zwei aus Personen- und Güterwagen bestanden, der dritte nur aus Güterwagen.18 Es kann also offenbleiben, ob dem Merziger Zug vielleicht auch Güterwagen angehängt worden waren. Im Übrigen ist grundsätzlich festzuhalten, dass auch bei der allgemeinen Evakuierung der Bevölkerung Güterwagen eingesetzt wurden. Die Patienten wurden auch nicht in die Waggons „verfrachtet“, sondern konnten über ein abgeerntetes Kappesfeld und unter einer eigens gelegten Lichtleitung über Holzrampen den Zug besteigen. Man wollte, wie Direktor Ennen hervorhebt, den Kranken ein „bequemes“ Einsteigen ermöglichen. Dennoch war die Zugfahrt selbst sicherlich mit Unannehmlichkeiten verbunden, die jedoch nicht als Schikanen gedeutet werden können. Dazu gehörten das enge Sitzen, die mangelhaften Toilettenverhältnisse und das Verbot, während der Fahrt die Fenster zu öffnen. Letzteres leuchtet jedem ein, der einmal einen Zug mit Schutzbefohlenen begleitet hat. Jeder Patient hatte sein Bündel mit ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 17 Bericht des Saarlouiser Landrats Dr. Franz Schmitt, vgl. Dieter Bettinger: Beiträge zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges im Bereich des heutigen Saarlandes, Teil 1, in: ZGS 26 (1987), S. 179–240, hier S. 203. 18 Bericht Schmitt, vgl. Bettinger (wie Anm. 17), S. 203, 206. Williams hat ermittelt, dass die aus der französischen Grenzzone Evakuierten „meist in Viehwagen“ transportiert wurden, in Deutschland dagegen nicht; vgl. Williams: Grenzen der „Volksgemeinschaft“ (wie Anm. 1), S. 117 f. Seck berichtet allerdings vom Einsatz von Vieh- und Güterwagen, ausgelegt mit Stroh, ohne sanitäre Anlagen; vgl. Seck: Es begann vor 40 Jahren (wie Anm. 1), S. 18 240
Die Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig
Anstaltskleidung mitzunehmen. Auch dies war sicherlich keine Schikane, denn auch bei der überstürzten Abreise der Evakuierten aus der „Roten Zone“ hatte jede Person ebenfalls nur wenig Gepäck mitnehmen dürfen (bis15 kg).19 Zusammenfassend ist festzuhalten: Die geschilderten Maßnahmen lassen keine Schikanen und noch weniger den „zutiefst menschenverachtenden Charakter“ der Aktion erkennen, sondern sie zeigen vielmehr, dass man die Kranken mit Fürsorge behandelte. Vor allem der Ennen-Bericht und die Briefäußerung von Tochter Ennen sind geeignet, diesen Eindruck zu bekräftigen. Aus ihren Berichten ist keinerlei düstere Ahnung kommender schlimmer Ereignisse herauszulesen. – Wir aber, die wir in die Zukunft blicken können, sehen die Abfahrt des Zuges nicht ohne Anteilnahme. Es muss verwundern, dass die Darstellung von Luy und Gerber – soweit mir bekannt – niemals von der Fachwissenschaft kritisch hinterfragt wurde. Bis heute liegt deshalb über der Evakuierung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig ein dunkler Schatten. Die These hat im Gegenteil in dieser oder jener Form Zustimmung erfahren; zu nennen ist etwa Hermann Volk in seinem „Heimatgeschichtlichen Wegweiser zu Stätten des Widerstands und der Verfolgung“:20 „So konnten in Merzig die Vorbereitungen zum Patientenmord unter der Tarnung der kriegsbedingten ‚Rückführung‘ getroffen werden, ohne daß mit größerem Widerstand hätte gerechnet werden müssen“. Das betraf seiner Überzeugung nach sogar die Räumung vom Juni 1939. Auch Christoph Braß beantwortete in seiner Dissertation von 2004 die eingangs gestellte zentrale Frage nach „Evakuierung“ oder „Todeszug“ letztlich mit „Todeszug“. Um „Verschleppung“ und „Deportation“ der Merziger und Homburger Patienten zu belegen, verliert er sich – ohne jeden Quellenbeleg – in Vermutungen und Spekulationen. Er schildert zunächst die Auflösung der Merziger Anstalt knapp nach Gerber. Danach bestiegen die Kranken einen bereitstehenden Güterzug.21 Er verweist zwar auf den „militärischen Kontext“ der Evakuierung, stellt dann aber die Frage, „ob der Krieg tatsächlich der einzige Grund für die Verlegung […] war oder ob nicht vielmehr die militärischen Er⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 19 Seck: Es begann vor 40 Jahren (wie Anm. 1), S. 16. 20 Hermann Volk: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933–1945. Band 4: Saarland, Köln 1990, Zitat S. 70, vgl. auch S. 140. 21 Braß: Zwangsterilisation und „Euthanasie“ (wie Anm. 5), S. 195. Das Nachfolgende S. 197 f. Auslassungen von mir. 241
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eignisse zugleich auch einen plausiblen Anlaß boten, um diese Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung herauszureißen [...]“ und sie damit von ihren Familien zu trennen. Dann fährt er fort: „Und es wäre durchaus denkbar, daß diese Trennung bewußt herbeigeführt wurde, um die Patienten im Zuge der sogenannten ‚Euthanasie‘, die wenige Monate [!] später begann, möglichst unauffällig und ohne Widerstand von Seiten ihrer Angehörigen ermorden zu können“. Schon die Evakuierung im Sommer 1939 habe in das „Einzugsgebiet“ der Tötungsanstalt Hadamar geführt.22 Braß bekräftigt dann in seiner Zusammenfassung, der Krieg sei zwar Anlass für die Evakuierung von Merzig und Homburg gewesen, „aber gleichzeitig bereits eine Vorbereitungsmaßnahme für die sogenannte ‚Euthanasie‘“.23 Nachdem er an anderer Stelle24 den „rassehygienischen Eifer“ der Wiesbadener Provinzialbehörden erläutert hat, schließt er daraus, es sei „vermutlich kein Zufall“ gewesen, „daß Hunderte von saarländischen Patienten bei Kriegsbeginn genau in diese Region verlegt wurden.“ Die Kranken seien „in eine Region deportiert [worden], in der die Rassenpolitik der Nazis besonders rigide praktiziert wurde“.25 Sie seien „offenbar schon früh in das Blickfeld ihrer Mörder geraten“.26 Das Saarland sei auch „überproportional stark von den Krankenmorden betroffen“ gewesen.27 In seiner Zusammenfassung offenbart der Verfasser jedoch seine Unsicherheit: „Aber auch wenn nicht zu beweisen ist, daß die Räumung bereits als Vorbereitungsmaßnahme für die ‚Euthanasie‘ geplant worden war, bleibt doch festzuhalten, daß sie diesen Zweck de facto erfüllte“.28 Weitere Autoren sind zu nennen, die sich um Belege für die These vom „Todeszug“ bemühten bzw. die die Einordnung in die allgemeine Evakuierung aus der „Roten Zone“ nicht für glaubwürdig hielten. Es fällt auf, dass auch hier durchweg jede Quellenbasis fehlt. In seinem Kapitel über die Evakuierung Merzigs macht Torsten Mergen mehrere, in seinen Augen verdächtige Beo⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 22 Braß: Zwangsterilisation und „Euthanasie“ (wie Anm. 5), S. 198. Diese Annahme wird m. E. von Klein überzeugend widerlegt, wenn er darauf verweist, Hadamar sei erst im November 1940 als „Tötungsanstalt“ bestimmt worden; vgl. Klein: NS-“Rassenhygiene“ im Raum Trier (wie Anm. 11), S. 288. 23 Braß: Zwangsterilisation und „Euthanasie“ (wie Anm. 5), S. 336. 24 Ebda., S. 224 f., Zitat S. 225. 25 Ebda., S. 329. 26 Ebda., S. 336. 27 Ebda., S. 30. 28 Ebda., S. 336. 242
Die Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig
bachtungen:29 Es stelle sich die Frage, warum die Verlegung nicht in rheinische Anstalten erfolgte, wohin der Transportweg kürzer gewesen sei. Die angeblich niedrigeren Pflegesätze in den hessischen Anstalten seien attraktiv und die Zielorte Weilmünster und Scheuern „geradezu prädestiniert für eine Verlegung in die geplante Vernichtungsanstalt Hadamar“ gewesen. Gisela Tascher fand heraus, dass Hitler kurz nach Kriegsbeginn die „Euthanasie“ anordnete, „um die freiwerdenden Krankenhausbetten vor allem militärischen Zwecken zuzuführen.“30 Einen Quellenbeleg nennt sie wie für das Folgende nicht. „Bekannt ist dagegen, dass im ‚Gau Westmark‘ und damit vor allem auch im Saarland durch die Verwaltungsstruktur und durch die Lage an der Westfront besonders viele Krankenbetten für militärische Zwecke benötigt wurden und deshalb die betroffenen saarländischen Patienten in reichsdeutsche Tötungsanstalten verlegt wurden“.31 Auch Luy und Gerber griffen diese Begründung auf, ebenfalls ohne jeden Quellenbeleg: „Die Notwendigkeit zur Bereitstellung von genügend Lazarettplätzen für verwundete Frontsoldaten bildete einen willkommenen Anlaß und beseitigte die letzten Skrupel, den psychisch Kranken und anderen unerwünschten Randgruppen den Garaus zu machen“.32 Die Heil- und Pflegeanstalt Merzig blieb während des gesamten Krieges geschlossen. Sie war an den „Euthanasiemorden“ nicht beteiligt, auch nicht an deren Vorbereitung. Das wird nicht zur Kenntnis genommen, vielmehr bleibt die Stigmatisierung Merzigs im öffentlichen Bewusstsein tief verankert, wie zwei neuere Pressehinweise zeigen mögen: „Merzig spielte mit der Heilanstalt eine entscheidende Rolle beim Holocaust“, so ein Leserbrief vom Februar 2021.33 Eine Ansicht des Hauptgebäudes wird in einem Zeitungsbeitrag untertitelt: „In der Psychiatrie in Merzig […] wurden im Dritten Reich viele Insassen Opfer von Euthanasie“.34 Tief verankert ist auch die Überzeugung, dass die An⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 29 Mergen: Vom Irrenhaus zur Reformeinrichtung (wie Anm. 3), S. 257 ff. Die nachfolgenden Zitate S. 258. 30 Gisela Tascher: Staat, Macht und ärztliche Berufsausübung 1920–1956. Gesundheitswesen und Politik. Das Beispiel Saarland, in: ZGS 58 (2010), S. 117–128, hier S. 121. Ihre gleichnamige Dissertation (Paderborn 2010) wurde von mir nicht eingesehen. 31 Ebda., S. 122. 32 Luy/Gerber: Zwangssterilisierung und klinische Vernichtung (wie Anm. 10), S. 223. 33 Saarbrücker Zeitung vom 6./7. Februar 2021. 34 Bericht der Saarbrücker Zeitung vom 29. Januar 2021 über eine Gedenkveranstaltung im Landtag des Saarlandes. 243
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stalt durch die Entsendung eines „Todeszugs“ 1939 die Morde vorbereitet und deshalb Schuld auf sich geladen hat. Meist kommt der Hinweis auf die Beteiligung an der Ausführung des „Erbgesundheitsgesetzes“ hinzu.35 Nach Bekanntwerdung der neueren „Forschungsergebnisse“ hat das nach dem Krieg gegründete und 1998 aufgelöste Landeskrankenhaus Merzig – soweit ich sehe – die Schuldzuweisungen ohne Widerspruch hingenommen, auch die These vom „Todeszug“: 1990 wurde vor dem Hauptgebäude auf Anregung des Anstaltsleiters Prof. Dr. Werner durch den Bildhauer Eberhardt Killguss ein Mahnmal errichtet, „das die Verbrechen an psychisch Kranken thematisierte.“36 Es „besteht aus drei aufragenden Eisenplatten, die von Eisenstangen durchbohrt sind, und vier in die Rasenfläche eingelassenen Eisenbahnwagonrädern, welche für die erfolgten Deportationen stehen“. Wie ist es zu dieser bedenkenlosen „Dämonisierung“ der Evakuierung von 1939 als „Scheinevakuierung“ und „Deportation“ gekommen? Wie war eine solche „Geschichtsschreibung“ ohne tragende Quellen möglich, die eine gerade Linie von den Merziger Zwangssterilisierungen über die Räumung 1939 zu den „Euthanasiemorden“ in Hadamar zog? Wie konnte die Merziger Belegschaft auf diese Art und Weise „dämonisiert“ werden? Zunächst wird man feststellen können, dass das Wissen um die späteren „Euthanasiemorde“ sicherlich einen Blick ex post erzeugt hat;37 man suchte und fand Spuren einer frühen saarländischen Verstrickung. Schließlich war und ist das Trauma der „falschen“ Volksabstimmung von 1935 unverändert präsent:38 Den Saarländern, die am 13. Januar 1935 zu über 90 Prozent „für Hitler“ bzw. „für Hitler-Deutschland“ gestimmt und damit ihre besondere Affinität zur NS-Ideologie „bewiesen“ hatten, traut man seit dem Vieles zu, auch die zynische Mithilfe bei der Vorbereitung der „Euthanasiemorde“ schon im ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 35 In der Heil- und Pflegeanstalt Merzig wurden im Zeitraum 1935–1939 ca. dreihundert Zwangssterilisierungen durchgeführt; vgl. Mergen: Vom Irrenhaus zur Reformeinrichtung (wie Anm. 3), S. 249; Braß: Zwangsterilisation und „Euthanasie“ (wie Anm. 5), S. 142. 36 Mergen: Vom Irrenhaus zur Reformeinrichtung (wie Anm. 3), S. 274. Auf das in Merzig von Werner gegründete Psychiatrie-Museum gehe ich hier nicht ein. 37 Wie sich diese Sicht „von hinten“ als „Rückübersetzung“ in ähnlicher Weise auf die Deutung des Referendums vom 13. Januar 1935 ausgewirkt hat, vgl. Burgard: Das Saarland im Nationalsozialismus (wie Anm. 1), S. 273. 38 „Als die Saarländer am 13. Januar 1935 mit überwältigender Mehrheit ‚heim ins Reich‘ kehrten, liefen im Reich die Vorbereitungen für die später systematisch betriebene klinische Vernichtung (“Euthanasie“) bereits auf Hochtouren“. Vgl. Gerber (wie Anm. 12), S. 85. 244
Die Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig
Sommer 1939 und die bereitwillige Entsendung eines Merziger „Todeszugs“ in die Nähe der „Euthanasieanstalt“ Hadamar bei Kriegsbeginn. Die zu Beginn gestellte Frage „Evakuierung“ oder „Todeszug ?“ ist meiner Überzeugung nach eindeutig beantwortet: Die Heil- und Pflegeanstalt Merzig wurde bei Kriegsbeginn 1939 wie andere Krankenhäuser und die Bevölkerung über den Rhein in die sog. „Bergungsgebiete“ Mitteldeutschlands evakuiert. Die Räumung war Teil der allgemeinen „Freimachung“ der vom Krieg bedrohten deutschen Westgebiete. Sie war keine Vorbereitung der „Euthanasiemorde“, und das Personal war auch nicht aus der Zivilisation in die Barbarei gefallen.39 Niemand hatte damals jedoch voraussehen können, wohin der Weg der Evakuierung letztlich führen würde. Abb. 2: Alle Merziger „Gefolgschaftsmitglieder“ (soweit sie nicht eingezogen waren) richteten am 27. Dezember 1939 an ihren Direktor einen Neujahrsgruß mit dem Wunsch auf ein „baldiges frohes Wiedersehen in Merzig“ (19 Unterschriften) [LA Saarbrücken. Best. NL Ennen]
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 39 Wie das beim Personal der „Transitanstalten“ vor der Verlegung nach Hadamar der Fall war; vgl. Braß, Zwangsterilisation und „Euthanasie“ (wie Anm. 5), S. 276 ff. Hingewiesen werden kann auch auf die Belegschaft des Saarbrücker „Gestapolagers“ „Goldene Bremm“ in den letzten Kriegsjahren. Zum „Sprung von der Zivilisation in die Barbarei“ vgl. Burgard, Das Saarland im Nationalsozialismus (wie Anm. 1), S. 307. Alle Merziger „Gefolgschaftsmitglieder“ (soweit sie nicht eingezogen waren) richteten am 27. Dezember 1939 an ihren Direktor einen Neujahrsgruß mit dem Wunsch auf ein „baldiges frohes Wiedersehen in Merzig“ (19 Unterschriften). LA Saarbrücken. Best. Nachlass Ennen. 245
Beiträge
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
„Wir haben jeden Sonntag ein gefülltes Gotteshaus“ Die altkatholische Gemeinde im Saarland Von Joachim Conrad
1. Die Gründung der altkatholischen Gemeinde „Am 31. Januar 1874 versammelten sich Abends im Lokale des Herrn Bierbrauers Klein zu St. Johann die Herren1 P[hilipp] A[nton] Mönch2, [Paul] Nepilly3, W. Vossen4, [N.N.] Wiedenstridt, J[ohann] A[ugust] Fischer5, Görgen M[artin]6, [N.N.] Mentgen, [N.N.] Salm, [N.N.] Bargel, [Johann Peter] Dümbelfeld7, [N.N.] Dalskairen (?), [Hermann] Schönhoven, [Carl Joseph] Fischer, [N.N.] Böttgenbach, [N.N.] Heisel, [Johann Peter Hubert] Leuffgen8, [N.N.] Redecke, C[arl Joseph] Simonis9 und [N.N.] Arer zu dem Zwecke eine Alt-Katholische Gemeinde zu gründen und die Ausübung des alt-katholischen Kultus in der möglichst kürzesten Frist zu ermöglichen. Durch Unterzeichnung
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 1 Es sind nicht alle Namen durch das Kirchenbuch verifizierbar; es liegt der Verdacht nahe, dass Namen durch Hörfehler falsch geschrieben worden sind. So gibt es z. B. im Kirchenbuch den Namen Heigel, aber nicht Heisel. Die Namen Arer, Bargel, Böttgenbach, Dalskairen (?), Mentgen, Redecke, Salm, Vesfen und Wiedenstridt kommen in keiner Weise vor. 2 Philipp Anton Mönch, Eisenbahnsekretär in St. Johann, war der erste Organist der Gemeinde; er starb am 26. Februar 1883. 3 Bei Carl Max Paul Nepilly, der am 9. September 1876 starb, muss es sich um einen Sohn des ersten Vorsitzenden handeln; er selbst trat zum 10. Oktober 1879 aus dem Vorstand aus. Womöglich ist er weggezogen. 4 Ausweislich der Einweihungsfestschrift ist W. Vossen Eisenbahnsekretär; zum Zeitpunkt der Einweihung der Friedenskirche lebten neben ihm nur noch Johann August Fischer und Carl Joseph Simonis aus dem Kreis der Gründungsmitglieder; vgl. Friedrich Jaskowski: Festschrift zur Einweihung der Friedenskirche in Saarbrücken am 13. Juni 1893, Saarbrücken 1893, S. 13 Fußnote. 5 Johann August Fischer ist als pensionierter Deklarationsbevollmächtigter im Kirchenbuch eingetragen; er starb am 7. April 1895. 6 Martin Görgen war pensionierter Königlicher Schichtmeister in St. Johann und starb am 12. Oktober 1884. 7 Johann Peter Dümbelfeld war Gütervorsteher in Neunkirchen und starb am 25. Juni 1874. 8 Johann Peter Hubert Leuffgen ist als Sekretär eingetragen. 9 Der Eisenbahnbetriebssekretär Carl Joseph Simonis starb am 27. November 1896 im Alter von 68 Jahren. 249
Joachim Conrad des zu den Akten genommenen bezüglichen Erklärungsprotokolls constituiert sich die Gemeinde und wählt einen provisorischen Gemeindevorstand durch Acclamation, bestehend aus den 5 Herren [Paul] Nepilly, [Martin] Görgen, [Philipp Anton] Mönch, [Carl Joseph] Fischer und [N.N.] Arer.“10
Mit diesen Zeilen trat die altkatholische Bewegung in Saarbrücken auf und formulierte ihre Anliegen. Bereits in der Versammlung am 1. Februar 1874 wurden Paul Nepilly zum Vorsitzenden und Carl Joseph Fischer zum Schatzmeister gewählt.11 Am 4. Februar 1874 – nach einen Aufruf in der Presse waren 77 Mitglieder beigetreten – heißt es: „Es wurde ferner beschlossen, Herrn Bischof [Joseph Hubert] Reinkens von der Gründung der neuen Gemeinde in Kenntnis zu setzen.“12 Nun begann die Phase des Aufbaus: Die staatlichen Stellen drängten darauf zu erfahren, wer zu der neugegründeten Gemeinde gehörte, um die Gemeindeglieder der neuen altkatholischen Gemeinde vom Beitrag zu Gunsten der römisch-katholischen Gemeinden freizustellen. Aus der Protokollnotiz ist zu ersehen, dass die junge Gemeinde eine St. Johanner Gemeinde war und keine Saarbrücker Gemeinde. „Der prov[isorische] Vorsitzende theilt ein Schreiben des Herrn Bürgermeisters [Hermann] Falkenhagen von St. Johann mit, worin der prov[isorische] Vorstand ersucht wird, binnen 8 Tagen spätestens ein Verzeichnis der in St. Joh[ann] wohnenden Mitglieder nach Vor- und Zunamen, Stand u[nd] Hausnummer aufzuschreiben, damit die Umlagen der vatikanisch-katholischen Gemeinden pro 1874 den Mitgliedern außer Berechnung gestellt werden können.“13
Gleichzeitig bemühte sich die junge Gemeinde um einen gottesdienstlichen Raum und brachte sowohl die Pfarrkirche St. Johann als auch die evangelische Schlosskirche in Saarbrücken ins Gespräch.14 Um Gottesdienste feiern zu kön⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 10 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 144 Protokollbuch 1874–1884, S. 1 Gründungsversammlung am 31. Januar 1874. Aufgrund dieser Versammlung wurden immer wieder die Jubiläen der Gemeinde gefeiert, zuletzt die 125-Jahr-Feier vom 25.–26. September 1999. Bischof Joachim Vobbe predigte am 26. September 1999 in der Ludwigskirche. Vgl. EZAS Best. 05,1 AltKath. Kgm. Saarbr. Nr. 25 125jähriges Bestehen der Alt-Katholischen Gemeinde an der Saar. 11 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 1. Gemeindeversammlung am 1. Februar 1874. 12 Ebda. 13 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 3. Gemeindeversammlung am 4. Februar 1874. 14 Ebda., S. 5. Gemeindeversammlung am 4. Februar 1874. Der Brief, den der altkatholische Kirchenvorstand an den römisch-katholischen Dechant Philipp Schneider schrieb betr. die Mitbenutzung, stellte in Aussicht, den Rechtsweg zu bestreiten; er blieb – nicht gerade überraschend – ohne Antwort; er ist abgedruckt in: Jaskowski: Einweihung der Friedenskirche (wie Anm. 4), S. 19 f. 250
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
nen, wurde Pfarrer Dominicus Duren15 in Zweibrücken angefragt. Wieder reagierten die Behörden, und am 11. Februar 1874 wurde ein Schreiben verlesen, worin darauf aufmerksam gemacht wurde, „daß wohl die Erlaubnis höheren Orts zur Vornahme priesterlicher Amtshandlungen durch Herrn Pfarrer Duren im Saargebiete eingeholt werden müße“.16 Zweibrücken gehörte zum Königreich Bayern, Saarbrücken aber zum Königreich Preußen. Bischof Joseph Hubert Reinkens sorgte für Klarheit und beauftragte den Pfarrer mit der Wahrnehmung der pfarramtlichen Aufgaben.17 Außerdem erschien Generalvikar Prof. Dr. Franz Peter Knoodt und hielt einen Gottesdienst in Saarbrücken, an den sich ein Festessen anschloss, zu dem der Saarbrücker Landrat Ludwig von Geldern, der evangelische Superintendent Johann Gottfried Schirmer und der St. Johanner Bürgermeister Hermann Falkenhagen eingeladen waren.18 Mit diesem Ereignis trat die junge Gemeinde erstmals ins Licht der Öffentlichkeit. Am 4. März 1874 – die Gemeinde war bereits auf 220 eingetragene Mitglieder angewachsen – wurde der Gemeindeversammlung mitgeteilt, dass die Bestellung von Pfarrer Dominicus Duren zum Pfarrverweser erfolgt sei und dass alle römisch-katholischen Pfarrämter verpflichtet wären, die Amtshandlungen der altkatholischen Gemeinde in ihre Kirchenregister einzutragen.19 Zum geschäftsführenden Ausschuss wurden gewählt:20
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 15 Über Pfarrer Dominicus Duren erfahren wir aus der Pfälzer Zeitung: „Aus der Pfalz 13 Oct. Die ‚Altkatholiken‘ des Westrich haben seit einigen Wochen Herrn Dominicus Duren als Wanderpriester angestellt. Derselbe war 19 Jahre lang Mitglied des Jesuitenordens gewesen, aber ausgetreten, ein Umstand, aus dem mannigfaltiges Capital geschlagen wird. Die Zweibrücker ‚Nachrichten‘ berichten über den genannten Herrn, er sei erst im April 1873 aus der Irrenanstalt Glair bei Lüttich entlassen worden, wohin er im October 1872 als irrsinnig verbracht worden sei. Da Duren nach seiner Entlassung aus genannter Anstalt in seiner Heimatkirchengemeinde vielfach Aeußerungen machte, welche befürchten ließen, seine Geisteszerrüttung sei noch nicht vollständig behoben, so habe ihn sein Bruder in das Bad Spa gebracht, wo er von deutschen ‚Altkatholiken‘ gewonnen und zum Seelsorger ihrer Glaubensgenossen in Zweibrücken gemacht worden sei. Wir müssen dem genannten Blatte natürliche die volle Verantwortung für seine Angaben überlassen.“ Vgl. Pfälzer Zeitung 240 (14. Oktober 1873), S. 3. 16 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 5. Vorstandssitzung am 11. Februar 1874. 17 Ebda., S. 11. Vorstandssitzung vom 2. März 1874. 18 Ebda. 19 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 13. Gemeindeversammlung vom 4. März 1874. Ob das geschah, ist dem Verfasser nicht bekannt; jedenfalls liegt ein altkatholisches Kirchenbuch vor, das 1874 einsetzt. 20 Ebda., S. 20. Gemeindeversammlung vom 4. März 1874. 251
Joachim Conrad
(1) (2) (3) (4) (5)
Regierungsassessor Franz Robert Thomé, St. Johann, mit 158 Stimmen, Hüttendirektor Nikolaus Flamm, Burbach, mit 157 Stimmen, Maschinenmeister Paul Nepilly, St. Johann, mit 157 Stimmen, Friedensrichter Franz Maubach, Sulzbach, mit 156 Stimmen und Zeitungsexpedient Theodor Vogel21, Saarbrücken, mit 122 Stimmen.
Daneben wurde ein erweiterter Vorstand gewählt, dem auch der Malstatter Bürgermeister Wilhelm Meyer angehörte. Er wird im Verlauf der folgenden Jahre eine Rolle spielen. Ab 20. März 1874 amtierte Franz Robert Thomé als Vorsitzender.22 Die Gemeindeversammlung fasste noch weitergehende Beschlüsse: Auf Einladung der evangelischen Gemeinde Saarbrücken wurde die Ludwigskirche Gottesdienststätte;23 Philipp Anton Mönch wurde als Organist angestellt und als Religionslehrer verpflichtet.24 Die Delegation des Sulzbacher Friedensrichters Franz Maubach zur Synode erfolgte allerdings erst bei der Versammlung am 14. Mai desselben Jahres.25 Am 6. Dezember erfolgte die formale Errichtung der altkatholischen Pfarrei an der Saar. Anwesend waren der geschäftsführende und der erweiterte Vorstand, der Saarbrücker Landrat Ludwig von Geldern sowie dessen Sekretär. Nach der Besprechung heißt es: „Herr Landrath von Geldern erklärt hiernach die Erectionsurkunde zwischen ihm als Regierungs-Commissar und der altkatholischen Gemeinde an der Saar für definitiv vereinbart, vorbehaltlich der Genehmigung des Herrn Ministers der geistlichen etc. Angelegenheiten und ersucht den geschäftsführenden Vorstand, das Instrument mit ihm zu vollziehen.“26 Die Urkunde hat folgenden Wortlaut: „Von der Königlichen Regierung in Trier und dem katholischen Bischof Joseph Hubert Reinkens wird durch gegenwärtige Urkunde eine Parochie unter dem Namen ‚altkatholische Gemeinde an der Saar‘ mit nachfolgenden Maßgaben errichtet: 1. Mitglieder der die Parochie bildenden Gemeinde sind alle diejenigen in den Kreisen Saarbrücken, Ottweiler und St. Wendel wohnenden Katholiken, welche ihren Willen,
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 21 Theodor Vogel starb am 12. Oktober 1893 und wurde am 15. Oktober bestattet. 22 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 22. Gemeindeversammlung vom 4. März 1874. Franz Robert Thomé wechselte als Oberregierungsrat nach Hannover. 23 Ebda., S. 23. Gemeindeversammlung vom 4. März 1874. 24 Ebda. 25 Ebda., S. 28. Gemeindeversammlung vom 14. Mai 1874. 26 Ebda., S. 39. Protokoll vom 6. Dezember 1874. 252
Die altkatholische Gemeinde im Saarland der altkatholischen Organisation beizutreten, vor den Landräthen oder Bürgermeistern dieser Kreise bereits erklärt haben, oder welche in Zukunft bei dem Kirchen | 2 | vorstande sich anmelden oder von den dazu berechtigten Personen angemeldet werden. 2. Als Statut der Parochie gelten die Bestimmungen des Abschnittes V §§ 35 bis 39 der von der ersten Synode der Altkatholiken des Deutschen Reichs zu Bonn angenommenen Synodal- und Gemeinde-Ordnung vom 27. Mai 1874. 3. Die Parochialgemeinde wird nach Außen in vermögensrechtlicher Beziehung und den staatlichen Behörden gegenüber durch einen gemäß diesem Statut zusammengesetzten Kirchenvorstand vertreten. Der Sitz desselben ist in der Stadt Saarbrücken. 4. Der Pfarrer wird in Gemäßheit der Synodal- und Gemeinde-Ordnung von der Gemeinde gewählt, vom Bischof unter Beobachtung der Staatsgesetze bestätigt und eingesetzt. | 3 | 5. Die Ausübung des kirchlichen Besteuerungsrechtes bleibt weiterer Bestimmung vorbehalten. 6. Sämmtliche Eingepfarrte haben sich die ihnen aus ihren bisherigen Parochial-Verbande erwachsenen vermögensrechtlichen Ansprüche zur künftigen Geltendmachung vorbehalten. Zur Bekräftigung dessen ist diese Urkunde ausgestellt und von der Königlichen Regierung in Trier und dem katholischen Bischof Joseph Hubert Reinkens vollzogen und mit beiderseitigen Siegeln versehen. Bonn, den 22ten März 1875 Joseph Hubert Reinkens, Katholischer Bischof I B:4992 Der Herr Minister der geistlichen, Unterrichts | 4 | und Medizinal-Angelegenheiten hat mittels Erlassung vom 6ten März curr[endis annis] zur Begründung einer altkatholischen Parochie in Saarbrücken unter dem Namen ‚Altkatholische Gemeinde an der Saar‘ aufgrund der vorstehenden Urkunde die Genehmigung ertheilt. Trier, den 31ten März 1875 Königliche Regierung, Wolff.“27
Nach der formalrechtlichen Errichtung der Gemeinde wurden die provisorischen Gremien des geschäftsführenden und des erweiterten Vorstandes ersetzt durch geordnete. So wurde am 10. Oktober 1875 die Gemeindevertretung28 gewählt. Ihr gehörten an:
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 27 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 7 Urkunde über die Errichtung einer katholischen Parochie an der Saar 22. März/31. März 1875. Die Urkunde wurde im Saarbrücker Kreisblatt Nr. 15 (1875) veröffentlicht. 28 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 45 f. Pro memoria 10. Oktober 1875. In der Sitzung vom 11. August 1879 wurde Carl Lamarche in die Gemeindevertretung gewählt; vgl. ebda., S. 92. 253
Joachim Conrad
(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18)
Dr. Gustav Barthel, Schulinspektor, Saarbrücken Theodor Vogel, Zeitungsexpedient, Saarbrücken N.N. v. d. Kall, Hüttenbeamter, Burbach Julius Barth, Hüttendirektor zu Völklingen Johann Bastuck, Ökonom zu Malstatt Nikolaus Collignon, Ökonom zu Malstatt Georg Brill, Materialienverwalter zu Saarbrücken Friedrich Fourmann, Schichtmeister zu Bildstock Friedrich Leismann, Schichtmeister zu Sulzbach Johann Merker, Hüttenbeamter zu Burbach Johann Frantz, Materialienpfleger (?) zu Dudweiler Friedrich Hompesch, Werksdirektor zu Saarbrücken Wilhelm Meyer, Bürgermeister zu Malstatt-Burbach, Vorsitzender Carl Strohmann, Buchhalter zu Malstatt Christian Klaes, Markscheider zu Friedrichsthal Hermann Schoenhoven, Eisenbahnsekretär zu St. Johann Johann Gergen, Bergamtsassistent zu Burbach Philipp Nalbach, Obermeister zu Burbach
Und wenige Wochen später wurde der Vorstand29 gewählt, bestehend aus Kommerzienrat Nikolaus Flamm, Hüttendirektor aus Burbach, Carl Joseph Fischer, Eisenbahnsekretär aus St. Johann, Martin Goergen, Schichtmeister aus St. Johann, Franz Maubach,30 Gerichtsassessor und Friedensrichter aus Sulzbach und Franz Robert Thomé, Regierungsassessor; Thomé wurde zum Vorsitzenden gewählt. Der Organist Philipp Anton Mönch, ein Gründungsmitglied der Gemeinde, nahm zum 1. Mai 1879 seinen Abschied;31 ihm folgte ein Organist Michel, der knapp ein Jahr später das Vertragsverhältnis wieder beendete, worauf das Organistenamt erneut an den Organisten Mönch ging.32 Erst im Frühjahr 1881 erfährt man Hintergründe über die Spannungen, die offenbar zwischen Kirchenmusiker und Vorstand bzw. Pfarrer existierten. In einer Sitzung im Café ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 29 Ebda., S. 47 Protokoll vom 13. November 1875. 30 Friedensrichter Franz Maubach wurde kurz danach versetzt. 31 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 87. Protokoll vom 16. April 1879. 32 Ebda., S. 100. Gemeinsame Sitzung Kirchenvertretung und Vorstand am 11. April 1880. 254
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
Schumann wurde über die „Ungehörigkeiten des Organisten Mönch“ gesprochen, und dann genauer: „Derselbe hatte von dem Gemeindeangehörigen Herr Kaiser aufgefordert, ein von dem Herrn Pfarrer vorgeschriebenes Lied mit der Orgel zu begleiten, erwidert, indem er das Gesangbuch zu Boden warf: ‚Ich spiele nicht, ich muß das besser wissen als der Pfarrer, der davon nichts versteht.‘ Das gleicherzeit anwesende Mitglied Goergen antwortete dem Herrn Mönch: ‚Sie haben das, was vorgeschrieben ist, zu spielen,‘ worauf die Antwort erfolgte: ‚Ich mache mir daraus nichts.‘“33 Es kam zur Kündigung.
2. Die ersten Jahre 2.1 Probleme mit der Besetzung der Pfarrstelle
Die ersten Jahre der jungen altkatholischen Gemeinde waren nicht leicht. Der Pfarrermangel führte dazu, dass die Bistumsleitung in der ersten Zeit die Durchführung von Gottesdiensten durch Laien genehmigte.34 Im Februar oder März 1874 hatte Bischof Joseph Hubert Reinkens den Zweibrücker Pfarrer Dominicus Duren mit der Verwaltung der Saarbrücker Pfarrstelle beauftragt.35 Das Provisorium dauerte an, und am 29. Juli 1874 nahm die Gemeindeversammlung zur Kenntnis, dass die Suche „eines geeigneten Geistlichen bis heute kein Resultat ergeben habe, so sehr es auch der Wunsch der Gemeinde sei, bald einen tüchtigen Geistlichen zu erhalten“.36 Wohl bald danach wurde Pfarrer Peter Rustemeyer für die Stelle vorgesehen, er fand aber keinen Rückhalt in der Gemeinde, und Paul Nepilly bekam den Auftrag, darüber den Bischof in Kenntnis zu setzen. Doch nahm „die Versammlung von einem Vorgehen gegen Rustemeyer umso mehr Abstand, als verlautet, derselbe habe sich zu einem Pastor in der Schweiz gemeldet und werde freiwillig seine hiesige Stellung niederlegen“.37 ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 33 Ebda., S. 110 f. Gemeinsame Sitzung von Kirchenvertretung und Vorstand im Café Schumann am 4. März 1881. 34 „Der Parochie Saarbrücken-St. Johann ist die Abhaltung eines Laiengottesdienstes durch die dazu vorgeschlagenen Männer nach dem Synodalbeschlusse (Sammlung S. 52) gestattet worden.“ Vgl. Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt 1. Jg. Nr. 1 (1878), S. 5. 35 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 11. Vorstandssitzung vom 2. März 1874. 36 Ebda., S. 31. Gemeindeversammlung vom 29. Juli 1874. 37 Ebda., S. 32. Vorstandssitzung vom 8. August 1874. Jaskowski schreibt: „Er entsprach indessen in keiner Weise den Anforderungen, welche eine altkatholische Gemeinde an einen Geist255
Joachim Conrad
Wieder übernahm Pfarrer Dominicus Duren von Zweibrücken aus Saarbrücken; er sollte am 14. Mai 1876 zum Pfarrer bestellt werden. Dazu heißt es: „Der Kirchenvorstand beschließt, mit Herrn Pfarrer Duren Verhandlungen über folgende Bedingungen anzuknüpfen: Herr Pfarrer Duren soll vorläufig zum commissarischen Pfarrer gewählt werden mit einem fixen Jahresgehalt von 700 Mark. Die Wohnung wird von den betheiligten Kirchengemeinden geleistet und zwar von denselben für die nächsten drei Jahre 500 Mark pro Jahr zu diesem Zwecke bewilligt. Es beträgt daher zur Zeit das ganze Einkommen 1200 Mark pro Jahr. Dagegen verpflichtet sich der Pfarrer, die Reisekosten, welche bei Dienstreisen im Bezirke der Pfarrei erwachsen, selbst zu tragen, ebenso die Reisekosten des Küsters bei Beerdigungen innerhalb des Gemeindebezirks.“38
Die Verbindung hielt nicht lange. Schon drei Jahre später machte Paul Nepilly „Mittheilung von einem Schreiben des Herrn Pfarrer Duren, worin dieser erklärt, die Seelsorgestelle in hiesiger Gemeinde niederzulegen. Wegen provisorischer Pastorierung soll sich der Vorstand sofort nach Bonn wenden“.39
Der Fall Duren vermittelt einen besonderen Eindruck. Hochgelobt für seinen Dienst, verzichtete er offenbar „aus Glaubensgründen“ auf die Ordinationsrechte. Das Amtsblatt kann darüber offenbar nicht berichten, ohne Schuldzuweisung an dritte zu machen. Denn da heißt es: „Der bisherige Pfarrer Duren von St. Johann-Saarbrücken und Kaiserslautern hat am 6. August [1879] angezeigt, daß er aus dem geistlichen Stand austrete. In einem Schreiben vom 16. Juli hatte er diese Absicht bereits kundgegeben. Da dieses Schreiben (kleiner Briefbogen in 8°) auf dem Couvert die Notiz ‚eigenhändig‘ trug, ist dasselbe liegen geblieben bis zu der am 14. August erfolgten Rückkehr des Bischofs. Auf die von verschiedenen Blättern gemachte Mittheilung über einen Vortrag des Genannten, der christliche Grundwahrheiten verwarf, hatte der Generalvicar am 5. August denselben zur sofortigen Aeußerung und, im Falle er wirklich den angegebenen Vortrag gehalten, zur sofortigen Amtsniederlegung unter Androhung des Einschreitens aufgefordert. Wir bedauern, daß Herr Duren, der als sittenreiner Priester dasteht und sich stets thätig benommen, Schiffbruch am Glauben gelitten, begreifen aber dieses Resultat als die
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ lichen stellen darf. Seine äußere Erscheinung, sein gesellschaftliches Benehmen, das sich aus seinem langen Aufenthalt in Amerika erklärte, sein Aber- und Wunderglaube, den er durch seine römische Erziehung gewonnen und noch nicht abgelegt hatte und seine geistlosen Predigten führten unseren Kirchenvorstand zu der Ueberzegung, daß er der aktkatholischen Sache mehr schade, als nütze. Er legte in dem Bewußtsein, daß er den Erwartungen seiner Gemeinde nicht entsprach, sein Amt freiwillig nieder.“ Vgl. Jaskowski: Einweihung der Friedenskirche (wie Anm. 4), S. 21 f. 38 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 49 f. Protokoll vom 23. April 1876. Die Wahl erfolgte auch zum angedachten Termin; vgl. ebda., S. 50. 39 Ebda., S. 92. Sitzung vom 11. August 1879. 256
Die altkatholische Gemeinde im Saarland consequente Wirkung der Methode und Maximen der ‚Gesellschaft Jesu‘, deren Mitglied er früher war; wir müssen uns freuen über die Ehrlichkeit, welche ihn ein Amt aufgeben lässt, welches der schändet, der mit Ueberzeugung die Lehre nicht mehr vortragen kann und doch sein Amt beihält.“40
In demselben Amtsblatt stand zu lesen, dass Pfarrer Friedrich Jaskowski41 auf seinen Wunsch der Seelsorge in Neisse enthoben worden war. Er sollte der aufgehende Stern der Saarbrücker Gemeinde werden. Doch vorerst scheiterte die Gemeinde an Umständen, die sie nicht zu verantworten hatte.42 „Die Seelsorge in der Pfarrei Saarbrücken-St. Johann wurde von Bonn ausgeführt, da die Besetzung der Pfarrei nicht möglich war, weil der Herr Ober-Präsident der Rheinprovinz gegen den ihm benannten Candidaten Einspruch erhoben hat. Der hiergegen vom Bischof am 23. October 1879 an den ‚Königl[ichen] Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten‘ in Gemäßheit des Gesetzes vom 11. Mai 1873 abgesandter Recurs hat bis heute keine Erledigung gefunden, weil dieser Gerichtshof nicht in einer dem Gesetze entsprechenden Weise vollzählig besetzt war, was erst durch eine Königl[iche] Ernennung am 19. Januar geschehen ist.“43
Friedrich Jaskowski war dem Oberpräsidium als einer benannt worden, der dem preußischen Staat gegenüber eine kritische bzw. ablehnende Haltung einnehme. In den bayerischen Teilen der Gemeinde, in Kaiserslautern, Zweibrücken44, Kusel und Oberstein trat Jaskowski im Oktober 1879 seinen Dienst an.45 Mit Bezug auf § 16 Nr. 3 des Gesetzes über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen vom 1. Mai 1873 argumentierte das Oberpräsidium der Rheinprovinz in einem Brief an den Bischof vom 8. Oktober 1879, dass Pfarrer ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 40 Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt 2. Jg. Nr. 2 (1880), S. 18. Duren ist wohl nicht ausgetreten, sondern war seit 12. Juli 1885 Pfarrer in Kaiserslautern; 1895 wird sein Tod bekannt gegeben; vgl. Verhandlungen der vierzehnten Synode der Altkatholiken des Deutschen Reiches, gehalten zu Bonn am 5. Juni 1895. Amtliche Ausgabe, Bonn 1895, S. 51. 41 Vgl. zu seiner Person: LA Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe, 235 Badisches Kultusministerium. Personalakte Nr. 12635 Jaskowski, Friedrich 1896–1909. 42 „Auf erhaltene Antwort aus Bonn und nach Rücksprache mit der Gemeindevertretung schlägt der Kirchenvorstand dem Herrn Bischof die Berufung des Pfarrers Herr Jaskowski […] auf die hiesige Pfarrstelle vor. Die Berufung war erfolgt, wird aber von des Oberpräsidenten Excellenz nicht bestätigt. Weiteres darüber siehe in den zu den Akten genommenen Schriftstücken.“ Vgl. Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 92. Sitzung vom 10. Oktober 1879. 43 Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt 2. Jg. Nr. 3 (1880), S. 24. 44 Für Zweibrücken ist 1883 festgehalten: „Pfarrer Jaskowski in St. Johann-Saarbrücken hat die Erlaubnis erhalten, die Seelsorge in Zweibrücken zu übernehmen, zu deren Führung ihn diese Gemeinde erwählt hat.“ Vgl. ebda. 6. Jg. Nr. 2 (1883), S. 30. 45 Ebda. 2. Jg. Nr. 3 (1880), S. 27. 257
Joachim Conrad
Friedrich Jaskowski unzuverlässig sei.46 Die Staatsanwaltschaft ermittle gegen ihn wegen seines Artikels „Aus Schlesien“ in der Kölnischen Volkszeitung.47 Er habe im Religionsunterricht polemisiert gegen das Vatikanische Konzil.48 Der Bischof, Dr. Joseph Hubert Reinkens, schaltete sich ein und wandte sich an das Gericht: Er stellte fest, dass der Bericht der Neisser Zeitung, der Kultusminister habe Jaskowski vermahnt, falsch sei. Jaskowski habe sich mit der Übersetzung altkirchlicher Hymnen beschäftigt, auch habe er zum Eintritt in die altkatholische Kirche aufgefordert, was nicht verwerflich sei, vielmehr „hat er das gethan, wozu er berechtigt war. Das zu bestreiten, heißt einfach dem Altkatholizismus das Recht der Existenz zu bestreiten“.49 Der Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten fällte am 20. Februar 1880 sein Urteil und verwarf die Bedenken des Oberpräsidiums: Das Oberpräsidium im Oppeln hatte aufgrund des Gesetzes vom 4. Juli 1875 den Altkatholiken die Mitnutzung des kirchlichen Vermögens nach dem Zahlenverhältnis zugebilligt, darüber war es in Neisse, wo Jaskowski seit dem 1. Juli 1876 wirkte, zum Streit gekommen.50 Nun stand der Einführung in Saarbrücken nichts mehr im Wege; sie erfolgte am 11. März 1880.51 Bald darauf fand eine einstimmige Wahl und die Bestätigung als Pfarrer statt;52 Jaskowski zog wie geplant nach Saarbrücken.53 ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 46 „Gegen die vorläufige Anstellung des Priesters Jaskowski zu Neisse als Verweser der alt-katholischen Parochie St. Johann-Saarbrücken muß ich, wie ich Ew. Bischöfl. Hochwürden auf das gefällige Schreiben vom 15. v. M. 708 ergebenst erwidere, hiermit Einspruch erheben, da gegen denselben Thatsachen vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, daß derselbe den öffentlichen Frieden stören werde.“ Vgl. ebda. 2. Jg. Nr. 5 (1880), S. 40–49, hier: Brief des OberPräsidiums der Rheinprovinz an den altkatholischen Bischof vom 8. Oktober 1879. 47 Kölnische Volkszeitung Nr. 96 vom 7. April 1879. 48 Man könne – so wörtlich – „mit besonderer Berücksichtigung der vaticanischen Bischofs-Versammlung im Jahre 1870 entnehmen, dass Jaskowski es bei seinem Vorgehen an den erforderlichen Rücksichten fehlen läßt“. Vgl. Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt 2. Jg. Nr. 5 (1880), S. 40–49, hier: Brief des Ober-Präsidiums der Rheinprovinz an den altkatholischen Bischof vom 8. Oktober 1879. 49 Vgl. ebda. 2. Jg. Nr. 5 (1880), S. 40–49, hier: Berufung des altkatholischen Bischof Dr. Joseph Hubert Reinkens an den Kgl. Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten in Berlin o. D., S. 42. 50 Vgl. Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt 2. Jg. Nr. 5 (1880), S. 40–49, hier: Urteil des Kgl. Gerichtshofes für kirchliche Angelegenheiten in Berlin vom 20. Februar 1880. 51 Im Amtlichen Altkatholischen Kirchenblatt 2. Jg. Nr. 6 (1880), S. 52 stand in der Rubrik „2. Besondere Angelegenheiten. I. Preußen“ folgende Meldung: „St. Johann-Saarbrücken. Dem Herrn Pfarrer [Friedrich] Jaskowski wurde am 11. März [1880] die Seelsorge übertragen; derselbe versieht zugleich die in Kaiserslautern und Oberstein.“ 52 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 99. Gemeinsame Sitzung der Kirchenvertretung und des Vorstandes am 11. April 1880; vgl. auch Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt 3. Jg. Nr. 2 (1880), S. 22: „Der bisherige Pfarrverweser von St. Johann-Saarbrücken, Herr Friedrich 258
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
2.2 Der Streit um die Burbacher St. Eligius-Kirche Der preußische Staat hatte den altkatholischen Gemeinden den Nießbrauch am kirchlichen Vermögen nach Größe und Herkommen eingeräumt. In St. Johann war dies offenbar nicht möglich; in einem Bericht über das Jahrzehnte andauernde Ringen heißt es: „Unser Vorschlag zu einer gütlichen Auseinandersetzung mit den hiesigen römischen Katholiken liegt in Folge der Bemühungen des Bischofs [Michael Felix] Korum von Trier in Rom, und wird dort gewiß auch begraben bleiben.“54 In Saarbrücken nutzte die altkatholische Gemeinde die von der evangelischen Gemeinde freiwillig zur Verfügung gestellte Ludwigskirche bzw. die Schlosskirche: „Wohl haben unsere evangelischen Glaubens-
Abb. 1: Die neu erbaute Eligiuskirche in
genossen seit Gründung unserer Gemeinde Burbach. Stadtarchiv Saarbrücken bis jetzt – nun schon 15 Jahre – uns in [Nachlass Schleiden] hochherziger Bruderliebe die Pforten und Hallen ihres Gotteshauses geöffnet, so daß wir noch immer an würdiger Stätte unsere Gottesdienste halten konnten; aber dieses Gotteshaus stand uns an Sonn- und Festtagen (selbst in kalter Winterzeit) oft nur um 8 Uhr Morgens zur Verfügung, so daß ein großer Theil unserer Gemeindeglieder thatsächlich nicht am Gottesdienste teilnehmen konnte. Außerdem wird uns die evangelische Kirche zur Trauung eines Brautpaares, von dem der eine Theil der altkatholischen, der andere der evangelischen Konfession angehört, nicht eingeräumt, und endlich ist uns diese Kirche nur in der Voraussetzung geöffnet worden, daß wir bald Schritte thun zur Gewinnung eines eigenen Gotteshauses; sie ist uns nur auf Widerruf zu jeder Zeit zur Mitbenutzung eingeräumt worden und bleibt uns verschlossen, sobald wir aufhören, für ein eigenes Gotteshaus Sorge zu tragen.“55
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ Jaskowski, wurde mit bischöflichem Dekret vom 4. Juni 1880 nach einstimmiger Wahl der Gemeinde, und nachdem der Oberpräsident der Rheinprovinz auf erfolgte Benennung erklärt hatte, er erhebe keinen Einspruch, zum Pfarrer dieser Parochie ernannt.“ 53 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 98. Gemeinsame Sitzung der Kirchenvertretung und des Vorstandes am 22. Februar 1880. 54 Altkatholisches Volksblatt Nr. 14 (5. April 1889), S. 55. 55 Ebda., Nr. 14 (5. April 1889), S. 55. 259
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Unterbrochen vom Deutsch-Französischen Krieg wurde in Burbach zwischen 1868 und 1873 die Kirche St. Eligius nach den Plänen des Saarlouiser Architekten Carl Friedrich Müller56 errichtet. Bedingt durch die Maigesetze von 1873, die vorsahen, dass ein Pfarrkandidat den Behörden zu einer Überprüfung der Staatstreue anzuzeigen war, verzögerte sich die Bestellung eines Pfarrers, weil den Bischöfen die Einhaltung des Verfahrens einer Unterwerfung unter den preußischen Staat gleichkam.57 Der Streit eskalierte: Im Juni 1873 sorgten einflussreiche katholische Honoratioren für Proteste gegen die Politik Bismarcks; die liberalen Zeitungen Saarbrückens dagegen verurteilten den Widerstand der Burbacher Katholiken einmütig und stellten die Loyalität der Protestführer zum Staat in Frage. In diese Auseinandersetzungen wurde die altkatholische Gemeinde hineingezogen. Schon im Mai 1874 vermerkte das Protokollbuch: „Vorsitzender gibt der Hoffnung Ausdruck, daß der Streit zwischen alt- und neu-vatikanisch-katholischen Religionsgenossen um den Besitz der neuen katholischen Kirche zu Burbach vom Cultusminister zu unseren Gunsten entschieden werde.“58 Und nachdem einige Hürden genommen waren, war der altkatholischen Gemeinde, „nachdem der gegen die Oberpräsidial-Entscheidung eingelegte Rekurs vom Herrn Minister der Geistlichen Angelegenheiten zurückgewiesen worden war, der Mitgebrauch der Kirche in Burbach eingeräumt worden; die Einweisung hat stattgefunden“.59 Aber St. Eligius war eben erst fertig geworden: „Als wir dieselbe betraten, fanden wir nichts vor, als die vier nackten Wände; selbst Orgel und Bänke fehlten, so daß wir uns genötigt sahen, ein Harmonium und rund 100 Stühle zu miethen. Das verursachte uns große Kosten“.60 Dass der altkatholischen Gemeinde Rechte eingeräumt worden waren, hatte auch damit zu tun, dass der Bürgermeister der 1874 gegründeten Stadt Malstatt-Burbach, Wilhelm Meyer,61 Mitglied der altkatholischen Gemeinde ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 56 Vgl. Rudolf Saam: Beitrag zur Baugeschichte neugotischer Kirchen an der Saar. Zum Leben und Werk des Baumeisters Carl Friedrich Müller, in: Saarbrücker Hefte 48 (1978), S. 17–51. 57 Die St. Eligiuskirche in Burbach wurde erst am 28. Oktober 1874 durch den Trierer Weihbischof Johann Jakob Kraft geweiht; erst zehn Jahre später wurde der erste Pfarrer, Heinrich Assenmacher, ernannt. Vgl. Hilarius Wilscheid: Pfarrgeschichte der katholischen Pfarrei St. Eligius Saarbrücken-Burbach, Saarbrücken 1930, S. 13, 28. 58 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 29. Gemeindeversammlung vom 14. Mai 1874. 59 Vgl. Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt 6. Jg. Nr. 2 (1883), S. 29. 60 Vgl. Altkatholisches Volksblatt Nr. 32 (9. August 1889), S. 130. 61 Vgl. Hanns Klein: Kurzbiographien der Bürgermeister Saarbrückens; in: ZGS 19 (1971), S. 522. 260
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
war. Meyer war seit 1866 Bürgermeister der Gemeinde Malstatt gewesen und leistete als erster Bürgermeister der zur Stadt erhobenen Kommune noch bis zum Jahr 1900 seinen Dienst. Aber Meyer62 hatte wohl den Widerstand in Burbach unterschätzt, denn die Kommune selbst zog vor das Landgericht – und gewann den Streit: „Durch Urtheil des Königl[ichen] Landgerichts Saarbrücken ist durch Klage der CivilGemeinde Burbach die der Altkatholikengemeinschaft in St. Johann-Saarbrücken eingeräumte Kirche in Burbach […] der klagenden Civilgemeinde als deren ausschließliches und servitutenfreies Eigenthum zugesprochen worden. Berufung wurde als aussichtlos nicht eingelegt. Dadurch ist der Gebrauch jener Kirche verloren gegangen.“63
Der kleinen Gemeinde war der Streit mit Sicherheit nicht dienlich. Friedrich Jaskowski sprach von Prozesskosten in Höhe von 700 Mark.64
2.3 Der Spendenfeldzug des Pfarrers Friedrich Jaskowski Die Unterstützung der evangelischen Gemeinde in Saarbrücken wurde mehrfach bedankt, und als die altkatholische Gemeinde gescheitert aus Burbach zurückkehrte, war wieder die Ludwigskirche ihre gottesdienstliche Stätte. Es war eine beständige Pilgerschaft.65 In diesen Tagen wurde die Ludwigskirche einer Sanierung unterzogen, die ein Jahr dauerte. Die Schlosskirche war ausgelastet, so dass die altkatholische Gemeinde in der Alten evangelischen Kirche in St. Johann ihre Gottesdienste feiern musste. Sie hatte diese Kirche aber nur alle vierzehn Tage für eine Stunde, kehrte daher dankbar in die Ludwigskirche zurück, die sie nach der Sanierung alternierend mit der Schlosskirche nutzte. 1889 wurde die Schlosskirche saniert, und wieder stand die altkatholische Gemeinde in St. Johann. „Unseren Gottesdienst, der jedesmal durch zweistimmigen Kindergesang verherrlicht wurde, mußten wir während dieses Jahres auch im Winter von halb 9 bis halb 10 feiern; gleichwohl erfreute sich derselbe
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 62 Bürgermeister Meyer legte den Vorsitz in der Gemeindevertretung nieder, weil er die Stadt Malstatt-Burbach gerichtlich gegen die altkatholische Gemeinde vertreten musste; vgl. Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 134. Sitzung des Vorstandes am 28. März 1882. 63 Vgl. Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt Nr. 37 (1884), S. 298. 64 Vgl. Altkatholisches Volksblatt Nr. 32 (9. August 1889), S. 130. 65 Vgl. ebda., S. 130. 261
Joachim Conrad
eines zahlreichen Besuchs“,66 schrieb Pfarrer Friedrich Jaskowski. Der Wunsch nach einer eigenen gottesdienstlichen Heimat war groß. Am 26. März 1889 rief Pfarrer Friedrich Jaskowski erstmals zu Spenden für den Neubau einer Kirche auf.67 Immer wieder nutzte er die Medien, um auf die Diasporasituation seiner Saarbrücker Gemeinde hinzuweisen und Gaben zu sammeln.68 Steter Tropfen höhlt den Stein, und so konnte der rührige Pfarrer bereits im Mai 1889 melden: „In der letzten Nr. des ‚Amtl[ichen] Altkath[olischen] Kirchenbl[attes]‘ legt die Synodalrepräsentanz allen Altkatholiken die Förderung unseres Kirchenbaues (und der Kirchenbauten in Karlsruhe und Heßloch – Die Red.) auf’s angelegentlichste und wärmste an’s Herz. Hier in unseren drei Städten Saarbrücken, St. Johann und Malstatt-Burbach gehört es gegenwärtig zum guten Ton, zu unserem Kirchenbau beizusteuern. Die evangelischen Geistlichen derselben lassen augenblicklich auf vielseitiges Verlangen eine Liste unter ihren Gemeindegliedern für diesen Zweck circuliren. – Von unseren altkatholischen Gemeinden haben uns bis jetzt Zweibrücken, Boppard, Coblenz und Heidelberg geholfen resp. ihre Hülfe zugesagt.“69
Und in Erinnerung an das „Scherflein der armen Witwe“ schrieb Friedrich Jaskowski: „Dort in die Opferbüchse fließen die Pfennige des Armen, der, weil er nur wenig geben
kann, gern im Verborgenen giebt. Wir haben erst eine Kirchencollecte (am Osterfeste) für unsern Kirchenbau bestimmt. Dieselbe brachte 120 Mk. 97 Pf. ein; aber unter diesen 120 Mk. waren Nickel- und Pfennigstücke, die nach Hunderten zählten; es waren die Gaben der Armen.“70
Sicher wollte der Pfarrer ganz nach Luk. 21,1–4 den Reichen ins Gewissen reden. Dank dieser klugen Pressekampagne sind wir für diese Jahre über den Zustand der altkatholischen Gemeinde unterrichtet: „Wir haben jeden Sonntag ein gefülltes Gotteshaus; unsere Versammlungen sind allzeit zahlreich besucht und wenn ein Gastredner (der hochwürdigste Herr Bischof oder Herr Justizrath Richter) uns einen Vortrag hält, ist der größte Saal hier in unseren Städten zu klein, um die Menschenmassen zu fassen, die seinen Worten lauschen wollen. […] Unsere
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 66 Vgl. Altkatholisches Volksblatt Nr. 2 (10. Januar 1890), S. 5. 67 Ebda., Nr. 14 (5. April 1889), S. 55. 68 So im Altkatholischen Volksblatt Nr. 16 (19. April 1889), S. 64 f. und Nr. 17 (26. April 1889), S. 68. Der Saarbrücker Gemeinde wurden durch Pfarrer Gatzenmeier, München, neunzig Gebetbücher geschenkt, deren Verlaufserlös der Kirche zugutekommen sollte; vgl. ebda., Nr. 20 (17. Mai 1889), S. 82. 69 Vgl. ebda., Nr. 21 (24. Mai 1889), S. 85. 70 Ebda., Nr. 22 (31. Mai 1889), S. 90. 262
Die altkatholische Gemeinde im Saarland Mitgliederzahl wächst, obgleich wir alljährlich durch Tod und Wegzug viele Verluste erleiden, von Jahr zu Jahr. Die Zahl unserer schulpflichtigen Kinder ist während der Amtsdauer unseres jetzigen Pfarrers (d. i. seit 9 Jahren) von 20 auf 80 gestiegen, so daß unsere Zukunft gesichert ist. Unser Frauenverein, seit 3 Jahren gegründet, zählt 70 Mitglieder und wirkt segensreich für die Armen. Die Zahl der letzten Erstkommunikanten beträgt 19, die der letzten Firmlinge 47. […] In den zwei Monaten April und Mai sind hier aus dem Ort selbst, obgleich die Hälfte der hiesigen Gemeinde der arbeitenden Klasse angehört, 10 000 Mark für unseren Kirchenbau baar eingegangen und außerdem 8000 Mark dafür gezeichnet worden. Die Protestanten haben uns mit hohen Summen und mit freudigem Herzen geholfen. Ihre Begeisterung für unseren Kirchenbau läßt nicht nach, sie ist eine allgemeine; unsere heutige Veröffentlichung der für unseren Kirchenbau eingegangenen Beiträge zeigt, daß auch die Armen unter den Protestanten sich’s nicht haben nehmen lassen, uns zu helfen. Sie zeigt zugleich, daß unsere altkatholischen Mitbrüder in Deutschland uns hilfreiche Hand reichen.“71
Die Ideen gingen Friedrich Jaskowski nicht aus: Die Kirchenbaukommission schloss mit einem Herrn Goltz in Straßburg einen Vertrag: Er verkaufte Bilder für den Kirchenbau und zahlte 75 Mark monatlich an die Kommission.72 Höhepunkt der Bemühungen war aber eine Hauskollekte, die durch den Oberpräsidenten Moritz Freiherr von Bardeleben mit Erlass vom 4. August 1889 erlaubt wurde und vom 1. September 1889 bis Ende Mai 1890 alle altkatholischen Haushalte der Rheinprovinz betraf. „Es ist dies unsers Wissens der erste Fall einer solchen altkatholischen Hauscollecte in Preußen“,73 schrieb das Altkatholische Volksblatt. Von ökumenischer Seite wurde der Gemeinde – nicht ganz überraschend – ebenfalls Hilfe zuteil: „Wir verdanken dies jenen hervorragenden evangelischen Theologen aus den verschiedenen Gauen Deutschlands, welche zu den Zierden der evangelischen Kirche gehören, und welche im November an die Haupt- und Zweigvereine des Evangelischen Bundes die herzliche Bitte richteten, unseren Kirchenbau zu unterstützen; wir verdanken dies endlich den hiesigen evangelischen Geistlichen, welche in hochherziger Bruderliebe unseren Aufruf unterzeichneten und die Unterstützung unseres Kirchenbaus ihren Gemeindegliedern empfohlen. […] Wir werden es ihnen niemals vergessen, was sie in den Zeiten der Noth für uns gethan.“74
Auch der Bischof beteiligte sich persönlich mit einer namhaften Spende.75 ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 71 Vgl. ebda., Nr. 26 (28. Juni 1889), S. 107. 72 Ebda., Nr. 35 (30. August 1889), S. 143. 73 Ebda., Nr. 38 (20. September 1889), S. 155. 74 Ebda., Nr. 14 (4. April 1890), S. 54 f., hier S. 54. 75 Ebda., Nr. 17 (25. April 1890), S. 69. 263
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3. Die letzten Jahrzehnte der Monarchie 3.1 Das Gemeindeleben erblüht Hatte die altkatholische Gemeinde schon besondere Herausforderungen zu meistern, wenn sie ständig auf fremde Kirchen zurückgreifen musste, so konnte sie dennoch immer wieder erleben, dass das Gemeindeleben intakt war. Bereits im Mai 1874 hatte der Vorstand der Gemeinde seine Zustimmung zur Gründung eines altkatholischen Lesevereins gegeben.76 Und vom ersten Bistumsfest in Saarbrücken am 31. Januar 1875 ist festgehalten: „Vormittags 10 Uhr fand in der Ludwigskirche zu Saarbrücken ein zahlreich besuchtes christliches Hochamt nebst Predigt, gehalten von Herrn Pfarrer Duren aus Zweibrücken statt.“77 Und aus dem Jahre 1879 wird berichtet: „Nach einer Mittheilung des Herrn Pfarrer Duren wird der hochwürdige Herr Bischof auf seiner Firmungsreise auch die hiesige Gemeinde besuchen. Wohl wahrscheinlich der 11. oder 18. Mai. Die evang[elische] Kirchengemeinde soll um Überlassung der Ludwigskirche an einem dieser Tage angegangen werden. Der Bischof wird vom Kirchenvorstand festlich empfangen und soll ihm zu Ehren ein Festakt und eine allgemeine Versammlung stattfinden.“78
Über die Vermögensverhältnisse der jungen Gemeinde erfahren wir im Jahr 1882, dass Spenden in Höhe von 24 129 Mark eingegangen waren und ein Staatszuschuss von 1200 Mark. Zum Pfarrgehalt zahlte der preußische Staat 5575 Mark, und es wurde notiert, dass nur fünf altkatholische Gemeinden in Preußen einen höheren Zuschuss zum Pfarrgehalt erhielten.79 Für das Bistumsopfer wurden 1883 immerhin 57 Mark gespendet.80 Aber mehr als die einfachen Fakten erfährt man durch die mannigfaltigen Berichte des Altkatholischen Volksblattes, so etwa von einer Erstkommunion 1890. Hier ist sogar ein Exzerpt der Predigt wiedergegeben: „Am 4. Mai wurden in der hiesigen schön dekorierten Schloßkirche 16 junge Christen – 8 Knaben und 8 Mädchen – welche am Sonntag vorher eine sehr gute Prüfung in der Religion vor der Gemeinde abgelegt hatten, zur ersten h[ei]l[igen] Kommunion geführt. Die damit verbundene kirchliche Feier war erhebend. Herr Pfarrer Jaskowski führte in
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 76 Protokollbuch 1874–1884 (wie Anm. 10), S. 29. Gemeindeversammlung vom 14. Mai 1874. 77 Ebda., S. 40. 78 Ebda., S. 86. Protokoll vom 16. April 1879. 79 Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt 6. Jg. Nr. 1 (1883), S. 14. 80 Ebda., 6. Jg. Nr. 1 (1883), S. 27. 264
Die altkatholische Gemeinde im Saarland Worten, die von Herzen kamen und zu Herzen gingen, den Kindern den ganzen Ernst der Feier vor Augen. Anknüpfend an das Wort des Sonntagsevangeliums: ‚Wo gehst du hin?‘ beantwortete er diese Frage für die Kinder dahin, daß sie im h[eiligen] Abendmahle zu ihrem Gott und Heilande gehen, daß sie nunmehr aus der Schule ins Leben gehen und bald auch aus dem Elternhause ins Leben gehen werden, und wußte ihnen für einen jeden dieser Schritte ein besonderes Wort der Mahnung ans Herz zu legen. Danach sprachen die Kinder das Glaubensbekenntnis und gelobten, ihrem alten katholischen Glauben bis ans Ende treu zu bleiben. Die Kirche war ganz gefüllt, und auch Andersgläubige betheiligten sich bei der Feier, besonders Protestanten. Nach Beendigung des Gottesdienstes überreichten die Erstkommunikanten Herrn Pfarrer Jaskowski ein schönes Geschenk als Andenken. Am nächsten Sonntag gedenken wir bei schönem Wetter mit den Erstkommunikanten einen Ausflug zu machen.“81
Auf dem Dritten Internationalen Kongress der Altkatholiken im August 1894 in Rotterdam wurde definiert, was man als Aufgaben der Frauenvereine ansah: „Reinigung und Ausschmückung der Kirchen, Neuanschaffung und Instandhaltung der Kirchenwäsche und Paramente, den Krankendienst und Armenpflege, Weihnachtsbescherung, Bekleidung armer Erstkommunikanten und Unterstützung des Bischofsfonds.“82 In diesem Kontext wird u. a. aufgelistet, welche Vereine in Preußen bestanden: „Bielefeld, Bonn, Boppard, Breslau, Dortmund, Essen, Koblenz, Königsberg, Köln, Krefeld, Saarbrücken, Wiesbaden, Witten.“ Saarbrücken gehörte also zu den fortschrittlichen Gemeinden, wenn auch die Aufgabenzuweisung heutigen Ohren unangenehm ist. Von der Konkurrenz zur römisch-katholischen Kirche ist in den Quellen immer wieder die Rede, aber die „Geschichte der Bekehrung eines Schwerkranken in Saarlouis“ ragt heraus, denn hier wird nicht nur vom Einfluss der römischen Kirche gesprochen, sondern dezidiert Boshaftigkeit unterstellt: „Es ist immer das alte Lied: Bekehrung eines Altkatholiken, ein Drama in drei Aufzügen. Personen: ein schwerkranker, alleinstehender Altkatholik, eine ultramontane Wirthin, eine barmherzige Schwester, ein römischer Geistlicher. Der erste Akt spielt sich ab zwischen dem kranken Altkatholiken und der ultramontanen Wirthin, der zweite zwischen dem in der Krankheit vorgeschrittenen Altkatholiken und der ‚barmherzigen Schwester‘, der dritte und letzte Akt zwischen dem bewußtlos gewordenen Kranken und dem römischen Geistlichen.“83
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 81 Vgl. Altkatholisches Volksblatt Nr. 20 (16. Mai 1890), S. 84. Im Jahre 1892 fanden elf Erstkommunionen in der Ludwigskirche statt; vgl. ebda., Nr. 23 (3. Juni 1892), S. 124. 82 Vgl. ebda., Nr. 21 (22. Mai 1891), S. 104. 83 Vgl. ebda., Nr. 28 (11. Juli 1890), S. 118 f., hier S. 119. 265
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Ähnliche Geschichten werden auch auf evangelischer Seite berichtet; es ist die Zeit einer aufgeheizten Konfessionalisierung der Bevölkerung. Friedrich Jaskowski muss ein guter Redner gewesen sein. Mehrfach werden Vorträge von ihm erwähnt, teilweise zu kontroverstheologischen Fragestellungen. In zwei Gemeindeversammlungen von 1890 sprach er nicht nur über den geplanten Kirchenbau, sondern auch über den Syllabus, jene Schrift, mit der Papst Pius IX. am 8. Dezember 1864 achtzig Irrtümer geißelte.84 1891 referierte er über die Jesuiten, über den Heiligen Rock in Trier und über den Ultramontanismus, dann zum Thema „Wie denkt Rom über die Protestanten?“85 Letzteres Referat ist deswegen besonders, weil Jaskowski vor der Generalversammlung des Zweigvereins des Evangelischen Bundes an der Saar sprach.
