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German Pages 250 [252] Year 1996
Manfred Zeidler · Kriegsende im Osten
Kriegsende im Osten Die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neiße 1944/45 Von Manfred Zeidler im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen Bonn
R. Oldenbourg Verlag München 1996
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zeidler, Manfred: Kriegsende im Osten : die Rote Armee und die Besetzung Deutschlands östlich von Oder und Neisse 1944/45 / von Manfred Zeidler. Im Auftr. der Kulturstiftung der Deutschen Vertriebenen, Bonn. - München : Oldenbourg, 1996 ISBN 3-486-56187-1
©1996 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagbild: Sowjetische Militärpolizistin vor der Schloßruine von Königsberg (aus: Sturm, Kenigsberga, Kaliningrad 1985). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-56187-1
Dem Andenken Alexander Fischers
1933-1995
Inhalt
Vorbemerkung
9
1.
Einleitung
11
2.
Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie und des Vertreibungsgedankens im Rahmen der Diplomatiegeschichte des Zweiten Weltkriegs
23
2.1.
Die schrittweise Aushöhlung der Prinzipien der Atlantikcharta seit dem Frühjahr 1942 in London und Washington Grenz- und Umsiedlungspläne innerhalb des exilpolnischen und westalliierten Lagers bis zur Jalta-Konferenz Stalin, die polnische Linke und die Grenzfrage bis zur Gründung des Lubliner Komitees Das polnisch-sowjetische Grenzabkommen vom 27. Juli 1944 und die Propagierung der Oder-Neiße-Linie bis zur Potsdamer Konferenz
2.2. 2.3. 2.4.
3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4.
4. 4.1.
4.2. 4.3.
Planung und Ablauf der militärischen Operationen gegen das Reichsgebiet im letzten Kriegshalbjahr Das Vorspiel: Memelland und Ostpreußen im Herbst 1944 Planung und strategische Vorgaben der Januaroffensive 1945 im Weichselbogen und in Ostpreußen Der Ablauf der militärischen Geschehnisse von Mitte Januar bis Ende April 1945 Besondere Weisen des militärischen Vorgehens: Durchbruchstechniken - Sturmgruppentaktik - Häuserkampfvorschriften Die Motivierung und politisch-psychologische Führung des Sowjetsoldaten im letzten Kriegsjahr Die Verstärkung der parteipolitischen Arbeit in der Armee seit dem Frühjahr 1944 im Rahmen der Erweiterung des Kriegsziels Die Rolle der Militärpresse innerhalb der politischen Agitationsarbeit: Der Fall Il'ja Erenburg Die Aufrufe der Frontkriegsräte zur Januaroffensive 1945 und die Formen der Politarbeit an der Front
23 33 48
56 67 67 75 83
95 105
105 113 125
5. 5.1. 5.2. 5.3. 6. 6.1. 6.2.
Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden und die Gegenmaßnahmen der Führung Haßgefühle und Rachebedürfnis unter den Rotarmisten und ihr Bild von den Lebensverhältnissen in Deutschland Das Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung. Täter Opfer - Ursachen Die Gegenmaßnahmen der Führung und die Ausschaltung Il'ja Erenburgs im April 1945
135 135 143 155
Die Rote Armee als Besatzungsmacht Die sowjetischen Militärkommandanturen und ihre Aufgaben Die Arbeit der NKVD-Organe. Kriegsgefangenen-, Internierungs- und Überprüfungslager Die wirtschaftliche Behandlung der besetzten Gebiete. Beuteerfassung - Reparationen - Demontagen Das Ende der sowjetischen Kommandanturen und der Übergang zur polnischen Verwaltung
200
7.
Zusammenfassung
207
8.
Abbildungen
212
9.
Verzeichnis der Abkürzungen
222
10.
Quellen und Literatur
224
11.
Register
243
6.3. 6.4.
168 168 17 7 187
VORBEMERKUNG Deutsche und Russen blicken auf eine vielhundertjährige Beziehungsgeschichte zurück, die wie kaum die Geschichte zweier anderer europäischer Nationen Höhen und Tiefen aufweist. Genau ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des schrecklichsten aller Kriege in Europa gehört das hier behandelte Untersuchungsthema zusammen mit der deutschen Kriegs- und Besatzungspolitik in der Sowjetunion ab 1941 unverändert zu den dunkelsten und schmerzvollsten der gemeinsamen Vergangenheit beider Länder. Sein Schwerpunkt liegt auf einer Institution, deren Geschichte, insbesondere die ihres Opfers und Sieges im Zweiten Weltkrieg, in der Sowjetunion über gut vier Jahrzehnte zu den Traditionen von großer politischer Integrationskraft gehörte. Mehr noch als die Kommunistische Partei war es vor allem die Armee, die in Struktur, Traditionsbildung und propagiertem Selbstverständnis das schlechthin .Sowjetische' im Sinne eines übernational verstandenen Staatspatriotismus repräsentierte. Dementsprechend idealisiert war über lange Zeit ihre offizielle Geschichte, in der Heroismus und Vorbildhaftigkeit (russ. primernost') dominierten, und die damit eine wichtige gesellschaftliche Funktion im Leben des Sowjetstaates erfüllte. Mit der Neubewertung der eigenen Geschichte im Zeichen der Perestrojka, insbesondere seit der 19. Parteikonferenz der KPdSU vom Sommer 1988, begann auch in Moskau der unwiederbringliche Abschied von den heroisierten Geschichtsbildern der Vergangenheit. Mit dem Ende des Sowjetstaats und dem Zusammenbruch des Machtmonopols der Kommunistischen Partei sind inzwischen auch dort die früher als .bürgerlich' apostrophierten Maßstäbe der um Objektivierung bemühten westlichen Wissenschaft anerkannt und stehen in einem pluralistischen Wettbewerb mit traditionellen oder konträren Auffassungen. So steht zu hoffen, daß mit der in Moskau vorbereiteten Neubearbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs auch der in dieser Studie behandelte Aspekt in der von ideologischer Bevormundung befreiten russischen Geschichtswissenschaft zu seinem Recht kommen wird. Die vorliegende Studie ist das Resultat eines in den Jahren 1989 bis 1992 von der .Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen' getragenen wissenschafdichen Projektes unter dem Arbeitstitel „Die Rote Armee in Ostdeutschland". Leider war es zur damaligen Zeit nicht möglich, für das politisch wie psychologisch gleichermaßen heikle Thema Moskauer Archive zu benutzen, was zweifellos zu bedauern ist, jedoch angesichts der damaligen archivrechtlichen Situation in Rußland wie aufgrund des zur Verfügung stehenden materiellen Rahmens von vornherein in Kauf genommen werden mußte.
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Vorbemerkung
Mein erster Dank gilt dem bereits erwähnten Projektträger, der .Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen' in Bonn, für ihre materielle und technische Unterstützung sowie für die gezeigte Großzügigkeit und Geduld. Der Autor dankt des weiteren einer Reihe von Personen und Institutionen. Zunächst den benutzten Archiven, deren Hilfs- und Kooperationsbereitschaft er gefunden hat: dem Bundesarchiv Koblenz, dem Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in Bonn und dem Institut für Zeitgeschichte in München. Auch einige wichtige Bibliotheken wie die Bayerische Staatsbibliothek, die Deutsche Bibliothek in Frankfurt a.M. und die Londoner Colindale Library seien, ebenso wie das Kölner .Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien', an dieser Stelle nicht vergessen. Dank schulde ich ebenso den Herren Harald Berwanger, M.A. und Ralf Stettner, M.A., die im Koblenzer Bundesarchiv die zahllosen Kreis- und Gemeindeschicksalsberichte der Ostdokumentation 1 ausgewertet und damit eine wichtige Arbeit für die quantitative Absicherung der Studie und ihrer Aussagen geleistet haben. Nicht vergessen sei auch Frau Renate Horst vom Bonner Seminar, die die erste Manuskriptfassung getippt hat. Die Studie ist entstanden im Rahmen einer engen Zusammenarbeit mit dem Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn. Die verantwortliche Projektleitung lag in den Händen seines Direktors, Herrn Prof. Dr. Alexander Fischer, dessen allzu früher Tod im Juni dieses Jahres es leider verhindert hat, daß er das Ergebnis der Arbeit selbst noch in Empfang nehmen konnte. Als ein Ausdruck des Dankes für die stete Anregung und Förderung sowie seine immer präsente hilfreiche Hand sei das Buch seinem Andenken gewidmet.
Dresden im September 1995
Manfred Zeidler
1. Einleitung Das Thema der vorliegenden Studie ist auch heute noch, bald ein halbes Jahrhundert nach den hier behandelten Vorgängen, im Verhältnis zwischen Deutschen und Russen von traumatischen Erinnerungen belastet. Es steht für jedes einsichtige historische Urteil außer Frage, welche Seite im Verhältnis der beiden Länder und Völker die verhängnisvolle Lawine von Gewalt und Gegengewalt angestoßen und damit dem Zweiten Weltkrieg namentlich im Osten Europas sein weit über die bis dahin gewohnten .klassischen' Formen der Kriegführung hinausgehendes, unmenschliches Gesicht gegeben hat. „Die anderen Völker wurden zunächst Opfer eines von Deutschland ausgehenden Krieges, bevor wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden" (Richard von Weizsäcker).1 Die einmal entzündete Flamme des Hasses und der Gewalt ist auch auf Deutschland und seine Bevölkerung zurückgeschlagen und hat schmerzliche, nur schwer vernarbende Wunden zurückgelassen, die das Bild von Russen und Polen in den Augen vieler Deutscher in der Nachkriegszeit nachhaltig geprägt haben. „Es sind schreckliche Dinge geschehen, vor allem in den polnischen Gebieten, Ostpreußen, in Schlesien, Quälereien und Vergewaltigungen, wie wir sie vor den Erfahrungen der Hitlerzeit nicht für möglich gehalten hätten", schrieb im Frühjahr 1947 der katholische Publizist Walter Dirks in den .Frankfurter Heften* und fuhr fort: „Wir verstehen die unmittelbare Reaktion der unmittelbar Betroffenen: sie heißt Rache und Haß. Nicht jeder ist imstande, das qualvolle und schändliche Sterben seiner nächsten Angehörigen, unschuldiger friedlicher Menschen, in das Gesetz der Geschichte einzuordnen, zu begreifen und zu verstehen; nicht jeder, auch nicht jeder Christ, hat die christliche Kraft, über alles Begreifen hinaus zu verzeihen." 2 Schon anderthalb Jahre zuvor hatte der polnisch-englische Publizist Isaac Deutscher Anfang Oktober 1945 in der Londoner Sonntagszeitung ,The Observer' geschrieben: „Wenn der zukünftige Historiker sich mit der Nachernte dieses Krieges befassen wird, wird er erstaunt vor dem Rätsel des ungeheueren Ausmaßes von Plünderungen und Gewalttaten stehen, organisierten und spontanen, offiziellen, offenen und versteckten, die während der letzten Monate vorgekommen sind. Keine Armee der Alliierten kann behaupten, daß sie nicht von diesem zweifelhaften .Recht des Siegers' 1
2
Richard v. Weizsäcker, Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ansprache am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, Bonn 1985, S. 8. Walter Dirks und Eugen Kogon, Verhängnis und Hoffnung im Osten. Das Deutsch-Polnische Problem, in: Frankfurter Hefte, 2. Jg. (1947), S. 470487, hier S. 471
12
Einleitung
Gebrauch gemacht hätte." Jede der Siegernationen, so Deutscher weiter, hätte „ihren eigenen Stil bei dem Plünderungsfest" besessen: „Die britischen Truppen verfuhren mild und ruhig. Sie behandelten Deutschland wie ein etwas exotisches .Wirtshaus', in dem sie gerade ihre Siegesfeier abhielten [...] Die amerikanische Plünderei glich mehr einer fieberhaften Jagd nach Andenken. Hätte der Reichstag auf eine tragbare Größe reduziert werden können, so wäre das berühmte Gebäude längst in einem Jeep von seinem Standort an der Spree abtransportiert worden [...] Die Russen sind dagegen wie hungrige Heuschreckenschwärme nach Deutschland gekommen. Sie sind auch mit dem Gefühl gekommen, daß sie sich zurückholen würden, was die Deutschen ihnen geraubt hatten. Und auch unabhängig davon ist es eine Tatsache, daß der Inhalt eines gewöhnlichen deutschen Kleiderschranks noch jeden russischen Soldaten wie ein orientalischer Schatz blendet." In einem anderen Beitrag für den .Economist' vom selben Monat sprach Deutscher von einer „Racheorgie", in deren Zeichen „die ersten Wochen und Monate der russischen Besetzung" gestanden hätten, und fuhr fort: „Fast vier Jahre lang war der russische Soldat mit den grimmigen Worten ,Tod den deutschen Eindringlingen' in den Kampf gezogen. Diese Worte, die noch in seinen Ohren klangen, waren in den Tagesbefehlen Stalins täglich wiederholt worden, und sie machten keinen Unterschied zwischen Nazis und anderen Deutschen. Für den russischen Soldaten war jeder Bauernhof auf dem Weg nach Berlin ,die Höhle einer faschistischen Bestie'. Jede Kuh war eine faschistische Kuh [...] Für einen deutschen Zivilisten bedeuteten diese Besatzungsmonate das völlige Fehlen jedes Gefühls persönlicher Sicherheit." 3 Zumindest jedem Deutschen der älteren Generation sind jene Vorgänge und Begleitumstände ein Begriff, unter denen in den Monaten des Winters und Frühjahrs 1945 der Einmarsch der Roten Armee auf das Territorium Deutschlands erfolgte. Der Journalist Robert Jungk schrieb 1945 in der Zürcher .Weltwoche' von den Gebieten östlich von Oder und Neiße als von einem „Totenland", einem „Land ohne Sicherheit und ohne Gesetz" mit einer vogelfreien deutschen Bevölkerung, das durch einen zweiten .Eisernen Vorhang' von Europa abgetrennt sei. Der amerikanische Diplomat George Kennan beschrieb seine unmittelbaren Nachkriegseindrücke von Ostpreußen als die „eines vollständig in Trümmern liegenden und verlassenen Gebietes: von einem Ende bis zum anderen kaum ein Zeichen von Leben". 4
Zitiert nach: Isaac Deutscher, Reportagen aus Nachkriegsdeutschland. Mit einem Vorwort von Tamara Deutscher, Hamburg 1980, S. 122 f. u. 129 f. Robert Jungk, Aus einem Totenland, in: Weltwoche, 13. Jg. (1945), Nr. 527, S. 9. George Kennan, Memoiren eines Diplomaten. Memoirs 1925-1950, Stuttgart 1968, S. 269.
Einleitung
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Die sowjetischen Darstellungen zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und besonders die seit den sechziger fahren in großer Zahl erschienenen Kriegserinnerungen hoher Offiziere sprechen, soweit sie dieses Thema überhaupt berühren, von einem durchgehend humanen Verhalten der eigenen Soldaten gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung. So hieß es etwa in der 1970 erschienenen Truppengeschichte einer Schützendivision der 2. Weißrussischen Front aus der Feder ihres damaligen Kommandeurs: „Zur friedlichen Bevölkerung genauso wie gegenüber in Gefangenschaft geratenen Soldaten verhielten sich unsere Leute human, wie es sich für die Kämpfer einer Befreiungsarmee gehörte." 5 Andere russische Zeugen und Beteiligte wie Lev Kopelev oder Aleksandr Solzenicyn, die beide im Jahre 1945 als Offiziere in der zur 2. Weißrussischen Front gehörenden 48. Armee auf dem ostpreußischen Kriegsschauplatz dienten, haben später aus ihrer Erinnerung eine ganz andere Wirklichkeit beschrieben. 6 Neben dem vieltausendfachen Zeugenschrifttum der verschiedenen Ostdokumentationen des Koblenzer Bundesarchivs existiert in der Bundesrepublik eine Fülle von Literatur aus den letzten vier Jahrzehnten, die sich der Aufarbeitung und Dokumentation dieser Vorgänge gewidmet hat. Die meisten dieser Darstellungen beschränken sich weitgehend darauf, durch eine Aufzählung der zahllosen Schreckensereignisse und ihre Dokumentation anhand möglichst eindrucksvoller und z.T. erschütternder Aussagen von Zeugen und Betroffenen die Leiden der deutschen Bevölkerung und die Grausamkeit der Sieger aufzuzeigen.7 Tiefergehende Fragen nach den Voraussetzungen, Hintergründen oder Ursachen dieser Vorgänge sind dagegen nur selten oder eher am Rande behandelt worden. Der Historiker kann sich jedoch - insbesondere nach dem inzwischen erreichten Zeitabstand von einem halben Jahrhundert - nicht mit der Auflistung und Dokumentation von Phänomenen begnügen, sondern muß zumindest den Versuch wagen, hinter der fast unüberschaubaren Fülle von chaotischen und z.T. sinnlos erscheinenden Einzelvorgängen nach einer, vielleicht vorhandenen, leitenden Intention zu fragen. Bislang gab es in derjenigen deutschsprachigen Literatur, die sich mit wissenschaftlichem Anspruch dieses Themas angenommen hat, im wesentlichen drei Erklärungsmuster für das Verhalten der Sowjetsoldaten gegenüber 5
6
7
S. N. Borscev, Ot Nevy do El'by, Leningrad 1970, S. 307. Siehe auch I. I. Ljudnikov, Doroga dlinoju ν zizn', Moskau 1969, S. 147. Lev Kopelev, Chranit' vecno, Ann Arbor 1975, dt.: Aufbewahren für alle Zeit!, Hamburg 1976. Aleksandr Solzenicyn, Prusskie noci, Paris 1974, dt.: Ostpreußische Nächte: eine Dichtung in Versen. Aus dem Russischen übertragen von Nikolaus Ehlert, Darmstadt, Neuwied 1976. Ders., Archipelag GULag g. 1918-1956. Opyt chudozestvennogo issledovanija, Bd. I, Paris 1973, dt.: Der Archipel Gulag. 1918-1956. Versuch einer künstlerischen Bewältigung, Bern/München 1974, S. 32 f. Zu dieser Literatur siehe die Anm. 13.
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Einleitung
der deutschen Bevölkerung im Osten. Das erste, im Kern individualpsychologische Erklärungsmodell, wie es u.a. von dem amerikanischen Völkerrechtler und Zeithistoriker Alfred M. de Zayas zugrunde gelegt wurde, deutete die Vorgänge großteils als ,,ein[en] Ausbruch der Rache für die Greuel, die SS und Einsatzgruppen in der Sowjetunion begangen hatten". Hinzu komme die verstärkende Wirkung der Kriegspublizistik des Schriftstellers Il'ja Erenburg, die als ein wirkungsvoller Multiplikator den mehr oder weniger spontanen Exzeßtaten zu Massencharakter verholfen habe. 8 Einen eher strukturellen Gesichtspunkt präsentierte in einem akademischen Vortrag vom Frühjahr 1985 der Kölner Historiker Andreas Hillgruber, als er unter Hinweis auf ähnliche Ausschreitungen der Roten Armee beim Einmarsch in Rumänien, Ungarn und Jugoslawien in den Jahren 1944 und 1945 „sowjetische Kriegsvorstellungep, die in der stalinistischen Epoche offensichtlich allgemein solch barbarische Züge annahmen", als Ursache sah. Damit wiederholte er im Grunde ein Urteil des britischen Militärhistorikers Albert Seaton aus den frühen siebziger Jahren, wonach die der deutschen Bevölkerung gegenüber betriebene „Politik des Schreckens [...] auf emotionale und materielle Umstände gründete und bezeichnend für die Diktatur war, die sie anordnete". 9 Eher politische Hintergründe vermutet dagegen das dritte Erklärungsmodell, das neben dem Juristen Wilfried Ahrens vor allem Karl Friedrich Grau in seiner Dokumentation .Schlesisches Inferno' aus dem Jahre 1966 entwikkelt hat. 10 Von der Annahme ausgehend, daß Haß- und Rachegefühle in einem totalitären System wie dem stalinistischen steuerbar waren und der Feststellung, daß ein signifikant unterschiedliches Verhalten der sowjeti® Alfred M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, München 1980 S. 84 f. u. 89. 9 Andreas Hillgruber, Der Zusammenbruch im Osten 1944/45 als Problem der deutschen Nationalgeschichte und der europäischen Geschichte, Opladen 1985, S. 16. Vgl. dazu Albert Seaton, Der russisch-deutsche Krieg 1941-1945, hg. von Andreas Hillgruber, Frankfurt a.M. 1973, S. 422. Wilfried Ahrens (Hg.), Verbrechen an Deutschen. Die Opfer im Osten, Huglfing 1975; ders., Verbrechen an Deutschen. Dokumente der Vertreibung, o.O. 1983. Im folgenden nach Karl Friedrich Grau, Schlesisches Inferno. Kriegsverbrechen der Roten Armee beim Einbruch in Schlesien 1945, Stuttgart 1966, S. 117 f. Herbert Mitzka bekräftigte zwei Jahrzehnte später Graus These ohne Einschränkung: „Daß diese Plünderungen, Brandschatzungen, Vergewaltigungen und Deportationen in Ostdeutschland von Januar bis zum Sommer 1945 aus einem politischen Kalkül heraus von der sowjetischen Führung bewußt gewollt worden waren, geht auch daraus hervor, daß sie nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht Anfang Mai 1945 in Mitteldeutschland schlagartig aufhörten." Herbert Mitzka, Zur Geschichte der Massendeportationen von Ostdeutschen in die Sowjetunion im Jahre 1945. Ein historisch-politischer Beitrag, Elnhausen 1985, S. 38. Dagegen bestritt Albert Seaton, wie Anm. 9, eher die von Grau vertretene Behauptung: „Denn die Sowjets verübten die gleichen Greueltaten auch in dem Gebiet bis zur Elbe, und zwar noch Wochen und Monate nach Kriegsende."
Einleitung
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sehen Soldaten längs einer klar erkennbaren Scheidelinie zu beobachten ist, stellte Grau die Frage nach den möglichen politischen Ursachen dafür. „Ist die statistisch belegbare Scheidelinie zwischen den beiden so kraß unterschiedlichen Verhaltensweisen sowjetischer Soldaten und Offiziere", so fragte Grau, „nur zufällig identisch mit dem Verlauf der wenig später offiziell gezogenen, laut Potsdamer Abkommen vorläufigen neuen deutschen Ostgrenze, der sogenannten Oder-Neiße-Linie?" Auf seinen schlesischen Untersuchungsgegenstand konzentriert, fragte er weiter: „Waren die unzähligen t—] Verbrechen an der zurückgebliebenen und überrollten schlesischen Bevölkerung allein auf den elementaren Ausbruch lange aufgestauten und durch zielbewußte Propaganda ständig geschürten Hasses zurückzuführen? Waren die Massenexzesse einzig Ausdruck einer immerhin verständlichen allgemeinen Erbitterung der sowjetischen Völker während der deutschen Besetzung [...] oder hatte die Entfesselung eines Pandämoniums wildester Urinstinkte und seine offensichtliche Duldung durch die sowjetische Führung gerade in den östlichen Grenzgebieten Deutschlands andere Ursachen?" Grau kam zu dem Ergebnis, „daß die scharfe Trennungslinie zwischen Massenbarbarei und relativ gemäßigten Ausschreitungen in geographischer Hinsicht keine zufällige gewesen sein kann". „Die Tatsache", so der Autor weiter, „daß die Flut erst nach Überschreitung der Lausitzer Neiße und dann zudem abrupt abebbt, obgleich der gesamte Raum in kürzester Zeit und von den gleichen Einheiten besetzt wurde, läßt nur zwei Schlußfolgerungen zu: 1. Die geographische Übereinstimmung der Scheidelinie zwischen beiden Verhaltensweisen der Roten Armee mit dem Verlauf der in Potsdam festgelegten vorläufigen deutschen Ostgrenze beruht nicht auf einem Zufall. 2. Die sowjetische politische und militärische Führung war sehr wohl in der Lage, bestimmte Verhaltensweisen der sowjetischen Truppen in kürzester Frist einschneidend zu ändern." So problematisch und mit präzisen quantitativen Daten schwer zu beweisen Graus Behauptung von einer „statistisch belegbaren Scheidelinie [...] kraß unterschiedlicher Verhaltensweisen" sein mag, so sehr erfuhr doch seine daran geknüpfte Vermutung, „daß die endgültige Abtrennung der deutschen Gebiete östlich der Oder und Neiße [...] auf sowjetischer Seite von vornherein beschlossene Sache gewesen sein muß", schon kurz darauf eine glänzende Bestätigung. 1967, nur ein Jahr später, veröffentlichte die Polnische Akademie der Wissenschaften in einer von dem Warschauer Zeithistoriker Euzebiusz Basiñski besorgten Quellenedition jenen 23 Jahre lang geheimgehaltenen Vertrag der Sowjetregierung mit dem prosowjetischen .Lubliner Komitee' vom 27. Juli 1944 über die Oder-Neiße-Linie als der
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Einleitung
zukünftigen polnischen Westgrenze. 11 Damit war klar, daß bereits ein gutes Jahr vor der offiziellen Erklärung der Potsdamer Konferenz sich die Sowjetregierung hinsichtlich der Zukunft der deutschen Ostgebiete politisch gebunden hatte und von diesem Zeitpunkt an das Problem im Räume stand, ca. zehn Millionen Deutsche aus den Gebieten östlich von Oder und Lausitzer Neiße zu entfernen. Gewisse Äußerungen Stalins auf der Konferenz von Jaita wie auch noch in Potsdam, wonach die an Polen zu übergebenden Gebiete nicht mehr zu Deutschland gehörten, weil sie von den Deutschen selbst nahezu vollständig verlassen würden („Wo unsere Truppen hinkommen, da laufen die Deutschen weg" 12 ), mögen die Richtung andeuten, in der man sich damals in Moskau die Lösung dieses Problems gedacht hat. Schon Martin Broszat hatte 1954 in seiner einleitenden Darstellung zum ersten Band der großen Vertreibungsdokumentation des Bundesvertriebenenministeriums den Gedanken eines intendierten Bevölkerungstransfers durch Flucht - aufgrund der damals noch höchst schmalen Quellengrundlage nur andeutungsweise - in den Raum gestellt, als er die Vermutung zum Ausdruck brachte, „daß die Flucht der ostdeutschen Bevölkerung, ja möglicherweise ihre Forcierung durch ein entsprechend radikales Vorgehen der russischen Truppen bereits ganz bewußt in Hinsicht auf die spätere Ausweisung als eine begrüßenswerte Vorarbeit angesehen wurde". 13 Der schreckliche Terminus der „ethnischen Säuberungen" ist gerade in unseren Tagen mit Blick auf Südosteuropa in aller Munde. Direkt vor unserer Haustür erleben wir eine Demonstration, wie und mit welchen Mitteln militärische Handlungen große Bevölkerungsverschiebungen zum Ziel haben können. Waren im traditionellen Verständnis von Krieg und Kriegführung Flüchtlingsströme der Zivilbevölkerung stets nur die Begleiterscheinung militärischer Operationen, so sehen wir heute Formen des militärischen Vorgehens, die zivile Fluchtbewegungen, ihre Auslösung und Verstärkung mit voller Absicht betreiben. Dies geschieht vor allem dann, wenn über die betroffenen Gebiete und Territorien vor deren Besetzung politisch bereits entschieden wurde. Dadurch sind militärische und politische Kriegsziele aufs engste miteinander verflochten und werden auf Kosten der Bevöl11
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Stosunki polsko-radzieckie w latach 1917-1945. Dokumenty i materiaty (Die polnischsowjetischen Beziehungen in den Jahren 1917-1945. Dokumente und Materialien), hg. von der Abteilung für die Geschichte der polnisch-sowjetischen Beziehungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Redaktion T. Cieslak, bearb. von E. Basmski, Warschau 1967, Dok. Nr. 135, S. 399-401. J. F. Byrnes, Speaking Frankly, New York - London 1947, dt.: In aller Offenheit, Frankfurt a.M. 1949, S. 49. Dazu auch unten, Kap. 2.4., Anm. 41 u. 42. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 1 (= Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Bd. 1/1), S. 138E (vollst, bibliographische Angabe siehe Anm. 17).
Einleitung
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kerung nahezu gleichzeitig verfolgt. Der Blick zurück auf den deutschen Osten im Winter 1944/45 zeigt eine vergleichbare Konstellation. Über das Schicksal der betreffenden Gebiete war lange vor ihrer militärischen Besetzung bereits eine politische Übereinkunft erzielt worden, für deren endgültige Durchsetzung auf internationaler Ebene es am günstigsten war, vollendete Tatsachen zu schaffen. Zur Auslösung von Fluchtbewegungen großen Maßstabes bedarf es gewisser .Signalereignisse', die ein Fanal mit starker emotionaler Massenwirkung darstellen. Als ein solches Fanal wirkten objektiv die blutigen und grausamen Vorfälle, die mit dem Namen der ostpreußischen Landgemeinde Nemmersdorf in den Tagen des ersten Zusammentreffens sowjetischer Truppen mit deutscher Zivilbevölkerung im Oktober 1944 verbunden sind. Daß dieses Ereignis für die gesamte Bevölkerung des deutschen Ostens, nach Alfred de Zayas Worten, „zum Inbegriff unaussprechlicher Angst" wurde und so „für die Geschichte der deutschen Fluchtbewegung eine wichtige Rolle" spielte, darf als unbestritten gelten. 14 Offen bleibt dagegen bis heute die Frage, inwieweit auch subjektiv, d.h. möglicherweise vor dem Hintergrund politischer Intentionen, Nemmersdorfs Rolle und Bedeutung zu verstehen ist. Der besondere Signalcharakter gerade dieses Ereignisses für die späteren spontanen oder organisierten Fluchtbewegungen führt zugespitzt zu der Frage, ob hierbei eine mehr oder weniger spontane Exzeßtat mit psychologischem Hintergrund oder eine wohlbeabsichtigte Inszenierung vorgelegen hat. Mögen Intentionen Moskaus zur Auslösung einer großen Fluchtbewegung unter der deutschen Zivilbevölkerung dahintergestanden haben oder nicht - in jedem Falle hat die NS-Propaganda mit ihrem Versuch, durch eine weite publizistische Verbreitung die Nemmersdorfer Vorgänge zur Verstärkung des deutschen Widerstandswillens auszunutzen, genau das bewirkt, was den objektiven Bedürfnissen Moskaus und seiner polnischen Verbündeten entsprach: die Entvölkerung der deutschen Ostgebiete wurde durch eine große Fluchtbewegung den Deutschen weitgehend selbst überlassen. Die vorliegende Studie widmet sich in starkem Maße dieser Frage, ohne sie zum heutigen Zeitpunkt, da die sowjetischen Archivmaterialien politischer und militärischer Provenienz erst langsam und zögerlich an die Öffentlichkeit kommen, entscheiden zu können. Auch geht sie über diesen Punkt hinaus und behandelt im Detail die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie und des Vertreibungsgedankens innerhalb der Diplomatiegeschichte der ,AntiHitler-Koalition', die Planung und den Ablauf der militärischen Operationen der Roten Armee auf deutschem Boden vom Oktober 1944 an sowie die 14
de Zayas, wie Anm. 8, S. 80. Vgl. auch Christian Graf Krockow, Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 bis 1947, Stuttgart 1988, S. 60.
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Einleitung
taktischen Grundvorstellungen und für die letzte Kriegsphase typischen militärischen Vorgehensweisen der Sowjets, soweit diese für die Geschehnisse in den deutschen Ostgebieten von Bedeutung waren. Ihr Schwerpunkt liegt auf jenen Kapiteln, die sich mit der politisch-propagandistischen Arbeit innerhalb der Sowjetstreitkräfte und deren Auswirkungen auf die Masse der Soldaten in ihrem realen Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung beschäftigen. Die Gegenmaßnahmen der Führung, die sich schließlich unter dem Eindruck der alle Zügel der Disziplin zu zerreißen drohenden Gewalt zu einer propagandistischen Kurskorrektur entschloß, sowie die vergleichsweise kurze administrative Tätigkeit der Roten Armee als Besatzungsmacht bilden einen weiteren Gegenstand der Studie. Auch die wirtschaftliche Behandlung der Gebiete östlich von Oder und Neiße mit ihren unterschiedlichsten Aspekten, bis hin zur Internierung und Deportation von .reparationsverschleppten' Zivilisten, wurde in die Untersuchung einbezogen. Kurzum: es geht um alle relevanten Lebens- und Erfahrungsbereiche, die im Zusammenhang mit dem Auftreten der sowjetischen Sieger- und Besatzungsmacht für die deutsche Bevölkerung in der untersuchten Region von Bedeutung waren. Die Perspektive der Darstellung ist, wie der Leser feststellen wird, vom zu Grunde gelegten sowjetischen Material her gewählt. Es ging nicht darum, im Detail die Eindrücke, Erfahrungen und Leiden der deutschen Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen, sondern - dem Thema gemäß - die Rote Armee, ihre Soldaten und Offiziere, ihren politisch-propagandistischen Apparat und ihre inneren Verhältnisse. Letzteres erscheint nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die zahlreichen deutschen Zeugenberichte im Schrifttum der Ostdokumentationen des Bundesarchivs vielfach Angaben enthalten, die offenkundig tradierte, häufig auch stark klischeehafte Vorstellungen von den sowjetischen politischen und militärischen Verhältnissen widerspiegeln (Militärkolchosen, rote Kosaken, GPU, Kommissare etc.). Dies stellt ihre grundsätzliche Glaubwürdigkeit gewiß nicht in Frage, doch bedarf es gerade hier häufig jenes Korrektivs in der Sache, das der Historiker von heute mit seinem Wissen um die inneren sowjetischen Verhältnisse jener Zeit zur Verfügung stellen kann. Der Problematik des Themas entspricht eine ebenso schwierige Quellenlage. Aufgrund des Zusammenbruchs der deutschen Verwaltung unter den chaotischen Verhältnissen des Kriegsendes in den Ostgebieten gibt es nur wenige amtliche Dokumente staatlicher Verwaltungsstellen über die Vorgänge in dieser Region. Dementsprechend bilden die militärischen Quellenbestände des Bundesarchiv-Militärarchivs in Freiburg, insbesondere die im Bestand der Abteilung Fremde Heere Ost beim Generalstab des Heeres verwahrten Dokumente (BA-MA, RH 2), die wichtigste Quellengruppe des
Einleitung
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amtlichen Schrifttums staatlicher Provenienz. Von großer Bedeutung sind ebenso eine Reihe von Zeitungsbeständen wie die Ausgaben der .Pravda' (Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln) und der ,Krasnaja Zvezda' (KZ) (Colindale Library, London) aus dem letzten Kriegshalbjahr sowie die Ausgaben der während des Krieges von der Presseabteilung der Londoner Sowjetbotschaft herausgegebenen .Soviet War News' (SWN) (Seminar für Osteuropäische Geschichte, Frankfurt a.M.). Auch die umfangreichen polnisch-sowjetischen Quelleneditionen der siebziger Jahre zu den gemeinsamen Beziehungen seit 1917 stellen für die diplomatiegeschichtliche Seite des Themas eine wichtige Quelle dar. 15 Hinzu kommen ein gutes Dutzend sowjetischer militärwissenschaftlicher Werke und Spezialstudien zu den Einzeloperationen des Zweiten Weltkriegs und über hundert militärische Memoiren und truppengeschichtliche Darstellungen mit Erinnerungscharakter. Von den originär deutschen Materialien nichtmilitärischer Provenienz wurden vor allem die verschiedenen Ostdokumentationen des Koblenzer Bundesarchivs (BA) mit ihrem umfangreichen Zeugenschrifttum herangezogen und im Rahmen des Möglichen ausgewertet. Dazu kamen die Akten des Bestandes Völkerrecht/Kriegsrecht (VR-KR 82/8) aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in Bonn (PA-AA), die das amtliche deutsche Untersuchungsmaterial über die Nemmersdorfer Vorgänge vom Oktober 1944 bergen, wie auch ergänzende Mikrofilm-Dokumente aus dem Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ). Besonders bei den Ostdokumentationen des Bundesarchivs, die allein mit ihren gut 18 000 auf Fragebogengrundlage erarbeiteten .Gemeindeschicksalsberichten' das Schicksal von rund 82 Prozent aller deutschen Gemeinden östlich von Oder und Neiße einschließlich Danzigs, Westpreußens und des Warthelands behandeln, konnte nur ein Bruchteil der insgesamt geleisteten Auswertungsarbeit in die unmittelbare Darstellung einfließen. Von der deutschsprachigen Literatur seien nur die wichtigsten Darstellungen zu den einzelnen Kriegsschauplätzen im Osten genannt. Dazu gehören die Arbeiten von Friedrich Hoßbach, Otto Lasch und Dieckert/Großmann für Ostpreußen, Hans v. Ahlfen und Georg Gunter über Schlesien, Erich Murawski und Helmut Lindenblatt über Pommern sowie Karl Hielscher über Ostbrandenburg; dazu die regional übergreifenden Darstellungen von Jürgen Thorwald, Werner Haupt und Heinz Magenheimer. Besondere Beachtung unter der militärgeschichtlichen Literatur verdient die 1991 erschienene und inzwischen auch in deutscher Übersetzung vorliegende Studie Christopher Duffys über die Kriegführung der Roten Armee auf deut15
Dokumenty i materialy po istorii sovetsko-pol'skich otnosenij (DMISPO), Bd. VII: janvar' 1939 g - dekabr' 1943 g, Bd. VIII: janvar' 1944 g - dekabr' 1945 g, Moskau 1973/74.
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schem Boden 1945, die in Aufbau und Systematik dem Ansatz der hier vorgelegten Arbeit am ähnlichsten ist. Gleiches gilt auch für die erst allerjüngst veröffentlichte Publikation eines anderen britischen Militärhistorikers, Tony Le Tissiers Studie zum selben Thema. 16 Unter der Literatur, die sich dem Schicksal der geflohenen oder zurückgebliebenen deutschen Bevölkerung widmet, verdienen die dokumentarischen Arbeiten von Johannes Kaps, Rolf Becker, Wolfgang Schwarz und Karl Friedrich Grau über Schlesien, desgleichen Edgar Lass über Ost- und Hans-Jürgen von Wilckens über Westpreußen sowie Peter Poralla über Danzig und Hans Edgar Jahn über Pommern Erwähnung. Übergreifend sei hier auf die drei ersten Bände der großen Vertreibungsdokumentation des Bundesvertriebenenministeriums aus den fünfziger Jahren sowie den abschließenden Bericht des Bundesarchivs zur „Dokumentation von Vertreibungsverbrechen" vom Mai 1974 verwiesen. 17 Eine in manchen Detailbeobach16
Friedrich Hoßbach, Schlacht um Ostpreußen, Überlingen/Bodensee 1951; Otto Lasch, So Gel Königsberg. Kampf und Untergang von Ostpreußens Hauptstadt, München 1958; Kurt Dieckert/Horst Grossmann, Der Kampf um Ostpreußen, Stuttgart 1976; Hans von Ahlfen, Der Kampf um Schlesien 1944-1945, Stuttgart 1976; Georg Gunter, Letzter Lorbeer. Vorgeschichte. Geschichte der Kämpfe in Oberschlesien von Januar bis Mai 1945, Dülmen 1986; Erich Murawski, Die Eroberung Pommerns durch die Rote Armee, Boppard 1969; Helmut Lindenblatt, Pommern 1945. Eins der letzten Kapitel in der Geschichte vom Untergang des Dritten Reiches, Leer 1984; Karl Hielscher, Das Kriegsende 1945 im Westteil des Warthelandes und im Osten der Neumark, in: ZfO, Jg. 34 (1985), S. 211-248; Jürgen Thorwald, Es begann an der Weichsel, Gütersloh 1959; Werner Haupt, Das Ende im Osten, Friedberg-Dorheim 1970; ders., Als die Rote Armee nach Deutschland kam. Die Kämpfe in Ostpreußen, Schlesien und Pommern 1944/45, Friedberg-Dorheim o.J.; Heinz Magenheimer, Abwehrschlacht an der Weichsel 1945. Vorbereitung, Ablauf, Erfahrungen, Freiburg 1976; Christopher Duffy, Der Sturm auf das Reich. Der Vormarsch der Roten Armee 1945, München 1994; Tony Le Tissier, Durchbruch an der Oder. Der Vormarsch der Roten Armee 1945, Frankfurt a.M.-Berlin 1995.
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Johannes Kaps, Die Tragödie Schlesiens 1945/46 in Dokumenten, München 1952/53; Rolf Becker, Niederschlesien 1945. Die Flucht - die Besetzung, Bad Nauheim 1965; Wolfgang Schwarz, Die Flucht und Vertreibung. Oberschlesien 1945/46, Bad Nauheim 1965; Karl Friedrich Grau, Schlesisches Inferno. Kriegsverbrechen der Roten Armee beim Einbruch in Schlesien 1945. Eine Dokumentation, eingeleitet von Professor Ernst Deuerlein, Stuttgart 1966 (vgl. Anm. 10); Edgar Günther Lass, Die Flucht. Ostpreußen 1944/45, Bad Nauheim 1964, Hans Jürgen von Wilckens, Die große Not. Danzig-Westpreußen 1945, Münster 1981; Peter Poralla, Unvergänglicher Schmerz. Ein Protokoll der Geschichte. Danzigs Schicksalsjahr 1945, Freiburg 1987; Hans Edgar Jahn, Pommersche Passion, Preetz/Holst. 1964; Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 1-3 (= Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, in Verbindung mit Adolf Diestelkamp, Rudolf Laun, Peter Rassow und Hans Rothfels bearbeitet von Theodor Schieder. Hg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Bd. I, 1-3), Bonn 1954-1960 (vgl. Anm. 13); Dokumentation von Vertreibungsverbrechen (Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974 zum Erlaß des Bundesministers des Innern vom 16. Juli 1969) in: Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948, hg. von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn 1989.
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tungen nicht uninteressante Parallele bietet die Studie des polnisch-amerikanischen Historikers Jan T. Gross über die Vorgänge beim Einmarsch der Roten Armee in die ostpolnischen Gebiete im Herbst des Jahres 1939. Ähnliches läßt sich über das 1953 von regierungsamtlicher Seite in Belgrad erstellte, jedoch offiziell nie publizierte Weißbuch „Zlocinstva pod plastom Socijalizma" (Untaten unter dem Mantel des Sozialismus) über die Vorfälle beim sowjetischen Einmarsch in Jugoslawien sagen. 18 Eine dritte wesentliche Literaturgruppe umfaßt die wichtigsten neueren Untersuchungen zur Diplomatiegeschichte des Zweiten Weltkriegs und insbesondere zu den politischen Beziehungen innerhalb der alliierten Kriegskoalition, soweit sie das Problem der Nachkriegsgrenzen und die Vorgeschichte des Vertreibungsgedankens betreffen. Hier seien stellvertretend für viele Detailuntersuchungen aus neuerer Zeit die Arbeiten von Detlef Brandes, Josef Foschepoth, Lothar Kettenacker sowie Albrecht Tyrell und Alfred M. de Zayas genannt; hinzu kommen unter den zentralen Quellenpublikationen die .Dokumente zur Deutschlandpolitik' (DDP) der Reihe I für die Jahre 1939 bis 1945 und die bereits 1956 von Gotthold Rhode und Wolfgang Wagner herausgegebene Dokumentensammlung zur Entstehungsgeschichte der Oder-Neiße-Linie.19 Zu diesem Komplex gehört auch die inzwischen recht reichhaltige Literatur zum polnisch-sowjetischen Verhältnis während der Kriegsjahre, für die stellvertretend die wichtigen 1
® fan T. Gross, Revolution from Abroad. The Soviet Conquest of Poland's Western Ukraine and Western Belorussia, Princeton 1988, dt.: Und wehe, du hoffst ... Die Sowjetisierung Ostpolens nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939-1941, Freiburg 1988. Die deutsche Übersetzung des jugoslawischen Weißbuchs von 1953 lautet: Hendrik van Bergh, Genösse Feind. Unveröffentlichte Dokumente über die Rote Armee, Bonn 1962. 19 Detlef Brandes, Großbritannien und seine osteuropäischen Alliierten 1939-1943. Die Regierungen Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens im Londoner Exil vom Kriegsausbruch bis zur Konferenz von Teheran, München 1988; fosef Foschepoth, Großbritannien, die Sowjetunion und die Westverschiebung Polens, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 34 (1983), S. 61-90; ders., Die Oder-Neiße-Frage im Kalkül der britischen Außenpolitik 1941-1947, in: Die beiden deutschen Staaten im Ost-West-Verhältnis. 15. Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. 1.-4. Juni 1982, Beilage zum Deutschland-Archiv, Jg. 1982, S. 69-80; Lothar Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen-Zürich 1989; Albrecht Tyrell, Großbritannien und die Deutschlandplanung der Alliierten 1941-1945, Frankfurt a.M. 1987; Alfred M. de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, München 1980 (vgl. Anm. 8); Dokumente zur Deutschlandpolitik (DDP), hrsg. vom Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen, I. Reihe, Bd. 1: 3. September 1939 bis 31. Dezember 1941. Britische Deutschlandpolitik, bearb. von Rainer A. Blasius. Bd. 2: 11. August 1941 bis 31. Dezember 1942. Amerikanische Deutschlandpolitik, bearb. von Marie-Luise Goldbach. Bd. 3: Januar bis 31. Dezember 1942. Britische Deutschlandpolitik, bearb. von Rainer A. Blasius, Frankfurt a.M. 1984-1989; Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie in den diplomatischen Verhandlungen während des Zweiten Weltkrieges, ges. u. hg. von Gotthold Rhode und Wolfgang Wagner, Stuttgart 1959.
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englischsprachigen Arbeiten von George Kacewicz, Jan Karski, Vojtech Mastny und Sarah Miklejohn Terry sowie die Quellensammlung von Antony Polonsky und Boleslaw Drukier Erwähnung verdienen. 20 Mit dem letzteren, dem diplomatiegeschichtlichen Komplex des Themas, soll unsere Darstellung beginnen.
George V. Kacewicz, Great Britain, the Soviet Union and the Polish Government in Exile (1939-1945), The Hague-Boston-London 1979; Jan Karski, The Great Powers and Poland 1919-1945. From Versailles to Yalta, Lanham-New York-London 1985; Vojtech Mastny, Russia's Road to the Cold War. Diplomacy, Warfare, and the Politics of Communism, 1941-1945, New York 1979, dt.: Moskaus Weg zum Kalten Krieg. Von der Kriegsallianz zur sowjetischen Vormachtstellung in Osteuropa, München-Wien 1980; Sarah Miklejohn Terry, Poland's Place in Europe. General Sikorski and the Origin of the Oder-Neisse Line, 1939-1943, Princeton/N. J. 1983; Antony Polonsky/ Boleslaw Drukier, The Beginnings of Communist Rule in Poland, London, Bosten 1980, ebenso: Antony Polonsky, The Great Powers and the Polish Question 1941-1945. A Documentary Study in Cold War Origins, London 1976.
2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie und des Vertreibungsgedankens im Rahmen der Diplomatiegeschichte des Zweiten Weltkriegs 2.1. Die schrittweise Aushöhlung der Prinzipien der Atlantikcharta seit dem Frühjahr 1942 in London und Washington Am 12. August 1941 hatten der britische Premierminister Winston Churchill und der amerikanische Präsident Roosevelt an Bord des US-Kriegsschiffs »Augusta* in der Placentia Bay auf Neufundland jene Leitlinien festgelegt, die als die sogenannte Atlantikcharta der internationalen Öffentlichkeit bekannt wurden und als gemeinsame Richtschnur des politischen Handelns für die Dauer des Krieges gelten sollten. Nach der in Punkt 1 abgegebenen Versicherung, beide Länder strebten weder eine Erweiterung ihrer Territorien noch ihrer Einflußsphären an, hieß es unter Punkt 2: „Sie wünschen keine Gebietsveränderungen, die nicht mit den frei erklärten Wünschen der beteiligten Völker in Einklang stehen." 1 Die amerikanische Seite war, was den letzten Punkt betraf, schon seit 1932 durch die Erklärung ihres Außenministers Stimson, der sogenannten Stimson-Doktrin, in grundsätzlicher Weise dahingehend gebunden, daß die Vereinigten Staaten keine durch Krieg entstandenen territorialen Veränderungen zu akzeptieren bereit seien. 2 Der amerikanische Präsident hatte Churchill sogar darauf festlegen wollen, gegenüber Dritten „keine Verpflichtungen in bezug auf Territorien, Bevölkerung oder Wirtschaft für den Nachkriegsfrieden" einzugehen, und vorgeschlagen, diese Abmachung auch der Öffentlichkeit mitzuteilen. 3 Die britische Seite lehnte es jedoch mit Rücksicht auf die in London ansässigen Exilregierungen ab, sich öffentlich zum Grundsatz des strikten Verzichts auf die Erörterung von Nachkriegsfragen zu bekennen, da eine solche Erklärung den Widerstandswillen in den von Deutschland besetzten Staaten schwächen würde. 4 Ungeachtet dessen hatte Churchill schon im September 1940 vor dem englischen Un1
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Zum Text siehe Europa-Archiv, 2. Ig. (1947), S. 343. Vgl. dazu Winston S. Churchill, Amerika im Krieg, Stuttgart-Hamburg 1951 (= Der Zweite Weltkrieg, Bd. III, 2), S. 81 f. ebenso Brandes, Großbritannien, S. 226. Zur .Stimson-Doktrin' siehe: R. N. Current, The Stimson Doctrine and the Hoover Doctrine, in: American Historical Review (AHR), 59 (1953/54). Foreign Relations of the United States (FRUS). Diplomatie Papers 1941, Bd. 1: General. The Soviet Union, Washington 1958, S. 342. Ebd., S. 345 ff.
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terhaus erklärt: „We have not at any time adopted, since the war broke out, the line, that nothing could be changed in the territorial structure of various countries. On the other hand, we do not propose to recognize any territorial changes which take place during the war, unless they take place with the free consent and goodwill of the parties concerned." 5 Die ersten Einwände und Widersprüche wurden bereits in den Wochen nach Unterzeichnung der Charta von seiten der in London ansässigen Exilregierungen Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens laut. Alle drei waren sich einig, das Dokument jeweils im Sinne ihrer Interessen auszulegen, und meldeten in Schreiben an das Foreign Office ihre Vorbehalte an. Die polnische Regierung erbat sogar eine schriftliche Zusage, daß der zweite Grundsatz der Charta nicht zu streng ausgelegt werde, da er in erster Linie die alliierten, befreundeten und neutralen Nationen schützen solle.6 Sie sah bei dessen strikter Anwendung ihren bereits angemeldeten territorialen Mindestanspruch auf Danzig und Ostpreußen gefährdet und forderte, daß bei der Grenzziehung außer ethnischen auch strategische und wirtschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden müßten. Die Charta sei im Sinne „der fundamentalen und vitalen Interessen" Polens zu interpretieren, insbesondere sollte durch die Nachkriegsgrenzen, wie Polens Exilaußenminister Raczyñski gegenüber seinem britischen Kollegen Eden äußerte, „Polens Lebensbedürfnis nach einem breiten, gegen ausländische Einmischung genügend geschützten Zugang zum Meer gesichert werden". Strategische Sicherheit, so die exilpolnische Seite gegenüber der US-Regierung in Washington, bedeute für Polen zu allererst die Auflösung der deutschen Enklave in Ostpreußen. 7 Am 24. September 1941 bekannte sich auf einem interalliierten Treffen in London auch die Sowjetunion formell zu den Prinzipien der Atlantikcharta. Ihr Londoner Botschafter Majskij legte zwar ein formelles Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker ab, jedoch unter dem Vorbehalt, daß „die praktische Anwendung dieser Grundsätze notwendigerweise den Umständen, Bedürfnissen und geschichtlichen Besonderheiten der einzelnen Länder angepaßt werden müßte." 8 Drei Monate später setzte Sowjetbotschafter Litvinov in Washington seine Unterschrift unter die 26-Mächte-Erklärung der Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942, die in ihrem Text ausdrücklich auf die Atlantikcharta Bezug nahm. Zu diesem 5
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Documents on Polish-Soviet Relations (DPSR), 1939-1945, hg. vom General Sikorski Historical Institute London, Bd. I: 1939-1943, London, Melbourne, Toronto 1961, Dok. 79. Brandes, Großbritannien, S. 226. Ebd., S. 226 f. Boris Meissner, Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, Köln 1962, S. 99. Vgl. dazu Brandes, Großbritannien, S. 228 und Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung, S. 111.
2.1. Schrittweise Aushöhlung der Prinzipien
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Zeitpunkt war es gerade zwei Wochen her, daß Eden während seines Besuchs bei Stalin dessen Wunsch, über europäische Nachkriegsgrenzen insbesondere über die sowjetische Westgrenze von 1941 - zu reden, mit dem Hinweis abgelehnt hatte, „im gegenwärtigen Zeitpunkt sei es der Regierung Seiner Majestät unmöglich, sich auf irgendwelche Nachkriegsgrenzen in Europa festzulegen", da sie „diesbezüglich bereits Verpflichtungen gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten eingegangen" sei. 9 Churchill selbst legte kurze Zeit später in einem Telegramm an seinen Außenminister vom 8. Januar 1942 nochmals die britische Haltung zu diesem Problem in unmißverständlicher Klarheit dar, indem er schrieb: „Auf keinen Fall kann die Rede davon sein, daß Grenzen vor der Friedenskonferenz festgelegt werden." Mit dem Hinweis auf die besondere Prinzipienfestigkeit des amerikanischen Präsidenten in dieser Frage hob der britische Premier hervor, daß seiner Ansicht nach „unsere politische Zuverlässigkeit auf dem Spiel [steht], falls wir von den Grundsätzen der Atlantikcharta, zu denen sich auch Stalin bekannt hat, abgingen". Verschiebungen des Gebietsstandes seien grundsätzlich erst nach Kriegsende zu regeln, „und zwar durch frei und fair durchgeführte Volksabstimmungen". Keine britische Regierung, so Schloß Churchill, an deren Spitze er stehe, dürfe „einen Zweifel offen lassen, daß sie sich an die Grundsätze der Freiheit und der Demokratie gebunden erachtet, die in der Atlantikcharta niedergelegt sind, und daß diese Grundsätze ganz besondere Geltung haben, wenn Fragen territorialer Verschiebungen zur Debatte stehen". 1 0 Die Abkehr von dieser apodiktischen Haltung erfolgte bereits nach wenigen Wochen. Churchill hat diesen einschneidenden Sinneswandel in den ersten Wochen des Frühjahrs 1942 in seinen Erinnerungen beschrieben. Anlaß für die Änderung seiner Haltung war eine Neubewertung des sowjetischen Verbündeten im Lichte der militärischen Entwicklung zu Anfang 1942. Da waren einerseits die rasanten Erfolge Japans im fernen Osten, die mit der Eroberung Singapurs am 15. Februar 1942 einen das gesamte Empire erschütternden Höhepunkt erreicht hatten. 1 1 Andererseits beeindruckten die unerwartete Widerstandskraft der Sowjets vor den Toren ihrer Hauptstadt und die Erfolge der Roten Armee bei ihrer anschließenden Winteroffensive gegen die deutsche Wehrmacht, wovon sich Eden durch einen Frontbesuch Mitte Dezember 1941 persönlich ein Bild machen konnte. Churchill spürte, wie er selbst bekannte, „unter dem Druck der Ereignisse die Unmöglichkeit, auf dem Standpunkt der reinen Moral zu beharren". 9
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Hans-Adolf Jacobsen, Der Weg zur Teilung der Welt. Politik und Strategie 1939-1945, Koblenz/Bonn 1979, Dok. 89. Churchill, Amerika im Krieg, S. 367 f. Tyrell, Großbritannien, S. 65. Vgl. dazu Foschepoth, Großbritannien, S. 64 und Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung, S. 124.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
In dem Bewußtsein, auf dem Höhepunkt einer weltweiten, tödlichen Herausforderung zu stehen, die nur mit einem auf Dauer zuverlässigen sowjetischen Bundesgenossen zu bestehen sein würde, bekannte er sich zu seiner neuen Handlungsmaxime mit dem Satz: „In einem Ringen auf Leben und Tod ist es falsch, sich größere Lasten aufzubürden, als man im Kampf für eine große Sache tragen kann." 1 2 In seinen Augen waren die Prinzipien der Atlantikcharta wegen ihrer Starrheit zu einer Belastung des für die Zukunft immer wichtiger werdenden Verhältnisses zu Moskau geworden, kurzum: zu einem Ballast, den es zugunsten flexiblerer und die eigene Aktionsfähigkeit weniger einschränkender Lösungen abzuwerfen galt. Außenminister Eden hatte bereits in seinem Memorandum vom 28. Januar 1942 die neuen Überlegungen des Foreign Office zur Politik gegenüber der Sowjetunion zusammengefaßt. Dieses Memorandum, zweifellos ein Schlüsseldokument für die britische Politik innerhalb der ,Anti-HitlerKoalition', ist wegen seines alternativlosen Grunddogmas einer guten Zusammenarbeit mit Moskau von der neueren Forschung als „AppeasementCharta" (Lothar Kettenacker) bezeichnet worden. 1 3 Der britische Außenminister ging davon aus, daß nach der Niederlage Deutschlands und der langfristigen Schwächung Frankreichs es auf Dauer in Europa kein Gegengewicht zur russischen Großmacht geben werde und zudem die Gefahr eines sowjetischen Alleinerfolgs wie die eines separaten Arrangements mit Berlin verhindert werden müsse. Er forderte deshalb, sich vorrangig auf ein Ziel zu konzentrieren: „die Herstellung enger Beziehungen zur Sowjetunion, deren Politik jetzt noch im Fluß ist, um soviel Einfluß wie nur möglich auf die Gestaltung ihres zukünftigen Kurses auszuüben". 1 4 Ausdruck dieser Einstellung war die von Eden selbst so formulierte Linie der „policy of acquiescence". Mit ihr sollte beim amerikanischen Verbündeten wenigstens die stillschweigende Einwilligung zu den von Moskau geforderten territorialen Zusagen hinsichtlich seiner Westgrenze und des Baltikums erreicht werden, solange der amerikanische Präsident nicht bereit war, öffentlich von seiner unnachgiebigen Haltung zu Grenzregelungen vor einem Friedensschluß abzurücken. Dabei fürchtete London um nichts weniger als um sein politisches Überleben als Großmacht. Nur durch gleichermaßen gute Beziehungen zu Washington und Moskau glaubte England sich in seiner angeschlagenen Position zwischen den beiden stärkeren Flügelmächten auf Dauer behaupten zu können. Eine politisch-militärische Dominanz der UdSSR auf dem europäischen Kontinent oder ein direktes amerikanischsowjetisches Arrangement ließen London befürchten, zu einer zweitrangi12
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Churchill, Die Sturmflut aus Japan, Stuttgart 1952 (= Der Zweite Weltkrieg, Bd. IV, 1), S. 381. Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung, S. 122. DDP, I. Reihe, Bd. 3, S. XIV.
2.1. Schrittweise Aushöhlung der Prinzipien
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gen Macht abzusinken. Nur wenn man in Washington mit Erfolg als Anwalt sowjetischer Interessen auftrat, konnte man als mitspracheberechtigte Großmacht im neuen globalen Mächtegefüge präsent bleiben. 15 Den ersten konkreten Schritt im Rahmen der „policy of acquiescence" unternahm Churchill persönlich in seinem Schreiben an Präsident Roosevelt vom 7. März 1942: „Angesichts des zunehmenden Ernstes der Lage bildet sich in mir die Meinung heraus, daß die Grundsätze der Atlantikcharta nicht so ausgelegt werden sollten, daß Rußland jene Grenzen vorenthalten werden, die es im Augenblick des deutschen Überfalls de facto besaß." Er bat den Präsidenten um „freie Hand zur Unterzeichnung dieses Vertrages, den Stalin so schnell wie möglich unter Dach bringen möchte". Churchill meinte damit jenes englisch-sowjetische Beistandsabkommen, das Eden bei seinem Moskau-Besuch im vergangenen Dezember vorgeschlagen worden war und in dem neben gegenseitiger militärischer Unterstützung in einem zweiten Teil Festlegungen über die europäischen Nachkriegsgrenzen getroffen werden sollten. Darin war vorgesehen, Polen für den Verlust seiner Ostgebiete auf Kosten deutschen Territoriums zu entschädigen. Mit dem Hinweis auf eine bevorstehende deutsche Großoffensive im Osten beschloß der britische Premierminister seine Bitte mit dem fast flehentlichen Satz, es gäbe „so wenig, womit wir dem einzigen Lande helfen können, das mit den deutschen Armeen wirklich im Kampfliegt". 1 6 Dieser letzte Satz Churchills kennzeichnete ein besonders in London empfundenes Dilemma der westlichen Position innerhalb der ,Anti-HitlerKoalition', das solange bestand, wie die Moskau seit dem Herbst 1941 in Aussicht gestellte „Zweite Front" in Europa nicht verwirklicht war. Dies führte im weiteren Verlauf des Krieges nicht zuletzt unter dem Eindruck der gewaltigen Dimensionen des Kriegsgeschehens an der deutsch-sowjetischen Front vornehmlich in England zu einem latenten Schuldkomplex, der gleichsam den Boden bereitete für eine zunehmende politische Konzessionsbereitschaft gegenüber der UdSSR in allen Fragen, die diese dem Westen gegenüber als unverzichtbar für ihre eigene zukünftige Sicherheit darzustellen vermochte. Somit verknüpfte sich das politische Ringen um die „Zweite Front" in den Jahren 1942/43 bereits mit den Problemen der territorialen Nachkriegsgestaltung Ostmitteleuropas. Die sowjetische Führung war sich dieses Zusammenhangs wohl bewußt und entschlossen, das ihr aufgrund ihrer militärischen Rolle zugefallene politische Ubergewicht innerhalb der Kriegskoalition in den kontinentaleuropäischen Nachkriegsfragen konsequent zu nutzen. Sie mußte nur unentwegt und mit Nachdruck die „Zweite Front" fordern, um dann für die zweieinhalb Jahre währenden 15 16
Ebd., S. XVI. Churchill, wie Anm. 12, S. 381 f.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
westalliierten Vertröstungen Zug um Zug Zugeständnisse in den Fragen der europäischen Nachkriegsregelung einzutauschen. 17 Auf diese Weise bereitete der Zwang zur politischen Kompensation gegenüber Moskau territorialen Zugeständnissen gleichsam das Terrain. Doch gewann dieser von London ausgehende Prozeß des Nachgebens gegenüber den Forderungen des Kreml anfangs nur langsam an Boden. Am 12. März 1942 berichtete Churchill Stalin von seinem Vorstoß in Washington: „Ich habe eine Botschaft an Präsident Roosevelt gesandt, in der ich ihn dränge, unserer Unterzeichnung eines Abkommens mit Ihnen über die Grenzen Rußlands bei Kriegsende zuzustimmen." 1 8 Einige Wochen später, am 26. April - die Einladung an Molotov nach London war bereits ergangen - versuchte Churchill während einer vertraulichen Unterredung mit dem exilpolnischen Premierminister Sikorski in Chequers, diesen dafür zu gewinnen, trotz der bestehenden Widerstände den von Stalin gewünschten Vertrag abzuschließen. Zwar verletze dieser die Grundsätze der Atlantikcharta, doch müsse man angesichts des noch sehr weiten Weges bis zum Sieg über Deutschland mit den Russen eine gemeinsame Grundlage finden, wie sie 1939 vergeblich gesucht worden sei. 19 Zu diesem Zeitpunkt, im Frühjahr 1942, war jedoch die amerikanische Seite noch keineswegs bereit, dem britischen Wunsch nach interner Anerkennung sowjetischer Territorialwünsche in der Form zweiseitiger Abmachungen zu entsprechen. Die US-Regierung bekräftigte vielmehr im März 1942 sowohl gegenüber Sowjetbotschafter Litvinov wie gegenüber Sikorski ihre grundsätzliche Haltung, den Prinzipien der Atlantikcharta gemäß keinen Vertrag über Grenzziehungen vor dem Ende des Krieges zu akzeptieren. Die am 25. März von Unterstaatssekretär Sumner Welles dem polnischen Exilpremier gegenüber abgegebene Erklärung ließ in dieser Hinsicht keinerlei Fragen offen und formulierte in ihren drei Kernpunkten einen unmißverständlichen Standpunkt: ,,a) The United States will approve no secret treaty during the course of the present world war. b) The President believes that all questions involving definitive boundaries and territorial readjustments in Europe should be determined only after the war is won.
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I. M. Maiski, Memoiren eines sowjetischen Botschafters, (Ost) Berlin 1967, S. 666 ff. u. 711 ff. Die unheilige Allianz. Stalins Briefwechsel mit Churchill 1941-1945, Reinbek 1964, Dok. 35. Alexander Uschakow, Stalins Anteil an der Entstehung der Oder-Neiße-Linie, in: Das Potsdamer Abkommen und die Deutschlandfrage, I. Teil: Geschichte und rechtliche Grundlagen, hg. von Friedrich Klein und Boris Meissner, Wien-Stuttgart 1977, S. 71.
2.1. Schrittweise Aushöhlung der Prinzipien
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c) The policy of the United States is clearly set forth in the principles enunciated in the Atlantic-Charter." 20 So mußte sich Stalin in seinen beiden mit London und Washington am 26. Mai und 11. Juni 1942 geschlossenen Abkommen notgedrungen mit Bündnis- und Beistandsverträgen begnügen, die unter ausdrücklichem Bezug auf die Atlantikcharta die Frage der territorialen Nachkriegsgestaltung Europas gänzlich beiseite ließen. Nochmals hatte sich Roosevelts Prinzipienfestigkeit gegen Londons „policy of acquiescence" durchgesetzt. 21 Indessen ließ der Umschwung nicht lange auf sich warten. Schon in der zweiten Jahreshälfte 1942 zeichnete sich eine Änderung in der amerikanischen Haltung ab; insbesondere nach Außenminister Cordeil Hulls Rede vom 23. Juli des Jahres mit ihrer auffälligen Betonung der amerikanischsowjetischen Freundschaft und der notwendigen Einigkeit unter den Alliierten. 2 2 In dem Maße, wie aus amerikanischer Sicht der Krieg zunehmend zu einem weltweiten Ringen fundamentaler moralischer Prinzipien wurde, und Roosevelt sein gegenüber Molotov bereits Ende Mai 1942 erläutertes Projekt der .Vereinten Nationen' unter der Schutzherrschaft der vier .Weltpolizisten' verfolgte, wurde Moskau zu einem immer wichtigeren Partner für die angestrebte Weltfriedensordnung, dessen langfristige Freundschaft es unbedingt zu gewinnen galt. Für den US-Präsidenten und seine politischen Berater, deren Überlegungen zunehmend globalere Formen gewannen, verloren die Probleme der kleineren Nationen mehr und mehr an Bedeutung oder verlangten, soweit sie das Klima innerhalb der Kriegskoalition zu stören drohten, nach immer rascheren, notfalls auch diktierten Lösungen. So verließ Wladyslaw Sikorski bei seinem letzten Besuch in Washington im Januar 1943 die US-Hauptstadt „zum ersten Mal mit der Befürchtung, die amerikanische Politik könne in eine Beschwichtigung der Sowjets abgleiten". 23 Unabhängig von seinen konkreten Ergebnissen hatte Sikorskis Washington-Besuch an der Jahreswende 1942/43 doch etwas bis dato Neues gebracht: Indem sie das polnische Grenzmemorandum vom 7. Dezember 1942 mit seiner Forderung nach der Oder als zukünftiger Sicherheitslinie gegenüber Deutschland entgegennahmen, hatten sich die USA einen entscheidenden Schritt von ihrem bisher streng geübten Prinzip, vorzeitige Grenzdiskussionen zu verweigern, entfernt. Roosevelt selbst war es, der in der ersten Unterredung mit dem polnischen Exilpremier am 2. Dezember die Grenzfrage Polens im Westen ansprach
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Polonsky, The Great Powers, Dok. 34: dazu auch Tyrell, Großbritannien, S. 70 f. Foschepoth, Großbritannien, S. 67. Jan Ciechanowski, Vergeblicher Sieg, Zürich 1948, S. 123 f. Ebd., S. 140. Vgl. dazu DDP, I. Reihe, Bd. 3, S. XVII.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
und dessen Besitzanspruch auf Ostpreußen prinzipiell anerkannte („Yes, East Prussia should be yours [...]")· 24 Inzwischen hatte auch die US-Administration damit begonnen, sich über die Gestaltung der europäischen Nachkriegsgrenzen konkrete Gedanken zu machen. Eine Stellungnahme der Europa-Abteilung des State Department vom 9. Dezember forderte für Polen einen freien und ungefährdeten Zugang zum Meer, wofür die Annexion Ostpreußens durch Polen als ein vernünftiges Mittel betrachtet wurde. Eine weitere Empfehlung zur deutschpolnischen Grenze unterstützte mit Nachdruck den Gedanken, „that Germany should not have an enclave into the vitals of Poland and also that greatest security for Polands access to the sea be assured". 2 5 Am Ende stand die Feststellung, daß Sikorskis Plan eine ganze Reihe von Punkten enthalte, die von den Prinzipien der Atlantikcharta und der Erklärung der Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942 abwichen: „Die Forderungen formulieren im wesentlichen Polens nationalistische Maximalforderungen. Es wird vorgeschlagen, General Sikorski darauf hinzuweisen, daß wir sie als solche auffassen." 2 6 Wenngleich der polnische Exilpremier außer den Zusicherungen über Ostpreußen und Polens freien Zugang zur Ostsee keine konkreteren Zusagen über weitere territoriale Gewinne mit nach London nehmen konnte, war hier an der Schwelle des Jahres 1943 doch eine Wendung weg von der bisherigen Washingtoner Politik des „postponement" im Sinne einer strengen Auslegung der Atlantikcharta vollzogen. Der Präsident und seine Administration hatten sich erstmals mit eigenen Vorschlägen auf eine konkrete Diskussion über europäische Nachkriegsgrenzen eingelassen. Im Frühjahr 1943 wurde Roosevelts Haltung in der polnischen Territorialfrage auffallend beweglich. Gegenüber dem erstaunt reagierenden Eden meinte er Mitte März 1943 in Washington, „that if Poland had East Prussia and perhaps some concessions in Silesia it would gain rather than lose by agreeing to the Curzon line". 2 7 Für den amerikanischen Präsidenten war die polnische Gebietsfrage inzwischen vorrangig zu einem Problem der Großmächte geworden. Auf Edens Bemerkung, Polen wolle seine (Ost)Grenzen, „wie sie vor dem Krieg bestanden", antwortete der Präsident ungehalten: „Schließlich hätten die Großmächte zu bestimmen, was Polen haben sollte, und er habe nicht die Absicht, sich zur Friedenskonferenz zu begeben, um mit Polen und anderen kleinen Staaten zu verhandeln. Was Polen angehe, so werde es sich darum handeln, es so wieder aufzurichten, daß es seinen Teil dazu beitragen könne, den Frieden in der 24 25 26 27
Miklejohn Terry, Poland's Place in Europe, S. 302. Ebd., S. 303. DDP, I. Reihe, Bd. 2, S. XX. Foschepoth, Großbritannien, S. 71.