3.2 Der Kauf der ehemals reformierten Kirche in Saarbrücken Die Frage, wann die altkatholische Pfarrei eine gottesdienstliche Heimat bekomme, wurde zunehmend als Existenzfrage verstanden. Dabei wusste die Gemeinde sehr wohl, welche Rolle sie in der Großregion zu spielen hatte: „Es hat aber auch eine große Bedeutung für unsere Reformbewegung: Saarbrücken ist die einzige altkatholische Gemeinde im Regierungsbezirk Trier; auf uns sind außerdem sämmtliche Altkatholiken in Lothringen angewiesen. Ein altkatholisches Gotteshaus hier in Saarbrücken, in dem Sonntag für Sonntag um dieselbe Stunde Gottesdienst gehalten würde, wäre also ein Segen für weite Strecken unseres deutschen Vaterlandes.“86
Dabei muss man zugleich das Spektrum der Förderer bedenken; es reicht vom Kaiser bis zu den evangelischen Gemeinden, von der Synagogengemeinde bis zu den Mennoniten, ja sogar Spenden der römisch-katholischen Christen werden aufgezählt: „In 1½ Jahren haben wir 36 000 M[ar]k für unseren Kirchenbau zusammengebracht. Wohl ist dieses Geld zum großen Theil nicht von unseren Gemeindegliedern aufgebracht worden; 10 000 M[ar]k sind uns von S[eine]r Majestät, unserem allergnädigsten
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 84 Vgl. ebda., Nr. 2 (10. Januar 1890), S. 5. 85 Vgl. ebda., Nr. 21 (22. Mai 1891), S. 104. 86 Vgl. Derde international Congres der Oud-Katholieken gehouden te Rotterdam 28, 29 en 30 Augustus 1894. Stenographisch verslag. | Der dritte internationale Altkatholiken-Kongress in Rotterdam 28. bis 30. August 1894. Stenographischer Bericht. Offizielle Ausgabe. | Troisième Congrès international des Anciens-Catholiques tenu à Rotterdam les 28, 29 et 30 Août 1894. Rapport officiel sténographié. | Berne 1894, S. 113. 266
Die altkatholische Gemeinde im Saarland Kaiser, auf den Vortrag des Cultus- und des Finanzministers aus dem Dispositionsfonds bewilligt worden; mit 5000 M[ar]k haben uns die Altkatholiken anderer Gemeinden geholfen, mit 8000 M[ar]k die hiesigen, mit 1000 M[ar]k die auswärtigen Protestanten, mit 1100 M[ar]k die Menoniten, 325 M[ar]k die hiesigen Katholiken, 132 M[ar]k die hiesigen Israeliten; aber unsere eigenen Gemeindeglieder haben von dieser Summe in der kurzen Zeit von 1½ Jahren doch 10 500 M[ar]k aufgebracht.“87
Die altkatholischen Christen vor Ort waren im Schnitt mit 52 Mark und 50 Pfennigen pro Gemeindeglied beteiligt. Die reformierte Gemeindekirche in Saarbrücken, die erste von Generalbaudirektor Friedrich Joachim Stengel in Saarbrücken gebaute Kirche, stand und steht der lutherischen Ludwigskirche – Abschluss des Lebenswerkes des Meisters – gegenüber. Nach Einführung der Saarbrücker Union 1817 brauchte die vereinte evangelische Gemeinde Saarbrücken nur eine Kirche; das schon sehr lange in Not befindliche Saarbrücker (Ludwigs)Gymnasium zog in die reformierte Kirche ein, die zu diesem Zweck umgebaut worden war. Wie die Kontakte zustande kamen, muss noch erforscht werden, aber Abb. 2: Die Friedenskirche als Saarbrücker tatsächlich, nachdem das Gymnasium in der Gymnasium. Stadtarchiv Saarbrücken [Nachlass Schleiden] Hohenzollernstraße ein zeitgemäßes Gebäude bezogen hatte, bot sich eine Chance: „Die Stadt Saarbrücken hat das vom Staat übernommene alte Gymnasialgebäude zum Selbstkostenpreis von 26 200 M[ar]k an die altkath[olische] Gemeinde weiterverkauft. Käuferin tritt sofort nach Fertigstellung des neuen Gymnasialgebäudes, etwa im Oktober 1891, in den Genuß des erkauften Eigenthums. Vorher aber sind umfangreiche Arbeiten nötig, das Gebäude seinem ursprünglichen Zweck als Gotteshaus wieder dienstbar zu machen.“88
Das neue Gymnasium sollte nach dem 15. Januar 1892 bezogen werden, dann konnte der Umbau erfolgen.89 Bis Pfingsten hoffte die Gemeinde, die Kirche be⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 87 Vgl. Altkatholisches Volksblatt Nr. 47 (21. November 1890), S. 203. 88 Vgl. Altkatholisches Volksblatt Nr. 51 (19. Dezember 1890), S. 224. 89 Vgl. ebda., Nr. 3 (15. Januar 1892), S. 17. 267
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ziehen zu können. Als reine Baukosten wurden ca. 20 000 Mark veranschlagt; für die Anschaffung eines Altares, einer Kanzel, einer Orgel, der Glocken und der Bänke waren weitere zehntausend Mark projektiert.90 Die Arbeiten verliefen offenbar planmäßig, denn im Juli 1892 wurde vermeldet: „In 14 Tagen werden die Maurerarbeiten beendet sein; in 6 Wochen gedenken wir unser Gotteshaus einzuweihen. Dasselbe ist 25 m lang, 15 m breit und im Innern 9,30 m hoch, enthält außer dem dreitheiligen Fenster über dem Altar und dem halben Fenster über dem Portal 12 gleichgeformte Fenster und zwar 10 Fenster im Schiff und je eins in der Sakristei und in der Taufkapelle. Die Fenster (5,30 m hoch und 1,70 m breit) werden von Cristaille-Glas mit farbiger Borde hergestellt; das Fenster über dem Altar wird den segnenden Christus von Thorwaldsen enthalten. Wir erhalten ein schönes, geräumiges und würdiges Gotteshaus.“91
Allerdings musste man aus Kostengründen auf Orgel und Glocken verzichten; die Bänke wurden von wohlhabenden Bürgern gestiftet.92 Am 13. Juni 1893 fand die Einweihung der Kirche statt.93 Das Ergebnis konnte sich wohl sehen lassen. Es liegt der Bericht eines ehemaligen Saarbrückers, „R“ genannt, vor, der Zweifel hatte, ob aus dem alten Gymnasium überhaupt etwas zu machen wäre: „Aber angenehm wurde ich schon überrascht, als ich, die Eisenbahnstraße hinuntergehend, von Ferne den alten, sonst so häßlichen Thurm in einer ganz neuen hellen Schieferbedachung mir entgegenleuchten sah. Mein Erstaunen wuchs aber, als ich zu dem an der Ecke der Eisenbahn- und Wilhelmstraße gelegenen Gebäude kam. Statt des alten, schmutzig grauen Gymnasiums sah ich einen zwar einfachen, aber überaus würdigen, stattlichen Bau vor mir stehen, der in seiner gelbgrauen Verputzung sehr wohltuend mich ansprach und kaum als das frühere alte Gymnasium wieder zu erkennen war.“94
Und zum Interieur schrieb er: „Da nämlich das Innere an sich nur ein großer, viereckiger Raum ist, so war es nöthig, zur Herstellung einer solchen [scil. Altarnische] auf der betreffenden Breitseite 2 Wände vom Boden bis zur Decke aufzuführen. Damit wart gleichzeitig auch der Raum
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 90 Vgl. ebda., Nr. 21 (20. Mai 1892), S. 113. 91 Vgl. ebda., Nr. 29 (15. Juli 1892), S. 153. 92 Vgl. ebda., Nr. 31 (29. Juli 1892), S. 163. 93 Vgl. Jaskowski: Einweihung der Friedenskirche (wie Anm. 4). Tatsächlich haben sich verschiedene Baurechnungen erhalten, die mit der Sanierung im Zusammenhang zu stehen scheinen; vgl. EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 98 Renovierung bei der Übernahme der Kirche. 94 Vgl. Altkatholisches Volksblatt Nr. 35 (26. August 1892), S. 183. 268
Die altkatholische Gemeinde im Saarland für die Sacristei links vom Altar und die Taufkapelle rechts davon gewonnen. […] Ueber dem Altar befindet sich, dem Portalfenster gegenüber, ein dreitheiliges, rundbogiges Fenster. Dasselbe soll ganz farbig gehalten werden und der mittlere Theil das Bild des segnenden Christus von Thorwaldsen enthalten.“95
Abb. 3: Die Friedenskirche nach dem Umbau zur altkatholischen Kirche [Stadtarchiv Saarbrücken. Nachlass Schleiden]
Auf der 14. Tagung der Synode der Altkatholiken des Deutschen Reiches am 5. Juni 1895 in Bonn wurde stolz verkündet, dass 1876 nur in Hagen und ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 95 Vgl. ebda., Nr. 35 (26. August 1892), S. 183 f. 269
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Abb. 4: Die Glocke der Friedenskirche, gegossen von Andreas Hamm, Frankenthal, 1897 [EZAS Best. 05,1 Altkath. Kgm. Saarbrücken]
Kattowitz Kirchen zur Verfügung standen. Zwanzig Jahre später waren es drei mehr: „Crefeld, St. Johann-Saarbrücken [und] Witten“.96 Der Zweite Weltkrieg dominiert mit seinen Luftangriffen die Wahrnehmung der meisten Menschen, dass es auch im Ersten Weltkrieg Luftangriffe gab, ist nur wenigen bekannt. So wurde die evangelische Kirche in Burbach auf dem Weyersberg, die heutige Matthäuskirche, schwer beschädigt, so dass heute noch Nachwirkungen aufgearbeitet werden müssen. Und auch für die evangelische Kirche in Malstatt sind Schäden durch Luftangriffe dokumentiert. Insofern ist der Bericht von Pfarrer Karl Josef Klotz sehr eindrücklich:
„In der schön geschmückten Kirche, Friedensk[irche], Eisenbahnstr. 10 fand Sonntag 30. Juni, die Firmung statt. Es waren 30 Firmlinge. Wir hatt[en] begründe[te] Angst, die Feier [wird] durch feindliche Flieger gestört. Denn jeden Tag und jede Nacht kamen sie in den letzten Tagen. An Peter u[nd] Paul, als eben um 10 Uhr der Gottesdienst beginnen sollte, meldete die Sirene feindliche Flieger, u[nd] alsbald fielen auch schon Bomben. Wir hielten keinen Gottesdienst, blieben aber in der Kirche. In der Nacht auf Sonntag 12 – 3 Uhr kamen sie wieder. Am Sonntag Vormittag hatten wir Ruhe, und die Firmung lief harmonisch ungestört. Die bischöfliche Ansprache handelte über Philipper 3,7–12 und nahm Bezug auf den 29. Juni: Wie Paulus um Christi willen auf alles Irdische Verzicht leistete, das soll auch unser ganzes Leben sein. Denn in Christus allein liegt auch unsere Berufung zum Heile begründet und nur durch ihn wird sie uns vermittelt. Am Abend und in der Nacht kamen die Flieger wieder. Es ist eine schreckliche Zeit, man wird an Leib und Seele zerrüttet. Utinam finis belli esset.“97
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 96 Vgl. Verhandlungen der vierzehnten Synode der Altkatholiken des Deutschen Reiches, gehalten zu Bonn am 5. Juni 1895. Amtliche Ausgabe, Bonn 1895, S. 43. 97 „Dass der Krieg ein Ende nähme“, vgl. EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 240. Sammelkirchenbuch. Eintrag ins Kirchenbuch durch Pfarrer Carl Joseph Klotz am 30. Juni 1918. 270
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
3.3 Die Einbettung der Gemeinde in Saarbrücken in die altkatholische Welt Es gibt nicht viele Parameter, um zu erfahren, ob und wie sich die Saarbrücker Gemeinde im Tross der altkatholischen Gemeinden bewegte. Ein Maßstab ist die Beteiligung an den Altkatholiken-Kongressen, auf denen die Saarbrücker Gemeinde vertreten war, wobei hier nur die im Archivbestand der Saarbrücker Gemeinde vorhandenen Protokolle von 1874 bis 1902 (mit Lücken) ausgewertet werden konnten. − 4. Altkatholikenkongress 1874 Freiburg/Breisgau:98 Paul Nepilly, EisenbahnMaschinenmeister, Saarbrücken; N.N. Dörpinghaus, Bergwerkssekretär, Friedrichsthal. − 5. Altkatholikenkongress 1876 Breslau:99 niemand. − 6. Altkatholikenkongress 1877 Mainz:100 Dominicus Duren, Pfarrer, Saarbrücken [Nr. 16]; Carl Joseph Fischer, Eisenbahnsekretär, St. Johann [Nr. 23]; Martin Görgen, Schichtmeister, St. Johann [Nr. 29]; Paul Nepilly, Maschinenmeister, St. Johann [Nr. 83]; Franz Robert Thomé, Regierungsrat, St. Johann [Nr. 111]; Theodor Vogel, Redakteur, St. Johann [Nr. 114]. − 7. Altkatholikenkongress 1880 Baden-Baden:101 Friedrich Jaskowski, Pfarrer, Saarbrücken [Nr. 35]. − 8. Altkatholikenkongress 1884 Krefeld:102 niemand. − 9. Altkatholikenkongress 1888 Heidelberg:103 N.N. Mohr, Schichtmeister, Saarbrücken; Friedrich Jaskowski, Pfarrer, St. Johann. − 10. Altkatholikenkongress 1890 Köln:104 N.N. Hillebrand, Spediteur; N.N. Opry, Rentner; Friedrich Jaskowski, Pfarrer, St. Johann. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 98 Vgl. Der vierte Altkatholiken-Congreß in Freiburg im Breisgau im Jahre 1874. Stenographischer Bericht. Officielle Ausgabe, Bonn 1874, S. 191. 99 Vgl. Der fünfte Altkatholiken-Congreß in Breslau im Jahre 1876. Stenographischer Bericht. Officielle Ausgabe, Bonn 1877. Von Saarbrücken nahm niemand teil, sehr wohl aber Pfarrer Friedrich Jaskowski, damals noch Neisse (S. 255). 100 Vgl. Der sechste Altkatholiken-Congreß in Mainz im Jahre 1877. Amtlicher Bericht, Bonn 1878, S. 129–132. 101 Vgl. Der siebente Altkatholiken-Congreß in Baden-Baden im Jahre 1880. Stenographischer Bericht. Officielle Ausgabe, Baden-Baden 1880, S. 146. 102 Vgl. Der achte Altkatholiken-Congreß in Crefeld im Jahre 1888. Stenographischer Bericht. Officielle Ausgabe, Crefeld 1884. 103 Vgl. Der neunte Altkatholiken-Kongreß in Heidelberg 1.–4. September 1888. Stenographischer Bericht. Offizielle Ausgabe, Heidelberg o. J. [1888], S. 117. 104 Vgl. Der zehnte Altkatholiken-Kongress, der erste internationale in Köln 11.–14. September 1890. Stenographischer Bericht. Offizielle Ausgabe, Köln o. J. [1890], S. 197. 271
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− 11. Altkatholikenkongress 1892 Luzern:105 Friedrich Jaskowski, Pfarrer, St. Johann. − 14. Altkatholikenkongress 1902 Bonn:106 N.N. Biebericher, Oberlehrer, Saarbrücken [Nr. 7]; Richard Lamarche, Rentner, Saarbrücken [Nr. 73]. Es zeigt sich, dass die Vorsitzenden des Kirchenvorstandes, etwa Paul Nepilly oder Franz Robert Thomé an den Kongressen neben den Pfarrern Dominicus Duren und Friedrich Jaskowski teilnahmen. Dazu findet sich auch immer wieder Richard Lamarche.107 Das Bild wiederholt sich bei den Synoden, wobei nur Protokolle von 1889 bis 1913 (mit Lücken) vorliegen. − 11. Synode 12. Juni 1889 Bonn:108 Friedrich Jaskowski, Pfarrer, Saarbrücken; N.N. Mohr, Schichtmeister, Saarbrücken [Nr. 43]. − 14. Synode 5. Juni 1895 Bonn:109 Friedrich Jaskowski, Pfarrer, Saarbrücken [Nr. 11]; N.N. Hillebrandt, Kaufmann, Saarbrücken [Nr. 34]. − 18. Synode 4. Juni 1903 Bonn:110 Gustav Neiheißer, Eisenbahnsekretär, Saarbrücken [Nr. 20] − 22. Synode 7. Juni 1911 Bonn:111 Karl Josef Klotz, Pfarrer, Saarbrücken [Nr. 14]; Richard Lamarche, Rentner, Saarbrücken [Nr. 47]. − 23. Synode 9. September 1913 Köln:112 Karl Josef Klotz, Pfarrer, Saarbrücken [Nr. 14]; Friedrich Thamerus, Eisenbahnzeichner, Saarbrücken [Nr. 54]. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 105 Vgl. Jaskowski: Einweihung der Friedenskirche (wie Anm. 4), S. 27. 106 Vgl. Der V. internationale, XIV. deutsche Altkatholiken-Congress in Bonn vom 5. bis 8. August 1902. Stenographischer Bericht, Bonn 1902, S. 124, 126. 107 Die Rolle der Familie Lamarche als Mäzenatenfamilie der altkatholischen Gemeinde Saarbrücken harrt noch ihrer Erforschung. Vgl. Rainer Knauf/Christof Trepesch: Die Gruft der Familie Lamarche auf dem alten St. Johanner Friedhof. Eine Fallstudie zur Sepulkralarchitektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in: Eckstein Nr. 6 (1989), bes. S. 28–33. 108 Vgl. Verhandlungen der elften Synode der Altkatholiken des Deutschen Reiches, gehalten zu Bonn am 12. Juni 1889. Amtliche Ausgabe, Bonn 1889, S. 63 f. 109 Vgl. Verhandlungen der vierzehnten Synode der Altkatholiken des Deutschen Reiches, gehalten zu Bonn am 5. Juni 1895. Amtliche Ausgabe, Bonn 1895, S. 41 f. 110 Vgl. Verhandlungen der achtzehnten Synode der Altkatholiken des Deutschen Reiches, gehalten zu Bonn am 4. Juni 1903. Amtliche Ausgabe, Bonn 1903, S. 39; unter den Geistlichen S. 38 werden der kommende Pfarrer Artur Kaminski (Nr. 16), damals noch Hilfsprediger in Offenbach/Main, und der ehemalige Pfarrer Josef Ultsch genannt. 111 Vgl. Verhandlungen der zweiundzwanzigsten Synode der Alt-Katholiken des Deutschen Reiches, gehalten zu Bonn am 7. Juni 1911. Amtliche Ausgabe, Bonn 1912, S. 20 f.; unter Nr. 13 steht Artur Kaminski als Pfarrer von Frankfurt/Main. 272
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
Für die Synoden von 1874 bis 1887 existieren Angaben von Friedrich Jaskowski;113 demnach war die Saarbrücker Gemeinde stets vertreten, u. a. durch Friedensrichter Franz Maubach, Regierungsassessor Franz Robert Thomé und Kreisschulinspektor Dr. Rachel. Jaskowski vermerkt für die 3. Synode 1876, dass die Saarbrücker Gemeinde einen Antrag zur Aufhebung des Zölibates eingebracht habe.114 Und auch auf den Internationalen Altkatholikenkongressen war Saarbrücken immer wieder vertreten, hier besonders deutlich durch Richard Lamarche: − Internationaler Altkatholikenkongress 11.–14. September 1890 Köln:115 N.N. Hillebrand, Spediteur; N.N. Opry, Rentner; Friedrich Jaskowski, Pfarrer, St. Johann. − 4. Internationaler Altkatholikenkongress 31. August bis 3. September 1897 Wien:116 Richard Lamarche, Rentner, Saarbrücken. − 5. Internationaler Altkatholikenkongress 5. bis 8. August 1902 Bonn:117 N.N. Biebericher, Oberlehrer, Saarbrücken [Nr. 7]; Richard Lamarche, Rentner, Saarbrücken [Nr. 73]. − 6. Internationaler Altkatholikenkongress 1. bis 4. September 1904 Olten:118 Josef Ultsch,119 Pfarrer, Saarbrücken; Richard Lamarche, Rentner, Saarbrücken. − 7. Internationaler Altkatholikenkongress 3. bis 5. September 1907 Haag:120 Karl Josef Klotz, Pfarrer, Saarbrücken; Richard Lamarche, Rentner, Saarbrücken. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 112 Vgl. Verhandlungen der dreiundzwanzigsten Synode der Alt-Katholiken des Deutschen Reiches, gehalten zu Cöln am 9. September 1913. Amtliche Ausgabe, Bonn 1914, S. 45, 47. 113 Vgl. Jaskowski: Einweihung der Friedenskirche (wie Anm. 4), S. 27. 114 Vgl. ebda., S. 27–29. Der Antrag ist vollständig zitiert. 115 Vgl. Der zehnte Altkatholiken-Kongress (wie Anm. 104), S. 197. 116 Vgl. Bericht über den vierten internationalen Altkatholiken-Kongress in Wien, 31. August bis 3. September 1897. Zusammengestellt von E. H., Bern 1898, S. 61. 117 Vgl. Der V. internationale, XIV. deutsche Altkatholiken-Congress in Bonn vom 5. bis 8. August 1902. Stenographischer Bericht, Bonn 1902, S. 124, 126. 118 Vgl. Bericht über den 6. internationale Altkatholiken-Kongress in Olten vom 1. bis 4. September 1904. Zusammengestellt von den Sekretären des Organisations-Komitees und des Kongresses, hg. vom Organisations-Komitee, Aarau 1905, S. 139. 119 Vgl. zu seiner Person: LA Baden-Württemberg, Abt. Generallandesarchiv Karlsruhe 76 Nr. 8013 Badische Diener- und Personalakten Nr. 8013 Ultsch Josef 1879–1907. 120 Vgl. Zevende internationaal Congres der Oud-Katholieken gehouden te ‘s Gravenhage, 3, 4 en 5 September 1907. Stenographisch verslag. | Der siebente internationale Alt-Katholikenkongress in Haag vom 3. bis 5. September 1907. Stenographischer Bericht. Offizielle Aus273
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− 9. Internationaler Altkatholikenkongress 9. bis 12. September 1913 Köln:121 Karl Josef Klotz, Pfarrer, Saarbrücken; Richard Lamarche, Rentner, Saarbrücken; Friedrich Thamerus, Eisenbahnzeichner, Saarbrücken.
3.4 Die Zusammensetzung der Gemeinde im 19. Jahrhundert Die Pfarrer in Saarbrücken betonten in ihren Schreiben immer wieder, dass das Gros der Gemeinde aus einfachen Menschen bestand. Zwei Quellen lassen sich zu Rate ziehen. Im Altkatholischen Kirchenblatt von 1883 gibt es eine Auflistung der Gemeindeglieder nach Berufsgruppen.122 Demnach sieht es so aus: Saarbrücken Ärzte und Apotheker Arbeiter aller Art Beamte Fabrikanten Grund-, Guts- und Hausbesitzer Handwerker Kaufleute Lehrer Militärs Privatiers Wirte Andere Selbstständige Männer Gesamt
0 46 86 3 7 63 11 0 2 13 5 89 244 651
Kaiserslautern 1 12 38 3 1 131 8 3 0 3 5 10 215 450
Tatsächlich sind nur wenige Fabrikanten und Gutsbesitzer verzeichnet und merkwürdigerweise keine Lehrer, aber im Gegensatz zu Kaiserslautern, wo 131 Handwerker den 38 Beamten gegenüberstehen, sind es in Saarbrücken 86 Beamte gegen 63 Handwerker. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ gabe. | Septième Congrès international des Anciens-Catholiques tenu à la Haye les 3, 4 et 5 Septembre 1907. Rapport officiel sténographié. Harmelen 1907, S. 171. 121 Vgl. Bericht über den neunten internationalen Altkatholiken-Kongress in Köln vom 9. bis 12. September 1913. Offizielle Ausgabe. Bearbeitet von Pfarrer Max Kopp in Mundelfingen und Pfarrer Adolf Küry in Basel, Bern 1913, S. 148. 122 Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt 6. Jg. Nr. 1 (1883), S. 8 f. 274
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
Als zweite Quelle kann man das Mitgliederverzeichnis heranziehen, das am 9. Dezember 1903 angelegt worden war.123 Unter Nr. 31 findet sich der Landgerichtspräsident Theodor Cormann (1830–1906). Seine erstgeborene Tochter Antonie (1864–1946) gehörte dem Vorstand an, der im April 1933 ins Amt kam. Seine vierte Tochter Irmgard Cormann (1882–1967) wurde am 9. Oktober 1949 für Maria Barbeth in den Vorstand gewählt. Unter Nr. 152 findet sich der Trierer Geheime Regierungsbaurat Julius Schönbrod, unter Nr. 180 der St. Wendeler Prof. Hermann Welsmann, unter Nr. 240 der St. Johanner Architekt Wilhelm Noll (1864–1930), unter Nr. 273 Major Paul Sabel, der Major und Bataillonskommandeur im 2. Oberrheinischen Infanterieregiment Nr. 99 Zabern. Aus anderen Quellen wissen wir, dass Nikolaus Flamm († Juni 1879), Generaldirektor der Burbacher Hütte, am 4. März 1874 in den geschäftsführenden Vorstand und am 13. Januar 1875 in den regulären Vorstand gewählt worden war. Der Bürgermeister der Stadt Malstatt-Burbach, Wilhelm Meyer, wurde am 4. März 1874 Mitglied des erweiterten Vorstands und übernahm am 10. Oktober 1875 sogar den Vorsitz. Und der Sohn des St. Johanner Kaufmanns Carl Lamarche, Richard Lamarche (1859–1931),124 dessen Familie auf dem Rotenbühler Friedhof über eine Familiengruft verfügte, besuchte fleißig die Altkatholischen Kongresse, was er sich als Privatier und Rentner erlauben konnte. Mag die Liste der Vertreter des Öffentlichen Lebens auch nicht so lang sein wie in den evangelischen Presbyterien und Synoden, so waren doch etliche respektable Persönlichkeiten in der kleinen altkatholischen Gemeinde aktiv.