2.1. Schrittweise Aushöhlung der Prinzipien
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Welt zu wahren." 2 8 Damit lag Roosevelt fast schon auf derselben dirigistischen Linie, die vier Wochen später der Unterstaatssekretär des britischen Foreign Office, Orme Sargent, vertrat, als er vorschlug, die Großmächte sollten in einem „comprehensive settlement" die Westverschiebung Polens untereinander beschließen und gleichzeitig die übrigen territorialen Forderungen der Sowjetunion, zum Beispiel im Baltikum, anerkennen. 2 9 Im Mai 1943 folgte die US-Regierung dem Schritt der Briten vom August des Vorjahres, das Münchener Abkommen vom September 1938 formell zu annullieren. Der tschechoslowakische Exilpräsident Benes nahm während seines Amerika-Aufenthalts in einem Gespräch mit Roosevelt am 7. Juni 1943 dessen Bitte zur Kenntnis, er, Benes, möge bei seinen anstehenden Moskauer Gesprächen Stalin die Auffassung des US-Präsidenten zur Frage der baltischen Staaten übermitteln. „The United States are not able and do not intend to hinder their final annexion to the Soviet Union", notierte Benes die Worte des Präsidenten, „but must respect world opinion and there fore it is a question of finding the form and procedure which will calm public opinion." Hinsichtlich Polens vermerkte Benes, Roosevelt erwarte, „that the final solution will be the Curzon line somewhat modified in Poland's favour and the incorporation of East Prussia in Poland. He considers this a just and right compensation which the Poles could and should accept. He agrees to the transfer of the minority populations from Eastern Prussia, Transsylvania and Chechoslowakia." 30 Benes Schloß seine Eindrücke aus Washington mit der Einschätzung: „I realised that the United States had already taken a definite attitude: that, essentially, they had accepted the view of the Soviet Union on the question of changing the former Eastern frontier of Poland and that in principle they agreed that there would have to be an agreement between Poland and the Soviet Union [...] In particular, I came to the conclusion, that the ideas of the London Poles [...] who believed that the Polish demands against the Soviet Union were supported by the United States were illusions or pious hopes [...]." 31 Passend dazu vertraute kurz darauf, während der ersten Quebec-Konferenz vom 11. bis 24. August 1943, Roosevelts Sonderemissär Harry Hopkins Eden an, der Präsident denke mittlerweile über die sowjetischen Grenzansprüche ähnlich wie Eden selbst und habe sich bereits in diesem Sinne gegenüber Litvinov und Molotov geäußert. 3 2 Während Außenmini28
Robert E. Sherwood, Roosevelt und Hopkins, Hamburg 1948, S. 581 f. Foschepoth, Großbritannien, S. 70; Polonsky, The Great Powers, Dok. 49, Anm. 1. 3 ® Memoirs of Dr. Eduard Benes. From Munich to New War and New Victory, London 1954, S. 195. 31 Ebd., S. 185. 32 Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung, S. 460.
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ster Hull sich noch sträubte, über territoriale Fragen zu reden, war Roosevelt unter dem Einfluß von Unterstaatssekretär Sumner Welles schon zu diesem Zeitpunkt bereit, beim ersten Gipfeltreffen der alliierten Regierungschefs Stalin persönlich mitzuteilen, daß er die sowjetische Westgrenze von 1941 akzeptieren wolle, wobei er, ähnlich wie Eden, noch auf kleinere Gebietskonzessionen Moskaus zugunsten Polens hoffte. 33 Ein gutes Verhältnis zum sowjetischen Bündnispartner hatte nunmehr, wie zuvor schon in London, auch für Washington einen Stellenwert bekommen, der die Ansprüche kleinerer Bündnispartner ebenso in den Hintergrund drängte wie die Prinzipien der Atlantikcharta. Wie sehr man auch hier inzwischen ganz britisch dachte, illustrierte eine Analyse des amerikanischen Generalstabs vom 10. August 1943 über die Nachkriegssituation in Europa, wonach es nach Deutschlands Zusammenbruch auf dem Kontinent keine Macht geben werde, die sich Rußlands gewaltiger militärischer Kraft entgegenstellen könnte. „Da Rußland im Kriege den entscheidenden Faktor darstellt", so lautete die Schlußfolgerung, „muß es jeglichen Beistand erhalten, und alles muß aufgeboten werden, es zum Freunde zu gewinnen. Da es nach der Niederlage der Achse ohne Frage die Vorherrschaft in Europa haben wird, ist die Entwicklung und Aufrechterhaltung der freundschaftlichsten Beziehungen zu Rußland nur um so wichtiger." 34 Unter solchen Voraussetzungen blieb der polnischen Exilregierung seit dem Sommer 1943 nur noch die Wahl, der bereits anvisierten internen Verständigung der Großmächte über Polens Nachkriegsgrenzen zuzustimmen, oder aber erleben zu müssen, daß - wie im November 1943 in Teheran geschehen - diese das Problem ohne polnische Beteiligung unter sich regelten. Londons „policy of acquiescence" hatte sich innerhalb eines Jahres gegen das amerikanische „postponement" durchgesetzt und Washington mit auf ihre Seite gezogen. Nachdem sich die Großmächte einmal auf territoriale Nachkriegsabsprachen vor dem Ende des Krieges eingelassen hatten, gab es kein Zurück mehr in die Zeit vor Teheran. Ein letzter Versuch Churchills scheiterte, sich angesichts der hoffnungslosen Unfähigkeit zur Verständigung zwischen Moskau und der polnischen Exilregierung Stalin gegenüber wieder auf die Prinzipien der Atlantikcharta zurückzuziehen. Die vom britischen Premierminister am 21. März 1944 gegenüber dem Sowjetdiktator angekündigte Unterhauserklärung zum polnischen Problem, wonach nunmehr „alle Fragen über territoriale Veränderungen bis zu den Waffenstillstands- oder Friedenskonferenzen der Siegermächte vertagt" werden müßten und in der Zwischenzeit keinerlei gewaltsame Gebietsveränderungen anerkannt werden könnten, wurde nicht abgegeben.
33 34
Brandes, Großbritannien, S. 480. Jacobsen, Der Weg zur Teilung der Welt, Dok. 173.
2.1. Schrittweise Aushöhlung der Prinzipien
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Stalins mehr als deutliche Ermahnung vom 23. März („Bedeutet das vielleicht, daß Sie unsere in Teheran erzielten Vereinbarungen nicht mehr anerkennen und bereit sind, das Abkommen von Teheran zu verletzen?"), die er mit der Drohung verband, eine Erklärung der beabsichtigten Art werde er „als einen von Ihnen begangenen, ungerechten und unfreundlichen Akt gegenüber der Sowjetunion ansehen", ließ Churchill zurückstecken und seine Absicht vergessen. 35 Wie für London besaßen auch für Washington die Prinzipien der Atlantikcharta keine drei fahre nach ihrer Verkündung in der Placentia Bay wenig mehr als deklamatorischen Charakter. Wie empfahl doch das amerikanische Post-War Commitee des State Department seiner Regierung am 17. Juli 1944: „The United States should maintain its declared policy that individual territorial questions should be settled preferably within the framework of the general structure of peace. While this policy implies the postponement of decisions until after the cessation of hostilities, we should recognize that it might be possible and desirable to settle certain territorial disputes before that time." 3 6
2.2. Grenz- und Umsiedlungspläne innerhalb des exilpolnischen und westalliierten Lagers bis zur Jalta-Konferenz Daß Polen als Konsequenz aus der Septemberkatastrophe von 1939 in der Zukunft kürzere und strategisch günstigere Grenzen zu Deutschland erhalten müsse, war eine Forderung, die von Beginn der polnischen Emigration an in den unterschiedlichsten Formen geltend gemacht wurde. Dabei hing die Höhe der Forderungen nach einer territorialen Ausdehnung Polens auf Kosten Deutschlands von der jeweiligen politischen Orientierung der einzelnen Parteien und Lager Exilpolens ab, während die Haltung zur Ostgrenze von 1939 eher einen übergreifenden nationalen Konsens repräsentierte. Gemäß ihrer Verwurzelung in den Ideen ihres Gründers und programmatischen Ahnherren, Roman Dmowski, strebten die Nationaldemokraten (Narodowa Demokracja, Abk. ND) schon frühzeitig nach der Oder-
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Die unheilige Allianz, wie Anm. 18, Dok. 256 u. 257; dazu auch W. Averell Harriman, In geheimer Mission. Als Sonderbeauftragter Roosevelts bei Churchill und Stalin 19411946, München 1981, S. 2 6 0 f. Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung, S. 461.
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Grenze als natürlicher polnischer Sicherheitslinie im Westen unter Beibehaltung der Ostgrenze des Rigaer Vertrags von 1921. Die Christlich-Soziale Arbeitspartei (Stronnictwo Pracy, Abk. SP) forderte anfangs nur die Annexion Ostpreußens, die Bäuerliche Volkspartei (Stronnictwo Ludowe, Abk. SL) sprach von einem breiten Zugang zur Ostsee und von der Oder-Linie, während die PPS-Nachfolgegruppierung .Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit' (Wolnosc, Równosc, Niepodleglosc, Abk. WRN) ihrer .jagiellonischen' Traditionslinie entsprechend mehr nach Osten blickte und im Hinblick auf die Westgrenze mit der Forderung nach Oberschlesien und Teilen Pommerns eher ein Minimalprogramm verfolgte. Am weitesten reichten die Forderungen des halbfaschistischen .Nationalradikalen Lagers' (Oboz Narodowo Radykalny, Abk. ONR) und der alten Sanacja-Anhängerschaft, die beide in Opposition zur Londoner Exilregierung standen und neben Ostpreußen und Danzig alle Gebiete bis zu Oder und Lausitzer Neiße sowie eine davorgelagerte Verteidigungslinie beanspruchten. 1 Zu den vielfältigen Stimmen des Exils - allein in England existieren zeitweilig 22 polnische Presseorgane - gesellten sich bald schon die in ihren territorialen Forderungen zumeist radikaleren des Untergrunds in der besetzten Heimat, die wiederum - je nach politischer Färbung - von dem einen oder anderen Lager des Exils aufgegriffen und publizistisch vertreten wurden. So veröffentlichte im Oktober 1941 das inoffizielle Regierungsorgan Exilpolens, der .Dziennik Polski', einen bereits Monate zuvor von der Untergrundzeitung .Szaniec' veröffentlichten Aufsatz unter dem Titel „Unsere Kriegsziele". Darin hieß es wörtlich: „Polen muß ganz Ostpreußen und im Westen zumindest die Linie der unteren Oder (die Mündung mit beiden Ufern) sowie ganz Schlesien bis an die Lausitzer Neiße wiedergewinnen." Zum Problem des Bevölkerungstransfers war zu lesen: „Dem polnischen Volk wird das Recht zustehen, die ganze deutsche Bevölkerung nach freiem Ermessen der zuständigen polnischen Behörden nach Deutschland auszusiedeln, ohne Rücksicht auf eine eventuelle Option dieser Bevölkerung." Für diejenige deutsche Bevölkerung, „die seit langem auf polnischem Boden ansässig ist", war eine Entschädigung vorgesehen, die jedoch die deutsche Regierung zu zahlen habe, ebenso wie auch die Kosten der Aussiedlung durch Deutschland selbst zu tragen seien. 2 Damit war bereits im Herbst 1941 die spätere Oder-Neiße-Linie einschließlich eines generellen und ausnahmslosen Bevölkerungstransfers von einer prominenten exilpolnischen Stimme ins Spiel gebracht worden. Im Jahr darauf forderte auch das Mitglied des polnischen Exilkabinetts, der nationaldemokratische Poli-
Brandes, Großbritannien, S. 106; Marian Orzechowski, Polish Conceptions of the PolishGerman Frontier during World War II, in: PWA, Bd. XI, Nr. 2/1970, S. 251-253. Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dok. 9a.
2.2. Grenz-und Umsiedlungspläne
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tiker Marian Seyda, in einer englischsprachigen Buchpublikation die Besetzung Deutschlands durch Polen nach Kriegsende bis zur „natürlichen Grenze" der Flußläufe von Oder und Lausitzer Neiße. 3 Zurückhaltender als die Exilpublizistik äußerte sich - zumindest in der Öffentlichkeit - die polnische Exilregierung, die erstmals am 18. Dezember 1939, damals noch in ihrem ersten Domizil in Paris ansässig, „neben einem unmittelbaren und breiten Zugang zum Meer" eine Grenze, die „dauernde Sicherheit gewährt", verlangte. Kurz darauf präzisierte der Leiter der Deutschland-Abteilung des exilpolnischen Außenministeriums die damaligen polnischen Vorstellungen dahingehend, daß Deutschland Ostpreußen sowie einen Teil Oberschlesiens abtreten sollte und dafür als Ausgleich einen Landstreifen westlich von Bromberg und Posen erhalten könnte. 4 Am 19. Februar 1940 zählte Exilaußenminister Zaleski in einem Rundschreiben an die polnischen diplomatischen Vertretungen die Aussiedlung der Deutschen aus Polen und Ostpreußen zu den polnischen Kriegszielen, wozu sich Anfang März auch Vizepremier Mikolajczyk vor dem Nationalrat, dem Londoner Exilparlament, bekannte. 5 Zu dieser Zeit, im Frühjahr 1940, erarbeitete der exilpolnische Generalstab bereits Varianten für die Verwaltung Ostpreußens und Schlesiens, wobei die meisten Pläne von einer Grenzlinie Stettin- Frankfurt/Oder-Breslau ausgingen.6 Der weitere Verlauf des Jahres 1940 führte angesichts der deutschen Besatzungspolitik in Polen und der Eskalation des Krieges in Europa zu einer Radikalisierung der polnischen Forderungen. Besonders im Herbst des Jahres wuchs unter dem Eindruck der massiven deutschen Bombardements englischer Städte das Verständnis in der britischen Öffentlichkeit, gegenüber Deutschland Maximalforderungen zu stellen. Diese Stimmungswende ermutigte die Exilregierung, am 20. November 1940 dem Foreign Office ein Memorandum über Polens Kriegsziele und seine Vorstellungen zu einer europäischen Nachkriegsordnung vorzulegen.7 Darin wurde zur Stärkung Polens gegenüber Deutschland die Übergabe Ostpreußens und Danzigs gefordert. Im Westen sollte die polnisch-deutsche Grenze verkürzt und von den strategisch wichtigen Häfen Danzig und Gdingen wegverlegt werden. Zudem verlange die geplante polnisch-tschechoslowakische Föderation - zu jener Zeit sowohl ein Lieblingsprojekt von Ministerpräsident Sikorski als auch der britischen Diplomatie - eine Verlängerung der gemeinsamen
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Ebd., Dok. 14. Marian Seyda, Poland and Germany and the Post-War Reconstruction of Europe, London 1942. Brandes, Großbritannien, S. 61 f. Viktoria Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage 1939-1949, Köln 1970, S. 39. Brandes, Großbritannien, S. 61 f. Ebd., S. 106 f.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
Grenze in Schlesien. 8 Ohne den geplanten Grenzverlauf im Detail zu beschreiben, wurde darauf verwiesen, daß die östlich der Oder gelegenen Gebiete des Reiches, also Ostpreußen, Preußisch-Pommern und PreußischSchlesien einen großen Anteil polnischsprachiger oder im Zuge der deutschen Politik von ihrer polnischen Nationalität entfremdeten Bevölkerung enthalte. Auf das Problem des Bevölkerungstransfers ging das Memorandum nicht ein. Dies stieß schon damals auf die Kritik des polnischen Generalstabs, der nach deutschem und sowjetischem Vorbild die Aussiedlung der gesamten deutschen Bevölkerung aus allen an Polen oder die Tschechoslowakei übertragenen Gebieten forderte. Anfang 1941 äußerte der stellvertretende Exilaußenminister Raczyñski Eden gegenüber, daß die Deutschen aus Ostpreußen ins Reich ausgesiedelt werden müßten. Hitler habe in den „eingegliederten" polnischen Gebieten demonstriert, wie solche Probleme zu lösen seien. 9 Ein zweites Regierungsmemorandum, das Exilpremier Sikorski anläßlich seiner ersten USA-Reise im April 1941 formulierte, jedoch zu keinem Zeitpunkt seines Besuches der amerikanischen Seite unterbreitete, wiederholte im wesentlichen die Forderungen des NovemberMemorandums, indem es auf die Widersinnigkeit jener polnischen Westgrenze, die der Versailler Vertrag festgelegt hatte, verwies und Ostpreußen, Preußisch-(Ost)Pommern sowie Oberschlesien forderte. Eine grundlegend neue Situation brachte der Sommer 1941. Hitlers Angriff vom 22. Juni machte Exilpolen und die Sowjetunion quasi über Nacht zu Kriegsalliierten und zwang sie, sich unter britischer Vermittlung diplomatisch zu arrangieren. Das Resultat war der nach schwierigen Verhandlungen und unter starkem britischem Druck zustandegekommene polnisch-sowjetische Vertrag vom 30. Juli 1941. Das Abkommen erklärte zwar die Ungültigkeit der deutsch-sowjetischen Teilungsvereinbarung vom 28. September 1939 (Artikel 1) und enthielt einen formellen Freundschaftsund Beistandspakt (Artikel 2 und 3), ließ aber die Grenzfrage zwischen beiden Ländern gänzlich offen. 1 0 Die Sowjets hatten sich trotz aller polnischer Anstrengungen selbst unter den für sie kritischen Bedingungen des Sommers 1941 nicht auf einen territorialen Status quo ante (17. 9. 1939) festlegen lassen. Dies führte innerhalb des polnischen Exilkabinetts durch den Rücktritt dreier Regierungsmitglieder, darunter Außenminister Zaleskis, zu einer schweren Zerreißprobe. Der polnische Versuch, in dieser Situation von Großbritannien offiziell wenigstens die beiden Garantieerklärungen des Jahres 1939 im Sinne einer Grenzgarantie interpretieren zu lassen, schlug auch diesmal - wie schon im Herbst 1939 - fehl. Anthony Eden erklärte dazu am 30. Juli in der Unterhausdebatte über den polnisch8 9 10
Tyrell, Großbritannien, S. 368 f. Brandes, Großbritannien, S. 108; DDP, I. Reihe, Bd. 1, S. XLIII f. Polonsky, The Great Powers, Dok. 17 u. 18.
2.2. Grenz-und Umsiedlungspläne
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sowjetischen Vertrag vom gleichen Tage auf entsprechende Anfragen, daß der britisch-polnische Notenaustausch anläßlich dieses Vertrages die Gültigkeit der englischen Garantieerklärung vom 25. August 1939 nicht berühre und damit „seitens der Regierung Seiner Majestät nicht die Übernahme einer Grenzgarantie" einschließe. 11 Dennoch hoffte man britischerseits und wohl auch in Teilen der polnischen Exilregierung (Sikorski) auf eine gewisse später einzufordernde .Fairness' der UdSSR gegenüber Polen in der Grenzfrage. Churchill selbst hat diese damalige Hoffnung in seinen Erinnerungen wie folgt beschrieben: „Andererseits konnten wir in diesem Sommer 1941 [...] den neuen und schwer bedrohten Bundesgenossen nicht zwingen, Grenzgebiete - sei es auch nur auf dem Papier - aufzugeben, die er seit Generationen als lebenswichtig für seine Sicherheit betrachtet hat. Es gab keine Lösung. Die Frage des künftigen Gebietsstandes Polens mußte auf ruhigere Zeiten zurückgestellt werden. Wir hatten die wenig beneidenswerte Pflicht, General Sikorski zu empfehlen, sich hinsichtlich der künftigen Regelung der russisch-polnischen Beziehungen auf den guten Willen der Sowjets zu verlassen und in diesem Moment auf alle schriftlichen Garantien für die Zukunft zu verzichten. Ich persönlich hoffte zuversichtlich, daß die Hauptalliierten auf Grund vertiefter Waffenkameradschaft gegen Hitler in der Lage sein würden, die territorialen Fragen auf freundschaftliche Weise am Konferenztisch zu lösen." 1 2 Zu diesem Zeitpunkt waren sich nahezu alle politischen Lager Exil- und Untergrundpolens darin einig, daß es bei allen Plänen zur Gebietserweiterung gegenüber Deutschland keine Abkehr von der Ostgrenze des Rigaer Vertrags von 1921 geben dürfe und Gebietsgewinne im Westen und an der Ostseeküste unter keinen Umständen als »Kompensation' für verlorene Gebiete im Osten zu betrachten seien. Als im Dezember 1941 Stalin gegenüber General Sikorski bei dessen Moskau-Besuch den ersten vorsichtigen Vorstoß für eine Kompensationslösung unternahm - kleinere polnische Territorialzugeständnisse, das berühmte „cut, cut", gegen eine polnische Westausdehnung möglicherweise bis zur Oder - verweigerte der exilpolnische Premier unter Hinweis auf die polnische Aprilverfassung von 1935 jede Diskussion über dieses Thema. 1 3 Zur Bekräftigung dieser Haltung betonte der exilpolnische Nationalrat am 17. März 1942 die unveränderte Gültigkeit des Vertrags von Riga und unterstrich das polnische
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Churchill, Amerika im Krieg (= Der Zweite Weltkrieg, Bd. III, 2), S. 23f.; Ciechanowski, Vergeblicher Sieg, S. 50. Churchill, ebd., S. 22f. Mildejohn Terry, Poland's Place in Europe, S. 246-254; Ciechanowski, Vergeblicher Sieg, S. 86 ff.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
Interesse an der Unabhängigkeit Litauens, dessen Anspruch auf Wilna er jedoch zurückwies. 14 Im Laufe des Jahres 1942 intensivierte sich die exilpolnische Diskussion um die künftige Westgrenze Polens weiter, zumal sich auch der Untergrund in der besetzten Heimat wieder zu Wort meldete. Bereits Ende 1941 hatte die Londoner Exilregierung von ihrer im Untergrund tätigen Repräsentantin, der Landesdelegatur, einen Grenzvorschlag erhalten, der als Teil eines künftigen Friedensvertrags gedacht war. Dort wurde, nunmehr auf gleichsam offizieller Ebene, die Einverleibung Ostpreußens, Danzigs und des Oppelner Schlesiens sowie eine Grenzlinie gefordert, die von Kolberg aus in südlicher Richtung durch Pommern bis zur Mitte Ostbrandenburgs verlief. Diese Anregung aufgreifend, teilte die Exilregierung der Landesdelegatur in einer Depesche vom 8. Februar 1942 mit, daß sie die Linie Kolberg-Crossen-Oder-Glatzer Neiße im Grundsatz als die Grenze Polens im Westen favorisiere. 15 Sikorski verzichtete jedoch bei seiner zweiten Amerikareise im März des Jahres mit Rücksicht auf die Prinzipien der Atlantikcharta darauf, dem US-Präsidenten oder dem State Department irgendwelche Grenzvorschläge für die Nachkriegszeit zu unterbreiten. Gerade in dieser Situation, in der sich Polen mit sowjetischen Gebietsforderungen im Osten konfrontiert sah, empfand es der Exilpremier als inopportun, die Prinzipien, die Polen bei der Sicherung seiner Ostgrenze in Anspruch nahm, hinsichtlich seiner Westgrenze selber in Frage zu stellen. 16 Mit der Evakuierung der Anders-Armee aus der UdSSR im Sommer 1942 hatte sich das exilpolnisch-sowjetische Verhältnis zu verschlechtern begonnen. Da in dieser Situation das Festhalten Roosevelts an den Grundsätzen der Atlantikcharta eine entscheidende Stärkung der polnischen Position gegenüber den Forderungen Moskaus im Osten bedeutete, ließ die Londoner Exilregierung die Bereitschaft zu Abstrichen an ihren eigenen Gebietsforderungen im Westen erkennen. 17 Wohl wissend um die eigene Verwundbarkeit gegenüber solchen Argumenten, verlegte man die Begründung dieser Forderungen von historisch-ethnographischen hin zu sowohl strategisch-sicherheitspolitischen wie ökonomisch-demographischen Argumenten. 18 Anfang Oktober 1942 lehnte der polnische Ministerrat nach einer Diskussion der Grenzvorschläge Marian Seydas die Lausitzer Neiße als polnische Staatsgrenze einstimmig ab. 19 „In höchstem Maße schädlich",
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Brandes, Großbritannien, S. 276. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 25. Siehe auch die dort abgebildete Karte aufS. 171. Miklejohn Terry, Poland's Place, S. 106. DDP, I. Reihe, Bd. 2, S. XVIII. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 24. Brandes, Großbritannien, S. 406.
2.2. Grenz-und Umsiedlungspläne
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so in seinem Beschluß vom 7. d.M. dazu, „ist das Aufstellen phantastischer territorialer Forderungen, die bis zu Lausitzer Neiße oder Bober reichen oder ganz Niederschlesien umfassen mit einer fanatisch antipolnischen Bevölkerung, denn die Zahl der Deutschen in Polen würde dann 9 Millionen überschreiten und natürlich wäre eine Austreibung in diesem Maße undurchführbar." Im Hinblick auf Exilpolens internationale Lage Schloß der Ministerrat mit der Mahnung: „Die Aufstellung solcher uferloser Territorialforderungen diskreditiert die Polen in den Augen der Angelsachsen als Volk von ungehemmter Eroberungslust, was in fataler Weise unseren realen Wünschen und Bestrebungen im Westen schaden kann." 2 0 Deutlicher noch demonstrierte die polnischen Befürchtungen der Ministerratsbeschluß vom 14. Oktober des Jahres, in dem die Sorge geäußert wurde, „die Aufstellung übergroßer polnischer Forderungen im Westen könnte beim gegenwärtigen Stand der Dinge den Gedanken fördern, Polen im Austausch für Gewinne im Westen eines Teils seiner Gebiete im Osten zu berauben". 2 1 Aus dieser Grundhaltung, die nichts mehr fürchtete als eine mögliche Kompensationslösung, entstand das Dezember-Memorandum von 1942, das von Sikorski anläßlich seiner dritten USA-Reise am 5. Dezember an Unterstaatssekretär Sumner Welles übergeben wurde. Darin war eine Grenze an der Oder und Glatzer Neiße ohne Stettin und Breslau vorgesehen. Der .schlesische Keil' sollte nicht beseitigt, aber „beträchtlich verkürzt und verengt" werden, wobei insbesondere auf die strategische Bedeutung des oberschlesischen Industriereviers verwiesen wurde. Des weiteren sprach das Memorandum von der Notwendigkeit einer „strikten Okkupation" deutschen Gebiets bis zu einer Linie vom linken Ufer der Lausitzer Neiße über das linke Oderufer, die Odermündung einschließlich Stettins und der beiden Inseln Wollin und Rügen. In welchem Umfang diese Gebiete oder Teile davon zur späteren Angliederung an Polen bestimmt waren, ließ man wohl mit Absicht im unklaren, da von Territorien gesprochen wurde, „deren Eingliederung in andere Staaten vorgesehen [...] oder deren Okkupation vom militärischen Standpunkt aus unerläßlich ist". Das abschließende Kapitel über „das Problem der deutschen Bevölkerung" ging davon aus, daß große Teile von ihr „aus eigenem Antrieb unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen" diese Gebiete verlassen würden; die übrigen seien dann zwangsweise auszusiedeln. 22 Roosevelt beschränkte sich auf zustimmende Äußerungen im Hinblick auf Ostpreußen und Polens
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Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 26. Ebd., S. 32. Miklejohn Terry, Poland's Place, S. 110 f.; DDP, I. Reihe, Bd. 2, S. XIX; Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 27 f.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
Recht auf einen möglichst breiten Ostseezugang, ohne irgendwelche weitergehenden Zusagen zu machen. 2 3 Mit der rapiden Verschlechterung des polnisch-sowjetischen Verhältnisses im Frühjahr 1943 konzentrierte die britische Diplomatie ihre Anstrengungen darauf, das Einvernehmen und die Kooperationsfähigkeit der Mächte innerhalb der .Anti-Hitler-Koalition* sicherzustellen. Dabei galt es, zum einen der Gefahr entgegenzuarbeiten, daß sich der polnisch-sowjetische Konflikt zu einem gefährlichen Störpotential innerhalb der Kriegskoalition allgemein wie im britischen Verhältnis zu Moskau im besonderen entwickelte. Zum anderen drohte, ohne die Beilegung des Konflikts, Polens Rolle als unabhängige Macht und mit ihr eine entscheidende Voraussetzung für eine stabile europäische Nachkriegsordnung langfristig auf dem Spiel zu stehen. Ging es der englischen Politik bis dahin im wesentlichen darum, wie zweckmäßig polnische Gebietsforderungen gegenüber Deutschland im Hinblick auf strategische und sicherheitspolitische Überlegungen waren, zielte von nun an Englands Energie darauf, durch das Drängen auf Kompromisse politischen Zündstoff im Kriegsbündnis beiseite zu räumen. 2 4 Territoriale Saturierung erschien dafür das geeignete Rezept zu sein, also mit anderen Worten die Forderung, die Churchill zum Auftakt des TeheranGipfels im November 1943 so formulierte, „daß die Nationen, die die Welt nach dem Krieg regieren würden [...], zufriedengestellt seien und keinen territorialen oder anderen Ehrgeiz haben würden". 2 5 In der gegebenen Situation war die Frage entscheidend, mit welchen Zusagen und Angeboten die polnische Exilregierung zur Annahme der Curzon-Linie zu bringen war, um eine schnelle Regelung des polnischsowjetischen Grenzstreits im Interesse des gesamten Kriegsbündnisses herbeizuführen. 2 6 Nachdem das Foreign Office in einer Kabinettsvorlage vom März 1943 die Abtretung Ostpreußens, Danzigs und Oberschlesiens (den Regierungsbezirk Oppeln beiderseits der Oder) an Polen vorgeschlagen hatte, trat Churchill bei einem Essen mit Sikorski, Raczyñski und Staatssekretär Cadogan am 15. April offen für den Kompensationsgedanken ein und bot sich der Exilregierung als Vermittler zur Sowjetführung an. Die Polen weigerten sich jedoch, darauf einzugehen. 27 In seiner nächsten Kabinettsvorlage vom 27. September 1943, die zur Vorbereitung auf die Moskauer Außenministerkonferenz gedacht war, erweiterte das Foreign Office seine territorialen Empfehlungen zugunsten 23 24 25
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Miklejohn Terry, ebd., S. 302 f. Vgl. dazu Tyrell, Großbritannien, S. 380f. Teheran, Jaita, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der .Großen Drei', hg. u. eing. von Alexander Fischer, Köln 1973, S. 69. Tyrell, Großbritannien, S. 301 f. Ebd., S. 377 u. 380.
2.2. Grenz-und Umsiedlungspläne
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Polens und schlug nunmehr die Übergabe Ostpreußens, Danzigs und „beträchtlicher Teile Schlesiens, einschließlich des Regierungsbezirks Oppeln" vor. Außerdem wurde ausdrücklich festgestellt, daß zumindest Teile der deutschen Bevölkerung aus den an Polen fallenden Gebieten ausgesiedelt werden sollten. 28 Am 5. Oktober nahm das britische War Cabinet in seiner Mehrheit das Memorandum des Foreign Office zustimmend zur Kenntnis, ohne bereits für ein einseitiges Diktat der Großmächte in dieser Frage zu votieren. Churchill, der am 8. Oktober mit dem Plan einer territorialen Kompensation im Kriegskabinett aufgetreten war, demzufolge die polnische Regierung dadurch zum Verzicht auf die Gebiete östlich der Curzon-Linie bewegt werden sollte, daß ihr die Großmächte gemeinsam beträchtlichen Landzuwachs auf Kosten Deutschlands im Westen zusicherten, engagierte sich jetzt mit besonderem Nachdruck für die Beilegung des polnisch-sowjetischen Grenzdisputs. 2 9 In seinen Notizen für die Moskauer Außenministerkonferenz an Eden vom 11. Oktober schrieb der Premierminister, Großbritannien nehme zur Kenntnis, daß die Sowjetunion die Atlantikcharta auf der Grundlage ihrer Grenzen vom 22. Juni 1941 angenommen habe, und fuhr dann fort: „We should welcome any agreement between Poland and Russia while securing a strong and independent Poland, afforded to Russia the security necessary to her Western frontiers." 3 0 Indessen fand sich auch die neue, nach dem Tode Sikorskis im Juli 1943 gebildete polnische Exilregierung unter ihrem Premierminister, dem Volksparteipolitiker Stanislaw Mikolajczyk, nicht dazu bereit, die territoriale Integrität Polens hinsichtlich seiner Grenzen von 1939 an irgendeiner Stelle in Frage stellen zu lassen. Churchills noch am 6. Oktober 1943 gegenüber Eden erklärtes Ziel, alles daranzusetzen, um die Polen gegen einen territorialen Gewinn in Ostpreußen und Schlesien zum Einverständnis mit den Russen in der Frage ihrer östlichen Grenze zu bewegen 3 1 , blieb unverwirklicht. Die Großmächte waren von da an entschlossen, auf ihrem bevorstehenden ersten Gipfeltreffen in Teheran, gemäß dem vom Foreign Office bereits im April 1943 erwogenen „comprehensive settlement" eine schnelle Lösung des leidigen Problems unter Ausschluß Exilpolens und in der Form einer internen Abmachung untereinander herbeizuführen. 3 2 Diese kam auf der letzten Vollsitzung des Gipfeltreffens am 1. Dezember 1943 recht glatt und zwischen den Parteien unstrittig zustande. Man einigte sich auf eine Westverschiebung Polens auf der Basis der Curzon-Linie als 28 29 30 31
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Ebd., S. 377. Ebd., S. 378. Brandes, Großbritannien, S. 484. Zitiert nach Ludvik Gelberg, Die Entstehung der Volksrepublik Polen, Frankfurt a.M. 1972, S. 95. Foschepoth, Großbritannien, S. 70.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
Ostgrenze. Churchill verglich Deutschland, Polen und die UdSSR mit drei Streichhölzern, die alle drei nach Westen verschoben werden müßten, „um eine der wichtigsten Aufgaben zu lösen, die vor den Alliierten steht, die Sicherung der Westgrenze der Sowjetunion". 3 3 Der britische Premierminister erbat anschließend die Zustimmung seiner Partner zu der folgenden Formel: „Im Prinzip wurde beschlossen, daß die Heimstatt des polnischen Staates und Volkes zwischen der sogenannten Curzon-Linie und der Oderlinie liegen soll, unter Einbeziehung von Ostpreußen und der Provinz Oppeln in den Bestand Polens. Die endgültige Grenzziehung erfordert jedoch eine sorgfältige Prüfung und eine mögliche Aussiedlung der Bevölkerung an einigen Stellen." Stalin erklärte sein Einverständnis unter der Bedingung, daß sein Land die Häfen Königsberg und Memel sowie einen entsprechenden Teil Ostpreußens erhalte, was keinen Widerspruch hervorrief. Roosevelt beschränkte sich auf die Rolle des Zuhörers, der Churchill und Stalin die Verständigung über europäische Territorialfragen überließ und mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen des kommenden Jahres lediglich Stillschweigen über die getroffenen Abmachungen erbat. 3 4 Die folgenden Monate waren von den Bemühungen der britischen Politik geprägt, die exilpolnische Regierung auf die .Wahrheit' von Teheran vorzubereiten und für die von den Großmächten erzielte Grenzformel zu werben. Seit Januar 1944 wurde die polnische Exilregierung zunehmend unter Druck gesetzt, die Teheraner Kompensationsformel als Grundlage und Voraussetzung für die Verbesserung ihrer Beziehungen zur Sowjetunion zu akzeptieren. Churchill sandte Mitte Januar eine scharf formulierte Depesche an die polnische Regierung, in der er jegliche Verantwortung für die möglichen Folgen ablehnte, sollten die Exilpolen die empfohlene Grenzregelung nicht annehmen, insbesondere im Hinblick auf die Gefahr einer von den Sowjets in Polen installierten Gegenregierung. England werde sich, so der britische Premierminister, in keinen Streit mit den Russen einlassen, wenn die Polen den gegenwärtigen Vorschlag zurückwiesen. „It would be a sacred duty for Poland", so beschrieb er dessen zukünftige Aufgabe, „to guard the line of the Oder in the interests of the Russian State and thus receive from them the friendship and support without the Polish future is most precarious." 3 5 Am 20. Januar erklärten Churchill und Eden in einer langen Unterredung mit Exilpremier Mikolajczyk und dessen Außenminister Raczyñski, „die Vereinten Nationen würden dafür sorgen, daß alle unerwünschten Deutschen aus dem Gebiet, das an Polen käme, entfernt würden". Eden legte Zahlen aus dem Forschungsreferat des Foreign Office 33 34
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Teheran, Jaita Potsdam, wie Anm. 25, S. 83. Ebd., S. 86. Ebenso Churchill, Von Teheran bis Rom, Stuttgart 1953 (= Der Zweite Weltkrieg, Bd. V, 2), S. 98 f. Brandes, Großbritannien, S. 499.
2.2. Grenz-und Umsiedlungspläne
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vor, wonach sich die Gesamtzahl der Deutschen in den Gebieten östlich der Oder auf 6,95 Mill, belief, zuzüglich weiterer 1,8 Mill, auf dem vor 1939 polnischen Territorium. 36 Angesichts solch weitreichender Pläne wie den umfangreichen Umsiedlungen und „den dadurch hervorgerufenen Schwierigkeiten und Leiden" ließ Mikolajczyk deutlich seine Scheu erkennen. Churchill hingegen versicherte, daß die Großmächte die neue polnische Westgrenze gegen alle Revancheversuche Deutschlands garantieren würden. Dieses werde im übrigen entwaffnet und soweit „verstümmelt" , daß es zu einem neuerlichen Angriff auf Polen nicht mehr imstande sein würde. 37 Obwohl sich die .Times' in einem vielbeachteten Leitartikel vom 16. Februar 1944 entschieden sowohl gegen Umsiedlungspläne großen Stils als auch gegen eine Vorwegnahme des Friedensvertrages ausgesprochen hatte, betonte Churchill am 22. d.M. vor dem Unterhaus seine Unterstützung für das sowjetische Verlangen nach der Curzon-Linie und dafür, daß Polen im Westen und Norden auf deutsche Kosten entschädigt werden sollte. 38 Im Laufe des Frühjahrs 1944 nahm für London das Problem des mit den Grenzabmachungen verknüpften Bevölkerungstransfers eine zunehmend konkretere Gestalt an. Vor allem bedrückte die Frage, wie ein unkontrollierter und alle Dämme brechender Flüchtlingsstrom aus Richtung Osten der zukünftigen eigenen Besatzungszone in Deutschland erspart werden könnte. Ein umfangreicher Bericht eines interministeriellen Ausschusses, des sogenannten .Interdepartment Committee on the Transfer of German Populations', hatte Ende Mai 1944 unter dem Vorsitz des Deutschlandexperten des Foreign Office, John Troutbeck, eine Reihe von warnenden Argumenten gegen eine allzu rigide und rücksichtslose Umsiedlung der deutschen Zivilbevölkerung vorgebracht. Um den größten Bevölkerungsdruck aus dem Osten zu mildern, schlug die Studie vor, die Umsiedlung frühestens ein Jahr nach der deutschen Kapitulation beginnen und sich mindestens über einen Zeitraum von fünf Jahren erstrecken zu lassen. Daneben erwog sie Maßnahmen wie den vorübergehenden Arbeitseinsatz von Millionen deutscher Flüchtlinge im Ausland, besonders in Rußland. 39 Der stellvertretende Staatssekretär im Foreign Office, Orme Sargent, hielt, wie er Ende Mai des Jahres in einer Aufzeichnung vermerkte, einen Großtransfer der deutschen Bevölkerung in dem beabsichtigten Umfang nur unter den folgenden zwei Bedingungen für durchführbar: „l)If carried out by the Russians, who will be prepared to act ruthlessly and will not be tied down by any agreed rules and regulations; and
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Tyrell, Großbritannien, S. 385. Vgl. auch Kacewicz, Great Britain, S. 175-178. Brandes, Großbritannien, S. 500. Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung, S. 452; Brandes, ebd., S. 501. Kettenacker, ebd., S. 453 f.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
2) if the Germans are removed to Siberia, where they will be forgotten, and not packed into an already over-crowded Germany, where they will be able to maintain a continual agitation to be returned to their native lands." 4 0 Sargents Sibirien-Plan wie auch seine Überlegungen, Gebiete in Südamerika oder in den britischen Dominions als Zwangsheimat für Ostpreußen und Schlesier vorzusehen, waren jedoch nur für kurze Zeit aktuell. 41 Derweil fanden sich die britischen Minister des Kabinettsausschusses für die Nachkriegsplanung zu einer grundsätzlichen Diskussion über das Für und Wider einer Massenaussiedlung nicht bereit. Kriegsminister Sir James Grigg meinte in der Sitzung des Ausschusses vom 20. Juli 1944 lediglich, „that the Russians were likely to do most of the moving of population. He was therefore", so vermerkte das Protokoll weiter, „strongly in favour of us in taking no initiative in that matter." 4 2 Churchill selbst erklärte zu dieser Frage einige Wochen später, am 26. August, dem Befehlshaber der polnischen Streitkräfte in Italien, General Anders, daß alle Deutschen, Frauen und Kinder nicht ausgenommen, aus den Gebieten, die Polen gegeben werden, nach Deutschland gebracht würden. Bedenken, daß in dem verkleinerten deutschen Staatsgebiet nicht genügend Platz für ein Millionenheer von Flüchtlingen sein könnte, zerstreute der britische Premier mit dem Satz: „Aber ich nehme an, daß schon mehr als sechs Millionen Deutsche umgekommen sind und noch viel mehr umkommen werden, und daß in dieser Hinsicht keine Schwierigkeit bestehen wird." Wieder verband Churchill seine Worte mit der eindringlichen Mahnung, nicht stur auf der Beibehaltung der Ostgrenze zu bestehen. Polen werde „im Westen Gebiete erhalten, die viel besser sind als die Pripjet-Sümpfe". 43 Allem Druck von britischer Seite zum Trotz zeigte sich die polnische Exilregierung in der Grenzfrage unverändert starr und unbeweglich. Auf Stalins Angebot an Mikolajczyk anläßlich dessen erster Moskau-Reise am 3. August 1944, die polnische Westgrenze bis an die Oder und Neiße (welche der beiden NeißeFlüsse gemeint war, blieb explizit unklar) zu verlegen, ging der exilpolnische Premier mit keinem Wort ein. 4 4 Ein von der Exilregierung am 30. August unter dem Titel .Neuer Plan' vorgelegtes Konzept für eine europäische Nachkriegsordnung hielt weiter unverrückt an der Ostgrenze von 1939 fest, da Polen als das einzige Land unter deutscher Besatzung, das keine Quisling-Regierung hervorgebracht habe, nicht mit einem im ganzen verkleinerten Territorium aus diesem Krieg hervorgehen dürfe. Zur Frage 40 41 42 4
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Ebd., S. 456. Ebd., S. 453. Ebd., S. 457. Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dok. 79. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 35; Kacewicz, Great Britain, S. 186 f.
2.2. Grenz-und Umsiedlungspläne
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der künftigen Westgrenze beschränkte man sich auf den Satz: „All Germans will be removed from the territories incorporated into Poland in the North and the West by mutual Soviet-Polish cooperation." 4 5 Noch ein letztes Mal versuchte Churchill, den exilpolnischen Premier während des gemeinsamen Moskau-Besuchs im Oktober 1944 mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zur Annahme der Teheraner Kompensationsformel zu bewegen. Zu diesem Zweck waren die Briten auch bereit, bei der polnischen Gebietsentschädigung im Westen großzügige Nachschläge zu offerieren, die nicht mehr wesentlich hinter dem zurückblieben, was Stalin in der Zwischenzeit den Repräsentanten eines prokommunistischen Polen versprochen hatte. So boten Churchill und Stalin am 14. Oktober in Moskau Mikolajczyk die Oderlinie einschließlich Stettins an. 4 6 Dasselbe geschah kurz darauf in Gestalt des Cadogan-Briefs vom 2. November, in dem der britische Unterstaatssekretär des Foreign Office dem exilpolnischen Außenminister Romer die Ausweitung Polens im Westen „up to the line of the Oder, to include the port of Stettin" zubilligte. 47 Trotz aller, in der Schlußphase der Moskauer Verhandlungen massiven und fast bis zum Ultimatum gesteigerten Pressionen von englischer Seite blieb die Mehrheit des polnischen Exilkabinetts in der Grenzfrage kompromißlos und fand sich nicht bereit, dem eigenen langsam auf eine Kompromißlinie zusteuernden Premierminister zu folgen. Man scheute davor zurück, Polen unter Verlust seiner Ostgebiete auf weitvorgeschobene Grenzpositionen im Westen zu verlegen, d.h. auf Grenzen, die, so glaubte man, das Land auf Dauer von der Protektion Moskaus und seiner Sicherheitsgarantien abhängig machen würden. Am 24. November 1944 trat nach einem langen und schweren Tauziehen Exilpremier Mikolajczyk und mit ihm der Teil seines Kabinetts, der sich am Ende bereit gefunden hatte, die Teheran-Formel zu akzeptieren, zurück. Sein Nachfolger, der Moskau gegenüber zu keinerlei Zugeständnissen bereite PPS-Politiker Tomasz Arciszewski, nahm in einem Interview vom 17. Dezember 1944 die Grenzforderungen seiner Regierung im Westen auf jene Linie zurück, die einst im Februar 1942 unter Sikorski gegolten hatte. Er forderte die Einverleibung Ostpreußens, Oberschlesiens und eines Teils von Pommern, jedoch ausdrücklich ohne Breslau und Stettin. 48 Damit hatte die Londoner Exilregierung Polens gegen Jahresende 1944 aufgehört, eine politisch relevante Rolle innerhalb der ,Anti-Hitler-Koali-
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Stanislaw Mikolajczyk, The Pattern of Soviet Domination, London 1948, S,. 330. Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dok. 84; vgl. dazu Kacewicz, Great Britain, S. 194-198. 47 Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dok. 88. 4 ® Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 36.
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tion' und ihrer Kriegsdiplomatie zu spielen. 49 Von den Westmächten über die Teheraner Geheimvereinbarungen lange im unklaren gelassen, glaubte man, in zunehmender Verkennung der eigenen Situation, bis zuletzt um Grenzlinien und Territorien kämpfen zu müssen, während längst ihre politische Ausschaltung als bestimmende Kraft Nachkriegspolens drohte. Am 15. Dezember bekannte sich Churchill vor dem Unterhaus ohne Umschweife zum Kompensationsprojekt, das er Ostpreußen und Danzig betreffend näher beschrieb, ohne jedoch die Oderlinie zu erwähnen. Was Rußland und Großbritannien angehe, stehe es den Polen frei, ihr Gebiet nach Westen hin auf Kosten Deutschlands auszudehnen. Die „vollständige Vertreibung" [total expulsion] der „mehrere Millionen" zählenden deutschen Bevölkerung aus den Gebieten, die Polen gewinnen werde, bezeichnete der englische Premier als die, „soweit wir es zu überschauen vermögen, befriedigendste und dauerhafteste Methode", um neue Streitobjekte nach der Art von Elsaß-Lothringen zu verhindern. Die Umsiedlung sowohl der ostpolnischen Bevölkerung als auch der deutschen sei mit modernen Hilfsmitteln technisch lösbar und beunruhige ihn nicht. 50 Mit der endgültigen politischen Ausschaltung der Londoner Exilregierung und dem zu Jahresbeginn 1945 einsetzenden Sturmlauf der sowjetischen Truppen von der Weichsel zur Oder schwand für die britische Politik das bisherige Hauptmotiv für die Unterstützung einer möglichst großzügigen Ausweitung Polens nach Westen. Inzwischen war klar geworden, daß die von Stalin geförderte und aus dem Lubliner Komitee hervorgegangene Warschauer .Provisorische Regierung' einen bestimmenden Einfluß auf den Gang der weiteren Entwicklung gewinnen würde. Die Unterstützung weitgehender polnischer Gebietsgewinne im Westen war von nun an im wesentlichen nur noch Wasser auf die Mühlen von .Stalins Polen'. So gewannen im unmittelbaren Vorfeld der Krim-Konferenz diejenigen Kräfte in der britischen Politik wieder an Boden, die zuvor schon mit Warnungen vor allzu umfangreichen Gebiets- und Bevölkerungsverschiebungen auf Kosten Deutschlands hervorgetreten waren. Eden unterbreitete dem Kabinett am 26. Januar 1945 ein Memorandum zur polnischen Westgrenze, in dem er sich dafür einsetzte, zum gegenwärtigen Zeitpunkt über die gebilligten Mindestannexionen, d.h. Ostpreußen, Danzig und den oberschlesischen Regierungsbezirk Oppeln, nicht hinauszugehen. Von der Oderlinie war nicht mehr die Rede. Churchill formulierte das Verhandlungsziel der englischen Regierung für die bevorstehende Krimkonferenz mit den Worten: „We should oppose a Western Neisse boundary. It would be no small matter to arrange for the removal of 5 to 6 million Germans from the terri-
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Vgl. Kacewicz, Great Britain, S. 207. Tyrell, Großbritannien, S. 394.
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tories which we are in any event prepared to see Poland aquire if she so desired. But a total figure of 8 to 9 millions would [...] be quite unmanageable. Nor would we be certain that the reduced Germany, would be able to absorbe so large a figure."51 Churchill wiederholte diese Position auf der vierten Plenarsitzung in Jaita am 7. Februar 1945, als er auf den von Molotov vorgebrachten Vorschlag der Oder-(Lausitzer)Neiße-Linie einschließlich Stettins mit seinem berühmt gewordenen Satz reagierte, es wäre überaus schade, die polnische Gans mit so viel deutschem Futter zu stopfen, daß sie an Verdauungsstörungen stürbe. Weite Kreise der britischen Öffentlichkeit seien von dem Gedanken, Millionen von Menschen mit Gewalt in Bewegung zu setzen, schockiert. Er persönlich, so Churchill weiter, sei dies nicht, sondern verweise auf die Bevölkerungstrennung zwischen Griechen und Türken zu Beginn der zwanziger Jahre. Zum Ausmaß der Bevölkerungsumsiedlungen stellte der Premierminister klar: „If Poland took Prussia and Silesia as far as the Oder, it would mean moving six million Germans back to Germany. That might be managed, subject to the moral question, which he had to settle with his own people." Wie Churchill fand auch Roosevelt eine Ausdehnung Polens bis zur westlichen Neiße nicht gerechtfertigt. 52 Als Englands Premier und sein Außenminister Eden gegen Stalin versuchten, durch die Festlegung der Odergrenze als äußerster Linie allen weitergehenden Ansprüchen ein für allemal einen Riegel vorzuschieben, verweigerte ihnen ihr eigenes Kabinett die Gefolgschaft. Eine von Eden vorgeschlagene Formulierung wurde dort so verändert, daß daraus nicht einmal mehr eine Rückendeckung für die Anerkennung der Oder-(östliche)Neiße-Grenze zu entnehmen war. 5 3 Die Mehrheit der britischen Regierungsmitglieder hatte sich mit ihren starken Bedenken gegen territoriale Verschiebungen von problematischer Tragweite durchgesetzt. So einigten sich die drei Regierungschefs in falta schließlich auf eine Formel, die die Curzon-Linie als „die Ostgrenze Polens mit Abweichungen in einigen Gebieten von fünf bis acht Kilometern zugunsten Polens" anerkannte, die Festlegung der polnischen Westgrenze jedoch auf die künftige Friedenskonferenz vertagte. 54 Damit war die letzte Chance vertan worden, zu einem Zeitpunkt bevor die Rote Armee und in ihrem Schlepptau die volkspolnische Zivilverwaltung östlich von Oder und Neiße vollendete Tatsachen schaffen konnten, das Ausmaß der Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen im Osten Deutschlands unter den Siegermächten bindend zu regeln. 51 52 53 54
Kettenacker, Krieg zur Friedenssicherung, S. 469 f. Ebd., S. 470 f. Ebd., S. 471. Teheran, Jaita, Potsdam, wie Anm. 25, S. 187.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
2.3. Stalin, die polnische Linke und die Grenzfrage bis zur Gründung des Lubliner Komitees Als Iosif Stalin im Sommer 1938 durch den Apparat der Komintern die Polnische Kommunistische Partei (KPP) auflösen ließ, verschwand aus dem politischen Leben Polens eine Größe, die seit ihrer Gründung im Jahre 1918 zu keiner Zeit eine nennenswerte Bedeutung hatte gewinnen können. Mit ihrer auf den ideologischen Traditionen des Internationalismus Rosa Luxemburgs beruhenden, streng antinationalistischen Programmatik, die sie für alle nationalen Minderheiten Polens das Selbstbestimmungsrecht bis hin zur Loslösung vom polnischen Staatsverband fordern ließ, war es ihr nie gelungen, innerhalb der polnischen Gesellschaft eine Massenbasis zu finden. Die konsequente Ablehnung des eigenen Staates, verbunden mit der durch die Komintern noch geförderten Höherbewertung der revolutionären Bedeutung der deutschen Arbeiterbewegung, führte die kleine, fast durchweg illegale Partei noch am Vorabend von Hitlers Machtübernahme zur Forderung nach Grenzrevisionen im prodeutschen Sinne. Darunter fiel z.B. die Rückkehr Danzigs zum Deutschen Reich oder das auf dem VI. Parteikongreß vom November 1932 abgegebene Versprechen, für Oberschlesien und den Korridor „das Recht auf Selbstbestimmung bis zur Abtrennung vom polnischen Staat" zu erkämpfen. 1 Die Parteiführung der KPP mit ihren schon lange im Moskauer Exil lebenden Repräsentanten, Adolf Warski und Wera Kostrzewa, fiel Ende der dreißiger Jahre fast ausnahmslos den Stalinschen Säuberungen zum Opfer. Ein Rest meist nachgeordneter Funktionäre aus dem zweiten und dritten Glied überlebte in kleinen Gruppen zersprengt ab 1939 zum Teil im polnischen Untergrund, zum Teil als Neuemigranten in der Sowjetunion, wo sie sich Ende 1941 wieder organisatorisch zu sammeln begannen. Am 2. Dezember 1941, dem Tag von Exilpremier Sikorskis Ankunft in Moskau, berichtete die .Izvestija' von einer Versammlung dieser sowjetischen Exilpolen in Saratov. Die von Wanda Wasilewska und Stefan Jçdrychowski geleitete Kundgebung verabschiedete ein „Manifest für das polnische Volk", in dem die Bildung eines
Vierheller, Polen und die Deutschlandfrage, S. 54. Neuerdings dazu besonders ausführlich: Georg W. Strobel, Nationalitätenprobleme in Ostmitteleuropa, Räte-Großdeutschland und Grenzfragen als Mittel kommunistischer Revolutionsstrategie, in: Nationales Selbstverständnis und politische Ordnung. Abgrenzungen und Zusammenleben in OstMitteleuropa bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. von Hans Hecker und Silke Spieler, Bonn 1991, S. 113-173.
2.3. Stalin, die polnische Linke und die Grenzfrage
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.Verbandes polnischer Patrioten' (Zwiqzek Patriotów Polskich, Abk. ZPP) angekündigt wurde. 2 Kurz darauf, am 5. Januar 1942, erfolgte im Warschauer Untergrund die Gründung der .Polnischen Arbeiterpartei' (Polska Partía Robotnicza, Abk. PPR) durch eine aus Moskau angereiste Initiativgruppe unter der Führung von Marceli Nowotko, Pavel Finder und Boleslaw Molojecz. Als „revolutionäre marxistische Partei" verstand sie sich programmatisch als Nachfolgerin der alten KPP, auf deren Wiedergründung man Moskaus Weisung gemäß verzichtet hatte. 3 Im Unterschied zu ihrer Vorgängerin betonte die neue Partei, die - den geltenden Kominternrichtlinien entsprechend - für eine antifaschistische nationale Front eintrat, ihr eindeutig positives Verhältnis zur staatlichen Unabhängigkeit Polens und gab sich bewußt patriotisch. Dennoch gelang es der PPR, die vom Februar 1942 vierzehntägig ihr Presseorgan .Tribuna Wolnosci' herausgab, nur mit Mühe, sich im politischen Lager Untergrundpolens zu etablieren. Von ca. 4000 Mitgliedern im Sommer 1942 gelang ihr bis zum ersten Jahrestag ihres Bestehens im Januar 1943 eine Verdoppelung auf 8000, doch war sie selbst mit ihren maximal 20 000 Mitgliedern im Jahre 1944 den anderen Gruppierungen des polnischen Exil- und Untergrundlagers immer noch weit unterlegen. 4 Konfliktreichen Diskussionsstoff innerhalb der eigenen Reihen lieferte von Beginn an die Frage der Ostgrenze. Zu mehr als vage gehaltenen Erklärungen wie der in der .Tribuna Wolnosci' vom 1. April 1942, daß ein starkes Polen nicht mehr als alle von polnischer Bevölkerung bewohnten Gebiete fordere, oder der im Maiaufruf vom gleichen Jahr enthaltenen Formel von der Vereinigung des ganzen polnischen Volkes unter einem staatlichen Dach, fand sich die Partei nicht imstande. 5 Noch im September 1942 berichtete der erste Generalsekretär der PPR, Marceli Nowotko, nach Moskau, wie isoliert man in der Frage der Ostgrenze innerhalb des polnischen Untergrundlagers dastehe. 6 Sowohl in ihrem programmatischen Gründungsaufruf vom Januar 1942 wie auch in der Deklaration ihres Zentralkomitees „Wofür wir kämpfen" vom 1. März 1943 hatte die Partei jede konkrete Stellungnahme zu den künftigen Grenzen Polens vermieden.
A. Uschakow, Das Erbe Stalins in den deutsch-polnischen Beziehungen, in: IRD, Jg. 1970, H. 2, S. 9-28, hier S. 11. Tadeusz Jçdruszczak, Die antifaschistische Widerstandsbewegung in Polen 1939-1945, in: JbG, Jg. 23 (1981), S. 331-415, hier S. 353. Vgl. auch das Lexikon zur Geschichte der Parteien in Europa, hg. von Frank Wende, Stuttgart 1981, S. 483 f. Antony Polonsky/Bolesiaw Drukier, The Beginnings of Communist Rule in Poland, S. 6; Jçdruszczak, Die antifaschistische Widerstandsbewegung, S. 355 f. u. 361. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 67 f. Perepiska General'nogo Sekretarja EKKI G. M. Dimitrova s rukovodstvom Pol'skoj Rabocej Partii 1942-1943, in: NNI, Jg. 8 (1964), H. 5, Dok. 10.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
Dies forderte die Kritik von Kominternchef Georgij Dimitrov heraus, der in einem Schreiben vom 2. April 1943 Nowotkos Nachfolger Pavel Finder daran erinnerte, daß der 1939 zum Ausdruck gebrachte Wille der ukrainischen, weißrussischen und litauischen Bevölkerung zu respektieren sei. Im übrigen, gab er zu verstehen, werde Polen durch das Ende des so verderblichen Grenzstreits im Osten seine Position im Westen und an der Ostsee zu stärken vermögen. In seiner Antwort vom 17. April bestritt Finder diesen Zusammenhang und wies den Gedanken einer Kompensation der Ostgebiete durch einen im Bündnis mit der UdSSR möglichen Positionsgewinn im Westen und an der Ostsee zurück. 7 Immer noch tat sich die Partei in der Frage der Ostgrenze schwer und unterlag teilweise einer inneren Zerreißprobe. 8 Ein offenes Eintreten für eine Grenzkonzeption im Sinne Moskaus erschien nur schwerlich mit ihrem neuen nationalistisch-patriotischen Erscheinungsbild vereinbar - ein Punkt, der bei dem in der zweiten Februarhälfte 1943 gescheiterten Versuch einer politischen Zusammenarbeit mit der Londoner Landesdelegatur eine mitentscheidende Rolle gespielt hatte. 9 Wenige Wochen nach dem Sieg von Stalingrad wies Moskau mit einer TASS-Erklärung vom 1. März 1943 in scharfem Ton die polnischen Ansprüche auf die Ostgrenze von 1939 zurück und bezeichnete sie als ein Zeugnis imperialistischer Tendenzen. Damit begann die offene Auseinandersetzung mit dem Londoner Lager um Polens künftige Grenze mit der Sowjetunion. 1 0 In den folgenden Wochen des Frühjahrs 1943, im Vorfeld der Aufstellung der 1. Polnischen (Kosciuszko-)Division und der rapiden Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Moskau und der Londoner Exilregierung, begann der ,Bund Polnischer Patrioten' (ZPP) in der UdSSR, mit einer lebhaften publizistisch-propagandistischen Tätigkeit auf diesem Feld an die Öffentlichkeit zu treten. In einem Artikel seines Organs, der Wochenschrift ,Wolna Polska', vom 16. April, mit dem Titel „Polens Platz in Europa", ging eines seiner führenden Mitglieder, der Nationalökonom Alfred Lampe, ausführlich auf das Grenzthema ein. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Feststellung, daß die einfache Wiederherstellung der Grenzen des September 1939 weder im Interesse Polens und seiner Unabhängigkeit liege, noch dem europäischen Frieden dienlich sei. Insbesondere müsse Polens Stellung an der Ostsee im Vergleich zu 1939 zu seinen Gunsten verändert werden. Die alte Ostgrenze bestehe bereits nicht mehr und der Versuch ihrer Wiederherstellung sei gleichbedeutend mit dem Streben nach einer Wiederholung der alten Fehler der polnischen Politik und der
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® 9 10
Ebd., Dok. 22; Uschakow, Das Erbe Stalins, S. 19 f. M. K. Dziewanowski, The Communist Party of Poland. An Outline of History, Cambridge 1959, S. 169. Içdruszczak, Die antifaschistische Widerstandsbewegung, S. 356. DPSR, Bd. I, Dok. 296. Russischer Text in: DMISPO, Bd. VII, Dok. 238.
2.3. Stalin, die polnische Linke und die Grenzfrage
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inneren Schwäche des polnischen Staates. Lampe ging auch auf die Zukunft Schlesiens, Danzigs und Ostpreußens ein. Schlesien, das im Zuge eines sechshundertjährigen Kolonisierungsprozesses eingedeutscht und in den letzten Jahren von den Nazis gewaltsam germanisiert worden sei, könne im Interesse der zukünftigen europäischen Friedensordnung unmöglich als ein „Apparat des deutschen Imperialismus" fortbestehen. Auch müsse die künftige Grenzziehung berücksichtigen, daß der „Teil der gewaltigen schlesischen Industrie, der mit dem polnischen Staat verbunden wird", dem friedlichen Wiederaufbau und nicht den Zielen der Aggression dienen werde. Über Danzig hieß es lediglich, daß „die Mündung der Weichsel, der entscheidenden Lebensader unseres Landes, [...] nicht in den Händen der deutschen Imperialisten bleiben [dürfe]". Ostpreußen („dieser auf den Knochen slawischer und litauischer Stämme erbaute Wachturm des militanten Deutschtums, die nach Osten vorgeschobene Bastion des deutschen Imperialismus") könne nicht weiter bestehen bleiben. Es müsse eine Brücke Polens zur Ostsee werden und dürfe nicht länger eine Barriere sein, die es vom Meer trenne. Polens strategische Grenze und damit die der neuen europäischen Friedenskoalition der „demokratischen Länder" Sowjetunion, Tschechoslowakei und Polen, läge an der Oder. „Ahnlich wie die Sowjetunion", so Schloß Lampe seine Ausführungen zur Grenzfrage, „sind wir daran interessiert, daß eine feindliche Militärmacht niemals und nirgends östlich der Oder eine Ausfallbasis gegen irgendeine Nation Osteuropas finden kann." 11 Zum Teil dieselben Worte fanden sich gut zwei Monate später in einer programmatischen Deklaration des Bundes im Anschluß an seinen Moskauer Kongreß vom 9. und 10. Juni 1943 wieder, in der nochmals die Wiederherstellung des Polentums in Schlesien, der Besitz der Weichselmündung und die Annexion Ostpreußens gefordert wurde, ohne jedoch die Oderlinie als strategische Grenze im Westen zu erwähnen. Zur Ostgrenze unterstrich die Deklaration die Ablehnung des Rigaer Vertrages von 1921, da die damals gezogenen Grenzlinien den „berechtigten Bestrebungen der Ukrainer und Weißruthenen zur eigenen nationalen Vereinigung nicht entsprochen haben". Die neue Grenze müsse hingegen eine Brücke statt einer Trennmauer zu den Nachbarn Polens im Osten bilden. Deshalb gelte gemäß den Grundsätzen von Freiheit und Selbstbestimmung, für die die alliierten Nationen gegen den Hitlerismus kämpften, die unmißverständliche Losung: „Keinen Fußbreit ukrainischen, weißruthenischen oder litauischen Bodens!" 12 Ein halbes Jahr später - die Konferenz von Teheran war gerade beendet - entfachte der ZPP in seinem Presseorgan erneut eine Diskussion um die polnische Ostgrenze und stellte diese in den
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Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dok. 28a. Ebd., Dok. 30.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
Zusammenhang der großen Grundlinien der nationalen Geschichte Polens. Die Situation verlange momentan nicht weniger, als „die jagiellonischen Traditionen auszulöschen und zu den großen Traditionen der Piasten zurückzukehren". Allein eine mutige Erklärung in der Grenzfrage werde ein für allemal die Streitigkeiten mit der Sowjetunion regeln, die im neuen Europa zweifellos eine entscheidende Rolle spielen werde. 1 3 Fast zur selben Zeit war Alfred Lampe in seinem Programmentwurf für das in der Sowjetunion geplante .Polnische Nationalkomitee' (Polski Komitet Narodowy, Abk. PKN) bei der Präzisierung der zukünftigen Westgrenze noch einen Schritt über das bis dahin Verlautete hinausgegangen, indem er im Zusammenhang mit Polens verbreitertem Zugang zum Meer außer Ostpreußen und die Weichselmündung erstmals auch Pommern nannte. Darüber hinaus sprach er von deutschen Festungen an der Oder, die „nicht Einfallstore des deutschen Imperialismus in das polnische Schlesien und das polnische Pommern bleiben" könnten. 1 4 Inzwischen war, noch im unmittelbaren Vorfeld der Teherankonferenz, die im polnischen Untergrund agierende PPR in der Grenzfrage von Moskau soweit unter Druck gesetzt worden, daß sie sich endlich konkret erklären mußte. Dies geschah in ihrem, mit der Märzdeklaration vom selben Jahr namensgleichen Manifest „Wofür wir kämpfen" vom November 1943. Es enthielt erstmals eine klare Abgrenzung von den Grenzvorstellungen des Londoner Lagers und bekannte sich zu der Grenzziehung im Osten, die, dem ethnographischen Prinzip folgend, das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer und Weißrussen in den Mittelpunkt stellte. Dabei ging die Erklärung so weit, denjenigen, die historische Rechte Polens auf seine Ostgebiete geltend machten, vorzuwerfen, sie begäben sich „auf die faschistische Ebene des Kampfes um .Lebensraum' und des Rechtes, andere Völker zu unterjochen". Zur Grenzfrage im Westen äußerte sich die Erklärung nur sehr allgemein und sprach von der Rückgewinnung jener ethnographischen polnischen Gebiete im Westen und an der Ostsee, die mit Gewalt entpolonisiert und germanisiert worden seien. 15 Somit war, wenn auch zunächst noch vorsichtig, die PPR auf die vom ,Bund Polnischer Patrioten' vorgezeichnete Linie eingeschwenkt - ein Schritt, den die Partei mit Rücksicht auf ihre angestrengte Suche nach politischen Bündnispartnern im polnischen Untergrund lange genug zu vermeiden gesucht hatte. Damit übernahm sie auch die Ambivalenz einer Argumentation, die hinsichtlich der Ostgrenze das völkerrechtliche Prinzip des Selbstbestimmungsrechts in den Vordergrund stellte, bei der Westgrenze hingegen fast ausschließlich mit 13 14 15
Ebd.,Dok. 58. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 72. Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dole. 32a; Orzechowski, Polish Conceptions, S. 264.
2.3. Stalin, die polnische Linke und die Grenzfrage
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historisch-patriotischen oder strategisch-sicherheitspolitischen Erwägungen operierte. Auch war der Zusammenhang zwischen Ost- und Westgrenze im Sinne der zuvor noch bekämpften Kompensationtheorie inzwischen stillschweigend akzeptiert worden. Mit dem ersten, wenngleich sehr bescheidenen Erfolg ihrer Bündnisbemühungen, dem in der Neujahrsnacht 1943/44 in Warschau gegründeten .Landesnationalrat' (Krajowa Rada Narodowa, Abk. KRN), gab sich die Partei - wohl um das mühsam erreichte Volksfront-Bündnis nicht zu gefährden - in der Grenzfrage wieder unverbindlicher. Sowohl in dem von Wladyslaw Gomulka verfaßten Manifest vom 15. Dezember 1943 über die politischen Ziele des Landesnationalrats, wie in dessen eigentlicher Gründungsdeklaration vom 1. Januar 1944 blieb sie weit hinter dem zurück, was die November-Deklaration dazu ausgesagt hatte. Sie beschränkte sich auf die allgemeinen Formeln von der Rückgewinnung aller gewaltsam germanisierten Gebiete im Westen und der Regelung des östlichen Grenzproblems durch friedliche Übereinkunft mit der Sowjetunion unter Anerkennung des nationalen Selbstbestimmungsrechts. 16 Wiederum war es der ,Bund Polnischer Patrioten' in der UdSSR, der die Territorialdiskussion weiter forcierte. Nachdem die Sowjetregierung am 24. Dezember 1943 Vertreter des Bundes über die Ergebnisse der Konferenz von Teheran unterrichtet hatte 1 7 , erschien am 8. Januar 1944 in der ,Wolna Polska' ein Aufsatz, der nach einem Verweis auf Polens historische Rechte auf Ost- und Westpreußen sowie Danzig und Schlesien im Hinblick auf die deutsche Bevölkerung erstmals offen den Begriff „Aussiedlung" (Wysiedlenie) gebrauchte. 1 8 Einige Wochen später, am 24. Januar, erschien an gleicher Stelle ein Artikel von Hilary Mine, der sich ausführlich mit den wirtschaftlichen Entwicklungsaussichten eines territorial nach Westen verschobenen Polen beschäftigte, wobei er neben der Rückkehr des „ewig polnischen Schlesien" und der Weichselmündung Polens Ostseeküste durch Ostpreußen und Pommern verlängert sah. Erstmals fiel in einer Publikation des ZPP der Terminus ,Curzon-Linie' für die Grenze im Osten: „Man kann als sicher annehmen, daß wir die ukrainischen und weißruthenischen Gebiete im Osten verlieren." Die Aussiedlung großer deutscher Bevölkerungsteile wurde ohne weiteres vorausgesetzt: „Der deutsche Großgrundbesitz 16
DMISPO, Bd. VIII, Dok. 1, Bd. VII, Dok. 304; Içdruszczak, Die antifaschistische Widerstandsbewegung, S. 360. 17 Wlodzimierz T. Kowalski, The Great Coalition and Poland's Western Frontier (19411945), in: PWA, Bd. XXVI (1985), H. 1., S. 71-86, hier S. 78. Siehe im spezielleren Zusammenhang: ders., ZSRR a granica na Odrze i Nysie Luzyckiej 1941-1945, Warschau (Verlag des Ministeriums für Nationale Verteidigung) 1965. Deutsche Übersetzung: Die UDSSR und die Grenze an der Oder und Lausitzer Neisse 1941-1945, Göttingen 1966 (=VeröffentIichung im Göttinger Arbeitskreis Nr. 354). 1 ® Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dok. 58a.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
wird selbstverständlich liquidiert werden. Auch ein bedeutender Teil der eingewanderten deutschen Bevölkerung wird fortgehen müssen." Mine entwarf ein glänzendes Bild von den im Westen zu gewinnenden und nach Millionen von Hektar zählenden „herrlichefn] Gebiete[n] für die Kolonisation, Gebiete, die ein bedeutender Faktor bei der Lösung der Agrarfrage in Polen sein werden". Offen wurde der Zusammenhang zwischen Ost- und Westgrenze sowie der damit verbundene Transfer eigener Bevölkerungsteile angesprochen: Die bäuerliche Bevölkerung aus den „östlichen Gebieten, die vom polnischen Staat abgetrennt werden", solle „die Möglichkeit eines auskömmlichen Lebens erhalten". 19 Am 16. März 1944 trugen Vertreter des ZPP im Kreml offiziell den Vorschlag einer polnischen Westgrenze einschließlich Pommerns mit Stettin und der Odermündung vor 20 , womit sie offenbar dort offene Türen einstießen. Nach dem Zeugnis Benes's gegenüber Churchill hatte Stalin schon Ende 1943 „die Oderlinie einschließlich des größten Teils des Regierungsbezirks Oppeln" ins Auge gefaßt. Auch der Führungsspitze des ZPP dürften Stalins polnische Grenzpläne im Westen spätestens im Januar 1944 bekannt gemacht worden sein. 21 Zu Beginn des Jahres 1944 wurde durch die inzwischen eingetretenen militärischen Geschehnisse auf dem östlichen Kriegsschauplatz die Frage um Polens politische Zukunft und territoriale Gestalt weiter zugespitzt. Anfang Januar, fast gleichzeitig mit dem Überschreiten der polnischen Ost19 2 0 21
Ebd., Dok. 58b. Kowalski, The Great Coalition, S. 78. Churchill, Von Teheran bis Rom (= Der Zweite Weltkrieg, Bd. V, 2), S. 155. Im letzten, 1991 erschienenen Band der Memoiren des ersten Kommandeurs der Kosciuszko-Division, General Zygmunt Berling, berichtet dieser von einem gemeinsamen Besuch mit der Vorsitzenden des ZPP, Wanda Wasilewska, im Kreml Anfang Januar 1944. Bei dieser Gelegenheit habe Stalin in Anwesenheit eines Großteils seines Politbüros auf einer Landkarte mittels eines Rotstifts die künftige Grenzlinie Polens im Westen markiert: „Sie begann bei Dievenow an der Mündung des östlichen Mündungsarms der Oder in die Ostsee, verlief dann entlang dieses Oderarms am östlichen Ufer der Insel Wollin entlang bis zum Stettiner Haff und von dort in dessen Mitte bis Stettin, dann weiter die Oder aufwärts bis zur Mündung der Lausitzer NeiBe und diese hinauf in Richtung der alten deutsch-tschechoslowakischen Grenze." Auf das Problem der Oder-Mündung und des Stettiner Hafens will Berling Stalin bei dieser Gelegenheit persönlich aufmerksam gemacht haben: „Er [Stalin] ging dann wortlos zu seinem Schreibtisch und kam mit einem Lineal zurück. Mit einem Ende legte er es eben westlich von Swinemünde an, mit dem anderen südlich von Stettin, verband die beiden Punkte mit einer geraden roten Linie und fragte: 'Wird es so richtig sein?'" Auch die Grenze im Norden auf dem Territorium Ostpreußens kennzeichnete der Sowjetdiktator nach Berlings Schilderung auf ähnliche Weise, wobei die Linie des Rotstifts allerdings vom Nordrand des Samlandes bis in die Region nördlich von Suwalki verlaufen sei. Siehe dazu Georg W. Strobel, Wie Stalin Grenzen in Ostmitteleuropa zog. Zu Zygmunt Berlings Erinnerungen, in: OE 12/1992, S. 10781085, die Zitate S. 1081 f. Zur Glaubwürdigkeit der Schilderung Berlings und seiner Verwendung „verbrauchter Bilder" im Hinblick auf Stalin, ebd., S. 1085.
2.3. Stalin, die polnische Linke und die Grenzfrage
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grenze von 1939 durch die Rote Armee, war in Moskau das .Zentralbüro polnischer Kommunisten in der UdSSR' (Centraine Biuro Komunistów Polskich w ZSSR, Abk. CBKP) mit Aleksander Zawadzki an der Spitze gebildet worden. Stalin schien offensichtlich entschlossen, von Moskau aus auf die Warschauer PPR und ihre programmatischen wie organisatorischen Eigenmächtigkeiten - die Gründung des Landesnationalrats (KRN) war zur völligen Überraschung Moskaus erfolgt - stärker als bisher einzuwirken. 22 Die PPR-Führung unter ihrem dritten Generalsekretär Gomulka rechtfertigte sich noch im Januar des Jahres für die von ihr eingeschlagene Linie in der Volksfrontpolitik und die damit zusammenhängende Gründung des Landesnationalrats. 23 Nachdem auf Gomulkas Bitte an das Moskauer Zentralbüro, die aufgetauchten Fragen durch die Entsendung einer Delegation nach Polen im persönlichen Kontakt zu besprechen, keine Reaktion erfolgt war, begab sich auf Beschluß des KRN-Präsidiums Mitte März 1944 eine vierköpfige Delegation mit Marian Spychalski und Edward Osóbka-Morawski durch die deutschen Linien in die Sowjethauptstadt. Nach zweimonatiger Reise traf diese Mitte Mai dort ein und verblieb für die folgenden Wochen in einer Art politischer Wartestellung. 24 Stalin selbst empfing am 17. Mai im Kreml den an der Chicagoer Universität tätigen linksorientierten Wirtschaftswissenschaftler Oskar Lange, einen führenden Vertreter der polnischen Bevölkerunggruppe in den USA, durch den er auf Mikolajczyk und dessen Londoner Exilregierung in der Frage der Ostgrenze einzuwirken hoffte. Bei dieser Gelegenheit bot Stalin im Westen die Oderlinie einschließlich Stettins an, war sich jedoch noch nicht im klaren darüber, ob auch Breslau zu Polen kommen sollte. Hingegen bestätigte er seine in Teheran bereits akzeptierte Forderung nach Königsberg. 25 Noch immer setzte Stalin auf ein politisch-territoriales Arrangement mit der Londoner Exilregierung nach dem Muster seines Abkommens mit dem tschechoslowakischen Exilpremier Benes vom Dezember 1943. Das belegt nicht nur sein persönliches Werben um die Person Mikolajczyks, sondern auch die gegenüber Lange gefallene Äußerung, er verstünde die zögernde Haltung der polnischen Regierung, sich auf eine territoriale Kompromißlösung einzulassen, „solange sie nicht sicher sein könn-
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Uschakow, Stalins Anteil an der Entstehung der Oder-Neiße-Linie, S. 81. Brief des ZK der PPR vom 7. 3. 1944 an Georgij Dimitrov, in: Polonsky/Drukier, The Beginnings of Communist, Dok. 3. Uschakow, Stalins Anteil, S. 81 f.; Jçdruszczak, Die antifaschistische Widerstandsbewegung, S. 362. Polonsky, The Great Powers and the Polish Question 1941-1945, Dok. 97; Uschakow, Stalins Anteil, S. 82; DPSR, Bd. II, Dok. 132.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
te, entsprechende Entschädigungen zu erhalten". 2 6 Offenbar vermutete er immer noch Mißtrauen statt prinzipieller Ablehnung als Hauptursache von Mikolajczyks unbeweglicher Haltung in der Grenzfrage. Nachdem Langes Kontaktaufnahme mit dem polnischen Exilpremier, die mit tatkräftiger Unterstützung des State Department während Mikolajczyks Amerika-Visite am 13. Juni 1944 zustande gekommen war, keinerlei Ergebnisse gebracht hatte, unternahm Stalin kurz darauf ein letztes Mal den Versuch, mit der Londoner Exilregierung zu verhandeln; diesmal jedoch auf direktem Wege und ohne die Einschaltung von Mittelsmännern. Ausdruck dieses letzten Versuchs, unmittelbar vor Beginn der sowjetischen Großoffensive im Mittelabschnitt der deutschen Ostfront mit dem .Londoner Lager' zu einem politischen Abschluß zu kommen, war die Verhandlungsmission des sowjetischen Botschafters Viktor Lebedev, der zwischen dem 20. und 23. Juni 1944 mehrfach mit Mikolajczyk in London konferierte. Wieder ging es um dieselben Konfliktpunkte, derentwegen schon Churchill im Februar des Jahres auf den polnischen Exilpremier und sein Kabinett einzuwirken versucht hatte: die Zustimmung zur CurzonLinie als Basis der gemeinsamen Grenze im Osten, die Entfernung einiger sowjetfeindlicher Minister aus der Exilregierung sowie die Verständigung im von gegenseitigen Anschuldigungen geprägten Fall ,Katyn'. 27 Nachdem der polnische Regierungschef es wiederum abgelehnt hatte, sich auf Stalins Vorschläge einzulassen, und gleichzeitig die seit dem 22. Juni in der Offensive befindliche Rote Armee sich mit Riesenschritten dem kernpolnischen Territorium näherte, bekamen die PPR und ihr Landesnationalrat (KRN) einen neuen politischen Stellenwert. Stalin schickte sich an, in der polnischen Frage einen neuen Abschnitt zu eröffnen.
2.4. Das polnisch-sowjetische Grenzabkommen vom 27. Juli 1944 und die Propagierung der Oder-Neiße-Linie bis zur Potsdamer Konferenz Die ersten Gespräche der KRN-Delegation unter Spychalski und OsóbkaMorawski mit Stalin und Molotov sowie mit Wanda Wasilewska als Vertreterin des Bundes Polnischer Patrioten waren am 19. und 22. Mai 1944 noch ohne konkretes Resultat geblieben. Stalin gab zu verstehen, daß er
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Ciechanowski, Vergeblicher Sieg, S. 310; Schreiben Churchills an Stalin vom 20.2.1944, in: Unheilige Allianz, Dok. 243. Polonsky, The Great Powers, Dok. 99; Uschakow, Stalins Anteil, S. 83.
2.4. Das polnisch-sowjetische Grenzabkommen
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den jetzigen Zeitpunkt für die Proklamation einer polnischen Gegenregierung noch für verfrüht hielt. Besonders Molotov fürchtete Komplikationen innerhalb des Bündnisses mit den Westalliierten. 1 So wurde die Delegation des KRN zunächst für einige Wochen zu den in der Sowjetunion unter dem Kommando von Zygmunt Berling aufgestellten polnischen Truppen geschickt, um dort politische Agitationsarbeit zu leisten. Das Scheitern der Lebedev-Mission in London änderte Ende Juni die Situation einschneidend. Am 23. Juni erklärte das Zentralbüro des Bundes Polnischer Patrioten den Landesnationalrat zum einzig rechtmäßigen Vertreter der polnischen Nation. 2 Tags zuvor hatte Stalin der Warschauer Delegation vorgeschlagen, eine Mitgliederliste für eine provisorische Regierung aufzustellen. Anfang Juli begannen mit dem Eintreffen der zweiten Delegation des KRN in Moskau unter der Führung des Chefs seiner bewaffneten Organisation, der Volksarmee (Armia Ludowa, Abk. AL), General Micha! Rola-Zymierski, die politischen Gespräche. Am 15. Juli kam es zu einer ersten wichtigen Unterredung mit Stalin, in der erstmals polnischerseits von einer Grenzlinie entlang von Oder und westlicher, d.h. Lausitzer Neiße die Rede war. 3 Nach einem Brief von Wanda Wasilewska und Edward Osóbka-Morawski vom gleichen Tage mit der Bitte, die Gründung einer provisorischen Regierung nicht länger hinauszuzögern, damit die Einrichtung einer sowjetischen Militärverwaltung auf polnischem Boden vermieden werde, gaben Stalin und Molotov schließlich am 17. Juli ihre Zustimmung zur Bildung eines politischen Exekutivorgans. 4 Dieses konstituierte sich tags darauf unter dem Namen .Delegatur des Landesnationalrats' (Delegatura Krajowej Rada Narodowej). Auf das Drängen Stalins, „auf neue, staatliche Gleise über[zu]gehen", wurde es zwei Tage später in das .Polnische Komitee der Nationalen Befreiung' (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego, Abk. PKWN) umbenannt. 5 Unter dem Vorsitz des früheren PPS-Funktionärs Edward Osóbka-Morawski nahm es am 20. Juli 1944 seinen Sitz in dem ersten von der Roten Armee besetzten Ort westlich der Curzon-Linie, dem Städtchen Chelm (Chelmno), und siedelte schon 48 Stunden darauf in die erste befreite Großstadt des Landes, nach Lublin, über. Am 22. Juli 1944 veröffentlichte das aus fünfzehn Personen bestehende Komitee, das die Bezeichnung .Regierung' mit Rücksicht auf die Westmäch' 2
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Uschakow, Stalins Anteil an der Entstehung der Oder-Neiße-Linie, S. 82. Dziewanowski, The Communist Party of Poland, S. 175; Polonsky/Drukier, The Beginnings of Communist Rule in Poland, S. 227. Euzebiusz Basmski/Ryszard Nazarewicz, Sojusz polskoradziecki a zachodnia granica Polski, Warschau 1987, S. 21. Polonsky/Drukier, The Beginnings of Communist Rule, Dok. 18, App. 1. Uschakow, Stalins Anteil, S. 83.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
te sorgfältig vermied, seine politische Deklaration „An das polnische Volk!". Sie enthielt zum Mißfallen Moskaus wieder nur sehr allgemein gehaltene Ausführungen zur Ostgrenze und erwähnte die Curzon-Linie nicht. Zur Westgrenze plädierte der Aufruf in seiner kämpferisch gehaltenen Sprache „für die Rückkehr des alten polnischen Pommern, des Oppelner Schlesien, Ostpreußens, für einen breiten Zugang zum Meer, für die polnischen Grenzpfähle an der Oder". 6 Bereits vor der Veröffentlichung des PKWN-Aufrufs vom 22. Juli hatten mit Molotovs Stellvertreter Vysinskij erste Gespräche zur Übergabe des von der Roten Armee befreiten polnischen Territoriums an eine polnische Verwaltung begonnen, worüber bereits am 23. Juli Einigung erzielt wurde. Moskau war jedoch nicht bereit, die Vereinbarung über die Errichtung der polnischen Verwaltung ohne eine vorherige vertragliche Regelung der Grenzfrage zu unterzeichnen. 7 Daraufhin bildete das PKWN eine fünfköpfige Sonderkommission mit Osóbka-Morawski und Rola-Zymierski an der Spitze, die am 25. Juli mit Stalin die entscheidenden Verhandlungen führte. Dabei versuchte die polnische Seite die Stadt Lwów, das südlich davon gelegene Erdölgebiet um Drohobycz und das ausgedehnte BialowiezaWaldgebiet für Polen zu erhalten. Stalin blieb jedoch selbst um den Preis eines Abbruchs der Verhandlungen hart und war nur zu Konzessionen hinsichtlich des letzteren bereit, so daß der Nationalpark um das große ostpolnische Waldgebiet schließlich zwischen beiden Seiten geteilt wurde. 8 Anschließend ging man zur Fixierung der Westgrenze über. Auf die Forderung der Polen nach ganz Ostpreußen reagierte Stalin gereizt, erinnerte an das Jahr 1914 und daran, daß die Sowjetunion wenigstens ein Stück deutschen Bodens erhalten müsse, wobei er auch den eisfreien Hafen Königsbergs als Argument nicht vergaß. Schließlich zog er, wie sich OsóbkaMorawski später erinnerte, quer durch Ostpreußen eine Gerade in WestOst-Richtung, die die gegenseitige Demarkationslinie im Norden darstellen sollte. 9 Sodann war es General Rola-Zymierski, der mit vorwiegend militärisch-geographischer Argumentation anhand einer Karte für die Grenzziehung im Westen entlang von Oder und westlicher Neiße plädierte. Diese stelle die kürzeste aller möglichen natürlichen Grenzlinien Polens gegenüber Deutschland dar, die im Unterschied zu einer Linie an der östlichen (Glatzer) Neiße den schlesischen Keil ins polnische Territorium ein für allemal beseitige und somit die natürlichste Sicherheitslinie des Landes gegen ® 7
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Polen, Deutschland und die Oder-Neiße-Grenze, hg. vom Deutschen Institut für Zeitgeschichte unter der Redaktion von Rudi Goguel, (Ost) Berlin 1959, Dok. 20. Uschakow, Stalins Anteil, S. 84; Polonsky/Drukier, The Beginnings of Communist Rule, D o k . 21. Polonsky/Drukier, ebd., Dok. 21. Vgl. dazu Uschakow, Stalins Anteil, S. 84. Uschakow, ebd.; Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 76.
2.4. Das polnisch-sowjetische Grenzabkommen
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Westen bilde. 10 Stalin, dem die stark militär- und sicherheitspolitische Begründung des Grenzvorschlags offenbar entgegenkam, äußerte - nach Spychalskis Erinnerungen in allerdings eher spaßhaftem Ton - seine Zweifel, ob Churchill von der Existenz zweier Flüsse des gleichen Namens wisse. 11 Nach dem Zeugnis Osóbka-Morawskis, der für das PKWN auch als Außenminister fungierte, vollzog sich die Entscheidung dieser Frage ohne größere Probleme: „Marschall Stalin gab uns recht, bezeichnete auf einer auf dem Tisch ausgebreiteten Karte mit dickem roten Stift die neue Linie und erklärte, die Sowjetunion werde diese Linie als Grenze zwischen Polen und Deutschland erzwingen (forsowac). Wir empfanden das als großen Sieg, nicht nur deshalb, weil wir auf diese Weise die kostbaren Gewinne Niederschlesiens und Westpommerns erhielten, sondern unter anderem deshalb, weil wir so eine um die Hälfte kürzere Grenze mit Deutschland erreicht hatten." 1 2 Am 27. Juli wurde die Ubereinkunft zwischen den Vertretern des PKWN und der Sowjetregierung in vertraglicher Form fixiert. Artikel 1 des in sechs Artikel gegliederten Grenzabkommens legte für die Bestimmung der polnisch-sowjetischen Grenze die Curzon-Linie zugrunde und schlug zwei östlich davon gelegene kleinere Regionen, darunter das Waldgebiet um Bialowieza, zu Polen. Artikel 2 regelte Polens künftigen Zugang zur Ostsee und bestimmte, „daß der nördliche Teil Ostpreußens mit der Stadt und dem Hafen Königsberg an die UdSSR, der ganze übrige Teil Ostpreußens sowie der Danziger Bezirk mit der Stadt und dem Hafen Danzig dagegen an Polen übergehen". 1 3 Artikel 3 beschrieb die ostpreußische Demarkationslinie näher und fixierte ihren Verlauf „vom Schnittpunkt der Grenzen der Litauischen SSR, der Republik Polen und Ostpreußens in westlicher Richtung nördlich von Goldap-Braunsberg zur Küste der Danziger Bucht". Dabei sollte gemäß Artikel 5 „die örtliche Festlegung der Staatsgrenze zwischen Polen und der UdSSR [...] einer gemischten polnisch-sowjetischen Kommission übertragen" werden. 1 4 Die Festlegung der Westgrenze Polens gegenüber Deutschland erfolgte in Artikel 4. Darin erklärte die UdSSR ihre Zustimmung, „daß die Grenze zwischen Polen und Deutschland entlang einer westlich von Swinemünde bis zum Fluß Oder verlaufenden Linie, wobei die Stadt Stettin auf polnischer Seite verbleibt, weiter aufwärts des Flusses Oder bis zur Neiße, und 10
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Vierheller, ebd., S. 75. Vgl. dazu den Erinnerungsbericht Marian Spychalskis, Powolanie PKWN - Wspomnienia, in: ZPW, Jg. XXII (1979), H. 2, S. 195-222, hier S. 203. Spychalski, ebd., S. 203. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 75; vgl. Kowalski, The Great Coalition and Poland's Western Frontiers (1941-1945), S. 79. Zitiert nach Uschakow, Stalins Anteil, S. 89. Ebd., S. 90.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
von hier entlang des Flusses Neiße bis zur tschechoslowakischen Grenze, festgelegt werden soll". 15 Im selben Artikel verpflichtete sich die Sowjetregierung, auf einer künftigen Friedenskonferenz „die Festlegung der Grenze entlang der genannten Linie zu unterstützen". Die fixierten Grenzlinien wurden auf einer Karte im Maßstab 1 : 1 000 000 markiert, die in zwei Exemplaren dem von Molotov und Osóbka-Morawski signierten Vertrag als Anlagen beigegeben wurde. 1 6 Anders als bei dem tags zuvor geschlossenen Abkommen über die Einrichtung einer polnischen Verwaltung in den von der Roten Armee befreiten Gebieten westlich der Curzon-Linie, einigte man sich darauf, den Grenzvertrag nicht der Öffentlichkeit bekannt zu geben. 1 7 Der Vertrag vom 27. Juli 1944 erwähnte zwar in Artikel 4 zweimal die Neiße, ohne jedoch im Text eine nähere Erklärung darüber zu geben, welcher der beiden Flüsse dieses Namens gemeint war. Die vorgenommene Grenzbeschreibung paßte auf beide Flüsse, die westliche wie die östliche, und erlaubte keine Spezifizierung. Es erscheint jedoch wahrscheinlich, daß sich Stalin durch ein bewußtes Offenhalten dieser Frage gegenüber seinen polnischen Vertragspartnern wie gegenüber seinen westalliierten Verbündeten einen gewissen Verhandlungsspielraum bewahren wollte. Dabei war gemäß mündlicher Absprache mit dem PKWN die westliche (Lausitzer)Neiße im Sinne einer .optimalen' Lösung des Grenzproblems anzustreben, während die östliche (Glatzer)Neiße als minimalistischer Ausgangspunkt für die Festlegung der polnischen Westgrenze auf der künftigen Friedenskonferenz dienen sollte. 18 Es waren in den folgenden Wochen und Monaten das PKWN und sein Nachfolgeorgan seit dem Jahresbeginn 1945, die .Polnische Provisorische Regierung' (Polski Rzgd Tymczasowy, Abk. PRT), die, ohne das Grenzabkommen zu erwähnen, in öffentlichen Erklärungen die Propagierung der vereinbarten Westgrenze übernahmen, während Moskau sie intern, d.h. im Kreis der Kriegskoalition der Großmächte, durchzusetzen versuchte. Schon am 20. Juli 1944 verkündete der Vorsitzende des Lubliner Komitees (PKWN), Osóbka-Morawski, die Grenzforderung nach Oder und Lausitzer Neiße in einer Rundfunkansprache. 1 9 Zwei Tage später sprach der Kommandeur der Volksarmee, General Rola-Zymierski, in einem Tagesbefehl an seine Untergrundstreitkräfte davon, die Anstrengungen zu verstärken, „to restore to the motherland our ancient Polish Pomerania and Opole Silesia, East Prussia and a wide access to the sea, to fight for frontier posts 15 16 17
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Ebd. Spychalski, Powolanie, S. 203. Ebd. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 75. Basinski/Nazarewicz, Sojusz polsko-radziecki, S. 22.
2.4. Das polnisch-sowjetische Grenzabkommen
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on the Odra [Oder] and Nysa [Neiße]". 20 Vier Wochen darauf, am 28. August, verkündete Osóbka-Morawski in einer Pressekonferenz vor ausländischen Journalisten, die künftige Westgrenze Polens werde der Neiße (in Deutsch-Schlesien) bis zu ihrem Zusammenfluß mit der Oder folgen und dann westlich [gemeint war wohl nördlich] bis Stettin verlaufen. Dies würde, so fügte er hinzu, „eine gute strategische Grenze sein und uns mit der Tschechoslowakei in Berührung bringen". 21 Gut zwei Monate später, Anfang November 1944, sprach der Warschauer Volksrat in einer an Stalin persönlich gerichteten Resolution zum 27. Jahrestag der Oktoberrevolution von der Stärkung der nachbarschaftlichen Beziehungen beider Völker, „auf daß der Feind uns niemals mehr bedroht und sich niemals mehr getraut, unsere mit Opferblut erkämpften Grenzen entlang von Oder und Lausitzer Neiße zu verletzen". 22 Im folgenden Monat gab das sowjetische Parteiorgan ,Pravda' dem Chef der Informations- und Propagandaabteilung des Lubliner Komitees, Stefan Jçdrychowski, Raum für einen ausführlichen Artikel, in dem von der Oder einschließlich Stettins und der westlichen Neiße als Polens künftiger Westgrenze die Rede war. 23 Am 2. Januar 1945 sprach Osóbka-Morawski in seiner Erklärung auf der 6. Tagung des Landesnationalrats (KRN) zum Programm der tags zuvor gebildeten »Provisorischen Regierung Polens' von „der Vereinigung der Jahrhunderte alten polnischen Gebiete an Oder, Neiße und an der Ostsee mit dem Mutterland, was seit langem schon von unserem großen Verbündeten, der UdSSR, als rechtmäßig anerkannt" würde. 24 Davon ausgehend, daß, wie Wladyslaw Gomulka noch im Mai 1945 vor dem Zentralkomitee der PPR erklärte, der Erwerb der Westgebiete eines der Argumente sei, die die Partei benutze, um die Unterstützung der polnischen Gesellschaft zu erreichen, 25 wurde der Kampf um die neue Westgrenze in den folgenden Monaten zum zentralen politischen Programmpunkt des volkspolnischen Lagers. Der polnische Zeitgeschichtler Marian Orzechowski formulierte es mit den Worten: „The Odra-Lusatian Nysa line became the basis of the territorial programme of the Provisional Government set up on December 31, 1944." 26
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Wieslaw Balcerak, The Concept of Poland's Western Frontier as formulated by the Polish Left, in: PWA, Bd. XXVI (1985), H. 1, S. 55-69, hier S. 60. 2 ' Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dok. 80. 22 DMISPO, Bd. VIII, Dok. 154. 23 de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, S. 70 f. 24 DMISPO, Bd. VIII, Dok. 185. 25 Polonsky/Drukier, The Beginnings of Communist Rule, Dok. 75. Orzechowski, Polish Conceptions of the Polish-German Frontier during World War II, in: PWA, 2/1970, S. 267.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
Am 5. Februar 1945 versuchte Boleslaw Bierut, der Chef des Landesnationalrats (KRN), die gerade begonnene Konferenz von Jaita mit der Erklärung unter Druck zu setzen, daß die .Polnische Provisorische Regierung' in Ausführung des Programms, Polens westliche Grenzen bis zur Oder und Neiße auszudehnen, bereits mit der Eingliederung deutscher Vorkriegsterritorien in den polnischen Staat begonnen habe. Dies geschähe ungeachtet dessen, was die Krimkonferenz dazu beschließen würde. 2 7 Zuvor hatte sich bereits Stalin im Dezember 1944 gegenüber de Gaulle und dessen Außenminister Bidault mit Erfolg für die Grenzforderung an Oder und westlicher Neiße stark gemacht. 2 8 Dennoch mißlang sein Versuch, auf der vierten Vollsitzung der Krimkonferenz am 7. Februar 1945 durch einen von Molotov eingebrachten Vorschlag Churchill und Roosevelt für die Oder(Lausitzer)Neiße-Linie einschließlich Stettins zu gewinnen. 2 9 Am Ende war mit der in Jaita verabschiedeten Erklärung zu Polen zwar im Sinne Moskaus die Curzon-Linie bestätigt, hinsichtlich der Grenze im Westen und Norden jedoch nur allgemein das Recht auf „einen bedeutenden Gebietszuwachs" anerkannt 3 0 - eine weder für die exilpolnische Regierung in London noch für das volkspolnische Lager in Warschau befriedigende Lösung. Um so wichtiger erschien es der volkspolnischen Seite, die angestrebte Grenzziehung im Westen zu einer nationalen Kampagne zu erheben, wozu das PPR-Organ .Glos Ludu' in einem ausführlichen Artikel vom 17. Februar 1945 mit der Parole: „Das polnische Volk will die Grenze an der Oder und Lausitzer Neiße" den Startschuß gab. 3 1 Am 18. März sprach PKWN-Chef Osóbka-Morawski in einer öffentlichen Rede in Kattowitz davon, „Polen auf den Fundamenten von Neiße, Oder und Ostsee zu errichten", während General Rola-Zymierski an gleicher Stelle kategorisch erklärte, daß „weder Nachkriegskonferenzen noch irgendeine Armee der Welt den polnischen Soldaten von Oder und Neiße verdrängen" werden. 3 2 Ungeachtet der aufschiebenden Wirkung der Erklärung von Jaita über die endgültige Festlegung der polnischen Westgrenze fuhren Stalin und seine polnischen Verbündeten fort, mittels interner vertraglicher Regelungen über die Zukunft der deutschen Gebiete östlich von Oder und Lausitzer Neiße zu verfügen. Nach Gesprächen mit einer polnischen Delegation vom 14. bis zum 21. Februar in Moskau über die Ergebnisse der Krimkonferenz und die weitere Zusammenarbeit angesichts der durch die Winterof27 28
29 30 31 32
Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dok. 127. Ebd., Dok. 105. Vgl. Charles De Gaulle, Memoiren 1942-1946, Düsseldorf 1961, S. 356 u. 359 f. Teheran, Jaita, Potsdam, S. 145 f. Ebd., S. 193. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 103. Edmund Jan Osmancik, Byl god 1945..., Moskau 1975, S. 29.
2.4. Das polnisch-sowjetische Grenzabkommen
63
fensive der Roten Armee sich rapide verändernden militärischen Lage, erließ Stalin als Vorsitzender des .Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR' am 20. Februar 1945 den Befehl Nr. 7558. Dieser betraf in Ausführung des Abkommens zwischen dem Lubliner Komitee und der Sowjetregierung vom 26. Juli 1944 die Übergabe des von der Roten Armee eroberten polnischen Territoriums in die Hände einer polnischen Verwaltung. Er enthielt eingangs erneut eine Beschreibung des polnischen Grenzverlaufs im Westen und wiederholte dabei unter dem Vorbehalt einer endgültigen Grenzregelung durch die künftige Friedenskonferenz nahezu wörtlich die Grenzbeschreibung des Geheimabkommens vom 27. Juli des Vorjahres, wobei die Neiße durch Klammerzusatz als „westliche" (zachodna) präzisiert wurde. Wesentlich genauer als im Grenzvertrag vom Juli 1944 war die Festlegung der gemeinsamen Grenze auf dem Territorium Ostpreußens, das nördlich einer Linie „von der sowjetischen Grenze nördlich der Ortschaft Wizajny [litauisch: Vistytis] weiter nördlich von Goldap in Richtung auf Nordenburg und Preußisch-Eylau bis nördlich von Braunsberg einschließlich von Stadt und Hafen Königsberg" an die UdSSR fallen sollte. Der gesamte restliche Teil ebenso wie das Gebiet des früheren Freistaates Danzig mit Stadt und Hafen wurde als zu Polen gehörig betrachtet. 3 3 Im Rahmen der so festgelegten Grenzziehung begann Polen, ab dem März 1945 durch die Begründung von fünf neuen Woiwodschaften mit der Einführung seines Rechts- und Verwaltungssystems in den Westgebieten und erklärte „alle Rechtsnormen der bisher geltenden Gesetzgebung" als ungültig. 34 Polnische Befürchtungen wegen einer veränderten sowjetischen Politik gegenüber Deutschland und einer verstärkten Kompromißbereitschaft Moskaus gegenüber den Westmächten in der polnischen Frage, wie sie Gomulka auf dem ZK-Plenum der PPR Ende Mai 1945 zum Ausdruck brachte, bewahrheiteten sich nicht. 3 5 Daß im Zuge der polnischen Regierungsbildung vom Juni 1945 sich auch der prominenteste Repräsentant des nichtkommunistischen Polen in der neugebildeten .Polnischen Regierung der Nationalen Einheit' (Polski Rzqd Zjednoczenia Narodowego, Abk. PRZN), der stellvertretende Ministerpräsident Stanystaw Mikolajczyk, zum entschiedenen Wortführer der polnischen Ausdehnung bis zur Oder und Lausitzer Neiße machte, stärkte die polnische Position beträchtlich. 36 Nachdem zu Beginn der Potsdamer Konferenz die Sowjetregierung und die .Polnische Regierung der Nationalen Einheit' den anwesenden Staatschefs und Außenministern am 20. Juli in getrennten Noten die gemeinsame 33 34
35 36
Basmski/Nazarewicz, Sojusz polsko-radziecki, Dok. 24. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 105. Alfons Klafkowski, Die deutschpolnische Grenze nach dem II. Weltkrieg, Posen 1970, S. 62. Polonsky/Drukier, The Beginnings of Communist Rule, Dok. 75 (S. 425 u. 440 f.). Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 113.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
Position in der Grenzfrage deutlich gemacht hatten, kam es auf der 11. Vollsitzung am 31. Juli 1945 zur Entscheidung. Vorausgegangen war ein Kompromißvorschlag, den Stalin in der Nacht zum 30. Juli der polnischen Delegation zu unterbreiten versuchte, nachdem US-Außenminister Byrnes das polnische Grenzproblem mit der Regelung der Reparationsfrage zu einem Paket zusammengefaßt hatte. Die von Stalin als Kompromiß erwogene, im Mittel ca. 50 km östlich der Lausitzer Neiße verlaufende BoberQueis-Linie stieß nicht nur auf die Ablehnung der polnischen Delegation, die die ungeschmälerte Unterstützung ihrer seit langem gegenüber der Öffentlichkeit propagierten Grenzforderung einklagte, sondern erwies sich bereits am folgenden Tag als überflüssig. Die amerikanische Delegation erklärte sich bereit, ihren mit der Reparationsfrage verknüpften eigenen Grenzvorschlag von der östlichen auf die westliche Neiße zu übertragen. 37 So gelang Stalin im Bunde mit seinen polnischen Verbündeten in den Abschnitten VI (Königsberg) und IX (über Polen) des Potsdamer Abkommens bis in Details der Formulierung hinein die Durchsetzung jener Grenzlinie, die er fast genau ein Jahr zuvor mit dem Lubliner Komitee (PKWN) in Moskau vereinbart hatte, wenngleich der Friedensvertragsvorbehalt in beiden Abschnitten die Vorläufigkeit der getroffenen Regelung betonte. 38 Zwei Wochen nach dem Ende der Potsdamer Konferenz, am 16. August 1945, regelten Warschau und Moskau in einem Regierungsabkommen ihre gemeinsame Grenze vom San südlich Przemysl bis zur Ostseeküste nördlich von Braunsberg, jedoch nicht ohne bei der Beschreibung des ostpreußischen Grenzabschnitts den Friedensvertragsvorbehalt der Großmächte zu wiederholen. Zwei Tage darauf veröffentlichte die .Izvestija' eine Karte mit den im Vertrag beschriebenen Grenzlinien. 39 Mit der Festlegung der neuen Grenzen unauflöslich verbunden, wenngleich in öffentlichen Stellungnahmen längst nicht mit derselben Direktheit und Intensität diskutiert, war die Frage, was mit der deutschen Bevölkerung in den betroffenen Gebieten geschehen sollte. Bereits bei der Bekanntgabe seiner Grenzforderung nach Oder und Neiße am 28. August 1944 hatte Osóbka-Morawski zur Frage einer deutschen Minorität im künftigen Polen unmißverständlich erklärt: „Wir wollen keine deutsche Minderheit haben. Wenn wir Ostpreußen übernehmen, wird die Rote Armee hoffentlich alle erwachsenen Deutschen zu Wiederaufbauarbeiten ins Innere Rußlands geschickt haben, so daß wir niemand mehr vorfinden." Auch den deutschen Frauen und Kindern werde es nicht erlaubt sein, zu bleiben. 40 Am 14. 37 38 39 40
Ebd., S. 121-123. Teheran, Jaita, Potsdam, S. 339 u. 401. DMISPO, Bd. VIII, Dok. 314. Quellen zur Entstehung der Oder-Neiße-Linie, Dok. 80.
2.4. Das polnisch-sowjetische Grenzabkommen
65
November des gleichen Jahres widmete sich der führende Parteiideologe der PPR und Chefredakteur der .Glos Ludu', Roman Werfel, in einem Artikel unter dem Titel „O granice na Odrze i Nysie tuzyckiej" ausführlich dieser Frage. Darin wurden alle Vorbehalte einer im marxistischen Sinne differenzierenden Einstellung zur deutschen Bevölkerung aufgegeben und eine gleichmäßig harte Behandlung aller Deutschen, unabhängig von sozialer Lage und politischer Stellung, gefordert. Das deutsche Volk sei in seiner überwiegenden Mehrheit bis zum gegenwärtigen Augenblick, ohne daß ein Widerstand dagegen erkennbar wäre, seinen „faschistischen, räuberischen und imperialistischen Führungsschichten" gefolgt. Ein wesentlicher Träger des deutschen Imperialismus sei das östliche Junkertum. Da die gesamte Bevölkerung der östlichen Gebiete Deutschlands unter seinem „überwältigenden Einfluß" stünde, bliebe letztlich nur ein Weg: die Aussiedlung aller Deutschen, auch der „Werktätigen", aus diesen Gebieten. 41 Wie man sich auf polnischer und sowjetischer Seite die praktische Durchführung der Deportation von an die zehn Millionen Menschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße vorstellte - ein Problem, das durch die im September 1944 abgeschlossenen Umsiedlungsabkommen für die ostpolnische Bevölkerung, deren Aussiedlung bis zum 1. Februar 1945 abgeschlossen sein sollte, noch eine zusätzliche Verschärfung erfuhr - läßt sich nur vermuten. Offenbar vertraute man zum nicht geringen Teil darauf, daß eine mit dem Übergreifen der Kampfhandlungen auf deutsches Territorium einsetzende und durch ein mustergültig organisiertes Evakuierungssystem unterstützte Fluchtbewegung das Problem bereits im wesentlichen lösen würde. Bezeichnenderweise sprach Stalin schon auf der vierten Vollsitzung der Konferenz von Jaita, Churchills Bedenken gegen allzu große Bevölkerungsumsiedlungen zerstreuend, davon, daß es in den Gebieten, die die Rote Armee gerade besetze, kaum noch eine deutsche Bevölkerung gäbe, da diese dem Rückzug der eigenen Truppen nach Westen gefolgt sei. 42 Noch auf der Potsdamer Konferenz wiederholte er gegenüber Truman auf der fünften Vollsitzung am 21. Juli diese Behauptung mehrfach. 43 Auch Vysinskij gebrauchte dieses Argument im April und Mai in seinem Notenwechsel mit Harriman und Kennan, um damit die Errichtung der polnischen Zivilverwaltung in den deutschen Ostgebieten aus angeblich praktischer Notwendigkeit zu rechtfertigen. 44 Ebenso ging das Anfang Mai 41 42
43 44
Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 60 u. 86. Teheran, Jaita, Potsdam, S. 147; vgl. dazu Klaus-Dietmar Henke, Der Weg nach Potsdam - Die Alliierten und die Vertreibung, in: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, hg. von Wolfgang Benz, Frankfurt a.M 1985, S. 49-69, hier S. 59. Teheran, Jaita, Potsdam, S. 260-262. Vierheller, Polen und die Deutschland-Frage, S. 105.
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2. Die Vorgeschichte der Oder-Neiße-Linie
1945 erlassene polnische „Gesetz über das verlassene und aufgegebene Vermögen" von der Fiktion aus, die gesamte deutsche Bevölkerung sei geflohen und habe ihr Hab und Gut herrenlos zurückgelassen. 45 Daß dem in weiten Teilen nicht so war, und die militärischen Operationen der Roten Armee in eine unorganisierte und weitgehend chaotisch ablaufende Fluchtbewegung hineinstießen, schien - wie eine Reihe von Indizien andeuten in der Moskauer Führung nicht erwartet worden zu sein. Mußte nicht eine Fluchtwelle maximalen Ausmaßes, die alles erfaßte und die Gebiete östlich von Oder und Neiße möglichst menschenleer zurückließ, im Interesse derjenigen liegen, die über die Zukunft dieser Territorien bereits seit langem konkrete Abmachungen getroffen hatten?
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 3: Polnische Gesetze und Verordnungen 1944-1955 (= Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. I), Dok. 20.
3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen gegen das Reichsgebiet im letzten Kriegshalbjahr 3.1. Das Vorspiel: Memelland und Ostpreußen im Herbst 1944 Durch den Erfolg der Frühjahrs- und Sommeroffensiven des Jahres 1944 hatte die Rote Armee die sowjetischen Vorkriegsgrenzen des Jahres 1941 überschritten und den Krieg auf den Balkan und nach Zentraleuropa getragen. Im Herbst desselben Jahres erfolgte die Befreiung des Baltikums und eines beträchtlichen Teils von Jugoslawien und Ungarn, während die Kriegsverbündeten Hitlerdeutschlands, Finnland, Rumänien und Bulgarien, zur selben Zeit aus dem Krieg ausschieden. Im Oktober 1944 verlief die Frontlinie in einem weiten, ca. 2000 km umspannenden Bogen von der Ostseeküste Kurlands über die Narew-Weichsel-Linie, die Karpatenregion und die ungarische Tiefebene bis zum griechischen Mittelmeer.1 Am 17. August 1944 hatten Vorausabteilungen der 5. Armee im Rahmen der 3. Weißrussischen Front am Grenzflüßchen Scheschuppe (Szeszuppe) östlich von Schirwindt erstmals kurzzeitig deutsches Reichsterritorium betreten. 2 Am 26. August befahl die Stavka - das Hauptquartier des .Obersten Befehlshabers' Stalin - der Front, den weiteren Vormarsch einzustellen, um sich für eine neue Angriffsoperation in den kommenden Wochen vorzubereiten. 3 Dem sowjetischen Oberkommando und seinem Generalstab schwebte zu diesem Zeitpunkt, im September 1944, die Idee vor, zusammen mit der Vernichtung der noch im Baltikum stehenden Verbände der deutschen Heeresgruppe Nord auch Ostpreußen, laut der Armeezeitung .Krasnaja Zvezda' vom 24. Oktober 1944 die „Heimstätte der deutschen Militärclique" und „wichtigste Stütze des Hitlerfaschismus", zu erobern. Damit sollte für die bereits in mehreren Brückenköpfen am Westufer der Weichsel stehenden und auf die allgemeine Richtung Berlin zielenden Verbände der 1. und 2. Weißrussischen Front die nördliche Flankenbedrohung ausgeschal1 2
3
Vgl. dazu Heinz Guderian, Erinnerungen eines Soldaten, Heidelberg 1951, S. 338 ff. M. Alekseev, Nacalo boev ν Vostocnoj Prussii, in: VIÍ, Ig. 6 (1964) H. 10, S. 119-122, hier S. 119; Ε. Z. Vorob'ev, Granica, in: E. Sacharov, Dychanie pobedy, Kaliningrad 1970, S. 52 f. Alekseev, Nacalo, S. 119
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3. Planung und Ablauf der militärischen Aktionen
tet werden. 4 Zu diesem Zweck war vorgesehen, die 3. Weißrussische Front unter ihrem jungen, gerade 38jährigen Oberbefehlshaber, Ivan Cernjachovskij, verstärkt durch Reserven des Oberkommandos, von Osten her „einen 220-250 km tiefen mächtigen Stoß durch ganz Ostpreußen bis zur Weichselmündung" führen zu lassen.5 Gemäß dem vom sowjetischen Oberkommando verfolgten Prinzip, die militärischen Aktivitäten stets an den Flanken der strategischen Front zu konzentrieren, um damit den Gegner zum größtmöglichen Auseinanderziehen seiner Kräfte zu zwingen, sollte die Operation auf ostpreußischem Boden mit dem Ende Oktober vorgesehenen Angriff der 2. Ukrainischen Front Marschall Malinovskijs aus der ungarischen Tiefebene auf Budapest koordiniert werden. 6 Trotz der grundsätzlichen Bedenken Cernjachovskijs wegen der Stärke und Tiefe des ostpreußischen Festungs- und Verteidigungssystems und der mangelnden Ausstattung der eigenen Truppen mit Durchbruchmitteln arbeitete der Frontstab auf Weisung des Moskauer Oberkommandos innerhalb von drei Tagen einen Operationsplan aus, den der Frontoberbefehlshaber persönlich am 27. September in Moskau Stalin und der Stavka vortrug. Der Plan sah einen tiefen frontalen Stoß von der östlichen Grenze Ostpreußens in Richtung auf Gumbinnen vor, der sich nach dem 8. bis 10. Operationstag östlich einer Linie Insterburg-Angerapp-Goldap in zwei Stoßkeile - der eine nach Nordwesten auf Königsberg, der andere Richtung Südwesten auf das Weichseldelta zu - aufspalten sollte.7 Cernjachovskij, dessen Plan nach einigen Überarbeitungen und Präzisierungen noch am folgenden Tag vom Oberkommando gebilligt wurde, kehrte bereits am 29. September in sein Hauptquartier nahe Koslova Ruda (litauisch Kazlu Ruda), ca. 30 km von der ostpreußischen Grenze entfernt, zurück. 8 Eine Woche später, am 5. Oktober 1944, begann die 1. Baltische Front unter ihrem Oberbefehlshaber, Armeegeneral Ivan Bagramjan, ihre Memel-Operation, die bereits wenige Tage später durch zwei fast zeitgleiche Vorstöße zur Ostseeküste - der eine bei Polangen, der andere ca. 30 km südlich davon zum Kurischen Haff unweit Prökuls - sowohl die Stadt Memel einschloß, als auch gleichzeitig die in Kurland stehende deutsche Heeresgruppe Nord von ihrer Landverbindung nach Ostpreußen abschnitt. Am 9. Oktober erreichten Vorhuten von Bagramjans 39. Armee unter Generalleutnant Ljudnikov auf ihrem Vormarsch zwischen Tauroggen und Georgenburg (Jurbarkas) die Südostgrenze des Memellandes. Sie besetzten als erste 4 5 6 7
8
Krasnaja Zvezda (KZ), 24. 10. 1944, S. 1. S. M. Schtemenko, Im Generalstab, Bd. 1, (Ost)Berlin 1971, S. 315 f. Ebd., S. 319. K. N. Galickij, V bojach za Vostocnuju Prussiju. Zapiski Komandujuscego U-j gvardejskoj armiej, Moskau 1970, S. 18-20. Ebd., S. 19; A. Saripov, Cernjachovskij, Moskau 1980, S. 272.
3.1. Memelland und Ostpreußen im Herbst 1944
69
deutsche Ortschaft Augustogallen, was unverzüglich eine starke Fluchtbewegung der memelländischen Bevölkerung in die angrenzenden ostpreußischen Kreise hinein auslöste.9 Nach der Erzwingung der Memellinie sollte die 1. Baltische Front aus dem Raum Tilsit mit dem Ziel mittlerer Pregel und östliches Vorfeld von Königsberg den nach Westen gerichteten Stoß Cernjachovskijs von Norden her unterstützen. Dabei hatte ihre 39. Armee, Cernjachovskijs Kommando unterstellt, durch Fesselungsangriffe im Raum zwischen Schillehnen und Lasdehnen dessen nördliche Flanke zu sichern. Als Operationsgrenze zwischen beiden Fronten wurde die Linie Georgenburg - Insterburg festgelegt. 10 Analog zum Auftrag der 39. Armee am rechten hatte die 31. Armee unter Generaloberst Glagolev am linken (d.h. südlichen) Flügel des Hauptangriffsstreifens, durch Unterstützungsangriffe im Raum Schittkehnen die Aufgabe des Flankenschutzes zu erfüllen. Dazwischen, in einem knapp 40 km breiten Streifen zwischen Schirwindt im Norden und Vistytis im Süden konzentrierte Cernjachovskij im Laufe der ersten Oktoberhälfte seine Stoßgruppierung, bestehend aus der 5. Armee unter Generaloberst Krylov im nördlichen (d.h. nördlich von Vilkaviskis) und der 11. Gardearmee Generaloberst Galickijs im südlichen Angriffsabschnitt. Dahinter folgte als zweite Angriffsstaffel die 28. Armee (Generalleutnant Lucinskij) und als operative Ausweitungsgruppe das 2. Garde-Tankkorps Generalmajor Burdejnyjs. 11 Allein im Bereich der Hauptstoßrichtung, die im Norden auf Insterburg und im Süden auf Angerapp (Darkehmen) zielte, waren 27 Divisionen aufgeboten. Hier konzentrierten sich auf einem Viertel des Gefechtsstreifens der 3. Weißrussischen Front zwei Drittel aller Schützendivisionen, drei Viertel der gesamten Artillerie und 90 Prozent aller Panzer und Sturmgeschütze. Für den mit ca. 20 km Breite angesetzten Durchbruchsabschnitt beiderseits von Vilkaviskis (Wilkowischken) war eine Dichte des Artillerieaufmarschs von 220 Rohren pro Kilometer sowie 25-30 Tanks für die Infanterieunterstützung je Angriffskilometer vorgesehen. 12 Für die Luftunterstützung sorgten die Fliegerdivisionen der 1. Luftarmee unter Generaloberst Chrjukin.
10
11 12
Siehe: Memel'skaja operacija 1944, in: Sovetskaja voennaja enciklopedija (SVE), Bd. 5, Moskau 1979, S. 239 f; I. I. Ljudnikov, Doroga dlinoju ν zizn', Moskau 1969, S. 138 f. Dazu zum Vergleich: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 1 (= Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa, Bd. I), S. 14E. Alekseev, Nacalo, S. 120 f.; Galickij, V bojach, S. 17 f. u, 66 f.; Α. M. Wassilewski, Sache des ganzen Lebens, (Ost)Berlin 1988, S. 439. Galickij, V bojach. S. 21. Alekseev, Nacalo, S. 120; Galickij, V bojach, S. 19; Saripov, Cernjachovskij, S. 272.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Aktionen
Neben einer kurzen, aber intensiven stabs- und pioniertechnischen Vorbereitung der Operation, die außer einem eingehenden Studium des z.T. seit Jahrzehnten ausgebauten ostpreußischen Befestigungssystems auch die besonderen Schwierigkeiten des Terrains behandelte, stand eine gezielte Aufklärung des Gegners und seiner Verteidigungsmittel. Dies geschah u.a. durch über einhundert taktische Aufklärungsunternehmen, 85 feste Beobachtungsverstecke und sechs mit Funk ausgestattete bewegliche Aufklärungsgruppen vor der eigenen Frontlinie. 13 Hinzu kam eine besonders sorgfältige politische Vorbereitung der Truppe, die die Soldaten aller Dienstgrade auf den ersten größeren Einsatz auf deutschem Boden einstimmte und sie im Sinne der von Stalin ein halbes Jahr zuvor ausgegebenen Losung, „die faschistische Bestie in ihrer eigenen Höhle zu erledigen" (dobit* fasistskogo zverja ν ego sobstvennoj berloge!), zum „Haß auf die deutsch-faschistischen Eroberer" erzog. Parallel dazu brachten die Truppenzeitung der 3. Weißrussischen Front, die .Krasnoarmejskaja pravda' sowie die Frontzeitungen der beteiligten Armeen wie .Boevaja trevoga' (11. Gardearmee), .Unictozim vraga' (5. Armee) und .Stalinskij udar' (28. Armee) zahllose Berichte über die Greueltaten der deutschen Besatzungsmacht auf sowjetischem Gebiet. Vor allem die Gardisten der 11. Gardearmee „schworen einen heiligen Eid, sich am Feind für alle auf sowjetischer Erde begangenen Grausamkeiten zu rächen" (Generaloberst Galickij), wenngleich im Politunterricht auch betont wurde, Häuser nicht ohne Genehmigung der eigenen Offiziere und des deutschen Eigentümers zu betreten oder diese zu durchwühlen, „wie dies die Hitleristen getan haben". 14 Den Höhepunkt der politischen Einstimmung bildete der Aufruf des Kriegsrates der Front an alle Soldaten, den die .Krasnoarmejskaja pravda' am Tage des Angriffsbeginns, dem 16. Oktober 1944, veröffentlichte. 15 Einleitend war darin zu lesen, daß „den Kämpfern der 3. Weißrussischen Front [...] die große Ehre zuteil [werde], als erste den Boden Deutschlands zu betreten, um mit der gesamten Roten Armee die verwundete deutsche Bestie endgültig zu zerschlagen und den ewigen Ruhm der russischen Waffen zu bekräftigen". Direkt an die Soldaten („Treue Söhne der Heimat!") gewandt, hieß es weiter: „Vor Euch liegt Deutschland, in dem Hunderttausende gewaltsam fortgetriebener Sowjetmenschen in faschistischer Zwangsarbeit schmachten. Die Deutschen richten sie durch Arbeit, die ihre Kräfte übersteigt, zugrunde, lassen sie hungern und morden sie grau-
13 14 13
Galickij, V bojach, S. 30. Ebd., S. 59 f. u. 106. Im folgenden nach Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), Generalstab des Heeres (RH 2), Bd. 2681, Bl. 31-34.
3.1. Memelland und Ostpreußen im Herbst 1944
71
sam. In Eueren Händen, Soldaten, liegt das Leben und die Zukunft der Freunde und Verwandten. Ihr bringt ihnen die Befreiung aus schwerer Sklaverei und die Errettung aus qualvollem Tod." Unverhüllt schürte der Aufruf die persönlichen Rache- und Vergeltungsgefühle vieler Rotarmisten, indem er mit der aufrüttelnden Passage fortfuhr: „Merke Dir, Soldat! Dort in Deutschland versteckt sich der Deutsche, der Dein Kind gemordet, Deine Frau, Braut und Schwester vergewaltigt, Deine Mutter, Deinen Vater erschossen, Deinen Herd niedergebrannt hat. Geh mit unauslöschlichem Haß gegen den Feind vor! Deine heilige Pflicht ist es, um der Gerechtigkeit willen und im Namen des Andenkens der von den faschistischen Henkern Hingemordeten, in die Höhle der Bestie zu gehen und die faschistischen Verbrecher zu bestrafen. Das Blut unserer im Kampf gefallenen Kameraden, die Qualen der Gemordeten, das Stöhnen der lebendig Begrabenen, die unstillbaren Tränen der Mütter rufen Euch zu schonungsloser Rache auf." Der am 16. Oktober mit einer zweistündigen Artillerievorbereitung beginnende Angriff gegen den Nordflügel der deutschen 4. Armee (General d. Inf. Hoßbach) verlief anfangs recht erfolgreich. Im Laufe von drei Kampftagen erzielte die 11. Gardearmee Galickijs eine Einbruchtiefe von 23 bis 28 km in die deutsche Verteidigung, erreichte auf der Linie EydtkuhnenVistytis die Reichsgrenze und drang bis zum Abend des 18. Oktober auf einer Breite von 35 km bis zu fünf km tief auf ostpreußisches Gebiet vor. 16 Schlechter sah es im Norden bei der 5. Armee aus, die in heftige Kämpfe um Schirwindt verwickelt wurde. Zudem hatte ihr stellvertretender Kommandeur, Generalleutnant Safranov, der für den etatmäßigen Befehlshaber, den im Lazarett liegenden Generaloberst Krylov, die Armee führte, Probleme mit der Truppenführung und dem konzentrierten Einsatz seiner Angriffsmittel. Trotzdem gelang es, bis zum 19. Oktober die taktische Verteidigungszone der Deutschen zu durchbrechen, so daß Cernjachovskij noch am selben Tag in den Angriffsstreifen der 11. Gardearmee das 2. Gardepanzerkorps Generalmajor Burdejnyjs zur operativen Ausweitung des Durchbruchs einführen konnte. Dieses überschritt die Pissa und begann unverzüglich, am Westufer in Richtung Westen vorzustoßen. 17 Als gepanzerte Speerspitze der 11. Gardearmee überschritt das Korps am 20. Oktober die Rominte bei Walterkehmen. Von hier aus teilte sich, einem Befehl des Frontoberkommandos entsprechend, der Stoßkeil in drei Richtungen auf: ein nördlicher zielte auf Gumbinnen, ein mittlerer wurde auf Nemmersdorf an der Angerapp angesetzt und ein südlicher richtete sich auf die Kreisstadt An16 17
Galickij, V bojach, S. 106. Ebd., S. 109, 121 u. 126.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Aktionen
gerapp (Darkehmen). Am zügigsten voran kam der mittlere, auf Nemmersdorf gerichtete Vorstoß der 25. Garde-Tankbrigade, die zusammen mit einem Schützenbataillon der 4. motorisierten Schützenbrigade aus der Bewegung heraus die nahe des Ortes gelegene Eisenbahnbrücke über die Angerapp nahm und am westlichen Flußufer rund um die Ortschaft einen Brückenkopf bildete, wo sie sich in den folgenden beiden Tagen heftiger deutscher Gegenangriffe erwehren mußte. 18 Im südlichen Abschnitt der 11. Gardearmee fiel nach heftigem Kampf am 22. Oktober durch ein Regiment der 18. Garde-Schützendivision die Stadt Goldap. 19 Zwei Tage zuvor bereits hatte Cernjachovskij seine operative Frontreserve, die 28. Armee, in den nördlichen Durchbruchsstreifen der 11. Gardearmee eingeführt, die zusammen mit Verbänden der 5. Armee das hartnäckig verteidigte Ebenrode (Stallupönen) einschließen und den Angriff in Richtung Gumbinnen verstärken sollte. Den bereits merklich abgeebbten Angriffsschwung der Offensive zu beleben, gelang dadurch kaum. Lediglich die Eroberung Ebenrodes glückte, wenngleich erst am 25. Oktober, während die Einnahme Schloßbergs am erbitterten Widerstand der 1. Ostpreußischen Infanteriedivision scheiterte. 20 Entscheidend dafür, daß der Operation der Gesamterfolg versagt blieb, war jedoch die Tatsache, daß der 1. Baltischen Front nach der Zurücknahme der deutschen Verteidigung auf die Memellinie kein weiterer Vorstoß nach Ostpreußen hinein gelang, der Cernjachovskijs Angriff von Norden her hätte die Hand reichen können. Der starke Widerstand der deutschen 3. Panzerarmee im Raum Tilsit zwang Bagramjan, der außerdem noch eine Nordfront gegen die auf Kurland zurückgedrängte deutsche Heeresgruppe Nord zu halten hatte, die Memel-Operation am 22. Oktober endgültig einzustellen. Damit hing der von der 3. Weißrussischen Front mittlerweile gut 40 km tief nach Ostpreußen hineingetriebene Angriffskeil aus drei Armeen mehr oder weniger isoliert in der Luft. 21 Hinzu kam, daß es der deutschen Seite durch die Verkürzung der Memelfront im Norden gelungen war, bewegliche Verbände wie die 5. Panzerdivision und Teile des FallschirmPanzerkorps .Hermann Göring' zu einer Stoßgruppe im Raum östlich von Gumbinnen zusammenzuziehen, die den russischen Durchbruchskeil von Norden her einzudrücken drohte. Dasselbe geschah durch eine zweite, von Süden her herangeführte Angriffsgruppierung aus der dem Armeeoberkommando 4 aus der Reserve des OKW zur Verfügung gestellten ,FührerGrenadierbrigade'. Beide Stoßgruppen begannen seit dem Morgen des 22. 18
20 21
Ebd., S. 140 u. 163. Ebd., S. 164, Β. V. Lobanov, Vosemnadcataja gvardejskaja. Boevoj put' 18-j gvardejskoj Insterburgskoj [...] strelkovoj divizii, Kaliningrad 1975, S. 108. Galickij, V bojach, S. 132 u. 136. Ebd., S. 136 u. 169.
3.1. Memelland und Ostpreußen im Herbst 1944
73
Oktober durch einen gleichzeitig von Norden und Süden geführten Zangenangriff den bis Nemmersdorf reichenden sowjetischen Stoßkeil entlang der Rominte beiderseits Walterkehmen abzuschnüren. 22 Auf diesem Höhepunkt der Schlacht reagierte Frontoberbefehlshaber Cernjachovskij zunächst mit einer .Flucht nach vorn'. Er befahl in den Abendstunden des 22. Oktober seiner 11. Gardearmee, bis zum Abend des folgenden Tages sowohl Gumbinnen wie Angerapp einzunehmen und die südlich von Walterkehmen stehende deutsche Stoßgruppe durch den Angriff dreier Divisionen auf die Bahnlinie Angerapp-Goldap zurückzuwerfen. Vor Gumbinnen standen zu diesem Zeitpunkt die drei Divisionen des 128. Schützenkorps, die bereits im Vorfeld der Stadt kämpften und keine nennenswerten deutschen Kräfte mehr vor sich hatten. 2 3 Der unerwartete deutsche Zangenangriff in den Raum von Tellrode und Walterkehmen ließ Cernjachovskij schon wenige Stunden später seinen Entschluß ins Gegenteil verkehren. Noch gegen Mitternacht desselben Tages befahl er nach einem kurzen Lagevortrag Galickijs, der 11. Gardearmee unverzüglich an der Rominte zur Verteidigung überzugehen. 24 Ein Versagen der taktischen Aufklärung, die dem Frontoberkommando überhöhte Zahlen über die Stärke der beiden deutschen Angriffsgruppen meldete, mögen bei dieser Entscheidung genauso mitgespielt haben, wie das in der Roten Armee überaus lebendige Tannenberg-Trauma. Die Erinnerung an das Schicksal der 2. Neman-Armee Samsonovs in den Augusttagen des Jahres 1914, nicht weit vom Schauplatz der gegenwärtigen Kampfhandlungen entfernt, war beim älteren Offizierskorps noch wach genug. 2 5 Bis zum Abend des 23. Oktober nahm die 11. Gardearmee unter Zurücklassung zahlreichen kostbaren Kriegsmaterials ihren bis zur Angerapp vorgetriebenen Stoßkeil hinter die Rominte in den Raum um Walterkehmen zurück. 2 6 So war an dem Tag, an dem Stalin mit seinem Tagesbefehl Nr. 2 0 3 die Erfolge der 3. Weißrussischen Front auf ostpreußischem Boden feierte und ihr zu Ehren in Moskau einen Salut von 2 0 Artilleriesalven aus 2 2 4 Geschützen feuern ließ, die Operation bereits abgebrochen. 27
2 2 2 3 2 4 2 5
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Ebd., S. 152 ff. Vgl. dazu Friedrich Hoßbach, Die Schlacht um Ostpreußen, S. 32 f. Galickij, V bojach, S. 166 f. Ebd., S. 165-172. S. N. Borstschew, Der Kampfweg der 46. Lugaer Schützendivision von der Weichsel bis an die Elbe, in: Joachim May (Hg.), Vom Narew bis an die Elbe. Erinnerungen sowjetischer Kriegsteilnehmer der 2. Belorussischen Front, (Ost)Berlin 1965, S. 197-219, hier S. 200. Galickij, V bojach, S. 169-172. Vgl. dazu auch die Darstellung von Glantz: Devid M. Glantc, „Zabytye" stranicy Velikoj Otecestvennoj Vojny (1941-1945), in: VI, 5-6/1995, S. 37. Saripov, Cernjachovskij, S. 275 f.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Aktionen
Die nachrückenden deutschen Verbände fanden in dem geräumten Gebiet südlich Gumbinnen zwischen Angerapp und Rominte an verschiedenen Orten die Leichen von 65 ermordeten Zivilisten, 26 davon in der Gemeinde Nemmersdorf, 20 weitere - offenbar Angehörige durchziehender Flüchtlingstrecks - bei den Weilern Teichhof und Tutteln, in der unmittelbaren Umgebung der Ortschaft. Ein zweiter Schwerpunkt war das Vorwerk Alt-Wusterwitz 10 km südlich von Gumbinnen, wo 15 z.T. verkohlte Leichen von Zivilpersonen aufgefunden wurden. Weitere 10 Leichen - sechs Zivilisten, darunter drei Hoheitsträger der NSDAP mit dem stellvertretenden Kreisleiter von Insterburg, und vier in Gefangenschaft ermordete deutsche Soldaten - wurden Anfang November bei der Rückeroberung Goldaps gefunden. 28 Todesursache waren nach den amtlichen deutschen Untersuchungen „meist Nahschüsse in Kopf und Brust", wobei andere Wundmerkmale „z.T. bestialische Ermordung erkennen ließen", darunter Stichund Schlagwunden sowie Vergewaltigungen bei zahlreichen Frauen. Sinnlose Zerstörungen in den nicht durch Kampfeinwirkungen betroffenen Häusern waren keine Einzelerscheinungen, sondern wurden nahezu in allen besetzten Ortschaften festgestellt.29 Indessen hatte die nahezu vollständige Räumung der von den Kampfhandlungen am stärksten betroffenen östlichen Kreise Ebenrode am 18. und Schloßberg bis zum 23. Oktober bewirkt, daß sich die Opfer unter der Zivilbevölkerung in Grenzen hielten, wenngleich die Ereignisse von Nemmersdorf, nicht zuletzt wegen ihrer starken propagandistischen Verbreitung durch die NS-Führung, für die gesamte Bevölkerung des deutschen Ostens einen Signalcharakter erhielten, der die Bereitschaft zur Flucht selbst entgegen behördlicher Anordnung entscheidend gefördert hat. 30 Nach der Rückeroberung Goldaps durch einen deutschen Gegenangriff im südlichen Abschnitt der 11. Gardearmee stabilisierte sich die Front nach dem 5. November 1944 auf einer Linie, die nördlich von Schirwindt die Reichsgrenze nach Westen überschritt, in einem weiten, nach Westen gekrümmten Bogen bis zur Rominte um Walterkehmen vorsprang, von dort in südlicher Richtung am Westrand der Romintener Heide vorbei, bei Fillipow wieder über die Reichsgrenze und entlang des Grenzflüßchens Rospuda nach Augustów reichte. Damit war auf einer Breite von ca. 100 km und an einigen Stellen 2
® Bericht des Majors i.G. Hinrichs, OKH Generalstab des Heeres, Abteilung .Fremde Heere Ost' vom 26. 10. 1944; Bericht der Gruppe 718 der Geheimen Feldpolizei vom 25. 10. 1944. Feldgendarmerietrupp 150, Bericht vom 7. 11. 1944. Alle Berichte in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Bonn (PA-AA), Völkerrecht-Kriegsrecht (VR-KR) 82/8. 29 Bericht Hinrichs, wie Anm. 28. Christian Graf Krockow, Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 bis 1947, Stuttgart 1988 S. 60.
3.1. Memelland und Ostpreußen im Herbst 1944
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in einer Tiefe bis zu 40 km ostpreußisches Reichsgebiet von der Roten Armee endgültig besetzt worden. Wenngleich die anfangs weitgesteckten Ziele der Operation verfehlt wurden, waren auf russischer Seite doch wertvolle Kampferfahrungen auf dem schwierigen ostpreußischen Terrain gesammelt und neue, verbesserte Ausgangspositionen für zukünftige Offensiven gegen die deutsche Heeresgruppe Mitte gewonnen worden. Hinzu kam die wichtige .psychologische Feuertaufe' erstmals auf deutschem Boden bestandener Kampfhandlungen größeren Umfangs. Der operative Mißerfolg in Ostpreußen war für das sowjetische Oberkommando begleitet von einem vergleichbaren Rückschlag am entgegengesetzten Ende seiner strategischen Front in Europa durch den ersten gescheiterten Angriff auf Budapest durch die Truppen der 2. Ukrainischen Front Malinovskijs.31 Der Herbst 1944 brachte der Roten Armee nach der Rückeroberung des Baltikums und der Befreiung Belgrads keinen durchschlagenden operativen Erfolg mehr. In den folgenden Monaten erstarrte die Front zwischen der memelländischen Ostseeküste und der südlichen Adria - den Brennpunkt Budapest ausgenommen - nahezu im Stellungskrieg. Sergej Stemenko, damals Chef der operativen Abteilung (russ. Verwaltung) des Generalstabs, zog aus den gewonnenen Erfahrungen für das Moskauer Oberkommando das folgende Fazit: „Die unbefriedigenden Ergebnisse des Oktobers zeigten, daß wir den schon länger im Einsatz befindlichen Divisionen eine Ruhepause gönnen, unsere Truppen umgruppieren, die Rückwärtigen Dienste nachziehen und die für einen Durchbruch sowie für die anschließende Entwicklung der Operation erforderlichen materiellen Vorräte schaffen mußten." 32 Die zehnwöchige Atempause bis zum folgenden lanuar bedeutete für den Osten Deutschlands und seine Bevölkerung nur die ,Ruhe vor dem Sturm'.
3.2. Planung und strategische Vorgaben der Januaroffensive 1945 im Weichselbogen und in Ostpreußen Die letzten Wochen des Jahres 1944 standen in Moskau im Zeichen intensiver Vorbereitungsarbeiten für die zu Beginn des Jahres 1945 geplanten strategischen Offensiven im zentraleuropäischen Teil der deutsch-sowjetischen Front. Hier, im gut eintausend Kilometer langen Abschnitt zwischen
31 32
Schtemenko, Im Generalstab, Bd. 2, (Ost)Berlin 1975, S. 267-303. Schtemenko, ebd., Bd. 1, S. 316.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
der Memelmündung ins Kurische Haff und dem Duklapaß auf dem östlichen Hauptkamm der Beskiden hatte die sowjetische Heeresführung insgesamt sechs Fronten (Heeresgruppen) konzentriert. Die 1. Baltische und 3. Weißrussische Front standen im Norden gegen Ostpreußen, die 2. und 1. Weißrussische Front im Narew-Weichselbogen rund um die drei im Sommer 1944 erkämpften Brückenköpfe von Rozan, Magnuszew und Pulawy. Weiter flußaufwärts gruppierte sich die 1. Ukrainische Front Marschall Konevs um den südlichsten und von der Ausdehnung größten Weichselbrückenkopf von Sandomierz/Baranów. Südlich davon folgte vom Nordrand der Beskiden bis in die Ostslowakei die 4. Ukrainische Front unter Armeegeneral Petrov.1 Hinter den sowjetischen Streitkräften lagen die kräftezehrenden Großoffensiven des vergangenen Sommers und Herbstes; der personelle und materielle Substanzverlust erzwang beträchtliche Neuauffüllungen. Je mehr man sich vom eigenen Territorium entfernte und der Krieg sich auf Deutschlands Grenzen zubewegte, um so mehr dehnten sich die eigenen Nachschubwege. Dies bescherte der deutschen Seite den Vorteil der .inneren Linie', ein Punkt, auf den namentlich Reichspropagandaminister Goebbels in seinen Rundfunkansprachen an die deutsche Bevölkerung gegen Jahresende 1944 so große Hoffnungen konzentrierte. 2 Von Beginn an war es in Moskau beabsichtigt, den letzten Feldzug gegen Deutschland aus den im Herbst 1944 erreichten Positionen mittels einer Generaloffensive an der gesamten Front in zwei Etappen durchzuführen. Den Auftakt zur ersten Etappe sollten aktive Operationen im Süden, d.h. im Budapester Abschnitt der deutsch-sowjetischen Front, bilden, bei denen durch eine Kräftezusammenfassung der 2. und 3. Ukrainischen Front im ungarisch-slowakischen Raum im Laufe von achtwöchigen Operationen bis zum Jahresende 1944 das Vorfeld von Wien zu erreichen war. Der drohende Einsturz seines Südflügels sollte das deutsche Oberkommando dazu nötigen, seine wenigen strategischen Reserven aus der Berliner Richtung in diesen Raum zu verlegen, was günstige Bedingungen für einen tiefen Vorstoß im Bereich der mittleren Weichsel in Richtung auf Oder und Warthe zu eröffnen versprach. Zu Beginn des Jahres 1945 rechnete der Moskauer Generalstab fest damit, Bromberg und Posen zu nehmen und die Linie Breslau-Pardubitz-Iglau-Wien zu erreichen, d.h. Ziele zwischen 120 und 350 km westlich der im Oktober 1944 eingenommenen Positionen. Danach war ohne größere operative Pause die zweite Feldzugsetappe geplant, an
Magenheimer, Abwehrschlacht an der Weichsel 1945, S. 79-89. Siehe Goebbels' Rundfunkrede vom 27. Oktober 1944, in: Keesings Archiv der Gegenwart, Jg. XIV (1944), Nr. 6573.