4. Die altkatholische Gemeinde in der NS-Zeit und nach dem Zweiten Weltkrieg 4.1 Der Streit um Arthur Kaminski Am 23. Dezember 1932 starb Pfarrer Karl Joseph Klotz im Alter von 76 Jahren und wurde drei Tage später auf dem heutigen Hauptfriedhof in Saarbrücken ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 123 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 171. Mitgliederverzeichnis der altkatholischen Pfarrei an der Saar zu Saarbrücken, angelegt am 9. Dezember 1903 [mit alphabetischem Register]. 124 Richard Lamarche starb am 24. April 1931. 275
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bestattet; er war 26 Jahre Pfarrer der altkatholischen Gemeinde gewesen.125 Am 15. Januar 1933 wurde Arthur Kaminski zum Pfarrverweser ernannt.126 Kaminski war der Bruder des in der NS-Zeit emigrierten Komponisten Heinrich Kaminski.127 Der gemeinsame Vater Paul Kaminski war selbst schon altkatholischer Pfarrer in Tiengen gewesen. Kaminski setzte sich bei verschiedenen Regierungsstellen ein um die Bewilligung eines „Gnadenvierteljahresgehaltes an Frau Pfr. Klotz Wtw. und eine Witwenpension“.128 Die Fürsorge für die Witwe seines Vorgängers dokumentiert sein soziales Engagement über mögliche Verpflichtungen hinaus. Dass Kaminski zur „Katholisch-Nationalkirchlichen Bewegung“ gehörte, die dem NS-Regime nahestand, ist kein Hinweis auf seine eigene Haltung zum Regime. Matthias Ring betont, dass Kaminski „keineswegs ein Nazi“129 war. Kaminski gehörte wohl zu den enttäuschten Enthusiasten. Im April erfolgte die Wahl des neuen Kirchenvorstandes, dem Fabrikdirektor a. D. Mathias Baumann, Kaufmann Adam Bramer sen., Frau Antonie Cormann,130 Bahnmeister a. D. Ludwig Gollhofer,131 Steuersekretär Rudolf Hoffmann, Frau Klara Post und Kesselmeister i. R. Karl Rütters sen. Angehörten.132 Noch am Tag der Wahl fand ein Familiennachmittag statt, auf dem Pfarrer Kaminski über die altkatholische Bewegung sprach.133 Am 27. Mai 1933 besuchte der Bischof, Dr. Georg Moog, Saarbrücken; die Pfarrstelle sollte ausgeschrieben werden. Am 25. Juni 1933 fand eine Gemeindeversammlung statt, an der 32 Personen teilnahmen; Pfarrer Kaminski wurde einstimmig zum Pfarrer der Gemeinde in Saarbrücken gewählt.134 Die Einführung fand am 8. Oktober 1933 durch den Mannheimer Stadtpfarrer Dr. Otto
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 125 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 145 Protokollbuch 1933–1937. Nachruf auf Pfarrer Karl Joseph Klotz. 126 Protokollbuch 1933–1937 (wie Anm. 125), S. 1 Sitzung des Vorstandes vom 15. Januar 1933. 127 Vgl. Hans-Josef Olszewsky: Art. Heinrich Kaminski, in: BBKL 3 (1992), Sp. 999–1005. 128 Protokollbuch 1933–1937 (wie Anm. 125), S. 1 Sitzung des Vorstandes vom 15. Januar 1933. 129 Vgl. Matthias Ring: „Katholisch und deutsch“. Die alt-katholische Kirche Deutschlands und der Nationalsozialismus, Bonn 2008, S. 582. 130 Antonie Cormann starb am 21. Oktober 1946 im Alter von 83 Jahren. 131 Bahnmeister a. D. Ludwig Gollhofer starb bereits am 19. Januar 1937. 132 Protokollbuch 1933–1937 (wie Anm. 125), S. 6. Sitzung des Vorstandes vom 2. April 1933. 133 Ebda., S. 6. Familiennachmittag am 2. April 1933. 134 Ebda., S. 15 f. Gemeindeversammlung vom 25. Juni 1933. 276
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
Steinwachs statt, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Weihbischof wirkte.135 Und umgehend kam Arbeit auf den neuen Pfarrer zu, denn „der Vorsitzende [machte] von dem Schreiben des Herrn Oberbürgermeisters [Hans Neikes] Mitteilung. Danach verlangt die Regierungskommission anzugeben, wieviel Steuerzahler vorhanden sind und wieweit sich der Bezirk der Pfarrgemeinde erstreckt. Falls der Bezirk über das Saargebiet hinausgeht, so ist dies genau anzugeben.“136
Durch diesen Vorgang ist zu erfahren, dass nach der Liste der Stadt Saarbrücken 67 Steuerzahler verzeichnet waren, dass es aber über einhundert Gemeindeglieder in Saarbrücken gab, die teilweise arbeitslos oder steuerfrei waren, und dass neun Steuerpflichtige außerhalb des Stadtbezirks Saarbrücken wohnten. Arthur Kaminski veränderte die Funktion des Protokollbuchs der Gemeinde, in dem er in Form einer Gemeindechronik Berichte aus dem Leben der Gemeinde eintrug, teilweise versehen mit eingeklebten Zeitungsartikeln. So finden sich Niederschriften, Berichte und Notizen − S. 22–24 über die Amtseinführung von Pfarrer Kaminski, − S. 24 f. über den Frauensonntag 1933, − S. 25 über eine Goldene Hochzeit, − S. 26 f. über eine Weihnachtsfeier 1933, − S. 27 über die Trauung der Tochter des Pfarrers, Hertha Kaminski, am 27. Januar 1934 mit Fritz Peters aus Landau, − S. 28 f. über eine Zusammenkunft der Männer im evangelischen GrafGustav-Adolf-Haus am 22. Februar 1934, − S. 41 über die Gründung eines altkatholischen Kirchenchores am 8. Oktober 1934, − S. 47 über den Lichtbildervortrag am 3. Juli um 20.30 h im Hardenbergsaal des Graf-Gustav-Adolf-Hauses über die Bischofsweihe von Erwin Kreuzer am 8. Mai 1935 in der altkatholischen Schlosskirche zu Mannheim. Und auch in der Kulturszene fand die altkatholische Gemeinde Anschluss an die anderen Träger öffentlicher Belange, etwa mit dem Konzert zum Volkstrauertag am 25. Februar 1934, oder wenn am Karfreitag, dem 30. März 1934, ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 135 Ebda., S. 20. Sitzung des Vorstandes vom 19. September 1933. Die Niederschrift über die Amtseinführung steht S. 22–24. Das altkatholische Pfarramt befand sich nunmehr in der Großherzog-Friedrich-Straße 131 in St. Johann (ebda., S. 21). 136 Ebda., S. 17. Sitzung des Vorstandes vom 2. Juli 1933. 277
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ein Konzert geboten wurde mit Margarete Schaller (Sopran), Alexander Goebel (Bass-Bariton), Peter Franzen (Violine) und Alois Gehring (Orgel). Es wurden Werke von Brahms, Reger und Rheinberger aufgeführt sowie Stücke aus der Matthäuspassion von Bach „und aus der Passion unseres Organisten“.137 Aus dem Spektrum der Politik ist für den 7. August 1934 zu lesen, dass ein Traueramt stattfand für den verstorbenen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Am 5. Januar 1935 findet sich ein eingeklebter Bericht vom Tod des Bischofs Georg Moog († 28. Dezember 1934),138 der nächste Beitrag steht unter dem Datum des 24. Februar 1935. Zum 13. Januar 1935, dem Tag der Saarabstimmung, findet sich keine Notiz. Wo stand die altkatholische Gemeinde? Wohl im deutsch-nationalen, mindestens im Pro-Deutschland-Lager, denn „am 21. Oktober hielt uns Stadtpfarrer Dr. [Otto] Steinwachs aus Mannheim in unserer Friedenskirche im Rahmen einer kirchlichen Abendfeier einen Vortrag über ‚Deutsche Art und deutsche Kirche‘. Der Besuch war über Erwarten gut, auch von Seiten Andersgläubiger; der Vortrag hinterließ denn auch einen nachhaltigen Eindruck.“139
Wurde noch am 10. Juni 1934 festgehalten, dass die Regierungskommission nicht bereit war, einen Zuschuss zum Pfarrgehalt zu gewähren,140 so hieß es im März: „Zwecks Angleichung des Pfarrgehalts unseres Pfarrers mit den übrigen Pfarrgehältern legte Pfr. Kaminski ein Gesuch vor zur Weitergabe an den Herrn Reichskommissar f[ür] d[ie] Rückgl[iederung] des Saarlandes, Abt[eilung] f[ür] Kultus- und Schulwesen. Nachdem der Vorstand Kenntnis genommen hat, wurde das Gesuch befürwortet und unterschrieben weitergereicht.“141
Ein interessantes Ereignis ist der Vorgang um den auf den 15. September 1935 festgelegten Saarländisch-Pfälzischen Altkatholikentag, zu dem der Bischof um Teilnahme gebeten wurde.142 Bischof Erwin Kreutzer konnte zu diesem Termin nicht anreisen; der Altkatholikentag wurde auf den 6. Oktober 1935 verlegt.143 Dr. Otto Steinwachs lehnte den 6. Oktober wiederum ab, weil reichsweit das Erntedankfest gefeiert werden sollte. Es kam der 13. Oktober ins Gespräch im ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 137 Ebda., S. 28 f. 138 Ebda., S. 45. 139 Ebda., S. 41. Dazu: Altkatholisches Volksblatt Nr. 22 vom 2. November 1934. 140 Ebda., S. 35. Sitzung des Vorstandes am 10. Juni 1934. 141 Ebda., S. 47. Sitzung des Vorstandes am 25. März 1935 im Graf-Gustav-Adolf-Haus. 142 Ebda., S. 49. Sitzung des Vorstandes am 11. August 1935. 143 Ebda., S. 51. Sitzung des Vorstandes am 18. August 1935. 278
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
Hindenburgsaal im St. Johanner evangelischen Gemeindehaus „Wartburg“.144 Am Ende fand das Ereignis am 20. Oktober 1935 statt; anstelle eines aufwendigen Essens in der „Wartburg“ gab es einen Ausflug auf den Winterberg und montags das Gespräch mit dem Kirchenvorstand betreffend die Gemeindeverhältnisse.145 Im Volksblatt wurde über den Vortrag des Essener Pfarrers Heinrich Hütwohl146 zum Thema „Politischer Katholizismus und Volksgemeinschaft“ berichtet; er war der Herausgeber der Zeitschrift „Romfreier Katholik“. Erschienen waren auch altkatholische Gemeindeglieder aus Kaiserslautern, Mannheim und Ludwigshafen: „Ein feierliches levitiertes Hochamt, von unserem Bischof gehalten unter Beistand der beiden Geistlichen,147 ließ das kostbare Gut der Muttersprache bei unserem Gottesdienst alle Teilnehmer aufs tiefste mitempfinden, und die bischöfliche Ansprache hat gewiss die Herzen aller ergriffen. Unser Kirchenchor hat sich sehr wacker an diesem Tage gehalten und im Gottesdienst wie nachmittags in der Festversammlung je drei Lieder mit gutem Ausdruck gesungen und so nach einjährigem Bestand die erste große Leistungsprobe tapfer bestanden.“148
Nachmittags sprachen der Bischof und Dr. Otto Steinwachs in der „Wartburg“, gerahmt vom Chor und Solisten; montags fand die Visitation statt. Die Gemeinde erlebte einen Aufschwung: Am 24. Oktober 1937 hielt Pfarrer Arthur Kaminski im kleinen Saal der „Warndtburg“ in Großrosseln eine Messe ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 144 Ebda., S. 55. Sitzung des Vorstandes am 8. September 1935. 145 Ebda., S. 55. Sitzung des Vorstandes am 6. Oktober 1935. 146 Der rhetorisch wie organisatorisch überaus begabte Essener Pfarrer Heinrich Hütwohl war der wichtigste Wortführer und Propagandist der nationalkatholischen Idee. Am 6. Juni 1934 wurde die von ihm mitgegründete „Katholisch-Nationalkirchliche Bewegung (KNB)“, die sich später in „Katholisch-National-kirchlicher Volksverein (KNV)“ umbenennen musste, in das Vereinsregister eingetragen. Als Vorsitzender bzw. Reichszentralleiter fungierte Heinrich Hütwohl und als Stellvertreter der Lehrer Fritz Drös. Die Katholisch-Nationalkirchliche Bewegung thematisierte sehr stark nationalkirchliche Gedanken und verstand sich als eine nicht kirchliche, aber kirchennahe Mitgliederorganisation mit überkonfessionellem Charakter. 1934 waren 34 von 55 altkatholischen Geistlichen Mitglied in der KNB. Nach den Angaben von Matthias Ring besaßen 22 altkatholische Pfarrer das Parteibuch der NSDAP; drei traten später wieder aus und einer wurde ausgeschlossen. Vgl. Ring: „Katholisch und deutsch“ (wie Anm. 129), S. 829 f. Der Alt-Saarbrücker Pfarrer Otto Wehr, Sprecher der Bekennenden Kirche an der Saar, teilte dem altkatholischen Kirchenvorstand mit, das Presbyterium habe der Katholisch-Nationalkirchlichen Bewegung (KNB) die Benutzung des evangelischen GrafGustav-Adolf-Hauses untersagt; vgl. Protokollbuch 1933–1937 (wie Anm. 125), S. 100. Sitzung des Vorstandes am 24. November 1937. 147 Es waren Arthur Kaminski und Dr. Otto Steinwachs; Pfarrer Alfons Zeller aus Kaiserslautern befand sich in Stuttgart. 148 Alt-Katholisches Volksblatt Nr. 22 vom 1. November 1935. 279
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mit Altarweihe, um eine Filialgemeinde im Warndt zu begründen, und Ordinariatsrat Heinrich Hütwohl predigte: „Möge Gott das junge Pflänzlein zu einem stattlichen Baum heranwachsen lassen.“149 Die antirömische Propaganda trieb den Altkatholiken zudem zahlreiche Mitglieder der NSDAP in die Arme; anfangs stand die Aufnahme neuer Mitglieder immer unter TOP 1 der Vorstandssitzungen; später waren die Aufnahmen nur Notizen unter „Sonstiges“. Die Gemeinde war im Aufwind: Auf der Gemeindeversammlung am 28. Juni 1936 waren 44 Personen anwesend;150 es fanden Kirchenwahlen statt. Sieben Mitglieder des Kirchenvorstandes waren zu wählen, und zwar vier für sechs, drei für drei Jahre.151 Diesem Vorstand stand eine große Auseinandersetzung ins Haus, denn im April verlas Pfarrer Arthur Kaminski eine Erklärung: „Darin wurden die in den vergangenen Monaten erhobenen Beschwerden beim hochw[ürdigen] Herrn Bischof zurückgewiesen. Dem Pfarrer waren zum Vorwurf gemacht worden u[nter] anderem, der habe mit Leuten verkehrt, die eine separatistische Einstellung gehabt hätten, ferner habe er an vaterländischen Gedenktagen nicht mit Hakenkreuzflagge an der Kirche geflaggt, sodann an einigen Feiertagen keinen Gottesdienst abgehalten.“152
Der stellvertretende Vorsitzende des Kirchenvorstandes, Dr. Hans Rozek, hielt die Beschwerden aufrecht, und Hans Bourgmeyer verlas aus der Antwort des Bischofs Passagen „die die Anklagen stützen sollten“.153 Der Streit nahm Fahrt auf: Im Protokollbuch findet sich eine Einladung vom 2. September 1937 zu einer Kirchenvorstandssitzung am 12. September, die lediglich vom stellvertretenden Vorsitzenden Dr. Rozek unterschrieben war; vier Punkte standen auf der Tagesordnung und als Post scriptum wurde vermerkt: „Entschuldigungen können nicht angenommen werden, da endgültige Regelung im Interesse der Gemeinde dringend nottut.“154 Danach findet sich eine Einladung vom 9. September 1937 durch den Vorsitzenden, Pfarrer Arthur Kaminski, mit ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 149 Protokollbuch 1933–1937 (wie Anm. 125), S. 95, dazu auf S. 97 ein Zeitungsbericht ohne Beleg zur Altarweihe durch Kaminski und zur Predigt Gütwohl. 150 Ebda., S. 80. Gemeindeversammlung; das Protokoll ist nachträglich eingeklebt. 151 Für sechs Jahre wurden gewählt: Rudolf Hoffmann, Hans Bourgmeyer, Jakob Simmer sen. und Peter Kockler; für drei Jahre Dr. Hans Rozek, Anton Beckhäuser und Jakob Egler. Zudem gab es vier Ersatzkandidaten: Karl Rütters sen., Peter Schweizer, Heinrich Pelke und Josef Rottwinkel. 152 Protokollbuch 1933–1937 (wie Anm. 125), S. 89. Sitzung des Vorstandes vom 19. April 1937. 153 Ebda., S. 90. Sitzung des Vorstandes vom 19. April 1937. 154 Ebda., S. 94. Einladung vom 2. September 1937 zur Kirchenvorstandssitzung am 12. September 1937. 280
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
sieben Tagesordnungspunkten, „ferner auf Antrag des Herrn Dr. Rozek“ vier aus dessen Einladung. TOP 7 lautete „Aussprache über den Pfarrerwechsel“. Das Protokoll fehlt, aber unter dem Datum des 29. September 1937 kommt eine Erläuterung: „Im Juli u[nd] August des Jahres wurde ein Schreiben an den hochw[ürdigsten] Herrn Bischof in Umlauf in der Gemeinde der alt-kath[olischen] Pfarrei zur Unterzeichnung gesetzt. Nach Angabe wurde dieses Schreiben von 48 Mitgl[iedern] unterschrieben. In diesem wurde die Bitte an den hochw[ürdigsten] Herrn Bischof ausgesprochen, ein[en] Wechsel in der Besetzung der hiesigen Pfarrstelle zu bewirken.“155
Einige baten Dr. Hans Rozek, den Vorstand zusammenzurufen, was am Einspruch des Pfarrers scheiterte, der den Vorstand selbst einberief. Als bekannt wurde, dass Pfarrer Kaminski sich wegbewerben wolle, ließ Dr. Rozek die Klagepunkte fallen.156 Am 17. Oktober 1937 vermerkt das Protokoll, dass Dr. Hans Rozek ausgeschieden war.157 Der Vorstand war unterwandert worden und hatte es nicht bemerkt; die Saat des Unfriedens ging auf. Am 2. Dezember 1937 fand in Anwesenheit des Bischofs Erwin Kreutzer im evangelischen Graf-Gustav-Adolf-Haus eine außerordentliche Sitzung des Kirchenvorstandes statt. Anwesend waren Pfarrer Arthur Kaminski, Frau Antonie Cormann, Rudolf Hoffmann, Peter Kockler, Karl Rütters sen., Peter Schweizer und Jakob Simmer,158 dazu Heinrich Pelke159 als Nachfolger von Hans Bourgmeyer. Geladen und erschienen waren auch die – inzwischen vier – zurückgetretenen Vorstandsmitglieder Hans Bourgmeyer, Jakob Egler, Dr. Hans Rozek und Wilhelm Stüble. Nach der Begrüßung des Bischofs „hielt Herr W[ilhelm] Stüble sein Referat, in welchem die bekannten Vorwürfe gegen die Amtswaltung des Herrn Pfarrers zusammengefaßt wurden. Außerdem wurde dem Herrn Pfarrer vorgeworfen, er habe früher einer Freimaurerloge angehört.“ Der Bischof teilte mit,
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 155 Ebda., S. 95. Erläuterung vom 29. September 1937. 156 Ebda., S. 96. Sitzung des Vorstandes vom 12. September 1937. 157 Ebda., S. 99. Sitzung des Vorstandes vom 17. Oktober 1937. 158 Konrektor Jakob Simmer, gestorben am 5. Mai 1956, war der Organist der Gemeinde. 159 Der Bischof stellte u. a. fest, Bourgmayer sei nicht ausgeschieden, und der Eintritt Pelkes sei hinfällig; EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 146 Protokollbuch 1937–1959, S. 2 Außerordentliche Sitzung des Vorstandes vom 2. Dezember 1937. 281
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„er habe sich dieserhalb schriftlich und mündlich an den Leiter der Gestapo in Saarbrücken gewandt und von diesem die Mitteilung erhalten, daß in keiner Abteilung etwas bekannt sei, daß Herr Pfarrer Kaminski Mitglied einer Freimaurerloge gewesen sei. Der hochwürdige Herr Bischof versprach, noch weitere Schritte zu tun. Die Angelegenheit wird von der geheimen Staatspolizei weiter verfolgt.“160
Der Bischof würdigte die Arbeit Kaminskis und überraschte die Anwesenden, dass der Pfarrwechsel beschlossen sei, weil viele in der Gemeinde den Wechsel wollten. Pfarrer Arthur Kaminski trat zum 1. Februar 1938 seinen Urlaub an, sein Vertreter wurde Pfarrvikar Grzuna. Pfarrer Paul Heinz Vogel aus Witten/ Ruhr war zum Tausch mit Pfarrer Kaminski zum 1. Juni 1938 bereit.161 Im März „wurde ein Schreiben verlesen, worin zum Ausdruck gebracht wird, daß der Gestapo nichts bekannt sei über politische Unzuverlässigkeit und separat[istische] Belastung des Pfrs. Herrn Kaminski. Im Anschluß hieran gab der Vorsitzende bekannt, daß er gegen die Herren Bourgmayer und Stüble Strafantrag wegen Verleumdung stellen würde.“162
Im Übrigen teilte die Gestapo mit, Kaminski gehöre dem „Deutschen Ritterbund“ an und keiner Loge.163 Josef Kaufmann, der 1957 für seinen Nachfolger Erinnerungen bzw. Hinweise hinterließ, kommentierte die Ereignisse dieser Zeit so: „Daß Pfarrer Kaminski nur so kurze Zeit in Saarbrücken amtiert hat, ist auf einen bösen Streit in der Gemeinde zurückzuführen, der durch neu beigetretene Männer – als Hitler an die Macht kam – entfesselt wurde. Um Frieden zu schaffen veranlaßte Bischof Kreutzer einen Amtstausch Saarbrücken-Witten, d. h. Kaminski-Vogel.“164
Und über Kaminski schrieb er: „Pfarrer Kaminski war sonst sehr rührig. Er rief einen guten Kirchenchor ins Leben u[nd] ließ das Dach der Friedenskirche renovieren, nur Predigen war nicht sein Fall.“165 Mit der Einführung166 von Pfarrer Paul Heinz Vogel am 5. Juni 1938 durch den Bonner Ordinariatsrat Prof. Dr. Hermann Keussen endete das tragische Ka⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 160 Ebda., S. 1 Außerordentliche Sitzung des Vorstandes vom 2. Dezember 1937. 161 Saarbrücker Zeitung Nr. 129 vom 23. Mai 1938. 162 Protokollbuch 1937–1959 (wie Anm. 159), S. 4. Sitzung des Vorstandes vom 28. März 1938. Mit Staunen nahm der Vorstand Kenntnis davon, dass Kaminski keine Anzeige gegen Hans Bourgmayer erstattet hatte; der Vorstand war bereit, mit Bourgmayer zusammenzuarbeiten; vgl. ebda., S. 7. Sitzung des Vorstandes vom 8. Juni 1938. 163 Ebda., S. 5 f. Notiz. 164 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 22a Josef Kaufmann, Notizen für meine Nachfolger. Handschriftliches Manuskript, beendet 28. August 1957, S. 2. 165 Ebda. 282
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
pitel Kaminski in Saarbrücken. Der Gemeindeversammlung vom 3. April 1938 wurde seitens des Vorstandes kein Beschlussvorschlag gemacht; dem Pfarrertausch stimmten von 65 anwesenden Stimmberechtigten 37 zu und 28 sagten Nein.167 Der Vorstand der Gemeinde versuchte, andere Seiten aufzuziehen: „Der Männerkreis soll monatlich im Anschluß an den Gottesdienst zusammenkommen und Wünsche der Gemeinde mit dem Pfarrer beraten. [Und] da der Kirchenchor aus nichtigen Gründen am Osterfeste streikte, erklärt der Kirchenvorstand denselben als nicht mehr bestehend.“168
An Pfarrer Vogel sollte die altkatholische Gemeinde in Saarbrücken keine Freude haben. In der Vorstandssitzung am 24. März 1939 „vor Eintritt in die Tagesordnung erklärte der Vorsitzende, daß er zum letztenmal den Vorsitz in der Sitzung | führe, da er aus dem geistlichen Stand ausscheide. Zugleich stellte er seinen Nachfolger, den Pfarrverweser Herrn [Reinhold] Krömer, vor.“169 Mit seinen Erinnerungen bringt Josef Kaufmann Klarheit in die Spekulationen über Vogels raschen Abgang: „Pfarrer Vogel war auch nur kurze Zeit in Saarbrücken. Schade, daß dieser hochbegabte Mann ein zu großer Freund des Alkohols war und deshalb aus dem Dienst des Bistums entlassen wurde.“170
Bereits am 12. Juni führte Pfarrverweser Reinhold Krömer den Vorsitz; bedingt durch die Erste Evakuierung ist das Protokollbuch lückenhaft.171 Noch einmal, im Januar 1941, wurde der Vorstand in einer Gemeindeversammlung172 aus 31 Stimmberechtigten neugewählt; noch drei Jahre blieben Anton Beckhäuser, Heinrich Pelke und Jakob Simmer im Amt. Für sechs Jahre neu gewählt wurden Anton Kalmes, Adele Mügge, Josef Rottwinkel und Karl Rütters, dazu die Ersatzleute Frau Grässle, Rudolf Hoffmann, Jakob Thiel und Nikolaus Wagner.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 166 Protokollbuch 1937–1959 (wie Anm. 159), S. 6 Einführung. 167 Ebda., S. 6. Gemeindeversammlung vom 3. April 1938. Das Protokoll ist nachträglich eingeklebt. 168 Ebda., S. 10 f. Sitzung des Vorstandes vom 8. Juni 1938. 169 Ebda., S. 15 f. Sitzung des Vorstandes vom 24. März 1939. 170 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 22a Josef Kaufmann, Notizen für meine Nachfolger. Handschriftliches Manuskript, beendet 28. August 1957, S. 2. 171 12. Juni 1939 – 13. Oktober 1940 – 12. Januar 1941. 172 Protokollbuch 1937–1959 (wie Anm. 159), nach S. 18 eingeklebt: Protokoll der Gemeindeversammlung vom 26. Januar 1941. 283
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4.2 Untergang und Neuanfang unter Pfarrer Josef Kaufmann Josef Kaufmann berichtete: „Im Dezember 1940 schrieb mir Bischof Kreutzer – ich war im Herbst 1938 nach München gekommen – wenn ich noch Lust hätte, nach Saarbrücken zu gehen, wäre dies jetzt möglich, da die Pfarrstelle am 1. April 1941 neu besetzt werden würde. Ich hatte mich nämlich früher von Schlesien aus einmal um Saarbrücken beworben, es war, als die Stelle nach dem Tod des Pfarrers Klotz ausgeschrieben wurde. – Ich hielt im Februar 1941 meinen Probegottesdienst u[nd] wurde einstimmig gewählt.“173
Pfarrer Josef Kaufmann trat zum 1. April 1941 seinen Dienst in Saarbrücken an; einmal im Monat sollte er Gottesdienst in Kaiserslautern halten, während der Gottesdienst in Saarbrücken ausfiel.174 Saarbrücken kam zunehmend in den Fokus alliierter Luftangriffe; es nahmen nie mehr als zehn bis zwölf Gemeindeglieder am Gottesdienst teil. Hatte man noch im Juni 1938 Sanierungsmaßnahmen175 an der Friedenskirche durchgeführt, änderte sich die Lage im zweiten Dienstjahr von Kaufmann dramatisch. Anfang August wurde ins Protokollbuch eingetragen: „Auf Einladung des Vorsitzenden fand eine Besichtigung der durch den Fliegerangriff vom 30.7.1942 schwer beschädigten Friedenskirche statt. Wie der Augenschein ergab, konnte die Benutzung der Kirche bis zur Wiederherstellung nicht in Frage kommen. Es wurde deshalb beschlossen, beim evangel[ischen] Presbyterium die Erlaubnis nachzusuchen, in der alten ev. Kirche in St. Johann unsere Gottesdienste abzuhalten.“176
Kaufmann fürchtete auch Verluste in den Akten und Archivalien. „Der Vorsitzende gab den Aufbewahrungsort der Gemeindebücher bekannt, damit alle Mitglieder des K[irchen] Vorst[andes] im Falle eines Fliegerschadens wissen, wo sie zu finden sind: 1. Das Tauf-, Trauungs- und Sterberegister befindet sich im Tresor des
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 173 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 22a Josef Kaufmann, Notizen für meine Nachfolger. Handschriftliches Manuskript, beendet 28. August 1957, S. 3. 174 Protokollbuch 1937–1959 (wie Anm. 159), S. 19 f. Sitzungen des Vorstandes vom 6. Februar und 19. Mai 1941, S. 20. 175 Ebda., S. 8. Laut Protokoll des Vorstandes vom 8. Juni 1938 standen sechstausend Mark aus der Kasse des Reichskommissars zur Sanierung der Friedenskirche zur Verfügung, und am 23. Juni 1938 (S. 11) „wurde mitgeteilt, daß 7500 RM zur Verfügung stehen, und zwar 6000 RM als Staatszuschuss, 1000 RM von der Stadt u. 500 RM soll die Gemeinde aufbringen. Der Herr Konservator gibt in diesem Jahre keinen Zuschuss. Die Ausführung der Arbeiten liegt in Händen des Reichsbauamtes West.“ 176 Ebda., S. 23. Sitzung des Vorstandes vom 9. August 1942. Vgl. auch EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 42 Ev. Kirche im Rheinland. Schreiben der Ev. Kirchengemeinde St. Johann betr. die Nutzung der Alten Ev. Kirche vom 7. August 1942. EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 91 Mitteilung über Kriegsschäden an der Friedenskirche. 284
Die altkatholische Gemeinde im Saarland Bankhauses Müller, Hohenzollernstr[aße]; 2. Das Banksparbuch der Gemeinde Nr. 3764 bei der Dresdener Bank, Viktoriastraße, ist im Luftschutzgepäck des Pfarrers. Das Konto lautete am 18/10.42 auf M[ark] 600,–; 3. Das Kassabuch mit Einnahme und Ausgabe (Belege) sowie Steuersachen des Pfarramtes befinden sich in einer Stahlkassette im Schrank der Gemeinde in den Diensträumen des Pfarrers. Die Mitglieder nahmen davon Kenntnis und beschlossen die Eintragung ins Protokollbuch.“177
Noch versuchte man, zur Normalität zurückzukehren, lud sogar den Bischof für Pfingsten ein, entschied sich aber dann doch um auf einen Termin nach dem Krieg – dann reißt das Protokollbuch ab mit dem 8. Mai 1943.178 Lesenswert ist der Rückblick des Pfarrers auf die Kriegszeit und das erste Nachkriegsjahr. Die schon erwähnte Zerstörung beschreibt Kaufmann detaillierter: „Am 30. Juli 42 wurde die Friedenskirche zum 1. Mal schwer beschädigt, aber nur indirekt durch den Luftdruck der in der Umgebung explodierenden Bomben. Alle Fenster waren zerstört, teilweise waren sogar die Eisenstäbe aus dem Mauerwerk gerissen. Die Beschädigungen an der Orgel und Inneneinrichtung waren leichterer Natur.“179
Wie geplant, kam die Gemeinde mit ihren Gottesdiensten in der Alten evangelischen Kirche in St. Johann unter. „Der Pfarrer reinigte mit einer Anzahl Ukrainerinnen das Gotteshaus, daß Ostern 1943 wieder dort das hl. Amt gefeiert werden konnte.“180
Aber der Luftkrieg ging weiter und führte neue Katastrophen heran. Doch in der Not gab es ein ökumenisches Miteinander, das man zuvor nie erahnt hätte: „Im Frühjahr 1944 gingen bei einem weiteren Angriff die Fenster zum größten Teil wieder in Trümmer. Die roem. Kathol. Kirche St. Jakob erhielt einige Volltreffer und konnte nicht mehr benutzt werden. Der Pfarrer von St. Jakob bat uns um Gastfreundschaft und versprach, daß Handwerker aus der Gemeinde die Fenster wieder in Ordnung bringen würden. Innerhalb 4 Wochen war unsere Friedenskirche wieder benutzbar und rechtfertigte zum 1. Mal ihren schönen Namen: sie diente dem Frieden unter den Bekenntnissen. Der Gemeinde St. Jakob wurde ein Schrank in der Sakristei eingeräumt. Auch wurde ihr gestattet, einen Beichtstuhl aufzustellen.“181
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 177 Ebda., S. 24. Sitzung des Vorstandes vom 18. November 1942. 178 Ebda., S. 25–26. Sitzung des Vorstandes vom 8. Mai 1943. 179 Ebda., S. 27. Rückblick. 180 Ebda. 181 Ebda. 285
Joachim Conrad
Die massive Zunahme der Luftangriffe veranlasste den Pfarrer, die Paramente ins Pfarrhaus zu bringen. „In der Nacht vom 5. zum 6. Oktober 44 erfolgte jener schreckliche Großangriff, der ganz Alt-Saarbrücken in Trümmer legte und verbrannte. Die Schloßkirche, die Friedenskirche u[nd] Ludwigskirche brannten bis auf die Grund- und Umfassungsmauern aus; St. Jakob wurde schwer beschädigt. Eigenartigerweise ist der Turm der Friedenskirche stehen geblieben. […] Der Pfarrer verließ mit seiner Frau Ende Oktober Saarbrücken und fuhr in seine Heimat nach Thüringen.“182
Als Familie Kaufmann an die Saar zurückkehrte, fand die altkatholische Gemeinde bei der evangelischen Stadtmission Ebenezer in der Schillerstraße 20 in St. Johann eine vorübergehende Heimat.183 Das Provisorium dauerte bis 1959. Im inneren Zirkel der Gemeinde Abb. 5: Die Ruine der Friedenskirche mussten zuerst wieder funktionsfähige [EZAS Best. 05,1 Altkath. Kgm. Saarbrücken] Strukturen zurückgewonnen werden. Auf der Gemeindeversammlung184 am 16. Juli 1946 erschienen achtzehn stimmberechtigte Gemeindeglieder und wählten einen neuen Vorstand. Auf drei Jahre wurden gewählt der Bürogehilfe Anton Kalmes aus Dudweiler, die Apothekerswitwe Adele Mügge aus St. Johann und der Konrektor i. R. Jakob Simmer, der schon früher im Vorstand war. Auf sechs Jahre wurden gewählt der Werkmeister Jakob Egler aus Malstatt, die Hausfrau Maria Barbeth aus AltSaarbrücken und der Lackierer Jakob Thiel aus Malstatt.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 182 Ebda., S. 28. Rückblick. 183 Ebda. 184 Ebda., S. 29. Gemeindeversammlung vom 16. Juli 1946. Bei der Versammlung am 9. Oktober 1949 (S. 37) wurde Maria Barbeth durch Irmgard Cormann ersetzt; Adele Mügge starb am 2. Juni 1950 mit 78 Jahren; sie gehörte dem Vorstand seit 1936 an. 286
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
Bei der Konsolidierung der Gemeinde nach Krieg und NS-Herrschaft stand die Frage im Zentrum, wie mit der Ruine der Friedenskirche umzugehen war. Im Sommer 1946 lag das Ansinnen französischer Katholiken auf dem Tisch, die Kirche zu kaufen.185 Im Mai 1949, also rund drei Jahre später, wurde erwogen, die Kirchenruine dem Staat zu übergeben und einen Gottesdienstraum mit einer Pfarrwohnung darüber zu erwerben.186 Aber immer mehr zeichnete sich ab, dass die Kirchengemeinde die Friedenskirche behalten wollte.187 Anton Kalmes machte sogar den Vorschlag, durch Rundfunkgottesdienste Werbung für die altkatholische Gemeinde zu machen.188 Der Aufbau erfolgte in den folgenden Jahren; finanzielle Unterstützung kam von Bundes- und Landesebene.189 Unter dem streng römisch-katholischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann hatte die altkatholische Gemeinde politisch gesehen nicht die besten Karten. Das mag der Grund sein, warum nach der zweiten Saarabstimmung 1955, bei der die CVP-Regierung von Johannes Hoffmann zu Fall kam, und nach dem wirtschaftlichen Anschluss des Saarlandes an die Bundesrepublik 1957 Bischof Josef Demmel auf die heute seltsam wirkende Idee kam, an Pfarrer Kaufmann – damals hieß die Großherzog-Friedrich-Straße Max-Braun-Straße – ein Telegramm zu schicken mit dem Satz: „Der Gemeinde herzliches Willkommen zur endgueltigen Heimkehr in Vaterland und Bistum – Bischof Demmel.“190 Die altkatholische Gemeinde war wieder im Aufwind und beschloss im Mai 1958, der russisch-orthodoxen Gemeinde die Mitbenutzung der Friedenskirche einzuräumen.191 Der Wiederaufbau der Friedenskirche ist ausführlich dokumentiert und kann an dieser Stelle übersprungen werden.192 Es war die letzte große Tat von Pfarrer Josef Kaufmann; er wechselte zum 1. Oktober ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 185 Ebda., S. 30. Sitzung des Vorstandes vom 17. August 1946. 186 Ebda., S. 36. Sitzung des Vorstandes vom 22. Mai 1949. 187 Es gibt eine umfangreiche Korrespondenz von Pfarrer Kaufmann in den Jahren 1941 bis 1961 mit den Bischöfen bzw. den Bischöflichen Behörden u. a. betr. Wiederaufbau der Friedenskirche; EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 51 Pers. Akte Josef Kaufmann. 188 Ebda., S. 44 f. Sitzung des Vorstandes vom 7. Oktober 1951. 189 Im Archivbestand gibt es ein Faszikel zur Finanzierung des Wiederaufbaus; vgl. EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 94 Baufinanzierung, Baukasse, Zuschüsse. 190 Protokollbuch 1937–1959 (wie Anm. 159), S. 66. Telegramm von Bischof Demmel an Pfr. Kaufmann, Max-Braun-Straße 131. 191 Ebda., S. 70. Sitzung des Vorstandes vom 11. Mai 1958. EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. Nr. 47. Vertrag über die gemeinsame Nutzung der Friedenskirche vom 1. November 1967. 192 Festschrift zur Weihe der wiederaufgebauten Friedenskirche Saarbrücken am 11. März 1967, hg. von der Katholischen Kirchengemeinde für Alt-Katholiken an der Saar, Saarbrücken 1967. 287
Joachim Conrad
1962 in den Ruhestand und verstarb am 12. Juli 1965. Drei Tage später wurde Josef Kaufmann auf dem Hauptfriedhof in Saarbrücken bestattet.193
5. Eine Zukunft in ökumenischer Verbundenheit Nachfolger von Josef Kaufmann wurde am 1. November 1962 der Flame Willi Perquy, der am 25. Juli 1956 zum römisch-katholischen Priester geweiht worden war und am 15. November 1961 zur altkatholischen Kirche übertrat.194 Durch seine Biografie bedingt, wurde Willi Perquy einer der Motoren der Ökumene in Saarbrücken.195 Einige Stationen seien stichpunktartig genannt: (1) Öffnung der Friedenskirche für die Messen der röm.-kath. Hochschulgemeinde,196 (2) Missionarischer Tag zur 90-Jahr-Feier der Friedenskirche als altkath. Kirche,197 (3) Gemeinsamer Gottesdienst mit der US-Gemeinde aus Zweibrücken,198 (4) Gemeinsame Messe mit holländischen Altkatholiken am 9. September 1984,199 (5) Besuch einer Jugendgruppe aus Dublin im August 1985,200 (6) Partnerschaft mit der anglikanischen Thomasgemeinde in Leicester.201 Die Gemeinde zählte 229 Mitglieder,202 aber nur auf wenige konnte man sich verlassen, denn der Vorstand vermerkte in seinem Protokoll: ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 193 Nachruf auf Pfarrer Joseph Kaufmann, in: Sonntagsgruß 30 (25.07.1965), S. 11. 194 Willi Perquy wurde am 14. Juli 1929 in Oostkamp/Westflandern geboren. Er feierte im April 1936 seine erste Hl. Kommunion und wurde im Juni 1941 gefirmt. Er war Kaplan beim Internationalen Bauorden, dann Armeepfarrer und Religionslehrer, bevor er am 15. November 1961 zur altkatholischen Gemeinde übertrat, gemeinsam mit Roswitha Birnhoff (geb. 21. August 1940 in Dortmund), die er am 14. Januar 1962 heiratete. Zum 1. November 1963 trat er seinen Dienst als Pfarrer der altkatholischen Kirchengemeinde in Saarbrücken an. 195 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 42 Ev. Kirche im Rheinland. Korrespondenz mit der Ev. Kirchengemeinde Alt-Saarbrücken vom 1. Juli 1985 betr. ökumenische Gottesdienste. 196 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 147 Lose Blatt-Sammlung. Protokoll der Vorstandssitzung am 23. September 1982, S. 1. 197 Ebda., Protokoll der Vorstandssitzung am 6. Mai 1983, S. 1. 198 Ebda., Protokoll der Vorstandssitzung am 22. September 1983, S. 1. 199 Ebda., Protokoll der Vorstandssitzung am 25. Juni 1984, S. 1. 200 Ebda., Protokoll der Vorstandssitzung am 14. Mai 1985, S. 1. 201 Ebda., Protokoll der Vorstandssitzung am 21. September 1988, S. 1. 288
Die altkatholische Gemeinde im Saarland „Bedauert werden die vielen Initiativen, die vom Pfarrer ausgehen. Besonders bei ökum[enischen] Aktivitäten wird der Pfarrer meistens dem Feld allein überlassen. Hier müßten die Gemeindeglieder sich mehr engagieren, weil gerade in der Ökumene eine große Chance für die Öffentlichkeitsarbeit liegt.“203
Traditionell wurde die Osternacht204 mit der methodistischen und der evangelischen Kirchengemeinde zwischen Ludwigskirche und Friedenskirche begangen, und am 30. November 1988 wurde beschlossen, den Namen „Pfarramt Christi Friede der Alt-Katholiken an der Saar“ zu führen.205 Im Archiv der Kirchengemeinde gibt es ein umfassendes Briefkorpus von Pfarrer Willi Perquy, u. a. einen Briefwechsel mit den Bischöfen Joseph Brinkhues, Joachim Vobbe und Sigisbert Kraft, dazu Briefwechsel mit den verschiedensten Partnern aus der Ökumene.206 1966 erwarb die Kirchengemeinde ein Haus in der Hoederathstraße 6 und machte es zum Pfarrhaus.207 Mit dem plötzlichen Tod von Pfarrer Willi Perquy am 2. Januar 1990 veränderte sich die Situation in der altkatholischen Gemeinde; sie war zunehmend mit ihren eigenen Problemen beschäftigt.208 Mit Vertrag vom 29. Mai 1990 trat Heinz Schmitt-Auer seinen Dienst in Saarbrücken an.209 Er hatte zuvor als römisch-katholischer Pfarrer in GroßenBuseck gearbeitet, bevor er 1987 seine Frau Reinhilde, damals Gemeindereferentin, heiratete. Nach einer Zeit in Nes-Amim trat er zur altkatholischen Gemeinde über und kam nach Saarbrücken, wo seine Frau auch den Organistendienst in der Friedenskirche übernahm. 1998 sind die Differenzen zwischen dem Ehepaar Schmitt-Auer und dem Kirchenvorstand unüberwindlich. Pfarrer Heinz Schmitt-Auer verzichtet auf sein Amt, nimmt Kontakt mit dem General⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 202 Ebda., Protokoll der Vorstandssitzung am 21. März 1985, S. 1. Und knapp zwei Jahre später hieß es: 233 Mitglieder, vgl. Protokoll der Vorstandssitzung am 10. Februar 1987, S. 1. 203 Ebda., Protokoll der Vorstandssitzung am 24. Oktober 1985, S. 1. 204 Ebda., Protokoll der Vorstandssitzung am 8. März 1988, S. 1. 205 Ebda., Protokoll der Vorstandssitzung am 30. November 1988, S. 1. 206 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 53 Pers. Akte Willi Perquy. 207 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 106 Bau und Einweihung. Es gibt umfangreiche Akten zum Bau des Hauses 1922 und zu seiner Unterhaltung; vgl. EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 106–111. 208 Über die Nutzung des Pfarrhauses nach dem Tod des Pfarrers und über die Frage der Angemessenheit der Gehaltszahlungen gab es eine heftige Auseinandersetzung mit den Erben, die die Akten füllt; vgl. EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 53 Pers. Akte Willi Perquy. Rechtsstreit. 209 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 53 Pers. Akte Schmitt-Auer. 289
Joachim Conrad
vikariat in Mainz auf und kehrt in die römisch-katholische Kirche zurück, wo er als Seelsorger tätig wurde, aber nicht mehr als Priester. Am 4. März 2001 wählte der Kirchenvorstand Oliver van Meeren zum Pfarrer der Saarbrücker Gemeinde; am 8. April erfolgte die Einführung. Unter Pfarrer Oliver van Meeren gab es neue Impulse. So wurde 2001 die Satzung eines Fördervereins zur Erhaltung der Alt-Katholischen Friedenskirche Saarbrücken diskutiert.210 Gleichzeitig sorgte er für die Beendigung des Mietverhältnisses mit der russisch-orthodoxen Gemeinde, das seit dem 1. November 1967 in dieser Form bestand. Nachdem es immer wieder zu Streitigkeiten gekommen war, holte Pfarrer Oliver van Meeren am 25. Oktober 2002 eine Rechtsauskunft der Kanzlei Rapräger, Hoffmann & Partner in Saarbrücken ein.211 Es dauerte nochmals sieben Jahre, bis die Kündigung des Mietverhältnisses 2009 ausgesprochen war.212 Der Innenraum der Friedenskirche wurde nach dem Auszug der Orthodoxen saniert; am „Sonntag vom wiederkehrenden Herrn“ 2017 nahm Oliver van Meeren seinen Abschied und wechselte zur Christkatholischen Kirche, wo er das Amt des Bistumsprotektors mit dem Titel Generalvikar bekleidet.213
6. Die Pfarrer 1874–1879 1880–1896 1896–1906 1906 1906–1932 1933–1938 1938–1939
Pfarrer Dominicus Duren Pfarrer Friedrich Jaskowski Pfarrer Joseph Ultsch Vakanzverwalter Friedrich Czermak Pfarrer Carl Joseph Klotz Pfarrer Arthur Kaminski Pfarrer Paul Heinz Vogel
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 210 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 28 Satzungen. Es liegt eine Liste des Freundeskreises der Alt-Katholischen Gemeinde Saarbrücken vor; vgl. EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 85 Freundeskreis. 211 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 47. Kanzlei Rapräger, Hoffmann & Partner, Saarbrücken, vom 25. Oktober 2002. 212 EZAS Best. 05,1 Alt-Kath. Kgm. Saarbr. 47 Korrespondenz, u. a. mit Bischof Joachim Vobbe und Kündigung des Mietverhältnisses. 213 https://ckk-mission.com/generalvikariat/ [Zugriff am 31. Januar 2021]. 290
Die altkatholische Gemeinde im Saarland
1939–1940 1941–1962 1962–1990 1991–1998 2001–2017 seit 2018
Vakanzverwalter Reinhold Krömer Pfarrer Franz Josef Kaufmann Pfarrer Willi Perqui Pfarrer Heinz Schmitt-Auer Pfarrer Oliver van Meeren Pfarrer Thomas Mayer
Friedrich Czermak, Altkatholischer Pfarrverwalter in Saarbrücken 1906 Hilfsgeistlicher und Vakanzverwalter in Saarbrücken; – 1. Juli 1906 Ernennung zum Pfarrer in Baden-Baden214; – Ende 1907 Ausscheiden aus dem altkatholischen Klerus.215 Dominicus Duren, Altkatholischer Pfarrer in Saarbrü cken, † 1895 1854–1873 Mitglied des Jesuitenordens; – Oktober 1873 Altkatholischer Pfarrer in Zweibrücken; – 4. März 1874 Pfarrverweser in Saarbrücken; – Mai 1874 Streit um die St. EligiusKirche in Burbach; – 6. Dezember 1874 Errichtung der altkatholischen Pfarrei Saarbrücken; – 1874 Gründung eines altkatholischen Lesevereins; – 10. Oktober 1875 Wahl der ersten Gemeindevertretung; – 14. Mai 1876 Bestellung zum Pfarrer von Saarbrücken; – 1879 Pfarrer in Saarbrücken, Kaiserslautern, Zweibrücken, Kusel, Oberstein;216 – 6. August 1879 Absichtserklärung zum Austritt aus dem geistlichen Amt;217 – 12. Juli 1885 Pfarrer in Kaiserslautern. Friedrich Jaskowski, Altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken, * 13. September 1850, † … November 1875 Priesterweihe in Bonn; – 1. Juli 1876 Pfarrer zu Neisse; – Oktober 1879 Dienstantritt als Pfarrer in Kaiserslautern, Zweibrücken, Kusel und Oberstein; – Oktober 1879 Streit mit dem Oberpräsidium der Rheinprovinz um die Einsetzung als Pfarrer in Saarbrücken; – 20. Februar 1880 gerichtliche Verwerfung der Bedenken des Oberpräsidiums; – seit 29. Februar 1880 Bestätigung als Pfarrer in Saarbrücken;218 – 11. März 1880 Einführung zum Pfarrer in Saarbrücken; – 1885 Gründung des (ersten) Frauenvereins; – 26. März 1889 Einleitung einer Spendenaktion für den Bau einer Kirche in Saarbrücken; – 1891 Herausgabe einer polemischen Schrift gegen die Trierer Heilig-Rock-Wallfahrt; – 13. Juni 1892 Einweihung der neuen altkatholischen Friedenskirche; – 1893 Herausgabe der Festschrift zur Einweihung der Friedenskirche; – 1896 Pfarrer in Blumberg; – 1. April 1906 Ernennung zum Pfarrer in Düsseldorf;219 – 1909 Publikation eines Aufsatzes über die Kirchengeschichte des Eusebius.220
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 214 Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt, 4. Folge Nr. 4 (1906), S. 46. 215 Ebda., 4. Folge Nr. 14 (1909), S. 349. 216 Ebda., 1. Jg. Nr. 6 (1879), S. 31. 217 Ebda., 3. Jg. Nr. 1 (1880), S. 3. 218 Ebda., 3. Jg. Nr. 1 (1880), S. 3. Bis zur wirklichen Amtsübernahme in Saarbrücken wirkte Josef Demmel, Bonn, als Vakanzverwalter, nicht zu verwechseln mit dem späten Bischof gleichen Namens. 219 Ebda., 4. Folge Nr. 4 (1906), S. 46. 220 Friedrich Jaskowski: Die Kirchengeschichte des Eusebius von Cäsarea und der Primat, in: Internationale theologische Zeitschrift 17 (1909), S. 104–110. 291
Joachim Conrad Arthur Roger Kaminski, Altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken; – * 21. September 1879 in Tiengen/Baden; – † 30. März 1953 in Klingenmünster/Pfalz; – V.: Paul Kaminski (1836–1907), altkatholischer Pfarrer; M.: Emma Mathilde Barro (1852–1926), Opernsängerin; – verh. mit Josephine Krimm (geb. 3. August 1871 in Offenbach/Main); – Kinder: (1) Hertha Juli 1898 Abitur; – Studium der altkatholischen Theologie in Bonn; – 3. Dezember 1901 Subdiakonatsweihe in der Kapelle des Johanneums in Bonn; – 5. Dezember 1901 Diakonatsweihe in Bonn; – 8. Dezember 1901 Priesterweihe in Bonn; – 15. Dezember 1901 Primizfeier in Tiengen/Baden; – 23. Dezember 1901 Tätigkeit als Vikar bei Pfarrer Adam Josef Steinwachs in Offenbach; – 1. April 1906 Pfarrverweser von Frankfurt/Main und Hanau mit Sitz in Frankfurt/Main;221 – 25. Mai 1913 Wahl zum Pfarrer von Frankfurt/Main;222 – 9. August 1913 Einführung in der neuerrichteten Pfarrei Frankfurt/Main (bis 31. August 1919);223 – 1. September 1919 Pfarrer in Karlsruhe und Landau; – 1. März 1929 Pfarrer in Kaiserslautern; – 15. Januar 1933 Ernennung zum Pfarrverweser von Saarbrücken; – April 1933 Pfarrwahl; – 8. Oktober 1933 Einführung in Saarbrücken durch den Mannheimer Stadtpfarrer Dr. Otto Steinwachs in Offenbach am Main; – 8. Oktober 1934 Gründung des altkatholischen Kirchenchores Saarbrücken; – 20. Oktober 1935 Durchführung eines Saarländisch-Pfälzischen Altkatholikentages; – 9. September 1937 Beginn der Konflikte mit NS-Kirchenvorstandsvertretern; – 2. Dezember 1937 Vermittlungsversuch des Bischofs Erwin Kreutzer; – 1. Juni 1938 Pfarrstellentausch mit Pfarrer Paul Heinz Vogel aus Witten/Ruhr auf Rat des Bischofs; – 1947 Versetzung in den Ruhestand. Franz Josef Kaufmann, Altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken; – * 7. Dezember 1886 in Kreuzebra/Thüringen; – † 12. Juli 1965 in Saarbrücken; – bestattet am 15. Juli 1965 auf dem Hauptfriedhof in Saarbrücken; – verh. mit Afra Loeffler (* 22. März 1886 in Mühlhausen/Thüringen) Studium der katholischen Theologie; – 15. Juli 1913 Priesterweihe in Fulda; – Missionsprediger (bis 1922); – 1. Oktober 1922 Kaplan in Mühlhausen; – Vortragstätigkeit in vaterländischen Vereinen; Konflikt mit der katholischen Kirche; – 1925 Laisierung auf eigenen Antrag; – Kontakt mit dem alt-katholischen Bischof Dr. Georg Moog; – 1927 Publikation des Gedichtbandes „Singende Seele“; – 1928 Eintritt in den Dienst der altkatholischen Kirche; – Vertretung für den erkrankten Pfarrer Dr. Herberts in Breslau; – 1. Oktober 1928 Dienst als Pfarrer in Gottesberg/Schlesien (bis April 1937); – 1. Mai 1933 Eintritt in die NSDAP; – 1. Mai 1937 Pfarrer in der von ihm gegründeten Gemeinde Gleiwitz (bis September 1938); – 1. Oktober 1938 Pfarrer in München (bis März 1941); – 1. April 1941 Pfarrer an der Friedenskirche in Saarbrücken; – 5. Oktober 1944 Zerstörung der Friedenskirche durch einen schweren Luftangriff; – 1952 Vorsitzender des Feuerbestattungsvereins Saarbrücken; – 1961 Wiederaufbau der Friedenskirche; – 1. Oktober 1963 Versetzung in den Ruhestand. Carl Joseph Klotz, Altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken; – * 1856 in Zwiefalten; – † 23. Dezember 1932 in Saarbrücken; – bestattet am 26. Dezember 1932 auf dem Hauptfriedhof
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 221 Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt, 4. Folge Nr. 4 (1906), S. 46. 222 Ebda., 4. Folge Nr. 45 (1913), S. 524. 223 Ebda., 4. Folge Nr. 46 (1913), S. 525. 292
Die altkatholische Gemeinde im Saarland in Saarbrücken; – verh. mit Sofie Friebolin (* 1866, † 29. April 1937, bestattet 2. Mai 1937); – Kinder: (1) Karl († 1967); (2) Agnes (* 31. Dezember 1897) Studium der klassischen Philologie; – Studium der Theologie in Tübingen und Bonn; – 12. Dezember 1885 Priesterweihe; – Vikariat in Breslau; – 1886 Pfarrer in Königsberg; – 1888 Pfarrer in Furtwangen; – 1891–1898 Pfarrer in Nürnberg; – 1898–1906 Pfarrer in BadenBaden; – 1. Juli 1906 Pfarrer in Saarbrücken224 (bis 1932); – 1909 Übernahme der Filialen Zweibrücken, St. Wendel und Ottweiler;225 – 1. Januar 1910 Übergabe von Kaiserslautern an Pfarrer Meißner; – 1. Januar 1910 Umpfarrung von Zweibrücken nach Kaiserslautern;226 – 1910 Einführung des neuen Gesang- und Gebetbuches;227 – 30. Juni 1918 Luftangriff auf Saarbrücken. Reinhold Krömer, Altkatholischer Pfarrverwalter in Saarbrücken April 1939 Vakanzverwalter in Saarbrücken (bis April 1941) Willi Perquy, Altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken; – * 14. Juli 1929 in Oostkamp/Westflandern; – † 2. Januar 1990 in Saarbrücken; – Vater: Jérôme Perquy (1900–1986); Mutter: Florence Mostaert (1902–1991); – verh. am 14. Januar 1962 mit Roswitha Birnhoff (* 21. August 1940 in Dortmund); – Kinder: (1) Adelheid, (2) Gudrun Juli 1929 Taufe; – April 1936 Erstkommunion; – Juni 1941 Firmung; – Studium der Theologie und Philosophie; – 25. Juli 1956 Priesterweihe; – Kaplan beim Internationalen Bauorden; – Tätigkeit als Armeepfarrer, dann Religionslehrer; – 15. November 1961 Übertritt zur altkatholischen Kirche; – 1. November 1962 Pfarrer in Saarbrücken; – 24. Januar 1965 Wahl zum Pfarrer von Saarbrücken; – 1967 Herausgabe der Festschrift zur Wiederindienstnahme der Friedenskirche; – 1987 Ernennung zum Datenschutzbeauftragten des Bistums. Peter Rustemeyer,228 Altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken; – * … † … Studium am Priesterseminar in Paderborn; – Priesterweihe in den USA; – bis 1871 Hilfsgeistlicher in den USA; – Juli bis September 1874 Vakanzverwalter in Saarbrücken Heinz Schmitt-Auer, Altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken; – * 9. September 1938 in Viernheim; – † 3. März 2015 in Ruppertsecken; – bestattet am 14. März 2015 im Friedwald Kirchheimbolanden; – verh. 1987 mit Reinhilde Auer; – Tochter: Mirjam 1970–1987 römischer-katholischer Pfarrer in St. Marien in Großen-Buseck; – Anstoß zur Gründung eines Fastnachtsclubs; – 1987–1990 Leben im Kibbuz von Nes-Amim; – 1990–1998
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 224 Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt, 4. Folge Nr. 4 (1906), S. 47 „Der von der Gemeinde Saarbrücken zum Pfarrer gewählte Pfarrer [Karl Joseph] Klotz in Baden-Baden wurde als solcher vom 1. Juli ab beschäftigt.“ Matthias Ring gibt im Blick auf den Beginn der Tätigkeit in Saarbrücken irrtümlich 1921 an; vgl. Ring: „Katholisch und deutsch“ (wie Anm. 129), S. 583 Fußnote 289. 225 Amtliches Altkatholisches Kirchenblatt, 4. Folge Nr. 19 (1909), S. 374. 226 Ebda., 4. Folge Nr. 23 (1910), S. 400. 227 Ebda., 4. Folge Nr. 26 (1910), S. 411. Den Antrag zur Vereinheitlichung der Gesangbücher stellte Prof. Adolf Thürlings in Bern; doch 1903 wurde der Beschluss betr. das Liturgische Gebetbuch nebst Liederanhang vertagt; vgl. Verhandlungen der achtzehnten Synode der Altkatholiken des Deutschen Reiches, gehalten zu Bonn am 4. Juni 1903. Amtliche Ausgabe, Bonn 1903, S. 12. 228 Die Angaben stammen von Friedrich Jaskowski; vgl. Jaskowski: Einweihung der Friedenskirche (wie Anm. 4), S. 21. 293
Joachim Conrad altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken; – Übersiedelung nach Rupperstecken; – 1999 Übertritt in die römisch-katholische Kirche; – Tätigkeit als Laienseelsorger im Josefstift in Mainz; – Vorsitzender des Heimatvereins Ruppertsecken; – Wanderwart des Pfälzer Wandervereins. Joseph Ultsch, Altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken; – * 16. Oktober 1846 in Pilsen/damals Böhmen; – † 30. April 1907; – verh. mit Elisabeth geb. Bläss; – Kinder: (1) Eva (* 11. Januar 1881), (2) Ottokar (* 5. Aug. 1885), (3) Paul (4. November 1886), (4) Magdalene (23. Juli 1888), (5) Margarethe (* 13. August 1890) 1879–1896 Pfarrer in Blumberg; – 1896 Pfarrer in Saarbrücken (bis März 1906); – 1904 Gründung eines neuen altkatholischen Frauenvereins in Saarbrücken. Paul Heinz Vogel,229 Altkatholischer Pfarrer in Saarbrücken; – * 6. September 1900 in Düsseldorf; – † 18. Juni 1975 in Aachen 1919 Abitur in Düsseldorf; – 1919–1923 Studium der kath. Theologie in Bonn; – 1923–1924 Studium der kath. Theologie am Priesterseminar Köln; – 14. August 1924 Priesterweihe in Köln; – 1. September 1924 Seelsorge im Raum Köln (bis 7. April 1930); – April 1930 Übertritt zur altkatholischen Kirche; – 8. April 1930 Hilfstätigkeit in Zell im Wiesental; – Oktober 1930 Aufnahme in die altkatholische Geistlichkeit; – 16. November 1930 Hilfsgeistlicher in Freiburg im Breisgau; – 15. Januar 1931 Hilfsgeistlicher in Mannheim; – 8. März 1931 Pfarrwahl in Witten/Ruhr; – Sekretär der deutschen Abteilung des Willibrodbundes; – 5. Juni 1938 Einführung als Pfarrer von Saarbrücken durch den Bonner Ordinariatsrat Prof. Dr. Hermann Keussen; – 24. März 1939 Ankündigung des Rücktritts von der Pfarrstelle in Saarbrücken; – 14. Oktober 1940 Ausscheiden auf eigenen Antrag; – 15. Oktober 1940 Wechsel zum Bistum Wien; Pfarrer in Linz (bis 30. November 1947); – 1. Dezember 1947 Pfarrer in Offenbach (bis 30. Mai 1953); – 1. Juni 1953 Direktor des Volkshochschulwesens in Offenbach (bis 31. Dezember 1963); – 7. April 1968 Pfarrer in Aachen; – 20. Januar 1971 Eintritt in den Ruhestand.
7. Nachwort Für eine umfassende Darstellung der Gemeindegeschichte sind die Akten im Bischöflichen Archiv Bonn, Gregor-Mendel-Str. 28, zu Rate zu ziehen. Frau Prof. Dr. Angela Berlis, Bern, benennt drei Akten,230 dazu auch Akten aus dem 20. Jahrhundert bis in die aktuelle Zeit (zumeist Jahresberichte), dazu die Personalakten der Geistlichen.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 229 Vgl. Ring: „Katholisch und deutsch“ (wie Anm. 129), S. 177. 230 Karton mit der Signatur 2.180–184; die Laufzeit beginnt 1874. 294
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
100 Jahre parlamentarische Vertretung der Bevölkerung des Schwerindustriegebietes an der Saar: Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 Von Michael Sander
Der Landesrat des Saargebietes war ein – wenn auch minder berechtigter – Vorläufer des Landtages des Saarlandes in dem kleineren Saargebiet. Er war das erste frei und demokratisch gewählte Parlament, das die Bevölkerung des deutschen Teiles des Schwerindustriegebietes an der Saar als Ganzes vertrat. Vor hundert Jahren begann er seine Tätigkeit.
Die Verwaltung des Saargebietes unter den Regelungen des Versailler Friedensvertrages Nach dem Inkrafttreten des Versailler Friedensvertrages war mit der Übernahme der Verwaltung durch die internationale Regierungskommission am 26. Februar 1920 erstmals wieder nach der Grafschaft Nassau-Saarbrücken eine Verwaltungseinheit entstanden, die zur Grundlage für das heutige Bundesland Saarland wurde. Im Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 wurden im Vierten Abschnitt, Artikel 45 bis 50 Regelungen über das „Saarbecken“ getroffen.1 Artikel 45 bestimmte den Übergang des Eigentums der Kohlegruben an der Saar: „Als Ersatz für die Zerstörung der Kohlengruben in Nordfrankreich und in Anrechnung auf den Betrag der Wiedergutmachung von Kriegsschäden, die Deutschland schuldet, tritt letzteres an Frankreich das vollständige und un⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 1 Reichsgesetzblatt 1919, S. 689. 295
Michael Sander
beschränkte Eigentum an den Kohlengruben im Saarbecken ab, wie dieses im Artikel 48 abgegrenzt ist.“ Artikel 49 regelte die Verwaltung des in Artikel 48 festgelegten Gebietes, bei dem es sich um das Arbeitereinzugsgebiet der Saargruben handeln sollte: „Deutschland verzichtet zugunsten des Völkerbundes, der hier als Treuhänder erachtet wird, auf die Regierung des oben genau festgesetzten Gebietes. Nach Ablauf einer Frist von 15 Jahren nach Inkrafttreten dieses Vertrages wird die Bevölkerung dieses Gebietes aufgefordert werden, sich für diejenige Staatshoheit zu entscheiden, unter welche sie zu treten wünscht.“ In einer Anlage zu diesen Artikeln wurde im Kapitel 2 „Die Regierung des Gebietes des Saarbeckens“ geregelt. Diese „wird einer Kommission anvertraut, die den Völkerbund vertritt. Diese Kommission wird ihren Sitz im Gebiet des Saarbeckens haben.“ (§ 16). Die fünf Mitglieder der Regierungskommission wurden vom Rat des Völkerbundes ernannt. „Ihm gehören an ein Franzose, ein aus dem Saarbeckengebiet stammender und dort ansässiger Nichtfranzose und 3 Mitglieder, die drei anderen Ländern als Frankreich und Deutschland angehören.“ (§ 17). Nur eines der fünf Mitglieder sollte ein Saarländer sein, keines ein Deutscher. Die Regierungskommission sollte „alle Regierungsgewalt, die früher dem Deutschen Reich, Preußen und Bayern zustand“, besitzen (§ 18). Neben der Exekutive sollte sie nach § 23 auch die Legislative und nach § 26 auch die Steuerhoheit ausüben. Allerdings sollten in den Fällen, wenn die Gesetze und Verordnungen, die am 11. November 1918 gegolten hatten, geändert werden mussten, diese Änderungen „nach Anhörung der gewählten Vertreter der Einwohner beschlossen und ausgeführt werden“ (§ 23 Abs. 2). „Außer Zollabgaben darf ohne vorherige Befragung der gewählten Vertreter der Einwohner keine neue Abgabe erhoben werden.“ (§ 26, Absatz 3, Satz 2).