3.2. Planung und strategische Vorgaben
77
deren Ende man die Kapitulation Deutschlands erwartete. 3 In der Tat reagierte Hitler wie vermutet auf die Ende November einsetzenden Angriffe aus den Donaubrückenköpfen bei Mohács auf Budapest mit einer eigenen beträchtlichen Kräftekonzentrierung im nordungarischen Raum, so daß parallel mit dem Beginn der 3. Kurlandschlacht am nördlichen Frontende im Dezember 1944 ein Auseinanderziehen der deutschen Kräfte bis zum Jahresende entlang der gesamten Ostfront gelang. Dadurch wurde das Zentrum der deutschen Front, die mittlere Weichsellinie zwischen Warschau und dem Brückenkopf von Sandomierz, deutlich geschwächt und war, wegen der im Zusammenhang mit der Ardennenoffensive erfolgten starken deutschen Kräftekonzentration im Westen, lediglich durch geringe Reserven gesichert. „So zwangen wir", wie Stemenko bemerkte, „dem faschistischen Oberkommando auch diesmal unseren Willen auf: Es ließ an dem für uns wichtigsten Frontabschnitt ganze 49 Divisionen - davon nur 5 Panzerdivisionen - zurück." 4 In der ersten Novemberhälfte versammelten sich die Frontoberbefehlshaber Cernjachovskij, Konev, Rokossovskij und Tolbuchin im Moskauer Generalstab. Dort wurden mit jedem von ihnen einzeln die geplanten Operationen ihrer Fronten im Detail durchgesprochen und anschließend dem Hauptquartier Stalins zur Bestätigung vorgelegt. Die Fronten erhielten die Stoßrichtungen, die Angriffsstreifen und die Operationstiefen für die nächste sowie die darauffolgende Aufgabe zugewiesen. Der Beginn der allgemeinen Offensive wurde auf den 20. Januar 1945 festgelegt.5 Über die damaligen Zielvorstellungen des Generalstabs „für die endgültige Vernichtung der faschistischen Kriegsmaschine" schrieb Stemenko im Rückblick auf jene Tage: „Wir nahmen an, es mit Angriffsoperationen schaffen zu können, die anderthalb Monate dauern, eine Tiefe von 600 bis 700 km aufweisen und in zwei aufeinanderfolgenden Etappen ohne operative Pause durchgeführt werden sollten. Für die erste Etappe waren fünfzehn und für die zweite dreißig Tage vorgesehen. Das Vormarschtempo war deshalb so niedrig geplant, weil in der Endphase der Kämpfe mit erbittertem Widerstand zu rechnen war." 6 Am 16. November bestimmte Stalin seinen 1. Stellvertreter, Marschall Zukov, an Stelle von Rokossovskij zum Oberbefehlshaber der 1. Weißrussischen Front. Ihm fiel nach der ausdrücklichen Weisung des Generalissimus die Aufgabe zu, Berlin einzunehmen. Marschall Rokossovskij seinerseits löste Armeegeneral Zacharov als Oberkommandierenden der 2. Weißrussi3 4 5 6
Schtemenko, Im Generalstab, Bd. 1, S. 317. Ebd., S. 319. Ebd.. S. 321 f. Ebd., S. 321.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
sehen Front ab. Die Koordinierung der vier direkt gegen das deutsche Reichsgebiet operierenden Fronten, d.h. der drei Weißrussischen und 1. Ukrainischen, übernahm Stalin persönlich. 7 Deren Aufgabenverteilung sah im wesentlichen wie folgt aus: - Cernjachovskijs 3. Weißrussische Front sollte nach der Direktive des Hauptquartiers vom 3. Dezember 1944 durch einen diesmal weiter nördlich als im Oktober, im Abschnitt der 3. Panzerarmee angesetzten frontalen Stoß die deutsche Front durchbrechen und aus dem Raum zwischen Inster und Pissa in der ersten Operationsetappe 50-60 km tief über Insterburg hinaus beiderseits des Pregel in Richtung auf Wehlau und Königsberg vorstoßen. Die 43. Armee der 1. Baltischen Front hatte sie dabei durch einen Unterstützungsangriff aus dem Raum Tilsit-Ragnit auf die Haffküste bei Gilge zu unterstützen und die im Süden abgeschnittenen Teile der 3. Panzerarmee aufzuspalten. Des weiteren war durch andere Verbände der Front der Brückenkopf Memel zu liquidieren. Tilsit, der hartnäckige Eckpfeiler der deutschen Memelverteidigung, sollte nach den Erfahrungen des vergangenen Oktober diesmal im wesentlichen durch eine südliche Umgehung zu Fall gebracht werden. Die erste Operationsetappe hatte nach dem zehnten bis zwölften Operationstag eine Linie zum Ziel, die - an der Haffküste bei Elchwerder beginnend - in einem weit nach Südosten geschwungenen Bogen über Schargillen, Norkitten und Angerapp bis nach Goldap reichte. 8 - Die südlich davon, im Abschnitt zwischen der Bobr-Narew- und der Bug-Narew-Mündung stehende 2. Weißrussische Front Rokossovskijs hatte nach der Direktive des Hauptquartiers vom 28. November 1944 die Verbände der deutschen 2. Armee im Raum Przasnysz-Mlawa zu zerschlagen und als erstes Operationsziel die Linie Drobin-Mlawa zu erreichen, 60-80 km von den Ausgangspositionen im Brückenkopf von Rozan entfernt. 9 Die Weichsellinie von Modlin bis in den Raum Thorn-Bromberg markierte die Operationsgrenze zur links davon um Warschau und die beiden flußaufwärts gelegenen Brückenköpfe von Magnuszew und Pulawy gruppierten 1. Weißrussischen Front unter Marschall Zukov. - Deren erstes Operationsziel war vom Hauptquartier aufgrund der günstigeren Geländebedingungen im zentralpolnischen Raum mit einer Tiefe von 130-180 km wesentlich weiter gesteckt als das ihrer beiden nördlichen Nachbarn. 10 Ihr erstes Etappenziel bestand nach den Worten 7 8
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10
Ebd., S. 332. Ebd., S. 322; Galickij, V bojach za Vostocnuju Prussiju, S. 180-202; Saripov, Cernjachovskij, S. 278 f. Ebenso Wassilewski, Sache des ganzen Lebens, S. 443. Wassilewski, ebd., S. 447; K. K. Rokossowski, Soldatenpflicht. Erinnerungen eines Frontoberbefehlshabers, (Ost)Berlin 1973, S. 362 u. 375 f. Schtemenko, Im Generalstab, Bd. 1, S. 322.
3.2. Planung und strategische Vorgaben
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Zukovs darin, „die Stellungen des Gegners in zwei verschiedenen Richtungen gleichzeitig zu durchbrechen, die feindliche Gruppierung WarschauRadom aufzureiben und die Höhe von Lodz zu erreichen". Weiterhin sollten die Truppen ihre Offensive in Richtung Posen bis zur Linie BrombergPosen und südlich davon vortragen, um dort mit den Truppen der 1. Ukrainischen Front taktische Fühlung aufzunehmen. 11 Die Hauptangriffsrichtung der Front zielte also auf den Raum der unteren Warthe um Posen. Der weitere Vormarsch wurde nicht festgelegt, da im voraus nicht absehbar war, wie sich die Lage nach Erreichen des ersten Operationsziels, der Linie Bromberg Posen, entwickeln würde. Wie bei der Planung von Frontoperationen üblich, beschränkte man sich darauf, „während der Ausführung der nächstliegenden, die folgende Aufgabe zu präzisieren" (Zukov). 12 - Linker Nachbar von Zukovs Heeresgruppe war im Bereich südlich des Pulawy-Brückenkopfes bis zum Nordhang der Beskiden die 1. Ukrainische Front Marschall Konevs, der ähnlich weitgesteckte Ziele wie ihrem nördlichen Nachbarn vorgegeben waren und deren Hauptkräfte sich um den großen Brückenkopf von Sandomierz im Mündungsgebiet der Wisloka in die obere Weichsel konzentrierten. Sie sollte nach erfolgtem Durchbruch durch die deutsche Weichselverteidigung im Gebiet der oberen Oder Boden gewinnen, auf Schlesien vorstoßen und dort die Bildung einer deutschen Abwehrfront östlich der Flußlinie verhindern. Ein besonderes Problem stellte das oberschlesische Industrierevier dar, das - als die zweite große deutsche Rüstungsschmiede nach dem bereits weitgehend zerbombten Ruhrgebiet - möglichst unversehrt eingenommen werden sollte, um als eine intakte Produktionsstätte in den Besitz Polens überzugehen. Ende November 1944 trug Konev seinen Operationsplan Stalin und den Mitgliedern des .Staatlichen Verteidigungskomitees' (GKO) in Moskau vor. „Ich erinnere mich noch genau", so der Frontoberbefehlshaber später, „wie gründlich Stalin diesen Plan studierte. Besonders aufmerksam betrachtete er die Karte des schlesischen Industriereviers mit der Konzentration von Betrieben, leistungsfähigen, gutausgerüsteten Zechen und verschiedenartigen Industrieanlagen. All das behinderte die Manövrierfähigkeit der Truppen beim Angriff. Selbst auf der Karte beeindruckten Ausdehnung und Kapazität dieses Industriegebiets. Stalin, der diese Tatsache offensichtlich besonders hervorheben wollte", so Konev weiter, „umkreiste das Gebiet mit dem Finger auf der Karte und sagte dabei ,Gold!' mit einer Betonung, die keines weiteren Kommentars bedurfte." Ein kräfteraubender und zerstörerischer Kampf um diese wichtige Region sollte unter allen Umständen
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G. K. Shukow, Erinnerungen und Gedanken, Bd. 2, (Ost) Berlin 1972, S. 245. Ebd., S. 247.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
vermieden werden, weshalb vorgesehen war, die Kräfte der Front nördlich wie südlich davon vorbeistoßen zu lassen. 13 Probleme für Konevs Heeresgruppe ergaben sich hinsichtlich der Abstimmung mit den Operationen ihres nördlichen Nachbarn. Zukov hatte bei seinem Aufenthalt im Hauptquartier Ende November aufgrund der Aufklärungsergebnisse seines Frontstabes Einwände gegen die ursprünglich geplante Operationsrichtung seiner Front durch den Raum Kutno-Wloclawek über Gnesen und Posen vorgebracht und eine südlicher gelegene Vormarschroute über Lodz mit anschließendem Vorstoß auf Posen empfohlen. Stalins Zustimmung zu dieser Änderung hatte zur Konsequenz, daß auch Konevs Marschrichtung verändert werden mußte. Statt des anfangs geplanten Vorstoßes auf Kalisz, der nunmehr sinnlos geworden war, erhielt die 1. Ukrainische Front Breslau als allgemeine Operationsrichtung zugewiesen. 14 Ende Dezember 1944 bestätigte die Stavka endgültig die Pläne für die bevorstehende Generaloffensive in allen Einzelheiten. Die letzte wichtige Änderung betraf die Vorverlegung des Angrifftermins um 8 Tage auf den 12. Januar 1945. Sie ergab sich aus einem persönlichen Brief des britischen Premierministers Churchill an Stalin vom 6. Januar, in dem dieser vom Ernst der militärischen Lage im Westen infolge der deutschen Ardennenoffensive berichtete und dringend um Auskunft bat, ob im Januar mit einer größeren russischen Offensive an der Weichselfront oder anderswo zu rechnen sei. Stalin antwortete umgehend mit einer Botschaft an den britischen Premier vom folgenden Tag. In dieser erwähnte er die eigenen Offensiworbereitungen und berichtete, daß man in Moskau „angesichts der Lage unserer Verbündeten an der Westfront beschlossen habe, in verstärktem Tempo die Vorbereitungen zu beenden und - ohne Rücksicht auf die Witterungsverhältnisse - umfangreiche Angriffsoperationen gegen die Deutschen am gesamten Mittelabschnitt der Front spätestens in der zweiten Januarhälfte einzuleiten". 15 So konzentrierte sich zu Beginn des Jahres 1945 von der unteren Memel bis zum Nordhang der Beskiden ein von der deutschen Aufklärung zwar weitgehend erkannter, jedoch von Hitler, der in seinem damaligen oberhessischen Hauptquartier ganz auf die Ardennenoffensive im Westen fixiert war, gegenüber seinem Generalstabschef Guderian noch zu Weihnachten 1944 als „der größte Bluff seit Dschingis Khan" abgetaner militärischer Aufmarsch von wahrhaft gewaltigen Ausmaßen. 16
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I. S. Konew, Das Jahr fünfundvierzig, (Ost)Berlin 1973, S. 5 f. Schtemenko, Im Generalstab, S. 323 f. Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941-1945, (Ost)Berlin 1961, Nr. 383 f. Vgl. Konew, Das lahr fünfundvierzig, S. 16 f. Guderian, Erinnerungen eines Soldaten, S. 347.
3.2. Planung und strategische Vorgaben
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Das aktive, im Kampf stehende Feldheer der Roten Armee umfaßte zu diesem Zeitpunkt ungefähr 6 Mill. Mann mit über 91 000 Artilleriegeschützen und schweren Granatwerfern, 3 000 Reaktivgeschützen (sogenannte Katjusas = Stalinorgeln), ca. 11 000 Panzern und Sturmgeschützen (russ. Samochodno-artillerijskie ustanovki = SAU) und 14 500 Kampfflugzeugen. 17 Allein die beiden auf das Zentrum Deutschlands zielenden Fronten, die 1. Weißrussische und 1. Ukrainische, konzentrierten auf ihren zusammen 500 km Frontlänge 16 allgemeine (obscevojskovie), 4 Panzer- und zwei Luftarmeen mit 2,2 Mill. Soldaten (davon knapp 1,6 Mill, im unmittelbaren Kampfeinsatz), 33 500 Geschützen und Granatwerfern, 7 000 Panzern und Sturmgeschützen und rund 5 000 Flugzeugen. Die Infanterieverbände umfaßten insgesamt 134 Schützendivisionen, die Tankverbände waren in 11 Panzer- und 5 mechanisierte Korps gegliedert, hinzu kamen 9 Kavallerie sowie 30 Artillerie- und Flakartillerie-Divisionen.18 Nördlich davon, um Ostpreußen herum, standen die insgesamt 17 Armeen (darunter eine Panzer- und zwei Luftarmeen) der 2. und 3. Weißrussischen Front (einschließlich der 43. Armee der 1. Baltischen Front). Sie waren gegliedert in 130 Schützendivisionen, 8 Panzer- bzw. mechanisierte Korps und 22 Artillerie- und Flakartillerie-Divisionen mit 1,67 Mill. Soldaten (davon gut 1,2 Mill. Mann kämpfende Truppe), 3 800 Panzern und Sturmgeschützen sowie ca. 25 000 Artilleriegeschützen, Granatwerfern und Stalinorgeln, dazu rund 3 100 Kampfflugzeuge. 19 Diesem gewaltigen Aufmarsch gegenüber standen auf deutscher Seite in Ostpreußen die Heeresgruppe Mitte unter Generaloberst Reinhardt mit der 3. Panzerarmee (Generaloberst Raus), der 4. Armee (General d. Inf. Hoßbach) und der 2. Armee (Generaloberst Weiß), deren Verbänden sowohl das in vielen Jahrzehnten entstandene, tiefgestaffelte ostpreußische Befestigungssystem, wie das für massive Panzereinsätze ungeeignete Terrain einen gewissen Schutz und Rückhalt boten. Wesentlich kritischer war die Lage der zentralen Verteidigung südlich davon, im Bereich der Heeresgruppe A unter Generaloberst Harpe, die mit ihren drei Armeen, der 9. Armee 17
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Ν. A. Lomov, VisloOderskaja operacija, in: NM, 50. Jg. (1975) H. 5, S. 209-218, hier S. 210. Vislo-Oderskaja operacija ν cifrach, in: VI2, 7. Ig. (1965), Η. 1, S. 71 f. Siehe ebenso das entsprechende Stichwort in: SVE, Bd. 2, S. 147 f. Vostocno-Prusskaja operacija ν cifrach, in: VI¿, 7. Ig. (1965), H. 2, S. 80 ff. Ebenso das Stichwort in: SVE, Bd. 2, S. 379 f. Zu den militärischen Täuschungsmaßnahmen beim Aufmarsch an der Weichselfront, d.h. der von den Sowjets so besonders entwickelten Technik der .Maskirovka' siehe Duffy, Der Sturm auf das Reich, S. 45 f. Zu diesem Thema allgemein: David M. Glantz, Soviet Military Deception in the Second World War, London 1989. Speziell zur getarnten Verschiebung des 4. Garde-Tankkorps an der Jahreswende 1944/45 aus dem Aufmarschbereich der 60. Armee nach Norden in den Sandomierz-Brückenkopf siehe dort S. 483 f.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
(General d. Pz.Trp. von Lüttwitz), der 4. Panzerarmee (General d. Pz.Trp. Gräser) und der 17. Armee (General d. Inf. Schulz) den Weichselbogen von Warschau bis in den Raum südlich von Tarnów deckte. Mit ihren 30 Infanteriedivisionen stand sie auf gut 750 km Frontlänge dem Schwerpunkt des sowjetischen Aufmarschs um die drei Weichselbrückenköpfe von Magnuszew, Pulawy und Sandomierz/Baranów gegenüber. Ihre Südflanke im Bereich der östlichen Beskiden bildete die Armeegruppe Heinrici mit der 1. Panzerarmee, die entlang der Wisloka bis in die Gegend östlich von Kaschau die Zugänge zur Slowakei sperrte. 2 0 Das Hauptmanko der deutschen Verteidigung war die Schwäche des Zentrums im Bereich der Heeresgruppe A, die bei durchschnittlichen Divisionsabschnitten von um die 25 km nur über eine bewegliche Reserve von fünfeinhalb schnellen Divisionen (Panzer- und Panzergrenadierdivisionen) verfügte. Um so wichtiger wäre unter diesen Gegebenheiten eine möglichst elastische Operationsführung in der Verteidigung gewesen, wie sie in einem Plan unter dem Kennwort „Schlittenfahrt" vom damaligen Chef des Stabes der Heeresgruppe A, Generalleutnant Ritter von Xylander, erarbeitet worden war. Darin war eine rechtzeitige Absetzbewegung der eigenen Verbände in die Tiefe der z.T. gut ausgebauten Verteidigungszonen hinter der Hauptkampflinie vorgesehen, die den ersten vernichtenden Feuerschlag des Gegners ins Leere laufen und ihn zu einem erneuten zeitraubenden Artillerieaufmarsch hätte zwingen sollen. Hitlers Festhalten am Prinzip der starren Verteidigung, das keinen Fußbreit Boden ohne dringende Not preisgab, verhinderte die Ausführung dieses Planes, dessen Erfolgschancen angesichts der winterlichen Bedingungen und der nur geringen Beweglichkeit der Masse der deutschen Infanteriedivisionen zumindest als ungewiß gelten mußte. 2 1 So ging aufgrund der gegebenen Kräfteverhältnisse das deutsche Ostheer im Januar 1945 sehenden Auges einer militärischen Katastrophe entgegen, deren Gefahr sein Oberbefehlshaber, der sich bis zuletzt weigerte, einen russischen Angriff an der Weichsel überhaupt für möglich zu halten, nicht wahrhaben wollte. Anders als noch im vergangenen Sommer stand die Wehrmacht jetzt jedoch schon unweit der eigenen Staatsgrenzen. Hinter ihren dünnen, durch Reserven kaum geschützten Verteidigungslinien lebte eine über den wahren Ernst der Kriegslage lange im unklaren ge20
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Magenheimer, Abwehrschlacht an der Weichsel, S. 78 f. u. 146 (Ani. 2); Hans v. Ahlfen, Der Kampf um Schlesien 1944-1945, S. 24-45. ' Heinz Magenheimer, Die Abwehrschlacht an der Weichsel 1945. Planung und Ablauf aus der Sicht der deutschen operativen Führung, in: Operatives Denken und Handeln in deutschen Streitkräften im 19. und 20. Jahrhundert, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Herford-Bonn 1988 (= Vorträge zur Militärgeschichte, Bd. 9), S. 161-182, hier S. 173 f. u. 179 f. Zum Operationsplan „Schlittenfahrt" auch Duffy, Der Sturm auf das Reich, S. 76 f.
3.2. Planung und strategische Vorgaben
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haltene deutsche Zivilbevölkerung, über die der Krieg fast über Nacht wie eine alle Dämme niederreißende Springflut hereinbrechen sollte.
3.3. Der Ablauf der militärischen Geschehnisse von Mitte Januar bis Ende April 1945 Zwischen dem 12. und dem 14. Januar 1945 vollzog sich in zeitlicher Staffelung der Auftakt der gewaltigsten Offensivoperation des Zweiten Weltkriegs. Den Anfang machte am 12. Januar die 1. Ukrainische Front, die aus dem großen Brückenkopf von Sandomierz und Baranów mit acht allgemeinen Armeen, davon vier in der ersten Staffel der Hauptangriffsrichtung, und zwei dahintergestaffelten Panzerarmeen antrat. Vierundzwanzig Stunden später folgte die 3. Weißrussische Front mit der Offensive ihrer sechs Feldarmeen aus den im Oktober des Vorjahrs erkämpften Ausgangspositionen an der Ostgrenze Ostpreußens zwischen den Oberläufen von Inster und Rominte. Wieder einen Tag später, am 14. Januar, traten die 1. und 2. Weißrussische Front aus ihren Brückenköpfen an Weichsel (Magnuszew und Pulawy) und Narew (Rozan) beiderseits Warschau zum Angriff an. 1 Spätestens am Abend des zweiten Angriffstages, dem 15. Januar, waren an allen Angriffsschwerpunkten des Weichsel-Narew-Abschnittes Durchbrüche durch die deutschen Hauptkampfstellungen in Tiefen bis zu einigen Dutzend Kilometern erzielt, so daß zwischen Warschau und der Mündung der Nida in die obere Weichsel auf einer Länge von ca. 250 km keine zusammenhängende deutsche Front mehr existierte. Die Hauptkräfte der Heeresgruppe A mit der Masse der 9. Armee und der 4. Panzerarmee waren umgangen, eingeschlossen oder bereits vernichtet. 2 In die von den allgemeinen Armeen aufgerissenen Lücken stießen bereits am zweiten Angriffstag die hochbeweglichen operativen Panzerkräfte der Fronten, die Panzerarmeen und Panzer- bzw. mechanisierten Korps, die auf dem weiten und ebenen Terrain Zentralpolens gerade unter Winterverhältnissen ideale Operationsbedingungen antrafen. Bereits am 17. Januar, dem sechsten Angriffstag, erreichten die Truppen der 1. Weißrussischen und 1. Ukrainischen Front auf einer Linie Tschenstochau-Petrikau-Wyszogród die gleiche Höhe und überschritten damit, 130-180 km von den Ausgangspositionen ent-
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SVE, Bd. 2, S. 147 f. u. 379 f. Magenheimer, Die Abwehrschlacht an der Weichsel, in: Operatives Denken und Handeln, S. 178.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
fernt, eine Linie, die nach Plan erst am zwölften Operationstag hätte erreicht werden sollen.3 Das weit über Erwarten hohe Vormarschtempo zwang das Moskauer Oberkommando schon am 17. Januar, den beiden Fronten die Zielvorgaben für die zweite Operationsetappe zuzuweisen. So erhielt die 1. Weißrussische Front den Auftrag, spätestens bis zum 4. Februar die Linie Bromberg-Posen zu gewinnen, während Konevs Heeresgruppe mit ihren Hauptkräften auf Breslau marschieren, bis zum 30. Januar südlich von Lissa (Leszno) die Oder überschreiten und einen Brückenkopf am Westufer des Flußes bilden sollte. Ihr linker Flügel mit der 21., 50. und 60. Armee hatte den Auftrag, bis zum 20. oder 22. Januar Krakau zu befreien und anschließend das oberschlesische Industrierevier zu nehmen. 4 Der ungebrochen stürmische Vormarsch, bei dem die Spitzen der Panzerarmeen bis zu 70 km täglich zurücklegten, ließ jedoch auch die neuen Etappenziele früher als erwartet hinter sich. Am 19. Januar fielen Lódz und Krakau und schon vier Tage darauf, am 23. Januar, erreichte die 1. Weißrussische Front die Linie Bromberg-Posen, während ihr südlicher Nachbar mit seinem linken Flügel bereits am Ostrand des oberschlesischen Industriereviers stand. Schon am 19. Januar 1945, eine Woche nach Beginn der Offensive an der Weichsel, hatten Konevs Panzerspitzen - gebildet von der 3. Gardepanzerarmee Generaloberst Rybalkos und der 4. Panzerarmee Generalleutnant Leljusenkos - die Reichsgrenze erreicht und waren in die östlichen Grenzkreise Schlesiens, Namslau und Groß-Wartenberg, eingedrungen. Mit ihrem Vorstoß bis zur Oder beiderseits Breslau am 23. und 24. Januar und der sofortigen Bildung von Brückenköpfen am westlichen Flußufer bei Steinau und Oppeln wurde die Möglichkeit einer deutschen Oderverteidigung an der schlesischen Front hinfällig.5 Konevs Hauptziel war neben der Gewinnung und Behauptung von Oderbrückenköpfen die möglichst unversehrte Inbesitznahme des oberschlesischen Industriereviers. Zu diesem Zweck ließ er seinen linken Flügel mit der 21. und 59. Armee von Osten her die im Revier stehenden Verbände der deutschen 17. Armee auf möglichst breiter Front bedrängen, während gleichzeitig die 3. Gardepanzerarmee Rybalkos dicht bei Namslau einen 90-Grad-Schwenk nach Süden vollzog und parallel zur Oder zügig auf das Industrierevier vorstieß, um die sich abzeichnende Zange von Norden her zu schließen. In dieser Situation, in der sich die Einschließung des Gros der 17. Armee im Gebiet des Reviers abzeichnete, besann sich Konev auf die politischen Vorgaben
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N. A. Antipenko, In der Hauptrichtung, (Ost)Berlin 1973, S. 249. Lomov, Vislo-Oderskaja operacija, S. 215. Sovetskie tankovnye vojska 1941-1945. Voenno-istoriceskij ocerk, Moskau 1973, S. 253255.
3.3. Der Ablauf der militärischen Geschehnisse
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aus Moskau, die einen langwierigen und zerstörungsreichen Kampf um diese Region verboten. So entschloß er sich - vom rein militärischen Standpunkt eher schweren Herzens - „dem Gegner einen Korridor zum Abzug aus dem schlesischen Industriegebiet frei zu lassen". 6 Zu diesem Zweck wurde der Vormarsch von Rybalkos Panzern nach Süden im Raum westlich von Gleiwitz angehalten, wobei die beiden Angriffskorps der 3. Gardepanzerarmee den Befehl zum Stehenbleiben erhielten, während das dritte, noch unentfaltet in der zweiten Staffel marschierende Tankkorps zum Vorstoß auf Ratibor dirigiert wurde. 7 Durch den freigehaltenen Schlauch gelang es den Verbänden der deutschen 17. Armee, sich bis zum 28. Januar nach Süden hin, in Richtung auf Pleß und Bielitz zurückzuziehen, wobei der neue Heeresgruppenbefehlshaber, Generaloberst Schörner, den Räumungsbefehl persönlich verantwortete und Hitler gegenüber durchsetzte. 8 Am 30. Januar befand sich das gesamte oberschlesische Revier mit seiner Ausdehnung von gut 5 000 qkm nahezu unversehrt in sowjetischer Hand. 9 In der Zwischenzeit hatten die Truppen Zukovs ihren nicht weniger stürmischen Vormarsch über den Raum Bromberg-Posen hinaus fortgesetzt und mit zwei mächtigen Panzerspitzen am 26. Januar im Raum zwischen Krenz und Unruhstadt die Reichsgrenze des Jahres 1939 überschritten. 10 In den folgenden Tagen folgte der Übergang des nördlichen Stoßkeils über die Obra und - durch einen kühnen wie entschlossenen Vorstoß des 11. Gardepanzerkorps und seiner als Vorausabteilung agierenden 44. Gardetankbrigade unter Oberst Gusakovskij - der Durchbruch durch das kaum bemannte Verteidigungssystem des Meseritzer befestigten Raumes. 11 Am 30. Januar fielen Schwiebus, Schwerin und Landsberg nahezu kampflos in sowjetische Hand und bereits tags darauf erreichten die Panzer der 219. Tankbrigade des Obersten Vajnrub als Vorhut des 1. mechanisierten Korps der 2. Gardepanzerarmee (Generaloberst Bogdanov) als erste die Oder bei Kienitz nördlich von Küstrin. Dort forcierte ein Motorschützenbataillon desselben Verbandes den Fluß und bildete am Westufer den ersten kleinen Brückenkopf. Die nachfolgenden Schützenverbände der 5. Stoßarmee Generaloberst Berzarins gewannen im Verein mit der 2. Gardepanzerar® 7
8 9 10
11
Konew, Das Jahr fünfundvierzig, S. 43. Ebd., S. 44 f.; S. I. Blinov, Ot Visly do Oderà, Moskau 1962, S. 144 f.; Ζ. Κ. Sljusarenko, Poslednyj vystrel, Moskau 1974, S. 252. Ahlfen, Der Kampf um Schlesien 1944-1945, S. 96 f. SVE, Bd. 7, S. 241 ; Konew, Das Jahr fünfundvierzig, S. 41 f. u. 51. SVE, Bd. 2, S. 149. Vgl. F. J. Bokow, Frühjahr des Sieges und der Befreiung, (Ost)Berlin 1981, S. 83. M. J. Katukow, An der Spitze des Hauptstoßes, (Ost)Berlin 1979, S. 332 f.; Sovetskie tankovnye vojska 1941-1945, wie Anm. 5, S. 252 f. Dazu auch Duffy, Der Sturm auf das Reich, S. 130 f.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
mee das östliche Oderufer auf einer Breite von 40 km, säuberten es von feindlichen Kräften und errichteten am Westufer zwei weitere kleinere Brückenköpfe. Diese wurden im Laufe der ersten Februartage um zwei, mehrere Quadratkilometer große Brückenköpfe rund um die sich verbissen verteidigende Festung Küstrin und um einen weiteren im Raum Frankfurt erweitert. 12 Damit hatten die Hauptkräfte der 1. Weißrussischen Front alle Erwartungen des Moskauer Oberkommandos weit übertroffen und bereits nach achtzehn Operationstagen die Oder erreicht, dabei kämpfend ca. 570 km mit einem durchschnittlichen Tagestempo von 30-35 km zurückgelegt. 13 Nunmehr jedoch bestimmte die mittlerweile eingetretene Entwicklung im Norden, d.h. im Raum zwischen Hinterpommern und Ostpreußen, den Fortgang des weiteren militärischen Vorgehens. Die am 13. Januar begonnene Offensive der 3. Weißrussischen Front gegen die Stellungen der 3. Panzerarmee in Ostpreußen verlief in den ersten Tagen wenig erfolgreich. Nicht eine einzige der eingesetzten Armeen erreichte in den ersten 24 Stunden ihr gestecktes Tagesziel; nirgendwo glückte, wie im Weichselbogen, ein frühzeitiger Durchbruch durch die deutsche Verteidigung. 14 Fast eine Woche lang gelang es der 3. Panzerarmee unter Generaloberst Raus, in zähem und elastischem Zurückweichen vor dem anstürmenden Gegner den Zusammenhalt der Front zu bewahren, bis die Russen endlich die schwache Stelle in der deutschen Abwehr gefunden hatten und am sechsten Operationstag, dem 18. Januar, im Abschnitt der 39. Armee zwischen Breitenstein und Schillen den Durchbruch durch die deutsche Front erzielten. 15 In die aufgerissene Frontlücke warf Oberbefehlshaber Cernjachovskij neben seinen beiden Tankkorps auch die 11. Gardearmee Generaloberst Galickijs, die bis dahin als zweite Frontstaffel zurückgehalten worden war. 16 Jetzt erst zerbrach unter dem Druck des durch die frischen Kräfte verstärkten Angriffs die Front der 3. Panzerarmee. Es begann ein stürmischer, gut zehntägiger Vormarsch der sowjetischen Verbände nach Westen, der über Insterburg (21. 1.) und Wehlau (22. 1.) bereits am 24. Januar die Deime zwischen Labiau und Tapiau in voller Breite überschritt.
12
W. I. Tschuikow, Das Ende des Dritten Reiches, München 1966, S. 108 f.; Sovetskie tankovnye vojska, wie Anm. 5, S. 252. Zum Oder-Übergang der 5. Stoßarmee in den ersten Februartagen 1945 siehe V. S. Antonov, Κ poslednemu rubezu, Moskau 1987, S. 199 f. 1 ' Bokow, Frühjahr des Sieges und der Befreiung, S. 89. 14 Saripov, Cernjachovskij, S. 281 f. Vgl. dazu Duffy, Der Sturm auf das Reich, S. 178. 15 Dieckert/Grossmann, Der Kampf um Ostpreußen, S. 89; Galickij, V bojach za Vostocnuju Prussiju, S. 226-230. 16 Galickij, ebd., S. 230.
3.3. Der Ablauf der militärischen Geschehnisse
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Damit war die letzte natürliche Verteidigungslinie vor dem Königsberger Festungsgürtel durchbrochen und der Weg ins Samland frei, in das hinein die 39. Armee Generalleutnant Ljudnikovs bis Anfang Februar einen tiefen Vorstoß über Thierenberg und Germau hinaus bis dicht an die Ostseeküste südlich von Palmnicken vortrug. Östlich davon war durch einen Vorstoß der 39. Armee von Norden auf das Haffufer bei Groß Heydekrug und zeitgleich dazu mit dem Erreichen des westlichen Haffufers unweit von HeideWaldburg Königsberg von seinen Landverbindungen abgeschnitten und praktisch eingeschlossen worden. Von Nordosten her waren die sowjetischen Verbände bis zum 26. Januar bis an das unmittelbare Vorfeld der ostpreußischen Hauptstadt bei Neuhausen vorgestoßen, das nach mehrmaligem Besitzerwechsel am 28. Januar endgültig in russische Hand fiel. Jedoch gelang es dem Zangenangriff beider Armeen im Verlauf der letzten Januartage nicht, die Stadt aus der Bewegung heraus zu nehmen. Grund dafür war der am 30. Januar mit zwei Panzerdivisionen aus dem Raum Brandenburg gegen den linken Flügel der 11. Gardearmee, den das 36. Gardenschützenkorps Generalleutnant Kosevojs bildete, vorgetragene Gegenangriff längs der Haffküste nach Nordosten, der zum Ziel hatte, die verlorengegangene Verbindung zwischen Königsberg und der auf den Raum westlich der Alle zurückgedrängten 4. Armee wiederherzustellen. Die überraschende Wirkung dieses Vorstoßes machte es Galickijs Armee unmöglich, die - wie vom Frontoberkommando vorgesehen - südlichen Stadtteile Königsbergs einzunehmen, und zerstörte damit eine entscheidende Voraussetzung für die Eroberung der Stadt in den Tagen der Monatswende von Januar auf Februar 1945. 17 Cernjachovskijs Heeresgruppe begnügte sich fürs erste mit der weitgehenden Abschnürung Königsbergs von seinen Landverbindungen ins Samland und in den Raum Braunsberg-Heiligenbeil. Wie schon im vergangenen Oktober hatte sich ihr junger Oberbefehlshaber auch diesmal für die .vorsichtige' Lösung entschieden. Da sich in den ersten Februartagen auch die Front im westlichen Samland längs einer Linie von Neukuhren über Thierenberg nach Kragau stabilisiert hatte, endete zu diesem Zeitpunkt, drei Wochen nach Beginn des Angriffs aus den Ausgangspositionen des 13. Januar, die .dynamische' Operationsphase der 3. Weißrussischen Front auf dem Boden Ostpreußens. Die noch kampffähigen Reste der am 26. Januar unter ihrem neuen Befehlshaber Generaloberst Rendulic in .Heeresgruppe Nord' umbenannten Heeresgruppe Mitte mit den Hauptkräften der 4. Armee und der 3. Panzerarmee waren ans Meer gedrückt und in die drei Kessel Samland, Königsberg und Heiligenbeil aufgespalten worden. Nach
17
Ebd., S. 306-323. Vgl. dazu Lasch, So fiel Königsberg, S. 41-57.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
den Anstrengungen der vergangenen Wochen war eine operative Zwischenpause eingetreten. Südwestlich von Cernjachovskijs Operationsabschnitt hatten sich im Bereich der 2. Weißrussischen Front Rokossovskijs in der Zwischenzeit Entwicklungen vollzogen, die für die weitere militärische Vorgehensweise des Moskauer Oberkommandos entscheidend werden sollten. Der von Rokossovskijs Heeresgruppe mit vier Armeen zuzüglich einer Panzerarmee am 14. Januar aus den Narew-Brückenköpfen von Rozan und Pultusk Richtung Nordwesten vorgetragene Angriff zielte ursprünglich über Ciechanów (Zichenau) und Mlawa hinaus auf das Weichselknie zwischen Thorn und Graudenz. Die Hauptstoßrichtung band - zumindest nach der Auffassung Rokossovskijs - seine Front eindeutig an ein enges Zusammenwirken mit ihrem linken Nachbarn, der 1. Weißrussischen Front Marschall Zukovs, mit der Aufgabe, „diesen gegen Stöße von Norden zu sichern und den Vormarsch nach Westen zu unterstützen". Mehr als überraschend, so Rokossovskij in seinen Kriegserinnerungen, erfolgte „am 20. Januar, als sich die Truppen der Front schon der Weichsel näherten und sich darauf vorbereiteten, diese aus der Bewegung zu überwinden", der Befehl des Hauptquartiers, „die 3. und die 48. Armee, die 2. Stoßarmee sowie die 5. Gardepanzerarmee nach Norden und Nordosten einschwenken zu lassen", um sie an der ostpreußischen Operation der 3. Weißrussischen Front zu beteiligen. 18 Der in den Tagen darauf mit kühnem Schwung vorgetragene Vorstoß der 5. Gardepanzerarmee Generaloberst Vol'skijs über Elbing bis zur Haffküste bei Tolkemit schnitt am 27. Januar die Eisenbahn- und Straßenverbindungen Ostpreußens mit dem Reichsgebiet ab, wenngleich der Versuch, die Großstadt Elbing aus der Bewegung heraus zu nehmen, mißglückte. Erst nach intensiver Vorbereitung und heftigen Kämpfen gelang es schließlich der 2. Stoßarmee Generalleutnant Fedjuninskijs, dieses ostpreußische Werft- und Industriezentrum am 10. Februar 1945 zu erobern. 19 So sehr der ebenso überraschende wie kühne Vorstoß der 2. Weißrussischen Front zur Nogat und zur Küste des Frischen Haffs dem Vorgehen Cernjachovskijs auf dem ostpreußischen Kriegsschauplatz zu Hilfe kam und für die dort verbliebenen deutschen Truppen, insbesondere die östlich der Passarge stehende 4. Armee, die Falle zuschnappen ließ, so sehr veränderte dieser plötzliche Schwerpunktwechsel nach Nordosten alle noch folgenden Operationen der Roten Armee auf dem gesamten ostdeutschen Kriegsschauplatz. Zwei Hypotheken waren es, die der auf den ersten Blick so 18
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Rokossowski, Soldatenpflicht, S. 375. Zur Stavka-Direktive für Rokossovskijs Front siehe auch V. Kardasov, Rokossovskij, Moskau 1973, S. 408. Ebd. (Soldatenpflicht), S. 378; Sovetskie tankovnye vojska 1941-1945, wie Anm. 5, S. 260 f.
3.3. Der Ablauf der militärischen Geschehnisse
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erfolgreiche Durchstoß bis zum Frischen Haff dem sowjetischen Oberkommando für seine künftige Operationsführung bescherte. Zum einen ermöglichte er den Hauptkräften der 2. Armee unter Generaloberst Weiß, sich in den ostpommerschen Raum abzusetzen 20 ; zum anderen führte er zu einer bis Ende Januar auf gut 150 km angewachsenen Lücke zwischen Rokossovskijs Truppen und der mit ihren Hauptkräften ungebrochen auf die Oder zustürmenden 1. Weißrussischen Front Zukovs - eine Entwicklung, die dem sowjetischen Oberkommando nicht zuletzt wegen der am 24. Januar in dieser Region neugebildeten Heeresgruppe Weichsel unter dem Kommando Heinrich Himmlers besonders bedrohlich erschien. 21 Hinzu kam die zunehmende Erschöpfung der eigenen Truppen, die statt Durchbrüchen nur noch ein Zurückdrängen des Gegners gestattete, wodurch sich die Frontlinien weiter verlängerten. „Obwohl wir unsere Truppen fadendünn auseinanderzogen", beschrieb Rokossovskij das Dilemma seiner Front in der Rückschau, „waren wir nicht imstande, die Lücke zu schließen, die zwischen unserem linken und dem rechten Flügel der 1. Belorussischen Front entstanden war [...] Die eine Hälfte der Truppen stand mit Front nach Osten gegen die ostpreußische Gruppierung des Gegners, während die andere nach Westen vorging. Nach besten Kräften bemühten wir uns, nicht hinter unserem linken Nachbarn zurückzubleiben, der sich bereits in Richtung Küstrin (Kostrzyn) der Oder näherte. Aber es gelang uns nicht. Wir konnten zwar durch die Umgruppierung von Teilkräften vom rechten auf den linken Flügel im Verlauf der Kämpfe noch etwas nach Westen vorankommen, dann aber ging uns endgültig der Atem aus." 22 Das Problem erkennend, hatte Stalin bereits am 25. Januar Zukov auf die wachsende Gefahr der nördlichen Flankenbedrohung hingewiesen und, ohne eine definitive Entscheidung zu treffen, gefordert, abzuwarten, „bis die zweite Belorussische Front die Operation in Ostpreußen beendet und ihre Kräfte jenseits der Weichsel umgruppiert [habe]". Angesichts des unmittelbar vor ihm liegenden befestigten Raumes von Meseritz, dessen Bemannung durch deutsche Truppen es zuvorzukommen galt, steigerte Zukov jedoch noch das Vormarschtempo seiner Spitzen in Richtung Oder. 23 Trotz der sich bereits deutlich abzeichnenden Disproportionen des strategischen Vormarsches nach Westen hielt man in Moskau an dem ursprünglichen Operationsfahrplan fest, mehr oder weniger aus der Bewegung heraus und ohne Tempoverlust den Angriff auf Berlin zu beginnen. Stemenko berichtete dazu aus der Warte des Generalstabs: 20 21
22 23
Wassilewski, Sache des ganzen Lebens, S. 447. Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 254; Schtemenko, Im Generalstab, Bd. 1, S. 327330. Rokossowski, Soldatenpflicht, S. 386 f. Shukow, Erinnerungen und Gedanken, Bd. 2, S. 252.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
„Am 26. Januar erhielt der Generalstab den Entschluß des Oberbefehlshabers der 1. Belorussischen Front, die Offensive im wesentlichen ohne Pause bis zur Einnahme Berlins fortzusetzen. Es war geplant, die Truppen, vor allem die Artillerie, innerhalb von vier Tagen nachzuziehen, die Rückwärtigen Dienste zusammenzufassen, die Munitionsbestände aufzufüllen, die technische Ausrüstung der Panzerverbände in Ordnung zu bringen und die 3. Stoßarmee sowie die 1. Polnische Armee in die erste Staffel einzuführen, um den Angriff am 1. oder 2. Februar mit den gesamten Kräften der Front fortzusetzen. Die nächste Aufgabe bestand darin, die Oder aus der Bewegung zu forcieren. Die folgende bildete der Stoß auf Berlin. Dabei sollte die 2. Gardepanzerarmee die Stadt von Nordwesten und die 1. von Nordosten umfassen." Uber den tags darauf beim Generalstab eingegangenen Entschluß des Oberbefehlshabers der 1. Ukrainischen Front schrieb Stemenko: „Konev beabsichtigte, den Angriff ebenfalls ohne größere Pause am 5. oder 6. Februar fortzusetzen, zwischen dem 25. und 28. Februar die Elbe zu erreichen und mit dem rechten Flügel im Zusammenwirken mit der 1. Belorussischen Front Berlin zu nehmen." 2 4 Am 4. Februar erfolgte die endgültige Entscheidung des Hauptquartiers, die alle weiteren Vormarschpläne Richtung Westen über den Haufen warf und der 1. Weißrussischen Front befahl, an den Oderbrückenköpfen im Raum Küstrin und Frankfurt zur Verteidigung überzugehen. Gleichzeitig waren die beiden Panzerarmeen Zukovs aus der Oderstellung herauszuziehen und zusammen mit den Verbänden des rechten Frontflügels im Raum zwischen Landsberg und Schneidemühl zu versammeln, wo sie sich auf eine Operation gegen die in Pommern stehenden deutschen Kräfte vorbereiten sollten. Die Gefahr der überlangen Nordflanke, gepaart mit der Erkenntnis, daß die abgekämpften Angriffsverbände einer Atempause und die Rückwärtigen Dienste mit ihren immer noch östlich der Weichsel gelegenen Hauptdepots der Vorverlegung bedurften, hatten über die weitere Vorgehensweise entschieden. 25 Zu diesem Zeitpunkt, den Tagen der Krimkonferenz zwischen dem 4. und 13. Februar 1945, war Stalin von der Furcht vor einer Flankenbedrohung seiner Truppen geprägt, die er nicht nur von Norden, aus dem pommerschen Raum, sondern auch von Süden, aus der oberschlesischen Region, heraufziehen sah. Die am 8. Februar aus dem Oderbrückenkopf bei Steinau in Richtung Lausitzer Neiße begonnene Angriffsoperation des rechten Flügels der 1. Ukrainischen Front, die in der Woche darauf zur vollständigen Einschließung Breslaus führte, hatte die schlesische Front 2 4 2 5
Schtemenko, Im Generalstab, S. 3 2 5 f. Ebd., S. 327-333; Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 254 f. u. 2 6 0 f.
3.3. Der Ablauf der militärischen Geschehnisse
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vom Südrand des oberschlesischen Reviers bis in das Flußgebiet von Bober und Queis verlängert. Schon während des Gipfeltreffens mit seinen alliierten Bündnispartnern auf der Krim hatten Stalin und sein Oberkommando durch General Marshall nachrichtendienstliche Informationen westalliierter Quellen über deutsche Absichten an der Ostfront erhalten, die am 12. und 20. Februar über Oberst Brinkman von der britischen Militärmission in Moskau und den amerikanischen Missionschef, Generalmajor Deane, direkt an den sowjetischen Generalstab weitergegeben worden waren. Danach plante die deutsche Seite für den Monat März zwei Gegenoffensiven: eine aus dem pommerschen Raum in Richtung Südosten auf Thorn und eine zweite aus dem Gebiet um Mährisch-Ostrau mit Zielrichtung Lodz, wobei an diesem durch die Heeresgruppe Schörner geführten Stoß auch die 6. SS-Panzerarmee teilnehmen sollte. 26 Marschall Konev, den die starke deutsche Gruppierung gegenüber seinem linken Flügel im Gebiet nördlich der mährischen Pforte ebenfalls beunruhigte, berichtete von mehreren besorgten Anrufen Stalins, in denen dieser wiederholt auf die Absicht eines deutschen Vorstoßes aus dem Raum Ratibor aufmerksam machte, mit dem die Rückeroberung des oberschlesischen Reviers und weiter Teile Schlesiens versucht werden solle. Stalin verlangte daraufhin einen ausführlichen Operationsplan, um der aus dem Süden drohenden Gefahr zuvorzukommen. So entstand die oberschlesische Angriffsoperation des linken Flügels der 1. Ukrainischen Front in der zweiten Märzhälfte, die durch einen Zangenangriff zur Einschließung des deutschen LVI. Panzerkorps im Raum zwischen Oppeln und Neustadt führte und am 30. März mit dem Sturm auf Ratibor ihren Abschluß fand. 2 7 Bereits am 24. Februar hatte Konevs rechter Flügel seine mit vier allgemeinen und zwei Panzerarmeen geführte Offensive aus dem Steinauer Brückenkopf in Richtung Neiße beim Erreichen der Flußlinie eingestellt und damit die ursprünglich weitgesteckten Ziele einer Flußforcierung aus der Bewegung mit anschließendem Vorstoß auf die Elblinie aufgegeben. Immerhin war gegen den starken Widerstand der deutschen 4. Panzerarmee, der es fast geglückt wäre, die ohne den Infanterieschutz der 13. Armee über den Queis vorgedrungene 4. Tankarmee Generalleutnant Leljusenkos am 18. Februar im Raum nördlich Sorau einzukesseln, im Gesamtergebnis der niederschlesischen Operation das
2 6
27
Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941-1945, (Ost)Berlin 1961, Nr. 288. Konew, Das Jahr fünfundvierzig, S. 85-92; SVE, Bd. 2, S. III f.; Ahlfen, Der Kampf u m Schlesien, S. 197-203.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
Aufschließen zu den Truppen Zukovs an der Oderlinie nördlich von Fürstenberg gelungen. 28 Parallel zur südlichen konzentrierte sich das sowjetische Oberkommando auf die Beseitigung der nördlichen Flankenbedrohung seiner Truppen aus dem hinterpommerschen und westpreußischen Raum der Heeresgruppe Weichsel sowie aus den verbliebenen drei ostpreußischen Brückenköpfen um Königsberg. Hier war ein erster, am 10. Februar mit vier Armeen aus dem Raum zwischen Zempelburg und Graudenz geführter Angriff der 2. Weißrussischen Front nur langsam vorangekommen, ohne einen Durchbruch durch die deutsche Front erzielen zu können. Erst der am 24. Februar im Abschnitt Rokossovskijs und am 1. März in Zukovs Abschnitt beginnenden kombinierten Operation beider Weißrussischer Fronten gelang es, bis zum 5. März bei Kolberg und nördlich von Köslin bis zur Ostsee durchzustoßen und die Heeresgruppe Weichsel aufzuspalten. Anschließend schwenkte die um die 1. Gardepanzerarmee aus dem Bestand Zukovs verstärkte 2. Weißrussische Front in Richtung Stolp ab und drang nach zähen Kämpfen sowohl von Osten wie von Süden her in den Raum Danzig/Gdingen vor. Mit der Einnahme der beiden Hafenstädte am 28. und 30. März endete die in der sowjetischen Kriegsgeschichtsschreibung als Ostpommern-Operation bezeichnete Vernichtung der deutschen Heeresgruppe Weichsel im Gebiet östlich der Oder. 29 Was noch übrig blieb, waren die drei ostpreußischen Kessel der Heeresgruppe Nord zwischen dem westlichen Teil des Samlandes und der Passarge-Mündung bei Braunsberg. Anfangs versuchte die 3. Weißrussische Front, gegen alle drei Brückenköpfe gleichzeitig vorzugehen, um diese - dem Befehl des Hauptquartiers vom 9. Februar entsprechend - bis spätestens zum 25. Februar zu liquidieren, was jedoch angesichts der erschöpften Truppen zu schweren Verlusten bei nur mäßigen Geländegewinnen führte. 30 Am 12. Februar wurde aus Truppenverbänden der 3. Weißrussischen und der 1. Baltischen Front die sogenannte Samland-Gruppierung unter 28
29
Ahlfen, ebd., S. 134-141; Konew, ebd., S. 64 u. 76 f. Zum Scheitern des weiteren Vorstoßes in Richtung auf Görlitz und zur Panzerschlacht bei Lauban siehe: Tret'ja Gvardejskaja Tankovaja, Moskau 1982, S. 227-233. Rokossowski, Soldatenpflicht, S. 389-417; Katukow, An der Spitze des Hauptstoßes, S. 344-356. Ebenso: A. S. Zav'jalov/T. E. Kaljadin, Vostocno-Pomeranskaja nastupatel'naja operacija sovetskich vojsk. Fevral'-mart 1945 g. Voenno-istoriceskij ocerk, Moskau 1960. Vgl. auch die Kriegserinnerungen Generaloberst P. I. Batows, Von der Wolga zur Oder, (Ost)Berlin 1965, S. 361-377; ebenso Duffy, Der Sturm auf das Reich, S. 210. Zum Angriff der 1. Weißrussischen Front am 1. März siehe G. S. Nadysev, Na sluzbe stabnoj, Moskau 1976, S. 234 f.; zum Sturm auf Danzig: E. F. Ivanovskij, Ataku nacinali tankisty, Moskau 1984, S. 228. Wassilewski, Sache des ganzen Lebens, S. 448; I. Ch. Bagramjan, So schritten wir zum Sieg, (Ost)Berlin 1984, S. 435.
3.3. Der Ablauf der militärischen Geschehnisse
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dem Kommando von Armeegeneral Bagramjan gebildet, der die Aufgabe übertragen wurde, durch eine Angriffsoperation zwischen dem 20. und 27. Februar den Samlandkessel zu beseitigen. Mitten in den Angriffsaufmarsch der 39. und 43. Armee hinein erfolgte, für die sowjetische Seite völlig überraschend, am 19. Februar der erfolgreiche Angriff der deutschen Armeeabteilung Samland, der der gänzlich unvorbereiteten 39. Armee Generalleutnant Ljudnikovs im südlichen Abschnittsteil eine empfindliche Schlappe beibrachte und die Verbindung zum eingeschlossenen Königsberg wiederherstellte. 31 Zu allem Unglück war am Tage zuvor Frontoberbefehlshaber Ivan Cernjachovskij bei den Kämpfen um die Liquidierung des Heiligenbeiler Kessels unweit von Mehlsack in seinem Befehlspanzer gefallen. Das Moskauer Oberkommando reagierte jetzt mit einschneidenden Maßnahmen zur stärkeren Konzentration der eigenen Kräfte, löste am 22. Februar die 1. Baltische Front auf und unterstellte alle Truppen auf dem ostpreußischen Kriegsschauplatz, einschließlich der Samland-Gruppierung, dem einheitlichen Oberbefehl der 3. Weißrussischen Front. Ihr neuer Befehlshaber, der bisherige Generalstabschef, Marschall Vasilevskij, setzte noch am gleichen Tag klare Prioritäten. Danach stand die Liquidierung des Kessels von Heiligenbeil mit den dort eingeschlossenen Verbänden der 4. Armee an erster Stelle. Erst nach der Lösung dieser Aufgabe sollte der Sturm auf Königsberg beginnen und im Anschluß daran die Eroberung des westlichen Samlandes erfolgen. 32 Die erste Aufgabe wurde durch eine am 13. März begonnene Offensive gelöst, die mit der Eroberung von Braunsberg und Heiligenbeil am 29. März ihren Abschluß fand. Königsberg fiel nach intensiven Angriffsvorbereitungen und einer viertägigen erbitterten Schlacht am 9. April unter dem Ansturm dreier Armeen. 3 3 Die vier Tage darauf beginnende SamlandOperation endete mit der Eroberung Pillaus am 25. April 1945, während die letzten versprengten Reste der Heeresgruppe Nord erst in den ersten Maitagen auf der Frischen Nehrung kapitulierten. 34 Damit fanden die Kampfhandlungen auf dem deutschen Territorium östlich von Oder und Neiße im wesentlichen ihr Ende.
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Bagramjan, ebd., S. 437. Zur schwierigen Lage auch der 43. Armee im Zusammenhang mit dem deutschen Gegenangriff siehe Ν. M. Chlebnikov, Pod grochot soten batarej, Moskau 1979, S. 346 f. Dazu von deutscher Seite: Lothar Rendulic, Soldat in stürzenden Reichen, München 1965, S. 393. Bagramjan, ebd.; S. 440 f.; Wassilewski, Sache des ganzen Lebens, S. 453 u. 460 f. Bagramjan, Sturm Kenigsberga, in: VI2, 18. Jg. (1976), H. 8, S. 56-64, H. 9, S. 47-57. Bagramjan, So schritten wir zum Sieg, S. 491; Dieckert/Grossmann, Der Kampf um Ostpreußen, S. 182-205.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
Die mit der Offensive aus den Weichselbrückenköpfen vom 12. bis 14. Januar 1945 begonnenen und gut dreieinhalb Monate dauernden Angriffsoperationen zeigten eine Abfolge stürmischer Vormärsche im Wechsel mit Phasen zäher und verlustreicher Positionskämpfe. Stalin und sein Oberkommando sahen grandiose Erfolge ihrer Streitkräfte, wenngleich bei vielen Zwischenetappen und Teiloperationen Abstriche von allzu ehrgeizigen Zielvorgaben gemacht werden mußten. Ob es, wie Marschall Cujkov nach dem Krieg in einer Reihe von Publikationen behauptet hat, möglich gewesen wäre, der ursprünglichen Zielplanung entsprechend Berlin bereits im Februar 1945 aus den Oberbrückenköpfen von Küstrin und Frankfurt heraus zu erobern und damit den Krieg wesentlich früher zu beenden, was angeblich nur an der Übervorsicht des Hauptquartiers und der mangelnden Courage Zukovs gescheitert sei, bleibt angesichts gewichtiger Gegenstimmen überaus fragwürdig. 35 Der ehemalige Befehlshaber der 8. Gardearmee ist jedenfalls mit seiner Auffassung innerhalb der seit den sechziger Jahren in großer Zahl erschienenen militärischen Memoirenliteratur nahezu völlig isoliert geblieben. Militärische Rückschläge ernsteren Ausmaßes blieben der Roten Armee innerhalb der letzten vier Kriegsmonate erspart. Zeitweilige deutsche Erfolge bei Gegenstößen wie im Februar im Samland und bei Arnswalde an der pommerschen Front (Unternehmen .Sonnenwende') oder die Rückeroberung der schlesischen Städte Lauban und Striegau im März 1945 blieben von örtlich begrenzter Bedeutung und konnten schon angesichts der Kräfteverhältnisse den strategischen Erfolg der sowjetischen Seite zumindest an den nördlich der Karpatenlinie gelegenen Frontabschnitten nirgendwo ernstlich gefährden. Eine kritische Situation, ähnlich wie sie die alliierten Streitkräfte für kurze Zeit auf dem Höhepunkt der deutschen Ardennenoffensive im Westen erlebten, gab es für die Rote Armee an einer ganz anderen Stelle der langen deutsch-sowjetischen Front. Dies war Anfang März 1945 auf dem ungarischen Kriegsschauplatz der Angriff der 6. Armee und der von der alliierten Aufklärung zu dieser Zeit im nordmährischen Raum vermuteten 6. SS-Panzerarmee auf die Donaulinie beiderseits von Budapest (Unternehmen ,Frühlingserwachen'), wo es, nach Stalins eigenen Worten („einer der schwersten Angriffe des ganzen Krieges"), Marschall Tolbuchin gerade noch gelungen war, „eine Katastrophe zu vermeiden". 3 6 Die Erfolge der letzten Kriegsphase waren nicht naturgegeben, sondern das Ergebnis eines langen, von hohen Opfern und schmerzlichen Erfahrun35
36
Tschuikow, Das Ende des Dritten Reiches, S. 101-109. Vgl. dazu Shukow, Erinnerungen und Gedanken, Bd. 2, S. 257-265. Briefwechsel, wie Anm. 26. Möglicherweise meinte Stalin auch die vorhergehenden deutschen Entsatzversuche für das in Budapest eingeschlossene IX. SS-Gebirgskorps durch das IV. SS-Panzerkorps.
3.3. Der Ablauf der militärischen Geschehnisse
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gen begleiteten Lernprozesses, in dessen Verlauf die Armee z.T. neue Einsatz· und Führungsgrundsätze entwickelt hatte, die erst auf dem deutschen Kriegsschauplatz voll zum Tragen kamen. Sich diese taktischen Einsatzgrundsätze und militärischen Vorgehensweisen vor Augen zu führen, ist eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis dessen, was zahllose deutsche Zeugen über das dramatische Geschehen ihrer ersten Begegnung mit der Roten Armee und ihren Soldaten berichteten. Mit anderen Worten: welche der beobachteten Verhaltensweisen entsprachen einer - wie auch immer gearteten - militärischen Logik, welche können, im Gegensatz dazu, keiner solchen zugeordnet werden und bedürfen einer anderen Erklärung?
3.4. Besondere Weisen des militärischen Vorgehens: Durchbruchstechniken - Sturmgruppentaktik - Häuserkampfvorschriften Die Grundlagen für die Truppen- und Gefechtsführung der Roten Armee sind über die 1941 geltenden Grundsätze hinaus im Laufe des Krieges ständig überarbeitet und anhand der Fronterfahrungen weiter fortentwikkelt worden. Auf diesem Gebiet haben die Kriegsjahre hindurch die Militärakademien und anderen militärwissenschaftlichen Einrichtungen des Landes, an hervorragender Stelle die Akademie des Generalstabs und die Frunze-Akademie, eine intensive und umfangreiche Untersuchungs- und Publikationsarbeit geleistet, die den Streitkräften truppenverwendbare sowie stets dem neuesten Kenntnis- und Erfahrungsstand entsprechende Analysen und Handlungsrichtlinien zur Verfügung stellte. In diesem Sinne war durch den Befehl Nr. 313 des Volkskommissars für Verteidigung vom 7. Dezember 1943 an Befehlshaber, Kommandeure und Stabsarbeiter der Auftrag ergangen, die Erfahrungen des Krieges „ununterbrochen und tiefgründig zu studieren und unverzüglich für die Truppenverbände zu nutzen". Mittel der militärtheoretischen Arbeit an den Akademien waren neben einer Vielzahl von Einzelstudien und neuen Gefechtsreglements für die einzelnen Waffenarten und deren Zusammenwirken auch große wissenschaftliche Konferenzen. Anfang funi 1944 z.B. tauschten an der Moskauer Frunze-Akademie über 400 Teilnehmer aus allen Bereichen der Armee ihre Fronterfahrungen aus. 1
Akademija imeni M. V. Frunze, pod. red. A. I. Radzievskogo, Moskau 1973, S. 180 f.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
Nachdem der Krieg mit Stalingrad eine Wende genommen und mit der Kursker Schlacht vom Sommer 1943 die Rote Armee endgültig die strategische Initiative gewonnen hatte, erlangte das Studium von großen und weitgesteckten Angriffsoperationen unter den Bedingungen des modernen Krieges zentrale Bedeutung. Zu dieser Frage hatte die sowjetische Militärtheorie bereits in der Vorkriegszeit, besonders in den Jahren zwischen 1929 und 1937, wichtige Grundlagen erarbeitet, die alle auf Vladimir Triandafillovs fundamentaler Arbeit von 1929 über den .Charakter der Operationen moderner Armeen' (Charakter operacii sovremennych armij) aufbauten. Aus der anfänglichen Konzeption des .tiefen Gefechts' (glubokij boj) wurde bis Mitte der dreißiger Jahre die Theorie der .tiefen Operation' (glubokaja operacija) entwikkelt, für die besonders die Namen der beiden Militärtheoretiker Georgij Isserson und Nikolaj Varfolomeev standen. 2 Letzterer hatte bereits 1933 die Idee der .Stoßarmee' (udarnaja armija) als einer besonderen Angriffsarmee entwickelt, die Ende 1941 mit der Aufstellung der ersten vier Stoßarmeen in der Schlacht um Moskau ihre Realisierung fand. 3 In einem Beitrag für die .Krasnaja Zvezda' hatte Varfolomeev schon 1932 ein neuzeitliches Angriffsverfahren propagiert, das in einem gleichzeitigen Einbruch aller Waffenarten in die gesamte Tiefe der gegnerischen Veteidigungszone bestand. Danach zerfiel die Angriffsoperation in den Durchbruch der Front, in den Kampf in der Tiefe mit Vernichtung der feindlichen Reserven und in die operative Verfolgung. Die erste Aufgabe oblag den Schützenverbänden mit Begleitpanzer-, Artillerie- und Schlachtfliegerunterstützung, die zweite war hochbeweglichen motorisierten und mechanisierten Verbänden, operativen Panzerreserven und der Kavallerie vorbehalten, während die dritte von Teilen der motorisierten Einheiten und an den Flanken auch von der Kavallerie wahrzunehmen war. 4 Nach dem Einschnitt der .Säuberungen' in der Armee ab 1937, den negativen Erfahrungen des Spanien- und des Finnlandkrieges sowie den anfänglichen schweren Niederlagen der Jahre 1941/42 waren es vor allem die Arbeiten Evgenij Silovskijs, Lehrstuhlinhaber an der Akademie des Generalstabs, aus den Jahren 1943/44, die im Lichte der bis dahin gesammelten Fronterfahrungen an das Erbe der dreißiger Jahre anknüpften. Silovskijs Buch ,Der Frontdurchbruch' (proryv fronta) aus dem Jahre 1944 wurde
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G. Isserson, Razvitie teorii sovetskogo operativnogo iskusstva ν 30-e gody, in: V I t , 7. Jg. (1965), Η. 1, S. 3 6 4 6 , H. 3, S. 48-61. Voprosy strategii i operativnogo iskusstva ν sovetskich voennych trudach 1917-1940 gg., Moskau 1965, S. 439-469. Vgl. auch Voprosy taktiki ν sovetskich voennych trudach 1917-1940 gg., Moskau 1970, S. 70-87. Ν. E. Varfolomeev, Operativnoe iskusstvo na sovremennom etape, in: KZ, 1932, Nr. 127.
3.4. Besondere Weisen des militärischen Vorgehens
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zum verbindlichen Standardwerk für die Vorbereitung und Durchführung von Angriffsoperationen gemäß den geltenden Ansichten des Generalstabs. Es ist in der letzten Kriegsphase unter den Stäben der Fronten, Wehrbezirke, Armeen und Korps wie auch in den zentralen Verwaltungen des Verteidigungskommissariats und den militärischen Fachakademien in hoher Auflage verbreitet worden. 5 Das wichtigste Element der Offensivoperationen in der Endphase des Krieges, als die Frontlinien immer kürzer und die Verteidigungszonen immer tiefer gestaffelt wurden, war der Frontalangriff mit möglichst schnellem Einbruch in die gegnerische Hauptverteidigungslinie mittels eines .Stoßkeils' bzw. eines „schneidenden" oder „spaltenden" Schlages (rassekajuscij udar), der, bis zum Durchbruch gesteigert, schnell eine operative Ausweitung erfahren sollte. Endziel war die Vernichtung der angegriffenen feindlichen Kräfte durch nachfolgende Einschließungsmanöver oder, wie die Felddienstordnung von 1944 feststellte: „Der Leitgedanke bei einer Schlacht zur Vernichtung eines eingeschlossenen Feindes liegt in der folgenden Aufsplitterung seiner Verbände mit dem Ziel, kleine eingeschlossene Gruppen in einen engen Raum zu pressen und sie dann unter Maschinengewehr- und Granatwerfer-Kreuzfeuer zu nehmen." Dabei wurde eine besondere Aufmerksamkeit im Angriff wie in der Abwehr in Bezug auf die Sicherung der eigenen Flanken und der Nahtstellen zweier Abschnitte gefordert. 6 Dem Durchbruch (proryv) als der entscheidenden Vorbedingung für jede erfolgreiche Offensivoperation galt das besondere Augenmerk bei der Vorbereitung und Durchführung von Angriffsgefechten. Eine wichtige Voraussetzung für seinen Erfolg sah man in der dosierten Steigerung der Stoßkraft nach dem Einbruch in die Hauptzonen der gegnerischen Verteidigung. Bei den in der Schlußphase des Krieges üblich gewordenen Mehrfrontenoperationen waren es die allgemeinen Armeen, die als die operativen Grundeinheiten der Heeresstreitkräfte, in denen die Kampfführung der verbundenen Waffen auf der Operationsebene organisiert war, den Durchbruch im wesentlichen zu leisten hatten. Dazu zählten auch die für schwierige Durchbruchsaufgaben besonders geeigneten Stoßarmeen sowie die Gardearmeen (Gvardejskie obscevojskovye armii), die alle aus ca. 8 bis 12 Schützendivisionen und, nach der Wiedereinführung der Korpsebene 1942/43, aus 3 bis 4 Schützenkorps bestanden. 7 5 6
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Akademija general'nogo staba, pod. red. V. G. Kulikova, Moskau 1975, S. 105 f. Raymond L. Garthoff, Die Sowjetarmee. Wesen und Lehre, Köln 1955, S. 130-135. Das Z i t a t s . 141. Velikaja Otecestvennaja vojna 1941-1945. Slovar'-spravocnik, Moskau 1985, S. 300 f. Vgl. auch Istorija vojn i voennogo iskusstva. Ucebnik dlja slusatelej-oficerov vyssich voenno-ucebnych zavedenij sovetskich vooruzennych sil, Moskau 1970, S. 300-306.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
Für die Vollendung des Durchbruchs durch die gesamte Verteidigungszone waren im allgemeinen unter der Verfügungsgewalt des Frontoberkommandos stehende mechanisierte Korps, d.h. gemischte Verbände aus Panzern und motorisierter Infanterie mit mobiler Artilleriebegleitung, vorgesehen. Die eigentlichen hochbeweglichen Angriffsspitzen für das freie Operieren in der Tiefe des feindlichen Hinterlandes stellten die ab 1942 gebildeten Panzerarmeen dar, die nach dem vollendeten Durchbruch der Schützenverbände einer Front (Heeresgruppe) in deren Angriffsstreifen eingeführt wurden und, ohne sich durch vom Gegner verteidigte Städte oder befestigte Plätze aufhalten zu lassen, zügig Raum gewinnen mußten. Ihrem Vormarsch folgten anschließend als die Hauptkräfte der angreifenden Front wieder die Schützenverbände, die ihnen beim Durchbruch die Bresche geschlagen hatten, mit einem Tempo von bis zu 30 km täglich.8 In dieser dynamischen Phase des Vormarsches galt die Devise: Tempo und nochmals Tempo! Jeder Zeitverlust, der es dem Gegner ermöglichte, vor dem Erreichen des Operationsziels eine neue durchgehende Verteidigungslinie aufzubauen, war unbedingt zu vermeiden. Der sowohl Kosten wie Verluste sparende Bewegungskrieg, der in den ersten drei Wochen der Weichsel-Oder-Operation der 1. Weißrussischen Front mit 6 Prozent gerade die Hälfte der erwarteten Verluste gebracht hatte, war Tag und Nacht hindurch so lange wie irgend möglich aufrechtzuerhalten. Marschall Zukov hat in seinem Tagesbefehl an die Truppen seiner Front zum Auftakt der Januaroffensive 1945, Stalin zitierend, die militärischen Aufgaben seiner Soldaten in der Forderung zusammengefaßt: „Durch geschickte Kombination von Feuer und Bewegung die feindliche Verteidigung in ihrer ganzen Tiefe aufzubrechen, dem Feinde keine Ruhepause zu geben, rechtzeitig die Versuche des Feindes zu liquidieren, durch Gegenangriffe unseren Angriff aufzuhalten. Die Verfolgung des Feindes geschickt zu organisieren, ihn daran zu hindern, seine schweren Waffen mitzunehmen, durch kühne Ma-
Zum sowjetischen Durchbruchsverfahren in der letzten Kriegsphase auch A. S. ¿adov, Proryv gluboko eselonirovannoj oborony protivnika, in: Vl2, 1/1978, S. 11-19. Eine neuere Zusammenfassung zur sowjetischen Theorie des Offensivmanövers in den Jahren des Zweiten Weltkriegs bietet David M. Glantz, Developing Offensive Success: The Soviet Conduct of Operational Maneuver, in: Soviet Military Doctrine from Lenin to Gorbacev, 1915-1991, hg. von Willard C. Frank u. Philip S. Gillette, Westport/Conn., London 1992, S. 133-173. Istorija vojn i voennogo iskusstva, wie Anm. 7, S. 302 ff. Zur Staffelung sowjetischer Angriffsverbände nach dem erfolgten Frontdurchbruch in der Endphase des Krieges siehe Duffy, Der Sturm auf das Reich, S. 358 u. 366 f. Vgl. dazu die deutsche militärische Analyse des sowjetischen Vorgehens in: Die Kampfweise der Roten Armee, OKH, Generalstab des Heeres, Abtl. Fremde Heere Ost, Nr. 3550/45 geh. vom 12. April 1945, IfZ, MA-1525, Bl. 769-804, hier Bl. 784 f.