Die Einrichtung eines Landesrates 1922 und ihre Vorgeschichte Über zwei Jahre lang bis Juli 1922 befolgte die Regierungskommission des Völkerbundes diese Paragrafen des Versailler Friedensvertrages über die Beteiligung der Bevölkerung durch eine Anhörung der Landkreistage und des
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Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
Stadtrates der kreisfreien Stadt Saarbrücken für den ehemals preußischen Bereich und der Bezirkstage für den ehemals bayerischen Bereich.2 Zwar war die Freiheit der Parteien im Saargebiet des Völkerbundes gesichert, „aber es existierten im Saargebiet der Völkerbundsregierung zunächst keine politisch-staatlichen Organe, innerhalb derer sie zur Geltung kommen konnten.“3 Die kommunalen Gebietskörperschaften „waren von lokalen Gesichtspunkten, nicht aber von größeren politischen Konzeptionen bewegt […], und ihre Mitglieder besaßen oft auch nicht die Voraussetzungen zu bedeutungsvolleren Entscheidungen.“4 Eine Institution, in der die Parteien Konzeptionen für das gesamte Saargebiet entwickeln und durchsetzen konnten, fehlte. „Die Saarbevölkerung hatte jedoch 1918/19 am Umbruch in Deutschland besonderen Anteil genommen und wünschte dieselbe Entwicklung.“5 „Viele der entscheidenden Veränderungen im deutschen Verfassungs- und Rechtsleben der Weimarer Republik beruhten zudem gerade auf der Aufnahme der Ideenwelt der westlichen Demokratien, und ihr Fehlen im Land der Völkerbundsverwaltung schien unverständlich.“6 Am 20. Juli 1920 verfassten die meisten politischen Parteien eine „Eingabe an die Regierungskommission, in der sie um die Einsetzung einer Volksvertretung für das Saargebiet baten.“7 Im September 1921 reiste eine große saarländische Delegation8 aus Vertretern der Wirtschaft, der großen Parteien und der Gewerkschaften ohne Wissen der Regierungskommission nach Genf zur Sitzung des Völkerbundsrates, um diesen über die Lage an der Saar zu informieren. In einer Denkschrift vom Dezember 19219 wurde gefordert: „Ein Völ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 2 Verordnung betr. die Errichtung 1. eines Landesrates 2. eines Studienausschusses vom 24. März 1922, in: Amtsblatt der Regierungskommission des Saargebietes. Amtliches Anzeigeblatt für das Saargebiet, verbunden mit Öffentlichem Anzeiger, hg. vom Generalsekretariat der Regierungskommission [= ABl.SAL], 3. Jg. Nr. 5 vom 25. März 1922, S. 41, Art. 17. 3 Vgl. Maria Zenner: Parteien und Politik im Saargebiet unter dem Völkerbundsregime 19201935. Saarbrücken 1966 (= Veröffentlichungen der Kommission für saarländische Landesgeschichte und Volksforschung, Band III), S. 58; dazu auch: Hellmut Katsch: Regierung und Volksvertretung im Saargebiet. Diss. Leipzig 1930 (= Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, Heft 57); Helmut Hirsch: Die Saar von Genf. Die Saarfrage während des Völkerbundsregimes von 1920 bis 1935. Bonn 1954 (= Rheinisches Archiv, Band 46). 4 Ebda. 5 Ebda. 6 Ebda. 7 Ebda., S. 61. 8 Ebda., S. 64‒65. 9 Ebda., S. 66‒67. 297
Michael Sander
kerbundland darf nicht autokratisch regiert werden. Deshalb muß statt der Kreisgremien ein saarländisches Parlament geschaffen werden, dessen Gutachten in der Gesetzgebung berücksichtigt werden.“10 In der Weltöffentlichkeit entstand eine Diskussion über die Lage an der Saar. „Zunächst verweigerten die Kreistage und der Stadtrat von Saarbrücken in schriftlichen Resolutionen an den Völkerbund die weitere Erstellung von Gutachten zu Gesetzentwürfen mit der Begründung, daß ihre Stellungnahme nicht beachtet worden sei und daß sie für diese Aufgaben nicht kompetent seien.“11 „In enger Zusammenarbeit zwischen Regierungskommission und Sekretariat wurde deshalb die Verordnung über die Erstellung eines Landesrates erarbeitet.“12 Am 18. März und am 6. April 1922 veröffentlichten die saarländischen Parteien Denkschriften, die zahlreiche Forderungen zu der Organisation und den Kompetenzen eines Landesrates aufstellten. Der Völkerbundsrat erfüllte sie aber nicht. In dem Bericht des Vertreters der Republik China, Wellington Koo, zu dem Beschluss des Völkerbundsrates vom 26. März 1922 erklärte Koo: „Die ganz besonderen Verhältnisse des Saargebietes, die sich aus der Tatsache ergeben, daß sein endgültiges Geschick durch eine Volksabstimmung entschieden wird, und daß inzwischen sehr ausgedehnte Rechte auf wirtschaftlichem Gebiet Frankreich übertragen worden sind, haben zu der Notwendigkeit geführt, der Regierungskommission in dem Vertrag selbst Rechte zu verleihen, die über die sonst einer verfassungsmäßigen Regierung zustehende [sic!] Rechte hinausgehen. So kommt es, daß die Regierungskommission das Recht hat, in Kraft befindliche Gesetze und Verordnungen abzuändern und neue Steuern einzuführen. Richtig ist es, daß in diesen Fällen die Regierungskommission verpflichtet ist, die gewählten Vertreter der Bevölkerung zu hören, aber ebenso richtig ist es auch, daß die Regierungskommission nicht diesen gewählten Vertretern verantwortlich ist, sondern nur dem Völkerbundsrat. […]. Die Versammlung wird die Aufgabe eines beratenden Ausschusses zu erfüllen haben. […]. Der Völkerbund könnte der Regierungskommission nicht gestatten, sich der ihr übertragenen Befugnisse zu entäußern. Es ist die Pflicht des Völkerbundes, darüber zu wachen, daß die Regierungskommission immer in der Lage ist, ihr Amt gemäß dem Friedensvertrag auszuüben. Es wäre daher für die Regierungs⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 10 Ebda., S. 67. 11 Ebda., S. 66. 12 Ebda., S. 68. 298
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
kommission unzulässig, entgegen dem Friedensvertrag ein saarländisches Parlament zu errichten, dem die Regierungskommission verantwortlich ist und welches die von dem Völkerbundsrat ernannte Kommission hindern könnte, ihr Amt zu versehen. [… ] Im Übrigen bestimmt die Verordnung ausdrücklich, daß alle Beratungen über Fragen, zu deren Beratung der Landesrat im Laufe seiner Tagung nicht berufen war, nichtig sind. Die Verordnung enthält weiter die Bestimmung, daß alle Verhandlungen, Anträge oder Beschlüsse, die, sei es unmittelbar, sei es mittelbar darauf hinausgehen, den durch den Friedensvertrag oder durch die nachfolgenden Verordnungen der Regierungskommission geschaffenen Rechtszustand zu beeinträchtigen, nichtig sind.“13 Der Völkerbundsrat stimmte der Verordnung in der Version der Regierungskommission zu. „Die Saarländer selbst waren mit dem Erreichten in keiner Weise zufrieden. Sie versuchten deshalb zunächst, den Landesrat zunächst einmal im Sinne der Demonstration für ihre Forderungen zu benützen. Durch ihr hartnäckiges Drängen erreichten sie bei der Eröffnung des Landesrates die Einwilligung Raults [des französischen Präsidenten der Regierungskommission] zur Abgabe programmatischer Erklärungen, die nach dem Gesetz nicht möglich waren.“14 So errichtete die vom Völkerbund eingesetzte Regierungskommission des Saargebietes erst zwei Jahre nach ihrem Amtsantritt in Ausführung der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages am 24. März 1922 durch Verordnung „einen Landesrat zur Begutachtung aller Gesetz- und Verordnungsentwürfe, bei denen gemäß §§ 23 [Gesetzgebung] und 26 [Steuerhoheit] der Anlage zu Abschnitt IV (Teil 3) des Friedensvertrages die gewählten Vertreter der Bevölkerung anzuhören sind“ (Art 1, Ziff. 1).15 In Artikel 2 wurde die Wahl des Landesrates geregelt: „Der Landesrat besteht aus dreißig Mitgliedern. Die Wahlen erfolgen durch allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Listenwahl nach den Grundsätzen der Verhältnis-
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 13 Errichtung eines Landesrats und eines Studienausschusses. Bericht S[einer] Exc[ellenz] des Herrn Wellington Koo, angenommen durch Beschluß vom 26. März 1922. ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 6 vom 31. März 1922, S. 55. 14 Vgl. Zenner: Parteien (wie Anm. 3), S. 70. 15 Verordnung betr. die Errichtung 1. eines Landesrates 2. eines Studienausschusses vom 24. März 1922, in: ABl.SAL 3. Jg. Nr. 5 vom 25. März 1922, S. 41. 299
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wahl. […] Das Saargebiet bildet einen einzigen Wahlbezirk.“16 Dieses Wahlrecht entsprach den allgemeinen demokratischen Gepflogenheiten. In Artikel 3 wurde die Wahlberechtigung erklärt: „Wahlberechtigt sind alle Personen ohne Unterschied des Geschlechts, die die Eigenschaft eines Saareinwohners haben und am Tage der Wahl das 20. Lebensjahr vollendet haben.“17 Das aktive Wahlrecht sollte an der Saar bis zur Herabsetzung des Volljährigkeitsalters auf achtzehn Jahre bei zwanzig Jahren verbleiben. Die Eigenschaft eines Saareinwohners ersetzte nicht die deutsche Staatsbürgerschaft, da diese nicht aufgehoben worden war (§ 27, Versailler Friedensvertrag, Anlage). Das Frauenwahlrecht, das schon für die Wahlen zu den verfassunggebenden Versammlungen des Deutschen Reiches und Preußens an der Saar nach der Revolution von 1918 gegolten hatte, wurde beibehalten. In Frankreich wurde es erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingeführt. In Artikel 4 wurde die Wählbarkeit definiert: „Wählbar sind ohne Unterschied des Geschlechts alle wahlberechtigten Personen, welche am Wahltag das 25. Lebensjahr vollendet haben, aus dem Saargebiet stammen, dort tatsächlich wohnen und weder Mitglied einer nicht-saarländischen Vertretung sind, noch ein öffentliches Amt außerhalb des Saargebiets bekleiden.“18 Die Mitgliedschaft in einem nicht saarländischen Parlament und eine andre politische Funktion in Deutschland sollte auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einen Anlass für einen Verlust der saarländischen Staatsangehörigkeit bilden. Der Landesrat umfasste dreißig Mitglieder. Die Wahlperiode sollte drei Jahre dauern (Art 6). „Die Mitglieder des Landesrats werden auf die Dauer von drei Jahren gewählt. [...] Die Wahlperiode der Mitglieder der ersten Versammlung endet ausnahmsweise am 1. Oktober 1923.“19 Artikel 7 bestimmte eine Diätenzahlung für die Abgeordneten des Landesrates: „Die Mitglieder und der Vorsitzende des Landesrats erhalten eine jährliche Aufwandsentschädigung, deren Höhe durch die in Artikel 16 vorgesehene Geschäftsordnung festgesetzt wird.“20
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 16 Ebda. 17 Ebda. 18 Ebda. 19 Ebda. 20 Ebda. 300
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
In Artikel 8 der Verordnung wurde die Zuständigkeit des Landesrates auf die Begutachtung der Vorlagen der Regierungskommission beschränkt: „Der Landesrat ist nur berufen, bei Vermeidung der Nichtigkeit, über diejenigen Gegenstände zu beraten, die ihm gemäß Artikel 1 Ziffer 1 dieser Verordnung überwiesen werden und die auf der dem Einberufungsschreiben anliegenden Tagesordnung aufgeführt sind. […] Insbesondere sind alle Verhandlungen, Anträge und Entschließungen unwirksam, die unmittelbar oder mittelbar den durch den Friedensvertrag von Versailles oder den durch die nachfolgenden Verordnungen der Regierungskommission in dem Saargebiet geschaffenen Rechtszustand betreffen. […] Der für jedes Rechnungsjahr aufgestellte Haushaltsplan wird dem Landesrat zur Kenntnis mitgeteilt.“21 Die Regierungskommission war nicht an die „Gutachten“ des Landesrates gebunden. Die Regierungskommission war nur dem Völkerbundsrat verantwortlich, nicht der Bevölkerung des Saargebietes. Die im Versailler Vertrag proklamierten demokratischen Grundsätze wurden missachtet. Der Präsident des Landesrates wurde von der Regierungskommission ernannt, nicht vom Landesrat gewählt. Der erste Präsident Bartholomäus Koßmann (Zentrum) wurde noch nicht einmal aus der Zahl der gewählten Landesratsmitglieder bestimmt. 1924 wurde er vom Völkerbundsrat zum saarländischen Mitglied der Regierungskommission gewählt, der er bis zum Ende ihrer Tätigkeit angehörte. Sein Nachfolger als Präsident des Landesrates wurde der Journalist Peter Scheuer aus St. Ingbert, Mitglied der Zentrumsfraktion des Landesrates, dessen Ernennung allerdings mit dem Landesrat abgestimmt worden war. Dennoch wurde der Landesrat zum Sprachrohr der saarländischen Bevölkerung vor allem gegenüber den Gremien des Völkerbundes in Genf. Außerhalb der Tagesordnung führte er Debatten zu allgemeinen Fragen der Lage des Saargebietes. Mehrmals besuchten Delegationen des Landesrates den Völkerbund in Genf. Der Landesrat tagte zuerst in der Aula der Oberrealschule (heute Otto-HahnGymnasium) am Landwehrplatz in Saarbrücken, ab dem 30. Juni 1925 im „Neuen Sitzungssaal“ des 1923 vollendeten Anbaues des Saarbrücker Rathauses. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 21 Ebda. 301
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Die Landesratswahlen 1922 bis 1932, die Wahlbeteiligung an der Saar und die vier Wahlperioden Obwohl die Wahlbeteiligung bei den Reichstagswahlen von 1890 bis 191222 in den – allerdings über das Saargebiet hinausreichenden Wahlkreisen – im Durchschnitt zwischen 89 Prozent und 68 Prozent betrug, ging die Beteiligung bei den vier Wahlen für den Landesrat auf einen Durchschnitt von 66,5 Prozent zurück. Sie stieg allerdings von 1922 bis 1932 von 55 Prozent auf 77 Prozent. Tab. 1: Wahlbeteiligung bei den Reichstagswahlen 1890 bis 1912 in Prozent (nur Hauptwahlen, ohne Ergänzungswahlen) Wahlkreis Saarbrücken Ottweiler Saarlouis Zweibrücken Homburg
1890
1893
1898
1903
1907
1912
Durchschnitt
78 87 63 82 62
81 83 60 82 65
73 83 53 77 49
87 88 68 89 71
90 95 88 91 80
90 95 74 89 78
83,17 88,50 67,67 85,00 67,50
Tab. 2: Wahlbeteiligung bei den Landesratswahlen im Saargebiet 1922 bis 1932 (in Prozent) Wahlkreis
1922
1924
1928
1932
Durchschnitt
55
68 + 13
66 -2
77 + 11
66,5
Am 24. März 1922 wurde die Verordnung erlassen „betr. die Errichtung 1. eines Landesrates 2. eines Studienausschusses“ mit dem Ziel, „einen Landesrat zur Begutachtung aller Gesetz- und Verordnungsentwürfe, bei denen gemäß §§ 23 [Gesetzgebung] und 26 [Steuerhoheit] der Anlage zu Abschnitt IV (Teil 3) des Friedensvertrages die gewählten Vertreter der Bevölkerung anzuhören sind“ (Art 1, Ziff. 1)23 einzurichten. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 22 Vgl. Carl-Wilhelm Reibel (Hg.): Handbuch der Reichstagswahlen 1890-1918. Bündnisse – Ergebnisse – Kandidaten. 2 Halbbände. (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 15) Düsseldorf 2007. 23 Verordnung betr. die Errichtung 1. eines Landesrates 2. eines Studienausschusses vom 24. März 1922, in: ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 5 vom 25. März 1922, S. 41. Ich danke David Schnur für die Korrektur von Daten des Amtsblattes. Der Verfasser. 302
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
Die 1. Wahlperiode des Landesrates war schon in der Errichtungsverordnung mit dem 1. Oktober 1923 beendet, also auf ein Jahr statt normalerweise drei Jahre begrenzt worden. Am 26. September 1923 wurde die 1. Wahlperiode um einen Monat bis zum 1. November 1923 verlängert.24 Am selben Tag wurden die Neuwahlen zur 2. Wahlperiode auf den 2. Dezember 1923 festgelegt.25 Am 15. November 1923 wurden die Neuwahlen abermals jetzt auf den 27. Januar 1924 verschoben.26 Am 28. November 1923 wurde die laufende Sitzungsperiode des Landesrates „am heutigen Tage“ geschlossen.27 21. April 1922 19. Mai 1922 20. Mai 1922 30. Mai 1922 18. Juni 1922 27. Juni 1922 25. Juni 1922 10. Juli 1922 11. Juli 1922 19. Juli 1922 31. Oktober 1922
Erlaß betr. die Aufstellung von Wahllisten für die Wahlen zum Landesrat vom 21. April 192228 Verordnung betr. die Wahlen zum Landesrat vom 19. Mai 192229 Ernennung (Wahlkommissar zum Landesrat): Landrat Dr. Maurer30 Bekanntmachung betreffend die Wahlen zum Landesrat: Aufforderung zur Einreichung von Wahlvorschlägen und Bekanntgabe der Zusammensetzung des Wahlausschusses vom 30. Mai 192231 Bekanntmachung betr. Wahlvorschläge für die Wahlen zum Landesrat.32 Bekanntmachung betr. die Wahlen zum Landesrat: Sitzung des Wahlausschusses zur Ermittlung des Wahlergebnisses am 30. Juni 192233 Wahlen zum 1. Landesrat34 Erlaß betr. Einberufung des Landesrates35 Erlaß betr. Ernennung des Vorsitzenden des Landesrates36 Konstituierende Sitzung des Landesrates Geschäftsordnung für den Landesrat37
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 24 Verordnung betreffend die Verlängerung der Mandatsdauer der Mitglieder des Landesrats und Studienausschusses vom 26. September 1923, in: ABl.SAL 4. Jg. Nr. 23 vom 1. Oktober 1923, S. 201. 25 Erlaß betreffend den Zeitpunkt der Neuwahlen zum Landesrat und die Aufstellung der Wählerlisten vom 26. September 1923, in: ABl.SAL. 4. Jg. Nr. 23 vom 1. Oktober 1923, S. 201. 26 Erlaß betreffend die Wahlen zum Landesrat vom 15. November 1923, in: ABl.SAL. 4. Jg. Nr. 27 vom 15. November 1923, S. 242. 27 Erlaß betreffend die Sitzungsperiode des Landesrats vom 28. November 1923, in: ABl.SAL. 4. Jg. Nr. 28 vom 8. Dezember 1923, S. 246. 28 ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 10 vom 15. Juni 1922, S. 97. 29 ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 8 vom 20. Mai 1922, S. 76. 30 Ebda., S. 80. 31 ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 10 vom 15. Juni 1922, S. 98. 32 ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 11 vom 24. Juni 1922, S. 105. 33 ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 12 vom 5. Juli 1922, S. 120. 34 Bekanntmachung betreffend die Wahlen zum Landesrat vom 1. Juli 1922, in: ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 13 vom 8. Juli 1922, S. 128. 35 ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 14 vom 15. Juli 1922, S. 131. 36 Ebda., S. 132. 303
Michael Sander 1. Wahlperiode
2. Dezember 1923 23. Dezember 1923 2. Januar 1924 18. Januar 1924 28. Januar 1924 27. Januar 1924 11. Februar 1924 14. Februar 1924 2. Wahlperiode 5. März 1924 24. März 1924 21. Juli 1924 5. Februar 1925 18. Februar 1928 3. März 1928 13. März 1928
(bis zum 1. Oktober 1923): 28 Sitzungen Verordnung vom 24. März 1922 Artikel 6: Wahlperiode von drei Jahren; erste Wahlperiode aber nur bis 1. Oktober 1923, dann erstmals verlängert bis zum 1. November 192338 und ein zweites Mal verlängert bis zum 1. Dezember 1923. Letzte Sitzung am 28. November 1923. Erster angeordneter Wahltermin zur 2. Wahlperiode Neuwahlen zum Landesrat: Aufforderung zur Einreichung von Wahlvorschlägen39 Bekanntmachung betr. Neuwahlen zum Landesrat40 Bekanntmachung betr. Wahlvorschläge für die Wahlen zum Landesrat41 Ausführungsbestimmungen betr. Neuwahlen zum Landesrat42 Wahlen zum 2. Landesrat43 Bekanntmachung betr. die Neuwahlen zum Landesrat: Einberufung des Wahlausschusses; Mitgliederwechsel44 Ausführungsbestimmungen für die Wahlen zum Landesrat45 (bis zum 4. Dezember 1926): 40 Sitzungen Erste Verlängerung der Wahlperiode um ein Jahr, zweite Verlängerung der Wahlperiode bis zum 31. März 1928. Konstituierende Sitzung der 2. Wahlperiode Ernennung zum stellvertretenden Vorsitzenden des Landesrates des Saargebietes (Scheuer)46 Bek[anntmachung] betr. die Aufstellung von Wahllisten für die Wahlen zum Landesrat47 Erklärung Heckler: Ausschluss von Reinhard und Ulrich aus KPD und aus Kommunistischer Landesratsfraktion; Gegenerklärung Reinhard Aufforderung zur Einreichung von Wahlvorschlägen für die Neuwahlen zum Landesrat48 Letzte Sitzung Zusammensetzung und Sitzung des Wahlausschusses für die Wahlen zum Landesrat
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 37 ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 23 vom 1. Oktober 1923, S. 201. 38 Verordnung betr. die Verlängerung der Mandatsdauer der Mitglieder des Landesrates und Studienausschusses vom 26. September 1923, in: ebda., S. 201. 39 Bekanntmachung vom 23. Dezember 1923, in: ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 1 vom 8. Januar 1924, S .3. 40 ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 1 vom 8. Januar 1924, S. 3 . 41 ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 3 vom 22. Januar 1924, S. 22. 42 ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 4 vom 5.Februar 1924, S. 31. 43 Bekanntmachung betreffend die Wahlen zum Landesrat vom 16. Februar 1924, in: ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 7 vom 23. Februar 1924, S. 87. 44 ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 7 vom 23. Februar 1924, S. 88. 45 Ebda., S. 94. 46 ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 13 vom 11. April 1924, S. 148. 47 ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 10 vom 11. März 1924, S. 127. 48 ABl.SAL. 9. Jg. Nr. vom 22. Februar 1928, S. 65. 304
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 19. März 1928 27. März 1928 25. März 1928 31. März 1928
Bekanntmachung betr. Wahlvorschläge für die Wahlen zum Landesrat49 Neuwahlen zum Landesrat50 Wahlen zum 3. Landesrat51 Wahlen zum Landesrat52
3. Wahlperiode 3. Mai 1928 2. November 1928 12. Dezember 1928 20. Juni 1929
(1. April 1928 bis 31. März 1932): 24 Sitzungen Konstituierende Sitzung der 3. Wahlperiode Landesrats-Statut Verordnung betr. Änderung des Landesrats-Statuts vom 2. November 1928 Erklärung Daub: Ausschluss von Reinhard und Weis aus KPD und aus Kommunistischer Landesratsfraktion; Gegenerklärung Reinhard 1929 Fraktion Kommunistische Partei (Opposition) 24. November 1931 Letzte Sitzung 20. Januar 1932 Verordnung betr. die Wahlen zum Landesrat53 30. Januar 1932 Ausführungsbestimmungen zur Verordnung vom 20. Januar 1932 betreffend die Wahlen zum Landesrat54 4. Februar 1932 Ernennung des Wahlkommissars55 4. Februar 1932 Bekanntmachung betreffend Aufforderung zur Einreichung von Wahlvorschlägen für die Neuwahlen zum Landesrat56 7. März 1932 Bekanntmachung betreffend Wahlvorschläge für die Wahlen zum Landesrat57 13. März 1932 Bekanntmachung über die Einberufung des Wahlausschusses zur Ermittlung des endgültigen Wahlergebnisses der Landesratswahlen vom 13. März 193258 13. März 1932 Wahlen zum 4. Landesrat59 16. März 1932 Wahlausschuß (Änderung)60 4. Wahlperiode 28. April 1932
(1. April 1932 bis 28. Februar 1935): 26 Sitzungen Konstituierende Sitzung der 4. Wahlperiode
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 49 ABl.SAL. 9. Jg. Nr. 13 vom 22. März 1928, S. 103. 50 ABl.SAL. 9. Jg. Nr. 14 vom 29. März 1928, S. 119. 51 Bekanntmachung betreffend die Wahlen zum Landesrat vom 31. März 1928, in: ABl.SAL. 9. Jg. Nr. 17 vom 15. April 1928, S. 142. 52 Ebda. 53 Verordnungen, Erlasse, Verfügungen und Bekanntmachungen der Regierungskommission des Saargebietes, verbunden mit Öffentlichem Anzeiger, hg vom Generalsekretariat der Regierungskommission. (= ABl.SAL.), 13. Jg. Nr. 4 vom 22. Januar 1932, S. 42. 54 Ebda. Nr. 5 vom 1. Februar 1932, S. 45. 55 Ebda. Nr. 6 vom 8. Februar 1932, S. 45. 56 Ebda., S. 61. 57 Ebda. Nr. 10 vom 8. März 1932, S. 99. 58 Ebda. Nr. 11 vom 15. März 1932, S. 108. 59 Bekanntmachung betreffend das endgültige Ergebnis der Wahlen zum Landesrat 1932 vom 19. März 1932, in: ebda. Nr. 12 vom 22. März 1932, S. 116. 60 Ebda. Nr. 12 vom 22. März 1932, S. 116. 305
Michael Sander 24. Oktober 1933 28. Dezember 1934 30. Januar 1935
Fraktion der Deutschen Front aus Z, DSVP, DWP und NSDAP (s.u.) Letzte Sitzung Gesetz über die vorläufige Verwaltung des Saarlandes61, § 6 „Es fallen fort […], der Landesrat, der Studienausschuß, […].“ § 10 „Das Gesetz tritt mit dem auf die Verkündung fehlenden Tage, im Saarland mit dem 1. März 1935 in Kraft.“
1932 zeigten sich die Folgen der Weltwirtschaftskrise. Die Anzahl der kommunistischen Abgeordneten stieg auf das Dreifache. Die Zahl der katholischen Abgeordneten nahm nur um zwei ab. Dies geschah allerdings bereits 1924. Die Zahl der SPD-Abgeordneten stieg 1924 noch um einen an, aber bis 1932 verringerte sie sich auf die Hälfte. Die Liberalen und die Vereinigung für Handwerk und Landwirtschaft hatten 1922 noch das 2½-fache an Abgeordnetensitzen gegenüber 1932 errungen. Am 24. Oktober 1933 schlossen sich die bürgerlichen Parteien Zentrum, Deutsch-Saarländische Volkspartei, Deutsche Wirtschaftspartei und die NSDAP zur „Fraktion der Deutschen Front“ zusammen.
Die vier Wahlen zum Landesrat, die Parteien und die gewählten Abgeordneten von 1922 bis 1934 Tab. 3: Erfolgreich kandidierende Parteien und Fraktionen im Landesrat
CSP DDP DNVP
KP
Partei
Jahr
Anzahl der Sitze
Christlich Soziale Partei des Saargebiets Deutsch-Demokratische Partei, 1928 Deutsche Demokratische Partei, 1932 Deutsche Staatspartei, Landesverband Saargebiet Deutschnationale Volkspartei, 1932 Deutschnationale Volkspartei des Saargebietes Kommunistische Partei
1928
1
1928
1
1928
1
1922 1924 1928 1929 1929 1932
2 5 5 2 3 8
1928 Kommunistische Partei Deutschlands ab 1929 Ausschluss der KP(O) (2Sitze)
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 61 RGBl I 1935, S. 66. 306
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
Fortsetzung Tab.3: Partei
Jahr
NSDAP
National-Sozialistische Arbeiterpartei – Hitler, ab 24. Oktober 1933 Fraktion: Deutsche Front
1932
2
SPD
Sozialdemokratische Partei, 1932 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) Bezirk Saargebiet
1922 1924 1928 1932
5 6 5 3
1922
4
VHL
Vereinigung von Hausbesitz und Landwirtschaft, 1924Vereinigung von Hausbesitz und Landwirtschaft – Deutscher Wirtschaftsbund, 1928 DWP Deutsche Wirtschaftspartei (Ortsgruppe Saargebiet), 1932 Deutsche Wirtschaftspartei des Mittelstandes. Fraktion der Deutsch-Bürgerlichen Mitte, ab 24. Oktober 1933 Fraktion: Deutsche Front
1924
4
1928
3
1932
2
1922
16
1924
14
1928
14
1932
14
1933
19
Z
Zentrumspartei des Saargebietes, ab 24. Oktober 1933 Fraktion: Deutsche Front
Fraktion: Deutsche Front ab 24. Oktober 1933
Anzahl der Sitze
Tab. 4: Zum Landesrat kandidierende Parteien ohne erreichte Sitze
Erste Wahlperiode 25. Juni 1922 Mieterschutz-Vereinigung des Saargebietes B Kriegsopfer des Saargebietes F Unabhängige Sozialdemokratische Partei G (USPD) Zweite Wahlperiode 27. Januar 1924 Deutsch-Nationale Partei D Saarländische Arbeitsgemeinschaft G
307
Prozent
Stimmen
1,4
4137 2030 2715
1,2 2,7
3054 6904
Michael Sander
Fortsetzung Tab. 4: Prozent
Stimmen
1,4
3923
1,5 0,7
5353 2584
1,8
6491
0,9 0,6 1,6
3434 2110 5776
Dritte Wahlperiode 25. März 1928 Deutsche demokratische Partei IV (DDP) Vierte Wahlperiode 13. März 1932 Kommunistische Partei (Opposition) II (KPO) Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands. Bezirk Saar (V SAPD) Arbeiter- und Bauernpartei Deutschlands – (Christlich-radikale Volksfront) Landesverband Saargebiet VI Liste Otto Fried VII Deutsche Staatspartei, Landesverband Saargebiet IX Deutschnationale Volkspartei des Saargebietes XI (DNVP) Tab. 5: Landesratswahlen: Erhaltene Sitze, Prozent und Stimmen Erste Wahlperiode62 25. Juni 1922: 193 304 gültige Stimmen Partei Zentrum SPD LVP VHL KP DDP Mieterschutz-Vereinigung des Saargebietes USPD Kriegsopfer des Saargebietes
Sitze
Prozent
Stimmen
16 5 4 2 2 1
47,7 15,0 12,8 8,3 7,5 3,9 2,1 1,4 1,1
92 252 29 207 24 829 16 063 14 523 7539 4137 2715 2030
Zweite Wahlperiode63 27. Januar 1924: 7 590 411 abgegebene Stimmen ./. 30 = 253 014 Partei Zentrum SPD KP
Sitze
Prozent
Stimmen
./. 30
14 6 5
42,8 18,4 15,9
3 246 511 1 398 949 1 207 211
108 217 46 632 40 241
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 62 Bekanntmachung betreffend die Wahlen zum Landesrat vom 1. Juli 1922, in: ABl.SAL. 3. Jg. Nr. 13 vom 8. Juli 1922, S. 128 63 Bekanntmachung betreffend die Wahlen zum Landesrat vom 16. Februar 1924, in: ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 7 vom 23. Februar 1924, S. 87 308
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
Fortsetzung Zweite Wahlperiode Partei DSVP VHL Saarländische Arbeitsgemeinschaft DNP
Sitze
Prozent
Stimmen
./. 30
4 1
14,8 4,05 2,7 1,2
1 127 258 311 722 207 129 91 631
37 575 10 391 6904 3054
Dritte Wahlperiode64 25. März 1928: 278 424 gültige Stimmen Partei
Sitze
Zentrum SPD KP Fraktion Kommunistische Partei (Opposition) ab 20. Juni 1929 DSVP DNVP CSP DWP DDP
14 5 5 2 3 1 1 1
Prozent 45,3 15,6 16,7 9,06 3,8 3,3 3,2 1,4
Stimmen 129 162 43 557 46 541 26 230 10 536 9321 9154 3923
Vierte Wahlperiode65 13. März 1932: 362 631 gültige Stimmen Partei
Sitze
Zentrum* KP SPD DSVP* NSDAP* DWP* ABPD DNVP KPO Liste Otto Fried SAPD DStP
14 8 3 2 2 1
Prozent 43,2 23,1 9,6 6,6 6,7 3,2 1,8 1,6 1,5 0,9 0,7 0,6
Stimmen 156 615 84 112 35 968 24 152 24 455 11 591 6491 5776 5353 3434 2584 2110
* = ab 24. Oktober 1933 Fraktion: Deutsche Front
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 64 Bekanntmachung betreffend die Wahlen zum Landesrat vom 31. März 1928, in: ABl.SAL. 9. Jg. Nr. 17 vom 15. April 1928, S. 142. 65 Ebda. 309
Michael Sander Tab. 9: Zusammenfassung der Wahlergebnisse der Parteien, die im Landesrat vertreten waren
1922 192466 1928 1932
Z
KP
SPD
LVP/DSVP
VHL/DWP
NSDAP
DDP
DNVP
CSP
92 252 108 217 129 162 156 615
14 523 40 240 46 541 84 112
29 207 46 632 43 557 35 968
24 829 37 575 26 230 24 152
16 036 10 391 9154 11 591
24 455
7539 -
10 536 -
9321 -
Tab. 10: Zusammenfassung der Anzahl der Sitze der Fraktionen im Landesrat Partei KP SPD Zentrum CSP Liberale VHL DNVP NSDAP
I
II
III
IV
Prozent
Änderung
2 5 16
5 6 14
8 3 14
4 1
7,5-23,1 15,0-9,6 47,7-43,2 3,3 16,7-6,6 8,3-3,2 3,8 6,7
x3 ./. 2
5 2
5 5 14 1 3 1 1
2 1 2
./. 2,5 ./. 2,5
Welche politische Entwicklung spielte sich in der Zwischenkriegszeit zwischen der 1. Landesratswahl von 1922 und der 4. Landesratswahl von 1932 – also innerhalb von zehn Jahren – ab? In dieser Zeit gelang der Zentrumspartei ein Stimmenzuwachs von rund 92 000 (1922) auf 157 000 Stimmen (1932). Dies bedeutete einen Zuwachs von rund 65 000 Stimmen, etwa zwei Drittel der ursprünglichen Wählerschaft. Wegen des Anstiegs der Wahlbeteiligung verlor das Zentrum aber sogar fünf Prozentpunkte und zwei Sitze, es sank nämlich auf 14 statt 16 Abgeordnete. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise stieg die Anzahl der kommunistischen Wähler von 1922 bis 1932 auf das 5½ –fache. Die Anzahl ihrer Sitze stieg von zwei auf acht, also auf das Vierfache. Die Anzahl der SPD-Wähler stieg von rund 29 000 (1922) auf rund 36 000 (1932). Sie nahm also um ein Viertel der ursprünglichen Wähler zu. Die gewachsene Gesamtwählerzahl führte aber zu einem um 5,4 Prozentpunkte niedrigeren Anteil und damit zu einem Verlust von drei Sitzen gegenüber dem Höhepunkt 1924. Dieser Höhepunkt von rund 47 000 Stimmen ging bereits 1928 mit ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 66 Veröffentlichte Zahlen geteilt durch dreißig. 310
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
44 000 Stimmen wieder verloren. Die Weltwirtschaftskriese führte dann zu den rund 36 000 Stimmen und nur drei Sitzen. Die liberalen Parteien hatten 1922 zusammen rund 32 000 Stimmen erhalten, 1932 waren es nur noch 24 000, also rund 8000, also ein Viertel, weniger bei höherer Wahlbeteiligung. Die Abgeordnetenzahl sank von fünf auf zwei Mandate. 1924 hatten die liberalen Parteien mit rund 38 000 Stimmen einen Höhepunkt erreicht, der aber bereits 1928 mit rund 26 000 Stimmen wieder verlorenging. Die Vereinigung von Hausbesitz und Landwirtschaft, später Deutsche Wirtschaftspartei, gewann 1922 noch rund 16 000 Stimmen. Nach einem Abstieg 1928 auf nur rund 9000 Stimmen – etwas mehr als der Hälfte – erholte sie sich 1932 auf rund 11 600 Stimmen. Der Verlust gegenüber 1920 betrug nur noch etwa ein Drittel. Die Zahl der Mandate sank von zwei im Jahre 1922 auf jeweils einen Sitz 1928 und 1932. Bei der Wahl 1928 fielen auf die DNVP rund 11 000 Stimmen und auf die CSP rund 9000 Stimmen. 1932 gewann die NSDAP erstmals rund 24 000 Stimmen.
Das neue Wahlsystem der 2. Wahlperiode 1924 bis 1928 Für die Wahl 1924 wurden freie Listen eingeführt und jeder Wahlberechtigte erhielt 30 Stimmen und damit die Möglichkeit, die Landesratsmitglieder einzeln zu wählen. Die Reihenfolge der Kandidaten auf den Listen der Parteien verschob sich daher sehr stark.67 Dies führte dazu, dass diese Wahlmethode in der nächsten Wahl wieder abgeschafft wurde. SPD Dr. Walther Sender, Rechtsanwalt, Saarbrücken Hermann Petri, Verbandssekretär, Neunkirchen Anton Betz, Büroangestellter und Kriegsbeschädigter, Völklingen Johann Peter Hoffmann, Arbeitersekretär, Saarbrücken Bernhard Schneider, Lehrer, Saarbrücken Karl Brettar, Eisenbahnschlosser, Kleinblittersdorf
Stimmen 48 064 47 296 47 034 46 858 46 773 46 742
Listenplätze 3 1 2 4 6 10
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 67 Bekanntmachung betreffend die Wahlen zum Landesrat vom 16. Februar 1924, in: ABl.SAL. 5. Jg. Nr. 7 vom 23. Februar 1924, S. 87. 311
Michael Sander
Bei der SPD wurden die Kandidaten auf den ersten vier Plätzen zwar gewählt, aber ihre Reihenfolge änderte sich. Dr. Walther Sender rückte auf den ersten Platz vor. Hermann Ringle auf Platz 5 wurde nicht gewählt, ebenso Nikolaus Klaß, Bergmann aus Saarwellingen, Michel Boßlet, Eisenbahner aus Erbach, und Johann Baur, Fabrikschlosser aus Merzig, auf den Plätzen 7 bis 9. Hingegen wurde Karl Brettar auf Platz 10 in den Landesrat gewählt. KP
Stimmen
Philipp Reinhardt [sic! MS], Bergarbeitersekretär und Kriegsbeschädigter, Ludweiler Karl Ulrich, Bergmann, Ludweiler Karl Sticher, Eisenbahner, Ottweiler Friedrich Eifler, Metallarbeiter, Neunkirchen Karl Heckler, Bergmann, Wiebelskirchen
40 486 40 315 40 298 40 295 40 292
Listenplätze 1 4 12 11 9
Bei der KP hielt sich Philipp Reinhard auf dem ersten Platz. Karl Ulrich, Karl Heckler, Friedrich Eifler und Karl Sticher rückten auf die vier Plätze vor, die Mitglieder des Landesrates wurden. Die sieben Kandidaten dazwischen wurden von den Wählern nicht in den Landesrat gewählt. VHL
Stimmen 12 015
Jakob Albert, Landwirt, Altheim
Listenplätze 18
Bei der Vereinigung von Hausbesitz und Landwirtschaft ergab sich die größte Verschiebung: Jakob Albert, aufgestellt auf Platz 18, wurde von den Wahlberechtigten gewählt. Der Architekt Gustav Schmoll genannt Eisenwerth aus Saarbrücken erhielt keine Chance. Seine Stimmenzahl wurde – wie bei allen erfolglosen Kandidaten – nicht veröffentlicht. DSVP Dr. Hermann Röchling, Hüttenbesitzer, Völklingen Wilhelm Schmelzer, Malermeister, Saarbrücken Dr. Max von Vopelius, Glashüttenbesitzer, Sulzbach Otto Hussong, Landwirt, Webenheim
Stimmen 44 877 42 269 41 184 40 069
Listenplätze 2 1 4 5
Bei der liberalen Deutsch-Saarländischen Volkspartei löste der Hüttenbesitzer Dr. Hermann Röchling mit 2608 Stimmen Vorsprung den Malermeister Wilhelm Schmelzer aus Saarbrücken von Platz 1 ab. Der Glasunternehmer Dr. Max 312
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
von Vopelius und der Landwirt Otto Hussong erreichten die erfolgreichen Plätze 3 und 4. Der Gewerkschaftssekretär Daniel Schröer auf Listenplatz 3 kam dadurch nicht in den Landesrat. Zentrum Franz Levacher, Rechtsanwalt, Saarlouis Peter Kiefer, Gewerkschaftssekretär und Schriftleiter des Saarbergknappen, Saarbrücken Peter Wilhelm, Pfarrer und Bezirkspräses der katholischen weiblichen Berufsvereine des Saargebiets, Wehrden Mathias Karius, Gewerkschaftssekretär, Saarbrücken Richard Becker, Kaufmann und Vorsitzender des Schutzvereins für Handel und Gewerbe, Saarbrücken Wilhelm Martin, städtischer Mittelschullehrer, Saarbrücken Wilhelm Rütters, Hüttenarbeiter, Völklingen Johann Jakob Kratz, Geschäftsführer des Werkmeisterbundes und des Technikerverbandes, Neunkirchen Peter Scheuer, Redakteur, St. Ingbert Johann Gladel, Landwirt, Felsberg Peter Heinz, Stellmachermeister und Landwirt, Brotdorf Josef Gärtner, Gewerkschaftssekretär, Güchenbach Nikolaus Seiwert, Kaufmann, Merzig Willibrord Thiel, Keramarbeiter, Merzig
Stimmen 112 407
Listenplätze 1
111 360
3
111 339 111 077
2 7
110 932 110 425 109 918
6 4 15
109 195 109 102 108 631 108 261 107 976 107 941 107 808
13 8 5 9 18 24 26
Bei der Zentrumspartei konnte der Saarlouiser Rechtsanwalt Franz Levacher seinen Spitzenplatz behalten. Hingegen war der Gewerkschaftssekretär Peter Kiefer erfolgreicher: Er verdrängte den katholischen Pfarrer Peter Wilhelm mit nur 21 Stimmen von Platz 2. Auch der Gewerkschaftssekretär Mathias Karius stieg von Platz 7 auf Platz 4 auf. Die Kandidaten der ersten 9 Listenplätze wurden alle erfolgreich gewählt, änderten aber ihre Reihenfolge. Der Hüttenarbeiter Wilhelm Rütters aus Völklingen und der Geschäftsführer des Werkmeisterbundes Johann Jakob Kratz aus Neunkirchen stiegen von den Listenplätzen 15 und 13 auf die Plätze 8 und 9 auf. Die letzten Plätze 12, 13 und 14 errangen der Gewerkschaftssekretär Josef Gärtner aus Güchenbach (bisher Platz 18), der Kaufmann Nikolaus Seiwert aus Merzig (bisher Platz 24, der in der 1. Wahlperiode nicht gewählt worden war) und der Keramarbeiter Willibrord Thiel ebenfalls aus Merzig (bisher Platz 26, der ebenfalls in der 1. Wahlperiode nicht gewählt worden war). Dazwischen blieben zwölf Kandidaten erfolglos, darunter der Geschäftsagent Anton Schmidt aus Homburg 313
Michael Sander
(Platz 10, Mitglied in der 1. Wahlperiode), der Redakteur Johann Werth aus Neunkirchen (Platz 11, Mitglied in der 1. Wahlperiode), der Malermeister Eduard Angel aus St. Wendel (Platz 12, Mitglied in allen übrigen Wahlperioden), Fräulein Elisabeth Hallauer, die einzige Frau in der ersten Wahlperiode (Platz 14) und der Landwirt und Bürgermeister Mathias Niederländer aus Ormesheim (Platz 16, Mitglied in der 1. Wahlperiode, in der 3. Wahlperiode nicht gewählt). Die Kandidaten der Listenplätze 17, 19 bis 23, 25 und 27 bis 30 waren in keiner Wahlperiode erfolgreich wie der Eisenbahnwagenmeister Anton Brettar-Stroppel aus Kleinblittersdorf (Platz 17) und andere. Bei der dritten Landesratswahl vom 25. März 1928 wurde auf die Möglichkeit der Umstellung der Kandidatenlisten verzichtet und wurden wieder gebundene Listen eingeführt. Dasselbe galt für die vierte Landesratswahl 1932.
Landesratsmitglieder und Wahlperioden In den Landesrat des Saargebietes wurden zwischen 1922 und 1932 viermal dreißig Abgeordnete gewählt. Davon waren zehn Personen in allen Wahlperioden vertreten, sechs in drei Wahlperioden, dreizehn in zwei Wahlperioden und 36 in nur jeweils einer Wahlperiode. Hinzu kamen zwei Nachrücker und der erste Präsident Bartholomäus Koßmann, der kein Landesratsmitglied war. Dabei handelte es sich um 68 unterschiedliche Personen. Abgeordnete in allen vier Wahlperioden: zehn Personen (1) Richard Becker, Zentrum (2) Johann Gladel, Zentrum (3) Peter Kiefer, Zentrum (4) Franz Levacher, Zentrum (5) Wilhelm Martin, Zentrum (6) Hermann Petri, SPD (7) Hermann Röchling, LVP (8) Peter Scheuer, Zentrum (9) Wilhelm Schmelzer, LVP (10) Peter Wilhelm, Zentrum Abgeordnete in drei Wahlperioden: sechs Personen (1) Eduard Angel, Zentrum, 1., 3. und 4. Wahlperiode (2) Josef Gärtner, Zentrum,2., 3. und 4. Wahlperiode (3) Johann Peter Hoffmann, SPD 1., 2. und 3. Wahlperiode
314
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 (4) (5) (6)
Philipp Reinhard, KP 1., 2. und 3. Wahlperiode Gustav Schmoll geb. Eisenwerth, VHL 1., 3. und 4. Wahlperiode Dr. Walther Sender, SPD, 1., 2. und 3. Wahlperiode
Abgeordnete in zwei Wahlperioden: dreizehn Personen (1) Karl Albrecht, Zentrum, 3. und 4. Wahlperiode (2) Anton Betz, SPD,1. und 2. Wahlperiode (3) Albert Blügel, Zentrum, 3. und 4. Wahlperiode (4) Karl Heckler, KP, 2. und 3. Wahlperiode (5) Peter Heinz, Zentrum, 1. und 2. Wahlperiode (6) August Hey, KP, 3. und 4. Wahlperiode (7) Georg Hirschmann-Sutor, Zentrum, 3. und 4. Wahlperiode (8) Mathias Karius, Zentrum, 1. und 2. Wahlperiode (9) Johann Jakob Kratz, Zentrum, 1. und 2. Wahlperiode (10) Heinrich Lieser, SPD, 3. und 4. Wahlperiode (11) Wilhelm Rütters, Zentrum, 1. und 2. Wahlperiode (12) Bernhard Schneider, SPD, 2. und 3. Wahlperiode (13) Dr. Max von Vopelius, LVP, 1. und 2. Wahlperiode Abgeordnete in nur einer Wahlperiode: 26 Personen (1) Jakob Albert, VHL, 2. Wahlperiode (2) Josef Backes, CSP, 3. Wahlperiode (3) Peter Baltes, NSDAP, 4. Wahlperiode (4) Max Braun, SPD, 4. Wahlperiode (5) Karl Brettar, Zentrum, 2. Wahlperiode (6) Karl Brück, NSDAP, 4. Wahlperiode (7) Philipp Daub, KP, 3. Wahlperiode (8) Heinrich Detjen, KP, 4. Wahlperiode (9) Philipp Diehl, DSVP, 3. Wahlperiode (10) Fritz Eifler, KP, 2. Wahlperiode (11) Wilhelm Frisch, KP, 4. Wahlperiode (12) Friedrich Fuchs, DSVP, 1. Wahlperiode (13) Elisabeth Hallauer, Zentrum, 1. Wahlperiode (14) Nikolaus Haßler, KP, 4. Wahlperiode (15) Johann Helfgen, KP, 1. Wahlperiode (16) Luise Hermann-Ries, KP, 4. Wahlperiode (17) Otto Hussong, DSVP, 2. Wahlperiode (18) Johann L'Hoste, KP, 4. Wahlperiode (19) Paul Lorenz, KP, 4. Wahlperiode (20) Mathias Niederländer, Zentrum, 1. Wahlperiode (21) Wilhelm Palm, Zentrum, 3. Wahlperiode (22) Hans Pink, KP, 4. Wahlperiode (23) Wilhelm Reichard, DNVP, 3. Wahlperiode (24) Hermann Ringle, SPD, 1. Wahlperiode (25) Dr. Oskar Scheuer, DDP, 1. Wahlperiode
315
Michael Sander (26) (27) (28) (29) (30) (31) (32) (33) (34) (35) (36)
Wilhelm Schinhofen, Zentrum, 4. Wahlperiode Anton Schmidt, Zentrum, 1. Wahlperiode Nikolaus Seiwert, Zentrum, 2. Wahlperiode Heinrich Sommer, KP, 4. Wahlperiode Karl Sticher, KP, 2. Wahlperiode Willibrord Thiel, Zentrum, 2. Wahlperiode Karl Ulrich, KP, 2. Wahlperiode Peter Wagner, VHL, 1. Wahlperiode August Weber, Zentrum, 3. Wahlperiode Albin Weis, KP, 3. Wahlperiode Johann Werth, Zentrum, 1. Wahlperiode
Nachrücker: 2 Personen (1)
(2)
Fritz Pfordt, KP, 3. Wahlperiode Die auf den beiden vorangehenden Plätzen des Wahlvorschlags der KP stehenden Fritz Eifler und Karl Ulrich verzichteten auf das Mandat. Dr. Helmut Schweig NSDAP 4. Wahlperiode
Präsident: eine Person (1) Bartholomäus Koßmann, Zentrum, 1. Wahlperiode; kein gewähltes Mitglied des Landesrates (2) Peter Scheuer, Zentrum, 2. bis 4. Wahlperiode
Die Fraktionen im Landesrat und ihre Abgeordneten Fraktionen; insgesamt 68 Personen: Zentrum: 27 KP: 17 SPD: 9 LVP/DSVP: 6 VHL: 3 NSDAP: 3 DDP: 1 DNVP: 1 CSP: 1 KPO 2 (1929) Deutsche Front 19 (1933)
Der Landesrat hatte 68 verschiedene Mitglieder, einschließlich des ersten Präsidenten Bartholomäus Koßmann, der, ohne gewählt zu sein, von der Regierungskommission als Präsident ernannt worden war. Außerdem waren zwei
316
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
Abgeordnete während der jeweiligen Wahlperiode nachgerückt, da zwei Abgeordnete ihr Mandat niedergelegt hatten. Dabei handelte es sich in der 3. Wahlperiode (1928–1932) um das Mitglied der Fraktion der Kommunistischen Partei Karl Daub, der am 30. März 1931 (LR III, 19 vom 14. April 1931) ausgeschieden ist, und in der 4. Wahlperiode (1932–1934) um das Mitglied der Fraktion der NSDAP, ab 24. Oktober 1933 der Fraktion der Deutschen Front, Karl Brück, der am 6. Dezember 1933 ausgeschieden ist. Von den 68 Abgeordneten gehörten 27 Mitglieder zur Zentrumspartei. Die Partei gewann damit 58 Mandate. Diese Partei zeigte auch die größte Kontinuität bei ihren Abgeordneten: sieben ihrer Mitglieder waren in allen vier Wahlperioden vertreten, zwei weitere in drei Wahlperioden. Sieben Abgeordnete waren in zwei Wahlperioden gewählt worden. Nur zehn Abgeordnete der Zentrumspartei waren nur in einer Wahlperiode erfolgreich. Die Kommunistische Partei erreichte mit siebzehn verschiedenen Abgeordneten mehr als die Hälfte dieser Anzahl, aber nur zwanzig Mandate. Keiner ihrer Abgeordneten war in allen Wahlperioden im Landesrat vertreten, nur einer in drei Wahlperioden. Lediglich zwei Abgeordnete wurden in zwei Wahlperioden gewählt, die übrigen vierzehn errangen nur in einer Wahlperiode ein Mandat. In der Dritten Wahlperiode kam dazu ein Nachrücker. Dies hing natürlich mit dem späten Erfolg der KP zusammen, der erst bei der vierten Landesratswahl während der Weltwirtschaftskrise errungen werden konnte. Die SPD gewann insgesamt zwölf Mandate, die acht Personen gewannen. Dabei war nur Hermann Petri in allen Wahlperioden im Landesrat vertreten. Johann Peter Hoffmann und Dr. Walther Sender brachten es auf drei Wahlperioden, drei weitere SPD-Politiker auf je zwei Wahlperioden. Nur zwei Abgeordnete wurden nur einmal gewählt: Hermann Ringle in der 1. Wahlperiode und der Vorsitzende der Partei Max Braun nur in der letzten und vierten Wahlperiode. Die Liberalen (LVP, später DSVP) konnten sechs Personen in den Landesrat entsenden und damit dreizehn Mandate gewinnen. Der Hüttenbesitzer Hermann Röchling aus Völklingen und der Malermeister Wilhelm Schmelzer aus Saarbrücken waren in allen Wahlperioden vertreten. In zwei Wahlperioden vertrat außerdem der Glashüttenbesitzer Dr. Max von Vopelius aus Sulzbach die Partei im Landesrat. Drei Abgeordnete der liberalen Partei waren nur in einer Wahlperiode im Landesrat vertreten. 317
Michael Sander
Die Vereinigung von Hausbesitz und Landwirtschaft (VHL), später Deutsche Wirtschaftspartei (DWP), konnte drei Personen in den Landesrat entsenden. Der Architekt Gustav Schmoll genannt Eisenwerth wurde dreimal gewählt. Zwei weitere Abgeordnete wurden nur jeweils in einer Wahlperiode gewählt. Nur in der 1. Wahlperiode gelang der gleichzeitige Gewinn von zwei Mandaten. Die NSDAP kandidierte erstmals 1932 für die 4. Wahlperiode. Sie gewann zwei Sitze; dazu kam ein Nachrücker. Für die DDP (Deutsch-Demokratischen Partei), die DNVP (Deutschnationale Volkspartei) und die CSP (Christlich Soziale Partei des Saargebiets) kam jeweils ein Vertreter in einer Wahlperiode in den Landesrat. Die DDP war 1922 in der 1. Wahlperiode erfolgreich, die beiden anderen Parteien in der 3. Wahlperiode von 1928.