3.4. Besondere Weisen des militärischen Vorgehens
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növer die Flanken des Feindes zu erfassen, in seinen Rücken zu stoßen, ihn einzuschließen, aufzusplittern und zu vernichten." 9 Das Erobern und Säubern von Ortschaften und Festungen, das Besetzen von Räumen und Vernichten eingeschlossener Feindtruppen blieb der den Tanks folgenden Infanterie überlassen. Ebenso mußte vermieden werden, sich in verlustreiche Kämpfe von Panzern gegen Panzer verwickeln zu lassen. Der die Panzerverwendung in Gefechtshandlungen regelnde Befehl Nr. 325 des Volkskommissariats für Verteidigung (NKO) vom 16. Oktober 1942 bemerkte dazu: „Beim Erscheinen von Feindpanzern sind diese grundsätzlich von der Artillerie zu bekämpfen. Die eigenen Panzer greifen in die Kämpfe lediglich ein bei einwandfreier Überlegenheit der eigenen Kräfte und in besonders günstigen Lagen." 10 Während des schnellen Vorstoßes der Panzerverbände entlang von Straßen und Ortsdurchfahrten im Zuge der Januaroffensive 1945 kam es vor allem auf schlesischem Boden zu unerwartet hohen Verlusten durch die in ihrer Wirksamkeit anfangs unterschätzten deutschen Panzerfaustschützen. Die Unerfahrenheit in der Bekämpfung dieser Waffe erzwang sogar Änderungen in der Vorgehensweise selbst um den Preis vorübergehender Tempoeinbußen beim Vormarsch. David Dragunskij, damals Oberst und Kommandeur einer Tankbrigade in Generaloberst Rybalkos 3. Gardepanzerarmee, berichtete darüber in seinen Kriegserinnerungen: „Besonders gefährlich wurden uns in jenen Tagen die Panzerschützen, die in den verlassenen Städten über uns herfielen. Die Erfahrungen aus den ersten Gefechtstagen auf deutschem Territorium zwangen uns, unsere Taktik zu ändern. Näherten wir uns einer Ortschaft, saßen die Schützen jetzt von den Panzern ab, schwärmten aus, durchkämmten die Straßen und räucherten die gegnerischen Widerstandsnester aus." Ausgesprochen gering waren die Panzerverluste nachts, wenn die Tanks sich als nahezu unverwundbar gegenüber der deutschen Artillerie erwiesen und ihre demoralisierende Wirkung auf den Gegner nach sowjetischer Beobachtung noch höher einzuschätzen war als tagsüber. 11 Die vordringlichsten Aufgaben der durch eine beim Marsch meist aufgesessene Infanteriesicherung (russ. tankovyj desant) begleiteten Panzer war es, „die Verbindungen des Gegners zu durchschneiden, seine Verteidigung durcheinanderzubringen, Panik in seinem Rücken zu verbreiten, seinen Kräften den Rückzug abzuschneiden oder den Reserven die
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Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 250f. u. 265. Tagesbefehl Marschall ¿ukovs, in: Bundesarchiv Militärarchiv (BA-MA), RH 2/2687, Bl. 150-154, hier Bl. 152. Prikaz NKO No. 325 ot 16 oktjabrja 1942 g., in: VIZ, Jg. 16 (1974), H. 10, S. 68-73, hier S. 71. Vgl. dazu Magenheimer, Abwehrschlacht an der Weichsel 1945, S. 85. D. A. Dragunski, Jahre im Panzer, (Ost)Berlin 1980, S. 245; V. Grossman, Above all speed!, in: Soviet War News (SWN) vom 24. 3. 1945, S. 2.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
Anmarschwege zu verlegen". 12 Wichtig war nach der Auffassung des Moskauer Oberkommandos, daß die operativen Panzerverbände nicht zu früh, d.h. vor der Vollendung des Frontdurchbruchs, in die Angriffsstreifen der Schützentruppen eingeführt wurden und damit einen erheblichen Teil ihrer Frische und Stoßkraft in aufreibenden Durchbruchskämpfen verbrauchten. In diesem Punkt kam es im letzten Kriegsjahr gelegentlich zu Konflikten mit den Frontoberbefehlshabern, die, wie etwa Marschall Konev in der Angriffsoperation von Lemberg-Sandomierz vom Juli 1944, nicht zuletzt um die Infanterieverluste zu vermindern, ihre operativen Panzerspitzen für die Vollendung des Durchbruchs mit heranzogen. 1 3 Damit dieser bei den viele Kilometer tiefen Verteidigungszonen in der notwendigen Abschnittsbreite erzielt werden konnte, setzten das sowjetische Oberkommando und sein Generalstab auf eine große Tiefenstaffelung ihrer Angriffsverbände, die ein stetiges, fein dosiertes Ansteigen der Angriffskraft bis zum Eintreten des Erfolges ermöglichen sollte. Damit versuchte man gewissermaßen dem Clausewitz'schen, sprich bürgerlichen .Gesetz' von der abnehmenden Kraft einer Offensive nach Überschreiten des Kulminationspunkts ein neues, der Stalinschen Militärwissenschaft gemäßes Prinzip des „fortlaufende[n] und unabänderliche[n] Größerwerden[s] der Kräfte" entgegenzusetzen. 14 Die Infanterie, deren Gefechtsverwendung Stalins Befehl Nr. 306 vom 8. Oktober 1942 geregelt hatte, war, wenngleich ihr Durchbruchserfolg ohne Begleitpanzerunterstützung und die Feuerkraft eines starken Artillerieaufmarschs als unmöglich galt, immer noch die Hauptwaffe bzw. die .Königin' (carica) des Schlachtfeldes, deren Dynamik und Angriffsgeist für den Gesamterfolg einer Operation den Ausschlag gaben. 1 5 Um so wichtiger war gerade ihre richtige Motivierung und Führung in allen Gefechtshandlungen. „Du mußt vorwärts kommen. Wenn Du einen Deutschen getötet hast, töte den nächsten. Wenn Du einen Feuerpunkt zum Schweigen gebracht hast, gehe zum nächsten über. Dein Messer, Dein Spaten - alles muß in Aktion gebracht werden. Deine Aufgabe ist es, zu handeln", schrieb Generaloberst Cvetaev, der damalige Befehlshaber der 5. Stoßarmee, in einem Beitrag für die Militärpresse vom Mai 1944 und fügte hinzu: „Denk daran, Du bist ein Infanterist. Du kannst alles überwinden." 1 6 Die erste Angriffswelle beim Schützenangriff der ersten Staffel 12 13
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Katukow, An der Spitze des Hauptstoßes, S. 324. Konew, Das Jahr fünfundvierzig, S. 28 f. Vgl. dazu Duffy, Der Sturm auf das Reich, S. 362 ff. Generalmajor Talenskij in: Bol'sevik, Ig. 20 (1944), Nr. 10-11, hier zitiert nach Garthoff, Die Sowjetarmee, S. 175. Vgl. auch das Stichwort .Armeeangriffsoperation', in: Sowjetische Militärenzyklopädie. Auswahl in deutsch. Heft 2, (Ost) Berlin 1978, S. 63-73. Zum Befehl Nr. 306 vom 8. 10. 1942 siehe: VI 1, Ig. 16 (1974), H. 9, S. 62-66. Vgl. auch Gasthoff, Die Sowjetarmee, S. 343 f. Zitiert nach SWN, 17. 5. 1944, S. 2.
3.4. Besondere Weisen des militärischen Vorgehens
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bildeten die Sturmabteilungen (sturmovye otrjady) - aus den Regimentern einer jeden Schützendivision improvisiert zusammengestellte Erkundungseinheiten in Bataillonsstärke - mit einer speziellen, der militärischen Aufgabe gemäß meist hochkomplexen Waffenausstattung. Diese Sturmbataillone, deren Geburtsstunde bereits im Finnlandkrieg 1939/40 schlug, mußten, um ihre Hauptaufgabe, die gegnerische Verteidigung nach Schwachstellen und Einbruchsmöglichkeiten abzutasten, erfüllen zu können, überaus selbständig und selbstverantwortlich handeln. Häufig wurden für diese .Himmelfahrtskommandos' zur Frontbewährung entlassene Sträflinge und Lagerinsassen oder gemaßregelte Offiziers- und Manschaftsdienstgrade verwendet, bei denen Mut und Draufgängertum mehr gefragt waren als Disziplin und Loyalität gegenüber der Führung. 17 Analog zu den bataillonstarken Sturmabteilungen für den Durchbruch von Verteidigungszonen und befestigen Räumen gab es ebenso von Mal zu Mal gebildete, jedoch wesentlich kleinere und beweglichere Sturmgruppen (sturmovye gruppy) für den Straßen- und Häuserkampf in Ortschaften und die Ausschaltung von gegnerischen Widerstandsnestern, die nicht aus der Bewegung heraus genommen werden konnten. Sie bestanden - in der Regel auf Kompanie- oder Bataillonsebene zusammengestellt - häufig aus zwei Schützen- und einer MP-Gruppe (zusammen ca. 20 Mann) mit einem schweren MG-Trupp sowie einer kleinen Pionier-, Spreng- oder Flammenwerferabteilung. 18 Zwei bis drei Tanks oder Sturmgeschütze (samochodnye ustanovki), gegebenenfalls auch wenige leichte Pak- und Infanteriegeschütze, verstärkten ihre Feuerkraft. Sie wurden stets beim Sturm auf größere, vom Gegner verteidigte oder zu Festungen erklärte Ortschaften auf Anordnung der Divisionskommandeure in großer Zahl geschaffen; so bei der viertägigen Eroberung Königsbergs Anfang April 1945, für die insgesamt 104 Sturmgruppen und 26 Sturmabteilungen gebildet wurden. 19 17
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Garthoff, wie Anm. 6, S. 289. Dazu auch Boris Ol'sanskij, My prichodim s vostoka (1941-1951), Buenos Aires 1954, S. 234. Ebenso F. S. Sauschin, Soldatenbrot, (Ost)Berlin 1984, S. 155 f. und Κ. A. Merezkow, Im Dienste des Volkes, (Ost)Berlin 1972, S. 166. Befehl des Kommandeurs der 262. Schützendivision Generalmajor Usacev an seine Truppen vom 10. 2. 1945, in: Bundesarchiv (BA), Ostdokumentation (Ost-Dok.) 8/511, Bl. 22. Vgl. dazu: Die Kampfweise der Roten Armee, wie Anm. 8, Bl. 779 f. Sturmovaja grappa, in: Velikaja Otecestvennaja Vojna 1941-1945. Enciklopedija, Moskau 1985, S. 798. Siehe auch den Aufsatz von Major B. Monastyrskij, Sturmovoj batal'on, in: KZ, 11.3. 1945, S. 2, ebenso Bagramjan, So schritten wir zum Sieg, S. 450. Zur Verwendung von Sturmgruppen bei der Eroberung der niederschlesischen Stadt Sorau im Februar 1945 siehe V. M. ¿agala, Rasciscaja puf pechóte, Moskau 1985, S. 200 f.; zu ihrem Einsatz und Zusammenwirken mit der Artillerie in der Festungsstadt Posen: G. S. Nadysev, Na sluzbe stabnoj, S. 224; bei der Eroberung Berlins Ende April 1945: Geschichte der Kriegskunst, (Ost)Berlin 1987, S. 373. Dazu generell auch Duffy, Der Sturm auf das Reich, S. 378-380.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
Zum Kampf um Ortschaften hatte bereits die Felddienstordnung der Roten Armee von 1936 (PU - 36) festgestellt: „Die Grundlage des Erfolgs ist die Zerstörung der vom Feinde besetzten festen Bauten durch die schwere Artillerie und durch Flieger. Bahnhöfe, Elektrizitätswerke, Wasserversorgungsanlagen, Telegraphenämter sind in erster Linie zu besetzen. Die Hauptkräfte der um Orte kämpfenden Truppen", so hieß es weiter, „greifen über Vorplätze, Gärten und Höfe an, während längs der Straßen nur kleinere Abteilungen kämpfen. Die Infanterie wird durch schwere Waffen, durch einzelne Geschütze und durch Pioniere verstärkt und mit Sprengmitteln und Handgranaten reichlich ausgestattet." 20 Ein aus dem Kommandobereich der 39. Armee im ostpreußischen Samland stammender Befehl vom Februar 1945 behandelte den Einsatz von Sturmgruppen beim Straßenkampf in Zusammenarbeit mit der Artillerie und führte u.a. aus: „Die Artillerie unterstützt die Sturmgruppen durch direkten Beschüß des Gegners auf kurze Entfernung, der sich in Häusern, Gräben und Mauertrümmern festgesetzt hat. Die Geschütze fahren nicht auf offenen Straßen und Kreuzungen, auch nicht auf freien Plätzen auf, damit sie nicht von Scharfschützen und MG-Schützen außer Gefecht gesetzt werden. Man sucht Schutzstellungen auf und durchbricht Wände für das Schußfeld. Durch Artilleriebeschuß werden die Erdgeschosse zuerst zerstört, um den Gegner zu zwingen, die Gewölbe zu verlassen oder sich auf die höheren Etagen zu flüchten."21 Sturmgruppen sollten sich unbemerkt an den Außenwänden der Häuser vorarbeiten, durch Fenster, Treppenhäuser und Kamine eindringen und sich auf Dachböden sammeln. Die mittleren und oberen Stockwerke waren zuerst zu besetzen, ein längerer, mehr als für den militärischen Zweck nötiger Aufenthalt innerhalb der zu säubernden Gebäude war zu vermeiden, statt dessen möglichst schnell der nächste feindliche Feuerpunkt anzugehen. Unauffällig und geräuschlos hatten die Säuberungsaktionen vonstattenzugehen, dabei mit stets einsatzbereit gehaltenen Waffen („Die Maschinenpistole am Hals, die Granate unter dem Arm"). Zur Vorgehensweise im Inneren von Häusern forderte ein für die am Sturm auf Königsberg beteiligten Gardetruppen bestimmtes Flugblatt in eindringlich plakativer Sprache von jedem Soldaten: „Brich zu zweit in ein Haus ein - Du und die Granate. Die Granate zuerst, Du ihr nach. Die nächste Granate ist schon bereit. Im Hause gibt es viele Zimmer, Korridore, Zwischendecken. Dreh Dich ständig um! In jeden dunklen Winkel - eine Granate! Mit aller Macht voran! Auf jede Zimmerdecke eine MP-Salve und wieder weiter. Ein ande20
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Vorläufige Felddienstordnung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee (RKKA) 1936 (PU36), Berlin 1937, S. 186. Befehl Generalleutnant Ljudnikovs vom 17. 2. 1945, in: BA, Ost-Dok. 8/511, Bl. 17. Vgl. dazu auch: Major D. Zaitsev, Storm groups in action, in: SWN, 22. 1. 1944, S. 2 u. 4.
3.4. Besondere Weisen des militärischen Vorgehens
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res Zimmer - eine Granate! Drehung - noch eine Granate. Die Korridore durchpflüge mit der Maschinenpistole." Weiter hieß es: „Hab keine Bange! Die Initiative liegt in Deinen Händen. Stürme noch grimmiger [zlee] und schonungsloser [besposcadnee]! Mehr Granaten, mehr Feuerstöße auf das Haupt der Aggressoren." 22 Nahezu dieselben Häuserkampfvorschriften galten für die Truppen der 1. Weißrussischen Front beim Sturm auf Berlin, wie sie der ,Sovetskij boec', die Frontzeitung der 5. Stoßarmee Generaloberst Berzarins, am 16. April 1945, dem Tag des Beginns der Berliner Operation, veröffentlichte. 23 Charakteristisch für die Sturmabteilungen und die Sturmgruppen war die durch die fast durchgängige MP-Ausstattung ihrer Schützenabteilungen in ihnen konzentrierte infanteristische Feuerkraft, der die deutsche Seite kaum Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. So zitierte z.B. eine Anfang März 1945 im Bereich der Heeresgruppe Weichsel entstandene Aufzeichnung über die Taktik des russischen Vorgehens auf dem pommerschen Kriegsschauplatz einen deutschen Unteroffizier mit den Worten: „75 Prozent der toten Russen hatten Maschinenwaffen und waren sehr gut ausgerüstet. [Der Berichterstatter] betont immer wieder, daß die Feuerkraft kleinerer sowjetischer Gruppen stärkeren deutschen Verbänden immer überlegen war, weil es uns immer an Maschinenwaffen fehlte." An anderer Stelle vermerkte derselbe Bericht: „Es fällt auch bei jeder Unterhaltung mit deutschen Soldaten auf, daß nahezu jeder einzelne immer wieder darauf hinweist, daß die Zahl der der sowjetischen Infanterie beigegebenen Panzer und die starke infanteristische Feuerkraft der Sowjets die Kampfentscheidung herbeiführt." 24 Im Vergleich zu dem in früheren Jahren rücksichtslosen Einsatz der Infanterie, als diese oftmals ohne Niederhalten des gegnerischen Feuers in fast selbstmörderischer Weise angriff, hatten sich die Verhältnisse deutlich gewandelt. Nach den enormen Menschenverlusten der Jahre zuvor setzte in der Endphase des Krieges auch die sowjetische Militärführung, ähnlich wie die westalliierte Seite, auf die Schonung der eigenen Menschenleben durch ein maximales Ausspielen ihrer Material- und Feuerüberlegenheit, das die Infanterie nicht angreifen ließ, solange „nicht vorher alle Möglichkeiten zum Aufweichen des Gegners restlos ausgeschöpft wurden". 25 Dazu gehörten gewiß auch unblutige Mittel wie viele, von den deutschen Verteidigern 22
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Sturm Kenigsberga, S. 289 f.; Kartasev, Ot Podmoskovja do Kenigsberga, S. 109 f.; Α. N. Grylev, Boevye dejstvija 13-go gvardejskogo strelkogo korpusa, in: Sturm Kenigsberga, S. 201-215, hier S. 212 f. F. J. Bokow, Frühjahr des Sieges und der Befreiung, S. 174. BA-MA, RH 2/2682, Bl. Konstantin Simonow, Kriegstagebücher. Zweiter Band 1942 bis 1945, München 1979, S. 505.
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3. Planung und Ablauf der militärischen Operationen
jedoch meist zurückgewiesene Kapitulationsaufrufe, eine gesteigerte Flugblatt·, Radio- und Lautsprecherpropaganda sowie der gezielte Einsatz von antifaschistischen Agitationstrupps an der Front, die durch persönliche Überredung, deutsche Soldaten zum Verlassen ihrer Stellungen zu bewegen versuchten. 26 Den Regelfall bildete jedoch eine rigorose Schlachtfliegerverwendung und ein gewaltiger, tief gestaffelter Masseneinsatz von Artillerie aller Kaliber, - die Sowjets hatten dafür im Jahre 1942 den Begriff der Artillerieoffensive (artillerijskoje nastuplenie) geschaffen - der höchste Feuerkonzentrationen vorrangig auf befestigte Ziele lenkte und auch psychologisch meist von eindrucksvoller Wirkung war. 27 Seit dem Sommer 1943 war die Feuerwalze die Hauptform der Artillerieunterstützung bei Bodenangriffen, daneben wurde auch zusammengefaßtes Feuer geschossen. Einer Direktive des Oberkommandos vom Januar 1942 gemäß begann man im Laufe des Jahres zunächst noch vorsichtig auch mit der Luftunterstützung von Angriffen. Daß stark präventive militärische Vorgehensweisen, wie besonders die für den Häuserkampf beschriebenen, Brände und Zerstörungen provozierten, die in vielen Fällen über das Maß des rein militärisch notwendigen hinausgingen, liegt auf der Hand. Dies allein erklärt jedoch nur einen Teil jener massiven Zerstörungen, zu denen es im Verlauf oder nach dem Ende der Kampfhandlungen auf deutschem Boden gekommen ist. Hitlers berühmter Verbrannte-Erde-Befehl vom 19. März 1945 über „Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet" kam, von einigen wenigen befestigten Plätzen abgesehen, für die Gebiete östlich von Oder und Neiße zu spät. 28 Für das Ausmaß sowohl der materiellen Zerstörungen wie der physischen Gewalttaten müssen andere Ursachen, die großteils in der damaligen psychischen und emotionalen Stimmungslage der Masse der Rotarmisten zu suchen sind, mitverantwortlich gemacht werden.
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Bagramjan, So schritten wir zum Sieg, S. 462 f.; Rokossowski, Soldatenpflicht, S. 416. Allgemein dazu: M. I. Burzew, Einsichten, (Ost)Berlin 1985, S. 261-270. 27 Siehe dazu den kurzen, illustrativen Abschnitt „Der Artillerieangriff" in: Boris Polewoi, Berlin 896 km. Aufzeichnungen eines Frontkorrespondenten, (Ost)Berlin 1975, S. 104 ff. Dazu vergleichend: Die Kampfweise der Roten Armee, wie Anm. 8, Bl. 774 u. 781 f. 2 ® Der Befehl ist wiedergegeben in: Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht, hg. von Walter Hubatsch, München 1965, Weisung Nr. 72.
4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung des Sowjetsoldaten im letzten Kriegsjahr 4.1. Die Verstärkung der parteipolitischen Arbeit in der Armee seit dem Frühjahr 1944 im Rahmen der Erweiterung des Kriegsziels Die psychologische Motivierung der Soldaten und aller Bürger der Sowjetunion zum Widerstand gegen die deutschen Angreifer war vom Sommer 1941 an die zentrale Aufgabe der politischen Organe in der Armee wie in allen anderen für die Bedürfnisse der Front arbeitenden Bereiche der Sowjetgesellschaft. Hitlers Angriff hatte das Land zu diesem Zeitpunkt völlig unvorbereitet getroffen und zunächst bis in die höchsten Spitzen von Staat und Partei hinein eine tiefe Lähmung hinterlassen. Stalin selbst sah sich erst am 12. Tag des deutschen Angriffs imstande, in einer Rundfunkansprache vom 3. Juli 1941 zu dem ungeheuerlichen Vorgang der ,,wortbrüchige[n] Zerreißung des Paktes und den Überfall auf die Sowjetunion" vor der eigenen Bevölkerung Stellung zu nehmen. 1 Vor allem fehlte es dem Land neben der militärischen an der psychologischen Kriegsbereitschaft oder, mit anderen Worten: am Feindbild. Für die Masse der Bevölkerung war der Begriff .Faschismus' eine gleichwohl vielstrapazierte wie dogmatisch-abstrakte Formel geblieben und selbst für die Regierenden und ihre Staatsideologie bedeutete Faschismus bis dahin nicht mehr als eine Form bürgerlicher Herrschaft neben anderen, in einem Sinne, der Sowjetaußenminister Litvinov im Herbst 1933 noch vom Wunsch nach ,,gute[n] Beziehungen mit kapitalistischen Staaten jeder Gattung, einschließlich der faschistischen", hatte sprechen lassen.2 Durch das Neutralitätsabkommen vom 23. August 1939 und den Ende September d.J. abgeschlossenen Grenz- und Freundschaftsvertrag mit Berlin war die antifaschistische Propaganda aus dem Leben der Sowjetgesellschaft weitgehend zugunsten einer starken Antipathie gegen die westalliierten Gegner Deutschlands verschwunden. Für die Intelligenz des Landes, die technische 1
2
J. W. Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Moskau 1946, S. 8. Vgl. auch Anatol Goldberg, Ilya Ehrenburg. Writing, Politics and the Art of Survival, London 1984, S. 192. Ε. H. Carr, Berlin-Moskau. Deutschland und Rußland zwischen den beiden Weltkriegen, Stuttgart 1954, S. 143.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
wie die kulturelle gleichermaßen, galt nach wie vor die traditionelle Hochschätzung Deutschlands und seiner geistigen wie zivilisatorischen Leistungen. Deutschland blieb im Bewußtsein der meisten Vertreter der Sowjetintelligenz selbst unter der Herrschaft Hitlers ab 1933 im Kern ein Land der westeuropäischen zivilisatorischen Hemisphäre. Hinzu kam die ideologisch bedingte Unterscheidung zwischen dem deutschen Volk und der faschistischen Führung sowie die Hoffnung auf den hohen politischen Bewußtseinsstand der deutschen Arbeiterschaft, die einen Krieg gegen den Sowjetstaat zu verhindern und, so die ,Pravda' im Jahre 1935, „die großen Lehren des Klassenkampfes [kenne] und ihre Waffen mit Würde zu nutzen wissen" werde. 3 Um so schockartiger wirkte die Erfahrung des 22. Juni 1941 und der anschließenden deprimierenden Wochen und Monate des scheinbar unaufhaltsamen Vormarschs der deutschen Truppen. In dieser Anfangsphase mußte die mentale Kriegsbereitschaft der Sowjetbevölkerung mangels eigener Anschauung vom Wesen des deutschen Gegners durch den Rückgriff auf propagandistische Mittel erst erzeugt werden. Rückschauend bekannte der stellvertretende Chefredakteur der .Krasnaja Zvezda', Generalmajor Fomicenko, Anfang 1944, daß man zu Beginn des Krieges den moralischen Aspekt der „faschistischen Armee" nicht hinreichend bemerkt habe: „Unsere Männer wußten noch nicht, daß der wilde Fanatismus der faschistischen Führer in das Blut eines jeden deutschen Soldaten und Offiziers übergegangen war." 4 In ähnlichem Sinne sprach Stalin in seinem Befehl Nr. 130 zum Maifeiertag des Jahres 1942 von einer in den vergangenen Monaten unter den Mannschaften der Roten Armee eingetretenen Wandlung, die bewirkt habe, daß die Armeeangehörigen inzwischen die Fähigkeit zum Haß auf die deutschen Eindringlinge entwickelt hätten. Der Sowjetdiktator wörtlich: „Verschwunden sind die Gutmütigkeit und die Sorglosigkeit gegenüber dem Feind, die in den ersten Monaten des Vaterländischen Krieges unter den Rotarmisten zu verzeichnen waren. Die von den faschistischen deutschen Eindringlingen an der friedlichen Bevölkerung und an den Sowjetkriegsgefangenen verübten Bestialitäten, Plünderungen und Gewalttaten haben 3
4
Zitiert nach Erwin Oberländer, Sowjetpatriotismus und Geschichte. Dokumentation, Köln 1967, Dok. 6. Michail Semirjaga schreibt: „In den ersten Tagen und Wochen des Krieges verspürten wir keinerlei Haß gegenüber den deutschen Soldaten. Jene geballte Propaganda, die sich bei uns seit 1933 gegen den Faschismus richtete, übertrugen wir nicht auf das ganze deutsche Volk." Siehe: Michail Semirjaga, Die Rote Armee in Deutschland im Jahre 1945, in: Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945, hg. von Peter Jahn und Reinhard Rürup, Berlin 1991, S. 200-210, das Zitat S. 201. Hatred of the Enemy, in: SWN, 20. 1. 1944, S. 2.
4.1. Die Verstärkung der parteipolitischen Arbeit
107
unsere Rotarmisten von dieser Krankheit geheilt." Die Sowjetsoldaten, fuhr Stalin fort, seien „härter und schonungsloser" geworden. Sie hätten es gelernt, die faschistischen deutschen Eindringlinge richtig zu hassen und begriffen, „daß man den Feind nicht besiegen kann, ohne es gelernt zu haben, ihn aus ganzer Seele zu hassen". 5 So wurde erst im Zuge der propagandistischen .Nationalisierung' des Krieges zu einem vaterländischen Befreiungskampf des russischen Volkes die Rote Armee, wie Stalin ein Jahr später, am 23. Februar 1943, verkündete, „zu einer Armee des Kampfes auf Leben und Tod gegen die Hitlerschen Truppen, zu einer Armee von Rächern der Gewalttaten und Erniedrigungen, denen unsere Brüder und Schwestern in den besetzten Gebieten unserer Heimat durch die faschistischen deutschen Schufte unterworfen werden". 6 Bevor jedoch bei den Rotarmisten frühestens mit der Gegenoffensive vor Moskau im Dezember 1941 ein persönlicher Eindruck von der Praxis des deutschen Besatzungsregimes entstehen konnte, mußten starke propagandistische Mittel zu Hilfe genommen werden. Stalin selbst lieferte in seinem politischen Rechenschaftsbericht auf der Moskauer Festsitzung am Vorabend des 24. Jahrestages der Oktoberrevolution am 6. November 1941 ein markantes Beispiel dafür, als er aus einem angeblich bei einem gefallenen deutschen Offizier aufgefundenen „Appell des deutschen Oberkommandos an die Soldaten" die folgende Passage vortrug: „Habe kein Herz und keine Nerven, man braucht sie im Kriege nicht. Vernichte in Dir Erbarmen und Mitleid. Töte jeden Sowjetrussen, mach nicht halt, auch wenn Du einen Greis oder eine Frau, ein kleines Mädchen oder einen Jungen vor Dir hast. Töte, denn dadurch rettest Du Dich vorm Untergang, sicherst die Zukunft Deiner Familie und erwirbst Dir ewigen Ruhm." Stalin sprach weiter von systematischen Plünderungen und Zerstörungen von Städten und Dörfern („Die Hitlerhorden morden und vergewaltigen die friedlichen Bewohner unseres Landes, ohne Frauen, Kinder und Greise zu schonen.") und nannte dies „das Programm und die Befehle von Menschen, die jedes Menschenantlitz verloren haben und auf das Niveau wilder Tiere herabgesunken sind". 7 Drei Wochen später gab Molotov mit seiner sowohl über Radio Moskau wie in millionenfacher Auflage an der Front verbreiteten Note vom 25. November 1941 „über die empörenden Bestialitäten der deutschen Behörden, die an sowjetischen Kriegsgefangenen verübt werden", dem Ganzen noch eine Steigerung. Danach galt als eine bewiesene Tatsache, „daß gefangengenommene, größtenteils verwundete Rotarmisten vom deutschen 5 6 7
Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, S. 60 f. Ebd., S. 98. Ebd., S. 50 f., ebenso S. 18.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
Oberkommando und den deutschen Truppenteilen zum Opfer bestialischer Folterungen, Quälereien und Morde gemacht werden", wobei derartige „Greueltaten und schändliche Verbrechen der deutschen Offiziere und Soldaten [...] an der gesamten Front verübt [werden], überall wo diese auftauchen und wo ihnen Rotarmisten und Kommandeure der Roten Armee in die Hände fallen". Geradezu im Stile eines Musterbeispiels für die überzogene Sprache einer Greuelpropaganda behauptete die Note: „Gefangene Rotarmisten werden mit glühenden Eisen gefoltert, ihnen werden die Augen ausgestochen, Beine, Arme, Ohren und Nasen abgehackt, die Bäuche aufgeschlitzt, sie werden an Panzerwagen gebunden und in Stücke gerissen." 8 Am 8. Januar 1942 ließ der Sowjetaußenminister dem eine zweite, ebenfalls mit großem Aufwand verbreitete Note über die „allgemeinen Plünderungen, Ausraubung der Bevölkerung und ungeheuerlichen Bestialitäten der deutschen Behörden in den von ihnen besetzten Sowjetgebieten" folgen. 9 Etwa vom gleichen Zeitpunkt, Ende 1941, an begann der kometenhafte Aufstieg Il'ja Erenburgs in der sowjetischen Kriegspublizistik, dessen stark mit Tiervergleichen („arische Bestien" u.ä.) arbeitende Artikel und Pamphlete mit dem berühmten Aufruf „Töte!" vom Juli 1942 einen ersten Höhepunkt erreichten. 10 Mentale Kriegsbereitschaft und Feindbild blieben unvollständig ohne die Festlegung eines Kriegsziels, für das die Armee und mit ihr das ganze Land seine enormen Opfer bringen sollte. Stalin hatte dazu erstmals in seiner Festansprache vom 6. November 1941 eine klare Aussage getroffen, als er feststellte: „Wir haben keine Kriegsziele und können keine Kriegsziele haben wie die Eroberung fremder Gebiete oder die Unterwerfung fremder Völker [...] Unser erstes Ziel besteht darin, unsere Gebiete und unsere Völker vom faschistischen deutschen Joch zu befreien." 11 In seinem Tagesbefehl vom 23. Februar 1942 sprach er nochmals vom ,,edle[n] und erhabene[n] Kriegsziel" der Roten Armee, das sie von den deutschen Eindringlingen unterscheide, „sie zu Heldentaten begeistert" und erkläre, warum „der Vaterländische Krieg bei uns Tausende von Helden und Heldinnen hervorbringt, die bereit sind, für die Freiheit ihrer Heimat in den Tod zu gehen". Angebliche Auslandsberichte, die Rote Armee wolle das deutsche ® 9 10
11
Ortwin Buchbender, Das tönende Erz. Deutsche Propaganda gegen die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1978, S. 114 f. Ebd. Deutscher Text bei Buchbender, Das tönende Erz, Dok. 8 (S. 305); der russische Originaltext ist wiedergegeben bei Heinz Nawratil, Vertreibungsverbrechen an Deutschen. Tatbestand, Motive, Bewältigung, München 1986, S. 99 f. Vgl. dazu auch Goldberg, Ilya Ehrenburg, S. 197. Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, S. 36.
4.1. Die Verstärkung der parteipolitischen Arbeit
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Volk ausrotten oder den deutschen Staat vernichten, bezeichnete er als eine „dumme Lüge und eine törichte Verleumdung" und bekräftigte: „Die Rote Armee setzt sich das Ziel, die deutschen Okkupanten aus unserem Lande zu vertreiben und den Sowjetboden von den faschistischen deutschen Eindringlingen zu befreien." 1 2 Das erklärte Kriegsziel Moskaus beschränkte sich demnach auf die Wiederherstellung des territorialen Status quo ante, d.h. auf die Rückgewinnung des Ausgangspunktes vom 22. Juni 1941. Dieses Ziel fand seit Anfang 1942 seinen Ausdruck in den Volk wie Armee gegenüber ständig wiederholten Standardlosungen von der „Befreiung der Sowjetheimat" und der „Zerschmetterung der deutschen Okkupanten und deren Vertreibung aus unserem Heimatland" (Otcistim polnost'ju sovetskuju territoriju ot fasistskich zachvacikov!). Dem entsprach u.a. noch die vom .Nationalkomitee Freies Deutschland' vom Sommer 1943 bis zur Jahreswende 1943/44 gegenüber der Wehrmacht propagierte Forderung nach „geordnetem, kampflosem Rückzug" auf die eigenen Grenzen. 1 3 Diese Kriegszielformel galt bis zum Jahresende 1943, als Stalin Anfang Dezember d.J. auf der Teherankonferenz sich seinen westalliierten Verbündeten gegenüber auf die Casablanca-Formel von der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und seiner Kriegsverbündeten als Vorbedingung für jeden Friedensschluß verpflichtete. Dies bedeutete in seiner Konsequenz, nach der Befreiung des Sowjetterritoriums den Krieg über die eigenen Grenzen hinaus nach Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, die Balkanländer und gegebenenfalls sogar nach Deutschland hineinzutragen. Im Laufe des Frühjahrs 1944 begann die anfangs noch vorsichtige Vorbereitung der Sowjetöffentlichkeit auf das erweiterte Kriegsziel; so im Aufruf des Zentralkomitees zum 26. Jahrestag der Roten Armee am 23. Februar, der die Solidarität mit den polnischen, tschechoslowakischen und jugoslawischen Truppen besonders herausstrich. Dasselbe galt für Stalins Befehl Nr. 16 vom gleichen Tag, in dem unter Beschwörung des Kriegsbündnisses mit den Westalliierten von der Notwendigkeit die Rede war, den Gegner nicht nur „an den Abgrund" heranzuführen, sondern ihn anschließend auch hinunterzustoßen. 1 4
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Ebd., S. 49. Ebd., S. 95. Vgl. Ν. I. Afanas'ev, Ot Volgi do Spree. Boevoj put' 35-j gvardejskoj strelkovoj Lozovskoj Krasnoznamennoj [...] divizii, Moskau 1982, S. 179. Zum NKFD und seiner Frontpropaganda gegenüber der Wehrmacht: Verrat hinter Stacheldraht ? Das Nationalkomitee „Freies Deutschland" und der Bund Deutscher Offiziere in der Sowjetunion 1943-1945, hg. von Bodo Scheurig, München 1965, S. 18 ff. Velikaja Otecestvennaja Vojna 1941-1945. Enciklopedija, Moskau 1985, S. 546; Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, S. 151-159.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
Ende März 1944 erreichten die Truppen der 2. Ukrainischen Front im Raum von Bel'c den Pruth und überschritten damit die Grenze zu Rumänien. In der Woche darauf erschien die Erklärung der Sowjetregierung vom 2. April, in der Moskau die Respektierung der sozialen Ordnung, des geltenden Rechts und die Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse des Landes zusagte - ein Schritt, dem der Beschluß des Staatlichen Verteidigungskomitees vom 10. April über die Aufgaben und das Verhalten der sowjetischen Truppen auf dem Boden Rumäniens folgte. 15 Es dauerte noch bis zum 1. Mai des Jahres, bis Stalin in seinem Befehl Nr. 70 der Armee und der gesamten Sowjetöffentlichkeit endlich das neue, weitergesteckte Kriegsziel verkündete. Erstmals in diesem Krieg Schloß der Sowjetdiktator in seine einleitende Grußadresse auch die „Brüder und Schwestern" ein, die „gewaltsam zur faschistischen Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt" worden waren. Nach einer Würdigung der bisherigen Befreiungserfolge unterstrich er nochmals die Aufgabe der Streitkräfte, „unser ganzes Land von den faschistischen Eindringlingen zu säubern und die Staatsgrenzen der Sowjetunion in ihrem ganzen Verlauf vom Schwarzen Meer bis zur Barentsee wiederherzustellen". Daran anschließend fuhr Stalin in der ihm eigenen volkstümlich-plakativen Sprache fort: „Unsere Aufgaben können sich jedoch nicht darauf beschränken, die feindlichen Truppen aus unserer Heimat zu vertreiben. Die deutschen Truppen gleichen jetzt einer verwundeten Bestie, die gezwungen ist, nach ihrer Höhle - an die Grenzen Deutschlands - zurückzukriechen, um ihre Wunden zu heilen. Aber auch eine verwundete Bestie, die sich in ihre Höhle zurückgezogen hat, hört nicht auf, eine gefährliche Bestie zu sein. Um unser Land und die mit uns verbündeten Länder vor der Gefahr der Versklavung zu retten, muß man der verwundeten deutschen Bestie auf der Spur folgen und ihr in ihrer eigenen Höhle den Todesstoß versetzen." 16 Aus dem letzten Halbsatz entstand die neue Kampflosung der Roten Armee für den Rest des Krieges, die die alte Generallosung von der „Befreiung der Sowjetheimat von den faschistischen deutschen Okkupanten" ablöste. „Das faschistische Untier in seiner eigenen Höhle zu erledigen" (Dobit' fasistskogo zverja ν ego sobstvennoj berloge!), hieß von nun an die tausendfach wiederholte Kriegszielparole Moskaus. Parallel dazu entstanden andere Kriegsziellosungen wie „Das Siegesbanner über dem faschistischen Nest aufpflanzen!" (vodruzit' Znamja Popedy nad fasistskim logovom!) oder der Aufruf: „Vorwärts, befreien wir unsere Brüder und
15 16
Schtemenko, Im Generalstab, Bd. 2, S. 133 f. Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, S. 164f.
4.1. Die Verstärkung der parteipolitischen Arbeit
111
Schwestern aus der faschistischen Sklaverei!" (Vpered, osvobodim nasich brat'ev i sëster iz fasistskoj katorgi!). 17 Die neue Zielsetzung stellte die politisch-agitatorische Arbeit in den Streitkräften vor neue Aufgaben. Die wichtigste davon war, die Masse der Soldaten nach einem bereits drei Jahre andauernden, verlustreichen Krieg zur Weiterführung des Kampfes außerhalb der eigenen Grenzen zu bewegen. Nach den Erkenntnissen der deutschen militärischen Aufklärung ließen sowohl Gefangenenaussagen wie Feldpostbriefe sowie zahlreiche Stimmungsberichte aus dem sowjetischen Hinterland eine spürbare Kriegsmüdigkeit sowohl bei der Truppe wie bei der Bevölkerung erkennen. Stimmen des Unverständnisses über die Fortsetzung des Krieges nach dem Erreichen des jahrelang gültigen Kriegsziels, verbunden mit dem Unwillen, für die Befreiung von Polen, Rumänen und Ungarn das eigene Blut zu vergießen, wurden im Laufe des Sommers 1944 sowohl bei einfachen Soldaten wie bei Truppenoffizieren laut. 18 So bedurfte es einer nochmals verstärkten agitatorischen Motivierung von Armee und Bevölkerung, die in der zweiten Jahreshälfte 1944 besonders vier Argumente immer wieder in den Mittelpunkt stellte: 1. Die Notwendigkeit, die unter unmenschlichen Existenzbedingungen in Deutschland gefangengehaltenen eigenen Landsleute zu befreien, 2. Den historischen Auftrag einer internationalen Befreiungsmission der Roten Armee vor allem gegenüber den slawischen Brudervölkern in Europa, 3. Die moralische Verpflichtung, die Schuldigen für die an der Sowjetbevölkerung verübten Verbrechen und die im Lande angerichteten Zerstörungen zur Rechenschaft zu ziehen, und 4. Die gemeinsam mit den Westalliierten zu lösende Aufgabe, die von einem militärisch hochgerüsteten und vom Hitlerfaschismus beherrschten Deutschland ständig ausgehende Gefahr endgültig zu beseitigen. Konkret ergaben sich daraus eine Reihe von Folgerungen für die Einstimmung der Armee auf die neuen vor ihr liegenden Aufgaben. Dazu gehörte in erster Linie die politisch-psychologische Vorbereitung der Sowjetsoldaten, von denen kaum einer zuvor das Ausland mit eigenen Augen gesehen hatte, auf die materielle und soziale Lebenswelt, die sie jenseits der eigenen Grenzen erwartete. Zur .richtigen' Verarbeitung der dort gewonnenen Eindrücke gehörte nicht zuletzt ein entsprechend diszipliniertes und gesittetes Auftreten der Armeeangehörigen als Repräsentanten eines Lan17
18
* Κ. Telegin, Voennyj sovet 1-go Belorusskogo fronta ν Vislo-Oderskoj operacii, in VIZ, Jg. 19 (1977), Η. 1, S. 47-52, hier S. 52. Ebenso: Velikaja Otecestvennaja Vojna, wie Anm. 14, S. 546. BA-MA, RH 2/2338, Bl. 39 u. 52. Ebenso RH 2/2455, Bl. 42, 73 u. 97.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
des mit welthistorischem Anspruch und einer, seinem ideologischen Selbstbild gemäß, überlegenen sozialen Kultur. Ein besonderes Problem bestand darin, die große Zahl frisch rekrutierter Wehrpflichtiger aus den gerade erst befreiten westrussischen Gebieten propagandistisch zu erfassen und politisch für den Armeedienst zu motivieren. Hand in Hand damit ging eine Kampagne für die Verstärkung der Wachsamkeit, des Geheimnisschutzes sowie gegen feindliche Spionage- und Diversionstätigkeit. Des weiteren war auch eine politische Aufklärungsarbeit unter der befreiten fremden Zivilbevölkerung vorzubereiten. 1 9 Die mit all dem verbundene Forcierung der politischen Agitationsarbeit in den Streitkräften nahm ihren Anfang mit einer vom Zentralkomitee der KPdSU Mitte Mai 1944 durchgeführten Beratung der Kriegsratsmitglieder aller Fronten, d.h. der auf der höchsten operativen Ebene der Streitkräfte für die politische Erziehungsarbeit verantwortlichen Offiziere. Dabei wurden erstmalig die neuen Aufgaben der Politorgane, „die sich aus der Befreiungsmission der Roten Armee in Europa ergaben", beraten. 2 0 Zwei Monate später - die Sowjetstreitkräfte schickten sich gerade an, die Grenze zu Polen zu überschreiten - erließ die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee ihre Direktive vom 19. Juli 1944. Darin wurde im Hinblick auf die unbefriedigenden Erfahrungen mit der Politarbeit der 2. Ukrainischen Front in Rumänien eine energische Verbesserung der politischen Erziehungsarbeit und ihre Ausrichtung auf die veränderten Bedingungen des Auslandseinsatzes gefordert. Scharfen Tadel erfuhr die mentale Einstellung vieler Kommandeure und Politarbeiter, die „ihrer vergangen Erfolge lebten, die Wachsamkeit abbauten und den Stimmungen von Selbstzufriedenheit und Gutmütigkeit" nachgeben würden. Als die wichtigste Aufgabe betrachtete man „die politische und die kulturelle Erziehung der Offizierskader, besonders auf der Zug-, Kompanie- und Bataillonsebene". Zu diesem Zweck erarbeiteten auf Stalins Vorschlag hin die Frontkriegsräte für das Staatliche Verteidigungskomitee einen Beschlußentwurf über „Verhaltensregeln [...] die von der Roten Armee im Ausland zu beachten sind". 2 1 Gleichzeitig wurde der im Sommer 1942 bei der Politischen Hauptverwaltung der Armee geschaffene ,Rat für die militärpolitische Propaganda' (sovet voenno-politiceskoj propagandy), dem unter der Leitung Generaloberst Scerbakovs führende Parteifunktionäre wie Dmitrij Manuilskij, Emefjan Jaroslavskij, Lev Mechlis oder der Chef der ZK-Abteilung 19 20 21
K. W. Krainjukow, Vom Dnepr zur Weichsel, (Ost)Berlin 1977, S. 262 f. Ebd., S. 258; Burzew, Einsichten, S. 216 f. Krainjukow, Vom Dnepr zur Weichsel, S. 258 f.; Partijno-politiceskaja rabota ν sovetskich vooruzennych silach ν gody Velikoj Otecestvennoj Vojny 1941-1945. Kratkij istoriceskij obzor, Moskau 1963, S. 407, 410 u. 414 f.; Ideologiceskaja rabota ν vooruzennych silach SSSR. Istoriko-teoreticeskij ocerk, Moskau 1983, S. 214 f.
4.1. Die Verstärkung der parteipolitischen Arbeit
113
für Propaganda und Agitation, Georgij Aleksandrov, angehört hatten, aufgelöst. 22 Die neue Etappe der politischen Propagandaarbeit erlebte ihre erste Bewährungsprobe auf polnischem Boden. Der Übertritt der Armee auf deutsches Territorium ab dem Herbst 1944 bedeutete für die Politorgane eine neue Stufe der Herausforderung. Vor allem trat jetzt der Sühne- und Vergeltungsgedanke stark in den Vordergrund der agitatorischen Arbeit. Eine herausragende Rolle bei dessen Propagierung kam dabei der zentralen Militärpresse und den Truppenzeitungen aller militärischen Ebenen zu. Diesbezüglich hatte die Politische Hauptverwaltung in ihrer bereits erwähnten Direktive vom 19. Juli 1944 an zentraler Stelle gefordert, „die Armeepresse in der politisch-erzieherischen Arbeit vollständiger zu nutzen und die Hauptaufmerksamkeit auf das ideologisch-politische Niveau der Zeitungen zu richten". 23
4.2. Die Rolle der Militärpresse innerhalb der politischen Agitationsarbeit: Der Fall Il'ja Erenburg „Das Zentrum der politischen Arbeit unter den Massen und der Organisation der Massen" zu werden, so war in der .Pravda' bereits im Juni 1943 zu lesen gewesen, sei gerade im Zeichen des Krieges die ehrenvollste Aufgabe der gesamten Sowjetpresse. Zu diesem Zweck müsse sie „ununterbrochen über die Situation an der Front und über die Heldentaten der Sowjetmenschen an der Arbeitsfront berichten". Weiter hieß es: „Sie muß ihre Leser in den glorreichen patriotischen Traditionen des russischen Volkes und der anderen Völker der UdSSR erziehen, sie beseelen mit fester Entschlossenheit und Mut, mit leidenschaftlicher Liebe zu ihrem Heimatland, seiner Kultur, Sprache, Literatur und Kunst. Sie muß ihre Wachsamkeit erhöhen und alle Erscheinungen von Nachlässigkeit, Selbstgerechtigkeit, Selbstzufriedenheit oder Eingebildetheit bekämpfen." Dazu bedürfe es einer Reihe von Voraussetzungen, für deren Erfüllung ein professionell gemachter Journalismus allein nicht ausreiche, wie z.B. eine schonungslose Kritik an allem, was den Sieg behindere. Für die Massenwirksamkeit der Publizistik seien auch gewisse formale Kriterien wichtig: „Ihre Sprache muß klar, einfach und direkt sein". Entscheidend für die gesamte Pressearbeit sei jedoch ihre erzieherische Funktion für die mög-
22 23
Velikaja Otecestvennaja Vojna, wie Anm. 14, S. 661. Sovetskaja voennaja pecat' (istoriceskij ocerk), Moskau 1960, S. 245.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
liehst optimale Erfüllung der gestellten Aufgaben an der Front wie im Hinterland. Denn das Kriterium für die Beurteilung der Qualität einer Zeitung, so Schloß das sowjetische Parteiorgan, sei „die Arbeitseffizienz der Menschen in der Region, die sie beschickt".1 Mit ihrer im Prinzip dienenden Aufgabenstellung entsprach die Funktion der Presse derjenigen, die auch für die Politorganisationen auf allen Ebenen und in allen Sektoren der Sowjetgesellschaft galt. Den engen Zusammenhang dieser beiden Bereiche besonders unter den Bedingungen der Front unterstrich ein Beitrag in der ,Krasnaja Zvezda' vom Februar 1945, der von der Presse „als der schärfsten und stärksten Waffe der Partei" sprach und die Frontzeitung eines militärischen Verbandes als „das Sprachrohr und die am meisten massenwirksame Tribüne seiner Politabteilung" bezeichnete. Demzufolge sei ein regelmäßiger wechselseitiger Austausch zwischen der Redaktion und der Politabteilung „eine der ersten und wichtigsten Voraussetzungen für die erfolgreiche Arbeit" einer Truppenzeitung der Roten Armee. 2 Im Laufe des Krieges hatte sich die sowjetische Militärpresse aus dem schon vor 1941 bestehenden beachtlichen militärischen Presseapparat zu einem fast unüberschaubaren System von Militärzeitungen für alle Teilstreitkräfte und auf allen Ebenen und Stufen der Armeehierarchie entwikkelt. An der Spitze des Systems standen fünf zentrale, d.h. landes- und armeeweite Tageszeitungen, von denen die seit 1924 erscheinende ,Krasnaja Zvezda', das Zentralorgan des Volkskommissariats für Verteidigung 3 , die führende Rolle spielte. Danach folgten die Truppenzeitungen der Fronten (im Laufe des Krieges insgesamt 19), der Wehrbezirke - 1944 waren es 13 - der Korps (insgesamt 160) und schließlich die große Masse der Divisions- und Brigadezeitungen, deren Zahl bei Kriegsende über 600 betrug. Einschließlich der ca. 150 Zeitungen für die Flotte und ihre taktischen Untergliederungen sowie der gleichfalls rund 150 Blätter in den Sprachen nichtrussischer Völker, dazu einer Reihe von Journalen, erschienen in den Kriegsjahren über 1400 verschiedene militärische Presseerzeugnisse mit einer Gesamtauflage von 8,5 Mill. Exemplaren. Die Zeitungen bis zur Korpsebene erschienen täglich, d.h. 26 mal im Monat, die Divisionszeitungen in der Regel zweitägig (13-15 mal monatlich). Ihr Umfang war entweder vier- oder zweiseitig, so daß vor allem die Korps- und Divisionszeitungen eher Flugblattcharakter besaßen. Allein die Politische 1 2
'
Zitiert nach: The Function of the Press, in: SWN, 2. 7. 1943, S. 1. M. Syrcov, Redaktor krasnoarmejskoj gazety, in: KZ, 7. 2. 1945, S. 3. Chefredakteur der .Krasnaja Zvezda' war bis zum Sommer 1943 der erfahrene Zeitungsmann David Ortenberg (Vadimov), der anschließend als Politchef der 38. Armee an die Front wechselte. Sein Nachfolger bis kurz vor Kriegsende wurde der Generalstäbler Generalmajor Nikolaj Talenskij.
4.2. Die Rolle der Militärpresse
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Hauptverwaltung der Sowjetstreitkräfte gab drei zumeist vierzehntägig erscheinende Journale heraus: den ,Agitator i propagandist Krasnoj Armii' (Agitator und Propagandist der Roten Armee), den .Bloknot agitatora Krasnoj Armii' (Notizbuch des Agitators der Roten Armee) und das literarisch-künstlerische Journal .Krasnoarmeec' (Der Rotarmist)4. Schon die z.T. recht martialischen Namen vieler Truppenzeitungen wie .Stalinskij udar' (Stalinscher Schlag, 4. Tankarmee), Unictozim vraga' (Wir vernichten den Feind, 5. Armee) oder ,Vraga na styk' (Den Feind aufs Bajonett, 27. Armee) kennzeichneten die Ausrichtung dieser Blätter nach Inhalt und Diktion. Ein Heer von mehreren Tausend Redakteuren und Kriegskorrespondenten bestritt - wenngleich viele Redaktionen von Divisionszeitungen häufig nur Ein-Mann-Betriebe waren - diese gewaltige Pressearbeit auf allen militärischen Ebenen. Unter ihnen befanden sich auch gut eintausend Schriftsteller, von denen über vierhundert im Laufe des Krieges im Fronteinsatz umkamen. Für die zentralen Tageszeitungen der Staats- und Armeeführung sowie für die Nachrichtenagentur TASS und das .Sowjetische Informationsbüro' (Sovinformbjuro) schrieben berühmte Autoren wie Vsevolod Visnevskij, Boris Gorbatov und Boris Polevoj (alle drei für die .Pravda'). Evgenij Kriger und Iosif Utkin arbeiteten für die ,Izvestija', Vasilij Grossman, Konstantin Simonov und Aleksej Surkov für die .Krasnaja Zvezda'. Im Dienste von Frontzeitungen standen Schriftsteller wie Evgenij Dolmatovskij (1. Weißrussische Front), Aleksandr Tvardovskij (3. Weißrussische Front) und Aleksandr Bezymenskij (1. Ukrainische Front); für Armeezeitungen arbeiteten Autoren wie Margarita Aliger (6. Luftarmee), Michail Bubennov (3. Armee) und Sergej Smirnov (27. Armee). 5 Auch Lyriker wie Semen Kirsanov, Samuil Marsak und der aus der politischen Versenkung hervorgeholte legendäre Agitator der Bürgerkriegsjahre, Demjan Bednyj, fanden mit ihren antideutschen Reimfabeln und Spottversen Raum in den landesweiten Presseorganen. Zur zentralen und vor allem bei der Masse der Frontsoldaten zur mit Abstand populärsten Figur der sowjetischen Kriegspublizistik wurde jedoch ein Schriftsteller, dessen Name der Sowjetöffentlichkeit bis dahin weniger durch sein literarisches Werk als durch seine journalistischen Reportagen vom spanischen Bürgerkriegsschauplatz der dreißiger Jahre bekannt geworden war: Il'ja Erenburg. Erenburg führte nach einem Wort von Staatsoberhaupt Kalinin „den Nahkampf [rukopasnyj boj] mit den Deutschen, rechts wie links schlagend und hitzig attackierend". 6 Die Reso4
5
®
Siehe den Artikel "Voennaja pecat", in: Velikaja Otecestvennaja Vojna 1941-1945. Enciklopedija, S. 141-144. Ebd., S. 411 f. Vospominanija ob Il'e Erenburge. Sbornik, Moskau 1975, S. 113 f., 84 f. u. 115; A. Rubaskin, Publicistika Il'i Erenburga protiv vojny i fasizma, Moskau 1965, S. 343 f.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
nanz seiner Artikel war außerordentlich. Viele Frontsoldaten nannten ihn in ihren Briefen den „Marschall unserer Literatur" oder den „Marschall der Publizistik"und verglichen seine Feder mit ihren berühmten .Katjusas' (Stalinorgeln). Nie war Erenburgs Popularität größer als in jenen Jahren des Krieges ab dem Herbst 1941, nachdem er anfangs für das .Sovinformbjuro' und den Moskauer Rundfunk meist für das westliche Ausland bestimmte Beiträge geschrieben und über den Sender gesprochen hatte. Seine in ihrem bissig-ironischen Stil so unverwechselbaren Artikel, die aus der .Krasnaja Zvezda', seinem Hauptsprachrohr in Hunderte von Frontzeitungen übernommen wurden, waren häufig das erste, was von den Soldaten in den Schützengräben gelesen wurde. Er war es, der für die Deutschen die im Frontgebrauch so überaus populäre Bezeichnung .Fritzen' (Fricy) geprägt hatte. Auf seine Aufrufe hin verpflichteten sich Rotarmisten zu besonderen Taten, Gardeeinheiten ernannten ihn zum Ehrengardisten in ihren Reihen. Die Staatsführung ehrte ihn mit dem Stalinpreis für 1942 und dem Leninorden im Jahr darauf, die französische Regierung im März 1945 mit der Ernennung zum .Ritter der Ehrenlegion'. 7 Erenburgs publizistische Arbeit während der knapp vier Kriegsjahre war schon allein vom Umfang her bemerkenswert. Er schrieb nahezu täglich, insgesamt weit über eintausend Originalbeiträge, und trat, wie viele seiner Schriftstellerkollegen auch, vor Soldaten und Offizieren auf, wobei er sich bei Frontbesuchen häufig bei der 65. Armee aufhielt, zu deren Befehlshaber, Generaloberst Pavel Batov, er seit den gemeinsamen Tagen im spanischen Bürgerkrieg ein enges freundschaftliches Verhältnis unterhielt. Die Frage, was den besonderen Erfolg gerade der Erenburgschen Publizistik ausgemacht hat, wie ausgerechnet der kosmopolitische Intellektuelle mit dem ganz .unsowjetischen' Lebensweg, der den Großteil seines Erwachsenenlebens in den avantgardistischen Zirkeln der westeuropäischen Boheme verbracht hatte, in so ungewöhnlichem Maße auf den gewöhnlichen russischen Bauern und Arbeiter in Uniform hat wirken können, ist schon von den Zeitgenossen gestellt worden. Erenburg selber hat zu Beginn der sechziger Jahre in seinen vieldiskutierten Memoiren zum Grundtenor seines damaligen Schreibens wie folgt Stellung genommen: „Ich erkannte als meine Pflicht, das wahre Gesicht des faschistischen Soldaten zu zeigen, der mit einem erstklassigen Füllfederhalter in ein Tagebuchheft blutrünstigen, abergläubischen Unsinn über seine rassische Überlegenheit eintrug; Dinge, die so schamlos und barbarisch sind, daß sie selbst einen Kannibalen in Verlegenheit gebracht hätten. Ich mußte unsere Krieger 7
Vospominanija, wie Anm. 6, S. 82, 84 f.; Rubaskin, wie Anm. 6, S. 344; Goldberg, Ilya Ehrenburg, S. 190.
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darauf hinweisen, daß es sinnlos war, auf die Klassensolidarität der deutschen Arbeiter, auf eventuelle Gewissensregungen bei Hitlers Soldaten zu rechnen, daß jetzt nicht die Zeit sei, in der attackierenden feindlichen Armee die .guten Deutschen' herauszufinden und dabei unsere Städte und Dörfer der Vernichtung preiszugeben. Ich schrieb: ,Töte den Deutschen!'" 8 Mit anderen Worten: Erenburg fand den wirksamen und direkten Zugang zu Herz und Gemüt der Menschen an der Front, indem er genau das vermied, was die parteiamtliche Propaganda und in ihrem Schlepptau auch viele seiner Schriftstellerkollegen bis zum Kriegsende prägte: die ideologisch bedingte Unterscheidung zwischen der Naziführung und dem deutschen Volk. Dieser offenkundige Gegensatz zu den Prämissen der offiziellen Moskauer Politik und ihren Erklärungen sowohl gegenüber der Moskauer Exilführung der KPD wie ab 1943 gegenüber dem .Nationalkomitee Freies Deutschland' und dem .Bund Deutscher Offiziere', tat jedoch Erenburgs Aktionsmöglichkeiten bis kurz vor Kriegsende keinerlei Abbruch. Im Gegenteil, man erkannte von seiten der Führung sehr wohl, daß sein Bild vom Kriegsgegner der in den Schützengräben der Front empfundenen Realität weit mehr entsprach als ideologische Konstrukte der Klassenbrüderlichkeit, so daß sein publizistischer Beitrag für die tägliche Stimulierung des Rotarmisten zu höchstem Einsatz als schlechthin unverzichtbar galt. Was Erenburg 1941 zum Mann der Stunde werden ließ, waren seine von früher Jugend an existenten antideutschen Ressentiments, verbunden mit einer tiefen Sympathie für die Länder des westlichen Europa, allen voran Frankreich. Sein Zivilisationsverständnis war kulturell und nicht technisch geprägt. Die Kultur Frankreichs und seine Zivilisationsidee erschienen ihm schon früh als ein fundamentaler Gegensatz zu der als .barbarisch' empfundenen, weil angeblich technisch-organisatorisch orientierten zivilisatorischen Richtung Preußen-Deutschlands. Viele seiner publizistischen Beiträge, besonders wenn sie an englisch- oder französischsprachige Leser oder Hörer gerichtet waren, beschworen immer wieder das eine große Ziel: die Anerkennung Rußlands in seiner sowjetischen Form als eines gleichrangigen Bündnispartners der westlichen Welt im Rahmen einer der Freiheits- und Gleichheitsidee verpflichteten und gegen die Mächte von „Rassismus und Barbarei" gerichteten, staatenübergreifenden Kulturgemeinschaft. Dies war eine Grundorientierung, die 1941 unter den Sowjetintellektuellen noch recht isoliert dastand, aber die künftige
Zitiert nach Novyj Mir, Jg. 39 (1963) H. 1, S. 78; deutsch wiedergegeben bei Karl Grüner, Ilja Ehrenburg in und über seiner Zeit, in: OE, 13. Jg. (1963), H. 5, S. 299 f.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
Richtung wies, da sie gewissermaßen das kulturell-geistige Fundament für die politisch-militärische ,Anti-Hitler-Koalition' lieferte. 9 Der Großteil von Erenburgs gesammelten kriegspublizistischen Arbeiten erschien bis zum Herbst 1944 in einer dreibändigen Buchausgabe des Moskauer Staatsverlags für schöngeistige Literatur (Goslitizdat) unter dem Titel ,Vojna' (Der Krieg). Eine Besprechung in der .Krasnaja Zvezda' vom 27. Oktober 1944 durch den Literaturwissenschaftler Boris Jakovlev stellte die drei Bände, nach ihren Erscheinungsjahren gegliedert, unter drei verschiedene Motive. Der erste Band aus dem Jahre 1942 gelte dem Grundthema ,Mut' (muzestvo), der zweite von 1943 stehe unter dem Oberbegriff .Standhaftigkeit' (stojkost'), während der dritte, aus dem Jahre 1944, unter das Motto .Vergeltung' (vozmezdie) zu stellen sei. 10 Der Sühne- und Vergeltungsgedanke war im Laufe des Jahres 1943 im Zuge der Befreiung der Kaukasusregion wie der Ostukraine und der dort sichtbar gewordenen Praxis des deutschen Besatzungsregimes in der Sowjetpresse zunehmend in den Vordergrund getreten. Neben den systematischen Vernichtungsaktionen gegenüber den Juden und den schweren Repressalien gegenüber der Zivilbevölkerung im Rahmen der Partisanenbekämpfung war es vor allem die in der Ostukraine praktizierte Rückzugsstrategie der .verbrannten Erde' auf der Basis der Göring- und Himmlerbefehle von Anfang September 1943, die auf sowjetischer Seite die Emotionen schürte. Bereits Anfang April d.J. war die im Herbst des Vorjahres gegründete .Außerordentliche Staatskommission für die Feststellung und Untersuchung der Verbrechen der deutschen faschistischen Eindringlinge' unter dem Vorsitz Nikolaj Sverniks und des orthodoxen Metropoliten von Kiev und Galic mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit getreten. Danach sei niemals zuvor die Geschichte zum Zeugen einer solchen Massenvernichtung von Menschen geworden, wie dies die „deutschen faschistischen Invasoren" auf dem Sowjetterritorium praktiziert hätten. Zeitgleich dazu, am 19. April, erging durch das Präsidium des Obersten Sowjet der berühmte ,Ukaz 43' betreffend „Maßnahmen zur Bestrafung deutschfaschistischer Verbrecher, schuldig des Mordes an der sowjetischen Zivilbevölkerung und kriegsgefangenen Rotarmisten". 11
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Vgl. dazu Goldberg, Ilya Ehrenburg, S. 192 f. B. Jakovlev, Tri Knigi Il'i Erenburga, in: KZ, 27. 10. 1944, S. 3. Vgl. auch Velikaja Otecestvennaja Vojna, wie Anm. 4, S. 818. German Crimes in Vyazma, Gzhatsk, Sychevka and Rzhev, in: SWN, 7. 4. 1943, S. 1. Der ,Ukaz 43', auf dessen Grundlage vor allem in den Nachkriegsjahren viele Militärgerichtsurteile gegen kriegsgefangene Wehrmachtsangehörige ergingen, befindet sich im russischen Originaltext in den Aktenbeständen der früheren .Zentralen Rechtsschutzstelle des Auswärtigen Amts' im Bundesarchiv Koblenz, BA, Β 305/515, Bl. 118-120.
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Die Kriegsverbrecherprozesse von Krasnodar und Charkov vom Juli und Dezember 1943, dazu die mit der Befreiung Kievs im November bekanntgewordene große Vernichtungsaktion von Babij Jar heizten die Stimmung weiter an. Aleksej Tolstoj beschwor Anfang Oktober in einem englischsprachigen Presseartikel den Rachegedanken mit den Worten: „I accuse the German nation, the German civilisation of unparalleled crimes, committed by the Germans in cold blood, in full possession of their faculties. I demand vengeance." Wenige Wochen darauf folgte die Erklärung der Moskauer Außenministerkonferenz über die deutschen Verbrechen und deren Aburteilung durch diejenigen Länder, auf deren Territorium sie verübt wurden. Ende Dezember schrieb die englischsprachige .Soviet War News', die .Pravda' zitierend, zum Abschluß des Charkover Prozesses: „Not a single murderer of peaceful Soviet people, of women, children and the aged will escape. Not a single bestial German who has tortured Red Army war prisoners and starved them in death camps [..] The hour of victory is approaching, and with it is approaching the hour of complete vengeance!" 12 Zusammen mit seinem Schriftstellerkollegen Vasilij Grossman hatte Il'ja Erenburg Ende 1943 die Arbeit an einer umfangreichen Dokumentation unter dem Titel ,Schwarzbuch' (cernaja kniga) über die an der jüdischen Bevölkerung begangenen Verbrechen des deutschen Besatzungsregimes begonnen, die erst Anfang 1946 ihren Abschluß fand. Wie sehr er die letzte Kriegsphase hindurch unter dem Eindruck der Sammlungs- und Sichtungsarbeit von vielen hundert Briefen, Tagebüchern und persönlichen Aufzeichnungen von Opfern für die Zwecke dieser Dokumentation stand, deren Druckexemplare bereits kurz nach dem Erscheinen mit Beginn der .antizionistischen' Kampagne des Jahres 1948 eingestampft wurden, hat Erenburg in seinen Erinnerungen geschildert. Besonders unter dem Einfluß dieser Arbeit wandelte sich der Grundton seines Schreibens von der verzweifelten Kampfparole des Jahres 1942 „Töte den Deutschen!" hin zu der Losung: „Nach Berlin, im Namen der Opfer!" 1 3 Unter dem Eindruck 12
Zitiert nach: Alexei Tolstoy, I demand Vengeance, in: SWN, 4. 10. 1943, S. 3; das Pravda-Zitat nach: Not one of them will escape, in: SWN, 21. 12. 1943, S. 2. Zur Moskauer Außenministerkonferenz siehe: Die Moskauer Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens (19.-30. Oktober 1943). Dokumentensammlung, Moskau-(Ost)Berlin 1988 (= Die Sowjetunion auf internationalen Konferenzen während des Großen Vaterländischen Krieges 1941 bis 1945, Bd. 1), Anlage 10 (S. 316 f.).
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Eine russische Ausgabe des Schwarzbuchs ist erst 1991 wieder erschienen: Vasilij Grossman, Il'ja Erenburg, Cernaja kniga, Zaporoz'e (Interbuk) 1991; deutsche Ausgabe: Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, hrsg. von Arno Lustiger, Reinbek 1994. Vgl. dazu: Die berühmten Ehrenburg-Memoiren. Menschen, Jahre, Leben, Teil III (1942-1965), München 1965, S. 172 f.; Goldberg, Ilya Ehrenburg, S. 203. Siehe auch den Artikel: Woe to Germany!, in: SWN, 22. 8. 1944, S. 1 f.
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der Befreiung Kievs und der ersten größeren westukrainischen Territorien schrieb der Schriftsteller Ende November 1943 in einem Artikel für die .Soviet War News': „I cannot write of the execution of babies at the breast: I cannot find words for it [...] I want You, soldier of our country, to know this. When You see a German, remember the graves of Piryatin, and remember the child. You too, have a young son or young brother. Conscience will give You no rest as long as the butchers walk the earth. The time for talk is past. The time for indignation is past. This is the time for one thing only - to slay the vile unscrupulous assassins." 14 Die Bestrafung der Deutschen für ihre Untaten sollte in ihren Auswirkungen nicht auf die gegenwärtige Generation beschränkt bleiben. Am Beispiel eines wirklichen oder erfundenen deutschen Soldaten mit Namen Karl Peters schrieb Erenburg etwa zur gleichen Zeit, d.h. Ende 1943: „Kill the German before he sets fire to a hundred more villages [...] Kill him for all the things he has done and for all the things he is planning to do. Kill him if Your son has been killed, or even if Your son is still alive - the German wants his life. If Karl Peters has failed to kill Your son, remember this: he will have a son himself, and that son will be an assassin. No son must be born to Karl Peters." 1 5 Deutschlands Fähigkeit, durch kommende Generationen erneut seine Nachbarn mit Krieg zu überziehen, sollte für alle Zukunft ausgeschaltet werden. Dazu sei der Marsch auf Berlin, dem Ausgangspunkt allen Übels, das einzig wirksame Mittel: „We do not want our children to have to fight again. Finish it properly! Finish it in such a way that they will not start again! Make them forget how to fight. Pull out the sting, break off their claws [...] It is time to finish off the Germans." 1 6 Das in Bezug auf Deutschland ständig wiederkehrende „finish it off" (russ. prikonöi!) erschien Erenburg als das unverzichtbare Kriegsziel der ,Anti-Hitler-Koalition', das weder Abstriche noch Kompromisse duldete. Deutschland durfte unter keinen Umständen seiner gerechten Strafe entgehen. Ende Juli 1944 bekannte er seine Erleichterung darüber, daß „die Bombe der Generale" den .Führer' nicht ausgeschaltet hatte, so daß unverändert gelte: „The job has to be finished. And we have to finish them once and for all without masquerade, without belated remorse and crocodile tears". 1 7 „Wir bringen nicht die Rache, wir bringen das Gericht", war ein anderer, in Erenburgs Beiträgen häufig zu lesender Satz; ebenso wie die Überzeugung, daß die eigene Befreierrolle an den Grenzen Deutsch-
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The Graves of Piryatin, in: SWN, 30. 11. 1943, S. 1. Goldberg, Ilya Ehrenburg, S. 198. Finish it properly!, in: SWN, 25. 2. 1944, S. 1. Not a bomb - a rope is the thing for Hitler, in: SWN, 28. 7. 1944, S. 4.