Fraktionsvorsitz im Landesrat 1. Wahlperiode (1922–1924)68 Zentrumsfraktion Sozialdemokratische Fraktion Kommunistische Fraktion Fraktion der Deutschen Demokratischen Partei Fraktion der Deutsch-Saarländischen Volkspartei Fraktion der Vereinigung für Hausbesitz u. Landwirtschaft
Franz Levacher Johann Peter Hoffmann Philipp Reinhard Dr. Scheuer Wilhelm Schmelzer Gustav Schmoll gen. Eisenwerth
2. Wahlperiode (1924–1928)69 Zentrumsfraktion Sozialdemokratische Fraktion Kommunistische Fraktion Fraktion der Deutsch-Saarländischen Volkspartei Fraktion der Vereinigung für Hausbesitz u. Landwirtschaft
Franz Levacher Johann Peter Hoffmann Philipp Reinhard70 Wilhelm Schmelzer Gustav Schmoll gen. Eisenwerth
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 68 3. Sitzung vom 15. November 1922; LA Saarbrücken. Best. Landesrat - LR 1, S. 101-111. 69 Einwohnerbuch (Adreßbuch) der Stadt Saarbrücken 1926/27 nach dem Stande vom Mai 1926. Nach amtlichem Material zusammengestellt, hg. von der Gebrüder Hofer AG Verlagsanstalt Saarbrücken, Völklingen, S. 3; Einwohnerbuch (Adreßbuch) der Stadt Saarbrücken 1927/28 [wie zuvor], S. 3 70 Erklärung Heckler vom 7. Januar 1925: Ausschluss von Reinhard und Ulrich aus KPD und aus Kommunistischer Landesratsfraktion; Gegenerklärung Reinhard; LR 2/13. 318
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 3. Wahlperiode (1928–1932)71 Zentrumsfraktion Sozialdemokratische Fraktion Kommunistische Fraktion Kommunistische Fraktion (Opposition) Fraktion der Deutsch-Saarländischen Volkspartei Fraktion der Deutschen Wirtschaftspartei des Mittelstandes Fraktion der Deutschnationalen Volkspartei Fraktion der Christlich-Sozialen Parte“ 4. Wahlperiode (1932–1934)73 Zentrumsfraktion Kommunistische Fraktion Sozialdemokratische Fraktion Fraktion der Deutsch-Saarländischen Volkspartei Fraktion der Nationalsozialisten Fraktion der Deutsch-Bürgerlichen Mitte ab 24. Oktober 1933 Fraktion: Deutsche Front
Franz Levacher Johann Peter Hoffmann Philipp Reinhard72 Philipp Reinhard Wilhelm Schmelzer Gustav Schmoll gen. Eisenwerth Wilhelm Reichard Joseph Backes Franz Levacher Paul Lorenz Matthias Braun Wilhelm Schmelzer Karl Brück Gustav Schmoll gen. Eisenwerth Peter Baltes, Zentrum/ DSVP/ DBM/ NSDAP Führer der Deutschen Front
Kommissionen (Ausschüsse) des Landesrates Lt. Geschäftsordnung für den Landesrat vom 31. Oktober 192274, Artikel 11 Abs. 2 waren folgende Kommissionen vorgesehen: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)
Kommission für Steuerfragen Kommission für Angelegenheiten der öffentlichen Arbeiten Kommission für Wirtschaftsfragen (Industrie, Handel, Landwirtschaft, Handwerk) Kommission für Verwaltungsfragen Kommission für Rechtsfragen Kommission für Kultus und Schulangelegenheiten Kommission für soziale Gesetzgebung und arbeitsrechtliche Angelegenheiten Kommission für Volkswohlfahrt (Fürsorge für Kriegshinterbliebene, Gesundheitsfürsorge, Jugendfürsorge, allgemeine Fürsorge für wirtschaftlich Schwache) Es sollten „höchstens 8 Mitglieder“ den Kommissionen angehören.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 71 Einwohnerbuch (Adreßbuch) der Stadt Saarbrücken 1929/30 nach dem Stande vom August 1929 [wie Anm. 73], S. 3. 72 Erklärung Daub vom 20. Juni 1929: Ausschluss von Reinhard und Weis aus KPD und aus Kommunistischer Landesratsfraktion; Gegenerklärung Reinhard; LR 3/8. 73 Einwohnerbuch der Stadt Saarbrücken (Adressbuch)1933/1934 nach dem Stande vom Juni 1933 [wie Anm. 73], S. 3. 74 Amtsblatt der Regierungskommission des Saargebietes Nr. 24 vom 11. November 1922, S. 209. 319
Michael Sander
Die Frauen im Landesrat des Saargebietes Wer waren nun die 66 Männer und 2 Frauen, die die Bevölkerung des Saargebietes gegenüber der internationalen Regierungskommission vertraten? Während der gesamten dreizehn Jahre des Bestehens des Landesrates und in vier Wahlperioden stellten die Parteien nur zwei Frauen erfolgreich auf sicheren Listenplätzen ihrer Wahlvorschläge auf. Für die erste Landesratswahl am 25. Juni 1922 geschah dies erstmals durch die Zentrumspartei. Die vor allem von der katholischen Bevölkerung gewählte Partei wurde mit 92 252 Stimmen, was 47,7 % der gültigen Stimmen bedeutete, und sechzehn Sitzen die stärkste Fraktion im neuen Landesrat. Auf Platz 14 ihres Wahlvorschlags hatte die Partei Elisabeth Hallauer, ohne Beruf, aus St. Wendel aufgestellt. Auf den erfolglosen Plätzen ab Nr. 17 folgten keine weiteren Frauen. Tab. 11: Zur Wahl 1922 wurden von den Parteien bei 237 Kandidaten folgende zwölf Frauen aufgestellt Partei
Kandidaten/ Abgeordnete
Frauen
DDP MschVS SPD LVPS VHL KOS
30 / 1 27 / 0 30 / 5 30 / 4 30 / 2 30 / 0
0 1 1 1 0 6
KP
30 / 2
2
Zentrum
30 / 16
1
Listenplatz
Namen
Platz 20 Platz 10 Platz 21
Hausfrau Maria Weber, Völklingen Hausfrau Käthe Raab, Saarbrücken Hausfrau Adele Mügge, Saarbrücken
Platz 14 Platz 16 Platz 18 Platz 22 Platz 25 Platz 29 Platz 11 Platz 23 Platz 14
Kriegerswitwe Marie Mohr, Neunkirchen Kriegerswitwe Maria Voit, St. Ingbert Kriegerswitwe Maria Lichtenhagen, Saarbrücken Kriegerswitwe Margarete Sonntag, Saarlouis Kriegerswitwe Katharina Haas, Schiffweiler Kriegerswitwe Katharina Wagner, Saarlouis Hausfrau Amalie Hartmann, Dudweiler Hausfrau Maria Otten, Ludweiler Elisabeth Hallauer, ohne Beruf, aus St. Wendel
Aufgrund des 1919 im Deutschen Reich eingeführten aktiven und passiven Frauenwahlrechts wurde in der 1. Wahlperiode des Landesrates 1922 bis 1924 Elisabeth Hallauer als erste Frau in eine parlamentarische Vertretung an der Saar gewählt. Sie kandidierte für die Zentrumspartei des Saargebietes. Als
320
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
einzige Frau in der vierten Legislatur (1932–1935) war Lilli Herrmann-Ries für die KP Mitglied des Landesrates. Zu diesen beiden Frauen finden sich unten Kurzbiografien. Bei der zweiten Landesratswahl vom 18. Januar 1924 schlug die Zentrumspartei zwar Elisabeth Hallauer auf demselben Listenplatz 14 vor, aber die Möglichkeit der Streichung von Kandidaten führte dazu, dass sie nicht gewählt wurde, obwohl vierzehn Mandate an die Zentrumspartei fielen. Wie viele Stimmen Elisabeth Hallauer erhielt, wurde nicht veröffentlicht. Vier männliche Kandidaten auf den folgenden Plätzen des Wahlvorschlages der Zentrumspartei erhielten mehr Stimmen als Elisabeth Hallauer. Tab. 12: Bei der Wahl 1924 wurden von den Parteien von 210 Kandidaten folgende zwei Frauen aufgestellt Partei
Kandidaten/ Abgeordnete
Frauen
Listenplatz
Namen
SPD KP VHL DNVP DSVP Zentrum SAG
30 / 6 30 / 5 30 / 1 30 / 0 30 / 4 30 / 14 30 / 0
1 0 0 0 0 1 0
Platz 21
Hausfrau Juliane Allenbach, Saarbrücken
Platz 14
Fräulein Elisabeth Hallauer, ohne Stand, St. Wendel
Bei der dritten Landesratswahl vom 25. März 1928 stellte die Zentrumspartei auf Platz 16 Klara Steegmann, Hausfrau aus Saarbrücken, Am Eichhornstaden 16, und Ehefrau des Vorsitzenden der Zentrumspartei an der Saar von 1920 bis 1934, Franz Steegmann, auf, aber in diesem Jahr gewann die Partei nur 14 Mandate. Tab. 13: Bei der Wahl 1928 wurden von den Parteien bei 240 Kandidaten folgende neun Frauen aufgestellt Partei
Kandidaten/ Abgeordnete
Frauen
Listenplatz
Namen
SPD KPD
30 / 5 30 / 5
1 2
Platz 14 Platz 11 Platz 18
Hausfrau Meta Wodarczack, Saarbrücken Hausfrau Sofie Müller, Sulzbach Hausfrau Juliane Hellbrück, Dudweiler
321
Michael Sander Fortsetzung Tab.13: Partei
Kandidaten/ Abgeordnete
Frauen
DWP
30 / 1
0
DDP DSVP
30 / 0 30 / 3
1 3
CSPS DNVP Zentrum
30 / 1 30 / 1 30 / 14
0 1 1
Listenplatz
Namen
Platz 14 Platz 5 Platz 18 Platz 26
Kriegerswitwe Maria Lichtenhagen, Saarbrücken Hausfrau Adele Mügge, Saarbrücken Hausfrau Josepha Schulde-Leonhard, Dudweiler Hausfrau Käthe Helsheimer, Neunkirchen
Platz 7 Platz 16
Hausfrau Emile Meyer, Saarbrücken Hausfrau Klara Steegmann, Saarbrücken
Bei der vierten Landesratswahl vom 13. März 1932 stellte die Zentrumspartei nochmals Klara Steegmann auf, dieses Mal auch auf Platz 16. Abermals erreichte die Partei nur 14 Mandate. Auf einem der mit Sicherheit erfolglosen Plätze, nämlich 24, stellte man eine zweite Frau, nämlich Anna Fütterer, Verbandssekretärin aus Saarbrücken, Fürstenstraße 7, auf. Tab. 14: Bei der Wahl 1932 wurden von den Parteien bei 327 Kandidaten folgende zwanzig Frauen aufgestellt Partei
Kandidaten/ Abgeordnete
Frauen
Listenplatz
Namen
SPD
30 / 8
5
Platz 4
Hausfrau Luise Hermann, Wiebelskirchen, Friedrichstraße 7 Hausfrau Emma Jakob, Völklingen, Tafelstraße 11 Angestellte Bebi Niebergall, Saarbrücken, Deutsche Straße Hausfrau Käthe Theobald, Lisdorf, Obstgarten Hausfrau Katharina Franz, Dudweiler, Scheidter Straße 129 Hausfrau Klara Steegmann, Saarbrücken, Am Eichhornstaden 16 Verbandssekretärin Anna Fütterer, Saarbrücken, Fürstenstraße 7 Hausfrau Wilhelmine Breihof, Saarbrücken, Deutsche Straße 25 Hausfrau Rosa Bonnerz, Bildstock, Tunnelstraße 7a
Platz 9 Platz 14 Platz 23 Platz 28 Zentrum
30 / 14
2
Platz 16 Platz 24
SPD
30 / 3
2
Platz 8 Platz 23
322
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 Fortsetzung Tab. 14: Partei
Kandidaten/ Abgeordnete
Frauen
Listenplatz
Namen
DSVP
30 / 2
3
Platz 5 Platz 22
Hausfrau Emmy Gräff, Saarbrücken 2, Ottostraße 18 Hausfrau Marie Meimeth, Neunkirchen, Schillerstraße 4 Hausfrau Josefa Schulde-Leonhard, Dudweiler, Bahnhofstraße 4 Hausfrau Anna Wilke, Saarbrücken 2, Leipziger Straße 70 Hausfrau Rosa Storn, Saarbrücken, Malstatter Straße 100 Hausfrau Paula Hillebrand, Saarbrücken 2, Am Ludwigsberg 68 Hausfrau Martha Schneider-Schwärzel, Wemmetsweiler, Hauptstraße 48 Hausfrau Maria Lichtenhagen, Saarbrücken, Reuterstraße 22 Hausfrau Else Sponheimer, Saarbrücken, Steinmetzstraße 7 Hausfrau Maria Büch, Dudweiler, Heinestraße 6 Hausfrau Luise Hamdorf, Fischbach, Weststraße 5
Platz 27 SAPD
23 / 0
3
Platz 3 Platz 15 Platz 18
ABPD
30 / 0
1
Platz 4
DStP
30 / 0
1
Platz 9
DNVP
30 / 0
3
Platz 4 Platz 19 Platz 25
NSDAP DWPM KP(O) L OF
29 / 2 30 / 1 28 / 0 7/0
0 0 0 0
Kurzbiografien zu Elisabeth Hallauer und Luise (Lilli) Herrmann-Ries Elisabeth Hallauer75 war eine Nachkommin des Bruders von Nikolaus Hallauer (1803–1887)76 und wurde am 9. Februar 1879 in St. Wendel geboren und ver⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 75 Vgl. Franz-Josef Schäfer, Art. Elisabeth Gertrude Hallauer, in: Saarländische Biografien, hier: http://www.saarland-biografien.de/frontend/php/ergebnis_detail.php?id=5546 (25.07.2022). Vgl. dazu die Broschüre 225 Jahre Kaufhaus Hallauer, St. Wendel 1998 mit zahlreichen Abbildungen. 76 Nikolaus Hallauer war nach dem Studium der Rechtswissenschaften von 1824 bis 1826 in Bonn ab 1827 Advokat am Herzoglichen Landgericht des Fürstentums Lichtenberg in St. Wendel. Er war Mitglied der national-liberalen „Kellerschen Gesellschaft“ in St. Wendel. 1832 wur323
Michael Sander
starb am 30. März 1952 ebenfalls in St. Wendel. Sie blieb während ihres Lebens ledig. Während der 1. Wahlperiode des Landesrates arbeitete sie in der „Kommission für Volkswohlfahrt (Fürsorge für Kriegshinterbliebene, Gesundheitsfürsorge, Jugendfürsorge, allgemeine Fürsorge für wirtschaftlich Schwache)“, also in einem Politikbereich, den man damals insbesondre Frauen zuordnete. Elisabeth Hallauer wurde zwar im Wahlvorschlag als „ohne Beruf“ oder „ohne Stand“ bezeichnet. Aber das war nicht korrekt. Sie arbeitete in dem Textilgeschäft der Familie in St. Wendel und hatte eine Ausbildung zur Textileinzelhändlerin. Von 1928 bis 1952 war sie Chefin der Firma Franz Hallauer & Co in St. Wendel. In der Todesanzeige wurde sie als „Vorsteherin des 3. Ordens der Franziskanerinnen“ bezeichnet. Luise (Lilli) Herrmann-Ries77 war am 13. Februar 1904 in Altenkessel als Tochter des Maschinenwärters Wilhelm Jakob Fries und Margaretha Luise Forst geboren worden und verstarb am 17. Januar 1971 in Neunkirchen. Nach dem frühen Tod der Eltern verbrachte sie ihre Kindheit in der Familie des Onkels Friedrich Forst in Wiebelskirchen und arbeitete nach der Schulzeit als Hausgehilfin und Verkäuferin. Sie heiratete in erster Ehe am 4. August 1923 in Wiebelskirchen das KPD-Mitglied Willi Herrmann (1897-1944). 1927 trat sie in den Verband der „Jugendfreunde“, 1929 in den „Bund werktätiger Frauen“ ein und wurde dort 1932 Mitglied der Bezirksleitung. Seit 1931 Mitglied der KPD, wurde sie 1932 als einzige Frau in der vierten Legislatur in den Landesrat gewählt und engagierte sich in der Kommission für Steuerfragen und in der Kommission für Volkswohlfahrt (Fürsorge für Kriegshinterbliebene, Gesundheits⎯⎯⎯⎯⎯⎯ de er Mitglied des Deutschen Preß- und Vaterlandsvereins und trat als Redner auf dem Hambacher Fest auf. Nach Teilnahme an dem St. Wendeler Aufruhr wurde er 1832 auf Betreiben des bayerischen Rheinkreises verhaftet und zu zwei Jahren Haft verurteilt. 1833 wurde er aus dem herzoglich sachsen-coburgischen Dienst entlassen. Im August 1833 floh er nach Metz. Während der Revolution von 1848 kehrte er nach St. Wendel zurück und wurde stellvertretender Abgeordneter in Frankfurt am Main. Ab 1862 wurde Hallauer französischer Staatsbürger und verstarb 1887 in Metz. Vgl. Jonas Binkle, Art. Nicolas Hallauer, in: Saarländische Biografien, hier: http://www.saarland-biografien.de/frontend/php/ergebnis_detail. php?id =1010 (15.03.2021). 77 LA Saarbrücken. Best. Landesentschädigungsakten 11.891; vgl. Torben Burkard, Art. Luise (Lilli) Herrmann-Ries, in: Saarländische Biografien, hier: http://www.saarland-biografien.de/frontend/ php/ergebnis_detail.php?id=388 (09.02.2021). Vgl. auch Klaus-Michael Mallmann/Gerhard Paul: Das zersplitterte Nein. Saarländer gegen Hitler, Bonn 1989, S. 53. 167, 185; Luitwin Bies/Horst Bernard (Hg.): Saarländerinnen gegen die Nazis. Verfolgt – vertrieben – ermordet, Saarbrücken 2004, S. 35. Hermann Weber/Andreas Herbst: Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945. 2. überarbeitete und stark erweiterte Auflage, Berlin 2008. 324
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
fürsorge, Jugendfürsorge, allgemeine Fürsorge für wirtschaftlich Schwache). Sie trat 1934 bei Kundgebungen und Versammlungen der antifaschistischen Einheitsfront von KDP und SPD Saar auf und musste im Januar 1935 nach Frankreich fliehen. Ihren Mann traf sie wieder in Moskau. Von August 1935 bis Juli 1937 besuchte sie die Internationale Leninschule der Komintern in Moskau unter dem Decknamen "Hilde Engelmann". Von Mai 1940 bis Ende Juni 1941 war sie in Frankreich (Gurs und Rivesaltes bei Perpignan) interniert und kehrte erst im Juni 1941 nach Deutschland zurück. Sie nahm Arbeit im Eisenwerk Neunkirchen an, wurde aber bereits am 20. September 1941 durch die Gestapo festgenommen und vom Amtsgericht Saarbrücken "wegen Vorbereitung zum Hochverrat" am 28. Mai 1942 zu vier Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. Sie kam ins Zuchthaus in Aichach. Ihr Mann starb am 17. Februar 1944 im Zuchthaus in Butzbach. Im Mai 1945 wurde sie von den Alliierten aus dem Zuchthaus befreit und heiratete in zweiter Ehe am 15. Juni 1946 in Wiebelskirchen dem Kreisprüfer Johann Friedrich Frick. Nach dem Krieg war Lilli Herrmann-Ries nicht mehr politisch aktiv.
Die Kandidatinnen zur Landesratswahl Tab. 15: Die 37 Kandidatinnen zum Landesrat 1922 bis 1932 von A–Z Name und Ort
Partei
Hausfrau Juliane Allenbach, Saarbrücken Hausfrau Rosa Bonnerz, Bildstock Hausfrau Wilhelmine Breihof,, Saarbrücken Hausfrau Maria Büch, Dudweiler Hausfrau Katharina Franz, Dudweiler Verbandssekretärin Anna Fütterer, Saarbrücken Hausfrau Emmy Gräff, Saarbrücken 2 Kriegerswitwe Katharina Haas, Schiffweiler Elisabeth Hallauer, ohne Beruf, St. Wendel Hausfrau Luise Hamdorf, Fischbach Hausfrau Amalie Hartmann, Dudweiler Hausfrau Juliane Hellbrück, Dudweiler
SPD SPD SPD DNVP KP Zentrum DSVP KOS Zentrum DNVP KP KP
325
Wie oft kandidiert
zweimal
gewählt
Ja
Michael Sander
Fortsetzung Tab. 15: Name und Ort
Partei
Wie oft kandidiert.
Hausfrau Käthe Helsheimer, Neunkirchen Hausfrau Luise Hermann, Wiebelskirchen Hausfrau Paula Hillebrand, Saarbrücken Hausfrau Emma Jakob, Völklingen Kriegerswitwe Maria Lichtenhagen, Saarbrücken Hausfrau Marie Meimeth, Neunkirchen Hausfrau Emile Meyer, Saarbrücken Adele Mügge, Saarbrücken Kriegerswitwe Marie Mohr, Neunkirchen Hausfrau Sofie Müller, Sulzbach Angestellte Bebi Niebergall, Saarbrücken Hausfrau Käthe Raab, Saarbrücken Hausfrau Maria Otten, Ludweiler Hausfrau Martha Schneider-Schwärzel, Wemmetsweiler Hausfrau Josepha Schulde-Leonhard, Dudweiler Kriegerswitwe Margarete Sonntag, Saarlouis Hausfrau Else Sponheimer, Saarbrücken Hausfrau Klara Steegmann, Saarbrücken Hausfrau Rosa Storn, Saarbrücken Hausfrau Käthe Theobald, Lisdorf Kriegerswitwe Maria Voit, St. Ingbert Kriegerswitwe Katharina Wagner, Saarlouis Hausfrau Maria Weber, Völklingen Hausfrau Anna Wilke, Saarbrücken Hausfrau Meta Wodarczack, Saarbrücken
DSVP KP SAPD KP DStP DSVP DNVP LVPS KOS KP KP SPD KP ABPD DSVP KOS DNVP Zentrum SAPD KP KOS KOS MchVPS SAPD SPD
gewählt
Ja
zweimal
zweimal
zweimal
zweimal
Tab. 16: Anteil der Frauen in den vier Wahlperioden Jahr 1922 1924 1928 1932 Sa.
Wahlperiode I II III IV
Kandidaten
davon Frauen
237 210 240 327 1014
12 2 9 20 43
326
davon gewählt 1
1 2
In Prozent 5,06 0,95 3,75 6,12 4,24
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 Tab. 17: Die lokale Herkunft der Abgeordneten Abgeordnete Preußen (insg. 59 Abgeordnete) Ldk. Saarbrücken-Stadt Ldk. Saarbrücken-Land
Völklingen Dudweiler Ludweiler Püttlingen Sulzbach Güchenbach Holz Kleinblittersdorf Scheidt Wehrden Neunkirchen Ottweiler Wiebelskirchen Eppelborn Heiligenwald Landsweiler Merchweiler Uchtelfangen Bous Felsberg Picard Saarlouis Merzig Brotdorf St. Wendel Oberlinxweiler
Ldk. Ottweiler
Ldk. Saarlouis
Ldk. Merzig Ldk. St. Wendel
17 4 2 2 2 2 1 1 1 1 1 5 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 3 1 2 1
Bayern (insg. 9 Abgeordnete) Homburg Altheim Blieskastel Medelsheim Ormesheim Peppenkum St. Ingbert Webenheim
327
2 1 1 1 1 1 1 1
Michael Sander Tab. 18: Altersgruppen der Landesratsmitglieder (bei Eintritt in den Landesrat) Altersgruppe unter 30 30-39 40-49 über 50
Abgeordnete 4 24 30 9
6,0 % 35,8 % 44,8 % 13,4 %
Bei ihrem Eintritt in den Landesrat waren neun Abgeordnete über fünfzig Jahre alt. Der älteste war der evangelische Pfarrer Wilhelm Reichard aus Saarbrücken, Jg. 1871, der die DNVP in der 3. Wahlperiode vertrat. Unter dreißig Lebensjahren waren bei ihrem Eintritt vier Landesratsabgeordnete. Davon gehörten drei der KP an. Der jüngste Abgeordnete war der Metallarbeiter und Funktionär Hans Pink aus Bous, Jg. 1906 und damit bei Eintritt in den Landesrat 26 Jahre alt. Er vertrat die KP in der 4. Wahlperiode. Die größte Gruppe – und zwar dreißig Abgeordnete – war zwischen 40 und 49 Jahre alt, die zweitgrößte Gruppe mit 24 Abgeordneten zwischen 30 und 39 Jahre alt. Tab. 19: Durchschnittsalter nach Fraktionen Fraktion
Durchschnittsalter
Zentrum CSP DNVP VHL DSVP KP DDP SPD NSDAP
60,1 Jahre 57,0 Jahre 57,0 Jahre 50,3 Jahre 47,0 Jahre 46,2 Jahre 45,0 Jahre 37,8 Jahre 37,7 Jahre
328
Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 Tab. 20: Die Berufe der Landesratsabgeordneten, besonders in den Fraktionen. Die berufliche Zusammensetzung des Landesrates – insgesamt siebzig Berufe (Doppelzählungen) – lässt Rückschlüsse über die einzelnen Parteien und Fraktionen und deren soziale Gliederung zu Beruf
Anzahl der Landesratsabgeordneten
Industriearbeiter Funktionäre, Journalisten Agrarsektor Freiberufliche Lehrer Handwerksmeister Unternehmer Kaufleute Geistliche Hausfrauen
21 20 8 6 4 3 2 2 2 2
Funktionäre und Journalisten wurden meistens nochmals in ihren ursprünglichen Berufen, für die sie weiterhin tätig waren, gezählt. Tab. 21: Berufe in den Fraktionen Fraktion Zentrum
Anzahl
Beruf
Bergbau
3
Eisenhütten
3
Keramik Eisenbahn Handwerk
1 1 2
Handel Landwirtschaft Hausfrau Funktionär
2 5 1 9
2 Bergleute 1 Steiger 1 Hüttenarbeiter 1 Hüttenmeister 1 Werkmeister 1 Keramarbeiter 1 Eisenbahningenieur 1 Malermeister 1 Stellmachermeister 2 Kaufleute 5 Landwirte 1 Hausfrau 1 Kaufmann 1 Knappschaftsbeamter 1 Frauenvereinssekretär 3 Christl. Gewerkschaftssekretäre 2 Angestelltenfunktionäre 1 Bürgermeister
329
Michael Sander Fortsetzung Tab. 21: Fraktion
Anzahl
Beruf
Journalismus Rechtswesen
3 2
Schulwesen
3
Kirche
1
Bergbau Eisenhütten Eisenbahn Bauwesen Funktionär
5 3 3 1 4
Journalismus Öffentl. Dienst Hausfrau
1
SPD
Verwaltung Eisenbahner Journalist Lehrer Rechtswesen
5 1 1 1 1
LVP/DSVP
Bergbau Handwerk Rechtswesen Industrie Landwirtschaft
1 1 1 2 1
VHL
Landwirtschaft Bauwesen Bergbau Rechtswesen Kirche Schulwesen Verwaltung Hüttenwesen
2 1 1 1 1 1 1 1
3 Journalisten 1 Rechtsanwalt 1 Geschäftsagent 2 Mittelschullehrer 1 Schulrat 1 Pfarrer 36 Berufe (Doppelzählungen) 5 Bergleute 3 Metallarbeiter 3 Eisenbahner 1 Bauarbeiter 2 Gewerkschaftssekretäre 1 Parteisekretär 1 Rote Hilfe 1 Journalist 1 Gemeindevorsteher 1 Hausfrau 19 Berufe (Doppelzählungen) 5 Büroangestellte 1 Eisenbahner 1 Journalist 1 Mittelschullehrer 1 Rechtsanwalt 9 Berufe 1 Bergmann 1 Handwerksmeister 1 Rechtsanwalt 2 Unternehmer 1 Landwirt 6 Berufe 2 Landwirte 1 Architekt 1 Bergmann 1 Rechtsanwalt 1 Pfarrer 1 Mittelschullehrer 1 Angestellter 1 Arbeiter
KP
CSP DDP DNVP NSDAP
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Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935
Die Zentrumspartei hatte sich im 19. Jahrhundert im Saarrevier zu einer Vertreterin der katholischen Arbeiterschaft gegenüber dem protestantischen preußischen Staat und der staatlichen Grubenverwaltung und gegenüber den meist protestantischen Unternehmern entwickelt. Dies spiegelte sich in der beruflichen Zusammensetzung der Landesratsabgeordneten nicht unbedingt wider. Aus den Bereichen des Steinkohlenbergbaus, der Eisenhütten, der Keramikindustrie und der Eisenbahn waren vier Arbeiter vertreten. Hinzu kamen aber vier Angestellte, die Führungsaufgaben wahrnahmen: ein Steiger, je ein Hütten- und ein Werkmeister und ein Eisenbahningenieur. Außerdem waren vier ehemalige Arbeiter als Funktionäre vertreten: drei Gewerkschaftssekretäre der Christlichen Gewerkschaftsbewegung, ein Knappschaftsbeamter als Gewerkschaftsvertreter und zwei Angestelltenvertreter. Ein Journalist – Peter Kiefer – leitete den „Saarbergknappen“. Aus einem mittelständischen Bereich stammten zwei Handwerksmeister, zwei Kaufleute, zwei Journalisten, ein Rechtsanwalt, zwei Mittelschullehrer, von denen einer zum Schulrat aufstieg, und ein katholischer Geistlicher. Aus dem ländlichen Raum stammten fünf Landwirte. Die einzige Frau in der Fraktion war ohne Beruf, aber in einem Textilhandelsunternehmen der Familie tätig.. Bei der Kommunistischen Partei waren zwölf Abgeordnete Arbeiter, zu denen auch vier Partei- oder Gewerkschaftsfunktionäre und der eine Journalist zu zählen sind. Die eine Hausfrau war ohne Beruf. Bei der SPD spielten die Angestellten die größte Rolle: Fünf arbeiteten im Büro, auch der Eisenbahner war in der Verwaltung tätig. Der Journalist der Parteizeitung, der Mittelschullehrer und der Rechtsanwalt gehörten zum Mittelstand. Die Vereinigung von Hausbesitz und Landwirtschaft (VHL) sandte – wie ihr Name es andeutete – einen Architekten und zwei Landwirte in den Landesrat. Die liberalen Parteien (DDP, LVP, DSVP) wurden durch zwei Unternehmer aus den Industriellenfamilien Röchling und Vopelius vertreten, durch einen Handwerksmeister, zwei Rechtsanwälte und einen Landwirt. Auch ein pensionierter Bergmann gehörte zu diesen Fraktionen. Die Christlich Soziale Partei des Saargebiets (CSP) wurde durch einen Bergmann vertreten. Die DNVP entsandte einen evangelischen Pfarrer in den Landesrat.
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Die NSDAP, die erstmals 1932 antrat, erlangte nur zwei Sitze. Zusammen mit einem Nachrücker schickte sie drei Abgeordnete in den Landesrat. Dabei handelte es sich um einen Arbeiter (Sandformer), einen Angestellten und einen Mittelschullehrer. Der Arbeiter Karl Brück nahm verschiedene Funktionen in der Partei wahr und war von Dezember 1933 bis 1936 Mitglied des Deutschen Reichstages. 1935 wurde er Direktor der Sozialabteilung der Saargrubenverwaltung. Der Angestellte Peter Baltes arbeitete im Versorgungsamt des Saargebietes und hatte verschiedene Ämter in der Partei inne. Er bekam 1937 eine Stelle bei der Partei in Berlin. Auch der Nachrücker und Mittelschullehrer Dr. Helmut Schweig erhielt ab 1933 mehrere Stellen als Schulrat außerhalb des Saarlandes. Es ist zu vermuten, dass zumindest zwei der drei Landesratsabgeordneten der NSDAP der Machtübernahme durch die pfälzische NSDAP unter Gauleiter Josef Bürckel zum Opfer fielen.
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Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945* Von Gisela Tascher*
Einführung Am Anfang einige Worte zur Entstehung meiner Arbeit zum Thema „Medizin und Nationalsozialismus“, die neben dem aktuellen medizinhistorischen Forschungsstand die Grundlage für den heutigen Vortrag bildet und die im Juli 2010 als Buch im Verlag Ferdinand Schöningh erschienen ist.1 Unterstützt wurde diese Veröffentlichung von der Ärztekammer des Saarlandes, von der Landeszentrale für politische Bildung des Saarlandes und von der saarländischen Landesregierung. Grundlage dieser Veröffentlichung ist die aktualisierte und überarbeitete Fassung meiner medizinhistorischen Dissertation, die ich im Dezember 2007 am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg bei Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart abgeschlossen habe, für den Menschenwürde nicht verhandelbar war und dem ich diesen Vortrag widmen möchte. Er ist nach langer schwerer Krankheit am 16. August 2021 im Alter von 69 Jahren gestorben. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ * Der Beitrag ist ein Vortrag der Verfasserin zum Thema „»Euthanasie« und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945“ anlässlich der Mitgliederversammlung der Landesarbeitsgemeinschaft „Erinnerungsarbeit“ des Saarlandes am 12. Oktober 2021 in Wadgassen zum Jahresthema „Euthanasiepolitik und Umgang mit Psychiatrie in der NS-Zeit im Saarland“. Vgl. auch Saarländisches Ärzteblatt 75 (2022/1), S. 13–19. 1 Vgl. Gisela Tascher: Staat, Macht und ärztliche Berufsausübung 1920-1956. Gesundheitswesen und Politik: Das Beispiel Saarland (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), Paderborn 2010. 337
Gisela Tascher
Als Voraussetzung für meine Promotion musste ich in Heidelberg ein Semester lang ein Proseminar belegen; Schwerpunktthema war dabei „Medizin im Nationalsozialismus“. Geleitet wurde das Seminar von Prof. Dr. Maike Rotzoll, einer Medizinhistorikerin, die gleichzeitig Fachärztin für Psychiatrie ist und die zu dieser Zeit federführend an einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) beteiligt war, welches sich mit der wissenschaftlichen Erschließung und Auswertung des Krankenaktenbestandes der NS-Krankenmordaktion „T4“ beschäftigt hat. Neben der Einordnung des Themas in zeithistorische Abläufe habe ich versucht, die gesetzlichen Rahmenbedingungen der ärztlichen Berufsausübung zu analysieren und folgende Fragen zu beantworten: 1. Wie wurde die ärztliche Berufsausübung vor, während und nach der NS-Diktatur machtpolitisch und ideologisch beeinflusst? 2. Welche Rolle spielten dabei die ärztlichen Standesvertretungen? 3. Welche Konsequenzen hatte diese Einflussnahme auf das ärztliche Therapieverhalten und das Arzt-Patienten-Verhältnis? und 4. Welche strukturellen, ideologischen und personellen Kontinuitäten gab es? Die Auseinandersetzung mit dem Thema sollte einen Beitrag dafür leisten, das Bewusstsein ethischer Grenzen im medizinischen und interkollegialen Handeln zu schärfen und den Opfern der Medizinverbrechen, die während der NS-Diktatur auch im Saarland begangen wurden, zu gedenken. Zu dieser Gedenkarbeit gehören auch die Lebenswege der jüdischen Ärzte, die während dieser Zeit im Saarland ausgegrenzt, vertrieben und ermordet wurden.2 Sich in diesem Rahmen auch mit ethischen Grenzüberschreitungen, also mit Täterschaft und Tat auseinanderzusetzen, ist natürlich ein sehr schmerzhafter Prozess, dem auch ein ungeheurer Verdrängungswille nicht nur innerhalb der Ärzteschaft vorausgegangen ist, da dabei unmittelbar das Selbstverständnis und das politisch-moralische Gedächtnis einer ganzen Ärztegeneration berührt werden. Die Notwendigkeit dieser Auseinandersetzung ist auch der Tatsache geschuldet, dass weit über 70 Prozent der saarländischen und pfälzischen Ärzte mit ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP oder in einem der NSDAP ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 2 Vgl. Gisela Tascher: Erinnern – Gedenken – Aufklären: Das Schicksal jüdischer Ärzte im Saarland 1933–1945, in: Saarländisches Ärzteblatt 62 (2009/11), S. 16–29. 338
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
angeschlossenen Verbände das totalitäre System der NS-Diktatur mitgetragen und dabei zugelassen haben, dass die tradierten moralischen Grundwerte der ärztlichen Ethik im Interesse einer Ideologie umgedeutet wurden – aus welchen Gründen auch immer, ob aus Opportunismus, Karrierestreben, Anpassung oder Überzeugung. Am Ende dieser Entwicklung kam es zu Medizinverbrechen, denen viele Menschen auch im Saarland zum Opfer gefallen sind.
Der „Nürnberger Kodex“ von 1947 Im Nürnberger Ärzteprozess3 von 1946 stellte der Chefankläger in seinem Eröffnungsstatement fest, dass die angeklagten Ärzte alle den Hippokratischen Eid „geschworen“ hätten. Ganz folgerichtig schufen sich die Richter in diesem Prozess mit dem so genannten „Nürnberger Kodex“ eine Beurteilungsgrundlage für Verbrechen, die im Rahmen der Medizin möglich geworden waren, und sie verknüpften in diesem neuen Kodex die Prinzipien der hippokratischen Ethik der ärztlichen Verantwortung mit denen der Menschenrechte. Dieser Kodex von 1947 stellt das Wohl des einzelnen Menschen und seinen menschenrechtlichen Schutz in den Mittelpunkt der Medizin, nicht die Wissenschaft, nicht den Fortschritt und nicht das Wohl der Gesellschaft. Leider gerieten die Dokumentation4 zum Nürnberger Ärzteprozess wie auch der „Nürnberger Kodex“ von 1947 sehr lange in Vergessenheit, da viele der an den NS-Medizinverbrechen beteiligten Ärzte auch in der Nachkriegsmedizin in hervorgehobenen Positionen tätig waren. Dass die Grundprinzipien des „Nürnberger Kodex“ von 1947 auch heute im Zeitalter der Biomedizin und der Gentechnik- und Sterbehilfedebatten5 noch allgemein gültig sind, dafür haben sich viele Ärzte und Wissenschaftler ausgesprochen und davor gewarnt, die historisch belegte Norm des „Nürnberger Kodex“ der individualethischen Bindung der Medizin zugunsten einer kollektivethischen Orientierung zu verlassen. Besonders deutlich zeigt ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 3 Vgl. Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner: Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2002. 4 Vgl. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt am Main 162004. 5 Vgl. Andreas Frewer/Clemens Eickhoff (Hg): „Euthanasie” und die aktuelle Sterbehilfedebatte. Die historischen Hintergründe Medizinischer Ethik, Frankfurt am Main 2016. 339
Gisela Tascher
sich diese Argumentation in der „Nürnberger Erklärung des 115. Deutschen Ärztetages von 2012“, auf die ich am Ende meines Vortrages noch näher eingehen werde. Auch heute muss man bei der Formulierung von ethischen Grundsätzen im ärztlichen Handeln fragen, ob und inwieweit die ärztliche Berufsausübung machtpolitisch und ideologisch beeinflusst wird, und welche Strukturen innerhalb des Gesundheits- und Sozialwesens diese Beeinflussung fördern können. Diese Frage kann man aber nur im historischen Kontext beantworten, da es während der NS-Diktatur innerhalb des Gesundheits- und Sozialwesens und innerhalb der ärztlichen Standesorganisationen aus ideologischen und machtpolitischen Gründen zu strukturellen und personellen Veränderungen kam, die nach 1945 viele Kontinuitäten zeigen und bis heute noch nachwirken.6 Die Beispiele für Verdrängung und Beschönigung der NS-Vergangenheit von Ärztefunktionären reichen bis in die Gegenwart.7
„Gleichschaltung“, „Zentralisation“ und „Ausrichten nach dem Führerprinzip“ Schon kurz nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 kam es zu umfangreichen Veränderungen von Staat und Gesellschaft. Diese Veränderungen, die im Saarland erst nach der Volksabstimmung am 13. Januar 1935 durchgesetzt werden konnten, lassen sich mit den Schlagwörtern „Gleichschaltung“, „Zentralisation“ und „Ausrichten nach dem Führerprinzip“ beschreiben. Ziel Hitlers und der NSDAP war es, die vorhandenen gesellschaftlichen und staatlichen Organisationen zu übernehmen und entsprechend ihrer Ideologie auszurichten, also Staat und Gesellschaft in Deckungsgleichheit zu bringen und diese neue „Einheit“ nach dem Prinzip der Parteigliederungen der NSDAP zu gestalten und mit linientreuen Funktionären zu besetzen. Im Zentrum der ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 6 Vgl. Gisela Tascher: „Alt bewährte“ Strukturen, Funktionsträger und gesetzliche Bestimmungen. Gesundheitswesen und Politik im Saarland 1945–1957, in: Ludwig Linsmayer/Peter Wettmann-Jungblut (Hg.): Last aus tausend Jahren – NS-Vergangenheit und demokratischer Aufbruch im Saarstaat (= Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken Bd. 12), Saarbrücken 2013, S. 252–297. 7 Vgl. Stephan Braese/Dominik Groß: NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen der Aufarbeitung nach 1945, Frankfurt am Main 2015. 340
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
Ideologie der NSDAP standen rassen- und bevölkerungspolitische Ziele und die neue Definition des nationalsozialistischen „Sozialstaates“. Die soziale Verheißung von Hitler als „Heilsbringer“ für das deutsche Volk sollte eine so genannte „Volksgemeinschaft aller Stände, Berufe und Klassen“ sein, die soziale Geborgenheit, politische Gerechtigkeit und nationale Erneuerung der deutschen Gesellschaft versprach. Bindeglied dieses Sozialstaates sollte die völkisch und rassisch ausgerichtete Solidarität innerhalb der Gemeinschaft aller „erbgesunden Volksgenossen“ sein mit weitgehender Aufhebung der Klassenschranken, mit einer Ausdehnung der gesetzlichen Sozialversicherungsleistungen und dabei einem Ausbau der gesetzlichen Krankenversicherung, was auch ein Garant für den inneren Frieden sein sollte. Ideologisch wurde von der NSDAP genau definiert, wer aus dieser „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt und vernichtet werden sollte. Auch die Rechtfertigung antisemitischer Politik beruhte auf der Überzeugung einer biologischen wie geistigen Überlegenheit der „arischen Rasse“. Ärzte sollten laut Hitler noch über dem Juristen stehen als so genannte „Wächter der Rassenreinheit“ des deutschen Volkes und über die „Wertigkeit“ von Leben entscheiden. Dabei sollten auch grundlegende Rechtsgüter des liberalen Strafrechts wie der Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum den NSGrundwerten wie „Rasse, Ehre, Arbeit, Boden und Staat“ weichen und damit auch das Strafrecht in ein politisches Kampfinstrument des NS-Staates transformiert werden. Im Rahmen dieser Veränderungen wurden das gesamte deutsche Gesundheits- und Sozialwesen und auch die wissenschaftliche Medizin neu geordnet. Federführend bei dieser Umgestaltung war der „Nationalsozialistische Deutsche Ärzte-Bund“, der schon 1929 neben SA und SS als ärztliche „Kampforganisation“ innerhalb der NSDAP gegründet wurde und dem ab 1930 auch Zahn- und Tierärzte sowie Apotheker beitreten konnten. Die „Bezirksgruppe Saar“ des „Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte-Bundes“ wurde 1931 in Saarbrücken gegründet. Die Gleichschaltung des „Saarbrücker Ärztevereins“ und auch aller anderen Ärztevereine des Saargebietes mit dem „Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte-Bund“ erfolgte schon 1933 im vorauseilenden Gehorsam, genauso wie die Beteiligung an den Hetzkampagnen gegen jüdische Ärzte und Juristen des Saargebietes. Der „Nationalsozialistische Deutsche Ärzte-Bund“ entwickelte nicht nur die wesentlichen Grundlagen der rassenideologisch und völkisch ausgerichteten Gesundheitspolitik der NSDAP, er setzte sich auch zum Ziel, nicht nur die Ärzteschaft, sondern das gesamte 341
Gisela Tascher
Gesundheitswesen und die wissenschaftliche Medizin dem NS-Führungsanspruch zu unterwerfen und die wichtigsten Entscheidungsfunktionen mit Parteimitgliedern zu besetzen. Dies gelang ihm besonders gut im Saarland. Statt dem individuellen Patientenwohl sollten nun „Rassenhygiene“ und „Volksgesundheit“ Ziele medizinischen Handelns werden und die ärztliche Ethik den neuen moralischen Standards angepasst und umgedeutet werden.
Neue ärztliche Standesorganisationen Um diese Ziele durchzusetzen, wurde vom NS-Staat nicht nur das gesamte Gesundheits- und Sozialwesen umgestaltet, sondern auch neue zentralistisch geführte ärztliche Standesorganisationen geschaffen. Die vorhandenen ärztlichen Standesorganisationen wurden zu öffentlich-rechtlichen Kontroll- und Überwachungsstrukturen mit Zwangsmitgliedschaft, Hoheitsfunktionen, Pflichtfortbildung, Standesgerichtsbarkeit und Honorarverteilungsmonopol umgebaut. Begonnen wurde mit der Errichtung der „Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands“ (KVD) am 2. August 1933. Diese neuen Standesorganisationen dienten auch dazu, alle Ärzte statistisch zu erfassen, zentral zu überwachen und in die „planwirtschaftlichen“ Aufgaben und Ziele der NS-Gesundheits- und Sozialpolitik einzubinden. Mit der Gründung der Reichsärztekammer und mit der Verabschiedung der Reichsärzteordnung am 13. Dezember 1935 wurde aber auch die gesetzliche Grundlage geschaffen, so genannte „nicht arische“ und regimekritische Ärzte von der Berufsausübung auszugrenzen. Die vorhandenen führenden ärztlichen Verbände wie der „Hartmannbund“ und der „Deutsche Ärztevereinsbund“ gingen dabei freiwillig in diesen neuen öffentlich-rechtlichen Körperschaften auf und stellten ihr Vermögen und ihre Verbandsstrukturen den neuen Machthabern zur Verfügung. Im Mittelpunkt der ärztlichen Tätigkeit stand nicht mehr die Gesundheit der einzelnen Patienten, sondern die Gesunderhaltung der so genannten „arischen erbgesunden Volksgemeinschaft“. Dafür wurden die Ärzte wie auch viele andere Berufsgruppen in eigens dafür eingerichteten Schulungslagern auf ihre neue Aufgabe als „Erbpfleger
342
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
und Gesundheitsführer“ vorbereitet.8 Die Einrichtung von „Erbkarteien“, die Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen im Rahmen der so genannten „Verhütung erbkranken Nachwuchses“, die euphemistisch als „EuthanasieMaßnahmen“ bezeichneten Krankenmordaktionen und die verbrecherischen Humanexperimente waren Teil dieser von der NSDAP ideologisch instrumentalisierten Medizin.
Die „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ Als gesetzliche Grundlage für den Beginn dieser Entwicklung wurde schon am 14. Juli 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, aber erst am 25. Juli 1933 veröffentlicht mit wohl bedachter Rücksicht auf den Abschluss des „Reichskonkordates“ am 20. Juli 1933. Anzumerken ist, dass vor allem Ärzte Vordenker der Rassenideologie waren und dieses Gesetz auch formuliert haben. Das Gesetz sah die Sterilisierung „auch gegen den Willen des Unfruchtbarzumachenden“ und „gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs“ bei angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem manisch-depressivem Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz (Chorea Huntington), bei erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schwerer erblicher Missbildung sowie schwerem Alkoholismus vor. Später wurde das Gesetz auf „gefährliche Sittlichkeits- und Gewohnheitsverbrecher“ bzw. „Asoziale“ ausgedehnt und um einen Abtreibungsparagraphen erweitert. Das Antragsrecht lag beim Betroffenen selbst oder seinem Vormund, bei beamteten Ärzten sowie bei den Leitern von Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten. Erstinstanzlich lag die Entscheidung bei regional zu bildenden Erbgesundheitsgerichten, letztinstanzlich bei den an den Oberlandesgerichten anzugliedernden Erbgesundheitsobergerichten. Bereits 1935 waren es mehr als zweihundert Erbgesundheitsgerichte und dreißig Erbgesundheitsobergerichte, die in Deutschland Unrecht sprachen. Für die Durchsetzung dieses Gesetzes wurden auch alle saarländischen Bürger einer so genannten „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ unterzogen, bei der aber nicht nur die „Erbkranken“, sondern auch ihre Angehörigen ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 8 Vgl. Gisela Tascher: „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rhese: Ein trügerisches Idyll, in: Saarländisches Ärzteblatt 64 (2011/4), S. 7–13. 343
Gisela Tascher
und Verwandten registriert und stigmatisiert wurden. Bei der Erstellung dieser umfangreichen zentralen Sammlung persönlicher und nicht anonymisierter Daten arbeiteten nicht nur Ärzte und medizinisches Personal als Erfüllungsgehilfen mit, sondern auch Bürgermeister, Gemeindeverwaltungen, Landräte, Standesämter, Schulräte, Polizeibehörden, Jugendämter, sämtliche Fürsorgestellen, Zahnärzte, Hebammen und Fürsorgerinnen. Ziel der Maßnahmen war – im Wortlaut der NS-Ideologie – die „Ausschaltung Erbuntüchtiger von der Fortpflanzung“, die „Bekämpfung der Rassenmischung“ und die „bewusste Förderung wertvoller gesundheitlich und rassisch erbtüchtiger kinAbb. 1: Volk und Rasse 11. Jg. Nr. 8 (1936), derreicher Familien“. Diese Maßnahmen S. 335 sollten für die Zukunft auch eine außerordentliche Entlastung für die deutsche Volkswirtschaft bringen. Dabei fungierten die 1935 auch im Saarland neu geschaffenen und personell aufgeblähten staatlichen Gesundheitsämter als Schaltzentralen zur Durchsetzung der Rassenideologie der NSDAP. Die gesetzliche Grundlage dafür war das „Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“, das am 1. April 1935 in Kraft trat. Der Leiter dieser Gesundheitsämter trug die Amtsbezeichnung „Amtsarzt“ und musste in jedem Fall hinsichtlich seiner „arischen“ Abstammung und der seiner Ehefrau den Erfordernissen des „Reichsbeamtengesetzes“ vom 30. Juni 1933 genügen. Das gleiche galt für seinen Stellvertreter und für diejenigen Ärzte, die im Gesundheitsamt die gerichtsärztliche Tätigkeit oder die Tätigkeit in der Erb- und Rassenpflege einschließlich der Eheberatung ausübten. Diese Ärzte wurden ideologisch geschult in den beiden 1933 extra dafür errichteten „Staatsmedizinischen Akademien“ in Berlin-Charlottenburg und in München. Über die Umsetzung des „Erbgesundheitsgesetzes“ liegen für die ersten Jahre Zahlen vor, die vom Reichsjustizministerium ermittelt wurden und die 344
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
auf persönliche Weisung Hitlers geheim bleiben sollten. 1934 wurden im gesamten Reichsgebiet 84 604 Sterilisationsanträge gestellt, 62 463 Sterilisationen beschlossen, allerdings nur 32 268 durchgeführt. 1935 waren es mehr als 73 000 Männer und Frauen, die ihre Zeugungsfähigkeit einbüßen mussten, 1936 weit mehr als 63 000. In diesem Zeitraum, auch darüber berichtet die Statistik, starben an der Sterilisationsoperation insgesamt 367 Frauen und 70 Männer. Außerdem stieg die Rate der Anwendung unmittelbarer Gewalt bei der Durchführung der Sterilisation. Insgesamt dürften zwischen 1933 und 1945 nach einer tief angesetzten Schätzung des Bundesjustizministeriums etwa 360 000 Menschen in Deutschland ihrer Zeugungsfähigkeit gewaltsam beraubt worden sein. Hinzu kommen mehr als 500 gesunde, „farbige“ deutsche Kinder, die so genannten „Rheinlandbastarde“, die im Frühjahr 1937 im Rahmen einer streng geheimen Aktion der Gestapo zwangssterilisiert wurden.9 Die Zwangssterilisation dieser Kinder, die infolge eines streng geheimen „Führerbefehls“ von Hitler vom Reichsinnenministerium vorbereitet und koordiniert wurde, war von den NS-Gesetzen nicht gedeckt und damit illegal. Auch im Saarland wurden Kinder Opfer dieser Aktion. Im Saarland wurden von November 1935 bis Januar 1944 nachweislich 2886 Sterilisationsanträge von den Amtsärzten an das Erbgesundheitsgericht in Saarbrücken gestellt. Die Sterilisationsoperationen der saarländischen Patienten wurden im Landeskrankenhaus Homburg10, in der Heil- und Pflegeanstalt Merzig, im Bürgerhospital Saarbrücken und im Stadtkrankenhaus Ludwigshafen durchgeführt.
Die „NS-Krankenmordaktion“ Bereits während der Umsetzung der Zwangssterilisationen auf der Grundlage des „Erbgesundheitsgesetzes“ wurde auch die Ermordung geistig und körper⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 9 Vgl. Gisela Tascher: NS-Zwangssterilisationen. Handeln auf Befehl des Führers. Die illegale und streng geheime Zwangssterilisation der „Rheinlandbastarde“ von 1937 und die Strafverfolgung der ärztlichen Täter nach 1945, in: Deutsches Ärzteblatt 2016; 113 (10): A 420–2. 10 Vgl. Gisela Tascher: Nationalsozialismus und Landeskrankenhaus, in: Von der Pfälzischen Heilund Pflegeanstalt zum Universitätsklinikum des Saarlandes UKS. Festschrift 1909-2009, hg. vom Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg 2009, S. 15–24. 345
Gisela Tascher
lich behinderter Patienten im Rahmen einer groß angelegten „EuthanasieAktion“ unter dem Decknamen „Gnadentod“ angedacht und vorbereitet – vor allem von renommierten Psychiatern, Neurologen, Gynäkologen und Pädiatern.11 Zielgruppe dafür waren in Krankenhäusern untergebrachte und vorgeblich nicht arbeitsfähige und schwer anpassbare Patienten sowie Neugeborene, Kleinkinder und Jugendliche, die an „Idiotie“, „Mongolismus“, Missbildungen oder Lähmungen litten. Die „Planwirtschaftliche Erfassung“ der Patienten aller Heil- und Pflegeanstalten und aller psychiatrischen Kliniken des Reichsgebietes erfolgte mithilfe eines extra dafür entwickelten Fragebogens. Da bei der „Kinder-Euthanasie“ diejenigen behinderten Kinder getötet werden sollten, die nicht in Anstaltspflege lebten, erfolgte die Meldung an die zentrale Planungsinstanz von den Amtsärzten der staatlichen Gesundheitsämter, denen auch alle Hebammen meldepflichtig waren. Die Krankentötungen wurden euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichnet, womit legitimatorisch Bezug genommen worden ist auf die seit Ende des 19. Jahrhunderts geführte Diskussion um den so genannten „Gnadentod“ für unheilbar kranke und hoffnungslos leidende Menschen. Schon 1935 auf dem Reichsparteitag der NSDAP hatte Reichsärzteführer Gerhard Wagner, der auch Vorsitzender des „Nationalsozialistischen Deutschen Ärzte-Bundes“ war, versucht, von Hitler eine „Führerentscheidung“ zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ herbeizuführen. Diese „Führerentscheidung“ erfolgte dann kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, rückdaiert auf den 1. September 1939. Hitler beauftragte damit seinen „Begleitarzt“ Karl Brandt und Philipp Bouhler, den Chef der „Kanzlei des Führers“. Begonnen wurde mit der „Kinder-Euthanasie“. Die Illegalität der Aktion verpflichtete die Verantwortlichen zur Geheimhaltung. Weil die Kanzlei des Führers und das Reichsministerium des Innern nicht in Erscheinung treten durften, gründete man mehrere Tarnorganisationen: Für die „Kinder-Euthanasie“ den so genannten „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“, der aus dem um die Jahreswende 1937/38 gegründeten „Reichsausschuss für Erbgesundheitsfragen“ hervorging. Als bürokratischer Apparat dieses Reichsausschusses fungierte die „Unterabteilung Erb- und Ras⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 11 Für Österreich wurde eine erste Studie 2015 vorgelegt: Herbert Brettl/Michael Hess: NS-Euthanasie im Burgenland, Eisenstadt 2015. 346
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
senpflege“ des Reichsinnenministeriums. Die Tötung der Kinder erfolgte mithilfe von Medikamenten und Nahrungsmittelentzug in so genannten „Kinderfachabteilungen“, die in über dreißig bestehenden Heil- und Pflegeanstalten, Kinderkrankenhäusern und Universitätskinderkliniken eingerichtet wurden. Für die „Erwachsenen-Euthanasie“ wurden folgende Tarnorganisationen gegründet: 1. Die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“, die für die Verschickung und Auswertung von Fragebögen zur Erfassung der Mordopfer verantwortlich war, 2. die „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“ GEKRAT für den Transport der Mordopfer, 3. die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ für die finanzielle Abwicklung der „Euthanasieaktion“ und 4. die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“ für die Abrechnung der Pflegegelder mit den Kostenträgern. Hinter diesen Tarnorganisationen verbarg sich ein bürokratischer Apparat, der mehr als einhundert Personen umfasste – ohne die 42 ärztlichen Gutachter, die, wie die drei Gutachter der „Kinder-Euthanasie“, mit einem Kreuzchen auf Papier über den Tod von Patienten bestimmen konnten, ohne die Patienten jemals gesehen zu haben. Unter den „Euthanasie-Gutachtern“ befanden sich auch viele angesehene Psychiatrieprofessoren. Hinzu kamen mehr als fünfzig Ärzte, die unmittelbar und freiwillig im „Euthanasieapparat“ tätig waren und teilweise Tarnnamen benutzten. Sitz der Zentraldienststelle war eine Villa in Berlin in der Tiergartenstraße 4, weshalb die „ErwachsenenEuthanasie“ nach dem Ende des Krieges als „Aktion T4“12 bezeichnet wurde. Auf Anraten eines Experten des Reichskriminalpolizeiamtes entschied sich die „Euthanasiezentrale“ in der Frage der Todesart für die Vergasung mit Kohlenmonoxyd. Im Verlauf der „Aktion T4“ wurden sechs Einrichtungen beschlagnahmt und mit Gaskammern, die als Duschräume getarnt waren, sowie Krematorien ausgerüstet. Zentrale Orte des Mordens waren das ehemalige Zuchthaus Brandenburg, Schloss Grafeneck bei Reutlingen, Schloss Hartheim ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 12 Vgl. Maike Rotzoll/Gerrit Hohendorf/Petra Fuchs/Paul Richter/Christoph Mundt/Wolfgang U. Eckart (Hg.): Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“ und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010. 347
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bei Linz, die Heilanstalt Sonnenstein in Pirna bei Dresden, die Landesheil- und Pflegeanstalt Bernburg an der Saale und die hessische Landesheilanstalt Hadamar. Angeschlossen waren „Trostbriefabteilungen“ zur Benachrichtigung der Familien der Mordopfer und „Sonderstandesämter“, die gefälschte Sterbeurkunden ausstellten. Die Überführung der Patienten, die auf den Todeslisten standen, in die Vernichtungsanstalten erfolgte zu Tarnzwecken über so genannte „Zwischenanstalten“. Den Mordopfern wurde kurz vor der Tötung noch eine Verwaltungs-Nummer aufgestempelt und davon ein Foto erstellt. Ein Kreuz auf dem Rücken bekamen diejenigen, denen vor der Einäscherung noch die Goldzähne herausgebrochen werden sollten. Die „T4“-Zentrale bereicherte sich aber nicht nur an den Goldzähnen und am Nachlass der Mordopfer. Der weitaus größte Anteil des Bereicherungssystems der „T4“ dürfte mit der Falschangabe zum Sterbedatum erwirtschaftet worden sein – eine Erschleichung von Pflegegeldern durch gefälschte Kostenabrechnungen. Die „Euthanasieaktion“ lässt sich grob in zwei Phasen unterteilen, deren erste bis zum so genannten „Stopp” am 21. August 1941 dauerte, als die Richtgröße von etwa 70 000 Getöteten erreicht war. Danach begann eine zweite Phase, die dadurch charakterisiert war, dass kriegsbedingt immer neue Menschengruppen in den Kreis derer, die selektiert und dann getötet werden sollten, hineingestellt wurden: alle jüdischen Psychiatriepatienten, Tuberkulosekranke, Alte und Schwache, wohnungslose so genannte „Streuner”, Arbeitsunwillige, schwache und kränkliche KZ-Insassen, insbesondere sowjetische Kriegsgefangene, als so genannte „Zigeuner” diffamierte Sinti und Roma, als „asozial“ geltende Kinder und Erwachsene, psychisch kranke Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion, psychisch kranke Bombenopfer, psychisch kranke Soldaten13, sowohl der Wehrmacht als auch der Waffen-SS, und viele andere mehr. Gemordet wurde nicht nur in einer Gaskammer, sondern später auch dezentral mit tödlichen Injektionen und mit Medikationen sowie durch vorsätzliches Verhungernlassen. Die „T4-Zentrale“ stellte dafür nicht nur die Medikamente zur Verfügung, sondern der Beauftragte Hitlers für die „Euthanasieaktion“, Karl Brandt, ermächtigte ab 1943 auch einzelne Psychiater, Krankentötungen
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 13 Für den Hinweis bedanke ich mich bei dem Militärhistoriker Jens Westemeier, der als Experte für die Geschichte der SS seit Jahrzehnten zu diesem Thema forscht. 348
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
in Heil- und Pflegeanstalten durchzuführen.14 Bis Ende November 1941 selektierten „T4-Ärzte“ ungefähr 15 000 Häftlinge in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Buchenwald, Auschwitz, Mauthausen, Dachau, Ravensbrück, Flossenbürg und Neuengamme und schickten sie in die Gaskammern der Tötungsanstalten. Diese Phase mündete unmittelbar in die „Endlösung der Judenfrage”, die auf der „Wannseekonferenz“ am 20. Januar 1942 besiegelt wurde. 1942 gab die für die Organisation des Krankenmordes verantwortliche Berliner „Aktionszentrale Tiergartenstraße 4“ („T4“) über einhundert ihrer Verwaltungsspezialisten an die Vernichtungslager im besetzten Polen ab. Die ersten Kommandanten der Lager Belzec, Sobibor und Treblinka kamen aus der „T4-Zentrale“ und wurden weiterhin von ihr bezahlt. Nur ein Jahr später waren bereits 2,4 Millionen europäischer Juden in Konzentrationslager verschleppt und ermordet worden. Beim Zusammenbruch der NS-Diktatur waren es annähernd sechs Millionen Juden. Die „Krankenmord-Aktion T4” ist vom millionenfachen Mord an der jüdischen Bevölkerung Europas nicht zu trennen, denn die Spirale des organisatorisch und technisch perfekten Tötens, die sich seit der Erprobung von Zyklon B im KZ Auschwitz am 3. September 1941 immer schneller zu drehen begann, hatte ihren Ausgang bei den KohlenmonoxydVergasungen der „Euthanasieaktion“ genommen. Hinzu kommt die Verbindungslinie zwischen der „Euthanasieaktion“ und den „Einsatzgruppenmorden“ sowohl in Polen nach dem 1. September 1939 als auch in der Sowjetunion nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 22. Juni 1941. Im Rahmen des so genannten „Generalplans Ost“ war das auch ein Vernichtungsfeldzug gegen die Patienten der psychiatrischen Krankenhäuser. Der frei gewordene Anstaltsraum wurde in der Regel der Wehrmacht zur Verfügung gestellt. Dabei agierten Wehrmachtsstellen auch von sich aus. Neueste Studien zeigen, dass allein in den Heil- und Pflegeanstalten des Deutschen Reiches und der annektierten bzw. besetzten Gebiete in den Jahren von 1939 bis 1945 etwa 260 000 psychisch Kranke und geistig Behinderte ermordet wurden. Der Ablauf der „NS-Euthanasie“ wird in der historischen Forschung in unterschiedliche Aktionen bzw. Phasen eingeteilt. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 14 Vgl. Alice Platen-Hallermund: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland, Frankfurt am Main 8 2013. 349
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− 1939–1945: „Kinder-Euthanasie“, die Ermordung „missgebildeter“ Neugeborener, Kleinkinder, Kinder und Jugendlicher in sog. „Kinderfachabteilungen“ durch Medikamente und Nahrungsentzug; − 1939–1941: „Aktion T4“, die Ermordung von Patientinnen, Patienten und Pfleglingen aus Heil- und Pflegeanstalten in den Gaskammern der „Euthanasie-Tötungsanstalten“ Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna/ Sonnenstein, Bernburg und Hadamar; − 1941–1945: Lokale „Euthanasie“, dezentrale Morde durch Injektionen, durch Medikamente und Nahrungsentzug in vielen Heil- und Pflegeanstalten und anderen Krankenhaus- bzw. Krankenhaussonderbauten; − 1941–1944: „Aktion 14f13“, die Ermordung arbeitsunfähiger oder politisch bzw. „rassisch“ verfolgter Häftlinge von Konzentrationslagern in den „Euthanasie-Tötungsanstalten“; − 1943–1944: Ermordung geisteskranker Ostarbeiterinnen und -arbeiter in den „Euthanasie-Tötungsanstalten“.