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lands ihr Ende finde und in die des Richters übergehe. In einem PravdaArtikel von Anfang August 1944 schrieb er: „Wir wollen mit dem Schwert in der Hand durch Deutschland ziehen, um den Deutschen für ewig die Liebe zum Schwert auszutreiben. Wir wollen zu ihnen kommen, damit sie nie mehr zu uns kommen." Die nachfolgende Passage beschwor den Vergeltungsgedanken mit besonderer Eindringlichkeit: „Mit uns sind die Schatten der zu Tode gequälten. Sie erheben sich aus den Gräbern, aus Brunnen, aus Gruben. Es sind Greise und Säuglinge, Russen und Ukrainer, Weißrussen und Juden, Polen und Litauer. Sie alle wollten leben, sie alle liebten die Sonne und die Blumen und schon in Fetzen gerissen riefen sie uns zu: .denkt daran!' Und ich weiß es, bald werden wir an der Spree sein, denn ich sah vor mir unser Heer, voll des großen Zornes." 1 8 Das mit biblischer Sprachgewalt beschworene Bild eines imaginären, sich in unendlicher Länge dahinwälzenden Zuges der nach Sühne und Vergeltung schreienden Opfer wurde besonders in den Monaten nach der Befreiung des Vernichtungslagers von Majdanek Ende Juli 1944, das die Armeezeitung Mitte September unter der Schlagzeile „Denke an Maidanek, Kämpfer der Roten Armee!" (Pomni Majdanek, voin Krasnoj Armii!) zum Thema eines aufrüttelnden Artikels gemacht hatte, geradezu ein Standardmotiv der Erenburgschen Publizistik. Im Januar 1945, als sich die Sowjetsoldaten bereits anschickten, auf breiter Front deutsches Territorium zu betreten, hieß es in einem Presseartikel: „Nicht nur Divisionen und Armeen marschieren auf Berlin. Die Leiden all der Unschuldigen aus den Massengräbern, Gräben und Schluchten marschieren auf Berlin. Die Kohlfelder von Maidanek und die Bäume von Vitebsk, an denen die Deutschen ihre unglücklichen Opfer aufhängten, die Stiefel und Schuhe der in Maidanek erschossenen und vergasten Männer, Frauen und Kinder: sie alle marschieren nach Berlin." 19 Zwei Prämissen waren kennzeichnend für Erenburgs Artikel und Aufrufe besonders aus der letzten Kriegsphase. Zum einen die nahezu uneingeschränkte Identifizierung des deutschen Volkes mit der Herrschaft Adolf Hitlers, wodurch für ihn fast ausnahmslos alle Deutschen in gleicher Weise durch den .Nazismus' korrumpiert und für die Verbrechen an fremden Völkern verantwortlich zu machen waren. Im „Land der Mörder" (22. August 1944) gäbe es keine Unterschiede, weder nach Region, Konfession, 18
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Nakanune, in: Pravda, 7. 8. 1944; deutsche Übersetzung in: BA-MA, RH 2/2499, 292295, hier Bl. 295. Siehe auch den Artikel: They are still the same, in: SWN, 8. 8. 1944, S. 4. Zitiert nach Alexander Werth, Rußland im Krieg. 1941-1945, Gütersloh 1965, S. 644. Vgl. dazu auch die Erenburg-Artikel On the same subject, in: SWN, 15. 1. 1945, S. 3 f.; Kurantyveka, in: KZ, 1. 1. 1945, S. 3; We believe in brotherhood, in: SWN, 4. 1. 1945, S. 1 u. 4. sowie: Ploughmen, Builders, Singers, Warriors, in: SWN, 27. 5. 1944, S. 5 f.
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politischem Rang oder sozialem Status. Selbst Arbeiterfamilien besäßen ihre russischen oder polnischen Arbeitssklaven, und, gleichgültig ob am Rhein oder an der Oder: „Deutsche sind überall Deutsche" (30. Januar 1945). 2 0 Ganz in diesem Sinne hieß es in einem Beitrag für die Armeezeitung vom 20. Januar 1945: „Wir werden niemanden fragen, ob er Preuße oder Sachse, SS oder SA ist, ob er Sturmführer ist oder Sonderführer. Wir werden keine Fragen stellen [...] Weil das Herz eines jeden von uns voll ist von Schmerz, sind wir fest entschlossen, mit den Deutschen ein für allemal abzurechnen, und niemand soll sich wundern, wenn wir damit bereits begonnen haben." 2 1 Zum anderen hätten die Deutschen im Laufe des Krieges selbst als Gefangene und Geschlagene keinerlei Wandlungsprozeß erkennen lassen. Sie blieben, selbst noch angesichts der bevorstehenden sicheren Niederlage, dieselben zu keiner Reue fähigen, arroganten und ihrer Rassenideologie verhafteten Herrenmenschen, als die sie 1941 siegestrunken Rußland betreten hätten. „Wolves they were, wolves they remain", lautete dazu die Schlagzeile eines Aufsatzes der .Soviet War News' vom 5. März 1945 über „die Deutschen von heute", in dem Erenburg wie zuvor schon in einer Artikelserie der .Krasnaja Zvezda' die Eindrücke seines zweiwöchigen ostpreußischen Frontbesuchs vom Februar verarbeitete und bereits die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden nannte. Alle jetzt zu beobachtenden Versuche der Deutschen, sich von Hitler und seinem dem Untergang geweihten Regime abzusetzen, seien nur Regungen der Angst, nicht des Gewissens; kurzum: eine von kriecherischer Furcht diktierte .Speichelleckerei' gegenüber den Siegern, anstatt ein Ausdruck wirklicher Umkehr („Moskau glaubt an keine Tränen"). 2 2 Durch ihre Untaten hätten sich die Deutschen selbst aus der zivilisierten Weltgemeinschaft ausgeschlossen. Verachtung allein gebühre „diesen Anthropoiden", die es nach dem Kriegsende durch eine entsprechende Erziehung wenigstens auf das Niveau zurückgebliebener menschlicher Wesen zu heben gelte, wie es noch in einem Aufsatz aus den ersten Apriltagen 1945 hieß („Why we despise them"). 2 3
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® Wolves they were, wolves they remain, in: SWN, 5. 3. 1945, S. 2 f.; Nastala raspiate, in: KZ, 30. 1. 1945, S. 3. 21 Etogo nikogda ne bylo, in: KZ, 20. 1. 1945, zitiert nach der deutschen Übersetzung in: BA-MA, RH 2/2499, Bl. 135 f. Siehe auch den Artikel: A shroud for the witch, in: SWN, 24. 1. 1945, S. 4. 22 Wolves they were [...], wie Anm. 20. Siehe auch die Aufsatzreihe: V Germanii, in: KZ, 22., 23. u. 25. 2. 1945 sowie den Artikel Petr Pavlenkos, Yes! The German is still the same, in: SWN, 8. 9. 1944, S. 3. Ebenso Erenburgs Artikel: - But they haven't changed much, in: SWN, 17. 4. 1944, S. 4. 23 SWN, 5. 4. 1945, S. 3 f; ebenso: We believe in brotherhood, in: SWN, 4. 1. 1945, S. 4.
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Auf den im Herbst 1944 von deutschen Heeresstellen erhobenen Vorwurf, wonach er in Flugblättern die Rotarmisten zur massenhaften Vergewaltigung deutscher Frauen aufgerufen habe („Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute!"), hatte Erenburg bereits in einem Krasnaja- Zvezda-Beitrag unter dem bissigen Titel „Spaziergänge durch Fritzlandien" (Progulki po Friclandii) vom 25. November 1944 geantwortet. Flugblätter solcher Art seien perfide Fälschungen, nicht durch „Gretchen" werde der Sowjetsoldat angelockt, sondern durch jene „Fritzen", die sich an russischen Frauen vergriffen hätten (oskorbljali nasich zenscin) und mit denen es kein Erbarmen geben werde. Im übrigen seien die Deutschen selber „berufsmäßige Vergewaltiger, Wollüstlinge mit langer Übung, Abkömmlinge von Pavianaffen". Deutsche Frauen, so Erenburg weiter, lösten „in uns" nur ein einziges Gefühl aus, das des Ekels: „Wir verachten sie, weil sie die Mütter, Frauen und Schwestern von Henkern sind [...] und brauchen keine blonden Hyänen. Wir gehen nach Deutschland wegen etwas anderem: wegen Deutschland selber, und mit dieser blonden Hexe wird es kein gutes Ende nehmen." 2 4 Bereits zuvor hatte sich der Schriftsteller mit Vorwürfen katholischer Kreise aus England und den USA auseinanderzusetzen, die ihm vorwarfen, im russischen Volk ein blindes Rachegefühl zu züchten, das mit seinen unseligen Folgen dem Sieger bislang noch nie in der Geschichte Glück gebracht habe. In seiner in der Armeezeitung am 15. Oktober 1944 in der Form eines offenen Briefes unter dem Titel „Antwort an Lady Gibb" (Otvet na Ledi Gibb) abgedruckten Entgegnung polemisierte er mit Entrüstung gegen jene „Stimmen der Advokaten des Teufels, die versuchen, die faschistischen Verbrecher vor dem gerechten Zorn der Völker zu schützen". Haltungen solcher Art erschienen Erenburg als nichts anderes als die unverhüllte Fortsetzung der alten .Münchenerischen' Politik des Appeasement im Gewand einer falsch verstandenen christlich-pietistischen Humanität. Mit Entschiedenheit bekräftigte er seine Überzeugung, daß die an den Grenzen Deutschlands stehenden Sowjetsoldaten die Kindermörder und nicht die Kinder der Mörder töten wollten, und fuhr fort: „Wir bringen keine Rache, wir bringen das Gericht. Wir werden nie bis zu den Deutschen herabsinken, doch haben wir keineswegs die Absicht, sie zu uns hinaufzuziehen. Wir wissen, daß wir Millionen von Wesen vor uns haben, 24
Progulki po Friclandii, in: KZ, 25. 11. 1944, S. 4. Vgl. dazu den Artikel: A pretty bad .Katzenjammer' in: SWN, 30. 11. 1944, S. 3. Zur Frage der möglichen Existenz eines Flugblatts des behaupteten Inhalts siehe Goldberg, Ilya Ehrenburg, S. 208 und Grüner, wie Anm. 8, S. 300 f. Ein solcher Aufruf mit der Aufforderung zur Vergewaltigung von Frauen findet sich zitiert bei Nawratil, Vertreibungsverbrechen an Deutschen, S. 100 u. 255.
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die durch Raub, Laster, Grausamkeit und Hochmut verdorben sind." Erenburg Schloß seine Polemik mit den Worten: „Wir blieben standhaft, als die besten Panzerkräfte Deutschlands gegen uns anstürmten. Wir werden auch standhaft bleiben, wenn die Heuchler der ganzen Welt gegen uns anstürmen. Den Angriff der Taschentücher, hinter denen die verwundete Bestie Schutz suchen wird, werden wir zurückschlagen. Wir werden auch am Tage des Gerichts standhaft bleiben und dafür werden uns die Kinder und Enkel der Lady Gibb segnen." 2 5 Tatsächlich blieb Erenburg seiner kompromißlosen Linie des Hasses und der Vergeltung bis zum Ende treu. Den breiten Vorstoß der eigenen Truppen nach Deutschland hinein kommentierte er am 30. Januar 1945 in der .Krasnaja Zvezda' mit der Schlagzeile „Die Abrechnung hat begonnen" (Nastala rasplata) und schrieb: „Die Soldaten, die jetzt deutsche Städte erstürmen, werden nicht vergessen, wie die Mütter Leningrads auf Schlitten ihre toten Kinder zogen [...] Für die Qualen Leningrads hat Berlin noch nicht bezahlt." 2 6 Auch als Deutschland bereits bis zur Oder-Neiße-Linie von der Roten Armee besetzt war und der endgültige Triumph über den längst geschlagenen Gegner nur noch eine Frage weniger Wochen schien, sah er keinen Anlaß, seine Diktion zu mäßigen. Solange er gebraucht wurde und ihm die millionenfache publizistische Bühne der Frontpresse zur Verfügung stand, erfüllte er die Mission, die ihm 1941 in der Stunde der Not zugefallen war, mit der Unerbittlichkeit eines Racheengels, ohne Gespür für neue Entwicklungen und veränderte politische Lagen, wie sie sich nach dem Ende der Krim-Konferenz vom Februar 1945 ankündigten. Wenn für ihn, dem schon aufgrund seiner für sowjetische Verhältnisse .schwierigen' Biographie ideologische Weltanschauungen wohl stets fremd geblieben sind, je eine tiefere Überzeugung gegolten hat, dann in jenen Kriegsjahren, in denen er mit der Feder an vorderster Front den Kampf gegen die Deutschen anführte. Hier war er unverfälscht Bekenner und Missionar von einer Authentizität, die vor allem die Masse der einfachen Menschen als Ausdruck ihrer eigenen Gefühle empfand und die ihn in der Ausnahmesituation des Krieges zur Stimme von Millionen werden ließ.
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Otvet ledi Gibb, in: KZ, 15. 10. 1944, S. 4; deutsche Übersetzung in: BA-MA, RH 2/2499, Bl. 178-180. Vgl. dazu auch den Artikel David Zaslavskys, The Beast and the Ladies, in: SWN, 16. 5. 1944, S. 1. Nastala rasplata, in: KZ, 30. 1. 1945, S. 3.
4.3. Die Aufrufe der Frontkriegsräte
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4.3. Die Aufrufe der Frontkriegsräte zur Januaroffensive 1945 und die Formen der Politarbeit an der Front Vieles von dem, was die Kriegspublizistik, die offiziellen Erklärungen Stalins und der verschiedenen Regierungsorgane sowie die politische Agitationsarbeit in den Streitkräften den Rotarmisten an Stimmungen, Denkmustern und Zielvorstellungen vermittelten, fand sich in konzentrierter Form in den Aufrufen der Frontkriegsräte an ihre Truppen zum Auftakt der Januaroffensive 1945 wieder. Das Grundmuster in Aufbau und Wortwahl hatte der stark an der Sprache Erenburgs orientierte Aufruf des Kriegsrats der 3. Weißrussischen Front anläßlich der Oktoberoffensive gegen Ostpreußen vom Vorjahr geliefert. Cenjachovskijs Apell an seine Truppen am Vorabend der Januaroffensive von 1945 auf dem ostpreußischen Kriegsschauplatz Schloß nahtlos an die Diktion vom vergangenen Herbst an: „Gnade gibt es nicht - für niemanden, wie es auch keine Gnade für uns gegeben hat. Es ist unnötig, von den Soldaten der Roten Armee zu fordern, daß Gnade geübt wird. Sie lodern vor Haß und vor Rachsucht. Das Land der Faschisten muß zur Wüste werden, wie auch unser Land, das sie verwüstet haben. Die Faschisten müssen sterben, wie auch unsere Soldaten gestorben sind." 1 Der Aufruf Schloß mit den Worten: „Zerschlagt allen Widerstand der deutschfaschistischen Eroberer. Gebt ihnen nicht eine Minute Erholung! Verfolgt, schließt ein und vernichtet den faschistischen Unrat ohne jede Schonung!" 2 In ähnlichem Sinne forderte der Tagesbefehl Marschall Rokossovskijs vom 13. Januar die Soldaten der 2. Weißrussischen Front auf, mit „den faschistischen Eroberern, für all ihre Grausamkeiten und Untaten, für die Leiden und Qualen unseres Volkes, für das Blut und die Tränen unserer Väter und Mütter, Frauen und Kinder, für die vom Feind vernichteten und ausgeplünderten sowjetischen Städte und Dörfer restlos abzurechnen".
Zitiert nach: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hg. und bearb. von Herbert Michaelis und Ernst Schraepler, Bd. XXII, Berlin o j . , Nr. 3584a. Galickij, V bojach za Vostocnuju Prussiju, S. 215. Zum Aufruf des Kriegsrates der 2. Weißrussischen Front vom 13. Januar 1945 siehe: Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion in 6 Bänden, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Bd. 5, (Ost)Berlin 1967, S. 124.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
Die soldatische Pflicht fordere von jedem Rotarmisten, „die ganze Kraft Eures Hasses auf den Feind in dem einen Wunsch zu verkörpern: die deutschen Eroberer zu zerschlagen". 3 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Übertragung der Sprache Erenburgs in die militärische Befehlsgebung bot der Aufruf Zukovs und seines Kriegsrates an die Truppen der 1. Weißrussischen Front, der die von Stalin gestellte „historische Aufgabe" an die Spitze setzte, „dem faschistischen Tier in seiner eigenen Höhle den Garaus zu machen und über Berlin die Siegesfahne zu hissen". 4 Sein erster Abschnitt war ganz dem Rache- und Vergeltungsgedanken gewidmet: „Die Zeit ist gekommen, mit den deutsch-faschistischen Halunken abzurechnen. Groß und brennend ist unser Haß! Wir haben die Qualen und das Leid nicht vergessen, welche von den Hitlerschen Menschenfressern unserem Volk zugefügt wurden. Wir haben unsere niedergebrannten Städte und Dörfer nicht vergessen. Wir gedenken unserer Frauen und Kinder, die von den Deutschen zu Tode gequält wurden. Wir werden uns rächen für die in den Teufelsöfen Verbrannten, für die in den Gaskammern Erstickten, für die Erschossenen und Gemarterten. Wir werden uns grausam rächen für alles." Unverkennbar an die Sprache Erenburgs anklingend, hieß es weiter: „Wir gehen nach Deutschland und hinter uns liegen Stalingrad, die Ukraine und Weißrußland. Wir gehen durch die Asche unserer Städte und Dörfer, auf den Blutspuren unserer Sowjetmenschen, die zu Tode gequält und zerfetzt wurden vom faschistischen Getier. Wehe dem Land der Mörder! Nichts wird uns jetzt aufhalten! Wir haben unseren zugrundegegangenen Freunden, wir haben unseren Kindern gelobt, die Waffen nicht niederzulegen, bevor die Missetäter erledigt sind. Für den Tod, für das Blut unseres Sowjetvolkes sollen die faschistischen Räuber mit der vielfachen Menge ihres gemeinen schwarzen Blutes bezahlen." Der anschließende Abschnitt des Aufrufs appellierte an den Befreiungsauftrag der Armee und begann mit dem Hinweis auf das Schicksal der zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppten Landsleute, die „aus der deutschen Sklaverei zu befreien" seien. Da ihnen Lebensgefahr drohe, gelte das Motto: „Je eher wir in Deutschland sind, um so mehr von ihnen können wir noch retten." Die internationale Komponente dieser Befreiungsmission sprachen die nachfolgenden Sätze an, indem sie die Gewißheit zum Ausdruck brachten, daß „wir unseren Brüdern, den Polen, Tschechen und anderen unterdrückten Völkern Europas helfen, die Ketten der deutschen Sklaverei abzuwerfen. Indem wir das faschistische Getier vernichten", so schloß diese Passa3 4
Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion, Bd. 5, S. 124. Im Folgenden zitiert nach: BA-MA, RH 2/2687, Bl. 150-154.
4.3. Die Aufrufe der Frontkriegsräte
127
ge des Aufrufs, „erfüllen wir bis zu Ende auch unsere Rolle als Befreiungsarmee". Die vollständige Erfüllung dieser Mission und die endgültige Ausschaltung der deutschen Gefahr waren das erklärte Kriegsziel. Jeder Soldat mußte wissen: „Der Krieg kann nicht beendet werden, solange in der deutschen Sklaverei noch Sowjetmenschen schmachten, solange das faschistische Räubernest nicht endgültig zerschlagen ist." Am Schluß appellierte der Aufruf an das Bewußtsein der eigenen Stärke, die Gerechtigkeit der eigenen Sache und das Kriegsbündnis mit den Westalliierten. Gleichzeitig stimmte er die Rotarmisten auf einen letzten, trotz der verzweifelten Lage des deutschen Gegners schweren und blutigen Waffengang ein: „Uns steht die Überwindung erbitterten feindlichen Widerstandes bevor. Eingeklemmt in die Schraubzwinge zweier Fronten zwischen uns und unseren Verbündeten, wird der Feind mit der Verzweiflung des zum Tode Verurteilten Widerstand leisten [...] Der Deutsche ist jetzt allein, wie ein gehetztes Tier. Wir haben den Deutschen schon damals geschlagen, als wir noch allein kämpften, jetzt aber schlagen ihn mit uns zusammen auch die Amerikaner und Engländer, die Franzosen und Belgier." Ein durchgängiges Element in den Aufrufen an die Truppe bildete der Appell an den nationalen Patriotismus und die militärischen Traditionen Rußlands seit der Zeit Peters des Großen. Vor allem auf dem Boden Ostpreußens erinnerte die Führung der 3. Weißrussischen Front immer wieder an jene historischen Vorbilder des Siebenjährigen Krieges, wo russische Heere über preußische Aufgebote siegreich geblieben waren, wobei häufig das auf die Zeit Suvorovs zurückgehende Wort von Ostpreußen als dem Schlüssel zu Berlin benutzt wurde. 5 Die Kontinuität zwischen Preußens militärischen Traditionen und der Naziherrschaft galt als selbstverständlich, wie einem Aufruf des Frontkriegsrats und seiner Politabteilung zum Sturm auf Königsberg vom April 1945 zu entnehmen war: „Aus Furcht vor der unvermeidlichen Vergeltung für ihre Verbrechen wehren sich die Hitlerbanditen, Todgeweihten gleich, mit grimmigem Widerstand. Sie haben vergessen, wie ihre Vorfahren von russischen Truppen geschlagen wurden und wie diese am 24. Januar, am Tage ihres deutschen Nationalfeiertages - dem Geburtstag Friedrichs des Großen - auf den Plätzen Königsbergs den siegreichen russischen Truppen huldigten. Indem wir den Auftrag der Heimat erfüllen, vermehren wir den Ruhm und das Heldentum unserer Vorfahren." 6 Unterhalb der Frontebene richteten üblicherweise auch die Kriegsräte der Armeen Aufrufe an ihre Truppenverbände. Dies geschah vorwiegend 5 6
Saripov, Cernjachovskij, S. 291. Abgedruckt in: Sturm Kenigsberga, Kaliningrad 1973, S. 156.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
zu besonderen Anlässen wie der Eroberung von wichtigen Städten oder dem Uberschreiten von Grenzlinien. So gratulierte z.B. der Kriegsrat der im Verband der 3. Weißrussischen Front operierenden 31. Armee den Einheiten seines Befehlsbereichs, die Ende Oktober 1944 an der Eroberung Goldaps beteiligt waren, in einem Aufruf, der mit dem Appell schloß: „Übt unbarmherzig Rache an den faschistischen Kindermördern und Henkern, zahlt ihnen für das Blut und die Tränen sowjetischer Mütter und Kinder heim, vernichtet sie unermüdlich im Kampfe." 7 Ein anderes Beispiel aus dem Kommandobereich der 2. Weißrussischen Front lieferte der Kriegsrat der 3. Armee unter Generaloberst Gorbatov, der seinen Truppenverbänden beim Überschreiten der ostpreußischen Grenze am 20. Januar 1945 mit den Worten gratulierte: „Unser langgehegter Hauptwunsch hat sich erfüllt. Jetzt müssen wir zum Herzen Deutschlands vordringen und in dasselbe unser Rotarmistenbajonett hineinstoßen." 8 So vergleichsweise komplex die den Rotarmisten in den Aufrufen der höheren Kommandostellen vermittelten Gründe für die Fortsetzung des Krieges bis zur völligen Kapitulation Deutschlands waren, so sehr vereinfachten sich diejenigen propagandistischen Überzeugungsmuster, die im allgemeinen die Politarbeit auf den unteren taktischen Ebenen, von der Division abwärts, bestimmten. Abstrakte ideologisch-weltanschauliche Begründungen traten dabei ebenso in den Hintergrund wie das internationale Kriegsbündnis der ,Anti-Hitler-Koalition' oder das Argument der Befreiungspflicht gegenüber Hunderttausenden von in Deutschland gefangengehaltenen Sowjetbürgern, die, soweit sie sich in der ersten Kriegsphase in Massen den deutschen Truppen ergeben hatten, der bis dahin herrschenden Auffassung nach als Feiglinge und Verräter an der Heimat gebrandmarkt waren. Was neben dem in seiner Einfachheit und Emotionalität dominierenden Sühne- und Vergeltungsmotiv allenfalls noch Raum hatte, war der im Rückgriff auf eine vielhundertjährige vaterländische Geschichte verklärte militärische Sowjetpatriotismus. Waffenstolz und ein zum Überlegenheitsgefühl gesteigertes Selbstbewußtsein waren seine Begleiterscheinungen. Im Lichte der letzten Siege der Roten Armee, der „stärksten Armee unserer Tage", sei selbst die Napoleonische Sonne von Austerlitz verblaßt, schrieb die ,Krasnaja Zvezda' Ende November 1944 unter der Schlagzeile „Der Stolz der Sieger" (Gordost' pobeditelej). 9 Anknüpfungspunkte an die eigene nationalrussische Militärtradition wurden überall aufgegriffen, wo diese 7 8 9
Zitiert nach BA-MA, RH 2/2499, Bl. 181. Α. V. Gorbatov, Gody i vojny, Moskau 1965, S. 332. KZ, 26. 11. 1944, S. 1.
4.3. Die Aufrufe der Frontkriegsräte
129
sich nur anboten: Im ostpreußischen Tannenberg, im ostbrandenburgischen Kunersdorf oder im niederschlesischen Bunzlau, dem Sterbeort Feldmarschall Kutuzovs im Jahre 1813. 10 Der Kommandeur einer Schützendivision der 2. Weißrussischen Front berichtete über die Arbeit seiner Politorgane im Zusammenhang mit dem Vorstoß seiner Truppen auf das historische Schlachtfeld von Tannenberg: „Die Politoffiziere ließen die Geschichte auferstehen. Sie erzählten, wie im Juli 1410 die polnischen, litauischen und russischen Truppen dem Deutschen Orden eine Niederlage zugefügt hatten. Den Soldaten wurde die historische Bedeutung der deutschen Niederlage im Jahre 1410 erläutert und dabei der Bogen von der heroischen Vergangenheit bis zu den Siegen an den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges gespannt." Natürlich interessierten auch die Ereignisse von 1914: „Soldaten wie Offiziere stellten immer wieder die Frage nach den Ursachen der Niederlage der 2. russischen Armee. Alle hatten nur einen Wunsch, so bald als möglich den Kampf zu eröffnen und ihre Väter und Großväter zu rächen." 11 Auch vor dem Angriff auf Berlin wurde im Politunterricht stets darauf hingewiesen, daß sich bereits zum dritten Mal in der europäischen Geschichte russische Soldaten anschickten, diese Stadt zu erobern. 12 Im Mittelpunkt aller agitatorischen Arbeit in den Truppenverbänden stand jedoch zu Jahresbeginn 1945 noch eindeutig das Sühne- und Vergeltungsmotiv gemäß der Erenburgschen Formel vom Rotarmisten als Richter und Rächer. In ihm sah man seitens der Führung offenkundig das mit Abstand wirksamste und durchschlagendste Mittel, die Soldaten aller Dienstgrade, Altersstufen und nationaler Zugehörigkeiten unter einem zentralen Motto zu höchstem Mut und Einsatz zu bewegen. Die Politarbeit hatte, gemäß den Vorgaben der Führung, in ihren Aussagen stets konkret und zielgerichtet zu sein. Generalmajor Fomicenko schrieb dazu in einem Beitrag für die .Krasnaja Zvezda' vom September 1944: „Die politische Arbeit ist kein Selbstzweck. Ihre Hauptaufgabe ist vielmehr, die Erziehung der Rotarmisten und Offiziere auf die Erfüllung der vor ihnen stehenden Gefechtsaufgaben zu lenken." Ihre prinzipiell dienende Funktion fand nicht zuletzt in der häufig gebrauchten Formel von der „politischen Sicherstellung des militärischen Kampfauftrags" ihren
11 12
Vgl. dazu die Kriegserinnerungen D. A. Dragunskis, Jahre im Panzer, S. 241 f.; I. I. Jakubowski, Erde im Feuer, S. 604 und Z. K. Sljusarenko, Poslednyj vystrel, S. 186. Borstschew: in J. Mai (Hg.), Vom Narew bis an die Weichsel, S. 200. I. A. Samcuk u.a., Ot Volgi do El'by i Pragi (kratkij ocerk o boevom putì 5-j Gvardejskoj Armii), Moskau 1970, S. 282. Siehe auch den Aufruf des Kriegsrats der 1. Weißrussischen Front zur Eröffnung der Berliner Operation im April 1945 in: G. G. Semenov, Nastupaet udarnaja, Moskau 1986, S. 242 f.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
Ausdruck. 13 So gesehen war die Politarbeit ein operatives Steuerungsmittel der Führung, mittels der diese die Kampfbereitschaft der Truppen je nach Situation und Auftrag forcierte und regulierte. Daraus leiteten sich jene vier Grundforderungen ab, an denen sich jede Politarbeit besonders unter den Bedingungen der Front auszurichten hatte: 1. Zielgerichtetheit (celeustremlennost'), 2. Tagesaktualität (zlobodnevnost'), 3. Permanenz (nepreryvnost') und 4. Massencharakter (massovost'). 14 Die politische Agitation, so schrieb ein Parteiorganisator (Partorg) in der Truppenzeitung seiner Armee, müsse „elastisch und zielbewußt" sein. In jeder Etappe der Gefechtstätigkeit der Truppen seien „die zweckmäßigsten Formen und Methoden der Agitation anzuwenden, wobei ihr Inhalt der jeweiligen Lage anzupassen ist". Entschieden versuchte man seitens der Führung, der Einstellung entgegenzuwirken, daß mit dem stürmischen Vormarsch der Armee und der ständigen Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu den eigenen Gunsten die politische Motivation der Truppe allmählich eine sekundäre Bedeutung gewinne, was nicht wenige Kommandeure veranlasse, die agitatorische Arbeit zunehmend als eine formale Pflichtübung zu betrachten. Dagegen stand die ausdrückliche Ermahnung: „Es wäre falsch, anzunehmen, daß man sich beim Vormarsch nur auf die mobilisierende Rolle unserer militärischen Erfolge verlassen und die politische Agitation lockern dürfte. Im Gegenteil: je verwickelter die Lage, je größer die Schwierigkeiten, um so größer die Bedeutung des lebendigen aufmunternden Wortes des bolschewistischen Agitators." 15 Besonders die Verpflichtung zu ständiger Aktualität und konkreter Anschaulichkeit, verbunden mit der Forderung nach nicht nachlassender Dauerwirkung machten gesteigerte Emotionalität und eine permanente persönliche Betroffenheit der Soldaten zur zentralen Voraussetzung für die agitatorische Arbeit. Wichtig war es, vor allem den Politarbeitern unmittelbare Eindrücke von deutschen Verbrechen und Greueltaten zu vermitteln. Hierbei spielte im Sommer und Herbst 1944 das Vernichtungslager von 13
14
15
Afanas'ev, Ot Volgi do Spree, S. 225; Blinov, Ot Visly do Oderà, S. 48; A. D. Charitonov, Gumbinnenskij proryv. Gumbinnenskaja operacia 28-j armii janvar' 1945, Moskau 1960, S. 52 f. Komandir i kacestvo politiceskoj raboty, in: KZ, 10. 9. 1944, S. 3. Vgl. dazu auch die Artikel Ν. Rjaposovs, Politiceskoe obespecenie nastupatel'nogo boja, in: KZ, 6. 9. 1944, 5. 3; M. Zotovs, O kul'ture ν rabote politorganov, in: KZ, 27. 12. 1944, S. 3 und I. Berezins, Nekotorye voprosy raboty partijnogo organizatora, in: KZ, 29. 12. 1944, S. 3. Mitteilungsblatt Nachrichten des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg, Heft 1, bearb. von Obersteinsatzführer Dr. Wunder, in: Institut für Zeitgeschichte (IfZ), MA-603, Bl. 20932 f. Vgl. auch den Artikel Fomicenkos in der Krasnaja Zvezda vom 10. 9. 1944, wie Anm. 14, S. 3.
4.3. Die Aufrufe der Frontkriegsräte
131
Majdanek bei Lublin als Anschauungsobjekt eine herausragende Rolle. Allein im Bereich einer Panzerarmee der 1. Ukrainischen Front wurden insgesamt 42 Fahrten mit gut 2500 Teilnehmern, „hauptsächlich Offiziere, Politarbeiter und Agitatoren" nach Majdanek organisiert. Die Monate von Oktober bis Dezember 1944 standen, so das Zeugnis des Politleiters einer Tankbrigade dieser Armee, ganz im Zeichen der „Erziehung der Soldaten zum Haß auf den Feind auf der Basis der Materialien aus dem Lubliner Vernichtungslager", wobei die Arbeit vorrangig von denen durchgeführt wurde, „die das Todeslager mit eigenen Augen gesehen hatten". 16 Jede Angriffsoperation und jeder Gefechtseinsatz einer Einheit wurden politisch vorbereitet, dabei wurde der Personalbestand der Politabteilungen zuvor stets auf volle Stärke gebracht. In jedem Bataillon existierten seit 1943 Parteiorganisationen, die in der Regel zwischen 40 und 60 Parteimitglieder oder Komsomolzen zählten; in den Schützenkompanien belief sich ihre Zahl auf sechs bis zehn. Aus ihnen rekrutierten sich die Träger der Politarbeit auf der untersten Ebene, der Parteiorganisator (Partorg) und seine Agitatoren, wobei sich pro Bataillon eine Reserve von 10 bis 12 Mann in ständiger Schulung auf Divisionsebene befand. 17 Besonders bei Angriffsaufgaben galt für die Politorgane stets von neuem der Auftrag zur „Erziehung des Personalbestandes im Geiste der Liebe zur Heimat, der Treue gegenüber dem Eid und des brennenden Hasses auf den Feind". 18 Die üblichen Mittel der agitatorisch-politischen Arbeit waren Seminare (meist auf höherer Ebene), Meetings und Massenversammlungen, Flugblätter (listovki) sowie Kleingruppen- und Einzelgespräche mit den Soldaten im Quartier oder im Schützengraben. Bei den Meetings wurden entweder Tagesbefehle und Direktiven der Obersten Führung, offizielle Mitteilungen des .Sovinformbjuros' über die militärische und politische Kriegslage und wichtige Artikel aus der zentralen oder truppenbezogenen Militärpresse behandelt. Wegen der häufigen Papierknappheit wurden die Ausgaben der Frontzeitungen gelegentlich zugweise verteilt und im Kollektiv vorgelesen. Ein für die emotionale Mobilisierung der Soldaten besonders wirksames Mittel war die Verlesung der Briefe von Angehörigen aus den befreiten Gebieten, insbesondere wenn diese in aufwühlender Form von Morden und Grausamkeiten der deutschen Besatzungsmacht an den eigenen Familienmitgliedern berichteten. Briefe solcher Art, die häufig auch in den Divisions- oder Armeezeitungen nachzulesen waren, hatten in den Versammlungen oft Einzelauftritte von Soldaten mit der lautstarken Selbstverpflichtung zu schonungsloser Rache und Vergeltung zur Folge. 16 17 18
D. I. Kocetkov, S zakrytymi ljukami, Moskau 1962, S. 215 f. Samcuk u.a.,Ot Volgi do El'by, S. 281 f.; Charitonov, Gumbinnenskij proryv, S. 53. Samcuk u.a., ebd., S. 280 f.; Blinov, Ot Visly do Oderà, S. 48 f.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
Bei jeder Agitationsarbeit mit mobilisierender Absicht war stets der Bezug auf konkrete Personen sowie anschauliche Beispielhaftigkeit gefordert, ähnlich der Propagierung von Tapferkeitsvorbildern im täglichen Kampfeinsatz mittels sogenannter Blitzzettel (listki molnija). Demgemäß hieß es in einer Instruktion für den Politunterricht vom August 1944: „ein jeder unserer Krieger hat außer den allgemeinen Forderungen des Staates noch eine persönliche Rechnung mit den Deutschen zu begleichen". 19 Probleme machte vor allem die Motivierung der nichtrussischen Rotarmisten, deren Nationalstolz man u.a. mit dem Hinweis darauf anzuspornen versuchte, daß nie zuvor Angehörige ihres Volkes, geschweige denn ihre eigenen Vorfahren, Länder gesehen hätten, deren Betreten ihnen im Zuge dieses Krieges ermöglicht werde („Mit dem großen russischen Volk an der Spitze haben wir diesen ruhmreichen Weg zurückgelegt"). 20 Schwierigkeiten bereiteten auch die vielen neuen Rekruten aus den vormals besetzten Gebieten des Landes, die einer umfassenden Erziehungsarbeit bedurften. Ein Divisionskommandeur der 2. Weißrussischen Front erinnerte sich in diesem Punkt an die Verhältnisse in seinem eigenen Verband: „Uns beunruhigte sehr, daß die Division mit Moldauern und Westukrainern aufgefüllt wurde. Denn sie hatten noch keine Kampferfahrung und waren während der Okkupation starken faschistischen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Man konnte sie nicht mit den Leningradern vergleichen, die die Blockade durchgestanden hatten und in zahlreichen Kämpfen gestählt worden waren." 21 Auch das immer jüngere Alter der Rotarmisten - bis Ende 1944 waren mit dem Jahrgang 1927 auch die Siebzehnjährigen fast vollständig rekrutiert worden - schuf zusätzliche Probleme. In besonders schwierigen Fällen halfen nur Einzelgespräche der Agitatoren mit den Soldaten, um diese persönlich zu motivieren. Konkreten Anschauungsunterricht lieferte dazu der Erfahrungsbericht des Parteiorganisators einer Schützenkompanie, der unter dem Titel „Die Kommunisten sind die Seele des Angriffs" in der Frontzeitung .Stalinskij udar' der 28. Armee (3. Weißrussische Front) erschien und dem zwei exemplarische Einzelbeispiele entnommen sind:
19
20 21
BA-MA, RH 2/2499, Bl. 277 f. Dazu: Kocetkov, S zakrytymi ljukami, S. 214 f.; ebenso Telegin, Voennyj sovet 1-go Belorusskogo fronta ν Vislo-Oderskoj operacii, S. 51 f. und M. Kalasnik, Partijno-politiceskaja rabota ν Berlinskoj operacii, in: VI¿, 7. Jg. (1965), H. 5, S. 42-55, hier S. 44. G. Lomidze, Cennyj opyt agitacionnoj raboty, in: KZ, 28. 3. 1945, S. 3. Borstschew, in: J. Mai (Hg),Vom Narew bis an die Weichsel, S. 200 f. Vgl. auch Kalasnik, Partijno-politiceskaja rabota, S. 43. Zu den Problemen mit Neurekrutierten aus den befreiten Territorien ebenso E. Ja. Jacovskis, Zabveniju ne podlezit, Moskau 1985, S. 176.
4.3. Die Aufrufe der Frontkriegsräte
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„Der Soldat Selenko kämpfte ohne Schwung. Er stammte aus den westlichen Gebieten der Ukraine. Ich erfuhr, daß die Deutschen sein Haus abgebrannt und das Vieh fortgetrieben hatten. Einst sagte ich ihm während des Kampfes: ,Du, Selenko, willst Du dich nicht an den Deutschen rächen? Du bewegst Dich träge und schießt selten. Du erwartest wahrscheinlich, daß ich statt Deiner einen Deutschen erschieße.' Meine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Selenko begann, verbissener zu kämpfen. Beim Angriff erschoß er einen Deutschen. Wir lobten Selenko, und im neuen Gefecht hat er sich ausgezeichnet." Wo die individuelle Betroffenheit fehlte, mußte diese durch beispielgebende Vorbilder ersetzt werden. So war ein anderer Rotarmist, ein junger Usbeke, der nur schlecht Russisch verstand, ebenfalls „zurückgeblieben". Auch hier half nur die .individuelle' Methode: „Wir erklärten Toschtschew, was der Kompanieführer von ihm verlangt; erzählten ihm, wie sich die anderen Usbeken schlagen und erweckten bei ihm das Verlangen, den anderen nicht nachzustehen. In einer Schlacht zeichnete sich Toschtschew aus, er erschoß zwei Faschisten. Ich rief Ogolzew zu: ,Sag es weiter. Toschtschew hat zwei Deutsche erschossen. Alle sollen sich bemühen, ihm nachzueifern.' Toschtschew wurde ein strebsamer Soldat." 22 So war der Rotarmist, als er in den späten Januartagen des Jahres 1945 zwischen der Ostseeküste und dem ostoberschlesischen Industrierevier in Millionenzahl deutsches Territorium betrat, aus mindestens drei Richtungen, d.h. von seiner Führung, seinen Pressemedien und durch den politischen Erziehungsapparat der Armee neben seiner militärischen Aufgabe auch auf die Mission des strafenden Richters eingestimmt, der nach Erenburgs Wort aus jenen Tagen nicht gekommen war, „um die Hitleristen von Hitler zu befreien" 23 , sondern um seine ganz persönliche Rechnung mit den Deutschen zu begleichen. Mit welchem Anteil wirklich persönliche Eindrücke aus der zerstörten Heimat oder das Wissen um getötete oder verschleppte Familienangehörige - d.h. authentische Erlebnisse, die keiner propagandistischen .Aufbereitung' mehr bedurften - die emotionale Haltung des Sowjetsoldaten geprägt haben, ist in der Masse kaum zu gewichten. Daß beides, Vergeltungspropaganda und Wirklichkeitserfahrung, zusammen eine gefährliche Mischung mit schwer kontrollierbaren Folgen ergeben würde, war unschwer abzusehen. Solange in den Augen der Führung die Armee zur Erfüllung ihrer militärischen Aufgaben der emotionalen Stimulierung bedurfte, wobei nach einem Molotov zugeschriebenen 22
23
Mitteilungsblatt Nachrichten des Einsatzstabes Rosenberg, wie Anm. 15, Bl. 20947 f. Dazu auch Kalasnik, Partijno-politiceskaja rabota, S. 44 f. Etogo ne budet, in: Pravda, 24. 1. 1945.
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4. Die Motivierung und politisch-psychologische Führung
Wort allein die Wirkung der Erenburgschen Parolen mindestens zwei Dutzend Divisionen aufwog, gab es in der Frontpropaganda keine Unterschiede zwischen den Deutschen und ihrer politischen oder militärischen Führung. Die Begriffe .Deutsche', .Faschisten' oder ,Hitleristen' (nemcy - fasisty - gitlerovcy) wurden nahezu synonym verwendet. Auch bei aller gebotenen Zurückhaltung im Urteil kann eines zumindest festgestellt werden: Von einer Befreiungsmission der Roten Armee gegenüber dem deutschen Volk ist dem gewöhnlichen Rotarmisten - sei es Soldat oder Truppenoffizier - in den Januartagen 1945 noch nichts bekannt gewesen.
5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden und die Gegenmaßnahmen der Führung 5.1. Haßgefühle und Rachebedürfnis unter den Rotarmisten und ihr Bild von den Lebensverhältnissen in Deutschland Wie sehr in den Tagen des Einmarsches in Deutschland Anfang Januar 1945 Haß- und Rachegefühle unter den Angehörigen der Roten Armee verbreitet waren, belegen viele sowjetische Militärmemoiren und truppengeschichtliche Darstellungen aus der Nachkriegszeit. „Die Erzählungen über die Bestialitäten der Hitleristen erzeugten bei den Gardisten einen brennenden Haß auf die Faschisten, veranlaßte sie, die Waffe noch fester zu packen und trieb sie an zu schonungsloser Abrechnung mit dem eingeschworenen Feind", heißt es in der Divisionsgeschichte eines innerhalb der 11. Gardearmee in Ostpreußen eingesetzten Schützenverbandes. Ein Veteran der im Rahmen der 2. Weißrussischen Front Marschall Rokossovskijs operierenden 19. Armee sprach vom „blinden Gefühl der Rache - des ,Auge um Auge, Zahn um Zahn' - das sich leicht in äußeres Handeln umsetzen konnte". Und auch Michail Semirjaga bekannte: „Als unsere Truppen 1944 in Rumänien und im Herbst in Ostpreußen einmarschierten, waren sie fest entschlossen, für allen Schmerz und alles Elend, das die Besetzer verursacht hatten, Rache zu nehmen." 1 Daß es nicht wenige danach drängte, der entsprechenden Propagandaparole folgend, ihre persönliche Rechnung mit den Deutschen zu begleichen und dabei „unterschiedslos in jedem Deutschen, ob Mann oder Frau, ob Greis oder Kind einen Faschisten [zu] sehen", belegen vor allem zahlreiche sowjetische Feldpostbriefe. So schrieb ein Rotarmist, der als Soldat der 1. Weißrussischen Front bereits an der Oder, 70 km vor Berlin, stand, Anfang Februar 1945 an seine Angehörigen zu Hause: „Im Angesicht des Feindes habe ich nochmals vor dem Vaterland und der Partei geschworen, den Tod meines Bruders zu rächen. Hunderte Deutsche werden für sein Leben auf ihrer Erde büßen müssen, nicht ein Deutscher, welcher in meine Hände fällt, kommt lebend heraus, und glaube mir, lieber Bruder, dieses sind keine leeren Worte [...] Jetzt schrecke ich nicht mehr davor zurück, mit
Lobanov, Vosemnadcataja gvardejskaja, S. 112; Α. I. Beskorovajnij, Po dorogam vojny, Moskau 1981, S. 197 f.; M. Semirjaga, Die Rote Armee in Deutschland im Jahre 1945, S. 204.
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
eigenen Händen jeden Deutschen zu erwürgen, was ich auch nicht selten tue." 2 Die psychologische Disposition zu solchen oder ähnlichen mentalen Haltungen mögen eine Reihe von Zahlen andeuten, die von offizieller sowjetischer Seite angeführt wurden. Danach gehörten Anfang 1945 beispielsweise zum Personalbestand der 2. Weißrussischen Front Rokossovskijs allein 53 000 Soldaten aus den von der Wehrmacht zeitweilig besetzten Gebieten, ferner ca. 10 000 aus deutscher Gefangenschaft Befreite und knapp 40 000 aus Lazaretten Entlassene.3 Nicht wesentlich anders sah es bei der 3. Weißrussischen Front Armeegeneral Cernjachovskijs aus. Dort befanden sich allein in einem Regiment der 83. Gardeschützendivision, die im Verband der 11. Gardearmee kämpfte, 158 Soldaten, die unter nahen Angehörigen Opfer durch Tötung und Quälereien (zamucenija) zu beklagen hatten. Die Familien von 56 anderen waren zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden, bei 162 Rotarmisten waren Angehörige obdachlos gemacht und bei weiteren 293 ihrer persönlichen Habe und des Viehs beraubt worden. 4 Betroffen waren aber auch Offiziere und Kommandeure bis in höchste Befehlshaberpositionen. Stalins eigener Sohn, der Artillerie-Oberleutnant Jakov Dzugasvili, war im Frühjahr 1943 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager zu Tode gekommen. Generaloberst Rybalko, der Befehlshaber der 3. Gardepanzerarmee, hatte 1942 seinen einzigen Sohn verloren, der Kommandeur seiner 55. Gardepanzerbrigade, Oberst Dragunskij, sogar seine gesamte Familie einschließlich Eltern und Geschwister. Der Bruder der 1941 hingerichteten Partisanin Zoja Kosmodem'janskaja, Aleksandr Kosmodem'janskij, fiel noch im April 1945 als Gardepanzeroffizier an der ostpreußischen Samlandfront. 5 Der seit Jahren angestaute und propagandistisch verstärkte Haß auf alles Deutsche („Zorn und Haß glühten in den Herzen der Soldaten") war zu offenkundig, um von den Kommandeuren und Befehlshabern ignoriert
Dokumentation von Vertreibungsverbrechen (Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974 [...]), in: Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948, Bonn 1989, S. 26. Das Briefzitat vom 9. 2. 1945 unter der Feldpostnummer 47604 in: BA-MA, RH 2/2682, Bl. 36 (249). Dokumentation von Vertreibungsverbrechen, wie Anm. 2, S. 25. Galickij, V bojach za Vostocnuju Prussiju, S. 216f.; Kartasev, Ot Podmoskovja do Kenigsberga, S. 99. A. N. Kolesnik, Voennoplennyj starsij lejtenant Jakov Dzugasvili, in: V I Ì , Jg. 30 (1988), H. 12, S. 70-79; Georgi Mironow, Marschall der Panzertruppen Pawel Semjonowitsch Rybalko, in: Heerführer des Großen Vaterländischen Krieges. Zwölf Lebensbilder, 2. Halbband, (Ost)Berlin 1978, S. 68 f.; Dragunski, Jahre im Panzer, S. 337, 349; Bagramjan, So schritten wir zum Sieg, S. 491.
5.1. Haßgefühle und Rachebedürfnis
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werden zu können. 6 Schon im Spätsommer 1944 waren im Zusammenhang mit der Befreiung des Vernichtungslagers von Majdanek und den absehbaren Wirkungen auf die Truppe erste Befürchtungen aufgekommen. „Was konnte die deutsche Nation nach solchen Untaten vor der Vernichtung durch die aufgebrachten Sieger retten? Welche Kraft war in der Lage, dem sowjetischen Kämpfer in den Arm zu fallen, wenn er deutschen Boden betrat?", fragte Marschall Cujkov rückblickend in seinen Kriegserinnerungen. Die Herausforderung, die hier, einer losgetretenen Lawine gleich, auf die Führung aller Befehlsebenen zukam, und die Schwere der damit verbundenen Verantwortung ließ bei nicht wenigen Befehlshabern Sorge aufkommen. Dazu nochmals Cujkov: „Die Aufgabe war für die Kommandeure der Armee, vor allem für die Politoffiziere keineswegs leicht. Hier war wirkliche politische Arbeit zu leisten, hier mußte man eindringlich, beharrlich erklären. Aber wie? Wie soll man das einem Kämpfer erklären, der selbst seine Familie verloren hat, dessen Eltern oder Geschwister vielleicht in solchen Öfen verbrannt worden sind? Und solche gab es viele in der Armee. Wir befürchteten zuerst, daß künftig keine deutschen Soldaten mehr gefangengenommen würden." 7 Der Befehlshaber der 8. Gardearmee, der selber den langen und blutigen Weg vom Wolgaufer in Stalingrad bis vor die Tore Berlins hinter sich gebracht hatte, nannte solche Gefühle „begreiflich"; noch könne man nicht verlangen, „daß jeder Soldat zwischen Faschismus und Hitler auf der einen und Land und Volk auf der anderen Seite deutlich unterschied". Zu frisch sei die Erinnerung „an die Greuel, die die Okkupanten auf unserem und auf polnischem Boden verübt hatten". „Meine Befürchtungen von Majdanek", schrieb Cujkov weiter, „daß Zorn und Wut unserer Soldaten auf deutschem Boden ausbrechen könnten, erneuerten sich. Aber die Politoffiziere der Armee waren bereits darauf eingestellt, wachsam zu sein und Ausschreitungen sofort zu unterbinden." Generalleutnant Bokov, das für die Politarbeit zuständige Mitglied des Kriegsrates der 5. Stoßarmee Generaloberst Berzarins, sah die Dinge ähnlich: „Aber auch die Meinung unserer Soldaten war so schnell nicht zu ändern. Sie hatten unter den Faschisten leiden müssen, hatten Verwandte, Freunde und ihr Hab und Gut verloren. War es da verwunderlich, daß sie sich rächen wollten? Von der Losung ,Tod den deutschen Okkupanten!' zu einer differenzierten Einstellung jedes einzelnen gegenüber der deutschen Bevölkerung war ein weiter Weg." 8
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Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion in 6 Bänden, Bd. 5, (Ost)Berlin 1967, S. 124. Tschuikow, Gardisten auf dem Weg nach Berlin, S. 287. Ebd., S. 379; Bokow, Frühjahr des Sieges und der Befreiung, S. 187.
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
Selbst die amtliche sowjetische .Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion' kam um dieses heikle Thema nicht herum und räumte in ihrem 1963 erschienenen 5. Band im Zusammenhang mit dem Betreten deutschen Territoriums Verfehlungen durch die Rote Armee ein: „Allerdings gab es einzelne Racheakte sowjetischer Soldaten gegenüber Widerstand leistenden Deutschen. Das war eine unvermeidliche Äußerung jenes Hasses, den jeder Sowjetmensch gegenüber dem Land und dem Volk hegen mußte, das das barbarische Wüten des Faschismus zugelassen hatte [...] Nicht alle Sowjetsoldaten begriffen, worin sich die Rache ausdrücken mußte, und wie sie sich in Deutschland verhalten sollten. Während der ersten Kampftage gab es in Ostpreußen einige Verstöße gegen die Verhaltensnormen. Dagegen ergriffen die sowjetischen Kommandostellen strenge Maßnahmen." 9 Eine wesentlich deutlichere und unverblümte Sprache sprechen im Vergleich dazu die Zeitdokumente. Allgemein ist die in den erbeuteten sowjetischen Feldpostbriefen nahezu durchgängig anzutreffende Auffassung von der gerechten Strafe, die jetzt über Deutschland hereinbreche, verbunden mit der tiefen Genugtuung darüber, daß endlich auch seine Bevölkerung die grausame Wirklichkeit des Krieges hautnah zu spüren bekomme. Als illustrative Auswahl mögen einige Briefe derselben Feldpostnummer (20739) einer auf dem ostpreußischen Kriegsschauplatz eingesetzten motorisierten Schützeneinheit dienen: „Wir befinden uns weit von Euch in Ostpreußen, wo wir die Preußen ausräuchern, daß die Federn nur so fliegen", heißt es beispielsweise in einem Feldpostbrief vom 3. Februar 1945. „Soll die deutsche Mutter den Tag verfluchen, an dem sie einen Sohn geboren hat! Sollen die deutschen Frauen jetzt die Schrecken des Krieges verspüren! Sollen sie das, was sie den anderen Völkern zugedacht haben, jetzt selber erleben!", schrieb ein Soldat aus dem westukrainischen Tiraspol am 30. Januar nach Hause. Ein anderer Rotarmist vermerkte in einem Brief vom 1. Februar an seine im kasachischen Alma Ata lebenden Eltern mit Genugtuung: „Jetzt können auch unsere Soldaten sehen, wie ihre [der Deutschen] Unterkünfte brennen, wie ihre Familien umherirren und ihre Schlangenbrut mit sich schleppen. Jetzt sehen sie ihren Untergang vor Augen und all diese Scheusale schimpfen jetzt wie aus einem Munde: .Hitler kaputt'. Sie hoffen wohl am Leben zu bleiben, aber für sie gibt es keine Gnade." In einem Brief an seine Eltern im Gebiet von Smolensk vermeldete ein anderer Angehöriger des Verbandes: „Wir marschieren jeden Tag weiter vorwärts durch Ostpreußen. Und wir nehmen Rache an den Deutschen für all ihre Schandtaten, die sie an uns verübt haben [...] Es ist uns jetzt alles erlaubt zu tun mit den deutschen Schurken." Wieder ein anderer schrieb am 29. Januar 1945 Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges, wie Anm. 6, S. 102 u. 134.
5.1. Haßgefühle und Rachebedürfnis
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an seine Eltern im Gebiet Kalinin: „Die Deutschen schlagen wir jetzt ohne Gnade. Wir geben ihnen den Rest in einem großen Kessel. Wie freut sich das Herz, wenn man durch eine brennende deutsche Stadt fährt." 10 Dieselbe Grundhaltung findet sich selbst bei akademisch gebildeten Offizieren, auch wenn Abscheu und Empörung über das, was vor ihren Augen mit der deutschen Zivilbevölkerung, insbesondere den Frauen, geschah, dabei nicht zurückgehalten wurden. Ein Beispiel dafür bietet das persönliche Tagebuch des bei der deutschen Gegenoffensive vom 19. Februar 1945 an der Samlandfront bei Kragau gefallenen Offiziers des 5. Artilleriekorps, Jurij Uspenskij. 11 Dort findet sich unter dem 24. Januar im Angesicht der brennenden Stadt Gumbinnen die Eintragung: „Das ist die Rache für alles, was die Deutschen bei uns angerichtet haben. Jetzt werden ihre Städte vernichtet und ihre Bevölkerung erfährt jetzt, was das bedeutet: Krieg!" Drei Tage darauf im Gebiet von Wehlau notierte er in seinem Tagebuch: „Die Unseren haben Ostpreußen nicht schlechter behandelt als die Deutschen das Smolensker Gebiet. Wir hassen Deutschland und die Deutschen sehr. In einem Hause z.B. haben unsere Jungs eine ermordete Frau mit zwei Kindern gesehen. Auch auf den Straßen sieht man oft ermordete Zivilisten. Und die Deutschen haben diese Greueltaten verdient, mit denen sie angefangen haben. Man braucht nur an Majdanek und die Theorie vom Übermenschen zu denken, um zu verstehen, weshalb unsere Soldaten mit Befriedigung Ostpreußen in diesen Zustand versetzen. Gewiß, es ist unwahrscheinlich grausam, die Kinder zu töten, aber die deutsche Kaltblütigkeit in Majdanek ist hundertmal schlimmer gewesen." Am 7. Februar erlebte Uspenskij im Dorf Kr aussen, im südösdichen Vorfeld von Königsberg, den Elendszug deutscher Zivilisten, darunter eines 92jährigen Greises, die, von den deutschen Verteidigern aus der eingeschlossenen Festungsstadt herausgelassen, ins rückwärtige sowjetische Frontgebiet weggeführt wurden, und kommentierte den Anblick mit den Sätzen: „Nun muß Deutschland den Geschmack der Tränen fühlen, die es einst dem russischen Volk gebracht hat. Furchtbare Greueltaten werden auf der Erde begangen. Und Hitler ist derjenige, der sie hervorgerufen hat. Und die Deutschen haben diese Greuel verherrlicht. Eine grausame Strafe ist für Deutschland nur zu gerecht, denn Deutschland ist ja Hitler gefolgt und folgt ihm auch noch weiter." Selbst im Angesicht schlimmster Gewalttaten, denen gegenüber er seine tiefe Abscheu nicht verbarg, erfolgte stets der Rückgriff auf das Argument der grausamen, aber verdienten Strafe: „Vor unseren Panzern hat ein Soldat eine deutsche Frau und ihren Säugling erschossen, weil sie sich weigerte, ihm zu Willen zu sein. Es ist fürchterlich. 10 11
BA-MA, RH 2 / 2 6 8 1 , Bl. 179 f. u. 184 f. BA-MA, RH 2 / 2 6 8 8 , Bl. 46-53.
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
Aber die Deutschen haben bei uns massenhaft noch viel Schlimmeres verbrochen [...] Ja, Deutschland wird mit gleicher Münze heimgezahlt." 12 Von Einfluß auf die Empfindungs- und Gefühlslage der Rotarmisten auf deutschem Boden waren auch die sich ihnen allerorts darbietenden Einblikke in den Lebensstandard der Bevölkerung. Dies betraf sowohl die häuslichen Wohnverhältnisse als auch die Waren- und Güterversorgung, die, am sowjetischen Durchschnitt gemessen, vielen geradezu traumhaft erschienen. Hinzu kam die - auch zur Überraschung vieler Deutscher - aus den Lagern zahlloser Einzelhandelsgeschäfte plötzlich zu Tage tretende Warenfülle angeblich seit Jahren ausverkaufter Konsum- und Luxusgüter. 13 Auch die überall auf dem Lande anzutreffenden polnischen, russischen oder französischen Arbeitskräfte, dazu die Überfülle an Vieh und Haustieren aller Art sowie der ins Auge springende Wohlstand, der so sehr mit dem kontrastierte, was viele Sowjetsoldaten aus den Briefen ihrer Angehörigen über die schweren Lebensbedingungen daheim erfuhren, formte in starkem Maße die Eindrücke vom Leben in Deutschland. Eine Fülle von Feldpostbriefen gibt Zeugnis davon. So schrieb ein Rotarmist Anfang Februar 1945 von der ostpreußischen Samlandfront an seine Frau zu Hause: „Die Leute wohnen hier gut. Obwohl der Boden sandig ist, leben sie besser als wir. Wenn du in ein Haus reingehst, weißt du nicht, auf was du zuerst schauen sollst. Soviele schöne Sachen findest du hier vor. Fast ein jeder Hausherr hat ein Klavier. So etwas, worauf man spielt." 14 Ein anderer schrieb am 31. Januar an seine Frau ins Gebiet von Tambov über die .märchenhaften' Verpflegungsverhältnisse auf ostpreußischem Boden: „Wir sind alle satt, Fleisch ist da und Speck, man kann es kaum mehr sehen. Allerhand Beute machen wir, alles schöne Sachen, und ich glaube, man kann auch was schicken [...] Mit den wertvollsten Sachen wischen wir uns die Füße ab. Und soviel Papier und Umschläge, überhaupt alles mögliche, die Augen gehen einem über." 1 5 Auch von der ostbrandenburgischen Oderfront im Bereich des deutschen Armeeoberkommandos 9 schwärmten viele sowjetische Feldpostbriefe in demselben Tenor: „Wenn Ihr doch jetzt mich besuchen könntet! Wie könnte ich Euch da bewirten! Es gibt alles, sogar Sachen, die Ihr noch nie gesehen habt, zum Essen, zum Trinken und zum Rauchen." - „Wir essen, was wir nur haben wollen, Hühner und Gänsebraten, Schweinefleisch, Honig, Eingemachtes, Milch, Schnaps usw." (8. 2. 1945). „Wir leben gegenwärtig prachtvoll, es fehlt einem an nichts, weder an Essen noch an Kleidung. 12 13
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Ebd., Bl. 52 (124). Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 2 (=Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa), Dok. Nr. 230. BA, Ost-Dok. 8/511, Bl. 3. BA-MA, RH 2/2681, Bl. 184.
5.1. Haßgefühle und Rachebedürfnis
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Auch zu Fuß gehen wir nicht, entweder reiten wir oder fahren in einem Karren." 16 Nicht anders stellten sich die Verhältnisse bei der 1. Ukrainischen Front in Niederschlesien dar: „Wo man auch Rast macht, überall in den Kellern findet man herrliche Weine, Eingemachtes und Gebäck. Auf den Höfen treiben sich Schweine, Kühe, Hühner usw. herum." In einem Brief vom 2. Februar 1945 ins ukrainische Krivoj Rog heißt es: „Wir ernähren uns sehr gut, essen zehnmal besser als die Deutschen in der Ukraine gelebt haben. Es gibt alles zu essen, es fehlt nichts. Auch gibt es Schnaps und Spiritus, wir trinken jeden Tag, jeder soviel er braucht und wieviel sein Herz begehrt [...] Ich mache jetzt Schluß mit dem Brief und setze mich zum Frühstück. Es ist ein Generalsfrühstück, es gibt Schweinebraten, Schweinekottelets, Honig, Zucker, Butter, Speck, Eingemachtes - jeder ißt das, worauf er Appetit hat und jeder trinkt Spiritus, soviel er will." Wieder ein anderer Rotarmist bekannte: „Ich trage Reitstiefel, habe mehr als eine Uhr und dabei keine einfachen Uhren; mit einem Wort: ich schwimme im Reichtum." 17 Unter dem Einfluß der sowjetischen Propaganda, so Michail Semirjaga, erwarteten viele Soldaten und Kommandeure, „in Deutschland eine völlig zerstörte Industrie, einen desorganisierten staatlichen Verwaltungsapparat und eine hungernde Bevölkerung vorzufinden, und wunderten sich, daß die Werktätigen keinen Aufstand gegen Hitler unternommen hatten. Sie waren deshalb überrascht zu sehen, daß sich die Bürger bis praktisch in die letzten Kriegstage relativ normal ernährt hatten und die Keller der Bauern voll von Fleischkonserven, Obst und Gemüse waren." 18 Bereits früh empfanden Staats- und Armeeführung die Herausforderung, den eigenen Soldaten die Gründe für den offenkundigen Wohlstand und das so überraschend hohe Lebensniveau außerhalb der eigenen Grenzen zu erklären. Schon Ende September 1944 hatte die .Pravda' die Armeeangehörigen gemahnt, sich nicht durch den „vielen äußerlichen Flitter" irreführen zu lassen und dem „täuschenden Trugbild einer Scheinzivilisation" zu erliegen, das ihnen in fremden Ländern die Augen blende, sondern sich stets dessen bewußt zu sein, daß allein mit ihnen die wahre Kultur ziehe („Pomnite: podlinnaja kul'tura idet s Vami."). 19 Für die Erklärung des gerade in Deutschland allerorts anzutreffenden Wohlstands galt die simple Formel, daß fast alle der in deutschen Häusern und Höfen vorhandenen hochwertigen Güter aus den besetzten Gebieten Europas zusammengeraubt worden seien. Dieses .Erklärungsmodell' wurde
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Briefe im Bereich des AOK 9 erbeutet, BA-MA, RH 2 / 2 6 8 3 , Bl. 78 f. BA-MA, RH 2 / 2 6 8 3 , Bl. 88 f. u. 90. 1 ® Semirjaga, Die Rote Armee in Deutschland, S. 207. 19 Michail Korjakov, Zivaja istorija 1917-1975, München 1977, S. 246. 17
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
geradezu zu einem Topos innerhalb der Armeepresse, nachdem die Zeitung der 3. Weißrussischen Front, die .Krasnoarmejskaja pravda', nach Abschluß der ostpreußischen Herbstoffensive in einem .Erfahrungsbericht', betitelt „Der Herrenhof eines preußischen Räubers" (usad'ba prusskogo razbojnika) vom 15. November 1944 den „Sergeanten Sizikov" von seinen Erlebnissen und Eindrücken in Haus und Hof des ostpreußischen Gutsbesitzers „Paul Wirth" hatte berichten lassen. Dabei fehlte nichts, was das Bild vom .Raubtopos' komplett machte: vom kostbaren Glas aus Frankreich über Hydranten mit sowjetischem Fabrikationszeichen, Skulpturen und Gemälden aus Sevastopoler und anderen Museen, bis hin zur Dreschmaschine vom Typ .Rostsel'mas' 20 . Am Ende fand sich auch noch ein großes Porträt vom Sohn des Hausherren in der Uniform eines Hauptmanns der SS. Eine Woche vor Beginn der Winteroffensive 1945 popularisierte die .Krasnaja Zvezda' in einer Reportage vom 4. Januar unter der Überschrift „In der Höhle der deutschen Bestie" (V berloge nemeckogo zverja) armeeweit die Erfahrungen des „Sergeanten Sizikov" und der anderer Rotarmisten in deutschen Häusern und Wohnungen. 21 Neben der Freude darüber, endlich das Ausland mit eigenen Augen sehen zu können, finden sich in manchen sowjetischen Aufzeichnungen Spuren einer im traditionellen russischen Denken verwurzelten Vorstellung von der generellen Dekadenz des westlichen Lebens, besonders im erwähnten Tagebuch des Artillerieoffiziers Uspenskij. 22 Selbstbewußtsein und Stolz auf die eigenen Waffentaten stehen neben vielen Zeugnissen der Abscheu über die deutsche Rassenideologie und schadenfrohen Betrachtungen über die in ihren Verstecken ausharrende, verängstigte deutsche Zivilbevölkerung. Besonders die Siegeseuphorie und die Gewißheit des nahen Kriegsendes erzeugten, durch den massenhaften Alkoholkonsum verstärkt, eine Hochstimmung, der viele Rotarmisten erlagen. „Die Russen hat man nie besiegt, und keiner wird sie je besiegen. Wir sind Russen - wir werden siegen", heißt es z.B. in einem Feldpostbrief vom 17. Februar 1945 und ein anderer Sowjetsoldat schrieb am Tag darauf vom westpreußischen Kriegsschauplatz: „Ich bin im Gefecht jetzt furchtlos, denn ich fühle den baldigen Sieg über die vertierten Fritzen." 23
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® Rostovskij zavod sel'skochozjajstvennych masin, bekanntester sowjetischer Landmaschinenhersteller in Rostov am Don. 21 V berloge nemeckogo zverja, in: KZ, 4. 1. 1945, S. 3. Ebenso: N. P. Popov, Ν. A. Gorochov, Sovetskaja voennaja pecat' ν gody Velikoj Otecestvennoj vojny 1941-1945, Moskau 1981, S. 358. 22 Tagebuch Uspenskijs, wie Anm. 11, Bl. 50 f. u. 52. 23 BA-MA, RH 2/2683, Bl. 77 u. 90.
5.2. Das Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung
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5.2. Das Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung. Täter - Opfer - Ursachen Der in seinen Heimatortschaften zurückgebliebene oder auf dem Treck unterwegs von sowjetischen Truppen eingeholte Teil der deutschen Bevölkerung östlich von Oder und Neiße erlebte in den Wochen und Monaten nach dem Januar 1945 eine Zeit blutigster Ausschreitungen und schlimmster Drangsalierungen. Plünderungen, Brandschatzungen und Vergewaltigungen waren unterschiedslos im gesamten Gebiet zwischen der Ostseeküste und dem schlesischen Bergland an der Tagesordnung. Ebenso wurde von Verschleppungen und Deportationen in spezielle Lager oder zum Arbeitseinsatz in die Tiefen Rußlands hinein mehr oder weniger gleichmäßig aus Ost- und Westpreußen, aus Pommern, Ostbrandenburg und Schlesien berichtet. 1 Eine Analyse der Wehrmacht von Ende März 1945 auf der Grundlage von Hunderten von Zeugenbefragungen spricht von „Greuel, die von allen roten Einheiten überall begangen werden", wobei aufgrund der Reichhaltigkeit des Berichtsmaterials „jede Form der begangenen Greuel durchschnittlich 105-fach belegt" sei.2 Die großen Zerstörungen und zahllosen Brände in den von der Roten Armee eingenommenen Städten erklären sich nur zu einem Teil aus den im Vorgehen gegen gegnerische Widerstandsnester rigiden und hoch zerstörerischen Häuserkampftechniken sowie den bereits beschriebenen Grundlagen der Sturmgruppentaktik sowjetischer Verbände bei der Eroberung und Säuberung von größeren Ortschaften. Sicher war in den von deutscher Seite zu Festungen oder befestigten Plätzen erklärten Städten wie Königsberg, Elbing, Danzig, Glogau oder Breslau der Großteil der Zerstörungen und Brände kampfbedingt, doch sind im Zuge der raschen, weite Räume in kurzer Zeit überwindenden Bewegungskriegsführung weitaus mehr Ortschaften nahezu unversehrt eingenommen worden. Ihre Verwüstung ging weitgehend auf das Konto einer reinen Zerstörungswut vieler Rotarmisten, die im systematischen Abbrennen ganzer Ortskerne und Straßenzüge ihren Ausdruck fand. Eindrucksvolle Beispiele dafür bieten das ostpommersche Stolp, dessen Innenstadt in der ersten Nacht nach der kampflosen Einnahme am 8. März 1945 fast vollständig in Flammen aufging, sowie das westpreußische See-
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Band 1 (=Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. I), S. 60E f.; Dokumentation von Vertreibungsverbrechen, S. 23 f. Die sowjetischen Greuel auf deutschem Boden, in: BA-MA, RW 4/709, Teil I, Bl. 146 f.
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
bad Zoppot und Teile Danzigs.3 Nach dem Zeugnis Uspenskijs war es die eigene Infanterie, die in den Tagen nach dem 20. Januar 1945 im ostpreußischen Gumbinnen zahlreiche Häuser angezündet hatte, während im stark zerstörten und noch tagelang brennenden Insterburg sowjetische Pioniere Gebäuderuinen in die Luft sprengten. Auch Lev Kopelev berichtet aus der Umgebung Neidenburgs und aus Allenstein über vorsätzliche Brandstiftungen von Rotarmisten. 4 Besonders die zahllosen und brutalen Vergewaltigungen - von der achtzigjährigen Greisin bis zum zehnjährigen Kind, oftmals mit Todesfolge für die schwer mißhandelten Frauen - bilden ein allgegenwärtiges Trauma in nahezu allen Zeugenschilderungen über die Geschehnisse sowohl zeitgleich, wie noch Wochen und sogar Monate nach dem ersten Zusammentreffen mit den sowjetischen Soldaten. Viele der Erlebnisberichte überlebender, häufig Dutzende Male hintereinander auf das brutalste vergewaltigter Frauen sind erschütternd und in ihren schlimmen Details kaum wiederzugeben. Stellvertretend für Hunderttausende von Einzelschicksalen sei aus dem Erlebnisbericht einer Danzigerin über ihre Erfahrungen in den Tagen und Wochen nach der Eroberung der alten Hansestadt in der letzten Märzwoche des Jahres 1945 durch die Truppen von Marschall Rokossovskijs 2. Weißrussischer Front eine Passage wiedergegeben, die die ungeheueren Seelennöte der vielen zumeist schutzlos in Scheunen, Kellern oder anderen Verstecken zusammengedrängten Frauen zum Ausdruck bringt: „Was Stalins Soldateska damals an den deutschen Frauen und Mädchen verbrach, war geradezu ungeheuerlich, da die erlittenen Schäden nicht nur körperlicher Art waren, sondern mehr noch das seelische Gebiet berührten. Diese ständige Angst und Aufregung, in der sich damals ein jedes weibliche Wesen monatelang befand, stellte für das durch den tödlichen Hunger ohnehin geschwächte Nervensystem eine unbeschreibliche Belastung dar. Ich selber weiß es am allerbesten, in welch schrecklicher Angst wir Frauen damals Tag und Nacht hindurch gelebt haben, wie nervenaufreibend diese endlos scheinende Zeit der inneren Aufregungen, des Entsetzens, der dauernden Ungewißheit über das täglich und nächtlich drohende Schicksal war, und in welchem Maße die letzten Kräfte durch den schweren stündlichen Kampf um einen einzigen Bissen Nahrung verzehrt wurden." 5 Mit den Vergewaltigungen und Mißhandlungen in engem Zusammenhang standen die zahlreichen Tötungsverbrechen, seien es Einzeltötungen, die Ermordung kleiner Gruppen oder die Massentötung Dutzender 3 4
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Wilckens, Die große Not, S. 419. Tagebuch Jurij Uspenskijs in: BA-MA, RH 2/2688, Bl. 49; Kopelew, Aufbewahren für alle Zeit!, S. 96 f. u. 112 f. Wilckens, Die große Not, S. 465 f.
5.2. Das Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung
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von Menschen. Es handelte sich dabei um ein Vorgehen, dem - wie bereits in der „Dokumentation der Vertreibung" aus den fünfziger Jahren festgestellt wurde - „keine auch nur formale gerichtliche Entscheidung vorherging, sondern um Exekutionen auf Grund irgendwelcher Verdachtsmomente oder Beschuldigungen und oft genug auch um rein willkürliche Handlungen einzelner Sowjetsoldaten". 6 Die bloße Aufzählung all jener zahllosen Gewalttaten im gesamten militärischen Operationsgebiet von der Ostseeküste zwischen der Memel- und Odermündung bis zum Nordhang der Sudeten würde jede Darstellung sprengen. Anhand der Zeugenberichte der verschiedenen Ostdokumentationen des Koblenzer Bundesarchivs lassen sich etwa 3300 Tatorte namentlich ermitteln, wobei nach den vorliegenden Zeugenangaben zu 2620 Tatorten sich eine Zahl von ca. 24 500 Menschen errechnen läßt, die in ihren Heimatorten oder auf der Flucht einen gewaltsamen Tod fanden. Für etwa 690 Tatorte liegen keine genauen Zahlen über die Todesopfer vor. Von ihnen ist lediglich überliefert, daß dort jeweils eine größere, nicht genau bestimmbare Anzahl von Personen getötet wurde. Ein besonders zuverlässiges Bild ergibt sich für jene wenigen Tatorte, an denen erfolgreiche Gegenangriffe der Wehrmacht die zeitweilige Tätigkeit deutscher Ermittlungsbehörden in einem größeren Rahmen ermöglichten, wie etwa im Kreis Gumbinnen (Nemmersdorf) im Oktober und November 1944, im westlichen Samland und bei Metgethen im Februar sowie in den niederschlesischen Städten Lauban und Striegau im März 1945. 7 In der Gesamtbilanz schätzte das Bundesarchiv die Gesamtzahl aller unmittelbar infolge des sowjetischen Einmarschs Umgekommenen auf durchschnittlich 2 bis 3 Prozent der in den Gebieten östlich von Oder und Neiße Zurückgebliebenen oder, aufgrund der hochgerechneten Daten aus 455 ostpreußischen und 432 pommerschen Landgemeinden, auf ca. ein Prozent der 1938 in diesen Gebieten ansässigen reichsdeutschen Bevölkerung. Dies ergibt eine Zahl zwischen 90 000 und 100 000 Ermordeter, zu der noch ca. 20 000 geschätzte Opfer aus der außerhalb des Reichsgebiets von 1938 lebenden deutschen Bevölkerung hinzuzuzählen wären. 8 Die Opfer dieser Tötungen - nicht selten als Folge von Widerstand oder versuchter Hilfeleistung bei Vergewaltigungen - kamen aus allen Alters-, Sozial- und Berufsgruppen des aus den unterschiedlichsten Gründen in ihren Heimatorten zurückgebliebenen deutschen Bevölkerungsteils. Keineswegs waren, wie es noch in Martin Broszats Einleitung zum ersten Band der Vertreibungsdokumentation von 1954 hieß, „vor allem Personen be-
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®
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 1, S. 63E. BA-MA, RH 2/2685, Bl. 120-125. Zu Nemmersdorf siehe Kapitel 3.1., Anm. 28 u. 29. Dokumentation von Vertreibungsverbrechen, S. 38-40.
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
troffen, die exponierte Parteistellen innehatten oder bestimmten nationalsozialistischen Organisationen angehörten". 9 Angesichts des dargelegten Befundes stellen sich die folgenden drei Fragen: 1. Wo konzentrierte sich innerhalb der Roten Armee die Masse der Täter? 2. Welche Ursachen lassen sich für die Ausschreitungen finden? 3. Sind regionale Schwerpunkte in diesem Geschehen zu erkennen, die sich aus dem Gesamtbild auffällig hervorheben? Zur ersten Frage läßt sich feststellen, daß entgegen vieler Angaben im Zeugenschrifttum der Ostdokumentationen, denen das Bundesarchiv in diesem Punkt unbesehen folgt, die große Masse der Vergewaltigungen und Gewalttaten nicht, wie es heißt, fast allerorts [...] durch Soldaten und Offiziere der sowjetischen Nachschubformationen verübt worden" sein können. 1 0 Die sowjetischen Nachschubeinheiten der nichtkämpfenden Truppe betrugen, ganz im Gegensatz zum aufgeblähten logistischen Apparat der westalliierten Seite, durchschnittlich gerade 30 Prozent des Personalbestands innerhalb einer Heeresgruppe. So bestanden beispielsweise die insgesamt 1,12 Mill. Mann der 1. Weißrussischen Front bei der WeichselOder-Operation vom Januar 1945 mit 810 000 Mann zu gut 72 Prozent aus Kampftruppen. 11 In den Nachschubeinheiten dienten neben einer Vielzahl von Spezialisten aus Industrie, Verwaltung und aus dem Verkehrssektor vor allem ältere und z.T. aus der unmittelbaren Frontverwendung ausgeschiedene Soldaten und Offiziere. Außerdem befand sich gerade in diesen Einheiten neben dem Sanitätsdienst der Großteil der gut 800 000 sowjetischen Frauen, die während des gesamten Krieges im Fronteinsatz standen, darunter eine halbe Million junger Frauen und Mädchen im Rahmen des Komsomol-Aufgebots, die sogar zu 70 Prozent im logistischen Apparat der Kampftruppen dienten. 12 Daß gerade aus diesem Bereich, d.h. dem der Nachschubtruppen, die Masse der Vergewaltigungs- und Tötungsverbrechen gekommen sein soll, erscheint mehr als unwahrscheinlich. Diese Gewalttaten kamen vielmehr zum ganz überwiegenden Teil aus der Masse der infanteristischen Schützenverbände, die bei der - wie dargelegt - hohen Tiefenstaffelung der sowjetischen Verbände im Angriff für die deutsche Bevölkerung erst relativ spät in Erscheinung traten. Viele Zeugen9 10
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Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 1, S. 63E. Dokumentation von Vertreibungsverbrechen, S. 33. Vislo-Oderskaja operacija ν cifrach, in: Vl¿, 7. Jg. (1965), Η. 1, S. 71. Vgl. dazu auch den Beitrag von Oberst a.D. Hans Hinrichs, Die Versorgung der Roten Armee - Heimatbasis und Operationsgebiet, in: Basil Η. Liddell-Hart, Die Rote Armee, Bonn 1956, S. 290-300; ebenso Garthoff, Die Sowjetarmee, Wesen und Lehre, S. 339. Swetlana Alexijewitsch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Aus dem Russischen von Johann Warkentin, Hamburg 1989, S. 8.
5.2. Das Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung
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berichte sprechen von der zweiten oder dritten Welle, die zu morden, vergewaltigen und zu plündern begann. 13 Dies waren in der Regel jene Schützenverbände, die im Rahmen der großräumigen Bewegungskriegsführung als nachstoßende Staffeln den als Vorausabteilungen agierenden operativen Panzerverbänden folgten und die nach bereits gebrochenem Feindwiderstand das Gelände zu besetzen und zu säubern hatten. Ein charakteristisches Beispiel dafür bot die Einnahme der Stadt Stolp während der Ostpommern-Operation der 2. Weißrussischen Front in den ersten Märztagen des Jahres 1945 durch die Einheiten des 3. Gardetankkorps des Generalmajors Panfilov, das als motorisierte Vorausabteilung der 19. Armee agierte. Frontoberbefehlshaber Rokossovskij beschrieb diesen Vorgang gleichermaßen knapp wie anschaulich mit den Sätzen: „Sie [die Panzersoldaten] durchführen die Gefechtsordnung der langsam vorgehenden Infanterie, umgingen unbemerkt die Stadt mit ihren Panzern auf Waldwegen und griffen sie überraschend aus der Flanke und von hinten an [...] Panfilov übergab die Stadt mit der Beute und den Gefangenen der Infanterie und führte sein Korps weiter nach Osten." 14 Den mit hoher Vormarschgeschwindigkeit vorauseilenden Panzerverbänden der operativ verwendeten Tankkorps oder Tankarmeen, einschließlich ihrer meist aufgesessenen Infanteriebegleitung, blieb unter dem ständigen Tempodruck des Bewegungskrieges in aller Regel gar nicht die Zeit für mehr als das vielgeschilderte hastige „Einsammeln von Uhren". So galt nach dem Zeugnis eines damals am niederschlesischen Frontabschnitt eingesetzten Hauptmanns in den Reihen der Armee die Devise: „Für die erste Staffel die Uhren, für die zweite die Mädchen und für die dritte die Kleider." Der Sowjetoffizier führte seine damaligen Erfahrungen wie folgt aus: „Der ersten Staffel blieb also gerade Zeit, die ,Uhri' und Schmuckstücke einzusammeln. Die zweite Staffel hatte es weniger eilig; ihr blieb genügend Zeit, sich an die Frauen zu machen. Für die dritte Staffel gab's weder Schmuck noch frische Frauen mehr; doch konnte sie als Nachhut, die in der Stadt zurückblieb, in aller Muße ihre Koffer mit Kleidungsstücken und Stoffen vollstopfen." 15 Die Panzerverbände waren, ähnlich der häufig als Sammelbecken der intellektuellen Elite beschriebenen Artillerie, am wenigsten in Übergriffe und Verbrechen an der deutschen Bevölkerung verwickelt. So vermerkte etwa Generaloberst Katukov in seinen Kriegserinnerungen nicht ohne Stolz, daß 13
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Dies geht aus vielen der Fragebogenangaben der Gemeindeschicksalsberichte der Koblenzer Ostdokumentation 1 hervor; ebenso aus zahlreichen Erlebnisberichten der Ostdokumentation 2. Als typische Beispiele für viele andere Berichte siehe die Zeugenberichte Nr. 139, 167 u. 204 in: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 1, Bd. 2. Rokossowski, Soldatenpflicht, S. 408. Michael Koriakoff, Ich wollte Mensch sein, Ölten 1948, S. 94.
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
sein eigener Armeekriegsrat der an der Spitze der 1. Weißrussischen Front vorwegstürmenden 1. Gardetankarmee „sich nicht mit unwürdigem Verhalten unserer Soldaten gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung auseinanderzusetzen [brauchte]". 16 Die Gründe dafür, daß die Hauptverantwortung für die massenhaften Gewalttaten bei der Infanterie lag, sind mannigfaltiger Art. Zunächst war sie schon allein zahlenmäßig die größte Waffengattung. Ihre enorm hohen Opfer, die allein in den letzten 28 Kriegsmonaten mit 86,5 Prozent aller Verluste weit vor allen anderen Heeresgattungen wie den Panzertruppen (6 %) oder der Artillerie (2,2 %) lagen, bedingten eine vergleichsweise hohe Fluktuation im Mannschaftsbestand. Nach den neuesten offiziellen Moskauer Verluststatistiken für den Zweiten Weltkrieg kann von den sowjetischen Infanterieverbänden festgestellt werden, daß im Laufe der letzten 28 Kriegsmonate, d.h. nach dem 1. Januar 1943, rund das fünfeinhalbfache ihres gemittelten etatmäßigen Personalbestandes durch Tod, Verwundung oder auf andere Weise ganz oder zeitweise aus der kämpfenden Truppe ausschieden. Die Vergleichszahlen für die anderen Heeresgattungen lagen hier mit 235 % für die Panzerstreitkräfte, 183 % für die Kavallerie, 93 % für die Flammenwerfer- oder 84 % bzw. 66 % für die Ingenieurtruppen und die Artillerie mit weitem Abstand darunter. 17 Dieser hohe Personaldurchlauf, der den Mannschaftsbestand ganzer Kompanien und Bataillone innerhalb von Wochen fast komplett auswechseln konnte, hatte zur Folge, daß anders als in der Panzertruppe oder bei der Artillerie - sich so gut wie keine über Monate oder Jahre stabilen Kampfgemeinschaften zu entwickeln vermochten, die den Soldaten sowohl psychisch stabilisierten wie auch eine gewisse regulative Wirkung auf den einzelnen ausüben konnten. Lev Kopelev hat auf der Grundlage seiner eigenen Kriegserfahrungen die Unterschiede im Menschen- und Charaktertypus zwischen den verschiedenen Waffengattungen der Roten Armee in der letzten Kriegsphase anschaulich beschrieben, vor allem den Typus des noch jugendlichen, meist aus studentischem oder akademischem Milieu stammenden Waffenspezialisten im niederen Offiziersrang: „Ich traf sie bei der Artillerie, bei den Minenwerfern und den Pionieren, vor allem aber bei der Artillerie. Sie nannten sich bei den Vornamen, Petja, Valja, Ssewa, Mischa, spielten Schach und Schiffeversenken, diskutierten über Filme, Fußball, Majakowskij und Liebe und verstanden es, das Feuer ihrer Batterien genau zu dirigieren [...] Vor den Vorgesetzten nahmen sie schneidig Haltung an; ihr untadeliges Auftreten, die Klarheit ihrer knappen 16 17
Katukow, An der Spitze des Hauptstoßes, S. 357. Grif sekretnosti snjat. Poteri vooruzennych sil SSSR ν vojnach, boevych dejstvijach i voennych konfliktach. Statisticeskoe issledovanie, Moskau 1993, S. 314.
5.2. Das Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung
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Rapporte begeisterte die Berufsoffiziere [...] Bei der Infanterie fand man sie seltener. Dort waren die Leute bunter zusammengewürfelt, die Verluste größer, häufiger wechselte die Zusammensetzung von Mannschaften und Offizieren, fest verwurzelte Kameradschaften konnten sich nicht bilden [...] In der Infanterie ist der Dienst schwerer, sind die Sitten rauher; die jungen Offiziere vergröbern rasch und werden hart." 18 Stärkere Anonymisierung und Bindungslosigkeit, die Tendenz zur schnellen Verrohung und Brutalisierung, dazu die ständige individuelle Verfügungsgewalt über die Waffe sind nur eine Ursache für die Bereitschaft zu gewalttätigen Ausschreitungen. Hinzu kommt die eher negative Personalauslese im Mannschafts- und Offiziersbestand mit vergleichsweise niedrigem Bildungs- und geringem politischem Bewußtseinsstand, was u.a. darin seinen Ausdruck fand, daß in den Schützenverbänden der Anteil der Parteimitglieder nur bei 10 % im Vergleich zu 23 % im Armeedurchschnitt und sogar 31 % bei der Flotte lag. 19 Die besondere Rolle von Straf- und Bewährungseinheiten und die entgegen den geltenden Vorschriften nicht selten praktizierte Übung, befreite Kriegsgefangene und Internierte sofort zu bewaffnen und in die eigenen Verbände einzugliedern, waren eine weitere Ursache. 20 Ein übriges tat die generelle Urlaubssperre für alle Armeeangehörigen während des Krieges sowie das - in der sowjetischen Memoirenliteratur zuweilen zaghaft angedeutete - „Frauenproblem" an der Front. Während besonders seit 1943 für viele Kommandeure, Angehörige von Stäben, höhere Politarbeiter und Spezialisten der rückwärtigen Dienste lose „Frontehen" mit Sanitätsschwestern, Nachrichtenhelferinnen oder Schreibkräften üblich waren, ging die Masse der einfachen Soldaten und unteren Truppenoffiziere in dieser Beziehung leer aus. 21 Eine deutsche Wehrmachtsanalyse von Ende März 1945 sprach in diesem Zusammenhang von „sexuell ausgehungerten und größten Teils primitiv empfindenden Bolschewiken, die deutsche Frauen als Freiwild ihrer Gelüste" betrachteten. 22 Zu alldem kam die für den Infanteriekampf typische physische und psychische Grenzsituation des Soldaten angesichts der Allgegenwart von Tod, Kopelew, Aufbewahren für alle Zeit!, S. 104. John Erickson, The Road to Berlin. Continuing the History of Stalins War with Germany, Boulder/Col. 1983, S. 401. 20 Bokow, Frühjahr des Sieges und der Befreiung, S. 85. Zu den Straf- und Bewährungseinheiten aus Berufskriminellen oder Lagerhäftlingen bei der 2. Weißrussischen Front siehe die Aussagen Lev Kopelevs in: Befreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder, hg. von Heike Sander u. Barbara Johr, München 1992, S. 135 f. Von der eigenmächtigen Aufnahme von befreiten Kriegsgefangenen in die Reihen der 3. Garde-Tankarmee berichtet Mironow, Marschall der Panzertruppen Pawel Semjonowitsch Rybalko, S. 66. 21 Dazu Kopelew, Aufbewahren für alle Zeit!, S. 84 f. Ebenso Merezkow, Im Dienste des Volkes, S. 251-253. ** Die sowjetischen Greuel auf deutschem Boden, wie Anm. 2, Bl. 146 ff. 19
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
Grausamkeit und Verstümmelung um ihn herum. Allein für den Infanteristen besitzt das Töten im modernen Krieg noch im buchstäblichen Sinne den Charakter eines .Handwerks'. Eine sowjetische Kriegsveteranin aus einer im Verband der 65. Armee eingesetzten Infanterieeinheit hat ihre damaligen Erfahrungen als Sanitäterin an vorderster Front in einer Schützenkompanie wie folgt beschrieben: „Im Krieg ist das eine wie das andere schlimm, dies ist das Allerschlimmste [...] Die Flieger haben's schwer, die Panzersoldaten und die Artilleristen - alle haben es schwer, aber gegen die Infanterie ist das alles nichts [...] Gleich nach dem Angriff guckt man besser nicht in die Gesichter, da ist nichts Menschliches drin, es sind irgendwie ganz fremde Gesichter. Ich kann einfach nicht beschreiben, wie das ist. Man meint, man sei unter lauter Geisteskranken. Es ist ein furchtbarer Anblick." 23 Aussagen über eine besonders hohe Beteiligung .asiatischer' oder .mongolischer' Soldaten bei den Gewalttaten, wie von vielen deutschen Zeugen berichtet, ist mit Vorsicht zu begegnen. Analysen der deutschen militärischen Aufklärung haben bereits im Herbst 1944 im Zusammenhang mit den Nemmersdorfer Vorfällen solche Behauptungen mit dem Hinweis in Zweifel gezogen, daß es sich bei den Verbänden der in diesem Falle betroffenen 11. Gardearmee ganz überwiegend um kernrussische Truppenteile handele. Berichtet wird, daß in vielen Fällen die deutsche Bevölkerung besonders bei den politischen Kommissaren Schutz vor Übergriffen gesucht habe, da diese sich „durchweg [...] besser als die übrigen Angehörigen der Truppe [benähmen]". 24 Eine besondere Rolle spielte im Zusammenhang mit den Ausschreitungen der Alkohol in der Armee. Jeder Soldat und Offizier von der vordersten Linie bis zu den Divisionsstäben erhielt während des Krieges, d.h. seit dem August 1941, eine Tagesration von 100 Gramm Wodka, an hohen Feiertagen wie dem 1. Mai oder dem 7. November auch einmal die doppelte Ration. 2 5 Daneben scheinen auch zusätzliche schwarze Kontingente aus Selbstgebranntem Fusel (Samogon) eine nicht unerhebliche Rolle gespielt zu haben. Hinzu kamen vor allem auf deutschem Boden ab Januar 1945 die enormen Beutebestände an Spirituosen aller Art. Obwohl Alkoholexzesse vornehmlich in den letzten Kriegsmonaten in fast allen Truppenteilen vor23 24 25
Swetlana Alexijewitsch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, S. 112. BA-MA, RH 2/2682, Bl. 65. P. N. Knysevskij, Gosudarstvennyj komitet oborony: metody mobilizacii trudovych resursov, in: Voprosy Istorii (VI), 2/1994, S. 64. Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 96; M. Koriakow, Das militärische Klima, in: Liddell-Hart, wie Anm. 11, S. 434-442, hier S. 437. Siehe dazu auch Polewoi, Berlin 896 km, S. 137, wonach der Befehlshaber der 3. GardeTankarmee, Generaloberst Rybalko, es sogar verboten hatte, seinen Soldaten „die Woroschilowschen hundert Gramm vor dem Gefecht zu verabreichen".
5.2. Das Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung
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kamen, war der Alkohol während des Kampfeinsatzes anders als bei den technischen Truppen offenbar vorrangig ein Problem der Infanterie. „Nicht zu trinken, ist hier unmöglich. Alles, was wir hier erleben, ist schwer zu beschreiben; wenn man getrunken hat, ist es einem leichter", heißt es im Feldpostbrief eines Infanteristen aus dem Gebiet Kaluga vom Februar 1945 von der ostpreußischen Front. 2 6 Vor allem das Ausmaß der Vergewaltigungen, sinnlosen Zerstörungen und Einzeltötungen scheint ohne die Wirkung des Alkohols schwer vorstellbar. „Durch Alkoholgenuß und den Anblick geflossenen Blutes steigerte sich fast überall das Wüten der Bolschewiken zu einer regelrechten Mordpsychose [...] Oft wird aus reiner Freude am Blutvergießen auf alles Lebende, was sich zeigt, geschossen", vermerkte eine Analyse aus dem Wehrmachtsführungsstab des Oberkommandos der Wehrmacht vom März 1945. 2 7 Der zeitliche Höhepunkt der sowjetischen Gewalttaten lag zweifellos in den ersten Tagen und Wochen, im Maximalfall etwa bis zu drei Monaten nach der Besetzung durch die Rote Armee. Schwieriger ist es dagegen, Aussagen zu regionalen Schwerpunkten zu treffen. Massentötungen in einzelnen Ortschaften kamen im gesamten Untersuchungsgebiet - dem Einsatzbereich aller vier zwischen Ostseeküste und den Sudeten eingesetzten sowjetischen Fronten - vor. 2 8 Dennoch wird man bei aller gebotenen Vorsicht in Wertung und Gewichtung des vorliegenden Materials die Feststellung wagen können, daß offenbar im Bereich der 2. Weißrussischen Front, im Gebiet der ermländischen Kreise Ostpreußens sowie westlich und südwestlich davon im westpreußischen, Danziger und ostpommerschen Raum, rein zahlenmäßig die meisten Gewalttaten an der deutschen Zivilbevölkerung geschehen sind. Die Gründe dafür sind vielfältiger Art. Zunächst trafen dort die sowjetischen Verbände bei ihrem unerwartet schnellen Vorstoß zur Haffküste bei Elbing auf weitaus mehr einheimische Bevölkerung als andernorts, wo, wie etwa im östlichen Teil Ostpreußens, durch die Räumung vom Herbst des Vorjahres wie durch den Umstand, daß die 3. Panzerarmee dort dem russischen Ansturm in zähem Zurückweichen etwa eine Woche standhielt, viel mehr Bevölkerung im Schutze der Front fliehen konnte. Hinzu kam, daß durch die Abschnürung Ostpreußens vom Weichseldelta im Zuge des Durchbruchs der 5. Gardepanzerarmee bis Tolkemit am 27. Januar 1945 die Fluchtwege vieler Trecks eine andere Richtung nahmen und sich so gerade in den ermländischen Kreisen des westlichen und südwestlichen Ostpreußen Stauungsgebiete mit einer hohen Verdich-
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BA-MA, RH 2 / 2 6 8 1 , Bl. 185.
Die sowjetischen Greuel auf deutschem Boden, wie Anm. 2, Bl. 146 ff. ® Siehe dazu die statistischen Anlagen in: Vertreibung und Vertreibungsverbrechen, vor allem Anlage II: Beispiele für Zusammenstellungen von Schwerpunkten, S. 90-97.
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
tung bildeten, in die ständig neue, auf die Weichselmündung angesetzte Staffeln sowjetischer Verbände hineinstießen. 29 Eine weitere Erklärung könnte in der besonderen Disposition für Rache und Vergeltung gerade in den Reihen der 2. Weißrussischen Front aufgrund ihres im vorigen Kapitel bereits erwähnten hohen Soldatenanteils aus den besetzten Gebieten zu suchen sein - ein Umstand, der sich in der parteioffiziellen .Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion' auffälligerweise nur für diese Heeresgruppe allein erwähnt und mit Zahlen belegt findet.30 Eine gewisse Rolle mögen auch, obgleich die Datenauswerter des Bundesarchivs einen direkten Zusammenhang zwischen der Schwere vorausgegangener Kampfhandlungen und dem Ausmaß von Gewaltverbrechen nicht zu erkennen glaubten, die Verluste gespielt haben, die im Zuge der jeweiligen militärischen Teiloperation zu verzeichnen waren. 31 Auch hier rangierte die 2. Weißrussische Front mehr oder weniger deutlich vor ihren Nachbarfronten. So betrugen bei der ostpreußischen Operation die Tagesverluste von Rokossovskijs Heeresgruppe zwischen dem 14. Januar und dem 10. Februar 1945 fast 5700 Mann an Toten und Verwundeten, während ihr nördlicher Nachbar, die 3. Weißrussische Front Cernjachovskijs etwa 4000 Mann und ihr südlicher, die 1. Weißrussische Front Zukovs, im gleichen Zeitraum knapp 3400 Mann Verluste am Tag zu beklagen hatten. Deutlicher noch fielen die Unterschiede bei der nachfolgenden Ostpommern-Operation aus, wo bei ca. eineinhalbmal so starken Kräften die 2. Weißrussische Front mit über 3200 Mann gegenüber knapp 1500 weit über das Doppelte der Tagesverluste ihres westlichen Nachbarn, der Heeresgruppe Zukovs, aufzuweisen hatte. 32 Eine in vielen Auswertungen und Analysen deutscher militärischer Aufklärungsdienststellen aufgeworfene Frage betraf die unmittelbare Verantwortlichkeit von Moskaus politischer und militärischer Führung für die gewalttätigen Vorkommnisse im Sinne einer direkten Aufforderung oder Anordnung gegenüber den eigenen Streitkräften. In diesem Zusammenhang geistert durch viele Zeugenberichte und auch durch einige Aussagen von Kriegsgefangenen ein ominöser Befehl Stalins, demzufolge die deutsche Bevölkerung samt ihres ganzen Hab und Guts unterschiedslos als 29
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Vgl. dazu Lass, Die Flucht. Ostpreußen 1944/45 mit den beigegebenen Evakuierungskarten im Einbanddeckel. Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion in 6 Bänden, Bd. S, S. 123. Dokumentation von Vertreibungsverbrechen, S. 27. Grif sekretnosti snjat, wie Anm. 17, S. 213-217. Auch westlich der Oder blieb die Heeresgruppe Rokossovskijs im Hinblick auf spektakuläre Gewalttätigkeiten besonders auffällig. Man denke etwa an den Einmarsch ins mecklenburgische Neubrandenburg Ende April 1945.
5.2. Das Verhalten gegenüber der deutschen Bevölkerung
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Freiwild zu betrachten wäre und auch die Vergewaltigung von Frauen ausdrücklich gestattet sei. 33 Jedoch ergaben in diesem Punkt die deutschen Ermittlungen die recht einheitliche Auffassung, daß ein solcher Befehl nirgendwo aufgefunden oder zweifelsfrei ermittelt werden konnte, seine Existenz vielmehr als reichlich unwahrscheinlich zu betrachten sei. Eher müsse das Gegenteil angenommen werden. Eine Reihenvernehmung von 45 gefangengenommenen Rotarmisten aus dem Personalbestand der 5. Stoßund der 8. Gardearmee der 1. Weißrussischen Front, die Anfang Februar 1945 die Gefangenensammelstelle des Armeeoberkommandos 9 durchlaufen hatten, ergab in diesem Punkt ein eindeutiges Bild: „Die Aussagen deuten ohne Ausnahme darauf hin, daß strenge Befehle der Oberen Führung der Roten Armee vorliegen, die Zivilbevölkerung schonend zu behandeln, insbesondere Besitz nicht geflohener Einwohner nicht anzutasten." 34 Auch eine umfangreiche Befragung zahlreicher Nachrichtenträger, darunter Flüchtlinge, Rückzugskämpfer aus dem Feindgebiet und Aufklärer hinter den sowjetischen Linien, in der Zeit vom 20. Januar bis zum 17. März 1945 bestätigte im wesentlichen das Ergebnis der Gefangenenaussagen und kam zu dem Schluß: „Beim Betreten des Reichsgebiets wurden vor den meisten Einheiten der Roten Armee Befehle höherer Kommandostellen für das Verhalten der Rotarmisten in Deutschland verlesen. Sie untersagten Gewalttätigkeiten, duldeten aber Plünderungen in begrenztem Umfang." Jedoch hätten in zahlreichen feststellbaren Fällen Einheitsführer die Bekanntgabe der Befehle einfach unterlassen und eigenmächtig Verhaltensregeln für ihre Soldaten festgelegt. Als Fazit könne festgestellt werden, daß im allgemeinen die Gewalttätigkeit der Rotarmisten in dem Maße wachse, wie sie Gebiete einer ihnen fremden und materiell höherstehenden Kultur beträten: „Ohne besondere Befehle vernichtet der bolschewistische Mensch alles, was seiner sowjetischen Erfahrung unbekannt ist." Selbst der Auslandsnachrichtendienst der SS kam in einem Bericht für die Abteilung Fremde Heere Ost vom Februar 1945 zu dem Resümee, daß „das bestialische Verhalten einzelner Gruppen von Rotarmisten [...] nicht auf den Befehl vorgesetzter Dienststellen zurückzuführen, sondern eine Folge der fanatischen Deutschenhetze in der UdSSR" sei. 35 Nach denselben Erkenntnissen verhielten sich die meisten Offiziere gegenüber dem Treiben ihrer Untergebenen gleichgültig, ja beteiligten sich weit häufiger daran, als daß sie dagegen einschritten. „Zahllose Offiziere", so vermerkte 33
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BA-MA, RH 2/2681, Bl. 56. Vgl. auch die Aussagen in: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 1, S. 61E f. mit Verweis auf zahlreiche Zeugenberichte aus der Ostdokumentation 2 (Erlebnisberichte). BA-MA, RH 2/2681, Bl. 56 und RH 2/2687, Bl. 93 f. Die sowjetischen Greuel auf deutschem Boden, wie Anm. 2; ebenso BA-MA, RH 2/2684, Bl. 60 sowie RH 2/2683, Bl. 13.
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
ein Wehmachtsuntersuchungsbericht, „lassen sich von ihren Ordonanzen Frauen in die Quartiere schleppen oder beteiligen sich selbst an Massenschändungen." Der höchste bei einer Vergewaltigung beobachtete Dienstgrad der Roten Armee war ein Generalmajor im niederschlesischen Herzogswaldau. 36 Das Ausmaß der sinnlosen Gewalt und Zerstörung sowie die Gefahr des Überhandnehmens marodierender Elemente wurde für die Armee alsbald zum Problem. Es zerstörte die militärische Disziplin, vernichtete ungezählte Sachwerte und verletzte auch das moralische Empfinden nicht weniger Rotarmisten. Der schon mehrfach zitiere Oberleutnant Jurij Uspenskij faßte seine diesbezüglichen Gefühle in seiner Tagebucheintragung unter dem 2. Februar 1945 mit den bitteren Worten zusammen: „Ein solches Vorgehen zersetzt die Moral der Soldaten, und die Disziplin wird geschwächt, was zu einer Verminderung der Kampfkraft führt." Voller Empörung fuhr er fort: „Ich hasse Hitler und das Hitler-Deutschland von ganzem Herzen, aber dieser Haß rechtfertigt nicht solches Vorgehen. Wir rächen uns, aber nicht so." 3 7 Massive Probleme mit der Disziplin und dem Alkohol hatte es in der Roten Armee bereits im Frühjahr 1944 in der Westukraine, sodann im Sommer in Rumänien und im Herbst des gleichen Jahres auf jugoslawischem Boden gegeben. 3 8 Dies alles wurde jetzt auf dem Territorium Deutschlands weit in den Schatten gestellt. Nach dem Zeugnis eines damaligen Oberleutnants der 5. Stoßarmee kam es vor, daß sich Einheiten weigerten, die von ihnen besetzten Ortschaften wieder zu verlassen. Auch die Befehlsgebung geriet z.T. aus den Fugen. Während Politchef Bokov verzweifelt Truppenkommandeure zur Ordnung rief, mußte sein Armeebefehlshaber Berzarin einige seiner Offiziere sogar mit gezogener Pistole zusammensuchen und zur Rede stellen. 39 Besonders groteske Formen nahm das ausgesprochene Faible vieler Rotarmisten für deutsche Kleidungsgegenstände, Mützen und Uniformen an. Das führte dazu, daß Russen nach der Plünderung deutscher Häuser in den phantasievollsten Aufmachungen herumliefen, ein toter Sowjetsoldat sogar in einer kompletten Parteiuniform der NSDAP aufgefunden wurde. 4 0 Die oberste politische und militärische Führung konnte all dies nicht ignorieren und sah sich bald schon zu energischem Eingreifen gezwungen.
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Die sowjetischen Greuel auf deutschem Boden, wie Anm. 2, Bl. 152. BA-MA, RH 2/2688, Bl. 51. BA-MA, RH 2/2470, Bl. 102-105. Zu Jugoslawien siehe: Hendrik van Bergh, Genösse Feind. Unveröffentlichte Dokumente über die Rote Armee, Bonn 1962. Boris Ol'sanskij, My prichodim s vostoka, S. 229-232. BA-MA, RH 2/2684, Bl. 164.
5.3. Die Gegenmaßnahmen der Führung
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5.3. Die Gegenmaßnahmen der Führung und die Ausschaltung IP ja Erenburgs im April 1945 Bereits eine Woche nach Beginn der großen Winteroffensive im Weichselbogen war am 19. Januar, als der 3. Weißrussischen Front zwischen Arge und Inster der entscheidende Durchbruch durch die Linien der 3. Panzerarmee gelang und die Fronten Rokossovskijs und Konevs in die ersten Grenzkreise Ostpreußens und Niederschlesiens eindrangen, an die Truppen ein Befehl des Volkskommissariats für Verteidigung ergangen, der zum korrekten Verhalten gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung aufforderte. 1 Jedoch schon drei Tage darauf, am 22. Januar, sah sich das Oberkommando der 2. Weißrussischen Front zum Erlaß eines Sonderbefehls an seine Truppenverbände genötigt, der energische Maßnahmen zur Wiederherstellung der z.T. verlorengegangenen Disziplin ankündigte und allen Kommandeuren bis zu den Zugführern herab bis zum 25. Januar bekanntzugeben war. 2 Der Befehl begann mit einer Bestandsaufnahme der dem Frontkriegsrat bis dahin bekanntgewordenen Verstöße gegen Disziplin und Ordnung und stellte dabei u.a. fest, daß „im Zusammenhang mit der anfallenden großen Beute, insbesondere an Alkohol, in einer Reihe von Einheiten und Verbänden die Truppenführung verlorengegangen ist". Soldaten und selbst Offiziere verlören infolge übermäßigen Alkoholgenusses ihre Truppe, begingen Eigenmächtigkeiten und sogar Plünderungen. Weiter hieß es: „Fälle von wildem Beutemachen wurden beobachtet, Nichtausführung von Befehlen festgestellt. Auf den Panzern der 5. Panzerarmee stehen Weinfässer; Fahrzeuge, die für den Nachschub von Munition eingesetzt sind, werden mit allem möglichen Hausrat, erbeuteten Lebensmitteln, Zivilkleidern usw. beladen. Die Folge ist, daß diese Einheiten der Truppe zur Last werden, ihre Bewegungsfreiheit verringern und die Durchbruchskraft der Panzerverbände herabsetzen." Bedauerlicherweise hörten diese „Gemeinheiten" (bezobrazija) bei den rückwärtigen Einheiten und Dienststellen nicht auf, sondern nähmen dort noch an Umfang zu. Als besonders schändlich wurden die sinnlosen Zerstörungen in deutschen Ortschaften verurteilt, durch die, „ohne zu überlegen, für die Armee wichtigstes Gut, darunter die für die Unterbringung von Truppen, Stäben und Kriegsmaterial notwendigen Unterkünfte", zerstört werde. Die Truppenoffiziere würden leider gegen diese „schändlichen Erscheinungen" (pozornye javlenija) nicht einschreiten, son1
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Befehl Nr. 004 an die Truppen der 1. Ukrainischen Front vom 27. 1. 1945, BA-MA, RH 2/2470, Bl. 32. Vgl. dazu Koriakoff, Ich wollte Mensch sein, S. 83. Im folgenden nach BA-MA, RH 2/2687, Bl. 64 u. 155-158.
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
d e m diese durch ihre Untätigkeit noch fördern. „Rauben, Plündern, Brandstiftung und Massensaufgelage", so hieß es weiter, „nutzen nur dem Feind, der die Disziplin unserer Truppen zu zersetzen und zu untergraben sucht." Gegen alle diese Erscheinungen müsse entschlossen angekämpft werden. Zu diesem Zweck enthielt der zweite Teil des Schriftstücks ein halbes Dutzend Befehle an das Offizierskorps aller Ebenen und Verantwortungsbereiche, „diese für die Rote Armee schändlichen Erscheinungen in allen ihren Unterabteilungen, Einheiten und Verbänden mit glühendem Eisen [kalenym zelezom] auszumerzen". Wörtlich hieß es: „Für Plünderung und Trunksucht sind die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen und mit den höchsten Strafen bis einschließlich der Erschießung zu ahnden." An das gesamte Offizierskorps vom Zugführer aufwärts erging die Aufforderung, „in kürzester Frist eine musterhafte Ordnung und eiserne Disziplin in allen Einheiten und Unterabteilungen herzustellen und alle Kräfte zur Erfüllung der Kampfaufgaben einzusetzen". Für die unmittelbare Kampfzone hatten die Politverwaltung der Front, der Militärstaatsanwalt und die Organe der Abwehrorganisation des Verteidigungsministeriums ,Smers' alle notwendigen Maßnahmen zu treffen. Bei den Truppen des rückwärtigen Frontgebiets war dessen Chef der Politverwaltung für die Sicherstellung der nötigen Ordnung verantwortlich und hatte zusammen mit dem Chef des Intendanturdienstes der Front „rechtzeitig Maßnahmen zur Erfassung und Sicherstellung der Beute zu treffen, Veruntreuung und Verschiebung derselben [...] zu unterbinden". Deutlicher noch als der Befehl von Rokossovskijs Frontkriegsrat an die Soldaten wurde einen Tag später der Militärstaatsanwalt der am rechten Flügel der Front in den ermländischen Kreisen Ostpreußens operierenden 48. Armee, Oberstleutnant Maljarov. In einem Rundschreiben an die Militärstaatsanwälte seiner Divisionen befahl er die Weiterleitung aller „außerordentlichen Vorkommnisse" zwecks Untersuchung an ihn und seine Dienststelle. 3 Maljarov begann sein Schreiben mit dem Hinweis auf den „riesigen materiellen Schaden", den Armeeangehörige dadurch anrichteten, „daß sie in den Städten und Dörfern Ostpreußens aus Mutwillen und Flegelei [iz ozorstva i chuliganstva] wertvolle Sachwerte vernichten, Gebäude und ganze Dörfer abbrennen". Die meisten von ihnen begriffen nicht, „daß alle Sachwerte in Ostpreußen mit dem Augenblick der Inbesitznahme durch die Truppen der Roten Armee als Eigentum des Sowjetstaates in Gewahrsam zu nehmen und zum Abtransport in die UdSSR vorgesehen sind". In diesem Zusammenhang müsse festgestellt werden, daß Brandstiftungen und die Vernichtung von Sachwerten meist „durch Angehörige der rückwärtigen Dienste, hauptsächlich von Personen, die sich in angetrunke3
Hier wie im folgenden nach BA-MA, RH 2/2687, Bl. 86-89 u. 159-163.
5.3. Die Gegenmaßnahmen der Führung
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nem Zustand befinden", geschähen. Anschließend verwies Maljarov auf „Fälle von Waffenanwendung durch Heeresangehörige gegenüber der deutschen Bevölkerung, insbesondere gegenüber Frauen und Greisen," und erwähnte „zahlreiche Fälle von Erschießung Kriegsgefangener [...] unter äußeren Umständen, in denen das Erschießen ohne jede zwingende Notwendigkeit und nur aus Mutwilligkeit erfolgte". In dieser Situation verlangten, so der Armeestaatsanwalt weiter, „die Kriegsräte von Front und Armee [...] von den Dienststellen der Kriegsstaatsanwaltschaft eine entschiedene Ahndung von Trunkenbolden und Personen, die Sachwerte vernichten, Ortschaften und einzelne Häuser niederbrennen, mit der Waffe gegen die deutsche Bevölkerung vorgehen sowie aller anderen, die gegen die Disziplin verstoßen". Die Divisionsstaatsanwälte erhielten die Anweisung, „sich nicht mit der gerichtlichen Aburteilung aufgrund der bei ihnen einlaufenden Anzeigen der Truppenführung zu begnügen, sondern persönlich mit ihrem Untersuchungsrichter zu jeder Tages- und Nachtzeit Ortschaften zu besuchen, in denen ihre nächsten Einheiten untergebracht sind, und dort Brandstifter und sonstige Flegel [chuliganstvujuscie lica] festnehmen zu lassen". Im einzelnen ergingen eine Reihe von Anordnungen. Unter anderem war in Abstimmung mit den Politabteilungen eine umfassende Aufklärungsaktion darüber durchzuführen, „daß die Vernichtung der bei den Deutschen gemachten Beute und das Niederbrennen von Ortschaften eine staatsfeindliche Handlung ist, die streng bestraft wird." Ferner waren alle Heeresangehörigen darüber zu belehren, „daß in der R[oten] A[rmee] Repressalien an der Zivilbevölkerung nicht üblich sind, daß die Waffenanwendung gegenüber Frauen und Greisen verbrecherisch ist und daß die Schuldigen an derartigen Handlungen streng bestraft werden". Gegen „böswillige Brandstifter und Personen, die Güter und andere Wertsachen vernichten", waren unverzüglich „ein bis zwei Schauprozesse" (pokazatel'nye processy) durchzuführen, die allen Militärangehörigen zur Belehrung dienen sollten. Unnachsichtiges Vorgehen gegen die Trunksucht bildete einen weiteren Punkt: „Wer in betrunkenem Zustand seinen Dienst ausübt, ist streng zur Verantwortung zu ziehen und soll dem Kriegstribunal übergeben werden." Es folgten Anordnungen gegen den Mißbrauch von militärischen Nachschub- und Transportmitteln zur Beförderung persönlichen Beuteguts und gegen die Erschießung von Kriegsgefangenen. Im Hinblick auf letzteres sei „den Soldaten klarzumachen, daß die Rote Armee daran interessiert ist, daß die Deutschen sich gefangengeben, da dadurch
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5. Das Verhalten der Armee auf deutschem Boden
das Ende des Krieges beschleunigt und Tausenden von Soldaten und Offizieren der Roten Armee das Leben erhalten bleibt". 4 Wenige Tage später, am 27. Januar, sah sich auch das Oberkommando der 1. Ukrainischen Front auf dem schlesischen Kriegsschauplatz zu einem ähnlichen Befehl über „Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung in den von unseren Truppen befreiten deutschen Gebieten" genötigt. Darin war weniger von Erschießungen und Vergewaltigungen als von ,,sinnlose[n] Brandstiftungen und Zerstörungen von Geschäften, Warenlagern und Häusern" die Rede, d.h. von Vorgängen, die „nichts mehr mit Kampfhandlungen zu tun" hätten. 5 Im wesentlichen zeichnete auch dieser Befehl das von den anderen Frontabschnitten bekannte Bild und tadelte vor allem den gravierenden Disziplinverlust in der Truppe wie das mangelnde Einschreiten des Offizierskorps dagegen. „Die Offiziere", so hieß es, „dulden die Ausplünderung von Wohnungen, Häusern, Geschäften, Warenlagern; einige von ihnen nehmen an solchen Ausschreitungen aktiven Anteil. Viele Armeeangehörige, insbesondere solche der rückwärtigen Dienste und Stäbe, haben ihr soldatisches Aussehen verloren. Von ihrer Truppe abgekommen, fahren sie auf Fahrrädern und in Kutschen umher. Manche tragen Filzhüte und Zylinder als Kopfbedeckung. Pferdefuhrwerke und Autofahrzeuge sind mit dem unmöglichsten Gerümpel, einschließlich Hausrat, überladen [...] Der Verbrauch des in großen Mengen erbeuteten Alkohols führt zu Saufgelagen, Ausschreitungen und Verbrechen." Schwere Versäumnisse hätten sich die für die Sicherung des Beuteguts verantwortlichen Stellen zu Schulden kommen lassen: „Einzelne Vorgesetzte der rückwärtigen Dienste greifen nicht entsprechend durch und zeigen keinerlei Initiative zum Schutz und zur Erhaltung des vom Feinde zurückgelassenen Eigentums. Nach der Besetzung der Stadt Oppeln wurden in den ersten 24 Stunden keine durchgreifenden Maßnahmen zum Schutz des zurückgelassenen Eigentums getroffen. Ein Stadtkommandant wurde nicht ernannt." Entgegen der ausdrücklichen Weisung des Kriegsrates der Front werde „das vom Feind zurückgelassene Vieh nicht zusammengetrieben, sondern einzeln oder in kleinen Gruppen nach vorne gebracht". Auf den Landstraßen bewegten sich „Kolonnen von Diebesbanden", teils deutscher, teils polnischer Herkunft. Eine Überprüfung von Männern im dienstpflichtigen Alter, die sich in Zivilkleidung unkontrolliert auf den Straßen bewegten, finde ebensowenig statt, wie Maßnahmen zur Verhinderung der 4
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Ebd., Bl. 161 f. Allgemein zur Arbeit eines Militärstaatsanwalts der Roten Armee auf der Divisionsebene: Ν. M. Kotljar, Imenem zakona, Moskau 1981. Siehe dort die bezeichnende Episode auf S. 64 ff. Befehl Nr. 0 0 4 vom 27 .1. 1945, wie Anm. 1, Bl. 32 f. Vgl. dazu Duffy, Der Sturm auf das Reich, S. 300.
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Massendiebstähle zu erkennen seien. „Alle diese Vorfälle", so resümierte Marschall Konevs Befehl, „sind nur möglich, weil die Kriegsräte und Einheitsführer nicht energisch genug vorgehen und sehr wenig zur Wiederherstellung der Ordnung in den besetzten deutschen Gebieten beitragen." Unverzüglich gelte es, „allen Offizieren und Mannschaften zur Kenntnis [zu] bringen, daß das gesamte von den Deutschen zurückgelassene Eigentum, einschließlich Hausrat, Volkseigentum ist", des weiteren „Sofortmaßnahmen gegen Brandstiftungen und sinnlose Zerstörungen des vom Feinde zurückgelassenen Eigentums in Geschäften und Läden" einzuleiten. Durchzuführen sei ebenso eine systematische Durchsuchung von Fahrzeugen und Autos. Gerümpel sei abzuladen, „unrechtmäßig angeeignete Gegenstände [...] abzunehmen und an die zuständige Stelle abzuliefern". Armeeangehörige, welche ihr „soldatisches Ansehen" durch allerlei Undiszipliniertheiten schädigten, seien „strengstens zu bestrafen, besonders gefährliche Strolche [...] festzunehmen und den Strafeinheiten zuzuführen". 6 Auch an der ostpreußischen Samlandfront im Bereich der 3. Weißrussischen Front Armeegeneral Cernjachovskijs ergingen im Laufe des Februar ähnliche Befehle zur Wiederherstellung der Disziplin und Stärkung der militärischen Ordnung. Ein Korpsbefehl aus dem Bereich der 39. Armee tadelte schwere Mängel in der Kampfbereitschaft der Divisionen und Regimenter. So habe beispielsweise die Überprüfung eines Regiments der 338. Schützendivision ergeben, daß nur 40 Prozent des Personalbestandes teils unbewaffnet, teils mit Beutewaffen und unbrauchbarer Munition angetreten waren. Fast alle Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften besaßen keine korrekte Uniform mit vollständigen Dienst- und Rangabzeichen mehr. „Die Nachschubfahrzeuge des Regiments", so wörtlich, „sind überladen mit allerlei Beutelappen." Der Politstellvertreter des Regimentskommandeurs besaß ein zweispänniges Fahrzeug zu seiner Verfügung, das mit Beutegut überfrachtet war, der Stabszug zwei bespannte Fahrzeuge allein für das persönliche Gepäck der Offiziere. Als Konsequenz folgte ein Antrag auf disziplinarische Bestrafung des Regimentskommandeurs, seines Stabschefs und des Politstellvertreters „für die verbrecherische, gleichgültige Dienstauffassung, die in der Unlust zur Führung des Regiments zum Ausdruck kam". 7 Ein anderer hoher Truppenoffizier, der Kommandeur der 262. Schützendivision der 39. Armee, monierte in seinem Befehl vom 1. Februar 1945, daß in den Unterabteilungen seiner Division häufig „Offiziere und Mannschaften es vorziehen, deutsch-faschistische Uniformen zu tragen". 6 7
Ebd., Bl. 32. Bei den Kämpfen im Samland erbeutete russische Befehle vorwiegend taktischer Art und sonstige Papiere, in: BA Ost-Dok 8/511, Bl. 15 f.
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Solche Vorkommnisse führten zu „Mißverständnissen und Erschießung eigener Leute, da sie als deutsche Soldaten betrachtet" würden. Unabhängig davon gelte die kategorische Feststellung: „Das eigenmächtige Tragen von deutschen Uniformen ist ein erstes Vergehen gegen die Ehre der russischen Uniform und führt zur Lockerung der Disziplin in der Truppe." 8 Gegen den überhandnehmenden Alkoholmißbrauch wurde offenbar systematisch das Gerücht verbreitet, die Deutschen hätten absichtlich vergiftete Spirituosen zurückgelassen, an deren Genuß bereits zahlreiche Rotarmisten gestorben seien. Das seit längerem schon bestehende Verbot, aus der Gefangenschaft befreite Personen ohne amtliche Überprüfung und nach eigenem Ermessen der Truppenführer zu bewaffnen und in die kämpfenden Verbände einzugliedern, wurde bekräftigt. 9 Auch das NKVD kümmerte sich um die chaotischen Vorgänge an der Front und erstattete Bericht an die Moskauer Führung. Am 17. März 1945 erhielten Stalin und Molotov eine von einem engen Mitarbeiter Innenkommissar Berijas verfertigte Sondermitteilung über die in der deutschen Bevölkerung vorhandene Stimmung sowie über „einige Tatsachen unwürdigen Verhaltens (nedostojnoe povedenie) einzelner Armeeangehöriger". Regelmäßige Säuberungsaktionen der NKVD-Truppen im Hinterland wie z. B. eine große „militärtschekistische" Sicherungsoperation im rückwärtigen Gebiet der 2. Weißrussischen Front vom 26. - 30. März 1945 „¿ur Feststellung und Inhaftierung von versprengten Feindgruppen, Spionen, Diversanten, Banditen, Deserteuren und anderen verbrecherischen Elementen" schlossen sich an. 1 0 Selbst die Militärpresse konnte schließlich das immer offenkundiger werdende Problem des Disziplinverlustes und dem dadurch der Armee wie dem Land insgesamt entstehenden Schaden nicht mehr ignorieren. Auch von ihr waren nunmehr deutliche Gegensignale zu der bis dahin dominierenden Tendenz der Rache- und Vergeltungsparolen gefordert. Das erste auffällige Zeichen in dieser Richtung setzte die .Krasnaja Zvezda' in einem Artikel unter dem Titel „Nase mscenie" (Unsere Rache) vom 9. Februar 1945. Nach einleitenden Hinweisen auf die unvergessenen deutschen Verbrechen gegenüber dem russischen und anderen Völkern wurde das Bemühen deutlich, den Rachegelüsten Einhalt zu gebieten: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, hieß es bei unseren Vorvätern, die die deutschen Eindringlinge schon öfters schlugen. So sagen auch wir heutzutage. Aber man muß diese Redewendung nicht wörtlich nehmen. Wenn die 8
Befehl Nr. 089 (Gen.maj. Usatschew) vom 1. 2. 1945, ebd. Bl. 23. Befehl an die Einheiten der 338. Memeler Schützendivision, ebd., Bl. 23; BA-MA, RH 2/2686, Bl. 9 f. Zur Legende vom vergifteten Alkohol und ähnlichem auch Polewoi, Berlin 896 km, S. 154 f. ' " Archiv novejSej istorii Rossii. torn I. „Osobaja papka" I. V. Stahna. Iz materialov Sekretariate NKVD-MVD SSSR 1944-1953 gg. Katalog dokumentov, Moskau 1994, S. 90,97.
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faschistischen zweibeinigen Bestien", so fuhr die Armeezeitung fort, „es sich herausnahmen, in aller Öffentlichkeit unsere Frauen zu vergewaltigen und zu marodieren, heißt das nicht, daß wir dasselbe tun müssen. Dies war niemals so und kann niemals so sein. Unsere Soldaten werden solches nicht gestatten, aber sie werden sich auch nicht vom Mitleid beherrschen lassen, sondern allein vom Gefühl der persönlichen Würde." Die kompromißlose Einhaltung der militärischen Disziplin sei gerade jetzt angesichts des nahen Sieges unerläßlicher denn je. Jeder wisse „gegenwärtig noch hundertmal besser als früher, daß jede Störung der militärischen Ordnung die siegreiche Armee schwächt" und daß es „ohne Disziplin keine Armee gibt". Abschließend ermahnte die Zeitung die Rotarmisten zur Zurückhaltung: „Unsere Rache ist nicht blind, unser Zorn nicht unvernünftig. In einem Anfall blinder Rache und ungezügelten Zorns ist man fähig, ohne Notwendigkeit eine Fabrikanlage zu zerstören und Maschinen in den dem Feind bereits entrissenen Industrieanlagen unbrauchbar zu machen [...] Eine Fabrik, die gestern noch Flugzeuge oder Geschosse für die deutsche Armee produziert hat, soll morgen oder, wenn möglich, schon heute für uns und für unsere Armee zu arbeiten beginnen." Aus diesem Grund gelte für den Soldaten die Devise, alle materiellen Werte unversehrt zu erhalten und „sich am Feind auf eine Weise zu rächen, die die Stärke der Roten Armee und des Sowjetstaates noch weiter erhöht". 11 Dem folgte ein Aufsatz vom 4. März, der unter der Überschrift „Zakon popedy" (Das Gesetz des Sieges) nochmals zur Erhöhung von Disziplin und Ordnung in der Armee aufrief und betonte, daß „die Interessen des Sieges nicht die geringste Selbstzufriedenheit und den kleinsten Anflug von Hochmut und Überheblichkeit" zuließen. Die allererste Pflicht eines jeden sowjetischen Offiziers sei es, in seinem gesamten militärischen Tun und Handeln den Ruhm und Stolz der Armee zu erhöhen. 12 Zwei Tage darauf meldete sich unter der Titellosung „Vyse bditel'nost' na zakljucitel'noj stadii vojny!" (Mehr Wachsamkeit in der Schlußphase des Krieges!) sogar Moskaus höchster Militärjurist, der Generaloberst der Justiz und Gerichtsvorsitzende in den Schauprozessen der dreißiger Jahre, Vasilij U'lrich, mit der Ermahnung zu Wort, daß „Disziplin und Wachsamkeit stets und in allem die allererste Forderung unserer soldatischen Ehre" darstellten. 13 Ein weiterer Beitrag vom 20. März., überschrieben „Dolg kommunistov-voinov" (Die Pflicht der kommunistischen Kämpfer), behandelte erneut das richtige Verhalten der Sowjetsoldaten auf fremdem Boden und forderte, daß dieses 11
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Nase mscenie, in: KZ, 9 .2. 1945, S. 1. Vgl. dazu: Tschuikow, Gardisten auf dem Weg nach Berlin, S. 379; A. Werth, Rußland im Krieg 1941-1945, S. 646. Zakon pobedy, in: KZ, 4. 3. 1945, S. 1. V. Ul'rich, Vyse bditel'nost' na zakljucitel'noj stadii vojny!, in: KZ, 6. 3. 1945, S. 3.
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so zu sein habe, „daß es dem Feind keinerlei Vorwand noch irgendeine Möglichkeit zu herabsetzender Propaganda bietet". Im besonderen appellierte der Aufsatz an die moralische Vorbildrolle der Kommunisten gegenüber den parteilosen Soldaten als deren Lehrer und erste Ratgeber, sie die Repräsentanten der Partei auf dem Gefechtsfeld - aufzutreten hätten. 14 Am 26. März widmete sich schließlich das Parteiorgan der KPdSU selbst diesem Thema. Unter der Titelüberschrift „Sovetskij celovek za rubezom rodnoj strany" (Der Sowjetmensch außerhalb der Grenzen seines Heimatlandes) begann die .Pravda' ihren Beitrag mit dem Hinweis auf die besondere Rolle der Roten Armee als Retterin der Weltzivilisation und Menschheitskultur sowie als Trägerin der Lenin-Stalinschen Nationalitätenpolitik der Gleichheit, Zusammenarbeit und Freundschaft unter den Völkern. Dies lege dem Sowjetbürger außerhalb der Grenzen seines Landes eine besondere Verantwortung auf, der er sich würdig erweisen müsse. Im Ausland begegneten dem Sowjetbürger für ihn fremde und schwierige Verhältnisse. Oft gerate er in eine Atmosphäre privaten Wohlstands- und Gewinnstrebens, der Spekulation, räuberischer Instinkte, der Prostitution und der verletzenden Mißachtung des Menschen. Jedoch dürfe nicht ein Tropfen dieses Schmutzes den Sowjetmenschen beflecken. In Anspielung auf Stalins historische Rede vom 7. November 1941 und mit einem berühmten Zitat Majakovskijs Schloß das sowjetische Parteiorgan mit den mahnenden Sätzen: „Jeder Sowjetmensch steht im Ausland auf einem wichtigen und verantwortungsvollen Posten. Auf ihn schaut die Welt. Mit Stolz kann der Sowjetmensch im Ausland die Worte des bedeutenden russischen Poeten und großen sowjetischen Patrioten wiederholen: ,Lest denn voll Neid: als Bürger der Sowjetunion bin ich zu achten'." 15 Kurz darauf, Anfang April 1945, besetzte die Rote Armee längs von Oder und Neiße sowie in den am Westufer ausgebauten Brückenköpfen ihre Ausgangspositionen für die letzte entscheidende Operation gegen Deutschland, den Sturm auf Berlin. Damit verließ der Krieg jene Gebiete, deren Übergang in den Besitz Polens seit dem Sommer 1944 vereinbart war, und griff auf das Territorium und die Bevölkerung der künftigen .Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands' (SBZ) über. Gleichzeitig hatte in den Wochen und Monaten nach der Konferenz von Jaita die Sowjetführung eine Wende hinsichtlich ihrer Deutschlandpolitik vollzogen, die späte14
Dolg kommunistov-vojnov, in KZ, 20. 3. 1945, S. 1. Sovetskij celovek za rubezom rodnoj strany, in: Pravda, 26. 3. 1945. Die englischsprachige Version: „The Soviet Citizen Abroad", in: SWN, 29. 3. 1945, S. 4. Bei dem zitierten AbschluBvers handelt es sich um die SchluBzeilen aus Majakovskijs bekanntem Poem „Stichi o sovetskom pasporte" (Verse über den Sowjetpaß) aus dem Jahre 1929. Die deutsche Übersetzung folgt der Ausgabe .Ausgewählte Gedichte' des SWA-Verlags Berlin 1946.
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stens Ende März 1945 mit dem definitiven Abrücken von allen früheren Aufteilungskonzepten sichtbar wurde. 16 Jener sich zwar langsam, aber doch merklich anbahnende propagandistische .Schwerpunktwechsel' auf dem deutschlandpolitischen Feld schien in jenen Frühjahrstagen 1945 einen völlig unberührt gelassen zu haben, der weiter in den eingefahrenen Geleisen seiner gewohnten Kriegspublizistik agierte: Il'ja Erenburg. Noch am 7. und 11. April hatte der Schriftsteller in zwei Aufsätzen für die .Krasnaja Zvezda' unverändert seinen inzwischen fast schon zur Privatsache gewordenen Rachefeldzug gegen Deutschland und die Deutschen fortgesetzt und in der gewohnten Diktion vor jenen mitleiderfüllten „Advokaten des Teufels" im Westen gewarnt, die die Deutschen am liebsten „mit Kandiszucker" zähmen würden. Seine besonders in den letzten Kriegswochen gesteigerte Sorge, Deutschland könne durch allzu große Nachgiebigkeit auf Seiten der Westalliierten im letzten Moment doch noch seiner gerechten Strafe entgehen, erreichte ihren Höhepunkt in einem Artikel in der Armeezeitung vom 11. April 1945 unter dem bezeichnenden Titel „Chvatit!" (Es reicht!). Darin verstieg er sich in seiner Polemik gegen die neuerlichen „Appeaser", die sich bereits wieder um Deutschlands staatliche Zukunft sorgten, zu dem Satz: „Es gibt kein Deutschland. Es gibt nur eine riesige Gaunerbande, die in dem Moment auseinanderrennt, wo die Frage nach ihrer Verantwortung gestellt wird." 17 Sein Zorn richtete sich auch gegen den vermeintlichen Umstand, daß die Deutschen in Ostpreußen und an der Oder fanatisch um jeden Meter Boden kämpften, während sie östlich des Rheins sich scharenweise und nahezu widerstandslos in die westalliierte Gefangenschaft begäben. So habe sich Mannheim den amerikanischen Truppen bezeichnenderweise per Telefon ergeben und die Einnahme Heidelbergs sei einem touristischen Spaziergang gleichgekommen. Auf der verzweifelten Suche nach neuen Schutzherren versuchten die Deutschen, sich bei den Westalliierten anzubiedern, und bäten diese sogar darum, ihre russischen Arbeitssklaven noch für eine Zeit behalten zu dürfen. Beispiele geradezu rührender Hilfeleistung amerikanischer Truppen gegenüber den „armen Deutschen" füllten die Berichterstattung westlicher Korrespondenten und ihrer Blätter vom Kriegsschauplatz. Im Osten hingegen würden die „Faschisten" keine Beschützer finden. Dies 16
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Dazu Emst Deuerlein, Die sowjetische Deutschlandpolitik 1941-1945, in: Grau, Schlesisches Inferno, S. 11-26; Alexander Fischer, Sowjetische Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941-1945, Stuttgart 1975, S. 131-136. Auch: Friedrich Jerchow, Deutschland in der Weltwirtschaft 1944-1947. Alliierte Deutschland- und Reparationspolitik und die Anfange der westdeutschen Außenwirtschaft, Düsseldorf 1973, S. 30. Pered finalom, in: KZ, 7. 4. 1945, S. 4 und Chvatit! in: KZ, 11. 4. 1945, S. 3. Vgl. dazu die englischsprachigen Artikel „You cannot tame them with candy" und „Enough!", in SWN vom 9. 4. und 14. 4. 1945.
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sei der Grund, warum es leichter sei, zehn Städte in Westfalen einzunehmen als nur ein einziges Dorf an der Oder, und deshalb, so Erenburg in seiner gewohnt sarkastischen Art, „haben wir Königsberg nicht mit dem Telefon erobert und müssen für die Einnahme Wiens mehr als nur Fotoapparate einsetzen". 1 8 Dieser Beitrag sollte der letzte seiner Art in der Erenburgschen Kriegspublizistik gewesen sein. Stalin und seine Umgebung sahen mit ihm offenbar die Grenzen des Tolerierbaren überschritten und die Zeit gekommen, ein unmißverständliches Zeichen zu setzen. Erenburgs den Deutschen und ihren vermeintlichen neuen Protektoren im Westen entgegengeschleuderte Parole „Es reicht!" kehrte sich jetzt buchstäblich gegen ihn selbst. Am 14. April, zwei Tage vor dem Beginn der Berliner Operation und mitten hinein in ihre im Zeichen des 75. Geburtstags von Lenin stehende politisch-agitatorische Vorbereitung, veröffentlichte die Pravda Georgij Aleksandrovs Artikel „Tovarisc Erenburg uproscaet" (Genösse Erenburg simplifiziert). Der Beitrag verurteilte des Schriftstellers Aufassungen in zwei zentralen Punkten. Der erste betraf sein Deutschlandbild und verwarf die unterschiedslose Gleichsetzung aller Deutschen als Täter oder Handlanger bei den Nazi-Verbrechen. Es habe schließlich auch Deutsche gegeben, die das Regime bekämpft und Offiziere, die sogar Bomben auf Hitler geworfen hätten. Entschieden zurückgewiesen wurde das Wort von Deutschland als einer „riesigen Gaunerbande" (kolossal'naja sajka). Würde man diese Ansicht teilen, so folge daraus, „daß die gesamte Bevölkerung Deutschlands das Schicksal der Hitlerclique teilen müsse". Der Schriftsteller gebe in diesem Punkt nicht die öffentliche Meinung in der Sowjetunion wieder. Mit dem Verweis auf die Erklärungen der Jaltakonferenz führte Aleksandrov aus: „In Erfüllung ihrer großen Befreiungsmission führt die Rote Armee ihren Kampf zur Liquidierung der Hitlerarmee, des Hitlerschen Staates und der Hitlerregierung. Niemals jedoch bestand oder besteht ihr Ziel darin, das deutsche Volk zu vernichten [...] Das Sowjetvolk hat niemals die deutsche Bevölkerung mit der verbrecherischen faschistischen Clique gleichgesetzt, die Deutschland regiert." Den zweiten Kritikpunkt bildeten Erenburgs bissig-ironische Bemerkungen über die Kriegführung der alliierten Verbündeten im Westen, speziell der in seinem Artikel vom 11. April gefallene Satz, die „unverschämten Deutschen" zeigten zu den Amerikanern geradezu ein Verhalten wie gegenüber einer neutralen Macht. Hier war das politisch-psychologisch höchst empfindliche interalliierte Kriegsbündnis in seinen Grundlagen berührt und in einer in den Augen der Sowjetführung unsensiblen bis taktlosen Weise behandelt worden. Auch in diesem Punkt, so Aleksandrov, täusche sich 18
Chvatit!, in: KZ, 11. 4. 1945, S. 3; dazu Goldberg, Ilya Ehrenburg, S. 210 f.