Die NS-Krankenmordaktion im Saarland Wie viele saarländische Patienten im Rahmen der einzelnen Phasen der „Euthanasieaktion“ insgesamt bis Kriegsende getötet wurden, kann nicht genau gesagt werden. Nur für die erste Phase der Vernichtung, die mit der „kriegsbedingten“ Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig und des Landeskrankenhauses Homburg im September 1939 begann, liegen Zahlen vor. Von diesen ca. 1500 Psychiatriepatienten überlebte nicht einmal ein Viertel das Kriegsende. Bekannt ist dagegen, dass im „Gau Westmark“ durch die Lage an der Westfront besonders viele Krankenbetten für militärische Zwecke benötigt wurden. Um die genaue Anzahl der im Saarland im Rahmen der „Euthanasieaktion“ ermordeten Patienten zu ermitteln, wäre eine eigenständige Studie notwendig, die den ganzen „Gau Westmark“ und Lothringen und die alle für die Zeit von 1939 bis 1945 in Frage kommenden Patientengruppen betrachten müsste. Die saarländischen Psychiatriepatienten wurden ab 1941 vor allem in der lothringischen Heil- und Pflegeanstalt Lörchingen und in der pfälzischen Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster untergebracht. Die Anstalt Klingenmünster nahm ab 1941 im „Gau Westmark“ im Rahmen der geplanten 350
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
„Euthanasiemaßnahmen“ eine Schlüsselposition ein. Über diese Anstalt erfolgten alle Zwischenverlegungen von Patienten aus den Heil- und Pflegeanstalten Frankenthal und Lörchingen, die zur Tötung vorgesehen waren. Aber auch für andere reichsdeutsche Anstalten wurde Klingenmünster als Zwischenanstalt benutzt. Von 1943 bis Kriegsende verschärfte sich noch einmal diese Praxis, da kriegsbedingt mehr freier Anstaltsraum benötigt wurde. Im September 1944 nach der Invasion der Alliierten in der Normandie forderte Gauleiter Joseph Bürckel15 die Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster auf, trotz ihrer bekannten Überbelegung die Patienten, die Ärzte und das Pflegepersonal der Heil- und Pflegeanstalt Lörchingen aufzunehmen. Um für diese Patienten Platz zu schaffen, wurden vor allem tuberkulöse und geisteskranke Zwangsarbeiter polnischer und sowjetischer Herkunft nach Hadamar verlegt und getötet, sowie Sicherungsverwahrte und politische Häftlinge in die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen transportiert. Von den Patienten, die im September 1944 von der Heil- und Pflegeanstalt Lörchingen in die Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster verlegt wurden, verstarb ein Teil in Klingenmünster, während eine unbekannte Anzahl nach Hadamar verlegt und dort getötet wurde. Die Heil- und Pflegeanstalt Merzig und das Landeskrankenhaus Homburg wurden nach der Räumung von 1939 bis Kriegsende vorwiegend militärisch genutzt. Im Rahmen dieser Nutzung errichtete die „Organisation Todt“ Ende 1941 auf dem Gelände des Landeskrankenhauses Homburg zusätzlich Baracken für die medizinische Betreuung sowjetischer Kriegsgefangener. Überliefert ist, dass die kranken, aus allen Gebieten des „Gau Westmark“ nach Homburg überstellten Kriegsgefangenen in kurzer Zeit zu Hunderten starben. Leiter dieses Lagerlazaretts für Kriegsgefangene mit bis zu achthundert Betten war der Psychiater und „T4“-Gutachter Hans Heene, der auch als Oberstabsarzt der Wehrmacht in Homburg tätig war und der 1937 als Chefarzt der neurologischen Abteilung des Landeskrankenhauses Homburg für die so genannte „Erbbestandsaufnahme“ innerhalb der saarländischen Heil- und Pflegeanstalten und Krankenhäuser verantwortlich war – übrigens gemeinsam mit seinem Oberarzt, dem Psychiater und späteren Leiter der Heil- und Pflegeanstalt ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 15 Zu einem besonderen Kapitel zu Bürckel vgl. Gisela Tascher: Wilhelm Ewig – Erster „Gaugesundheitsführer“ und Leibarzt der Familie von Gauleiter Joseph Bürckel, in: Mathias Schmidt/ Dominik Groß/Jens Westemeier (Hg.): Die Ärzte der Naziführer. Karrieren und Netzwerke, Münster 2018, S. 227–235. 351
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Lörchingen, Rudolf Leppien, der vor seinem Wechsel nach Lörchingen 1939 zur Schulung an die „Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in München abgeordnet war. Neuere Forschungen zeigen, dass das Landeskrankenhaus Homburg nicht nur in die „NS-Hirnforschung“, sondern auch während der militärischen Nutzung mit ihrer 1941 errichteten „neurologisch-psychiatrischen Beobachtungsstation“ innerhalb der „Abteilung für Gehirn- und Nervenschussverletzte“ höchstwahrscheinlich in die letzte Phase der „NS-Euthanasie“ im Rahmen der so genannten „Aktion Brandt“ eingebunden war. Zur näheren Erklärung: Von 1942 bis Anfang 1945 koordinierte der „Begleitarzt“ von Hitler, Karl Brandt, in seiner neuen Funktion als „Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen“ sowohl die Vernetzung des zivilen und militärischen Gesundheitswesens als auch der medizinischen und militärmedizinischen Forschung – und das neben seiner Funktion als Beauftragter Hitlers für die „Euthanasieaktion“. Zum Sanitätswesen gehörten dabei das Sanitätswesen der gesamten Wehrmacht, dem das Sanitätswesen der SS und Polizei unterstellt war, und das Sanitätswesen der „Organisation Todt“, das zum „Reichsministerium Speer“ gehörte. Eine Zusammenarbeit der „T4-Zentrale“ mit dem Vorgängerministerium des „Reichsministeriums Speer“ und der „Organisation Todt“ gab es schon seit Ende 1941. Als „Aktion Brandt“16 wird ein Programm des NS-Staates bezeichnet, das ab etwa Ende 1942 dazu diente, Bettenplätze für Ausweichkrankenhäuser und Lazarette in Heil- und Pflegeanstalten in nicht vom Luftkrieg bedrohten Regionen zu schaffen. Dieses Programm war Teil der letzten Phase der „Euthanasieaktion“. Zuständig für die Auswahl und den Bau der Ausweichkrankenhäuser war der aus Trier stammende Chef des Sanitätswesens der „Organisation Todt“, Aloys Poschmann17, der diesbezüglich sehr eng zusammenarbeitete mit der „Abteilung Rüstungsausbau“ des „Reichsministeriums Speer“. Poschmann, der ab Juli 1938 Assistenzarzt an der Heil- und Pflegeanstalt Merzig war, hatte auch die ärztliche Oberaufsicht aller Dienststellen des „Reichsministeriums Speer“, zu dessen „Produktionsmitteln“ auch Zwangsarbeiter und Konzentrationslager-Häftlinge gehörten. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 16 Vgl. Udo Benzenhöfer: Der Bau von Ausweichkrankenhäusern und die Verlegung von Geisteskranken in Verantwortung von Karl Brandt nach dem Stopp der Aktion „T4“, Ulm 2018. 17 Vgl. hierzu LA Saarbrücken. Personalakte Alois Poschmann, geb. am 19. Februar 1909 in Trier. 352
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
Abb. 2: Lazarett Kirkel-Forstgarten im Mai 1945 [Fotosammlung Landratsamt Homburg]
Die so genannte „Krankenhaus-Sonderanlage Aktion Brandt“ in Kirkel-Neuhäusel18 wurde am 13. März 1945 kurz vor ihrer Fertigstellung und Eröffnung von amerikanischen Bomben zerstört, da die Anlage von den Amerikanern fälschlicherweise als ein Teil des Munitionslagers des Westwalls betrachtet wurde. Neben dieser Krankenhaussonderanlage gab es auch eine umfangreiche Erweiterung des Friedhofsgeländes. Überliefert ist auch, dass Ende 1944 die Pathologische Abteilung des Institutes für Hygiene und Infektionskrankheiten Saarbrücken auf das Gelände des Landeskrankenhauses Homburg verlegt worden ist. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 18 Für Informationen und Fotos zur „Krankenhaus-Sonderanlage Aktion Brandt“ in KirkelNeuhäusel möchte ich mich bei Walter Ruby, Ruth Schwartz und Orthrun Reviol aus Kirkel, bei Martin Baus und Karina Kloos aus Homburg/ Saar sowie bei Esther Ringling aus Pirmasens recht herzlich bedanken. 353
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Auch im Rahmen des noch nicht abgeschlossenen Opfer-Forschungsprojektes zur „Hirnforschung an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kontext nationalsozialistischer Unrechtstaten: Hirnpräparate in Instituten der Max-Planck-Gesellschaft und die Identifizierung der Opfer“ 19 wurden Krankenakten und Hirnpräparate von Patienten aus dem Landeskrankenhaus Homburg und aus den Heil- und Pflegeanstalten Lörchingen und Merzig nachgewiesen. Dieses Forschungsprojekt, das von der „Max-Planck-Gesellschaft“ gefördert wird, ist ein Kooperationsprojekt zwischen der „Technischen Universität München“, der „Medizinischen Universität Wien“, der „Oxford Brookes University“, und dem „US Holocaust Memorial Museum“. Wann die Publikation und die wissenschaftliche Einordnung dieser Forschungsergebnisse erfolgen werden, ist noch nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass stigmatisierende und entwertende Begriffe und Handlungsweisen gegenüber kranken und behinderten Menschen in erheblichen Umfang auch nach 1945 weiter angewendet wurden. Auch im Saarland gibt es dafür Belege.
Die Nürnberger Erklärung des 115. Deutschen Ärztetages von 201220 Nachfolgend wie angekündigt der Wortlaut der Nürnberger Erklärung des 115. Deutschen Ärztetages von 2012, der von namhaften Medizinhistorikern und Ärzten formuliert wurde: „Der 115. Deutsche Ärztetag findet 2012 in Nürnberg statt, an dem Ort also, an dem vor 65 Jahren 20 Ärzte als führende Vertreter der ‚staatlichen medizinischen Dienste’ des nationalsozialistischen Staates wegen medizinischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurden. Die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen noch größer war als im Prozess angenommen. Wir wissen heute deutlich mehr über Ziele und Praxis der vielfach tödlich endenden unfreiwilligen Menschenversuche mit vielen tausend Opfern und die Tötung von über 200 000 psychisch kranken und behinderten Menschen, ebenso über die Zwangssterilisation von über 360 000 als ‚erbkrank’ klassifizierten Menschen. Im Gegensatz zu noch immer weit verbreiteten Annahmen ging die Initiative gerade für
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 19 Für die Vorabinformationen zu diesem Forschungsprojekt danke ich besonders Philipp Rauh, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin TUMEGEO. 20 Hierzu: Archiv der Bundeszahnärztekammer: Beschlussprotokoll des 115. Deutschen Ärztetages 2012. 354
„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945 diese gravierendsten Menschenrechtsverletzungen nicht von politischen Instanzen, sondern von den Ärzten selbst aus. Diese Verbrechen waren auch nicht die Taten einzelner Ärzte, sondern sie geschahen unter Mitbeteiligung führender Repräsentanten der verfassten Ärzteschaft sowie medizinischer Fachgesellschaften und ebenso unter maßgeblicher Beteiligung von herausragenden Vertretern der universitären Medizin sowie von renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen. Diese Menschenrechtsverletzungen durch die NS-Medizin wirken bis heute nach und werfen Fragen auf, die das Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte, ihr professionelles Handeln und die Medizinethik betreffen. Der 115. Deutsche Ärztetag stellt deshalb in seiner Nürnberger Erklärung 2012 fest: Wir erkennen die wesentliche Mitverantwortung von Ärzten an den Unrechtstaten der NS-Medizin an und betrachten das Geschehene als Mahnung für die Gegenwart und die Zukunft. Wir bekunden unser tiefstes Bedauern darüber, dass Ärzte sich entgegen ihrem Heilauftrag durch vielfache Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, gedenken der noch lebenden und der bereits verstorbenen Opfer sowie ihrer Nachkommen und bitten sie um Verzeihung. Wir verpflichten uns als Deutscher Ärztetag darauf hinzuwirken, dass die weitere historische Forschung und Aufarbeitung von den Gremien der bundesrepublikanischen Ärzteschaft aktiv sowohl durch direkte finanzielle als auch durch institutionelle Unterstützung, wie etwa den unbeschränkten Zugang zu den Archiven, gefördert wird.“
Interaktion von Medizingeschichte und Medizinethik Noch zwei Anmerkungen zur Interaktion von Medizingeschichte und Medizinethik im Kontext zur aktuell geführten Sterbehilfedebatte. Die „Medizin ohne Menschlichkeit“ des NS-Staates und die damit verbundene Pervertierung der Begriffe „Euthanasie“ und „Gnadentod“ bürdet der Debatte um Sterbehilfe eine hohe Verantwortung auf. Eine besondere Gefahr geht dabei von folgenden Tendenzen aus: von der „Ökonomisierung der Medizin“, von der „Biologisierung des Sozialen“ und von der „Relativierung des Einzelnen“. An das Ende meines Vortrages möchte ich ein Zitat von Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart stellen: „Wir sind als Historiker keine Opfer, und wir sind auch keine wirklichen Zeugen. Wir haben die tiefsten seelischen und physischen Abgründe der Opfer nie gefühlt und gesehen. Dass wir als Forscher und Lehrer nach ihnen leben dürfen, ist nichts als Zufall und Glück, und dass wir über sie schreiben und ihnen nachforschen, ist immer auch ein gutes Stück Anmaßung und Grenzüberschreitung. Dass wir aber über die berichten dürfen, die sie in ihre Abgründe gestoßen haben, ist unsere Pflicht und Schuldigkeit. Die getö-
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teten und traumatisierten Opfer können es nicht mehr tun, denn sie können nicht mehr zurückkehren, oder sie sind stumm geworden. Wir aber können zumindest versuchen, ihnen einen Teil ihrer Stimme wiederzugeben, von ihrem Schicksal zu berichten, es für die Nachwelt festzuhalten, an ihr Schicksal unsere Wahrnehmung für die Gegenwart zu schärfen und so auch auf diese Weise an sie zu erinnern.“21
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 21 Vgl. Wolfgang U. Eckart: Verbrecherische Medizin unter der NS-Diktatur: Forschen, Lehren und mahnendes Erinnern als Aufgabe, in: Saarländisches Ärzteblatt 63 (2010/12), S. 12–21. 356
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
65 Jahre Bundesland Saarland – Identität im Wandel Verblasst die Frankreich-Orientierung? Von Hans-Christian Herrmann
Im Jahr 2022 wurde das Bundesland Saarland 65 Jahre alt. Ein Anlass darüber nachzudenken, wer wir sind. Diese Identitätsfrage berührt auch die Existenzberechtigung des Bundeslandes, das immer wieder in Frage gestellt wird. Der folgende Beitrag versucht die saarländischen Identitätzuschreibungen seit seiner Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland ab 1957 essayistisch zu skizzieren. Schwerpunkt bildet dabei die Perspektive der Eliten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und das von ihnen vermittelte Selbstverständnis des Landes. Die Geschichte des Bundeslandes Saarland ist ohne die Vorgeschichte der Autonomiezeit nicht denkbar. Ein Denkmal aus dieser Zeit ist das von dem französischen Architekten Georges Henri Pingusson gestaltete Gebäude der französischen Botschaft in Saarbrücken. Ein paar Wochen vor dem sogenannten Tag X, der wirtschaftlichen Rückgliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik im Juli 1959, beschrieb Peter Scholl-Latour die kommenden Ereignisse mit geradezu poetischer Feder: „Der kühne, engbrüstige Wabenbau [Pingusson-Bau], der das Hafengelände von Saarbrücken beherrscht und im Volksmund das ‚schmale Handtuch‘ heißt, wird in absehbarer Zeit den Bewohner wechseln. An Wintertagen täuschten die hellerleuchteten Fensterreihen vor dem dunklen Wasser der Saar die Silhouette eines Ozeanriesen vor. Die alte Mannschaft der französischen Vertretung in Saarbrücken wird demnächst von Bord gehen. Mit der wirtschaftlichen Angliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik hört die Saarbrücker Delegation der französischen Botschaft in der Bundesrepublik zu bestehen auf. An ihre Stelle wird ein französisches Generalkonsulat treten (…). Die Franzosen ziehen aus, aber sie brechen die Brücken nicht ab“.1
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 1 Saarbrücker Zeitung, 6.6.1959. 357
Hans-Christian Herrmann
Abb. 1: Eine Momentaufnahme aus den 1970er Jahren zum Verwischen der Grenzen im saarländischen Alltag. Ein französischer Polizist regelt im saarländischen Neunkirchen den Verkehr. [Stadtarchiv Saarbrücken, Fotograf Reiner Oettinger, Nachlass Reiner Oettinger]
Damit hatte Scholl-Latour absolut recht, viel mehr als ihm vermutlich selbst bewusst war. Das Gebäude sollte dem Kultusministerium dienen. Es erzählt die gescheiterte Vision der autonomen Saar in einem vereinten Europa, zugleich aber auch ihr Happy End, nämlich die Rolle des Bundeslandes als Brücke zwischen Deutschland und Frankreich in einem vereinten Europa.
Frankreich als besondere Größe saarländischer Geschichte Das kleine Saarland teilt heute eine 157 km lange Grenze mit Frankreich. Durch das Land verlief nie die deutsch-französische Sprachgrenze. Das Land an der Saar war ein Territorialmosaik, weite Teile gehörten seit 1815 zum Königreich Preußen bzw. zur preußischen Rheinprovinz und ein kleinerer Teil zum Königreich Bayern bzw. zur bayerischen Pfalz. Davor waren Teile des heutigen Saarland beim Herzogtum Lothringen und waren damit Objekt von Auseinandersetzungen zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und dem Königreich Frankreich bei dessen Expansionsstreben nach Osten. Die Festungsstadt Saarlouis ist eine Gründung Ludwigs XIV. im Jahr 1680. Mit der Französischen Revolution wurde das Saarland Teil der französischen Herrschaft links des Rheins. Im 20. Jahrhundert wechselte die staatliche Zugehörigkeit, bedingt durch die Weltkriege, mehrfach. Bis 1919 war die Saar Teil des Deutschen Reiches und grenzte an die Reichslande Elsass-Lothringen an, was bedeutete, dass die deutsche Landesgrenze nach Westen verschoben worden war. Von 1920 bis 1935 wurde das Saargebiet unter Völkerbundverwaltung gestellt und von Deutschland abgetrennt. Erstmals in seiner Geschichte 358
65 Jahre Bundesland Saarland
bildete das Land an der Saar eine wirtschaftliche, administrative und vor allem politische Einheit. Maßgeblich für diesen Schritt waren seine Kohlegruben und Stahlwerke. Frankreichs Einfluss war in dieser Zeit stark. Es gab eine Währungsunion mit Frankreich. Versuche der französisch dominierten Regierungskommission über die sogenannten Domanialschulen (Schulen der unter französischer Verwaltung stehenden Gruben)2 Französisch zur Unterrichtssprache zu machen, scheiterten aber weitgehend. Im Jahr 1935 sollte die Bevölkerung dann über ihren weiteren Status entscheiden. 90 Prozent der Bevölkerung stimmten am 13. Januar 1935 für den Anschluss an Hitler-Deutschland, woraufhin die Saar Teil des Dritten Reiches wurde. Die Gründe dafür sollen hier nicht weiter erörtert werden.3 Nach 1945 wurde die Saar erneut von Deutschland abgetrennt, aus der Zuständigkeit des Alliierten Kontrollrates herausgebrochen und wurde zu einem halbautonomen Staat, der durch eine Wirtschafts- und Währungsunion eng mit Frankreich verbunden war. Es gab eine eigene saarländische Regierung, gemeinsam von Christ- und Sozialdemokraten geführt. Ihre maßgeblichen Repräsentanten, wie etwa Ministerpräsident Johannes Hoffmann (CVP) und sein Stellvertreter, der Sozialdemokrat und langjährige Arbeitsminister, Richard Kirn, hatten 1935 vergeblich gegen die Rückgliederung an Hitler-Deutschland gekämpft und mussten aufgrund der Verfolgung durch die Nazis emigrieren.4 Nach 1945 wollten sie und ihre Leidensgenossen aus der Geschichte lernen und das Saarland als Brücke zwischen Deutschland und Frankreich entwickeln, sich dabei durch eine Wirtschafts- und Währungsunion aber eng mit Frankreich verbinden. Französisch wurde nun in den Volksschulen als Fremdsprache ab der zweiten Klasse unterrichtet und als Fremdsprache auf dem Gymnasium bevorzugt.5 Die Idee der autonomen Saar scheiterte aber. Das deutsche Wirtschaftswunder strahlte auf das Saarland ab 1954 immer stärker aus. Die De⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 2 http://www.memotransfront.uni-saarland.de/domanialschulen.shtml. 3 Gabriele B. Clemens: Mandatsgebiet des Völkerbundes, in: Hans-Christian Herrmann/Johannes Schmitt (Hg.): Das Saarland. Geschichte einer Region, St. Ingbert 2012, S. 217 ff., siehe auch Maria Zenner: Parteien und Politik im Saargebiet unter dem Völkerbundsregime 1920‒1935, Saarbrücken 1966. 4 Gerhard Paul: „Die Saarländer fühlten sich durch solche Leute an Frankreich verkauft“. Die saarländischen Remigranten und ihr gescheiterter Staat, in: Rainer Hudemann/Burkhard Jellonnek/Bernd Rauls (Hg.): Grenz-Fall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland 1945–1960, St. Ingbert 1998, S. 135‒150. 5 Heinrich Küppers: Bildungspolitik im Saarland 1945–1955, Saarbrücken 1984, S. 101‒108. 359
Hans-Christian Herrmann
mokratiedefizite der Hoffmann-Regierung trugen zur Entzauberung des politischen Sonderweges bei. Die Presse der Autonomiegegner wurde zensiert und die prodeutschen Parteien verboten. Auf dem Weg zur deutsch-französischen Freundschaft wurde die Saar zum letzten Bremsklotz, den beide Länder mit dem Saar-Statut lösten, das der Bevölkerung zur Abstimmung am 23. Oktober 1955 vorgelegt wurde. Dieses Statut sah die Europäisierung der Saar vor, was das aber genau bedeutete, blieb vielen unklar. Mit dem Nein zum Statut war der Weg frei für den Beitritt des Saarlandes zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes.6
Identitätsstiftung ‒ Die konstruktive Rolle des Bundeslandes in den deutsch-französischen Beziehungen Die Anziehungskraft der Bundesrepublik war groß, dennoch votierte immerhin ein Drittel der Bevölkerung am 23. Oktober 1955 für das Statut. Das Gefühl deutscher Identität war dominant, sowohl 1935 wie 1955. Im Jahr 1957 wurde das Saarland dann Teil der Bundesrepublik, zum 6. Juli 1959 wurde auch die wirtschaftliche Einheit mit der Einführung der DM vollzogen. Zu diesem Zeitpunkt herrschte immer noch eine starke Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern des Sonderweges vor. Die neue politische Klasse bediente sich immer noch nationalistischer Töne, viele der prodeutschen Politiker waren NSDAP-belastet und hatten bereits 1935 für die Rückgliederung zu HitlerDeutschland gekämpft. Trotzdem sollte das Saarland eine konstruktive Rolle in den deutsch-französischen Beziehungen spielen und so das Selbstverständnis und die Identität des jüngsten Bundeslandes prägen, vor allem wenn man Politik, Wirtschaft und Medien zum Maßstab nimmt.7 Insbesondere die Wirtschaft und der Konsum, aber auch die Kulturpolitik, förderten das Entstehen enger Verbindungen und Kontakte zwischen Frankreich und dem Bundesland Saarland. Sie sorgten dafür, dass im Sinne Konrad Adenauers das Saarland als früherer Zankapfel zwischen Deutschland und ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 6 Armin Heinen: Saarjahre, Politik und Wirtschaft im Saarland 1945‒1955, Stuttgart 1996, S. 234‒245. 7 Hans-Christian Herrmann: Franz Josef Röder. Das Saarland uns seine Geschichte, St. Ingbert 2017, S. 40‒69. 360
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Frankreich zu einem Feld freundschaftlicher und vertiefter Beziehungen werden konnte. Kein anderes deutsches Bundesland sollte über Jahrzehnte so enge wirtschaftliche Kontakte zu Frankreich pflegen wie das Saarland. Maßgeblich dafür war die Vereinbarung über den zollfreien Warenverkehr zwischen Frankreich und dem Bundesland Saarland, die zwischen Bonn und Paris im Luxemburger Vertrag von 1956, der die Bedingungen der Rückkehr des Saarlandes zum 1. JaAbb. 2: Vor der Peugeot-Deutschland-Zentrale in Saarbrücken nuar 1957 regelte, getroffen stehen neue Peugeot 406 Einsatzwagen für die saarländische Polizei zur Auslieferung bereit. Der Einsatz von Peugeot begann wurde. Die aus der AutonoMitte der 1950er Jahre mit 203 und 403. miezeit bestehende Zollfreiheit [Stadtarchiv Saarbrücken, Fotograf Klaus, Winkler, Nachlass Klaus Winkler, Nr. 1175.7] zwischen dem Saarland und Frankreich blieb bis zum Inkrafttreten des Abbaus der Zölle innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bestehen. Französische Produkte waren deshalb bis Ende 1968 im Saarland gut 20 Prozent preiswerter als im übrigen Bundesgebiet. Umgekehrt wurden saarländische Waren wie etwa Kohle zollfrei nach Frankreich verkauft. Die überwiegend durch Frankreich bestimmte Warenwelt der Autonomiezeit bestand zwar Ende der 1950er Jahre im Bundesland Saarland nicht mehr, sie blieb aber in den Bereichen hochwertiger Lebensmittel, Weine und Spirituosen, im Automobilhandel und im Bereich der Mode weiterbestehen. Die zollbedingte preisliche Attraktivität förderte diese Entwicklung. Aber bis heute erzielt Peugeot im Saarland einen so hohen Marktanteil wie in keinem anderen Bundesland. In den 1960er und frühen 1970er Jahren und dann wieder ab Mitte der 1980er Jahre setzte Peugeot sogar mehr Autos im Saarland ab als der bundesweite Marktführer Volkswagen. Mit einem Zulassungsanteil von fast 20 Prozent war Peugeot im Saarland sogar stärker vertreten als in Teilen seiner französischen Heimat. Gefördert wurde diese Ent361
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wicklung durch den Aufbau der Peugeot-Importorganisation für die Bundesrepublik Deutschland in Saarbrücken 1967. Das Saarland hatte ebenso wie Frankreich ein Interesse daran, den zollfreien Handel voll auszuschöpfen, dabei motivierte beide Seiten der Luxemburger Vertrag zum gleichwertigen Ausnutzen der zollfreien Kontingente. Dies erklärt auch, dass die Einsatzwagen der saarländischen Polizei und damit ein staatliches deutsches Hoheitssymbol über Jahrzehnte von dem französischen Hersteller Peugeot stammten. In wohl keinem anderen Bundesland wählten Politiker und Verwaltung so häufig auch einen großen Peugeot oder Citroën als Dienstwagen wie im Saarland.8 In keinem anderen Bundesland sollte auch die französische Sprache so gefördert werden. Zwar gab es im Unterschied zur Autonomiezeit kein Französisch mehr in der Volksschule, Französisch blieb aber Pflichtfremdsprache am Gymnasium und beim mittleren Bildungsabschluss und wurde gegenüber dem Englischen bevorzugt. Saarbrücken wurde am 25. September 1961 Standort des ersten Deutsch-Französischen Gymnasiums (DFG). Am 10. Februar 1972 war das DFG Saarbrücken bundesweit die erste Schule in Deutschland mit einem Abitur, das uneingeschränkt den Zugang zu einer deutschen und einer französischen Universität ermöglichte. Die Romanistik an der Universität des Saarlandes wurde kräftig ausgebaut und galt als führend in der Bundesrepublik. In allen Fachbereichen wurde der Studentenaustausch mit Frankreich gefördert, weshalb 1962 ein Drittel aller Franzosen, die an einer deutschen Universität studierten, in Saarbrücken immatrikuliert waren.9 Die französische Orientierung wurde ergänzt durch das Europa-Institut der Universität des Saarlandes. Dieses Institut war in der Autonomiezeit im Sinne der Förderung des Europäischen Gedankens entstanden. Erster Direktor dieses Instituts war Professor Joseph-François Angelloz. Mit ihm war das Ziel verbunden, „das Europa der Zukunft wissenschaftlich zu erforschen, dieses Europa einer nach den in den verschiedenen Ländern üblichen Lehrmethoden ausgebildeten Jugend zu vermitteln, für alle diese Länder europäisch denkender Erzieher zu sein und vielleicht in Kürze die leitenden Kräfte Europas heranzubilden.“10 ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 8 Herrmann: Röder (wie Anm. 7), S. 153‒156, Hans-Christian Herrmann: Die Geschichte von Peugeot in Deutschland. Auch ein Stück Saar-Geschichte, Riedstadt 2012. 9 Herrmann: Röder (wie Anm. 7), S. 54; Küppers: Bildungspolitik (wie Anm. 5), S. 262‒268. 10 www.memotransfront.uni-saarland.de. 362
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Zu den damaligen Professoren zählte der französische Politiker, Wissenschaftler und Pionier der Europa-Bewegung André Philip. Das Institut war seinerzeit als fakultätsunabhängiges Universitätsinstitut eingerichtet worden. Anfangs lag der Schwerpunkt auf vergleichenden Literaturwissenschaften, Philosophie, Geschichte und Musikwissenschaft, aber auch rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Fächer waren Teil des Programms. Hinzu kam eine diplomatische Sektion, die die zukünftigen Diplomaten des Autonomie beanspruchenden Saarlandes ausbilden sollte. Als das Saarland dann 1957 Bundesland wurde, musste das Europa-Institut ins deutsche Universitätssystem integriert werden. Damit einher ging eine neue juristisch-ökonomische Ausrichtung des Instituts. Hier sollte eine Elite ausgebildet werden, um den europäischen Integrationsprozess politisch, administrativ und ökonomisch umzusetzen.11 Die Fundamente der autonomen Saar mit ihrer Orientierung an Frankreich und Europa brachen im Bundesland Saarland nicht ab, sondern lebten in einem veränderten Kontext weiter. Die Universität des Saarlandes trug dazu ebenso bei wie die an der Saar recht starke Europa-Union. Im März 1949 war die „Europa Union im Saarland e.V.“ gegründet worden. Nach dem Ende der Autonomie errichtete sie das Europahaus in Otzenhausen und ein „Institut für politische Bildung und deutsch-französische Zusammenarbeit“. Diese Entwicklung zeigt die Ausrichtung des Saarlandes an deutsch-französischer Freundschaft und dem Bekenntnis zur europäischen Einigung. Bei den ersten Direktwahlen zum europäischen Parlament 1979 lag die Wahlbeteiligung im Saarland bei 81,1 Prozent. Ein Rekordwert und Beweis einer überdurchschnittlich starken Identifikation mit Europa; in der Bonner Republik betrug sie nur 65,7 Prozent. Wahrscheinlich war die saarländische Wahlbeteiligung sogar die höchste in ganz Europa. Im Jahr 2019 erreichte sie 66,4 Prozent – nach wie vor der höchste bundesdeutsche Wert.12
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 11 Ebda. 12 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/6862/umfrage/wahlbeteiligung-zur-europawahlin- deutschland-nach-bundeslaendern-seit-1979. 363
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Der Saarländische Rundfunk – Multiplikator deutsch-französischer Freundschaft und Multiplikator saarländischer Frankreich-Kompetenz Insbesondere der Saarländische Rundfunk (SR) entwickelt sich zum Multiplikator eines engen saarländisch-französischen Austausches, der breit in die saarländische Gesellschaft und darüber hinaus wirkte.13 Hier muss man insbesondere auch die Reichweite des 1964 eingerichteten Hörfunksenders Europawelle Saar sehen. Die Berichterstattung über Frankreich, seine Politik, seine Kultur und seine Wirtschaft bildeten eine feste Größe im Hörfunk- und TVProgramm des Senders. So gab es im SR-Fernsehen eine Sendung mit politischen und wirtschaftlichen Themen namens „Westmagazin“. Geboten wurden Beiträge zum Saarland und den angrenzenden lothringischen Departements. Das „Westmagazin“ wurde als zweisprachige Doppelmoderation von Gertrud Roll und dem Franzosen Daniel Mollard zwischen 1963 und 1965 gesendet. Mollard war auch 1969 in der Fernsehsendung „Im Dreieck“ mit einer Rubrik „Bonjour Voisins“ präsent. Die Sendung widmete sich Themen des Dreiländerecks Saarland, Luxemburg und Lothringen. Dazu gab es vom 7. Juli 1969 bis zum 30. Dezember 2004 täglich im SR-Hörfunk auf der Europawelle Saar „Nachrichten in französischer Sprache“. Der SR war seinerzeit eine Innovationsschmiede und ein fortschrittlicher Sender, entstanden in Konkurrenz zum Privatsender Radio Luxemburg. Die Europawelle Saar revolutionierte mit ihren Formaten das deutsche Radio und war auch von der Reichweite ein starker Sender.14 Die Präsenz Frankreichs durchzog das SR-Programm. Beispiel dafür war die wöchentliche Hörfunk-Sendung „Chansons de Paris“, moderiert von Pierre Séguy (1921‒2004), ehemaliges Résistance-Mitglied und nach dem Zweiten Weltkrieg bei dem eng mit der französischen Besatzungsmacht verbundenen Radio Saarbrücken tätig. Séguys Sendung markierte eine Chanson-Kompetenz, die überregional innerhalb der Rundfunkgemeinschaft bzw. der ARD über ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 13 Für den Existenzanspruch des Senders eine wichtige Rolle. 14 Erreicht wurden die DDR, Polen, Rumänien, Sowjetunion bis Moskau, Skandinavien, Österreich, Schweiz, Italien, Südfrankreich, Nordspanien. Ein Reporterteam der ARD konnte einmal sogar in der Sahara über das Autoradio die Europawelle empfangen. Die beschriebenen großen Reichweiten wurden vor allem nachts realisiert. 364
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Jahrzehnte geschätzt und anerkannt war. Séguy gilt als Wegbereiter des französischen Chansons in Deutschland.15 Personell war die Rolle des Saarländischen Rundfunks (SR) als deutschfranzösischer Brückenbauer von der Saar mit dem Intendanten Dr. Franz Mai (1911‒1999) verbunden gewesen – ein gebürtiger Saarbrücker, mit einer Französin verheiratet und vorher Referent in Adenauers Kanzleramt. Mai sprach fließend Französisch, war frankophil und hatte ein Ferienhaus bei Nizza. Er profilierte den Sender als Brückenbauer zwischen Deutschland und Frankreich. Im Zuge der Ausgestaltung des Elysée-Vertrages war 1964 eine Hörfunk- und Fernsehkommission gegründet worden. Der Sender war hier aktiv und pflegte Kooperationen mit dem staatlichen französischen Rundfunk ORTF Lyon und Marseille. Ebenso veranlasste der SR ein deutsch-französisches Wörterbuch zu den Begriffen von Rundfunk und Fernsehen. Von 1960 bis 1989 fand jedes Jahr im Saarland die sogenannte Französische Woche statt. Initiator war ursprünglich vor allem das französische Generalkonsulat in Saarbrücken. Ziel war es seinerzeit, den saarländisch-französischen Warenaustausch zu erhöhen, der 1959 auf ein bedenklich niedriges Niveau herabgefallen war. Die Zollschranken zu Deutschland waren mit der Einführung der DM gerade gefallen und die saarländischen Verbraucher holten das nach, was ihnen vorher durch die Zollgrenze nicht möglich war, nämlich Made in Germany zu kaufen. Der SR begleitete die Französische Woche mit Sendungen in seinem Hörfunk- und Fernsehprogramm und unterstützte sie vor allem auch finanziell ab 1970. Französisches Kino, Konzerte und andere kulturelle Angebote überzogen das gesamte Saarland und vor allem Werbeaktionen für französische Genussmittel und Automobile. Jedes Mal stand eine französische Region im Mittelpunkt. Der SR berichtete über ihre Geschichte, ihre Qualitäten als Urlaubsort und als Reiseziel, über ihre Weine und kulinarischen Spezialitäten, aber auch über Frankreichs Politik und Wirtschaft. In drei Jahrzehnten wirkte die Französische Woche als Multiplikator auch für eine Frankreich-Kompetenz des Saarlandes. Frankreich bildete aber eben nicht nur zur Französischen Woche, sondern ganzjährig eine feste Größe im Programm des SR in den 1960er und 1970er Jahren – insbesondere Filmikonen wie Claude Chabrol, Philosophen wie André Glucksmann und Musikstars wie Gilbert Bécaud ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 15 Stadtarchiv Saarbrücken, Depositum Dossier Saarbrücker Zeitung, Nr. 3054. 365
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und Mireille Mathieu waren im Programm des Senders präsent und traten auch in Sendungen und Veranstaltungen live in Saarbrücken auf. Die Verwaltung des Senders befand sich auf dem einst von dem Stahlbaron Stumm errichteten neogotischen Schloss auf dem Saarbrücker Halberg. Nach 1945 hatte hier auch der Chef des Hohen Kommissariats an der Saar Gilbert Grandval residiert.16 Der SR unterstützte medial das politische Interesse der saarländischen Landesregierung nach engen Beziehungen zu Frankreich und hier insbesondere zu den lothringischen Nachbarn im Sinne der Entwicklung einer grenzüberschreitenden europäischen Region. Kohle und Stahl verloren in den sechziger Jahren auch in Lothringen an Bedeutung. Gemeinsam mit der HBL (Houillères du Bassin de Lorraine) wurde Mitte der 1960er Jahre eine petrochemische Industrie im französischen Carling und in Saarbrücken-Klarenthal errichtet. Die Automobilhersteller Citroën und NSU (später Teil von VW/Audi) bauten Anfang der 1970er Jahre in Altforweiler bei Überherrn direkt an der französischen Grenze ein Werk zum Bau von Wankelmotoren. Ursprünglich sollte der Citroën GS in einem neuen Werk in Metz gebaut und die Motoren von Überherrn aus dorthin transportiert werden. Es kam aber anders und das Projekt scheiterte. In Saarbrücken und Sarreguemines sollte ein deutsch-französisches Großhandelszentrum entstehen mit Firmenzentralen für Importe ins Nachbarland. Gerade im Zeichen der Strukturkrise wuchs bei der damaligen saarländischen Landesregierung unter Ministerpräsident Röder die Erkenntnis, über grenzüberschreitende Kooperationen Strukturwandel voranzutreiben. Das Zauberwort hieß „Saar-Lor-Lux“, dem Vorläufer der Region Grand Est. Der Begriff „Saar-Lor-Lux“ war von Dr. Hubertus Rolshoven (1913‒1990), dem Chef des staatlichen Bergbaus an der Saar (Saarberg AG) erstmals im November 1969 verwandt worden.17
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 16 Ebda., Nr. 1357. 17 Herrmann: Röder (wie Anm. 7), S. 217‒222. 366
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Das saarländische Lebensgefühl als Verwischen von Grenzen Mitten durch Leidingen im Kreis Saarlouis verläuft eine Staatsgrenze, die linke Straßenseite ist französisch, die rechte deutsch. Vom Verwischen von Grenzen zu sprechen ist keine Übertreibung. Zu keiner Zeit empfand die Öffentlichkeit nach 1957 diese Frankreichorientierung als fremden kulturellen Einfluss oder gar als Bevormundung. Die Entwicklungen der 1960er und 1970er Jahre förderten das Entstehen einer starken Frankreich-Nähe der Saarländer – sozusagen Teil ihrer Identität als neues Bundesland. Wer durch Saarbrücken promenierte, dem fiel Frankreich sofort ins Auge ‒ auf den Straßen fuhren vor allem Peugeots, französische Mode schmückte die Schaufenster und in den Restaurants und Cafés tranken die Menschen französische Weine und mehr als eine Champagnermarke zierte die Karte der gastronomischen Anbieter, die auch typisch französische Küche boten. Das Saarland fühlte sich Frankreich „nahe“ – Beispiel dafür ist eine Broschüre der Stadt Saarbrücken zur Imagewerbung aus dem Jahr 1964. So wird ein Kaufhaus mit malerischen Worten beworben: „Tatsächlich fühlt man sich ein wenig wie in Paris, wenn man etwa den Salon für französische Schuhe und Cocktailkleider betritt, und die Auswahl ist überwältigend. Sogar der berühmte Pariser Couturier Christian Dior gehört zu den Lieferanten des Saarbrücker Unternehmens“.18 Ein paar Zeilen weiter wird die Verbindung zu Paris wieder aufgegriffen: „Zwischen Paris und Saarbrücken sind wir das größte Kaufhaus“, verkündet der Direktor des Passage-Kaufhauses (PEKA) in Saarbrücken.19 Die Nähe zu Frankreich sollte in Kontrast zum Bild der durch Kohle und Stahl belasteten Provinz als Standortvorteil beworben werden. Neben französischen Automarken bestimmte auch die opulente Auswahl französischer Genussmittel in den großen Kaufhäusern den Alltag. Froschschenkel und Gänseleber waren in Saarbrücker Mittelklasse-Restaurants nichts Außergewöhnliches, ebenso Hummer. Im Zeichen der Französischen Woche fanden umfangreiche Aktionen im Lebensmittelhandel mit Verkostungen im ganzen Land statt. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 18 Raum und Wirtschaft: Das Saarland, Essen 1964, S. 52. 19 Ebda. 367
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Die Dimension des Ganzen war außergewöhnlich. Es gab sogar Busse, die in die kleinen Orte und Dörfer des Saarlandes fuhren und vor Ort zu Degustationen von Wein und Käse einluden. Die kulinarische Kultur des französischen Nachbarn fand im Saarland Nachahmer, wodurch eine aktive Aneignung französischer Kultur stattfand. Dazu gehörten die Verbindung von Essen und Wein, das DreigängeMenü und auch eine gewisse Zeit, die man sich für das Essen nimmt – für Franzosen selbstverständlich, in Deutschland unüblich. Beispielhaft dafür war auch die Präsenz großer Käsetheken in den besseren Saarbrücker Lebensmittelgeschäften, die in den 1960er Jahren mehrere hunAbb. 3: Broschüre „Kulinarischer Fahrplan“ zur Französischen Woche 1960 dert Käsesorten offerierten. Der bis heute nicht eingeholte kulturelle Vorsprung Frankreichs in der Käsekultur zeigt sich darin, dass es zum französischen Traiteur keine deutsche Übersetzung gibt. Ein solches Angebot war allenfalls nobelsten Feinkostläden oder exklusiven Warenhäusern bundesdeutscher Metropolen vorbehalten. Nicht zuletzt durch die Erfahrung der Autonomiezeit hatten die Saarländer kulinarisch von Frankreich bereits gelernt, in den 1960er Jahren, also nach der Autonomiezeit, gewann dieser Prozess der Aneignung kultureller Fähigkeiten des Nachbarn an Dynamik und das ist das eigentliche Wunder an der Saar. Durch die Grenznähe waren sonntägliche Ausflüge mit Restaurantbesuchen ins Departement Moselle üblich und wurden von den Lothringern nicht immer mit Freude zur Kenntnis genommen. Aufgrund der Nähe zu Frankreich warb die Grande Nation als bevorzugtes Urlaubsziel, das mit dem eigenen PKW entdeckt werden konnte. Über die engen wirtschaftlichen Frankreichkontakte fand man auch Gefallen daran, einen guten Handelsabschluss bei einem opulenten Mittagsmenü auszuhan368
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deln und mit Blick auf Frankreich als wichtigsten Handelspartner war dies auch hilfreich. So waren gute französische Weine in den Lebensmittelabteilungen ebenso präsent wie der Champagner. Der saarländische Verbraucher forderte das vom einheimischen Handel. Frankreich lieferte auch Gemüse und vor allem Butter.20
Abb. 4:Ein Simca Vedette Chambord mit Saarbrücker Kennzeichen parkt vor dem renommierten Restaurant „Charrue d’or“ in Sarreguemines, Mitte 1960er Jahre [Stadtarchiv Saarbrücken, Fotograf Fritz Mittelstaedt, Nachlass Fritz Mittelstaedt]
Beispielhaft sind hier die Erinnerungen von Hans Breuer, der aus NordrheinWestfalen im März 1961 nach Saarbrücken gekommen war und bis 1998 die Lebensmittelabteilung eines großen Saarbrücker Kaufhauses leitete. Saarbrücken empfand Breuer als eine „andere Welt“. Prägend für diese „andere Welt“, so Breuer, die Saarländer orientierten sich bei Lebensmitteln zuerst an ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 20 Saarbrücker Zeitung, 25.4.1968. Vgl. Anm. 21. 369
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ihrer Region und direkt danach an Frankreich und nicht etwa an anderen deutschen Landesküchen.
Abb. 5: Schaufenster eines Saarbrücker Lebensmittelgeschäftes zur Französischen Woche, 1960er Jahre [Stadtarchiv Saarbrücken, Fotograf Gerhard Schulthess, Sammlung Gerhard Schulthess]
In der ersten Hälfte der 1960er Jahre begann Breuer in seiner Eigenschaft als Chefeinkäufer mit regelmäßigen Reisen nach Frankreich, deren Vorbereitung ganz wesentlich in der Hand des französischen Generalkonsulats in Saarbrücken lag – es öffnete Türen und vermittelte Kontakte. Eine dieser zahlreichen Reisen führte den gelernten Kaufmann Breuer beispielsweise für gut eine Woche in die Bretagne. Gut 20 Firmen und Lebensmittelproduzenten standen auf seinem Programm. Breuer hatte einen erheblichen Gestaltungsspielraum und konnte seine Einkaufspolitik speziell auf die lokalen saarländischen Bedürfnisse ausrichten. Das bedeutete, für zehn bis zwölf Wochen suchte er jedes Jahr in Frankreich nach neuen Produkten. Seine Strategie war, nicht nur die Nachfrage nach bekannten französischen Lebensmitteln zu befriedigen, sondern mit Blick auf höhere Umsätze im Sinne des erforderlichen 370
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Wandels im Handel dem Kunden immer etwas Neues zu bieten. Saarbrücken und damit auch das Saarland wurden zum Vorreiter französischer Produkte in Deutschland, die an der Saar ihre Deutschlandpremiere feierten. Dazu zählte beispielsweise „Cointreau“, der in großen Mengen reißenden Absatz in Saarbrücken gefunden hatte. Die Zentraleinkäufer von Breuers Warenhaus in Köln Abb. 6: Schaufenster zur Französischen Woche in Saarbrücken, wurden so auf bestimmte 7. Mai 1963 [Stadtarchiv Saarbrücken, Fotograf Gerhard Schulthess, französische Produkte, die Sammlung Gerhard Schulthess] im Saarland erstklassig liefen und eingeführt waren, aufmerksam und holten sie ins bundesdeutsche Sortiment.21
Mit „Savoir vivre“ für das Saarland werben Die Nähe zu Frankreich nutzten im Lauf der 1960er Jahre die saarländischen Wirtschaftsförderer als positive Emotion und Standortfaktor gegen das Provinzimage des Saarlandes.22 Mit „Savoir vivre“ versuchte man seit Ende der 1960er Jahre Investoren ins Saarland zu locken, waren doch zwischen 1956 und 1969 fast 30 000 Arbeitsplätze im Saarbergbau weggebrochen. Interessant dazu ein Beitrag von 1977 im „ZF-Ring“, der Werkszeitschrift des Automatik⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 21 Hans-Christian Herrmann: Über das Verwischen von Grenzen oder die Kultursynthese im Kochtopf. Gastronomie in Saarbrücken und im Saarland (1947 bis 1982, in: Ders. (Hg.): Saarbrücken à la carte. Die Geschichte der Genussregion Saarland, Saarbrücken 2012, S.127, 133. 22 Das Provinzimage basierte neben der Randlage auf der starken katholischen Orientierung der Politik der saarländischen Landesregierung und entsprechend konservativer Gesellschaftsvorstellungen. Bis 1970 war die Volksschule im Saarland konfessionell getrennt. Protestanten sahen sich im Saarland gesellschaftlich in einer Minderheitenposition. Vor allem das einflussreiche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ festigte dieses Negativbild. 371
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getriebeherstellers ZF-Friedrichshafen, über das Leben in Saarbrücken. ZF hatte Anfang der 1970er Jahre in Saarbrücken ein Zweigwerk errichtet, das seinerzeit vor allem Peugeot in Sochaux und BMW in München belieferte: „Französische Autonummern treten vielfach im Straßenbild auf, Pariser Mode ist zu sehen, das Lippenrot der Damen, das Wein- und das Käseangebot im „Globus“ auf einer mehr als zwanzig Meter langen Kühltruhe und die Düfte aus Paris würde man in diesem Ausmaß in Hamburg oder München vergeblich suchen.“23 So sehr hier die verführerische Sprache der Werbung ein Bild konstruierte, so stand der Werbung doch eine bestätigende Realität gegenüber. In dieser Zeit gab es gleichzeitig in Saarbrücken Restaurantnamen wie Rôtisserie Nantaise, Rôtisserie Christine, Escoffier – Le Restaurant des Gourmets, Touraine, Légère und La bonne auberge, die für den Nicht-Saarländer eben wie Frankreich wirkten, dem Saarländer aber eher als Alltagserfahrung des Verwischens von kulturellen Grenzen erschienen. Dazu ein weiteres Beispiel aus der Gastronomie: das Lokal „Brasserie“ in Saarbrücken war stilecht 1971 am 14. Juli eröffnet worden. Der gelernte Maurer und Gipser Hans Seyler, ein frankophiler Typ, hatte es gegründet, maßgeblich dafür waren seine zahlreichen Besuche in Frankreich und vor allem in Paris gewesen. Schnell entwickelte sich die Brasserie zu einem Treff aller Bevölkerungsschichten. Eingerichtet mit Holzbänken und Tischen, die aus einer Pariser Kapelle stammten, die den PariserPérephérique-Autobahnen hatte weichen müssen. Von dort wanderten auch Holzbalken an den St. Johanner Markt nach Saarbrücken sowie Kalksteine aus der Champagne. Die Wände schmücken bis heute viele liebevoll ausgewählte Accessoires von französischen Ortsschildern über Verkehrszeichen bis hin zu Fotos von französischen Schauspielern. Es dürfte wohl nur eine „Brasserie“ in Deutschland geben, in der der Gast einen „Chartreuse“ genießen kann, jenen giftgrünen Likör aus den Savoyer Alpen, der Ordnung im Magen schafft ‒ und auch das Trinken von Pastis ist bis heute Alltag in der „Brasserie“.24 Auch wenn trotz der bis 1969 bestehenden Zollfreiheit die deutschen und französischen Zollbeamten die Menschen beim Überqueren der Grenze kontrollierten, so löste die Lebensweise das Trennende immer mehr auf. Es deutet sich das Verwischen kultureller Grenzen und eine Kultursynthese an. Der Ort ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 23 ZF-Ring 7/1977, S. 26. 24 Herrmann: Saarbrücken à la carte (wie Anm. 21), S. 143, 145‒148. 372
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Leiningen im Kreis Saarlouis zeigt dies sehr deutlich, die Staatsgrenze geht mitten durch die Durchgangstraße des Ortes, die eine Seite ist deutsch, die gegenüberliegende Seite französisch. im Saarbrücker Stadtteil Gersweiler gibt es Straßen, die nur durch das Betreten französischen Territoriums zu erreichen sind. Dazu mussten für die deutschen Briefträger Vereinbarungen mit der Pariser Administration getroffen werden, wie sie die Post zu den deutschen Bewohnern auf den deutschen Parzellen austragen können. Dazu müssen sie nämlich französisches Territorium betreten. Es gibt wohl auch keine deutsche Stadt, die eine Straße namens „Rue Pasteur“ hat – bis auf Saarbrücken.25 Diese Entwicklung wurde auch durch gut 10 000 Franzosen gefördert, die im Saarland seinerzeit arbeiteten und auch wohnten, vor allem in Saarbrücken und Saarlouis. Zahlreiche französische Banken und Versicherungen waren bis weit in die siebziger Jahre im Saarland aktiv, nicht zu vergessen auch das französische Management in den Dillinger Hüttenwerken und in der zu St. Gobain gehörenden Halberger Hütte.
Die „Generation Paris“ als gesellschaftliche Stütze saarländischer Frankophilie26 Zu diesem Prozess des Verwischens von Grenzen passte auch der bei einem Treffen von François Mitterrand und Helmut Kohl 1984 in Saarbrücken verkündete Verzicht von Grenzkontrollen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik ‒ im weiteren Kontext entstand daraus das Schengen-Abkommen.27 Das Verwischen kultureller Grenzen und die Aneignung französischer Lebensart darf natürlich nicht der gesamten saarländischen Bevölkerung zugeschrieben werden. Das Land zählte damals etwas über eine Million Einwohner, überwiegend Arbeiter, der Großteil davon in der Stahlindustrie und im Bergbau. Die Akademikergeneration der Nachkriegszeit und Mittelschichten mit höherem Bildungsabschluss sowie Angestellte aus Handel und Wirtschaft mit ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 25 https://onlinestreet.de/strassen/Rue+Pasteur.Saarbr%C3%BCcken.870745.html. 26 Ausführlicher: Hans-Christian Herrmann: Das «eigentliche Wunder an der Saar», in: Rainer Hudemann/Raymond Poidevin: Die Saar 1945 – 1955. Ein Problem der europäischen Geschichte, München 1992, jetzt in der überarbeiteten 3. Auflage, Berlin 2022; S. 672‒677. 27 https://www.fr.de/politik/jahre-schengen-abkommen-11164061.html. 373
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französischer Kundschaft bildeten die Basis dieser eben beschriebenen Entwicklung. Die Generation der Jahrgänge von 1925 bis 1935, die in der Autonomiezeit erwachsen wurde, spielte hier eine tragende Rolle. Sie verfügte wegen des dominanten französischen Sprachunterrichts bis 1955 über eine höhere französische Sprachkompetenz als die heutigen Generationen und hatten meist an der von Frankreich 1948 gegründeten Universität des Saarlandes in Saarbrücken studiert. Viele der Lehrveranstaltungen an der Universität waren seinerzeit in Französisch. Ein paar Semester verbrachten sie in Paris, Bordeaux oder Grenoble und hatten so Sprache und Kultur Frankreichs kennengelernt. Das erste Mal in ihrem Leben verließen sie in jungen Jahren die saarländische Provinz und entdeckten das Leben – vor allem in Paris. Paris war für Saarländer schon immer recht nahe und Berlin dafür sozusagen ganz weit weg. Seit 1852 konnte man mit der Bahn von Saarbrücken aus Paris erreichen, 1970 verkehrten acht Schnellzüge täglich direkt zwischen beiden Städten. Ab Mai 1970 gab es den schnellen Zug TEE (TransEuropaExpress) „Goethe“ von Frankfurt über Saarbrücken nach Paris, heute wiederum (noch) den TGV. Mit dem Auto konnte man ab dem 20. Oktober 1976 Paris in vier Stunden erreichen ‒ dank einer nun fertiggestellten durchgehenden Autobahn.28 Als Kinder und Jugendliche hatte diese Generation die NS-Zeit kennengelernt, als Jugendliche und junge Erwachsene erlebten sie Frankreich in einer Phase des Zusammenbruchs und Wiederaufbaus zu einem Zeitpunkt einer noch nicht abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung. Paradebeispiel dafür ist der in Sulzbach geborene Schriftsteller Ludwig Harig29, der in seinem herausragenden literarischen Werk seine eigene Geschichte wie die Saarge-
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 28 Herrmann: Röder (wie Anm. 7), S. 164, 167. Abfahrt des Zuges in Saarbrücken um 9.08 Uhr, Ankunft in Paris 12.54 Uhr. 29 Harig ist nicht das einzige Beispiel, zu verweisen ist etwa auf Werner Reinert (1922‒1987), der nach dem Romanistikstudium als Deutsch-Assistent an einem französischen Gymnasium in Saint-Germain-en-Laye tätig war und dann Referent bei Kultusminister Emil Straus wurde, mit dem er 1952 als Presseattaché an die Saarländische Gesandtschaft nach Paris ging. Eugen Helmlé (1927‒2000) wurde nach dem Romanistikstudium u. a. Lehrbeauftragter für Spanisch an der Universität des Saarlandes und ein renommierter Übersetzer zahlreicher Werke aus dem Französischen und Spanischen. Vgl. auch Günter Scholdt: Von Heimatseligen, 68ern und der Generation X. Tendenzen der Nachkriegsliteratur an der Saar, in: Hudemann u.a. (Hg.): Grenzfall (wie Anm. 4), S. 241‒256. 374
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schichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verarbeitete.30 Vom überzeugten Jung-Nazi aus kleinbürgerlichen Verhältnissen entwickelte sich Harig zum frankophilen Kosmopoliten. Die Jahre der Saarautonomie waren dabei maßgeblich, insbesondere seine Tätigkeit als Aushilfslehrer in Lyon und die in dieser Zeit beginnende Freundschaft zu Roland Cazet, die beide bis an ihr Lebensende pflegten.31 Die Begegnungen in Frankreich waren Impuls für selbstkritische Reflektion der eigenen NS-belasteten Geschichte und förderten in einer Phase der noch nicht abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung einen Emanzipationsprozess, der mit einer großen Wertschätzung französischer Kultur und einer Orientierung an französischer Lebensweise verbunden war. Teile dieser Generation entwickelten eine große Offenheit und tiefe Verbundenheit gegenüber Frankreich. Damit war ein besonderes Interesse an Frankreich und auch an seinen Erzeugnissen verbunden. Diese Generation, Generation Paris, wuchs Anfang der 1960er Jahre in verantwortliche Positionen von Politik, Wirtschaft und Verwaltung hinein. Sie steht für einen Generationenwechsel, der auch die Zäsur der 68er Generation im Saarland relativiert. Viele dieser Generation sollten ein Leben lang mindestens einmal im Jahr nach Paris fahren, das sie in ihrer Zeit des Erwachsenwerdens als junge Männer und Frauen in der Autonomiezeit kennengelernt hatten. Auch wenn Paris nicht nur für diese Saarländer, sondern auch für andere Deutsche ein Ort der Faszination war, und es gerade von den sechziger bis in die achtziger Jahre in der Bundesrepublik auch im Zuge einer Individualisierung der Gesellschaft eine ausgeprägte Frankophilie gab, so spricht doch viel dafür, dass die Wirkung im Saarland deutlich stärker und tiefer verlief. Teile dieser Generation versuchten im Saarland diese Begeisterung für französische Lebensart nachzuahmen. Dazu gehörten nicht nur Akademiker, sondern auch Saarländer aus dem Bereich Handel und Gewerbe wie folgendes Beispiel zeigt. Ein Saarländer, der als kleiner Spediteur Frankreich kennengelernt hatte, gründete 1975 in Saarbrücken das Restaurant Gemmel ‒ ein Bistro im Pariser Stil. Seine Gründung ist die Frucht einer jahrzehntelangen Liebe zu Frankreich und der Faszi⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 30 Verarbeitet in Harigs Trilogie, den drei Romanen: Weh dem, der aus der Reihe tanzt (1990 erschienen); Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf (1996) und Ordnung ist das ganze Leben (1986). 31 Diese Freundschaft verarbeitete er in: Ludwig Harig: Kalahari. Ein wahrer Roman, München 2007. 375
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nation von Paris. Einfache Holzstühle und kleine mit Papiertischdecken belegte Tische strahlten Gemütlichkeit aus. Die Speisekarte beschränkte sich auf gut 15 Gerichte ‒ französisch Gerichte wie etwa Escargots aux Roquefort, Krevetten mit Mayonaise, Kalbsbries, geschmorter Ochsenschwanz, aber auch ein gutes Steak und natürlich Meeresfrüchte. Legendär waren die Austern, die vor dem Eingang auf einer Austernbank präsentiert wurden und kunstvoll geöffnet den Gästen zum Genießen gereicht wurden und dazu Champagner ‒ und das eben nicht in einem Nobellokal im reichen Baden-Württemberg oder für Snobs und die Haute-Volée in München zu entsprechenden Preisen, sondern in Saarbrücken, einer Stadt mit damals knapp 200 000 Einwohnern.32 Aufschlussreich auch eine Anzeigenserie des Herrenmodengeschäfts Morsch in Saarbrücken aus dem April 1968. Sie zeigt, dass Saarbrücker nach Paris fuhren, um sich dort einzukleiden, vor allem bei besonders attraktivem Wechselkurs. Das Modegeschäft informierte nämlich, dass es selbst in großen Mengen französische Mode einkaufe und diese deshalb zu attraktiven Preisen anbieten könne, es sich also gar nicht lohne, deshalb zum Einkauf nach Paris zu reisen.33
Frankreich-Orientierung als Balsam für die alten Wunden der Autonomiezeit Für das Saarland als jüngstem Bundesland der Bonner Republik bildete die Rolle des Brückenbauers und Vermittlers deutsch-französischer Freundschaft vor allem in den sechziger und siebziger Jahren das identitätsstiftende Element. Politisch trug es dazu bei, die innenpolitische Polarisierung der Befürworter und Gegner der Autonomie zu dämpfen und zu überwinden. Sie hatte auch nach der Ablehnung des Saarstatuts vom 23. Oktober 1955 zunächst einmal fortbestanden und war durch Ministerpräsident Hubert Ney zwischen 1957 und 1959 sogar noch gepflegt worden. In der Ära von Franz Josef Röder (1909‒1979) als Ministerpräsident änderte sich dies grundlegend. Der studierte Romanist und Christdemokrat regierte das Land von 1959 bis 1979.34 ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 32 Herrmann: Saarbrücken à la carte (wie Anm. 21), S. 147. 33 Saarbrücker Zeitung 26. April 1968. 34 Hermann: Röder (wie Anm. 7), S. 40 ff., 58 ff., 62‒69. 376
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Die Frankreichorientierung des Saarlandes wurde von vielen Akteuren mitgetragen, letztlich auch von den früheren Autonomiegegnern, weil sie wirtschaftlich geboten und im Grunde völlig alternativlos war. So sehr retrospektiv die frankophile saarländische Selbstdarstellung der 1960er und 1970er Jahre heute liebenswert erscheinen mag, bundesweit brachte sie wenig Ansehen und führte sogar zu Missverständnissen. Noch in den 1980er Jahren bekamen Saarländer von Norddeutschen zu hören, sie sprächen ja gutes Deutsch. Für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ war das Saarland bis Anfang der 70er Jahre der „ärmste“ und „dümmste“ Teil Deutschlands, vor allem wegen seinen bis 1970 konfessionell getrennten Schulen und seiner starken katholischen Prägung.35 Die Identität des Saarlandes als deutsch-französischer Brückenbauer, als Multiplikator für das Wissen über Frankreichs Kultur und Geschichte, blieb für die Identität der Saarländer in ihrer breiten Mehrheit schwer messbar und ist als Mehrheitserfahrung eher zu bezweifeln. Auch wenn vor allem der gehobener Mittelstand und einige Eliten sich zwar deutsch fühlten, zugleich aber stolz eine deutsch-französische Kultursynthese lebten, so zählten für alle Menschen an der Saar die Begegnungen zum französischen Nachbarn zum Alltag. Hier sind die Wochenend-Reisenden zu sehen; viele Saarländer besiedelten ab den 1960er Jahren die Campingplätze an den lothringischen Seen, in einer Anzahl, die den Lothringern nicht immer gefiel. Im Sommer verbrachten viele Saarländer jedes Wochenende dort und viele auch ihre gesamten Sommerferien. Ferner sind die Grenzgänger zu nennen, denn viele Saarländer verdienten in den lothringischen Gruben und so mancher Lothringer arbeitet wiederum bis heute im Saarland. Gerade die Arbeitswelt war und ist ein Ort der Begegnung von Saarländern und Lothringern bzw. Deutschen und Franzosen – es besteht dazu Forschungsbedarf: Haben die Saarländer in den Lothringern Franzosen gesehen bzw. die Lothringer in den Saarländern in erster Linie Deutsche? Welche Stellung haben die Grenzgänger in der Hierarchie der betreffenden Unternehmen? Die Arbeitswelt förderte mit ihren täglichen Grenzgängern jedenfalls ein Selbstverständnis des Verwischens von Grenzen, das mit dem Entstehen eines Bewusstseins für ein Europa der Regionen verbunden ist, ohne dabei die Existenz von Nationalstaaten in Frage zu stellen. Ein Beleg ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 35 Der Spiegel, Nr. 1/1968, S. 46. 377
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dafür ist der 1976 eingerichtete interregionale Gewerkschaftsrat Saar-Lor-Lux Trier/Westpfalz, der vor allem mit dem saarländischen Gewerkschaftler Manfred Wagner verbunden gewesen ist (Vorsitzender des DGB/Saar =Deutscher Gewerkschaftsbund Saar). Der erste dieser Art in Europa. Seine Gründung und Weiterentwicklung ist umso beeindruckender, wenn man die völlig konträren gewerkschaftlichen Strukturen und Traditionen betrachtet: in Deutschland die überparteiliche Einheitsgewerkschaft und in Frankreich anarchosyndikalistische Strukturen mit politisch ausgerichteten und rivalisierenden Gewerkschaften.36
Saarländische Identität als politisches Programm der Ära Lafontaine (1985‒1998) Eine wirklich in die Tiefe der Saarländer wirkende Identitätsbildung ist mit dem früheren Sozialdemokraten Oskar Lafontaine verbunden. 1985 gelang ihm der Regierungswechsel, Lafontaine errang die absolute Mehrheit. In der Geschichte bundesdeutscher Landtagswahlen einmalig, Machtwechsel fanden bis dato bei Wahlen nur über neu gebildete Koalitionen statt. Seinerzeit eine Sensation – denn das Saarland war mit über 70 Prozent Katholikenanteil eigentlich eine Hochburg der Christdemokraten. Ministerpräsident Lafontaine prägte ab 1985 wie kein anderer das Bild des kleinen Saarlandes und damit auch die den Saarländern zugeschriebene Identität. Die Identität des Landes vollzog sich über die Abgrenzung zur übrigen Bundesrepublik und ihrer preußischen Traditionen, allein schon daraus war eine noch stärkere Verbundenheit mit Frankreich immanent. Weit über 50 000 Menschen arbeiteten 1985 noch im Bergbau und auf der Hütte, doch das Land war mitten in der Strukturkrise. Die Kultur und die Biografien der Bergleute und Hüttenarbeiter rückten wertschätzend in den Mittelpunkt. Die gefährliche Arbeit in der Montanindustrie stand nicht nur für Fleiß und Leistung, sondern auch für Verantwortung und Solidarität, die nötig waren, um Unfälle zu vermeiden und den Alltag zu bewältigen. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 36 http://www.grossregion.net/Unternehmen/Interessensvertretung/Gewerkschaften. 378
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Abb. 7: Wahlplakat Oskar Lafontaine zur Landtagswahl 1985. Man beachte das Baguette [Stadtarchiv Saarbrücken, Nachlass Klaus Winkler]
Damit kompensierten die Saarländer ihre Minderwertigkeitsgefühle und bedienten sie zugleich, denn der Kohlenbergbau im Saarland war ein preußischer Staatsbergbau. An der Spitze standen im Bergbau wie in der Verwaltung bis 1919 stets Preußen, die teilweise aus dem tiefsten Ostpreußen an die Saar entsandt worden waren. Zusammen mit den Stahlbaronen der Röchlings und Stumms unterdrückten sie das Aufkommen einer Arbeiterbewegung an der Saar, die dann nach dem Ersten Weltkrieg verspätet im Saarland ankommen sollte. Die preußischen Landräte, Richter und Bergbaubeamte waren in der Regel Protestanten, während über 70 Prozent der einheimischen Bevölkerung katholisch waren und als Bergmann oder Hüttenarbeiter tätig waren. Preußische Fremdherrschaft erlebte das Land an der Saar dann auch in den Zeiten von Bismarcks Kulturkampf. Bezeichnend dafür Lafontaines Umgang mit dem in der französischen Revolution zerstörten Saarbrücker Barock-Schloss. In den 379
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1980er Jahren entwickelte sich eine Diskussion um eine Rekonstruktion oder eine Sanierung des maroden Bauwerkes. Letztere, von Lafontaine gewollt, setzte sich durch, sichtbar an einem modernen Mittelrisalit aus Stahl und Glas. Politisch vermittelt wurde das Ganze dann als Saarbrücker „Bürgerschloss“, ein Begriff, der auch mit dem seinerzeit sehr renommierten und überregional beachteten saarländischen Schriftsteller Ludwig Harig (1927‒2018) verbunden war. Im April 1989 wurde der Bau der Öffentlichkeit übergeben – die Parole vom „Bürgerschloss“ sollte auch ein Signal für die Verbundenheit mit den Werten der Französischen Revolution sein, in deren Kontext das Schloss am 7. Oktober 1793 ausgebrannt war.37 Das Leben, das Wohnen und das Essen der Bergleute und Hüttenarbeiter – es trat in den Vordergrund und genoss in den Medien und der Literatur an der Saar eine neue Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Diese Entwicklung, der man eine gesellschaftsstärkende Wirkung unterstellt, fiel mit der Strukturkrise zusammen. Die saarländische Landesküche ist eine Küche für arme Leute, in der Mehl- und Kartoffelspeisen dominieren. Sie wurde von Spitzenköchen des Landes und den Autoren Gerhard Bungert (geb. 1948) und Charly Lehnert (geb. 1938) mit Entlehnungen aus der französischen Küche aufgewertet und veredelt. An Fleischgerichten spielt die saarländische Fleischwurst eine herausragende Rolle. Sie erlebte in jener Zeit einen Hype, die allein durch ihre Bezeichnung „Lyoner“ französisch wirkte. Die Lyoner wurde seinerzeit zum Dreh- und Angelpunkt saarländischer Kulturpflege. Zwischen Spaß und Ernst wurde sie als saarländisches „Wappentier“ gehandelt und in Saarbrücken ist eine Straße als „Lyonerring“ benannt. Die Bezeichnung „Ring“ orientierte sich dabei nicht an der Straßenführung, sondern an der Form der Wurst. In der Außenperspektive passte dies zum frankophilen Saarland, die Wurst selbst hat aber mit Frankreich nur wenig zu tun. Die im Kontext einer patriarchalischen Politik des preußischen Staatsbergbaus entstandenen Bergmannshäuser wurden in ihrem historischen und kulturellen Wert verstärkt gewürdigt.38 Die Publizisten Gerhard Bungert und Charly Lehnert gestalteten auch Lafontaines Wahlkampfwerbung 1985. Sie wurden von Lafontaine 1998 mit dem Saarländischen Verdienstorden wegen ihrer „Verdienste um die Identität des ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 37 Gerhard Bungert: Mahlzeit ! Kulinarische Erinnerungen eines Saarländers, Saarbrücken, Saarbrücken 2015, S. 158. 38 Ebda., S. 89‒92, 105‒107, 112‒115, 122. 380
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Landes“ ausgezeichnet. Mit ihnen ist ebenso die Förderung des (saarländischen) Dialekts verbunden, der in der Literatur und anderen Kunstformen einen enormen Aufschwung erlebte. Begonnen hatte diese Entwicklung bereits mit einem Sendeformat des Saarländischen Rundfunks, der Saarlandwelle, die 1980 startete. Einen einheitlichen saarländischen Dialekt an sich gibt es nicht, zu unterscheiden ist eine rhein- und moselfränkische Zone bzw. Grenzlinie. Mehr noch als heute war der Dialekt die Sprache der kleinen Leute, derjenigen, die nicht studiert hatten, die Sprache der Bergleute und Hüttenarbeiter. Ihre Geschichte war prägend für das Land an der Saar. In diesem Dialekt finden sich im Saarland zahlreiche französische Wörter. Beispiele dafür ist etwa das „Hüssje“, gemeint ist der Gerichtsvollzieher. In dieser Zeit wurde es „en vogue“ sich im Saarland und in Saarbrücken mit „Salü“ zu begrüßen. Schon zu Zeiten von Lafontaine als Oberbürgermeister von Saarbrücken (1976–1985) nutzte die Landeshauptstadt den Begriff „Salü Saarbrücken“ als Name für ein städtisches PR-Magazin. Das Wort wurde quasi zu einem Symbol der im Alltag so selbstverständlich gelebten Nähe und Sympathie zu Frankreich. Es gab Autoaufkleber mit „Salü Saarbrücken“ und der Slogan zierte städtische PR-Broschüren. „Salü Saarbrücken“ stand für ein Lebensgefühl, das leichter sein sollte als das im „Reich“. Mit diesem Wort „Reich“ grenzen sich viele Saarländer bis heute von der übrigen Bundesrepublik ab. Wer das Saarland in Richtung Restdeutschland verlässt, ist im „Reich“. „Salü Saarbrücken“, dafür stand der 1979 zur Fußgängerzone umgewidmete St. Johanner Markt mit seinen zahlreichen Bars und Bistros. Im Sommer kann man draußen sitzen und das Leben bei einem Pastis, Rosé oder einem saarländischen Bier genießen.39 Die starke Frankreich-Orientierung des Saarländischen Rundfunks blieb natürlich auch in der Ära Lafontaine erhalten, schon 1982 hatte der SR den deutsch-französischen Journalistenpreis ins Leben gerufen, der erstmals 1983 vergeben wurde.40 Die gerade im universitären Bereich durch die Autonomiezeit und dann auch im Bundesland Saarland aufgebaute Frankreich-Orientierung wurde im Sinne des Elysée-Vertrages und eines deutsch-französischen Austauschs gefördert, auch Metz kam dabei zum Zug. 1997 wurde nach dem Abkommen von Weimar die Deutsch-Französischen Hochschule / Université ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 39 Ebda., S. 117‒121. 40 https://dfjp.eu. 381
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franco-allemande (DFH/UFA) mit Sitz in Saarbrücken gegründet. Vorausgegangen war ein deutsch-französischer Staatsvertrag vom 15. September 1978, mit der das Deutsch-Französische Hochschulinstitut für Technik und Wirtschaft – DFHI / Institut Supérieur Franco-Allemand de Techniques, d’Économie et de Sciences – ISFATES mit Sitz in Saarbrücken bzw. in Metz gegründet worden war.41 Auch im Sinne der seit den 1950er Jahren einsetzenden Entwicklung nutzte Lafontaine Symbole und verlieh den Saarländischen Verdienstorden 1987 an Margarete Woll. Sie war die Grande Dame des Gasthauses Woll in Spichern – an der deutsch-französischen Grenze auf den Spicherer Höhen bei den Schlachtfeldern von 1870. Das traditionsreiche Gasthaus war zum Begegnungsort zwischen Saarländern und Lothringern geworden.42 Lafontaines Ära fällt auch in die Zeit einer neuen Kulturpolitik in Deutschland, die insbesondere mit den Städten Nürnberg und Frankfurt und ihren Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann und Hermann Glaser verbunden war und auf die gesamte Bundesrepublik ausstrahlte. Kulturpolitik sollte sich nicht nur auf die Förderung von Oper, Theater und Museen reduzieren und damit vor allem bürgerliche und bisweilen elitäre Bedürfnisse befriedigen, sondern unter dem Motto „Kultur für alle“ und „Bürgerrecht Kultur“ auch private Kulturinitiativen stärken und sich nicht auf städtische und staatliche Institutionen beschränken.43 Als Oberbürgermeister folgte Lafontaine diesem Weg etwa mit dem Theaterfestival Perspéctives du Théatre. Das Festival Perspéctives ist ein deutsch- und französischsprachiges Festival zeitgenössischer Bühnenkunst. 1978 als französisches Festival gegründet, ist es das einzige Festival, das deutsch- und französischsprachigen zeitgenössischen Produktionen gleichermaßen ein Forum bietet. Passend zum Ansatz von „Kultur für alle“ wurden auch Straßen und Plätze zum Raum kultureller Präsentation und Wahrnehmung, wobei hier vor allem das Saarbrücker Alt-Stadtfest zu nennen ist.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 41 https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-Französisches_Hochschulinstitut. 42 Bungert: Mahlzeit (wie Anm. 37), S. 179. 43 Hilmar Hoffmann: Kultur für alle. Perspektiven und Modelle, Frankfurt/Main 1979, S. 15. Vgl. zu Saarbrücken: Susanne Dengel: Demokratisierung städtischer Kulturpolitik in den 1970er Jahren, in: Karl Ditt/Cordula Obergassel: Vom Bildungsideal zum Standortfaktor. Städtische Kultur und Kulturpolitik in der Bundesrepublik, Paderborn 2012, S. 163‒180. 382
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Abb. 8: Auch der Fuhrpark des Saarländischen Rundfunks stand ganz im Zeichen von Peugeot [Stadtarchiv Saarbrücken, Fotograf Gerhard Heisler, Nachlass Gerhard Heisler]
Lafontaines Schatten: Die Übertreibung eines Klischees? In der Ära Lafontaine spielten Akteure aus Kunst, Kultur und Medien die saarländische Identität bis ins Extreme. Der Schauspieler Jochen Senf (1942–2018) übernahm die Rolle des neuen Kommissars in der Fernsehserie TATORT, die bundesweit im ersten deutschen Fernsehprogramm (ARD) gesendet wurde. Der Schauspieler selbst wie auch die von ihm gespielte Figur kamen nicht aus dem Saarland. Nun sollte es mit dem Kommissar Max Palü einen neuen Star geben, gespielt von Jochen Senf, der zwar in Frankfurt/Main geboren, doch schon über Jahrzehnte im Saarland lebte. Wenn Palü im Film durch Saarbrücken flanierte, meist mit einem Baguette unter dem Arm und einer Flasche Rotwein, grüßten ihn die Menschen mit „Salü Palü“. Motorisiert war er lange 383
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Zeit mit einer Citroën DS. Im Film klärte er nicht nur die Morde auf, er war auch ein Meister des Kochens und verwöhnte so seine Lebensgefährtin. Palü spielte den Saarländer als Saarfranzosen – das Klischee wurde mehr als nur bedient, es wurde leider übertroffen. Zu Palü als genussfreudig frankophilem Mensch trat als Gegenfigur Heinz Becker. Geschaffen von dem Kabarettisten Gerhard Dudenhöfer trat er als ein spießiger Kleinbürger mit Bier und Lyoner auf, der zugleich ein Stück saarländischer Gesellschaft abbildete und bundesweit über seine Auftritte im deutschen Fernsehen wirken konnte.44 Beide Figuren offenbarten die Widersprüchlichkeit und erzählen zugleich etwas von der saarländischen Realität. Eine eher kleine frankophile und intellektuelle Schicht und eine größere kleinbürgerliche, der keine besondere Affinität zu Frankreich attestiert werden kann. Lafontaines Wahlsieg im Saarland 1985 brachte ihn zugleich bundespolitisch in Position als möglicher Nachfolger von SPD-Parteichef Willy Brandt und möglicher Kanzlerkandidat. Lafontaine als Ministerpräsident war schnell im kleinen Saarland die entscheidende Autorität und in Anspielung an sein Kopfprofil und seine eher kleine Körpergröße galt Lafontaine als Napoleon von der Saar. Ein Vergleich, der ihn wohl keineswegs störte, war Lafontaine doch der jüngste deutsche Oberbürgermeister 1976 und 1990 der jüngste Kanzlerkandidat. Lafontaines Reiben an Bundeskanzler Schmidt setzte auf das Antipreußische. So warf er Schmidt im Kontext des NATO-Doppelbeschlusses vor, mit den Tugenden des Kanzlers könne man auch ein Konzentrationslager führen. Den Hanseaten traf das in Mark und Bein, die öffentliche Meinung verbuchte es unter „frech wie Oskar“, und andere dachten, jeder blamiert sich so, wie er kann.45 Als Ministerpräsident war Lafontaine der „stärkste“ Saarländer und der suchte gezielt, etwa bei seiner Ablehnung der Atomenergie oder des NATODoppelbeschluss, die Kontroverse mit seinem „Parteifreund“ Bundeskanzler Schmidt. „Frech wie Oskar“ wurde zum geflügelten Wort für das witzige, bisweilen populistische und vor allem provozierende Auftreten Lafontaines. Sein politisches Gewicht war extrem und singulär, wenn man sieht, dass er ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 44 https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz_Becker_(Bühnenfigur). 45 Magazin „Stern“, 15. Juli 1982: „Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. [...] Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ 384
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sich zunächst einmal nur auf den SPD-Landesverband eines kleines Bundeslandes mit gerade einmal einer Million Einwohner stützen konnte. Doch schnell genoss er eine bundesweite Anhängerschaft. Das Bild vom Napoleon von der Saar transportierten die Medien und als Lafontaine selbstgefällig mit Skandalen umging und das Pressegesetz änderte, verglich ihn das bedeutende Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ mit dem Sonnenkönig Ludwig XIV.46 Abb. 9: Die Medien verglichen Lafontaine gerne mit Napoleon Diese Vergleiche eines Po[Stadtarchiv Saarbrücken, Fotograf Reiner Oettinger, Nachlass Reiner Oettinger] litikers mit herausragenden Persönlichkeiten der französischen Geschichte zementierten in Verbindung mit Lafontaines französischem Familiennamen das Bild eines in der Seele französischen Saarlandes, zumal Lafontaine aus bundesdeutscher Sicht frankophil wirkte, trat er doch offen als Genießer von Haute Cuisine und Kenner guten Weines auf. In der Vertretung des Saarlandes in Bonn hatte er ganz bewusst einen Küchenchef aus der Spitzengastronomie eingestellt, um sozusagen saarländische kulinarische Kompetenz in der Bundesrepublik zu vermitteln. Dieser Koch wurde wie ein Spitzenbeamter bezahlt, was auf heftige Kritik stieß, die an Lafontaine jedoch abperlte. Dieser Koch sei sein Geld wert, er leiste mehr als mancher „Sesselfurzer“ (pets de fauteuil), so der Landesvater. Mit „Sesselfurzer“ waren Ministerialbeamte gemeint. Lafontaines Wortwahl war deutlich, kam aber bei Bergleuten und Hüttenarbeitern wie auch in Wirtschaftskreisen ausgesprochen gut an und zeigt (präsentierte) den Populisten Lafontaine. Bei allem Populismus verfolgte Lafontaine eine klare Linie: das Land sollte seine Stärken zeigen. Dazu gehörte eine gerade aus den französischen Bezügen gewachsene kulinarische Kompetenz. 1998 verlieh Lafontaine den Saarländischen Verdienstorden an Magarete Bacher. Sie war als Hilfsköchin im Casino der Neunkircher Hütten⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 46 Der Spiegel, Nr. 20/1992. 385
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werke, 1958 ins Saarland gekommen, kurz vor dem Niedergang des Eisenwerkes machte sie sich mit einem Feinschmecker-Restaurant selbständig und war die erste Frau, die 1979 in Deutschland mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde und diesen ununterbrochen bis zum Jahr 2004 behielt. Sie starb 2005.47 Im Kern schmeichelten diese Attribute französischer Kultur dem Saarländer Lafontaine, bedeuteten sie doch auch eine recht holzschnittartige Abgrenzung zu Preußen: Genuss und Lebensfreude statt Lustunterdrückung, Widerspruch statt Gehorsam, die Ideen der französischen Revolution statt preußischer Obrigkeitsstaat, das war seine Orientierung und die saarländische Geschichte war auch eine Geschichte preußischer Fremdbestimmung gewesen. Diese Inferioritätsgefühle teilen Saarländer und Lothringer. Medial waren in den 1990er Jahren Lafontaine, als Napoleon von der Saar, und Kommissar Palü prägend für die Wahrnehmung des Landes innerhalb der Bundesrepublik. Dazu kam die Rolle von Lafontaine als Zweifler an Kohls Politik in der Frage der deutschen Einheit ab 1989. Mit Distanz und einem diffusen Unbehagen verfolgte Lafontaine die Wiedervereinigung. Diese Befindlichkeit entfremdete ihn von Willy Brandt. Er teilte sie aber mit vielen damals jüngeren Sozialdemokraten und den Grünen. Für ihn war das typisch, was sein Wahlkampfberater Gerhard Bungert in einem Interview 1994 über sich selbst äußerte: „Ich bin auch Alt-Saarbrücker und Saarländer, Europäer und Weltbürger“. An anderer Stelle sagte Bungert, der Saarländer sei „eine Mischung aus französischem Bürgersinn, Weltoffenheit und Toleranz auch gegenüber hier lebenden Ausländern“ und Lafontaine trage „alle saarländischen Stärken und Schwächen in sich“.48 Mit den „hier lebenden Ausländern“ spielte er auf die in den östlichen Bundesländern unübersehbare Ausländerfeindlichkeit an. Des Weiteren sprach Bungert von der „Dialektik zwischen Regionalem und Internationalem“.49 Genau das war die Saarland-Identität der Ära Lafontaine, zuerst ist man Saarländer, dann Europäer und allgemein ein Weltbürger. Dass man Deutscher ist, sagt man nicht, das tritt aus der historischen Erfahrung des Faschismus und der Verantwortung für dieses Erbe zurück – man spricht deutsch, das genügt. „Deutsch ist die Saar, immerdar“ – so die Parole der nationalistischen Kräfte ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 47 Saarbrücker Zeitung 15.2.1994. Bungert: Mahlzeit (wie Anm. 37), S. 166–170, 179. 48 Saarbrücker Zeitung, 25.11.1994. 49 Saarbrücker Zeitung 15.2.1994, 25.11.1994. 386
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im Saarabstimmungskampf 1935, die mit den Nazis gemeinsam für die Rückkehr zu Hitler-Deutschland gekämpft hatten – davon galt es sich auch symbolisch abzusetzen. Damit verbunden auch ein gewisses Interesse für Lothringen und eine Wertschätzung des politischen Sonderweges zwischen 1947 und 1955.50 Eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Ergänzung der saarländischen Verfassung 1992. Erstmals erhielten die europäische Einheit und grenzüberschreitende Zusammenarbeit in einem Bundesland Verfassungsrang.51 Die Geschichte lehrt einen gerade als Saarländer, Europäer zu sein. Lafontaine dürfte in dieser Haltung durch seinen politischen Weggefährten Reinhard Klimmt52, einem studierten Historiker, geprägt worden zu sein und insbesondere durch Heinz Grandmontagne, Chef der Saarbrücker Saar-Messe, der Lafontaine innerhalb der Saarbrücker SPD gefördert hatte und als sein „Ziehvater“ galt. Grandmontagne und seine Familie stehen für die autonome Saar, sie hatten die Saarmesse gegründet und waren frankophil.53 Vor allem sah Grandmontagne in den Zeiten der Strukturkrise fasziniert auf Luxemburg und auf das abgelehnte Saarstatut 1955 als vertane Chance. Zur Autonomiezeit sollte das Saarland und hier Saarbrücken zum Sitz europäischer Einrichtungen bzw. der Montanunion werden. Bonn lehnte kategorisch ab und Paris gab sich damit zur Enttäuschung der Saarländer zufrieden, Luxemburg profitierte davon und setzte sich durch.54 Luxemburg war ab den 1980er Jahren gerade dabei als internationaler Finanzplatz immer attraktiver zu werden, auch für Steuerhinterzieher. Im Lauf der Jahre hatte es weite Teile der Justizverwaltung der Europäischen Union bei sich angesiedelt. Gut bezahlte Posten, die die örtliche Dienstleistung zum Blühen brachten. Nicht wenige der Spitzenbeamten hatte nihre Ausbildung am Europa-Institut in Saarbrücken erhalten. Luxemburg war Standort weiter Teile der EU-Gerichtsbarkeit.55 ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 50 Bungert: Mahlzeit (wie Anm. 37), S. 157. 51 http://saar.europa-union.de/index.php?id=24434&tx_news_pi1%5Bnews%5D=16541&tx_news _pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&cHash=efb01be263a181a 8e5f18310f0e3d8c7. 52 Reinhard Klimmt: Auf dieser Grenze lebe ich. Die sieben Kapitel der Zuneigung, Blieskastel 2003, S. 63‒123, 53 http://www.memotransfront.uni-saarland.de/saarmesse.shtml. 54 Stadtarchiv Saarbrücken, Dep. Doss. Saarbrücker Zeitung, Nr. 2357. 55 Hans-Christian Herrmann: Strukturkrise und Strukturwandel im vergleichenden Überblick, in: Ders. (Hg.): Die Strukturkrise an der Saar und ihr langer Schatten. Bilanz und Perspektiven von Montanregionen im europäischen Vergleich, St. Ingbert 2020, S. 29‒31. 387
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Und so begann auch in der Ära Lafontaine die Aufwertung der Autonomiezeit und die Würdigung der antifaschistischen Lebenswege ihrer Repräsentanten. So erhielt beispielsweise im Jahr 1986 der Sozialdemokrat Richard Kirn, Stellvertreter von Ministerpräsident Hoffmann, den Saarländischen Verdienstorden in Anerkennung seiner Verdienste um die deutsch-französische Verständigung. Kirn hatte einige Zeit nach der Saarabstimmung 1955 das Saarland verlassen und lebte im französischen Sarreguemines. Während in den Jahren zuvor, auch aus Angst alte Wunden der Abstimmungszeit wieder aufzureißen, die Autonomiezeit eher tabuisiert und ihre Repräsentanten vor allem im vertrauten Kreis nach wie vor beschimpft wurden oder sich beschimpften, wenn sie zufällig aufeinandertrafen und die Erinnerung an die alten Zeiten Thema wurden, erfolgte nun eine umfassende Aufarbeitung. Es entstand in Saarbrücken 1985 ein regionalhistorisches Museum, das eine Dauerausstellung aufbaute und sich dabei umfassend auch der Autonomiezeit widmete. Der Saarländische Landtag (Parlament) förderte die Aufarbeitung56 und an der Universität des Saarlandes begann der Historiker Professor Rainer Hudemann eine wissenschaftliche Aufarbeitung unter Hinzuziehung der Auswertung von Akten aus französischen Archiven, die bis dato gesperrt waren. Zur ausgewogeneren Sicht auf die Autonomiezeit und auch zu einer auf Netzwerkbildung und Aufwertung des Landes ausgerichteten Politik gehörte die Einrichtung eines Büros des Saarlandes in Brüssel. Damit signalisierte die Saar ihre Verbundenheit mit Europa, auf dessen Unterstützung, etwa zur Bewältigung der Stahlkrise, das Land auch angewiesen war. Ferner wurde in der Rue Galiée 30 im noblen XVI. Arrondissement in Paris ein Haus der Saar eröffnet, womit man an die Saarvertretung zu Autonomiezeiten anknüpfte.57 Die Generation der zwischen 1940 und 1960 geborenen Saarländer entwickelte ein besonderes Interesse und eine gewisse Wertschätzung für die Autonomiezeit. Antiquare wissen zu berichten, dass sich in den 1980er und 1990er Jahren eine große Nachfrage nach Literatur aus dieser Zeit und an der politischen Autobiografie des früheren Ministerpräsidenten Hoffmann „Das Ziel ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 56 Rainer Hudemann/Raymond Poidevin: Die Saar 1945 – 1955. Ein Problem der europäischen Geschichte, München 1992, jetzt in der überarbeiteten 3. Auflage, Berlin 2022. 57 Stadtarchiv Saarbrücken, Dep. Doss. Saarbrücker Zeitung, Nr. 1337; Der Spiegel 18/1988, S. 75‒78. 388
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war Europa. Der Weg der Saar 1945 – 1955“ entwickelte 58 Zu dieser Entwicklung passt auch die Gründung der Musikgruppe „Sarrelibre“, in Anklang auf den Namen, den die Stadt Saarlouis zwischen 1793 und 1810 getragen hatte. Ferner die aufkommende Popularität des Wappens des autonomen Saarlandes mit den Farben der Trikolore und einer Brücke. Es feierte sozusagen „Auferstehung“ und wurde als Autoaufkleber gerne gekauft und unter anderem in der Saarbrücker Filiale von „Jacques Weinbistro“ angeboten. Jene Zeit förderte in der Außenwahrnehmung, die Saarländer seien keine richtigen Deutschen. Dazu trug auch der „kleine“ SED-Diktator Erich Honecker, ein geborener Saarländer, bei, dessen Dialekt in Ansätzen zu hören war, wenn auch nicht so extrem wie das Sächsisch seines Vorgängers Walter Ulbricht. Honecker besuchte am 10. September 1987 das Saarland. Lafontaine empfing ihn wie einen Staatsgast, Honecker wurde im Mercedes 600 chauffiert. Honecker nutzte die Einladung, auch um seine im saarländischen Wiebelskirchen lebende jüngere Schwester und das Grab seiner Eltern zu besuchen. Politisch war für konservative Kreise und viele in der CDU/CSU Lafontaines Einstellung zu Honecker ein Beleg für einen Politiker, der die deutsche Einheit aufgegeben hätte. Mit dem Attribut „Saarländer“ war das die Umschreibung für einen unterstellten fehlenden Patriotismus.59 Das Saarland erschien in der Ära Lafontaine mehr denn je als das französischste aller Bundesländer, vor allem als Klischee durch die Attribute Lafontaines und die in ihrer Frankophilie übertriebene Figur des Kommissars Max Palü. Im Saarland selbst mehrten sich kritische Stimmen – zu platt war dieses Bild, zu gewollt. In einem Leserbrief in der Saarbrücker Zeitung vom 25. April 1998 kritisierte ein M. Bauer mit Blick auf Lafontaines Berater Bungert und Lehnert: „Die genannten Herren haben nämlich durch ihre Tätigkeit dem Saarland mehr geschadet als genutzt, und zwar durch die Schaffung eines Saarländer-Klischees zwischen debilem Kleinbürger und frankophilem Genussmenschen“. Nachdem Lafontaine in das Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder 1998 wechselte und sein Nachfolger Klimmt dem Christdemokraten Peter Müller bei der Landtagswahl 1999 unterlag, musste Müller mit diesem Klischee brechen, ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 58 Auskunft des Saarbrücker Antiquariats Walter Barbian gegenüber dem Autor. 59 https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=43636. 389
Hans-Christian Herrmann
wenn er eigenes Profil entwickeln wollte. In der Ära Lafontaine war das Bild des Saarlandes zu sehr mit der Selbstdarstellung des Ministerpräsidenten verwoben worden. Müller präsentierte sich als Macher in der Krise, Genießen passte angesichts der wirtschaftlichen Lage und des neoliberalen Zeitgeistes ohnehin nicht in die politische Landschaft. Das gute Essen und die herausragende Gastronomie hatte aber bereits der liberale Wirtschaftsminister Werner Klumpp 1979 noch zu Zeiten der CDU/FDP-Koalition als Standortfaktor erkannt und mit seiner Vermarktung begonnen. Im Lauf der 1970er Jahre hatte sich nämlich in der bundesrepublikanischen Kochkultur etwas bewegt. Es entstand ein Bewusstsein für den Entwicklungsbedarf der eigenen Kulinarik und Gastronomie verbunden mit einer Offenheit gegenüber Frankreich und Italien.60
Eine neue Generation und die Frankreich-Konzeption als zukunftssichernde Idee? Trotz der Abgrenzung von Müller zu Lafontaine lebte die grenzüberschreitende Identität des Saarlandes weiter und fand einen besonders nachhaltigen Beweis für ihre Echtheit. In der neuen Bundeshauptstadt Berlin brauchte das Saarland so wie die übrigen Länder eine Landesvertretung, und mit der neuen Leiterin Monika Beck (CDU) beherbergte sie ab 1999 auch die Vertretung des Departements Moselle in Berlin.61 Im Sinne einer Revision von Lafontaine wurde nicht zuletzt auch wegen der Kosten die in seiner Zeit errichtete Saarvertretung in Paris wieder geschlossen.62 Müllers Nachfolgerin Kramp-Karrenbauer errichtete 2016 wieder eine solche Saarvertretung in Frankreichs Hauptstadt. Zu ihren Akzenten im Amt gehörte auch eine strategische Neuausrichtung des Landes. Dabei dürfte die Erkenntnis eine Rolle gespielt haben, dass ein so kleines Land wie das Saarland nur in einem Europa der Regionen eine Zukunft haben wird. Sie rief deshalb eine sogenannte Frankreich-Strategie aus, die bis Mitte der 2030er Jahre ein bilinguales Saarland anstrebt: ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 60 Herrmann: Saarbrücken à la carte (wie Anm. 21), S. 154. 61 https://de.wikipedia.org/wiki/Vertretung_des_Saarlandes_beim_Bund. 62 Stadtarchiv Saarbrücken, Dep. Dossier Saarbrücker Zeitung, Nr. 1337. 390
65 Jahre Bundesland Saarland „Mit Unterzeichnung des neuen Vertrages über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Kooperation am 22. Januar 2019 – als Ergänzung des Elysée-Vertrages aus dem Jahre 1963 – werden die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich auf eine zeitgemäße Basis gestellt und hierdurch neue Dynamik erfahren. Ein Novum stellt insbesondere das Kapitel zu den Grenzregionen dar, das unter anderem das Ziel der Zweisprachigkeit in der gesamten deutsch-französischen Grenzregion vorsieht. Mit seiner Frankreichstrategie hat sich das Saarland bereits im Jahr 2015 zum Ziel gesetzt, sich innerhalb einer Generation zu einer multilingualen Region deutsch-französischer Prägung und somit zum ersten mehrsprachigen Bundesland der Bundesrepublik Deutschland zu entwickeln. Französisch soll als Verkehrssprache neben die Mutterund Amtssprache Deutsch treten und durch Englisch und/oder weitere Fremdsprachen ergänzt werden. Die hierdurch entstehende europäische Referenzregion wird vom Motto ‚mehr Sprachen, mehr Chancen‘ geleitet. Die Frankreichstrategie ist aber weit mehr als eine Mehrsprachigkeitsstrategie. Sie ist ganzheitlich und gesellschaftlich angelegt. Das Saarland nimmt damit in allen Bereichen seine besondere Rolle als Brücke zwischen Deutschland und Frankreich wahr“.63
Wie dies für das finanziell ausgeblutete und von Berlin weitgehend im Stich gelassene Bundesland gelingen soll, bleibt offen. Der Autor gesteht, sich bei dieser Einschätzung vom saarländischen Inferioritätskomplex leiten zu lassen, denn wenn das Land etwa mehr Geld für Französischlehrer ausgibt und dafür nicht an anderer Stelle einspart, interveniert der Bund. Viele Saarländer erleben insbesondere seit den 1960er Jahren täglich intensive Kontakte mit Franzosen – dies betrifft insbesondere das Einkaufen in Saarbrücken, denn viele Franzosen aus der Grenzregion schätzen bis heute Saarbrücken als Einkaufsstadt, gut ein Drittel des Umsatzes entfallen auf sie. Die Leitung der Geschäfte verlangt deshalb vom eingesetzten Personal eine gewisse französische Sprachkompetenz. In der stark frequentierten Bahnhofstraße in Saarbrücken würde ein Blinder vom Hören an manchen Tagen glauben, er befände sich in einer französischen Stadt. Vor allem im Zuge des Abbaus von Arbeitsplätzen im Montanbereich, der ab den 1960er Jahren deutlich zunahm, pendelten zahlreiche Franzosen etwa aus dem Bitcher Land nach Homburg, hier gibt es bis heute eine Reihe von Automobilzulieferern, ebenso arbeiten viele Franzosen im Ford-Werk Saarlouis und bei dem Getriebehersteller ZF in Saarbrücken, aber auch bei anderen saarländischen Unternehmen ganz unterschiedlicher Branchen.64 Die Arbeitswelt steht für den täglichen Kontakt, verlangt Kommu⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 63 https://www.saarland.de/mfe/DE/portale/europaundgrossregion/home/DieGro%C3%9 Fregion/ Frankreichstrategie/frankreichstrategie_node.html. 64 Saarbrücker Zeitung 16.9.1973. 391
Hans-Christian Herrmann
nikation, Austausch und gegenseitige Verantwortung. Die heutige europäische Großregion Grand-Est bildet den größten grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt Europas.65 Die französische Sprachkompetenz bildet dabei einen Schlüssel für Berufschancen, gerade auch im wirtschaftlich starken Luxemburg.
Ausblick Die Identität des Saarlandes basiert vor allem auf den Erfahrungen nach 1945. Auffällig ist, dass sich eine saarländische Identität im Sinne eines Verwischens von Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich nicht in der Autonomiezeit, sondern vor allem in den 1960er/1970er Jahren vollzieht. Dieser Prozess ist mit einem französischen Kulturtransfer verbunden, maßgeblich dafür die Rolle der „Generation Paris“. Lafontaine und seine Berater instrumentalisierten letztlich die Identitätsfrage zum Zweck der Selbstdarstellung des Ministerpräsidenten. Im Zuge des Machtwechsels zur CDU suchte sein Nachfolger Müller den radikalen Bruch. Die von Kramp-Karrenbauer initiierte Frankreich-Strategie basierte wohl auch auf der Erkenntnis, ein entstandenes Vakuum zu füllen und mit Blick auf ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 65 https://www.statistischebibliothek.de/mir/servlets/MCRFileNodeServlet/SLMonografie_derivate _00000489/SL_Quartalsheft_2012-01-vj_9-22.pdf;jsessionid=721CF83CADBAA4C320BBE29687 E5896F. Die Corona-Pandemie hat die Dimension der saarländisch-französischen Verflechtung drastisch gezeigt und die Verwundbarkeit europäischer Ideale. Nicht zu vergessen aber das Gelungene, so etwa die problemlose Behandlung französischer Covid-Opfer etwa im Saarbrücker Winterbergkrankenhaus. Das Thema der Lebenswirklichkeit der Grenzgänger bietet noch umfassenden Forschungsbedarf. Niemand stellt sich die Frage, warum etwa die hohen Stimmenanteile des Front National in Lothringen auch Pendlerhochburgen sind. Hier kann dies nicht näher erörtert werden. Zwei Aspekte sollen genannt werden: Grenzgänger offenbaren die sozialen Unterschiede einer Grenzregion, aktuell die teilweise doppelt so hohen Löhne in Luxemburg. In der Vergangenheit (vor allem späte 1960er/frühe 1970er Jahre) waren es die auch im Saarland gezahlten deutschen Industrielöhne, die aus lothringischer Perspektive wie ein „Magnet“ wirkten und Lothringen zum „Schlafhaus“ machten, das Wort von der „germanisation pacifique“ machte die Runde. Zum anderen wäre zu untersuchen, welche Rolle nehmen die Grenzgänger in der Unternehmenshierarchie ein, welche Wertschätzung wird ihnen zuteil, wie integriert sind sie – unter Coronabedingungen fühlten sich viele verständlicherweise diskriminiert. Dabei ist auch die tatsächliche Zweisprachigkeit zu prüfen – darf sie doch als Schlüssel zur Chancengleichheit bewertet werden. Die Corona-Krise mit ihren Grenzschließungen verletzte vor allem die französische Seite und belastete die Berufspendler und Grenzgänger. 392
65 Jahre Bundesland Saarland
die Saargeschichte und die saarländische Mentalität das Land nach innen und nach außen zu positionieren. Dabei bildet die Förderung der französischen Sprachkompetenz ein zentrales Element, um Lebenschancen einer europäischen Großregion zu nutzen. Ernüchternd in diesem Kontext der Kinder- und Jugendbericht der früheren saarländischen Sozialministerin Bachmann. 1700 junge Saarländer zwischen 12 und Ende 20 wurden im Herbst 2020 befragt, danach wussten zwei Drittel gar nicht, was mit dem Begriff Großregion gemeint ist, 15 Prozent hielten die Demokratie nicht für die geeignete Staatsform und ein Drittel war noch nie in ihrem Leben in Lothringen.66 Kann man nur hoffen, dass die Studie fehlerhaft ist. Europa und die deutsch-französische Freundschaft brauchen mehr als Technokraten, sondern auch Liebe und Engagement der Menschen füreinander und auch eine Reform der europäischen Institutionen. Die Grenzlage und deutsch-französische Geschichte hat das Saarland letztlich stärker und dauerhafter als Kohle und Stahl geprägt. Der Pingusson-Bau im Herz der Landeshauptstadt erzählt von dieser spannenden Geschichte. Von einem „Pinguin-Bau“67 zu sprechen, war ein wertvoller Denkanstoß. Röder wohnte dort übrigens von 1961 bis Mai 1966, bevor sein neu errichtetes Eigenheim in der Röntgenstraße im Saarbrücker Stadtteil Am Homburg bezog. Die Frankreich-Konzeption des Saarlandes braucht dringend Leben. Zumindest symbolisch setzt die neue Landesregierung Zeichen, fährt doch die Ministerpräsidentin gelegentlich Peugeot 404 und Wirtschaftsminister Barke will sich nicht von seinem Citroën 2 CV trennen. En marche et Bonne Route – bevor es zu spät ist.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 66 Saarbrücker Zeitung, 26.2.2021. 67 Bund Deutscher Architekten «Offener Brief des BDA Saar zum Pingusson-Gebäude» (bdabund.de). Minister Bouillon bezeichnete den von dem französischen Architekten Pingusson gestalteten Bau wohl aus einer Laune heraus als Pinguin-Bau und brachte damit seine Distanz zu den geforderten Sanierungsplänen zum Ausdruck, die finanziell für das Land eine gigantische Herausforderung markieren. 393
Miszellen
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
„Eisenzeit in SaarLorLux“ ‒ Auflistung der Errata Von Hubert Kesternich
Vorbemerkung Gediegene Veröffentlichungen zum Thema der saarländischen Eisen- und Stahlindustrie gelten als Desiderat der Forschung. Insofern setzte der Verfasser große Erwartungen in den Band „Eisenzeit in SaarLorLux“, den Paul Burgard und Ludwig Linsmayer 2019 vorlegten.1 Dabei handelt es sich leider nicht um einen informativen Text über die Hütten in „SaarLorLux“, wie man es bei der renommierten Reihe „Echolot. Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken“ hätte erwarten können, sondern lediglich um einen Bildband.2 Leider sind viele Passagen in den Einleitungstexten und vor allem in den Bildbeschriftungen irreführend, etliche sogar grundlegend falsch. Da in der Regel einer vom anderen abschreibt, werden diese Errata in Zukunft weiter kolportiert werden, so dass zumindest mit diesem Beitrag die Möglichkeit eröffnet wird, die Fehler zu korrigieren, bevor sie sich verfestigen.
Die Errate der Einleitungstexte Im Geschäftsbericht der ARBED Saarstahl GmbH von 1985 heißt es, dass die Firma in „Saarstahl Völklingen GmbH“ umbenannt wird.3 Aus der Feder des Vorstandsvorsitzenden der Saarstahl AG und der Aktien-Gesellschaft der Dillinger Hüttenwerke, Tim Hartmann, erfährt man stattdessen überraschend, ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 1 Paul Burgard/Ludwig Linsmayer: Eisenzeit in SaarLorLux. Röchling, ARBED, Saarstahl (1960–1990) (= Echolot. Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken, Bd. 15], Saarbrücken 2019. 2 In der Werbung der „saargeschichte|n“ heißt es lediglich, das Buch sei „illustriert“; vgl. saargeschichte|n 58/59 (2020), Heft 1/2, S. 95. 3 Geschäftsbericht der ARBED Saarstahl GmbH 1985, S. 12. 397
Hubert Kesternich
dass die Saarstahl AG „heute noch [den] gültigen Namen ARBED-Saarstahl“4 trägt. Aus der gleichen Quelle ist zu lesen, dass es „fünf integrierte Eisen- und Stahlwerke an der Saar“ gab. Nun gab es an der Saar mit Dillingen, Burbach, Halberg, Neunkirchen und Völklingen in der Tat fünf integrierte Hüttenwerke – doch war die Halberger Hütte kein Eisen- und Stahlwerk, sondern ein Eisenwerk mit angegliederter Eisengießerei.5 Von letzterer heißt es, dass sie „von Restrukturierung und Übernahme nicht betroffen“6 gewesen sei. Dies ist ebenfalls zu korrigieren, wurde doch bereits am 22. Juni 1970 durch die Fusion der Gesellschaften Saint-Gobain und Pont-à-Mousson eine Holding und damit eine Übernahme geschaffen.7 Überdies ist die Angabe schon deswegen unzutreffend, weil die Halberger Hütte – wie eine Vielzahl anderer französischer Großbetriebe und Banken – von 1982 bis 1986 verstaatlicht war, was faktisch einer Übernahme gleichkommt. Darüber hinaus wurde der Maschinengussbereich des Unternehmens im November 1988 ausgegliedert,8 was zwar keine Übernahme, doch zweifelsfrei eine Restrukturierungsmaßnahme war. Sodann entsteht durch die Formulierung, dass „[…] der Burbacher Betrieb im Herbst 1971 eingeschränkt werden [musste]“,9 für Menschen ohne Hintergrundwissen der Eindruck, dass nur im Werk Burbach Kurzarbeit gefahren wurde. Zutreffend ist aber, dass im Herbst 1971 der Betrieb im gesamten Unternehmen Stahlwerke Röchling-Burbach (SRB) eingeschränkt wurde. „Das führte dazu, dass von der 50. Woche an und den ganzen Monat Dezember hindurch in beiden Werken insgesamt 7394 Belegschaftsmitglieder Kurzarbeit fahren mussten. In Völklingen waren davon 4956 gewerbliche Arbeitnehmer und 831 Angestellte betroffen.“10 Das bedeutete, dass von den 16 590 Beschäftigten in Völklingen rund 35 % und von den 5884 Beschäftigten in Burbach rund 27 % von Kurzarbeit betroffen waren. Der Eindruck, allein das Werk Burbach sei von Kurzarbeit betroffen gewesen, ist somit inkorrekt. Werkzeitung, Geschäftsberichte etc. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 4 Vgl. Burgard/Linsmayer: Eisenzeit in SaarLorLux (wie Anm. 1), S. 8. 5 Bei dieser erstaunlichen Unkenntnis eines Vorstandsvorsitzenden über Grundsätzliches überrascht es nicht, dass Hartmann am 20. November 2020 seinen Rücktritt erklärte, vgl. Pressemitteilung der SHS-Stahl-Holding-Saar vom 20. November 2020. 6 Vgl. Burgard/Linsmayer: Eisenzeit in SaarLorLux (wie Anm. 1), S. 14. 7 Vgl. „Uff’m Hallberg“ Nr. 3 (1970), S. 10. 8 Vgl. Peter Wettmann-Jungblut: Vom Halberger Werk zu Saint-Gobain Gussrohr. 250 Jahre Eisen- und Gussproduktion in Brebach 1756-2006, Saarbrücken 2006, S. 70. 9 Vgl. Burgard/Linsmayer: Eisenzeit in SaarLorLux (wie Anm. 1), S. 16. 10 Vgl. Der Hüttenmann, Ausgabe Januar/Februar 1972, S. 14. 398
„Eisenzeit in SaarLorLux“
stehen als Quellen zur Verfügung, und dennoch heißt es fälschlich, dass „von den etwa 27 000 saarländischen Stahlkochern bis 1983 8500 ‚freigesetzt‘ werden sollten“.11 Zu diesem Zeitpunkt gab es tatsächlich in der saarländischen Eisenund Stahlindustrie im Jahresdurchschnitt noch fast 30 600 Beschäftigte.12 Geht man also in die Details, bleibt von dem genannten Text nicht viel übrig. Mangelnde Kenntnis über metallurgische Prozessabläufe erklärt dann auch, warum man im Einführungstext zum Kapitel „Heißes Eisen“ fälschlich ausführt, dass „der in diversen Spezialöfen wieder zur Rotglut gebrachte Stahl in die gewünschte Endform gebracht werden wird“.13 Dies ist technisch ein Unding. Der in den Schmiedeöfen, den Stoß- oder Hubbalkenöfen der Walzstraßen auf Schmiede- oder Walztemperatur gebrachte Stahl wurde unter den Pressen oder zwischen den Walzkalibern in Form gebracht. Auf S. 192 schreibt der Autor über eine „Edelmetallwerkstatt“, die es in der fast 150-jährigen Geschichte der Völklinger Hütte nie gegeben hat. Dies gilt auch für die auf der gleichen Seite beschriebenen „funkensprühenden Kokillen“. Nicht die Kokillen sprühen Funken, sondern der zuvor in dieselben vergossene Stahl. Das auf S. 38 mit „Stahlblaswerk“ betextete Foto heißt „LD-Blasstahlwerk“. Dann liest man weiter mit Verwunderung, dass man im Rekordjahr 1974 „gut fünf Millionen [Tonnen Stahl] an den ARBED-Standorten [kochte], wobei etwa 20 % davon wiederum in saarländischen Hütten erzeugt wurden“.14 Richtig ist, dass 1974 an den ARBED-Standorten 5,735 Mio. Tonnen Rohstahl erzeugt wurden, davon stammen aber 3,56 Mio. Tonnen aus den Saarstandorten der ARBED. Das waren mehr als 58 % der ARBED-Stahlerzeugung – und damit deutlich mehr als die von Autoren beschriebenen 20 %. Nach dem Befund des Autors wies die Bilanz der Stahlwerke Röchling-Burbach „1,1 Millionen Tonnen Rohstahl […] im Jahr ihrer Fusion aus,“ tatsächlich waren es aber 2,36 Mio. Tonnen Rohstahl.15 Außerdem verorten die Autoren, „die Rammpfähle aus dem luxemburgischen Walzwerk Dudelange“16 in das ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 11 Vgl. Burgard/Linsmayer: Eisenzeit in SaarLorLux (wie Anm. 1), S. 17. 12 Vgl. Arbeitskammer des Saarlandes: Bericht an die Regierung des Saarlandes 1979, S. 363. 13 Vgl. Burgard/Linsmayer: Eisenzeit in SaarLorLux (wie Anm. 1), S. 82. 14 Vgl. ebda., S. 232. 15 Vgl. Arbeitskammer des Saarlandes: Bericht an die Regierung des Saarlandes Juli/September 1972, S. 4. 16 Vgl. Burgard/Linsmayer: Eisenzeit in SaarLorLux (wie Anm. 1), S. 233. 399
Hubert Kesternich
Walzwerk Rodange17 und in die Lagerhalle von Raodange,18 also Namensverwechslungen und Irritationen bei der Rechtschreibung, wo statt der HollerithAbteilung eine „Hollerieth-Abteilung“19 benannt wird, oder wo statt „Sologne“ „Solonge“20 zu lesen ist. Kritisches Terrain betritt der Einführungstext zu Thema „Werksfamilie“. Hier begegnet man dem bekannten Narrativ, dass „[...] nicht kaltes Profitdenken [...] die Firma beherrschten, sondern ein Geist der Gemeinschaft von Technikern, Kaufleuten, Arbeitern und Bürokraten, eine Philosophie, in der kollektives Pflichtbewusstsein unter patriarchalischer Führung ebenso seinen Platz haben sollte wie soziale Fürsorge“.21 Diese in einer verquasten Semantik abgebildete Auffassung kapitalistischer Besitzverhältnisse hatte viele Jahrzehnte vom Kaiserreich bis in die Gegenwart in Schulbüchern und anderen Publikationen zur Deutungshoheit und Erhaltung der bestehenden Besitzverhältnisse gedient. Damit wurde versucht, ein harmonisierendes Bild der Beziehungen zwischen Lohnabhängigen und Produktionsmittelbesitzern zu erzeugen und die verlaufende Trennungslinie zu verwischen. Doch war diese Sichtweise fernab jeder Realität. Wo ging es auf der Völklinger Hütte und ihren angegliederten Betrieben oder auf den anderen Saarhütten und den Saargruben zwischen den Produktionsmittelbesitzern und den abhängig Beschäftigten je um „Solidarität“? Solidarität gab es innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen im Kampf um errungene soziale Besitzstände, bei der Abwehr von Lohndrückerei und Entlassungen, bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Seit der Gründung der Völklinger Hütte 1873 und ihrer Übernahme 1881 durch die Gebr. Röchling ging es nie darum, den Beschäftigten Arbeit zu verschaffen. Alleiniger Zweck einer Unternehmensgründung war für die Produktionsmittelbesitzer immer, mit möglichst wenigen Arbeitern, Technikern und Angestellten eine hohe Wertschöpfung und eine gute Rendite zu erreichen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Bereits am 6. Juli 1877 einigten sich die Saar-Industriellen auf einer „Versammlung von Arbeitgebern des Saargebiets“ im Saarbrücker Casinosaal auf Einladung des ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 17 Vgl. ebda., S. 238. 18 Vgl. ebda., S. 239. 19 Vgl. ebda., S. 174. 20 Vgl. ebda., S. 69. 21 Vgl. ebda., S. 328. 400
„Eisenzeit in SaarLorLux“
Vorsitzenden der Königlichen Bergwerksdirektion, Geheimrat Adolf Achenbach, auf dreizehn in einem Protokoll festgehaltene Beschlüsse. Diese richteten sich gegen renitente politisch Engagierte, insbesondere gegen sozialdemokratische Arbeiter. Das Ergebnis der Saarbrücker Konferenz war die Gründung eines „Komitees der Arbeitgeber zur Bekämpfung der Sozialdemokratie“, quasi das „Sozialistengesetz der Saarindustrie“, das zu Pressionen gegen die Arbeiterschaft genutzt wurde. Zu den Unterzeichnern gehörten neben den Gebr. Röchling auch der dem Komitee angehörende Geheime Kommerzienrat Carl Ferdinand Stumm.22 Über die Auswirkungen der „sozialen Fürsorge“ für die Arbeiter des „Eisenwerks der Gebrüder Röchling“ gibt ein Bericht des unverdächtigen Völklinger Bürgermeisters Carl Stürmer Aufschluss. „Die Löhne der Hüttenarbeiter sind jetzt so gering, daß diese kaum ihr nacktes Leben fristen können und vielfach die Privatwohlthätigkeit eintreten muß wo in diesen armen kinderreichen Familien durch Krankheit die Noth eine besonders große ist.“23 Insbesondere im Jahrzehnt 1920/30, als auf den Saarhütten und -gruben zahlreiche Arbeits- und Lohnkämpfe stattfanden, gerierte sich der Völklinger Kommerzienrat Hermann Röchling als perfider Lohndrücker. Sowohl im September 1921 als auch von September bis November 1924 sperrte er im „Geist der Gemeinschaft“ seine „lieben Arbeiter“ aus. Als maßgeblicher Förderer der „Deutschen Front“ betätigte er sich ab 1933 als Wegbereiter des Faschismus an der Saar. Das kann einem ausgewiesenen Historiker nicht verborgen bleiben. Schon 1999 hatte Paul Burgard nach Auffassung des Verfassers die bestehenden Klassengegensätze kaschiert, als er sich in seinem mit Ludwig Linsmayer verfassten Beitrag „Von der Vereinigung der Saarstädte zum Abstimmungskampf (1909–35)“ bemühte glaubhaft zu machen, dass 1927/28 „die monatlichen Einnahmen etwa 24 000 Franken, dass für jedes Mitglied des Haushaltes zur Verfügung stehende Einnahmen [...] zwischen 2600 bis 18 000 Franken [...]
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 22 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. I. HA Rep. 77, Tit. 500 Nr. 46 adh. 2 Bd. 1, Bl. 99v u. r. Protocoll der Versammlung von Arbeitgebern des Saargebiets. 23 Landesarchiv Saarbrücken. Best. Landratsamt Saarbrücken 1838. S/7 Bewegung unter den Arbeitern. Schreiben des Bürgermeistzers Carl Stürmer, Völklingen, an Landrat Alfred Georg von Bake vom 26. Januar 1892. 401
Hubert Kesternich
variierte[n]“.24 Einige Zeilen zuvor heißt es, dass der Stundenlohn für Arbeiter zwischen drei und fünf Francs betrug, der monatliche Lohn bei einer Arbeitszeit von zweihundert Stunden demnach zwischen sechshundert und tausend Franken lag. Beide Autoren hatten einen statistischen Jahresbericht der Stadt Saarbrücken aus dem Jahre 1927/28 über Einkommen, Ausgaben, Löhne und Gehälter ausgewertet.25 Wie konnten Monats- und Jahreslöhne verwechselt werden? Überdies waren die in dem erwähnten Jahresbericht abgebildeten hohen Beamtengehälter keinesfalls auf die Mehrheit der anderen Saargemeinden übertragbar. Bezugnehmend auf Rolf Latz zitiert Paul Burgard so unglücklich auszugsweise, dass das Zitat verdreht wird. Latz schreibt: „Die Lohnkosten wurden rigoros und drastisch durch Entlassungen, Kurzarbeit und vorzeitige Pensionierungen reduziert. Der durchschnittliche Effektivlohn des einzelnen Arbeiters in der eisenschaffenden Industrie sank 1931 um 20 %. Die Lohnsummen der Hütten verringerten sich von 1929 auf 1931 sogar um 36 %.“26 Aus diesem quellengestützten Zitat eliminierte Burgard (ihm missfallende?) Passagen, dass „die Lohnkosten [...] rigoros und drastisch durch Entlassungen, Kurzarbeit und vorzeitige Pensionierungen reduziert [wurden].“ Passte es so besser in sein sozialpartnerschaftliches Weltbild? Mit der unkritischen Übernahme des Narrativs des Unternehmens, deren Selbstbildnis zu präsentieren, ist der Autor jenen devot gefolgt. „Die Fotografien dieses Kapitels bringen zusammen, was in der realen Welt der Stahlindustrie eigentlich nie zusammengehörte“, heißt es auf S. 192. Vor diesem Hintergrund überrascht dann nicht das krude Frauenbild der Autoren. Zwar propagierte man in dem Kapitel „Die Schöne und das Werk“ (S. 193) das Ende der „alten“ Frauenbilder, um dann jedoch auf den folgenden sechzehn Seiten kontinuierlich Frauen auf ihre Rolle als Models oder auf Fotos in der Produktwerbung zu reduzieren. Die Fotos mussten „umcodiert“ werden (S. 193), um damit ein Klischee-Narrativ zu bedienen. Doch gibt es im Archiv der SAG hunderte Fotos, die Frauen an verschiedenen Arbeitsplätzen des Unternehmens – ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 24 Paul Burgard/Ludwig Linsmayer: Von der Vereinigung der Saarstädte zum Abstimmungskampf (1909–35), in: Geschichte der Stadt Saarbrücken, hg. von Rolf Wittenbrock, Saarbrücken 1999, S. 131–242, hier S. 184. 25 Statistischer Jahresbericht der Stadt Saarbrücken für das Jahr 1930, hg. vom Verkehrs- und Wirtschaftsamt der Stadt Saarbrücken, Saarbrücken 1930. 26 Rolf E. Latz: Die saarländische Schwerindustrie und ihre Nachbarreviere, Saarbrücken 1985, S. 193. 402
„Eisenzeit in SaarLorLux“
Kran, Telefonzentrale, Übersetzungsabteilung, Drahtwerk Luisenthal, Hartmetallfertigung, Wäscherei, Werksküche oder im Labor – zeigen.
3. Die Errate der Bildbeschriftungen In diesem Bildband wurden Fotos der Fotografen Werner Schackmann, Josef Hastenteufel, Manfred Leber, Egon Schönberger, Jürgen Schuh und Robert Werner aus den Jahren 1960 bis 1990 in unterschiedlicher Qualität und Genres durch Paul Burgard, Susanne Deutschen und Jasmin Charouf betextet. Ob die Fotos „ästhetisch faszinierend“27 sind, ist eine subjektive Bewertung. Ohne Zweifel sind sie leider oft belanglos, – und mancher Fototext lässt sich mit der Realität nicht in Einklang bringen. Den oft euphemistischen Abbildungen fehlt vielfach ein Bezug zur betrieblichen Realität. Die reale Arbeitswelt, in der die Schwere der diversen Hüttentätigkeiten abgebildet und beschrieben ist, sucht man vergebens. Warum die Abb. 1: Das Foto zeigt Walzer 1959 am Fertiggerüst der Straße 9, v.l.n.r. Willi Mink, Walzenmeister; zwei Fertigwalzer und Herausgeber des Bandes die rechts der Schwengler gefährliche und schwierige Arbeit eines „Umwalzers [...], der mit viel Geschick und Kraft die glühenden Stränge von einem Walzprofil ins nächste ‚umfädeln‘ musste [...]“, auf keiner Aufnahme abbilden, bleibt den LeserInnen verborgen. Umso mehr, als es davon zahlreiche Aufnahmen der Werksfotografen gibt.
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 27 So heißt es in der Einführung erwartungsweckend; vgl. Burgard/Linsmayer: Eisenzeit in SaarLorLux (wie Anm. 1), S. 12. 403
Hubert Kesternich
Abb. 2 (o.): Heinrich Schütz, Walzer an der Drahtstr. Im Eisenwerk der RESW und Abb. 3 (u.): Walzer Dieter Mongin am 11.7.1980 an Str. 28
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„Eisenzeit in SaarLorLux“
Indes kann der Leser über das Fehlen realer Fotos, die das Leben und Wirken der auf den Saarhütten Beschäftigten abbilden, nicht überrascht sein. Es „war ja auch gar nicht Sinn und Zweck der in diesem Band keineswegs zum ersten Mal publizierten Fotografien, ökonomische oder soziale Realitäten aus der Stahlwelt ihrer Zeit zu präsentieren, zumindest war das nicht ihr Primärzweck. [...] Aufgabe [der Werbefotografen] war es vielmehr, ein ästhetisch perfektes Idealbild ihres Unternehmens zu entwerfen, die Eisenindustrie so zu porträtieren, wie sie sich selbst sehen wollten.“ So der Autor auf S. 21. Daher erstaunt der selektive Befund des Autors und die unkritische Übernahme von Narrativen aus der Perspektive der Eigentümer. Ein Großteil der Fotos – und das ist der Hauptmakel des Bildbandes – ist keinesfalls korrekt betextet, was nachstehend an zahllosen Beispielen gezeigt wird.28 Ob die bei der Betextung etlicher Fotos unterlaufenen kapitalen Fehler der mangelnden Sehfähigkeit oder fehlendem Detailwissen der Betexter über Arbeitsprozesse in einem Hüttenwerk geschuldet sind, vermag der Verfasser nicht zu beurteilen. Ein auf S. 78 abgebildetes Foto soll „Rohre“ in einer „Lagerhalle von Saarstahl in Völklingen, um 1985“ zeigen. Indes handelt es sich dabei um gewalzte Rundstähle (!) unterschiedlicher Abmessungen aus Edelstahl. Auch zeigt das Foto nicht eine Lagerhalle in Völklingen, sondern das Zentrallager Edelstahl Betrieb 347 in Burbach! Irrig ist auch das auf S. 85 betextete Foto, wonach „die fertig gewalzten Knüppel zum großen Teil ins Burbacher Werk transportiert [...]“ werden. In den Stranggießanlagen wurden keine Knüppel gewalzt. Das ist technisch nicht möglich! Auf S. 86 liest man mit Verwunderung: „Die Ende der 70er Jahre neu installierte 4.000-Mp-Freiformschmiedepresse der Edelstahl-Bearbeitungswerkstatt Völklingen (EBW) bei der Arbeit.“ Hier sind gleich zwei Fehler in einem Satz: Die 4.000-t-Presse wurde schon im März 1967 (!) in Betrieb genommen und im November 1967 offiziell eingeweiht. Überdies war sie kein Betriebsteil der EBW. ⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 28 Es stellt sich für den geographisch informierte Leser die Frage, was der Lichtbogenofen der Lech-Stahlwerke (S. 100), das Ackerland vor dem Stahlwerk Lech (S. 168), der Hochofen im Stahlwerk Bremen (S. 156) und die Naturbühne Elspe im Sauerland mit „SaarLorLux“ zu tun haben. 405
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Mangelndem metallurgischem Wissen bzw. Unkenntnis über Prozessabläufe ist auch die Falschbetextung des Fotos auf S. 266 geschuldet. „In Torpedowagen wird seitdem [1986] das flüssige Roheisen über Bahngleise nach Völklingen transportiert, um im OBM-Stahlwerk zu Stahl verarbeitet zu werden.“ Ein OBM-Stahlwerk gab es seit 1981 (!) in Völklingen nicht mehr, weil es im selben Jahr stillgelegt wurde. Und im neuen LD-Stahlwerk wurde seit Ende 1980 der Stahl nach dem Linz-Donawitz-Verfahren erzeugt. Ähnlich auf S. 236. „So sehen portionierte Stahlstäbe aus“, wird das Foto korrekt betextet, um dann einen Satz weiter „vom eisernen Halbzeug“ zu schreiben. Nicht anders agierten die Betexter bei der Beschreibung zahlreicher weiterer Fotos. - So wurden auf S. 22 „Spundwände“ als „Stahlschienen“ beschrieben. - Von fünf Personen auf S. 27 sind zwei falsch benannt. Statt Schackmann, Lieftink, Latz, Herkt und Schneider muss die Betextung korrekt lauten: Schackmann, Lieftink, Latz, Leber und Herkt. - Die gleiche Falschbetextung findet sich auf S. 209. Das abgebildete Foto zeigt laut Betextung: Werner Schackmann, Lieftink, Schneider, Herkt (auf dem Wagen) und Leber (in der Fahrkanzel). Die korrekte Betextung muss lauten: v.l.n.r. Werner Schackmann, Günter Lieftink, Model Frau Schneider, Walter Herkt, auf dem Feuerwehrauto Manfred Leber und im Führerhaus des Feuerwehrautos der Feuerwehrmann Benno Zimmer. - Ein auf S. 29 abgebildetes Foto soll das Pressen eines Werkstückes an „der 10.000 Mp-Presse“ zeigen. Eine 10.000 Mp-Presse gab es in Völklingen nie! - Auf S. 102/103 sind die Texte falsch zugeordnet und ein Foto zudem falsch betextet. Die Abbildung eines Herdwagens mit glühendem Schmiedegut in der Vergüterei ist auf S. 102 mit dem Text abgebildet: „Freiform-Schmiedepresse der EBW Völklingen 1979“. In der EBW gab es nie (!) eine FreiformSchmiedepresse. Diese gab es nur im Press- und Hammerwerk. Überdies ist das Foto nicht von 1979, sondern nach 1981 entstanden. Die auf S. 130 abgebildeten Drahtringe bzw. -bunde wurden als Drahtcoils falsch betextet. Drahtcoil ist der falsche Begriff. - Das auf S. 170 abgebildete Foto soll das Abkippen der Rohstahlschlacke ins Schlackenbeet im Jahr 1976 (!) zeigen. Dies war erst nach der Inbetriebnahme des neuen LD-Blasstahlwerkes 1980 möglich! Bis zu diesem Zeitpunkt fuhr man die Stahlwerksschlacke in Schmalspur-Schumpenwagen 406
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zur Schlackenverwertung in die Thomasmühle, wo sie zu Thomasmehl verarbeitet wurde. - Das auf S. 149 abgebildete Foto soll eine „Hochregalanlage des Stahlwerks Völklingen“ zeigen. Im Stahlwerk Völklingen gab es nie (!) eine Hochregalanlage, in der „Flach- und Langprodukte, die bei der Bearbeitung des Stahls zu Halbzeug entstehen“, lagern. Umgekehrt wäre es richtig. Das Foto zeigt die aus drei Gassen bestehende Hochregalanlage der Halbzeugvorbereitung von Feinstahlstraße 31 (Betrieb 667) in Neunkirchen (!), in der die Knüppel für den Vorwärmeofen gelagert wurden. Anschließend wurden die Knüppel nach dem Durchsatz im Hubbalkenofen zu Rund-, Flach-, Vierkant- oder Sechskantstahl gewalzt und in Ringen aufgehaspelt, wie auf S. 130 abgebildet. - Eine Verortung der Ultraschallprüfung von Blechen in Völklingen 1984, wie auf S. 181 betextet, war nicht möglich, da in Völklingen kein Breitflachstahl oder Platinen gewalzt wurden. Bleche (Breitflachstahl) wurde auf der Straße 10 in Burbach bis Ende 1978 gewalzt. Das abgebildete Foto entstand also in Burbach! Anfängliche Zweifel des Verfassers an den Kenntnissen der Autoren über Produktionsprozesse, Anlagen und Aggregate, insbesondere zu den Fotos der Völklinger Hütte, wurden beim weiteren Lesen zur Gewissheit. - So ist auf S. 197 eine Lokomotive mit der Nr. 13 abgebildet, die sich 1967 im Hochofenkanal befunden haben soll. In welchem Hochofenkanal bleibt unbenannt. Aber es gab zu keiner Zeit in Völklingen einen Hochofenkanal! Dort gab es einen Roheisen- und einen Schlackenkanal. Wie das im Besitz des Verfassers befindliche Lokverzeichnis des Technischen Büros von 1920/21 und das Lokverzeichnis des Bahnbetriebs von 1983 ausweist, gab es seit der Inbetriebnahme des Stahlwerkes im Mai 1891 nie eine Roheisenlok Nr. 13. Das Foto muss somit in einem anderen Werk aufgenommen worden sein! - Wieder zeigen sich die fehlenden Kenntnisse der metallurgischen Prozesse in der Betextung des Fotos auf S. 149. Das dort abgebildete Foto zeigt die Trägerstraße im Walzwerk Differdange beim Walzen eines sogenannten „Grey-Trägers“. Nach dem Befund der Betexter wird dabei die „Verwandlung von Eisen in Qualitätsstahl zelebriert“. Von der blumigen Sprache abgesehen, erfolgt bekanntlich die Verwandlung von Eisen zu Stahl im Kon407
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verter. Im Walzwerk werden Blöcke, Knüppel oder Brammen zu diversen Profilen oder Blechen verformt. - Die auf S. 194 abgebildete grün-schwarz lackierte Schmalspurdampflok Nr. 40 soll nach den Betextern 1967 vor der Drahtstraße des Walzwerks Nauweiler aufgenommen worden sein, wörtlich: „Die Aufnahme mit dem grünen Stahlross entstand vor der Drahtstraße im Nauweiler Gewann.“ Das ist zu korrigieren, weil die Halle, in dem die Drahtstraße des Nauweiler Gewanns betrieben wurde, aus roten Klinkersteinen bestand. Das Foto zeigt aber im Hintergrund ein aus Schlackensteinen bestehendes Gebäude. Vor dem 1956/57 errichteten Gebäudetrakt der Drahtstraße neben der Bahnlinie Saarbrücken–Trier lagen drei Normalspurgleise. Zwei Gleise gehörten zur Bundesbahnstrecke Trier–Saarbrücken und ein Normalspurgleis wurde für den werksinternen Rangierverkehr der RESW genutzt. Dort lag nie (!) ein Schmalspurgleis, weshalb dort auch keine Schmalspurloks verkehren konnten. Das abgebildete Foto entstand vielmehr vor dem Rohlager des Kaltwalzwerkes, das ca. 30 m nordöstlich vom Lokschuppen steht, mit einer Entfernung zur Drahtstraße von ca. 900 m. Nicht weniger wird die Unkenntnis der Autoren bei der Betextung des Fotos dadurch belegt, dass solche Dampflokomotiven angeblich „teilweise auch unter Tage“ eingesetzt wurden. In welchem Kohlebergwerk sollte dies geschehen, ohne dass rasch die gesamten untertägigen Grubenbaue explodierten? - Der Text auf S. 258 verlangt ebenfalls einer Korrektur: Hier verweisen die Betexter auf S. 250, wo „Pilgerwalzdorne“ abgebildet sein sollen. Tatsächlich sind die Pilgerwalzdorne aber auf S. 256 abgebildet! Das gleiche Kuddelmuddel unterläuft den Betextern bei dem auf S. 258 gegeben Verweis für S. 251, wo angeblich „geschweißte Stahlrohre“ abgebildet sein sollen. Auf S. 251 ist aber eine Person beim Markieren von Breitflachstahl abgebildet. Was sich die Betexter auf S. 235 mit undifferenzierten Wort „Materialität“ dachten, bleibt verborgen. Hier heißt es: „Entsprechend ihrer Materialität werden die Stahlplatten beim Einlagern farbig gekennzeichnet, [...].“ Der Breitflachstahl wurde nicht nach Materialität, sondern analog der Qualitäten gekennzeichnet. - „Die Röchling’sche Edelstahlbearbeitungswerkstatt stellt schon seit mehr als 50 Jahren Spezialstähle für die Luft- und Raumfahrt her“, heißt es auf S. 264. Dies ist auch zu korrigieren: In der Edelstahlbearbeitungswerkstatt 408
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(EBW) der Völklinger Hütte wurden nie irgendwelche Spezialstähle hergestellt! Bestenfalls wurden dort die in den Elektro-, Vacuum- und Induktionsöfen erzeugten hochlegierten Spezialstähle bearbeitet (!). Auch ist die auf S. 38 betextete „Schwerhalle des LD-Blasstahlwerks“ bei der Saarstahl AG unbekannt. Hier gibt es lediglich einen Schwerbau. Ebenfalls S. 264 ist der Text zum Röchling-Burbach-Stahl- und Waggonbau zu korrigieren: Die 1969 von ARBED übernommene Waggonfabrik Lüttgens wurde nicht 1971, sondern 1975 in Röchling-Burbach-Stahl- und Waggonbau umbenannt.29 Bei den auf S. 334 und S. 338 abgebildeten Arbeitern handelt es sich zweifelsfrei um keine Hochöfner. Die gleichen Arbeiter sind auf S. 330 abgebildet, wo sie angeblich vor mit Koks beladenen Wagen stehen. Koks zur Roheisenreduzierung wurde in Völklingen bekanntlich in Hängebahnwagen der HO-Beschickung zugeführt. Dabei wäre die Stückgröße des auf S. 334 abgebildeten Koks für den Reduktionsprozess im Hochofen äußerst abträglich gewesen. In den auf offenen Wagen stehenden Stahlkübeln befindet sich entgegen der Betextung kein Koks, sondern Pellets. Ein auf S. 348 abgebildeter Formel-3-Rennwagen soll angeblich Hinweise auf die Federnfabrik und Edelstahlbearbeitungswerkstatt (EBW) geben. Dies bleibt unklar. Auch wurden, wie die Autoren irrigerweise behaupten, die Federnfabrik und die EBW nicht 1971 bei der Fusion mit Burbach, sondern die Federfabrik 1920 und die EBW schon 1915 gegründet.30 Unwissen über Arbeitsabläufe in der Kokerei erklären die Falschbetextung des Kokerei-Fotos auf S. 112. Das Foto zeigt ausgedrückten Koks vor Koksbatterie 1 während der Wärmemessung zur Ermittlung der Werte für die analytische Arbeitsplatzbewertung. Ein Arbeiter der Kokerei, mit normalen Sicherheitsschuhen, löscht den ausgedrückten Koks. Der Leiter der Ergonomie, Dipl. Ing. Dietmar Bosse, misst mit einem Wärmemessgerät die vom glühenden Koks abgegebene Temperatur. Betextet ist das Foto wie folgt: „Nach dem Ausstoß aus den Koksöfen wurde die Gaskonzentration [...] mit einer Manometer-Messung [...] gemessen. Auf Grund der sehr hohen Tem-
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 29 Vgl. Geschäftsbericht Röchling-Burbach 1975, S. 46. 30 Vgl. 50 Jahre Röchling Völklingen. Die Entwicklung eines Rheinischen Industrieunternehmens, hg. von Richard Nutzinger/Hans Boehmer/Otto Johannsen, Saarbrücken/Völklingen 1931, hier bes. der Abschnitt zur Technik von Otto Johannsen, S. 289. 409
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peraturen des glühenden Materials trugen die Mitarbeiter der Kokerei stets Überschuhe mit dicken Sohlen.“ Dies ist zu korrigieren. Eine Wärmemessung kann nicht mit einem Manometer, sondern nur mit einem Thermometer durchgeführt werden. Lederschuhe mit einer Holzsohle trugen nur jene Kokereiarbeiter, die am Füllen der Kammern an Batterie 1, 2 und 4 beschäftigt waren. Alle restlichen der fast 280 Kokereiarbeiter im Jahre 1971 trugen normale Sicherheitsschuhe. Sogenannte „Unterschnaller“ aus beweglichen Holz- und Gummisohlen wurden allein von den Schmelzern am Hochofen während des Abstichs getragen. - Ebenso sind den Betextern des Fotos auf S. 112 in dem kurzen Text mehrfach Fehler unterlaufen. Folgt man dem Text, dann zeigt das Foto einen „Abschnitt der Drahtstraße Nauweiler. Die Walzstraßen [...] im ‚Nauweiler Gewann‘ wurden 1953 in Betrieb genommen und bestehen aus mehreren einzelnen Maschinen. [...] Die Aufgabe des Maschinenarbeiters besteht hier darin, die Einführtrichter und das Walzkaliber einzustellen.“ Zum Zeitpunkt der von den Betextern angegeben Inbetriebnahme des Walzwerks „Nauweiler Gewann“ wurde gerade mit dem ersten Bauabschnitt begonnen. Am 3. April 1953 begannen die Arbeiten zur Begradigung des Saarbogens zwischen Völklingen und Bous. Auf einer Länge von einem Kilometer wurde das neue Saarbett fertiggestellt und das Wasser aus dem alten in das neue Bett geleitet. Überdies war die Verlegung der Eisenbahnstrecke zwischen Völklingen und Bous auf einer Strecke von zwei Kilometern notwendig. Da der Baugrund der 17,5 Hektar großen Fläche wegen der Aufschüttung instabil war, musste er mit 3500 Betonpfählen versehen werden. Nach zwei Jahren Bauzeit wurde die Feinstraße – Konti A – (abweichend von den irrigen Angaben der Betexter) Mitte Mai 1957 und die Drahtstraße – Konti B – im April 1958 in Betrieb genommen.31 Überdies besteht die Walzstraßen nicht aus Maschinen, sondern aus Walzgerüsten. Maschinenarbeiter gibt es auf keiner Walzstraße! Die dort Beschäftigten heißen Walzer. Neben diesen inhaltlichen Falschbetextungen besteht der essentielle Fehler in der Angabe der Örtlichkeit. Das abgebildete Foto zeigt nicht (!) die Drahtstraße im
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 31 Vgl. Der Völklinger Hüttenmann 6 (1958), S. 96 f. Vgl. auch das Schichtenbuch des Betrieb 25 Walzwerk Nauweiler 1957/58. 410
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Völklinger Walzwerk Nauweiler. Dort wurde von links nach rechts gewalzt. Auf dem abgebildeten Foto wird von rechts nach links gewalzt. - Zu Irritationen der LeserInnen trägt auch die Betextung des Fotos auf S. 112 bei. „Hochöfner beim Abstich im Stahlwerk Esch-Belval.“ Was mag der Hochöfner in einem Stahlwerk wohl abgestochen haben?
Fazit Letztlich hat der Leser in diesem Bildband keine evidenzbasierten Informationen über das Leben und Wirken der auf den Saarhütten Beschäftigten gefunden. Eine fachlich gute thematische Auseinandersetzung mit der „Eisenzeit in SaarLorLux“ ist eine publizistische Herausforderung, die von den Autoren leider nicht geleistet wurde. Im Textteil und bei der Betextung der Fotos werden die aufmerksamen LeserInnen vielfach an das fragwürdige Werk von Walter Marzen erinnert, über das der verdienstvolle Historiker Karl August Schleiden 1994 schrieb: „Bildmaterial darüber gibt es in Hülle und Fülle. Man muss nur wissen wo. Es kann nur bedauert werden, dass dieses wichtige Thema auf so traurige Weise verschenkt wurde.“32
⎯⎯⎯⎯⎯⎯ 32 Vgl. Karl August Schleiden, in: Saarheimat Heft 3/4 (1994), S. 74. 411
Neues aus saarländischen Archiven und Bibliotheken
Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 70 (2022)
Digitalangebot des Saarbrücker Stadtarchivs «Jüdisches Leben in Saarbrücken und im Saarland» online Von Hans-Christian Herrmann
Am 10. Januar 2023 präsentierte das Stadtarchiv Saarbrücken im Filmhaus der Landeshauptstadt sein digitales Bildungsangebot „Jüdisches Leben in Saarbrücken und im Saarland“. Zu der musikalisch von der Synagogengemeinde umrahmten Veranstaltung, eröffnet durch den Saarbrücker Oberbürgermeister Uwe Conradt, erschienen über 50 Gäste, darunter Innenminister Reinhold Jost, die stellvertretende Landtagspräsidentin Dagmar Heib, zahlreiche Stadtverordnete und Mitglieder des Landtages. Dieses Interesse an dem Projekt ist auch eine Wertschätzung für alle im Land für die Erinnerungskultur engagierten Akteurinnen und Akteure. Das Digitalangebot (https://gedenkbuch.saarbruecken.de/) steht in der Reihe der zahlreichen Bemühungen von Saarbrücken um die Erinnerungskultur wie dem Band der Erinnerung vor der Synagoge und dem Rabbiner-RülfPlatz mit der Skulpturengruppe „Der unterbrochene Wald“. Sie wurden auch mit der Unterstützung des Landes geschaffen. Ihre Wahrnehmung innerhalb und außerhalb des Landes gilt es zu stärken. Das Digitalangebot des Stadtarchivs wurde von der Stadt, vor allem aber zu 80 Prozent vom Bund finanziert. Das Stadtarchiv hatte sich im Rahmen des Förderprogramms „Wissenswandel“, aufgelegt von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, mit dem Projekt beworben und eine Förderzusage erhalten. Das Saarbrücker Stadtarchiv engagiert sich seit Jahren für die Erinnerungskultur. Neben der Erforschung jüdischer Geschichte sei hier an die Förderung der Aufarbeitung der Verfolgung von Homosexuellen sowie von Sinti und Roma erinnert und an die Aufarbeitung von Straßennamen. Verbunden waren diese Bemühungen mit der Erstellung von Publikationen, der Durchfüh-
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Hans-Christian Herrmann
rung von Workshops und Arbeitsgruppen und einem umfangreichen Vortragsangebot sowie der Verlegung von Stolpersteinen. Das digitale Gedenkbuch steht für ein neues Instrument. Seine digitale Form macht es nachhaltig, es ist mit geringem Aufwand aktualisierbar, Korrekturen können vergleichsweise einfach umgesetzt werden, und es ist ausbaufähig. Herzstück des digitalen Gedenkbuchs auf der Homepage der Landeshauptstadt ist die Opferdatenbank unter dem Menüpunkt „Gedenkbuch“. Sie dient als Rechercheinstrument, um die Geschichte des Holocaust aus regionaler Perspektive zu erforschen. Die Datenbank enthält Informationen zu den ermordeten und vor allem auch den überlebenden Jüdinnen und Juden im Saarland. Sie bildet aber auch jüdisches Leben von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ab. Nutzerinnen und Nutzer können nach Namen, Geburts-, Sterbe- und Wohnorten recherchieren, außerdem nach Straßennamen (Saarbrücken) und Berufen im Feld „Vita“. Für den Wohnort Saarbrücken erscheinen über 5 000 Treffer. Vor allem die Bahnhofstraße in Saarbrücken war bekannt für ihre zahlreichen jüdischen Geschäfte, in den oberen Etagen der Geschäftshäuser wohnten viele jüdische Familien. Wer mit dem Suchbegriff Karcherstraße recherchiert, wird feststellen, dass sich in dieser kleinen Straße gut 200 Einträge finden und damit recht viele Spuren jüdischen Lebens. Das Besondere der Datenbank ist die Darstellung der familiären Verbindungen: Die angezeigten Namen werden näher erläutert, beim Anklicken werden ihre familiären Beziehungen zur Eltern- und Kindergeneration dargestellt. Somit ist erkennbar, dass teilweise ganze Familien ausgerottet wurden. Wenn zu den betreffenden Personen im Landesarchiv eine Akte im Bestand Landesentschädigungsamt (LEA) überliefert ist, gibt es darauf einen Hinweis im digitalen Gedenkbuch in Form der Bestellsignatur des Landesarchivs. Interessierte können mithilfe dieser Nummer beziehungsweise Signatur im Landesarchiv die entsprechende Akte zur Einsichtnahme bestellen. Oft enthalten diese Akten umfangreiches Material zum Leben der Opfer.
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«Jüdisches Leben in Saarbrücken und im Saarland» online
Opferdatenbank als lokales Rechercheinstrument Das Gedenkbuch berücksichtigt über 20 000 Personen. Etwa 5 000 Personen wurden abschließend geprüft, der Rest der Prüfungen erfolgt im Laufe des Jahres 2023. Der jeweilige Bearbeitungsstatus wird aktuell angezeigt. Die Datenbank ermöglicht insbesondere die lokale Recherche zu Holocaustopfern, aber auch zu jüdischem Leben in der Phase der Zuwanderung ins Saarrevier von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum frühen 20. Jahrhundert. Auf den ersten Blick mag das Erfassen von Namen als Fleißarbeit erscheinen, die mit Einheitlichkeit und Sorgfalt sicher zu einem guten Ergebnis führt. Das reichte hier aber bei weitem nicht. Es ist auch keine Abschreibarbeit aus einer zentralen Liste, sondern das Zusammentragen von Daten aus einer Vielzahl von Unterlagen, aus Primärquellen im Kontext von An- und Ummeldungen, Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden, Wiedergutmachungsakten, Transportlisten in Verfolgungslager wie überhaupt Listen der Vernichtungslager bei den KZ-Gedenkstätten. Dazu kommen Sekundärquellen wie Selbstzeugnisse jüdischer Familien und andere biografische Materialien. Die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Holocaust ist ein Jahrhundert voller Umbrüche. Die Erfassung der Opferdaten erwies sich als sehr aufwändig. Ortsnamen, insbesondere in Osteuropa, veränderten sich im Zuge von Grenzverschiebungen und Staatenbildung. Die deutsche Verwaltung trug diese Namen häufig eingedeutscht oder phonetisch in amtliche Dokumente ein. Aufgrund von Fehlern der Bürokratie entstanden generell abweichende Schreibweisen zu ein- und derselben Person, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfasst wurden. Auch abweichende Geburts- und Sterbedaten sind mehr die Regel als eine Seltenheit. Der Holocaust war ein Angriff auf die Zivilisation, das wirkte sich auch auf die Namen aus. Viele jüdische Menschen flohen von der Saar nach Frankreich. Von 1935 bis 1939 lebten sie bspw. in Metz oder Strasbourg und trugen ihren ursprünglichen Namen. Nach Hitlers Überfall auf Frankreich wurde aber aus einem „Hans“ ein „Jean“. Komplizierter wird es, wenn der „Jean“ sich dann der Résistance anschloss und den Decknamen „Robert“ trug, den er dann nach 1945 weiterführte. Schwierigkeiten können auch bei massenhaft vorkommenden Nachnamen wie etwa bei „Levy“ auftreten, wenn bei ein- und derselben Person variable Schreibweisen genutzt wurden. Keine Seltenheit sind Namensverbindungen mit „genannt“. Die Saarbrücker 417
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Künstlerin Cora Eppstein wird als Cora Maier gen. Eppstein geboren, sie heiratet mit dem Mädchennamen Eppstein und sie stirbt in Paris als Cora Maier. Ihr Vorname variiert zwischen Cora und Karolina. Folge dieser instabilen Namensführung sind Mehrfachnennungen, Verwechslungen und Missverständnisse. Sie bleiben nicht aus. Das digitale Gedenkbuch beachtet den Schutz personenbezogener Daten. Deshalb werden Daten zu überlebenden Personen nur sichtbar, wenn ihr Todestag mindestens zehn Jahre zurückliegt. Ist der Todestag nicht bekannt, muss der Geburtstag länger als 90 Jahre her sein. Wenn diese Fristen abgelaufen sind, werden die Daten automatisch freigeschaltet.
„Fakten und Erklärungen“ bieten umfassende Informationen zur Geschichte des Antisemitismus, zur Geschichte der Juden im Saarland und zum Holocaust Neben der Opferdatenbank werden unter der Rubrik „Fakten und Erklärungen“ in einer stark strukturierten, differenzierten und sehr komplexen Form Informationen zum historischen Kontext gegeben. So werden ein Überblick über die jüdische Geschichte im Saarland geboten, jüdisches Leben in Saarbrücken umfassend vorgestellt sowie der gesamte Kontext der Verfolgungsgeschichte erläutert. Ausgedruckt dürften es weit über 100 Seiten sein; die starke Strukturierung ermöglicht einen kompakt portionierten und damit einfachen, lesefreundlichen Zugang, viele Beiträge sind bebildert. Aber es gilt auch hier: Ohne Lesen keine Bildung! Jüdische Menschen waren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im öffentlichen Leben des Saargebietes präsent, sie haben sich in Vereinen, im Sport, in der Politik engagiert. Sie spielten eine führende Rolle in Handel und Gewerbe und waren ihrer Zeit voraus, wie ihre Rolle in der Entwicklung des Kinos oder des Automobilhandels zeigt. Insbesondere die 1890 eingeweihte Saarbrücker Synagoge im neu entstehenden Zentrum der Stadt steht für diese Entwicklung. Jüdische Biografien stehen aber nicht sämtlich für erfolgreiche Kaufleute, Ärzte und Rechtsanwälte, es gab in Saarbrücken eine breite jüdische Mittelschicht und auch arme Juden. Jüdisches Leben war „mitten im Leben“, und die Lebensverhältnisse der Menschen unterschieden sich bis zu Beginn der 1930er Jahre 418
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nicht grundlegend von der Gesamtbevölkerung. Es gab im Zuge der Pogrome in Osteuropa auch eine Jüdische Zuwanderung ins Saarrevier. Viele dieser Menschen lebten unter prekären Verhältnissen. Für einige jüdische Persönlichkeiten im Saarland bietet der Menüpunkt „Fakten und Erklärungen“ ausführliche Biografien. Ferner gibt es ein umfassendes Informationsangebot zur jüdischen Religion und zu jüdischem Brauchtum. In einer Literaturauswahl werden nach Landkreisen differenziert Publikationshinweise gegeben.
Ausblick Die Realisierung dieses Digitalangebots stellte für das Stadtarchiv eine enorme Belastung und Herausforderung dar. Die Umsetzung des Projektes war auch immer wieder mit Zweifeln und Problemen verbunden, rückblickend würden wir manches heute anders angehen. An diesen Erfahrungen möchten wir andere teilhaben lassen. Nicht nur die Erstellung eines Digitalangebotes kostet Geld, auch sein Betrieb und seine Weiterentwicklung; die entsprechenden Mittel dazu stehen bereit. Klar ist für uns auch, dass die namentliche Erinnerung an die Opfer der NS-Diktatur grundsätzlich nie frei von Fehlern und Irrtümern sein wird und es Fälle geben wird, wo Unklarheiten bestehen bleiben, sie ändern aber nichts am Opferstatus. Das digitale Gedenkbuch möchte für Saarbrücken und das Saarland zu einer Informations- und Rechercheplattform und einem Kompetenzzentrum zur jüdischen Geschichte in Saarbrücken und im Saarland werden. Das Stadtarchiv Saarbrücken sucht deshalb die Kooperation mit allen, die sich ehrenamtlich oder beruflich mit diesen Themen beschäftigen und bittet sie, sich bei uns einzubringen. Das Projekt möchte auch Wissenschaftler und Familienforscher unterstützen und deren Ergebnisse im Gedenkbuch einbeziehen und zur Verfügung stellen. Die digitale Form bietet die Möglichkeit der permanenten Verbesserung, Erweiterung und Aktualisierung. Außerdem soll das Gedenkbuch auch als Grundlage für die Arbeit in Schulklassen dienen und bietet an, Schülerarbeiten zu präsentieren und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
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Gemeinsam für die Erinnerungskultur – wir freuen uns und sind dankbar für Ideen, Ergänzung und Erweiterung. Wir wissen, unser Projekt ist nicht frei von Fehlern, aber wir arbeiten daran. Gleichwohl ist es ein Meilenstein für die Erinnerungskultur im Saarland.
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Bericht des Vorsitzenden über die Tätigkeit des Vereins*
Meine sehr geehrten Damen und Herren, zur diesjährigen Mitgliederversammlung darf ich Sie alle herzlich hier in der Ludwigskirche willkommen heißen. Wir haben uns mit dem Juli wieder unseren ursprünglichen Sitten angepasst. Wieder ist es gelungen, der Mitgliederversammlung eine Führung vorzuschalten, dieses Mal in der Ludwigskirche. Ich danke dem Hausherrn, Herrn Pfarrer Dr. Bergholz, für die inspirierende Führung. Auch werden wir wieder zum traditionellen Empfang laden. Mitglieder Unsere Geschäftsführerin, Frau Dr. Sabine Penth, berichtet, dass im Vereinsjahr 2021 neun Mitglieder aus dem Verein ausgetreten sind, zehn sind verstorben, siebzehn Mitglieder sind dem Verein neu beigetreten, darunter ein förderndes Mitglied. 2022 ist ein weiteres förderndes Mitglied beigetreten und ein weiteres förderndes Mitglied hat seinen Beitritt angekündigt. Wir haben also im Gegensatz zu 2020 eine negative Bilanz von vierzehn Personen. Mit Stand 1. Juli 2022 haben wir 465 Mitglieder, davon zahlen Beitrag: 28 Auszubildende, fünf Ehepaare, neun Fördermitglieder und 346 „einfache“ Mitglieder. Daneben haben wir zwei Ehrenmitglieder, 58 Tauschpartner und dreizehn korrespondierende Mitglieder, die keine Beiträge bezahlen. Antrittsbesuche Nachdem ich mich mit der saarländischen Kultusministerin Christine Streichert-Clivot und mit dem Saarbrücker Oberbürgermeister Uwe Conradt treffen konnte und ein gutes Gespräch mit dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft für Saarländische Familienkunde e. V., Herrn Markus Detemple, hatte, ist es gelungen, auch die neue Leiterin des Saarlandmuseums, Frau Dr. Andrea Jahn, am 11. April 2022 zu treffen. Es war mir ein Anliegen, Bewusstsein für die Tatsache zu wecken, dass große Teile der Alten Sammlung dem Historischen Verein gehören, und dass in Ausstellungs-, Restaurations- und Publikationsfragen eine Zusammenarbeit angeraten scheint. Vereinsaktivitäten, Vorträge, Fahrten Der Historische Verein hat einen Nachlass von Dr. Walther Zimmermann geerbt. Walther Zimmermann war ein bekannter rheinischer Kunsthistoriker; er verfasste die KunstdenkmälerInventare für die Stadt und den Landkreis Saarbrücken sowie für die Landkreise Saarlouis und Ottweiler. Der Vorsitzende wird den Nachlass archivisch aufarbeiten und nach Rücksprache mit dem Leiter des Stadtarchivs Saarbrücken, Herr Dr. Hans-Christian Herrmann, als Dauerleihgabe dem Stadtarchiv Saarbrücken übergeben. Ein großflächiges Ölportrait soll dem Historischen Museum gegeben werden. Dazu finden noch Gespräche statt. Herr Dr. Hans-Christian Herrmann hatte angeregt, dem damaligen Ministerpräsidenten Tobias Hans zu schreiben und ihn konkret zu bitten, den Druck der „Zeitschrift für die Geschichte
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Das gesamte Protokoll der Mitgliederversammlung 2022 kann in der Geschäftsstelle eingesehen werden.
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Joachim Conrad der Saargegend“ zu fördern. Schließlich wurde uns eine Zuwendung in Höhe von 2500,00 Euro für dem Band 2020 zuteil, für den ich als Vorsitzender sehr herzlich gedankt habe. Der neue stellvertretende Leiter des Landesarchivs Saarbrücken, Herr Dr. David Schnur, hat dem Vorsitzenden ein Repertorium der Archivaliensammlung (371 Seiten), ein Repertorien der Bildersammlung, (5754 Seiten) sowie ein Repertorium der Kartensammlung (764 Seiten) übergeben. Diese Bestände sind also verzeichnet. Um unsere Sammlungen zu würdigen und für den Historischen Verein zu werben, wird der Verein einen Bildkalender für 2023 erstellen. Dazu wurde eine Arbeitsgruppe gebildet, die aus Rieke Eulenstein M.A., Dr. David Schnur, Dr. Frank Hirsch und dem Vorsitzenden besteht. Die Bilddatenbank des Landesarchivs mit den Exponaten ist reichlich gefüllt, allerdings muss man bei der Zusammenstellung der Bilder darauf achten, dass der Kalender nicht zu sehr den Schwerpunkt auf Saarbrücken legt. Der Saarländische Archivverband unterstützt dieses Projekt mit einem Druckkostenzuschuss in Höhe von 1500,00 Euro. Frau Christine van Hoof pflegt unsere Homepage, über die nun auch unsere Publikationen zu erwerben sind. Auch zeichnet sie verantwortlich für die Bereitstellung des Content für die Facebook-Seite und organisiert die online-Vorträge mit. Nun wird daran gearbeitet, auf der Homepage eine Plattform für online-Rezensionen zu schaffen, die künftig nicht mehr in der ZGS publiziert werden sollen. Dann sind die Rezensenten auch im Umfang frei. Darüber hinaus überlegt Frau van Hoof gemeinsam mit Frau Dr. Penth, eine online-Ausstellung der Bestände des Vereins zu ermöglichen. Die Digitalisierung der Zeitschriften des Historischen Vereins wurde durch die COVID19Pandemie ausgebremst. Dr. Caroline Dupuis von der Landesbibliothek hat uns wissen lassen, dass der Auftrag zur Digitalisierung in diesem Jahr vermutlich nicht mehr realisiert werden kann – wir müssen also die zweckgebundenen Spenden vortragen – allerdings sollen die urheberrechtsfreien Bände der „Mitteilungen des Historischen Vereins für die Saargegend“ im nächsten Jahr definitiv digitalisiert sein, auch wenn eine Kostenbeteiligung des Historischen Vereins nicht mehr möglich sein sollte. Dr. Frank Hirsch berichtet, dass die Vortragsreihe wie im Jahr zuvor unter dem Eindruck der Corona-Pandemie stand. Zum einen ließen die gesetzlichen Beschränkungen zeitweise keine Vorträge in Präsenz zu, zum anderen waren potenzielle Veranstaltungsorte sowie viele Referentinnen und Referenten zurückhaltend bei der Planung. Die Vorträge im online-Format hinterließen einen gemischten Eindruck: Sie haben zwar dafür gesorgt, dass zumindest ein Basisprogramm geboten werden konnte, aber es hat sich auch gezeigt, dass der persönliche Kontakt und die Gespräche um den eigentlichen Vortrag herum wichtige Elemente dieser Veranstaltungsart sind. Mit Dr. Fabian Trinkaus zur Gewerkschaftsgeschichte und Prof. Dr. Joachim Conrad zu saarländischen Burgen haben zwei ausgewiesene Experten im vergangenen Jahr vorgetragen. Prof. Dr. Werner Brill stellte seine neue Veröffentlichung „Politischer Stadtführer Saarbrücken“ vor. In diesem Herbst sind außerdem geplant: Prof. Dr. Joachim Conrad zu Hexen, Dr. Ines Heisig zur Polizei in der Nachkriegszeit sowie Dr. Hans-Joachim Kühn zur Burg Kirkel. Der Historische Verein kooperiert bei der Bergbautagung „Eine Welt der Kohle. Historische Perspektiven auf den Bergbau im Saarrevier im überregionalen Vergleich“ vom 15.-17. September 2022 mit ausgewiesenen Expertinnen und Experten aus dem Saarland und dem Ruhrgebiet. Veranstaltungsort ist der Rechtsschutzsaal Bildstock.
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Bericht des Vorsitzenden Frau Rieke Eulenstein, die in der Nachfolge von Frau Lang-Koetz die Fahrten organisiert, plant eine Tagesfahrt nach Trier zur Ausstellung „Der Untergang des Römischen Reiches“ für Samstag, den 20. August 2022. Publikationen Frau Dr. Penth berichtet als Herausgeberin über die „Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend“. Schwerpunktthema sind diesmal Kriegserinnerungen aus unterschiedlichen Jahrhunderten. Ergänzt wird der Themenschwerpunkt durch Beiträge zu aktuellen Jubiläen. Die Rezensionen werden künftig nicht mehr in der gedruckten Ausgabe der Zeitschrift erscheinen, sondern – um Sie aktueller über Neuerscheinungen zur Saargeschichte informieren zu können – in einem eigenen Rezensionsportal auf der Homepage des Vereins möglichst rasch nach Eingang der Besprechungen veröffentlicht. Frau Ruth Bauer berichtet, dass auch im Jahr 2021 die redaktionelle Arbeit der saargeschichte|n durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie eingeschränkt war, dennoch sind die vier Ausgaben pünktlich erschienen. Wie üblich hat sich das Redaktionsteam auch 2021 bei der Zusammenstellung der Beiträge wieder aktuellen historischen Themen angenommen und dabei dieses Mal schwerpunktmäßig ganz unterschiedliche Formen von Erinnerungskultur in den Mittelpunkt gestellt. So standen in Heft 1-2021 mit einem Beitrag von Paul Burgard die Monumentalgemälde des bekanntesten deutschen Historienmalers Anton von Werner für den Rathaussaal des Alten Rathauses in Saarbrücken im Zentrum, gemalt in Folge der Schlacht bei Spichern im August 1870. Dem Leiter des Historischen Museums Saar, Simon Matzerath, ist es gelungen, diese für die saarländische Geschichte so bedeutenden Historienbilder wieder zurück nach Saarbrücken zu holen. Die im Zuge des Beitrages erarbeiteten Forschungsergebnisse wurden bei der Präsentation der Gemälde in der Ausstellung „Monumente des Krieges“ ganz wesentlich mit einbezogen. In Heft 4-2021 folgte dann der Beitrag über die Geschichte des Winterbergturmes, der ebenfalls in Erinnerung an die Schlacht errichtet wurde, und die bisher – kaum vermutet – ein Desiderat der regionalen Geschichtsforschung darstellte. Einen weiteren Schwerpunkt setzte das Thema Erinnerungskultur mit den Beiträgen von Sabine Graf über Leben und Werk des Bildhauers Otto Freundlich, die Entwicklung der St. Wendler Skulpturenstraße, dem Beitrag im Andenken an den verstorbenen Bildhauer Leo Kornbrust, ebenso wie ihr Beitrag über den Wandel der Gedenkstätte „Neue Bremm“. Heft 3-2021 legte den Schwerpunkt dann auf das bundesweit erinnerte Gedenken „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, ein Thema, das in Heft 1-2022 über die jüdische Goldschmiedin Alice Bloch fortgesetzt wurde. Besonders traurig stimmte, dass der Beitrag von Roland Schmitt „1921. Ein Jahrhundertjahrgang auch für den Weinbau an der Saar“, um den wir ihn anlässlich des „Jubiläums“ dieses saarländischen Jahrhundertweines gebeten hatten, sein letzter sein sollte. Kurz nach Erscheinen ist Roland Schmitt leider verstorben. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Zu unseren Beständen Dr. Gregor Scherf konnte seit der letzten Mitgliederversammlung nur wenig an der Datenbank weiterarbeiten, da er im vergangenen Jahr sechs Monate für einen erkrankten Kollegen den Landkreis Neunkirchen und den Regionalverband Saarbrücken mitbetreuen musste, ein Zustand, der sich nach dessen Pensionierung zum 31. Dezember 2021 leider bis zum heutigen Tage
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Joachim Conrad fortgesetzt hat. Die Bewerbungsgespräche für die Wiederbesetzung der Stelle finden derzeit statt, wann die Stelle dann wieder besetzt sein wird, ist derzeit nicht absehbar. Es gibt aber dennoch etwas zu berichten: Im Mai wurden ca. hundert Objekte der AltertümerSammlung des Historischen Vereins aus dem Römermuseum Pachten, das derzeit renoviert wird, in die Altertümer-Sammlung des Landesdenkmalamtes überführt. Der neue Leiter des Museums, Dr. Jürgen von Ahn, will eine Auflistung der Stücke erstellen und diese an Herrn Dr. Scherf und an Frau Nicole Kasparek, die den Transport durchgeführt hat, senden. Anhand dieser Liste wird Herr Dr. Scherf die Objekte in die Datenbank eintragen. Kassenlage Der Schatzmeister, Herr Andreas Storb, hat seinen Kassenbericht für das Geschäftsjahr 2021 vorgelegt. Den Einnahmen in Höhe von rund 34 500,00 Euro stehen Ausgaben in Höhe von 31 900,00 Euro gegenüber. Die Liquidität zum 31.12.2021 beträgt rund 13 100,00 Euro. Weiterhin sind unsere Einnahmen und Ausgaben vorwiegend durch die Mitgliedsbeiträge und die Publikationen bestimmt. Die hauptsächlichen Ausgabeposten stellen wie üblich unsere Publikationen dar. Die Ausgaben für die Saargeschichten blieben konstant. Andere Posten wie Porto, Veranstaltungen usw. halten sich im üblichen Rahmen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Prof. Dr. Joachim Conrad, Vorsitzender, Juli 2022
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ZGS
Mit Beiträgen zum Schwerpunktthema „Kriegserinnerungen und Kriegsfolgen“
ZEITSCH RI FT
FÜR DIE GESCHICHTE
Thomas Dorfner Der Preis der Freiheit. Der Freikauf des Soldaten Bernhard Teutschmann aus osmanischer Gefangenschaft (1605 – 1611)
DER SAARGEGEND
Hans-Joachim Kühn Hermann Dörkens Briefe aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 an seine Braut
AUSGABE
70 – 2023
Jutta Haag Ein Stein des Anstoßes – der Lulustein in Saarbrücken: ein vergessenes Denkmal auf der Saarbrücker Bellevue … Anton Schwindt und Franz Josef Schäfer Der Schneider Mathias Steinmetz aus Uchtelfangen und seine Tochter Anna – Tagebuchschreiberin zum Ersten Weltkrieg Franz Josef Schäfer und Helmut Sittinger Das Tagebuch der Homburger jüdischen Familie Weiler/Behr aus den Jahren 1917 bis 1920 Wolfgang Laufer Die Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Merzig bei Kriegsbeginn 1939: Evakuierung oder Todeszug? – Ein Diskussionsbeitrag
Sowie weiteren Beiträgen von Joachim Conrad „Wir haben jeden Sonntag ein gefülltes Gotteshaus“ Die altkatholische Gemeinde im Saarland Michael Sander 100 Jahre parlamentarische Vertretung der Bevölkerung des Schwerindustriegebietes an der Saar: Der Landesrat des Saargebietes 1922 bis 1935 Gisela Tascher „Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Saarland 1935 bis 1945
Sabine Penth Joachim Conrad Elias Harth Hans-Christian Herrmann (Hrsg.)
Hans-Christian Herrmann 65 Jahre Bundesland Saarland – Identität im Wandel. Verblasst die Frankreich-Orientierung?
KRIEGSERINNERUNGEN UND KRIEGSFOLGEN
70 2023
wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-30008-2
WB 30008-2 ZGS Cover Ausg 70 2023_03_29.indd 1
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