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Erenburg, indem er die deutschen Versuche, innerhalb des Bündnisses der Sowjetunion mit ihren westlichen Partnern Dissens zu provozieren, sträflich übersehe. 19 Entscheidend war gar nicht, was Erenburg gesagt hatte, sondern der falsche, weil durch die Entwicklung überholte Zeitpunkt sowie die mangelnde Zurückhaltung gegenüber den Verbündeten in der Öffentlichkeit. Die Klage etwa, die er über den „unnatürlichen" Kollaps des deutschen Widerstandes im Westen führte, entsprach völlig dem, was Stalin selbst über das „mehr als seltsame und unverständliche" Verhalten der Deutschen empfand. „Sie schlagen sich", so schrieb er am 7. April 1945 an Präsident Roosevelt, „wie irrsinnig mit den Russen um irgendeine fast unbekannte Bahnstation Zemlenice in der Tschechoslowakei, die ihnen soviel nützt, wie einem Toten heiße Umschläge, während sie gleichzeitig im Zentrum Deutschlands ohne jeden Widerstand so wichtige Städte wie Osnabrück, Mannheim und Kassel aufgeben." 20 Es waren nicht nur die zunehmenden Instinktlosigkeiten gegenüber den eigenen Verbündeten. Erenburgs Rolle war vor allem deshalb ausgespielt, weil seine rückwärtsgewandten Haß- und Racheparolen nicht mehr in eine Lage paßten, in der der militärische Sieg gesichert war, und auf dem Territorium der künftigen eigenen Besatzungszone ein neues, konstruktives und auf die Zukunft gerichtetes Verhältnis zu Deutschland, seiner Bevölkerung und seinen politischen Kräften gefunden werden mußte. Aleksandrovs fraglos von allerhöchster Stelle in Auftrag gegebener Artikel zeigte den Weg in die neue Richtung und wurde schnell überall verbreitet. Schon am 15. April brachten ihn die .Krasnaja Zvezda', wo Leonid Leonov die Stelle Erenburgs als ständiger Kolumnist übernahm, sowie die meisten Frontzeitungen. Am 25. April erschien der Artikel in Übersetzung sogar im .Freien Deutschland', dem Organ des Nationalkomitees .Freies Deutschland'. In der politischen Vorbereitung der bevorstehenden Berliner Operation konzentrierten sich die Politarbeiter aller Stufen von nun an auf den .internationalistischen' Grundzug der historischen Befreiungsmission der Roten Armee, die allen Völkern, das deutsche nunmehr erklärtermaßen eingeschlossen, die Freiheit vom Faschismus bringe. Stalins Satz vom Februar 1942, daß „die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk, wie der deutsche Staat aber bleiben", sowie die Erklärung der Jaltakonferenz, wonach es nicht die Absicht der alliierten Mächte sei, das deutsche Volk zu vernichten, rückten jetzt ins Zentrum der politischen Schulungs- und Auf^
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G. Aleksandrov, Tovarisc Erenburg uproscaet, in: Pravda, 14. 4. 1945 und KZ, 15. 4. 1945, S. 4. Die englischsprachige Version: Ehrenburg is over-simplifying, in: SWN, 16. 4. 1945, S. 2 f. Vgl. Goldberg, wie Anm. 17, S. 212 f. Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941-1945, Nr. 288 (S. 704 f.).
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klärungsarbeit in den Truppenverbänden. Selbst Lenin wurde jetzt in dieser Hinsicht bemüht und der „prinzipielle Unterschied, den wir bei der Einstellung zur Bourgeoisie und zur Arbeiterklasse zu beachten haben", wiederentdeckt. 21 Generalleutnant Bokov, damals als Kriegsratsmitglied der oberste Politchef der als Speerspitze von Zukovs Truppen beim Angriff auf die Reichshauptstadt fungierenden 5. Stoßarmee, berichtete in seinen Erinnerungen anschaulich von der gründlichen Vorbereitung seines Befehlshabers Berzarin auf sein Schlußreferat in der letzten Kriegsratssitzung am Vorabend des Angriffs. Alles war vorbereitet bis auf das entscheidende Leninzitat, das noch fehlte. „Eine halbe Stunde später", so Bokov, „hatten wir das Zitat gefunden, und der Armeeoberbefehlshaber schrieb Lenins Worte in sein Notizbuch". Sie stammten aus den Tagen des Brester Friedens vom März 1918 und lauteten: „Haß gegen die Deutschen, schlage die Deutschen! - das war und ist die Losung des gewöhnlichen, d.h. bürgerlichen Patriotismus. Wir aber sagen: Haß gegen die imperialistischen Räuber, Haß gegen den Kapitalismus, Tod dem Kapitalismus! und gleichzeitig: Lerne beim Deutschen! Bleibe dem brüderlichen Bündnis mit den deutschen Arbeitern treu." 22 Im Aufruf des Kriegsrates der Front an die Truppenverbände wurde die neue Linie der Klassenbrüderlichkeit den Soldaten in ermahnendem Ton nahegebracht: „Der wahre Kämpfer der Roten Armee wird niemals den faschistischen Menschenfressern gleich werden. Nie wird er die Würde eines Sowjetbürgers verlieren und für eine unvernünftige .persönliche Rache' das hauptsächlichste, geheiligte und edle Ziel des Krieges, wofür unser Volk zu den Waffen gegriffen hat, vergessen: die deutsch-faschistische Armee zu zerschlagen und die faschistischen Verbrecher zu bestrafen. Wir rächen uns", so fuhr der Aufruf fort, „nicht am deutschen Volk, das durch die faschistischen Rädelsführer irregeführt und durch die Pest einer menschenhassenden rassistischen Propaganda vergiftet wurde, und wollen ihm helfen, das blutrünstige Ungeheuer des Faschismus abzuwerfen." In einer anderen Passage hieß es unmißverständlich: „Wer eigenmächtig gegenüber der deutschen Bevölkerung handelt und sich ihren Besitz aneignet oder Gewalt anwendet, schadet der Roten Armee und ist wegen Mißachtung eines Befehls des Genossen Stalin zu bestrafen." Eine Sonderdirektive des Hauptquartiers an die vor Berlin stehenden Truppen bekräftigte nochmals die neue Linie und forderte humanes Verhalten nicht nur gegenüber der Zivilbevölkerung im allgemeinen, sondern auch gegenüber den einfachen
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Bokow, Frühjahr des Sieges und der Befreiung, S. 150. Ebd.
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Mitgliedern der NSDAP. 23 An die deutsche Bevölkerung selbst ergingen Aufrufe, den Gerüchten über „bolschewistische Greuel" und massenhafte Verschleppungen nach Sibirien keinen Glauben zu schenken („Die deutsche Zivilbevölkerung braucht sich vor dem Einmarsch der Roten Armee nicht zu fürchten"). Vor allem wurde sie ermahnt, nicht zu fliehen oder irgendwelchen Evakuierungsaufrufen zu folgen („Evakuierung ist Selbstmord!"), sondern in ihren Häusern zu bleiben und ihre Heimatorte nicht zu verlassen („Seid deshalb vernünftig und bleibt ruhig an Ort und Stelle!"). 24 Die propagandistische .Umsteuerung' weg von den Haß- und Vergeltungsparolen Erenburgs zurück zum klassenbrüderlichen Geist des Internationalismus kam für nicht wenige Armeeangehörige zu spät. „Einige Soldaten", so erinnerte sich Generalleutnant Bokov, „konnten sich nur schwer mit der Direktive von Partei und Regierung identifizieren. Deshalb führten die Politarbeiter und Agitatoren mit ihnen individuelle Gespräche und erläuterten ihnen geduldig den Sinn unseres Kampfes in Deutschland." 25 Inwieweit die neue Richtung gegen eine der Truppe in Monaten und Jahren eingeimpfte Tendenz der Rache und Vergeltung noch wirksam werden konnte und im Sinne der Führung das Verhalten der Armee westlich von Oder und Neiße spürbar verändert hat, steht freilich auf einem anderen Blatt. 2 6 Stalin jedenfalls empfing eine Woche nach dem Beginn der Berliner Operation einen mehrseitigen Bericht des NKVD vom 22. April über „das veränderte Verhalten der Truppen der Roten Armee gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen wie gegenüber der Zivilbevölkerung".27
K. F. Telegin, Vojny nescitannye versty, Moskau 1988, S. 401; sowie Bokow, Frühjahr des Sieges und der Befreiung, S. 187 f. 24 Siehe den als Faksimile wiedergegebenen Aufruf „Deutsche!" vom 23. 4. 1945, in: Grau, Schlesisches Inferno, S. 162 f. Vgl. dazu auch F. Ja. Lisicyn, V te groznye gody, Moskau 1985, S. 276 über den Abwurf entsprechender Flugblätter über Berlin. 25 Bokow, Frühjahr des Sieges und der Befreiung, S. 189. 2 ® Vergleichend zu dieser Frage die Studie von Joachim Schultz-Naumann, Mecklenburg 1945, München 1989 und das Görlitzer Tagebuch 1945/46 von Franz Scholz, Würzburg 1976, ebenso das dezidierte Urteil Graus, Schlesisches Inferno, S. 117 f. Dazu zuletzt: Gerhard Keiderling, „Als Befreier unsere Herzen zerbrachen". Zu den Ubergriffen der Sowjetarmee in Berlin 1945, in: Deutschland Archiv (DA), 3/1995, S. 234-243. 27 Archiv novejäej istorii Rossii, wie Anm. 10, S. 102.
6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht 6.1. Die sowjetischen Militärkommandanturen und ihre Aufgaben Am 26. Juli 1944 veröffentlichte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS eine Erklärung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR zum sowjetisch-polnischen Verhältnis. Darin hieß es unter anderem: „Die Sowjetregierung erklärt, daß sie die militärischen Operationen der Roten Armee auf dem Territorium Polens als Operationen auf dem Gebiet eines souveränen, befreundeten und verbündeten Staates betrachtet. Im Zusammenhang damit beabsichtigt die Sowjetregierung nicht, auf dem Territorium Polens eigene Verwaltungsorgane einzurichten; dies hält sie für eine Angelegenheit des polnischen Volkes selbst."1 Das Abkommen zwischen dem .Polnischen Komitee der Nationalen Befreiung' (PKWN) und der Sowjetregierung vom gleichen Tage nahm eine Abgrenzung der gegenseitigen administrativen Befugnisse für die Zeit bis zum Abschluß aller Kampfhandlungen auf dem polnischen Territorium vor. Artikel 1 des Abkommens bestimmte: „In der Zone der militärischen Operationen auf dem Territorium Polens übt der Oberkommandierende der sowjetischen Truppen die oberste Gewalt aus und trägt für die Dauer der Operationen, die zur Erreichung der militärischen Ziele notwendig sind, die Verantwortung für alle die Kriegführung betreffenden Angelegenheiten." Unter dem „Territorium Polens" wurde - vorbehaltlich einer endgültigen Bestätigung nach der Niederlage Deutschlands - das Territorium verstanden, das im geheimgehaltenen Grenzvertrag vom Tag darauf als das Gebiet zwischen der Oder-Neiße-Linie im Westen und der Curzon-Linie im Osten beschrieben worden war. 2 „Auf dem vom Feind befreiten polnischen Territorium", so lautete der Artikel 2 des Vertrages, „setzt das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung gemäß den Gesetzen der Polnischen Republik Verwaltungsorgane ein; es führt die erforderlichen Maßnahmen zur weiteren Organisierung, der Formierung und Ergänzung der polnischen Streitkräfte durch." Weiter hieß es: „Es garantiert dem sowjetischen Oberkommandierenden aktive Mitarbeit der polnischen Verwaltungsorgane bei der Durchführung der militärischen Operationen durch die Rote Armee 1 2
Ursachen und Folgen, Bd. XXI, Dok. 3514b. Zbigniew Kowalski, Powrót Slqska Opolskiego do Polski, Oppeln 1988, S. 22.
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und bei der Befriedigung ihrer notwendigen Bedürfnisse während des Aufenthaltes auf polnischem Territorium." Die Verbindung zwischen dem sowjetischen Oberkommandierenden und dem PKWN war gemäß Artikel 4 durch polnische Militärkommissionen herzustellen, während in der „Zone der nicht unmittelbaren Kriegshandlungen" der Kontakt der polnischen Verwaltungsorgane zum sowjetischen Oberkommando durch Vertreter des PKWN selber unterhalten werden sollte (Artikel 5). „Sobald irgendein Teil des befreiten Territoriums Polens", so bestimmte der folgende Artikel 6, „aufhört, Zone der unmittelbaren militärischen Operationen zu sein, übernimmt das .Polnische Komitee der Nationalen Befreiung' voll und ganz die Leitung aller Angelegenheiten der zivilen Verwaltung." Alle sowjetischen Militärangehörigen auf dem Gebiet Polens unterstanden der Gerichtsbarkeit des sowjetischen Oberkommandos. Dagegen unterlag die Zivilbevölkerung „auch in Fällen, die Vergehen gegen die sowjetischen Truppen betreffen", genauso wie alle Angehörigen der polnischen Streitkräfte den polnischen Kriegsgesetzen, „mit Ausnahme von Vergehen, die in der Zone der militärischen Operationen begangen werden, die der Gerichtsbarkeit des sowjetischen Oberkommandierenden unterstehen" (Artikel 7). In strittigen Fällen war die Frage der zuständigen Gerichtsbarkeit durch ein gegenseitiges Übereinkommen zwischen beiden Seiten zu entscheiden. 3 Der Befehl Nr. 7558 des .Staatlichen Verteidigungskomitees' (Gosudarstvennyj komitet oborony, Abk. GKO) der UdSSR vom 20. Februar 1945 nahm eine genauere Abgrenzung der gegenseitigen administrativen Sphären und Zuständigkeiten vor. Danach lag in einem frontnahen Streifen von 60 bis 100 km Tiefe hinter der Hauptkampflinie die Verantwortung für die Sicherung der öffentlichen Ordnung bei den sowjetischen Frontbefehlshabern und den Vertretern des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKVD). Die dort existierenden polnischen Verwaltungsorgane sollten dem Kommando der Roten Armee und den Organen des NKVD all die Hilfe gewähren, die für die Durchführung der militärischen Aktionen vonnöten war. Im übrigen befreiten Gebiet war allein die .Polnische Provisorische Regierung' mit ihren Verwaltungsorganen zuständig für die Sicherung der öffentlichen Ordnung und den Kampf gegen deutsche Spionageund Diversionstätigkeit. Ebenso gegen „Banditen" und, so wörtlich, „alle feindseligen Handlungen von Elementen, die durch zerstörerische Aktionen gegen die Polnische Provisorische Regierung und die Befreiungsoperationen der Roten Armee in Erscheinung treten". Zur gegenseitigen Abstimmung wurden beiderseits Vertreter und Beauftragte bestimmt, die die stän3
Ursachen und Folgen, Bd. XXI, Dok. 3514c.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
dige Verbindung zwischen den Kriegsräten der sowjetischen Fronten und der polnischen provisorischen Regierung aufrechtzuerhalten hatten. 4 Hauptträger der zeitweiligen sowjetischen Verwaltungstätigkeit waren die in allen größeren Ortschaften, Verkehrsknotenpunkten oder Industrieansiedlungen eingerichteten militärischen Ortskommandanturen, die - je nach Größe und Bedeutung ihrer Residentur und ihres territorialen Zuständigkeitsbereichs - einen Personalbestand zwischen einer Handvoll und einigen Dutzend Soldaten und Offizieren aufwiesen. 5 Die für die Aufgabe von Ortskommandanten vorgesehenen Offiziere wurden nach den Aussagen Generalleutnant Telegins für den Bereich der 1. Weißrussischen Front aus den „sachkundigsten und ideologisch gestähltesten Kommandeuren und Politarbeitern" ausgewählt und in dreitägigen Seminaren auf ihre Aufgabe vorbereitet. Anschließend wurden sie armeeweise über das Besatzungsgebiet verteilt und den Kriegsräten der einzelnen Armeen direkt unterstellt. 6 Im Zusammenhang mit der Einrichtung der ersten Ortskommandanturen auf deutschem Boden in den letzten Januartagen 1945 veröffentlichte die .Krasnaja Zvezda' am 28. Januar einen umfangreichen Artikel unter dem Titel „Der Militärkommandant einer frontnahen Stadt" (Voennyj komendant prifrontovogo goroda), in dem die Aufgaben und Pflichten einer sowjetischen Ortskommandantur ausführlich behandelt wurden. „Der Posten eines Stadtkommandanten einer frontnahen Stadt außerhalb unserer Staatsgrenzen", hieß es darin einleitend, „ist ein wichtiger und verantwortungsreicher Frontposten. Der Kommandant ist verpflichtet, in der Stadt eine vorbildliche, frontmäßige Ordnung aufrechtzuerhalten. Er trägt die Verantwortung für die Erhaltung des hier beschlagnahmten Guts und der Wertgegenstände und hat für eine schnelle Wiederherstellung des normalen Lebens der Stadt zu sorgen, in erster Linie um der R[oten] A[rmee] alle für die erfolgreiche Fortsetzung des Kampfes gegen die Deutschen notwendigen Voraussetzungen zu sichern." Der Kommandant sei, so hieß es weiter, „außerhalb unserer Landesgrenzen der erste Vertreter der militärischen und zivilen Gewalt", was ihm verschiedenartigste Verpflichtungen auferlege: „Den Traditionen der R[ote] A[rmee] entsprechend" erlasse der Kommandant nach seiner Ernennung in der feindlichen Stadt den Befehl Nr. 1. Dieses wichtige Dokument wende sich an die Truppen und die Bevölkerung, lege die Grundaufgaben der R[oten] A[rmee] dem betreffenden 4
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Basmski/Nazarewicz, Sojusz polsko-radziecki a zachodnia granica Polski, Dok. 24. Zur Funktion und Rolle des .Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR' während der Kriegsjahre im allgemeinen siehe A. A. Pecenkin, Gosudarstvennyj komitet oborony ν 1941 godu, in: Otecestvennaja Istorija (Ol), 4-5/1994, S. 126-142. Kowalski, Powrót Slqska, S. 22. Telegin, Voennyj sovet 1-go Belorusskogo fronta ν Vislo-Oderskoj operacii, S. 49.
6.1. Die sowjetischen Militärkommandanturen
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Staat gegenüber und die Pflichten und Verhaltensvorschriften für die Stadtbevölkerung fest. 7 Die vorrangigste Aufgabe der Kommandanturen bestand in der rigorosen Unterbindung feindlicher Agenten- und Diversionstätigkeit. Zu diesem Zweck waren unverzüglich „Maßnahmen zur Beschlagnahmung von Waffen und Rundfunkgeräten bei der Bevölkerung zu ergreifen, damit diese von feindlichen Agenten nicht für Spionage- und Sabotagezwecke ausgenutzt werden". Demselben Zweck diente die möglichst „schnelle und genaue Registrierung der Stadtbevölkerung". Von ihrer Seite mußten, wie von allen Bewohnern des besetzten Gebietes, die Voraussetzungen dafür sichergestellt werden, die dem sowjetischen Oberkommando die erfolgreiche Fortsetzung seiner militärischen Operationen ermöglichten: „Der Kommandant hat in seinem Befehl Nr. 1 dieses kurz und klar darzulegen und mit fester Hand die Erfüllung der durch den Befehl festgelegten Normen sicherzustellen. Die Forderungen der R[oten] A[rmee] , der großen Sieges- und Befreiungsarmee, sind ein eisernes Gesetz, von dem es keine Abweichungen geben kann. Das ist der Sinn dieser ersten Erklärung unseres Kommandanten, die für seine gesamte weitere praktische Tätigkeit bestimmend ist." „Wachsamkeit", so hieß es weiter, „ist eine der wichtigsten Eigenschaften des Kommandanten. Er muß alles daran setzen, um der Tätigkeit von Feindagenten in der Stadt den Boden zu entziehen. Auch die Verteidigung der Stadt zu Lande und in der Luft fällt in seinen Aufgabenbereich. Einwandfreier Wachdienst, engste Zusammenarbeit mit den Kommandeuren der stationierten Einheiten, genaueste Beachtung aller Tarnbestimmungen sind für die Sicherheit der Stadt erforderlich." Des weiteren waren die Kommandanten für die materielle Fürsorge gegenüber den in ihren Frontabschnitt neu eingeführten Truppenverbänden verantwortlich ("Wenn neu eintreffende Armeeangehörige nicht zufriedenstellend mit Essen und Unterkunft versorgt werden, so ist das ein Beweis, daß die Kommandantur nicht auf der Höhe ist"). Ein besonderes Feld bildeten die wirtschaftlichen Aufgaben der Ortskommandanturen. Im Mittelpunkt stand die Verpflichtung, „in kürzester Zeit das vom Feind in der Stadt und der nächsten Umgebung hinterlassene volkswirtschaftlich wichtige Beutegut zu registrieren". Nach der Erfassung dieser Werte müsse unverzüglich ihre schärfste Bewachung zur Sicherung vor Beschädigung und Raub in Angriff genommen werden. Gleichzeitig hätten Wirtschaftsoffiziere [oficery-ekonomisty] sowie Beamte des militärischen Rechnungswesens unverzüglich ein Inventurverzeichnis der Güter aufzunehmen. „Die genaue Erfassung dieser volkswirtschaftlich wichtigen 7
Voennyj komendant prifrontovogo goroda, in: KZ, 28. 1. 1945, S. 1. Deutsche Übersetzung des Artikels in: BA-MA, RH 2/2681, Bl. 202 f.
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Beute wird", hieß es weiter, „zu ihrer richtigen Verwendung und Bewahrung vor barbarischer Verschleuderung und vor Raub beitragen." Die bisherige Erfahrung lehre, daß kein Kommandant seine Forderungen etwa infolge großer Nähe zur Front in irgendeiner Weise mildern oder abschwächen dürfe. Es gelte vielmehr der Grundsatz: „Je näher die betreffende Stadt zur Front liegt, desto strenger müssen alle Forderungen der Disziplin und der militärischen Ordnung eingehalten werden." Abschließend verwies die .Krasnaja Zvezda' auf die besondere Ehre und Verpflichtung, die für einen Offizier der Roten Armee mit der Übernahme einer Ortskommandantur verbunden sei, und führte aus: „Pflicht des Kommandanten ist, diese Ehre zu rechtfertigen, indem in der betreffenden Stadt sofort strengste Disziplin und Ordnung eingeführt, die Erfassung von Beute sichergestellt und alle Sicherheits- und Wachmaßnahmen ergriffen werden. Die Kriegsräte von Fronten und Armeen, unter deren Kontrolle und Leitung die praktische Tätigkeit der Kommandanten erfolgt, müssen ihnen weitgehendste Hilfe bei der Durchführung dieser wichtigen Maßnahmen angedeihen lassen." 8 Neben den schon erwähnten Schulungsmaßnahmen gaben die Kriegsräte der Fronten auch spezielle Instruktionsmaterialien für die Ortskommandanturen ihres Bereichs mit Informationen über ihre Zuständigkeiten und Rechtsbefugnisse heraus. 9 Ein aus dem Bereich der 1. Ukrainischen Front erhaltener Truppenbefehl vom 29. Januar 1945 über die Ernennung eines Ortskommandanten für die niederschlesische 2000-Einwohner-Stadt Köben (Kreis Wohlau) nennt insgesamt sechs hauptsächliche Pflichten, die dem frisch ernannten Stadtkommandanten, einem Gardeoberst, oblagen. Diese bestanden der Reihenfolge nach in: 1. 2. 3. 4.
Aufrechterhaltung der Ordnung in der Stadt, Einführung eines Ordnungsdienstes, Verhütung von Plünderungen, Durchführung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Brände und zum Schutz des staatlichen Eigentums in der Stadt, 5. Räumung der Stadt von allen Truppenteilen, einschließlich der rückwärtigen Dienste, und 6. Ermahnung von Ruhestörern und Plünderern zur Ordnung und Übergabe gemeingefährlicher Personen an die zuständigen militärischen Gerichte.
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Ebd. (dt. Übersetzung), Bl. 203. Telegin, Voennyj sovet, S. 49.
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Für die Durchsetzung seiner exekutiven Aufgaben wurde dem Ortskommandanten von Köben eine Kompanie aus dem motorisierten Schützenbataillon einer mechanisierten Brigade zur Verfügung gestellt.10 In der Regel folgten nach der Bekanntgabe der Übernahme der gesamten exekutiven Gewalt durch den Ortskommandanten in Gestalt des Befehls Nr. 1 mit den nachfolgenden Befehlen Nr. 2 und 3 die ersten konkreten Verwaltungsmaßnahmen gegenüber der zurückgebliebenen Bevölkerung. Diese betrafen vorrangig Evakuierungs- und Räumungsmaßnahmen sowie die Registrierung der männlichen Bevölkerung zu Zwecken der allgemeinen Kontrolle und des Arbeitseinsatzes. Generell wurde bei einem längeren Stehenbleiben der Front in einem Kampfgebiet die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus einem 20 km-Streifen ins Hinterland veranlaßt, wofür die Regimentskommandeure und ihre Politleiter an Ort und Stelle Sorge zu tragen hatten. „Die Zivilbevölkerung", so hieß es in einem Divisionsbefehl aus dem Bereich der 3. Weiß russischen Front in Ostpreußen, „hat sich in die befohlene Richtung zu begeben; dabei ist ein Zwischenaufenthalt in Ortschaften, die weniger als 20 km von der Kampfzone entfernt sind, nicht zu gestatten." Im Laufe der folgenden 48 Stunden war „eine gründliche Säuberung der 20-Kilometer-Zone von Zivilpersonen, Beutefahrzeugen aller Art und dergleichen durchzuführen". Auch hier waren es die Regimentskommandeure, die häufig unter Heranziehung deutscher Arbeitskräfte „für die Säuberung der Wege und Straßen in ihren Abschnitten Sorge zu tragen" hatten. 11 Mitunter kam es auch zu zeitweiligen Evakuierungen, die ganz offenkundig dem Ziel dienten, die verlassenen Häuser und Wohnungen in der Zwischenzeit ungestört zu plündern oder nach Wertgegenständen zu durchsuchen. Zu diesem Zweck wurde die Bevölkerung - wie besonders in Königsberg und einer Reihe anderer ostpreußischer Städte geschehen versammelt und für mehrere Tage oder Wochen in ziellosen Gewaltmärschen durch die Umgebung geführt, um anschließend in ihre völlig ausgeraubten Wohnungen zurückzukehren. 12 Inwieweit hierbei die Orts- oder Stadtteilkommandanten selbst federführend waren oder nur die Anordnungen anderer, unabhängig von ihnen operierender Armeeinstitutionen erfüllten, bleibt unklar. Auch für die Sicherstellung der notwendigsten
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Befehl an die Truppen der Garnison der Stadt Köben Nr. 03 vom 29. Januar 1945, in: BA-MA, RH 2/2470, Bl. 31. 11 Abteilung Rückwärtige Dienste der 262. S.D., Befehl Nr. 020 vom 10. 2. 1945, in: BA, Ost-Dok. 8/511, Bl. 24. 19 Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 2, (=Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. I) Dok. 171 f. (S. 110 u. 118).
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
Lebensbedürfnisse wie die Lebensmittel-, Wasser- und Energieversorgung waren die Kommandanturen verantwortlich und konnten für entsprechende Wiederherstellungsaufgaben deutsche Arbeitskräfte rekrutieren. Generell unterlagen alle Angehörigen der männlichen deutschen Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 50 Jahren, in manchen Fällen auch ältere, der Arbeitspflicht. Diese hatten sich, so der Wortlaut eines erhaltenen Kommandanturbefehls aus der niederschlesischen Stadt Oels vom 12. Februar 1945, „innerhalb 48 Stunden nach Veröffentlichung dieses Befehls bei der Einberufungsstelle [...] zwecks Registrierung und gleichzeitiger Absendung zur Arbeit zu melden". Der Meldepflicht bei den Einberufungsstellen, die sich zumeist in öffentlichen Gebäuden befanden, waren „alle Deutschen und deutschen Staatsangehörigen männlichen Geschlechts" der in Frage kommenden Jahrgänge unterworfen. Bei Nichtbefolgung dieser Anordnung oder nicht rechtzeitigem Erscheinen, so wurde angedroht, „werden die Schuldigen zur Verantwortung gezogen und dem Kriegsgericht übergeben". 13 Einen Anspruch auf Nahrungs- und Lebensmittelzuteilung hatte nur, wer seiner Arbeitspflicht nachkam. Hilfeleistung gegenüber versprengten deutschen Soldaten, die sich häufig auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft an die deutsche Zivilbevölkerung wandten, wurde, vielen Zeugenaussagen nach, mit harten Sanktionen bis hin zum Abbrennen der Häuser geahndet. Auch auf den Besitz oder das Verstecken von Waffen standen strenge Strafen bis hin zur Erschießung. 14 Auf dem Gebiet der Verfolgung und Bestrafung von NS-Funktionären war in der relativ kurzen Zeit der sowjetischen Militärverwaltung und angesichts der Tatsache, daß nur wenige der verantwortlichen Funktionsträger der Partei auf Orts- oder Kreisebene an Ort und Stelle zurückgeblieben waren, ein systematisches Vorgehen nicht zu erkennen. Diesbezüglich hieß es in einem sowjetischen Armeeflugblatt an die deutsche Bevölkerung vom Mai 1945: „Die Rote Armee verfolgt die Naziverbrecher. Die nationalsozialistische Partei wird in den von den Sowjettruppen besetzten Gebieten Deutschlands aufgelöst und ihre Führer, die sich Verbrechen an den freiheitsliebenden Völkern schuldig gemacht haben, werden dem Gericht übergeben. Aber die einfachen Mitglieder der nationalsozialistischen Partei werden, wenn sie sich den Sowjettruppen gegenüber loyal verhalten, nicht verfolgt werden [...] Nur diejenigen, die versuchen, gegen die Rote Armee zu kämpfen, werden nach den Kriegsgesetzen streng und schonungslos bestraft werden."
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Faksimilierter Befehl Nr. 2 vom 12. 2. 1945, in: Grau, Schlesisches Inferno, S. 159. Wilckens, Die große Not, S. 436.
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Anschließend folgte an alle deutschen Bürger die Aufforderung: „Spürt die Kriegsverbrecher und die Nazihenker, die Naziführer, die Gestapoleute, die SS-Banditen, die Diversanten, Terroristen, Spione und faschistischen Agitatoren auf und übergebt sie den Dienststellen der Roten Armee!" Es liege an der deutschen Bevölkerung selbst, „durch friedliche Arbeit und loyales Verhalten gegenüber den Truppen der Roten Armee" zu beweisen, daß sie nichts Gemeinsames mit der „verbrecherischen Hitlerclique" besitze, die sie mit der Verantwortung für die von ihr begangenen Verbrechen an sich zu fesseln versucht habe. 15 Im allgemeinen blieb es jedoch nur bei sporadischen und meist willkürlichen Verhaftungen aufgrund von Anzeigen oder Denunziationen durch Polen, polnische und russische Zwangsarbeiter oder auch durch deutsche Mitbürger. In den meisten Städten und Ortschaften mit fast rein deutscher Bevölkerung wurden von den Ortskommandanturen deutsche Bürgermeister oder Stadtbezirksbeauftragte, oftmals frühere Kommunisten, Sozialdemokraten oder andere „Antifaschisten", eingesetzt. 16 Zumindest in größeren Städten wie Breslau konnten die Beschwerden und Anliegen der Bevölkerung in täglichen Bürgermeisterbesprechungen beim zuständigen Ortskommandanten vorgebracht werden, was nur in manchen Fällen schnelle Abhilfe zur Folge hatte. 17 Eine deutsche Zeugin aus dem pommerschen Köslin schilderte die dortigen Verhältnisse so: „Man meldete z.B. eine Beraubung durch Russen oder Polen in der russischen Kommandantur. Im Laufe eines Vormittags liefen viele solcher Meldungen ein, die zu Protokoll genommen wurden. Gegen Mittag fuhr dann ein Lkw mit sämtlichen Klägern, einem Dolmetscher und einem russischen Offizier kreuz und quer durch die ganze Stadt zu sämtlichen Plätzen und stellte das Recht durch Anordnung wieder her. Später bekam man bei solcher Gelegenheit drei Soldaten mit, die es dann aber meist vorzogen, sich mit den Polen anzufreunden und den Raub zu teilen." 18 Häufig, besonders auf dem Lande, erfüllten die Ortskommandanturen für die deutsche Zivilbevölkerung die Rolle von Schutzinstitutionen gegen Ubergriffe marodierender Soldaten oder plündernder polnischer Milizen. Manche Ortskommandanten, die ihre Sache ernst nahmen, vermochten durch energisches und couragiertes Eingreifen einiges für die Sicherheit der 15
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Faksimilierter Aufruf „An die deutsche Bevölkerung!", in: Grau, Schlesisches Inferno, S. 158. Kowalski, Powrót Sl^ska, S. 24. Zahlreiche Zeugenberichte der Ostdokumentation 1 berichten gleichfalls von der Einsetzung deutscher Bürgermeister durch die russischen Militärbehörden. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 12, Dok. 217 (S. 329). Ebd., Dok. 209 (S. 278).
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Bevölkerung zu leisten. So versuchten in einigen Ortschaften die Kommandanten der zurückgebliebenen Bevölkerung dadurch Schutz zu geben, daß sie sie in unversehrt gebliebenen Wohnvierteln oder Straßenzügen konzentrierten, die durch bewaffnete Patrouillen gesichert wurden. 19 Andere, denen ihre Aufgaben und Pflichten eher gleichgültig waren, beschränkten sich in ihren Aktivitäten auf das Allernotwendigste und überließen hilfesuchende Zivilisten sich selbst. Das Vorgehen - manchmal mit Waffengewalt - gegen die eigenen Armeeangehörigen war für die Ortskommandanten und ihre Mitarbeiter nicht risikolos und setzte zuweilen sogar ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel. Im niederschlesischen Bunzlau z.B. wurde der Adjutant des Ortskommandanten, ein kriegsversehrter Hauptmann, von eigenen Soldaten ermordet und noch im September 1946 fiel ein Oberstleutnant und führendes Mitglied der Ortskommandantur von Oppeln unter den Schüssen unbekannter Täter. 20 Das Verhalten der deutschen Bevölkerung unter der sowjetischen Besatzung wird in vielen russischen Berichten als von ängstlicher Überanpassung bis zu devoter Beflissenheit gegenüber den Anordnungen der Besatzungsmacht gekennzeichnet. Der Schriftsteller Boris Polevoj, damals als Frontkorrespondent der Prawda im Operationsbereich der 1. Ukrainischen Front tätig, berichtete über das Verhalten der Einwohner der oberschlesischen Stadt Kreuzburg, nachdem der sowjetische Stadtkommandant gleich am ersten Tag der Besetzung den Befehl hatte aushängen lassen, alle Rundfunkgeräte und Vervielfältigungsapparate abzuliefern: „Einen Tag darauf türmten sich im Hof der Kommandantur Berge von Schreibmaschinen, sogar Blaupapier wurde abgegeben. Auf den Befehl hin, vorhandene Waffen abzuliefern, brachten die Einwohner außer Revolvern und Jagdgewehren auch altertümliche Pistolen und Vorderlader, die vermutlich schon jahrelang die Arbeitszimmer von Rechtsanwälten oder Doktoren geschmückt hatten. Kurz, nirgends vorläufig eine Spur von Werwölfen, vergifteten Speisen oder Trinkwasser." 21 Deutsche Rückzugskämpfer und Aufklärungstrupps hinter der Front sprachen häufig von einem „vollkommen verstörten und kraftlosen Eindruck" der zurückgebliebenen Menschen. Die bereits überstandenen Erlebnisse und die andauernde Angst vor weiteren Schrecknissen, so der Bericht einer Kampfgruppe, die Mitte Februar 1945 in Niederschlesien hinter den russischen Linien operierte, „haben die Leute völlig willenlos 19
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M. Koriakoff, Ich wollte Mensch sein, S. 96. Vgl. dazu die Verhältnisse in Köslin nach dem Zeugenbericht in: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 12, Dok. 209 (S. 280). Koriakoff, Ich wollte Mensch sein, S. 98 f.; Kowalski, Powrót Slçska, S. 23. Boris Polewoi, Berlin 896 km, S. 154.
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und gleichgültig gemacht". Obgleich das rückwärtige Gebiet der Roten Armee nur höchst dünn besetzt und mangelhaft gesichert sei, habe „der Russe durch seine Greueltaten einen derartigen Schrecken verbreitet, daß diese Besetzung in keiner Weise gestört" werde. 22 Alles in allem beschränkte sich die sowjetische Militärverwaltung in den Gebieten östlich von Oder und Neiße in ihrer rein administrativen Tätigkeit - das nördliche Ostpreußen ausgenommen - auf die lokale Ebene der Kommandanturen, ohne übergeordnete regionale oder zentrale Verwaltungskörperschaften zu bilden. So bestätigt die Beobachtung deutscher Zeugen im wesentlichen die in der eingangs zitierten Erklärung des sowjetischen Außenkommissariats vom 26. Juli 1944 zum Ausdruck gebrachte Absicht. 23 Der Breslauer Domkapitular Johannes Kaps bezeugte sie für den Bereich Schlesiens ausdrücklich mit den Worten: „Das Verhalten der Roten Armee in Schlesien ließ eindeutig erkennen, daß die Russen einen Verwaltungsapparat in diesen Gebieten einzurichten bewußt unterlassen hatten, weil es von Anfang an beschlossen war, diese Gebiete einem sowjetfreundlichen Polen zu überlassen." 24
6.2. Die Arbeit der NKVD-Organe. Kriegsgefangenen-, Internierungs- und Überprüfungslager Mit dem Vormarsch der Roten Armee verlegte auch eine Institution ihre Tätigkeit über die Grenzen des Sowjetstaates hinaus, die seit ihrer Errichtung im Jahre 1934 eine besondere Rolle in der sowjetischen Gesellschaft gespielt hatte: das .Allunions-Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten' (NKVD der UdSSR) unter seinem seit 1939 amtierenden Chef Lavrentij Berija. Bereits mit Kriegsbeginn waren nach einem Erlaß des Rats der Volkskommissare vom 25. Juni 1941 dessen Truppenverbände zusammen mit den Grenztruppen für die Sicherung des Hinterlandes der kämpfenden Truppe zuständig und unterhielten gemäß einem Befehl des .Staatlichen Verteidigungskomitees' (GKO) vom Januar 1942 eigene Garnisonen in allen größeren, vom Feind befreiten Ortschaften. Seit dem April desselben Jahres existierte speziell für diesen Zweck eine gesonderte Verwaltung der Truppen des NKVD, die im Mai 1943 zur .Hauptverwaltung der Truppen des NKVD zum Schutz des Hinterlandes der kämpfenden Armee' aufge-
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Bericht des Majors Hoppe vom 23. 2. 1945, in: Grau, Schlesisches Inferno, S. 76 f. Ursachen und Folgen, wie Anm. 1. J. Kaps, Die Tragödie Schlesiens 1945/46 in Dokumenten, München 1952/53, S. 60.
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wertet wurde. 1 Zu den NKVD-Truppen (russisch: vnutrennie vojska = innere Truppen) gehörten auch Kampfverbände wie die zwischen dem Oktober 1942 und dem Februar 1943 aus sechs Schützendivisionen und einer Reihe von Panzer- und Artillerieabteilungen gebildete 70. Armee, die unmittelbar dem Hauptquartier des .Obersten Befehlshabers', d.h. Stalins, unterstellt war. Vor allem in der Endphase des Krieges nahm sie auch an strategischen Frontoperationen wie in Ostpreußen, Pommern und zuletzt in Berlin teil.2 Neben dem Objektschutz, der Sicherung militärischer Versorgungs- und Kommunikationswege sowie - gemeinsam mit der Gegenspionageorganisation ,Smers' des Verteidigungskommissariats - der Verhinderung feindlicher Sabotage- und Diversionsakte oblag den Truppen des Innenministeriums auch die Aufsicht über die Kriegsgefangenenlager und den Gefangenentransport. 3 Die Kriegsgefangenenlager bildeten nur einen Teil des seit dem Oktober 1934 in der Hauptverwaltung des NKVD für das Lagerwesen (russisch: Glavnoe upravlenie lagerej, Abk. GULAG) zusammengefaßten und verwalteten Lagersystems. Sie gewannen jedoch in der Endphase des Krieges infolge des Anfalls immer größerer Mengen von Gefangenen eine zunehmendere Bedeutung in der Arbeit des Innenkommissariats und seiner bewaffneten Organe. Seine organisatorische Zusammenfassung erhielt dieser Aufgabenbereich in Gestalt einer speziellen .Verwaltung für Kriegsgefangene und Internierte' (russisch: upravlenie po delam voennoplennych i internirovannych, Abk. UPVI), die mit Beginn des Jahres 1945 zur Hauptverwaltung (GUPVI) aufgewertet wurde. Gegen Kriegsende verfügte sie allein im frontnahen Gebiet über ein Lagernetz von gut 170 größeren Aufnahme· und Sammelpunkten für Kriegsgefangene.4 In der Region östlich von Oder und Neiße waren es hauptsächlich zwei Regionen, in denen im Zeitraum zwischen Januar 1945 und der militärischen Kapitulation Deutschlands größere Gefangenenzahlen anfielen: 1. Der ostpreußisch-kurländische Kampfraum mit ca. 200 000-250 000 Kriegsgefangenen, von denen etwa 180 000 Angehörige der Heeresgruppe Kurland erst infolge der deutschen Gesamtkapitulation Anfang Mai 1945 in Gefangenschaft gingen.
Siehe das Stichwort .Vnutrennie vojska', in: Velikaja Otecestvennaja Vojna 1941-1945. Enciklopedija, S. 138. Semidesjataja Armija, ebd., S. 647. Vnutrennie vojska, wie Anm. 1. Stefan Karner, Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte. Ein Zwischenbericht, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZG), 3/1994, S. 447471, hier S. 459; ders., Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956, München 1995. Allgemein zum System der sowjetischen Strafarbeitslager während der Kriegsjahre: Edwin Bacon, The Gulag at War. Stalin's Forced Labour System in the Light of the Archives, New York 1994.
6.2. Die Arbeit der NKVD-Organe
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2. Der ostdeutsch-polnische Kampfraum zwischen Weichsel und Oder, in dem zwischen Januar und April 1945 etwa 800 000 deutsche Soldaten in sowjetische Kriegsgefangenschaft gerieten. 5 Im ostpreußisch-kurländischen Bereich wurden die Gefangenen in 45 größeren Sammellagern konzentriert, wobei die Lager von Königsberg (Kanonenweg) mit ca. 15 000, Insterburg (Georgenburg) mit gut 22 000 und Deutsch-Eylau mit 48 000 - Zivilisten eingeschlossen - die größten der insgesamt 25 auf ostpreußischem Boden darstellten. Etwa 42 000 Kriegsgefangene, d.h. zwischen 16 und 20 Prozent, fanden dabei - teils in den Sammellagern selbst, teils auf den Transportwegen dorthin - den Tod. Knapp 100 000 wurden in das Innere der Sowjetunion transportiert, der Rest verblieb in den Lagern der Region.6 Von den ca. 800 000 Gefangenen des ostdeutsch-polnischen Raumes starben etwa 100 000 vor dem Abtransport in die sowjetischen Lager, d.h. 12 Prozent. Rund 30 000 wurden als arbeitsunfähig entlassen und ca. 70 000 - vorwiegend aus den niederschlesischen Sammellagern von Lauban, Neuhammer und Sagan - polnischem Gewahrsam übergeben. Aus der letzteren Gruppe verstarb bis zum Jahre 1950 mit etwa 15 000 gut jeder fünfte. Insgesamt gingen aus den rund 60 Sammellagern dieser Region ungefähr 600 000 Kriegsgefangene auf den Transport in gut 650 Lager im Inneren Rußlands. Die größte Konzentration von Gefangenen mit der höchsten Sterblichkeitsrate gab es in den niederschlesischen Sammellagern von Breslau-Fünfteichen und Breslau-Hundsfeld, wo allein etwa 300 000 Mann zusammengefaßt waren. Danach folgte der Raum Posen mit über 100 000, Danzig-Westpreußen mit rund 75 000 sowie Ostbrandenburg (Landsberg) mit 60 000 Gefangenen. Pommern und der oberschlesische Raum um Oppeln bildeten mit ca. je 45 000 das Schlußlicht. Als größere Sammelpunkte auf kernpolnischem Territorium kamen die Woiwodschaft Krakau sowie Lublin, Warschau und Lodz mit zusammengenommen gut 150 000 Mann hinzu. 7 Auch aus den beiden Kampfräumen der Kapitulationsphase des Krieges, der Region Berlin-Brandenburg mit 330 000 und dem sächsischböhmischen Raum mit 630 000 Gefangenen ging ein Teil von ca. 250 000 auf dem Transport nach Rußland durch ostdeutsche und polnische Sammellager. Dabei wurden weitere gut 25 000 in den Durchgangslagern des Posener Gebiets sowie auf schlesischem Boden polnischen Bewachungsmannschaften übergeben; ca. 65 000 Gefangene - überwiegend aus der böh5
6 7
Deutsches Rotes Kreuz - Suchdienst, Zur Geschichte der Kriegsgefangenen im Osten. Teil I. Vom Ort der Gefangennahme ins Kriegsgefangenenlager. Für den Dienstgebrauch als Manuskript gedruckt, Bielefeld 1955, S. 91 f. u. 106. Ebd., S. 94-98. Ebd., S. 106-108 u. 111.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
misch-mährischen Region - wurden von den tschechischen Militärbehörden in Gewahrsam genommen. 8 Dem politischen Auftrag des NKVD als der polizeilichen .Faust' der Stalinschen Diktatur näher stand jener Komplex des GULAG-Systems, das der massenhaften Internierung und politischen Überprüfung sowie der Rekrutierung von Zwangsarbeiterkontingenten aus deportierten Bevölkerungsgruppen diente. Die Richtlinien für diesen Aufgabenbereich der NKVDOrgane finden sich in vier zentralen, von Berija persönlich unterzeichneten Befehlen des sowjetischen Innenkommissariats aus dem Zeitraum zwischen Januar und April 1945. 9 Am Anfang stand der Befehl Nr. 0016 vom 11. Januar 1945, der besondere Bevollmächtigte des NKVD für jede der einzelnen Fronten bestimmte. Darunter befanden sich der stellvertretende Innenkommissar und Spezialist des NKVD für Umsiedlungsaktionen, Generaloberst Ivan Serov, für die 1. Weißrussische und der spätere Staatssicherheitsminister der UdSSR, Viktor Abakumov, für die 3. Weißrussische Front. Der Auftrag dieser Bevollmächtigten lautete allgemein, „das Hinterland der kämpfenden Roten Armee vor feindlichen Elementen zu sichern" und im Zuge des eigenen Vormarsches „die notwendigen NKVD-Maßnahmen durchzuführen, die zur Feststellung und Verhaftung von Spionage- und Subversivagenten der deutschen Spionageorgane führen". Des weiteren oblag ihnen die „Feststellung und Verhaftung von Terroristen, Mitgliedern verschiedener feindlicher Organisationen und Banditen, unabhängig von deren Nationalität und Staatsangehörigkeit". Jedem Frontbevollmächtigten standen 150 „erfahrene Tschekisten" zur Seite, außerdem unterstanden ihnen zusätzliche Einheiten der Grenztruppen und des Innenkommissariats. Zu ihren Stellvertretern wurden die Leiter der Abwehrorganisation ,Smers' sowie die Befehlshaber der für die Sicherung des Hinterlandes der jeweiligen Front verantwortlichen NKVDEinheiten bestimmt. Weiter wurde angeordnet, neben den regulären Kriegsgefangenenlagern „zusätzliche Lager zur Aufnahme feindlicher Elemente zur Verfügung zu stellen". 10 Der NKVD-Befehl Nr. 0061 vom 6. Februar 1945 erweiterte die Aufgaben der Frontbevollmächtigten aufgrund der GKO-Verfügung Nr. 7467 vom 3. Februar d.J. im Hinblick auf die Bildung von Arbeitsbataillonen aus 8 9
Ebd., S. 118 f., 122 u. 134 f. Im Folgenden nach Bodo Ritscher, Zur Herausbildung und Organisation des Systems von Speziallagern des NKVD der UdSSR in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands im Jahre 1945, in: DA, 6/1993, S. 723-735. Nikita Petrov, Auftrag und Aufgaben der NKVD-Bevollmächtigten, in: Stalins Willkürjustiz gegen die deutschen Kriegsgefangenen. Dokumentation und Analyse von Günther Wagenlehner, Bonn 1994, S. 58.
6.2. Die Arbeit der NKVD-Organe
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inhaftierten und internierten Deutschen männlichen Geschlechts im Alter bis zu 50 Jahren sowie die Einrichtung von entsprechenden Sammelpunkten zu diesem Zweck. Personen, die nachweislich terroristische oder Diversionsakte begangen hatten, waren an Ort und Stelle zu liquidieren. 11 Eine Kategorisierung der zu inhaftierenden und „operativ-tschekistisch zu behandelnden" Personengruppen nahm der NKVD-Befehl Nr. 00101 vom 22. Februar 1945 vor. Er unterschied streng zwischen Militärpersonen und Zivilisten. In die regulären Kriegsgefangenenlager einzuweisen, waren danach die Kommandeurs- und Mannschaftsdienstgrade der Wehrmacht und der gegen die UdSSR kriegführenden Armeen anderer Länder, ebenso Volkssturmangehörige, Kommandeursdienstgrade von Polizeiformationen, Wachmannschaften von Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie das Militärjustizpersonal. Zivilpersonen - soweit es sich nicht um Staatsbürger der UdSSR handelte - Angehörige anderer feindlicher Organisationen, politische Funtionäre auf Gebiets-, Kreis- und Ortsebene, Bürgermeister, die Chefs großer Wirtschafts- und Verwaltungsorganisationen, dazu Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure sowie „Autoren antisowjetischer Veröffentlichungen und andere feindliche Elemente" waren für die Internierungslager der GUPVI des NKVD bestimmt. Sowjetische Staatsbürger waren dagegen überwiegend in spezielle Überprüfungs- und Aussonderungslager - (russ. proverocno-fil'tracionnye lagerja) - zu überführen. Dies galt grundsätzlich für alle Offiziere der Roten Armee, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, Angehörige der Vlasov-Armee und Sowjetbürger, die während des Krieges Hilfsdienste in der Wehrmacht oder anderen bewaffneten deutschen Organen geleistet hatten. 12 Die gemäß der GKO-Direktive Nr. 7467 in Arbeitsbataillonen zusammengefaßten internierten Deutschen sollten zum Arbeitseinsatz im Dienste der GUPVI herangezogen werden. Alle Kriegsgefangenen und Internierten sowie die Angehörigen der Arbeitsbataillone waren durch die operative Leitung der GUPVI sowie durch andere Verwaltungen des NKVD „operativ-tschekistisch" zu behandeln, die unter den in den Uberprüfungs- und Aussonderungslagern (Filtrationslagern) für sowjetische Staatsbürger ermittelten feindlichen Elemente zu überprüfen. Gegebenenfalls waren Untersuchungsverfahren durchzuführen. In Gefangenschaft geratene Angehörige der Roten Armee oder Soldaten, die längere Zeit eingekesselt waren, hatten die in den Filtrationslagern tätigen Organe der Abwehrorganisation ,Smers' des Verteidigungskommis-
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Ebd., S. 59 u. Ritscher, Zur Herausbildung und Organisation, S. 727. V. N. Zemskov, Κ voprosu o repatriacii sovetskich grazdan 1944-1951 gody, in ISSSR, 4/ 1990, S. 30 f.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
sariats zu überprüfen. Für sowjetische Zivilpersonen waren die entsprechenden territorialen Organe des NKVD zuständig. Von GUPVI-Chef Generalleutnant Krivenko und seinem Stellvertreter Kobulov verlangte der Befehl, „einen strengen Nachweis über die eingelieferten internierten und mobilisierten Deutschen und Personen anderer Nationalität zu führen sowie die informationsdienstliche Bearbeitung dieser Kontingente zu sichern mit dem Ziel, die feindlichen Elemente unter ihnen herauszufinden". Für Zivilpersonen sowjetischer Staatsangehörigkeit hatte der Leiter der zuständigen NKVD-Verwaltung für die Überprüfungs- und Aussonderungslager, Staatssicherheitskommissar Sitikov, dieselbe Arbeit zu organisieren. 13 Im NKVD-Befehl Nr. 00315 vom 18. April 1945 erfolgte in teilweiser Abänderung des Befehls vom 11. Januar eine Präzisierung derjenigen Personengruppen, die „bei der Durchführung tschekistischer Maßnahmen zur Säuberung des Hinterlandes der kämpfenden Truppen der Roten Armee von feindlichen Elementen zu inhaftieren" waren. Der Befehl benannte erstmals konkrete politische Kriterien für die Inhaftierung von Personen deutscher Nationalität wie „aktive Mitglieder der nationalsozialistischen Partei; Führer der faschistischen Jugendorganisationen auf Gebiets-, Stadtund Kreisebene, Angehörige der Gestapo, des SD und anderer deutscher Terrororgane". "Damit Festgenommene an Ort und Stelle in Haft gehalten werden können", so bestimmte der Befehl weiter, „haben die Frontbevollmächtigten des NKVD der UdSSR die notwendigen Gefängnisse und Lager einzurichten", deren Bewachung die Gefangenentransport-Einheiten des NKVD übernahmen. In Abständen von fünf Tagen hatten die Frontbevollmächtigten des NKVD Berija persönlich „die Standortverteilung der an der Front zu schaffenden Gefängnisse und Lager [...] zur Bestätigung vorzulegen". 14 Zu diesem Zeitpunkt, als die Schlußoffensive der Roten Armee sich auf Berlin zubewegte, bestand in den Gebieten östlich von Oder und Lausitzer Neiße bereits ein umfangreicher Komplex von schnell improvisierten Lagern der verschiedensten Kategorien. Anfang Mai, als Deutschland kapitulierte, unterstanden den NKVD-Bevollmächtigten der fünf unmittelbar gegen das Reichsgebiet und den böhmisch-mährischen Raum operierenden Fronten 28 Lager und Gefängnisse, von denen erst zwei westlich von Oder und Neiße auf dem Gebiet der SBZ lagen. Über die größte Anzahl verfügte die 1. Weißrussische Front Marschall Zukovs mit NKVD-Lagern u.a. im Posener Stadtteil St. Lazarus, in Schneidemühl, Schwiebus und in der Landsberger Walter-Flex-Kaserne. Danzig, Graudenz (Haftanstalt) und das 13 14
Ritscher, Zur Herausbildung und Organisation, S. 726 f. Ebd., S. 727 f.
6.2. Die Arbeit der NKVD-Organe
183
große Sammellager von Zichenau (poln. Ciechanów) südlich von Mlawa gehörten zum Bereich der 2. Weißrussischen, Georgenburg unweit von Insterburg, Preußisch-Eylau und das Lager von Rothenstein am Stadtrand von Königsberg zur 3. Weißrussischen Front. Für Oberschlesien und damit den Bereich der 1. Ukrainischen Front sind Oppeln und das Lager in der früheren Heil- und Pflegeanstalt von Tost unweit Groß-Strehlitz zu nennen. Die Versorgung und Verpflegung der Inhaftierten hatte die Hauptverwaltung des NKVD für die rückwärtigen Dienste nach den für Kriegsgefangene geltenden Normen zentral zu organisieren. 15 Ähnlich dem mit der Front nach Westen wandernden militärischen Selbstversorgungssystem der Armeesowchosen und Truppen-Nebenwirtschaften (siehe dazu das folgende Kapitel) wanderte buchstäblich auch das Lagersystem des NKVD mit seinen drei Säulen: Kriegsgefangenen-, Internierungs- und Überprüfungslager im Windschatten der Front nach Westen. Viele jener Speziallager, die nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 auf dem Gebiet der SBZ entstanden, waren z.T. die mit demselben Personal betriebene Fortsetzung früherer Speziallager auf dem Boden Polens oder der deutschen Ostgebiete. So legte z.B. das Speziallager Nr. 1 im Operationsbereich der 1. Weißrussischen Front im Laufe eines halben Jahres den Weg von Warschau-Rembertów über das neumärkische Schwiebus bis nach Mühlberg an der Elbe zurück. Das Lager Nr. 4 wanderte von Landsberg an der Warthe nach Bautzen, während das Schneidemühler Speziallager Nr. 8 seine Fortsetzung in Torgau an der Elbe fand. 16 Die NKVD-Lager waren nach Organisation und Personal schwerlich ein geeignetes Mittel, um im rechtlichen oder moralischen Sinne Schuldige herauszufinden und ihrer Bestrafung zuzuführen. „Sie setzten in den befreiten Ländern die spezifische Form jener terroristischen Politik fort, mit der Stalin das eigene Volk regierte" (Michail Semirjaga). 17 Vor allem in den der politischen Überprüfung dienenden Lagern erschöpften sich nach Aussage vieler deutscher Inhaftierter die Verhöre durch NKVD-Offiziere häufig in pauschalen Anschuldigungen und kollektiven Verdächtigungen oder blieben vage und in der Sache belanglos. Beteuerungen, weder der NSDAP noch einer der ihr angeschlossenen Organisationen angehört zu haben, wurden in aller Regel als unglaubwürdig betrachtet und zurückgewiesen. 18 Letztlich ging es den sowjetischen Sicherheitsbehörden - vor allem in der Anfangsphase der Besetzung - vorrangig um die operative Sicherung der 15 16
17 18
Ebd., S. 724 u. 729 (Befehl Nr. 00461 vom 10. Mai 1945). Ebd., S. 724 f.; ebenso Achim Kilian, Die Mühlberg-Akten im Zusammenhang mit dem System der Speziallager des NKVD der UdSSR, in: DA, 10/1993, S. 1148. Semirjaga, Die Rote Armee in Deutschland im Jahre 1945, S. 206 f. Wilckens, Die große Not, S. 469; Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 1, 2, Dok. 172 (S. 118).
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
Front und ihres Hinterlandes sowie der für die Fronttruppe wichtigen Nachschub- und Verbindungswege. Dagegen war die Ermittlung und juristische Aburteilung von nationalsozialistischen Funktionären und NS-Verbrechern für den Moment eher von nachrangiger Bedeutung. Einen Monat nach der Kapitulation Deutschlands, am 10. Juni 1945, befanden sich in den Überprüfungs- und Aussonderungslagern des NKVD östlich von Oder und Neiße nach den amtlichen Zahlen insgesamt 102 000 deutsche Staatsbürger, von denen erst gut 15 000 politisch überprüft waren. Ein Drittel davon, d.h. ca. 5000, verblieben in Internierungslagern, der Rest wurde entweder in Kriegsgefangenenlager überstellt, zur Zwangsarbeit in Arbeitsbataillone überführt oder - zumeist bei schlechtem Gesundheitszustand - nach Hause entlassen. 19 Die erwähnten Arbeitsbataillone stehen für ein Tätigkeitsfeld des NKVD und seiner Organe, das ein besonders tragisches Kapitel in der Geschichte der deutschen Zivilbevölkerung unter der sowjetischen Militärverwaltung in der Region östlich von Oder und Neiße bildet. Dem NKVD und namentlich seinem Chef Lavrentij Berija oblag gemäß dem geheimen GKO-Befehl Nr. 7467 vom 3. Februar 1945 die Rekrutierung der arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung für den Arbeitseinsatz in der sowjetischen Volkswirtschaft. 20 Schon die beiden Erlasse des GKO vom 16. und 29. Dezember 1944 hatten internierte deutsche Zivilisten zur zwangsweisen Arbeitsleistung für die Sowjetwirtschaft verpflichtet, wobei der letztere vom 29. Dezember die Formierung sogenannter Arbeitsbataillone zu je drei bis fünf Kompanien mit insgesamt 750 bis 1250 Mann je Bataillon verfügt hatte. 21 Der GKOBefehl vom 3. Februar 1945 erweiterte den Kreis der für solche Zwecke mobilisierungsfähigen Personen auf alle zu körperlicher Arbeit wie zum Tragen von Waffen fähigen deutschen Zivilisten männlichen Geschlechts im Alter zwischen 17 und 50 Jahren. 22 Als äußerliche Begründung diente zwar die Notwendigkeit von Maßnahmen zur Verhinderung terroristischer Diversionsakte im Hinterland der Sowjetstreitkräfte. Jedoch handelte es sich bei solchen Mobilisierungsaktionen durch die Organe des NKVD eindeutig um die Organisation sogenannter Reparationsverschleppungen. Dabei ging es um die zwangsweise Verbringung von deutschen Männern und Frauen als Arbeitskräfte oft über Tausende von Kilometern bis in die abgelegensten Regionen der UdSSR im Rahmen der von Moskau erhobenen Reparations19 20
21
22
Petrov, Auftrag und Aufgaben der NKVD-Bevollmächtigten, S. 60. P. N. Knysevskij, Gosudarstvennyj komitet oborony: metody mobilizacii trudovych resursov, in: VI 2/1994, S. 60. Ebd., S. 59 f. Vgl. dazu Karner, Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte, S. 464. Knysevskij, Gosudarstvennyj komitet oborony, S. 60. Siehe auch L. P. Kopalin, Zur Rehabilitierung ausländischer Opfer der sowjetischen Militärjustiz, in: DA, 8/1994, S. 883.
6.2. Die Arbeit der NKVD-Organe
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anspräche gegenüber Deutschland und seinen Kriegsverbündeten. Diese Verschleppungen setzten im Zusammenhang mit dem GKO-Befehl vom 3. Februar 1945, d.h. noch bevor sich Stalin auf der Krimkonferenz von seinen westlichen Verbündeten die formelle Zustimmung dafür hatte geben lassen, in spürbarem Umfang ein, erreichten im Laufe des März ihren Höhepunkt, um schließlich in der zweiten Aprilhälfte gemäß Berijas Befehl Nr. 00315 vom 18. April eingestellt zu werden. 23 Sie stellen die Fortsetzung von systematischen Verschleppungsaktionen dar, die bereits in den Wochen und Monaten zuvor außerhalb des Reichsgebiets, vor allem auf dem Balkan, stattgefunden hatten. Zu deren Abschluß waren erst am 22. Februar 1945 Orden und Auszeichnungen an eine große Zahl von NKVDAngehörigen ergangen, die - so in der internen Mitteilung an Stalin „Operationen zur Mobilisierung und Internierung von Personen deutscher Nationalität auf den Territorien Ungarns, der Tschechoslowakei, Rumäniens, Bulgariens und Jugoslawiens durchgeführt hatten". Stalin, Molotov und Malenkov erhielten zwischen dem 22. Februar und dem 10. April 1945 regelmäßig Berichte des NKVD über den neuesten Stand der Mobilisierungsaktionen im Bereich der vier auf dem Reichsgebiet operierenden Fronten der Roten Armee. 24 Allein in den ersten beiden Monaten des Jahres. 1945 erhielten die Unternehmen der wichtigsten Branchen-Volkskommissariate 140 000 internierte Deutsche als Arbeitskräfte zugewiesen, von denen laut einer GKO-Verfügung vom 21. Februar d.J. allein 57 000 in ukrainische und 18 000 in weißrussische Betriebe kamen. 25 Noch kurz vor Einstellung der Aktion am 16. April 1945 erhielt Stalin persönlich durch das Innenkommissariat eine Aufstellung über die Verteilung von exakt 97 487 arbeitsfähigen Personen auf die verschiedenen Volkskommissariate der UdSSR. 26 Die großräumige Organisation der Deportationen erfolgte auf der Ebene der Fronten, die in ihrer Operationszone jeweils Auffang- und zentral gelegene Sammellager zu diesem Zweck unterhielten und augenscheinlich unter dem Zwang administrativ vorgegebener Rekrutierungszahlen vorgingen. Die größte Zahl von Verschleppungen organisierten mit über 60 000 Personen die NKVD-Organe der 1. Ukrainischen Front aus dem schlesischen Raum, während die 3. Weißrussische Front im vergleichsweise entvölkerten Ostpreußen mit ca. 45 000 Verschleppten das Schlußlicht bildete. Insge23
24
25 26
Ritscher, Zur Herausbildung und Organisation, S. 728. Unter Punkt 5 des Befehls Nr. 00315 vom 18. April hieß es: „Personen, die im Zuge der Säuberung des Hinterlandes der kämpfenden Truppe der Roten Armee festgenommen wurden, dürfen nicht mehr in die UdSSR geschickt werden." Archiv novejäej istorii Rossii.Tom I. „Osobaja papka" I. V. Stalina. Iz materialov Sekretariate NKVD-MVD SSSR 1944-1953 gg. Katalog dokumentov, Moskau 1994, S. 81-97. Knysevskij, Gosudarstvennyj komitet oborony, S. 59 f. Archiv novejSej istorii Rossii.wie Anm. 24, S. 99.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
samt sind 235 Arbeitsbataillone der angegebenen Mannschaftsstärke aus deutschen Zivilinternierten gebildet worden. 27 Viele der nach völlig willkürlichen Maßstäben für den Zweck der Deportation in die UdSSR internierten - unter dem Druck ihres jeweiligen Aufbringungssolls gingen die örtlichen NKVD-Stellen bei ihren Rekrutierungen häufig über die vorgeschriebene Altersgruppe der 17 bis 50-jährigen hinaus - starben bereits an Hungertyphus oder an anderen Infektions- und Mangelkrankheiten auf den langen und beschwerlichen Fußmärschen in die zentralen Sammellager von Insterburg, Graudenz, Landsberg, Posen oder in das polnische Zichenau (Ciechanów). Zehntausende anderer überlebten den dortigen Aufenthalt und den anschließenden, oft mehrwöchigen Bahntransport über mehrere Tausend Kilometer unter teils unmenschlichen Bedingungen ins Innere der Sowjetunion nicht. 28 In der Gesamtbilanz dürfte knapp die Hälfte der insgesamt gut 250 000 Reparationsverschleppten aus den deutschen Ostgebieten - andere ebenfalls deportierte Volksdeutsche Bevölkerungsgruppen aus anderen Regionen sind dabei nicht mitgerechnet - auf dem Transport oder an ihren Zielorten den Tod gefunden haben. Dies ist eine Zahl, die mit deutlich über 100 000 die direkten Gewaltopfer beim Einmarsch der Roten Armee noch übertrifft. 29 Die Einstellung der Deportation deutscher Zivilisten aufgrund des NKVD-Befehls vom 18. April 1945 dürfte nicht zuletzt mit den großen Kriegsgefangenenzahlen zusammenhängen, die kurze Zeit später mit dem Abschluß der Berliner Operation und der Kapitulation Deutschlands anfielen und die allein der 1. Weißrussischen Front Marschall Zukovs zwischen dem 16. April und dem 9. Mai über 250 000 gefangene Wehrmachtsangehörige bescherten. 30 27
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 1, S. 79E-87E; Karner, Die sowjetische Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte, S. 461. 2 ® Über einen zweiwöchigen Fußmarsch von Reparationsverschleppten vom ostpreußischen Mohrungen nach Zichenau berichtet: Herbert Mitzka, Meine Brüder hast du ferne von mir getan. Beitrag zur Geschichte der ostdeutschen „Reparationsdeportierten" von 1945 in der Sowjetunion, Elnhausen 1983, S. 36-62. Einen Verschleppungsmarsch vom Pommerschen Deetz in das Sammellager von Bad Schönfließ mit anschließendem Bahntransport über Schwiebus nach Moskau und Weiterverbringung in die nördliche Uralregion beschreibt: Werner Pfeiffer, Mit 15 in die Hölle. Ein Tatsachenbericht, Bonn 1994, S. 75-107. Auf die mittlerweile große Zahl von publizierten Zeitzeugenerinnerungen, die aus den unterschiedlichsten Regionen von Deportations- und Verschleppungsschicksalen berichten, kann an dieser Stelle nur andeutungsweise hingewiesen werden. 29 Eine etwas höhere Schätzung der Zahl der Deportierten findet sich in: Dokumentation von Vertreibungsverbrechen, S. 33 f. Die Zahl von 250 000 Verschleppten nennt Walter Kuhn, in: Osteuropa-Handbuch Polen, hg. von Werner Markert, Köln-Graz 1959, S. 160. Siehe auch die Zahlen bei Herbert Mitzka, Zur Geschichte der Massendeportationen von Ostdeutschen in die Sowjetunion im Jahre 1945, S. 31 f. 30 Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 290.
6.2. Die Arbeit der NKVD-Organe
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In den Wochen nach Kriegsende verlagerte sich das Lagersystem des NKVD zunehmend aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße auf das Territorium der SBZ. Mit Berijas Befehl Nr. 00780 vom 4. Juli 1945, durch den die Apparate der NKVD-Frontbevollmächtigten der 2. und 3. Weißrussischen sowie der 1. und 4. Ukrainischen Front aufgelöst wurden, fand das System der wandernden NKVD-Lager formell sein Ende. Die .tschekistische' Arbeit auf dem Boden der Sowjetischen Besatzungszone ging ganz auf die entsprechenden Organe der 1. Weißrussischen Front über. Deren bisherigem Frontbevollmächtigten, Generaloberst Serov, wurde offiziell die Funktion eines .Bevollmächtigten des NKVD für die Gruppe der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland' übertragen. 31 Wenngleich für die ersten Monate nach Kriegsende noch eine Reihe von Internierungs- und Gefangenenlagern des sowjetischen Innenkommissariats östlich von Oder und Neiße weiterexistierten, begann damit ein neues Kapitel in der Geschichte des GULAG-Systems außerhalb der Grenzen der Sowjetunion.
6.3. Die wirtschaftliche Behandlung der besetzten Gebiete. Beuteerfassung - Reparationen - Demontagen Ihren Anspruch auf Reparationen als Ausgleich für die enormen Kriegszerstörungen auf ihrem eigenen Territorium hatte die UdSSR bereits im Laufe des Jahres 1943 im Vorfeld der Moskauer Außenministerkonferenz in einer Reihe von Stellungnahmen und offiziösen publizistischen Beiträgen angemeldet. 1 Auf der Konferenz von Jaita akzeptierten die alliierten Mächte prinzipiell den vom sowjetischen Sonderbeauftragten Majskij dort vorgetragenen russischen Reparationsplan. Danach sollte Deutschland, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, seine Reparationsleistungen an die Alliierten nicht in Geld, sondern weitgehend in Naturalien erbringen, wobei die Sowjetunion die Hälfte der Gesamtreparationen im wertmäßigen Umfang von 20 Milliarden Dollar zu beanspruchen hatte. Außerdem besorgte sich Moskau schon damals in Form eines von den Konferenzteilnehmern unterzeichneten Protokolls de facto die interalliierte Zustimmung, im Rahmen der .naturalen' Entschädigung auch deutsche Arbeitskräfte zur Zwangsar-
31 1
Ritscher, Zur Herausbildung und Organisation, S. 724 f. Siehe etwa den Bericht „Germany must make reparations", in: SWN, 4. 9. 1943, S. 4, über einen öffentlichen Vortrag Eugen Vargas in Moskau vom 1. September d.J.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
beit in Rußland heranzuziehen. 2 Der deutschen Bevölkerung gegenüber hat Moskau seine diesbezüglichen Ansprüche offen zum Ausdruck gebracht. So enthielt etwa ein im Mai 1945 im schlesischen Glatz gedrucktes Flugblatt „An die deutsche Bevölkerung!" als Begründung dafür, warum die Rote Armee nach Deutschland gekommen sei, die Absichtserklärung, „von Deutschland nach Maß der Möglichkeit Ersatz für den Schaden zu erheben, den es im Laufe des Krieges anderen Völkern zugefügt hat". Weiter hieß es: „Das ist die allerberechtigste Forderung. Die Deutschen müssen materiell in maximal möglichem Maße das wiederherstellen, was sie selbst in den Jahren des Krieges zerstört haben." 3 Die rechtliche Grundlage für die Aneignung deutschen Besitzes, sowohl auf dem nunmehr als zu Polen gehörig erachteten Territorium der deutschen Ostgebiete wie auch auf dem Gebiet Kernpolens selber, waren in verschiedenen vertraglichen Abmachungen Moskaus mit dem Lubliner Komitee (PKWN) und seinem Nachfolger, der .Polnischen Provisorischen Regierung der Nationalen Einheit' (PTRZN), geregelt worden. Im Abkommen zwischen der Sowjetregierung und dem Lubliner Komitee vom 26. Juli 1944 war in Artikel 9 vereinbart, daß „über die finanziellen und wirtschaftlichen Fragen, die den Aufenthalt der sowjetischen Truppen auf dem Territorium Polens und die die polnischen Streitkräfte auf dem Gebiet der UdSSR betreffen [...], ein gesondertes Abkommen geschlossen wird". 4 Ein ebenso schwieriges wie strittiges Problem bildete der Begriff der von der sowjetischen Seite beanspruchten Kriegsbeute an vormals deutschem Eigentum. Ein Stavka-Befehl vom 9. August 1944 hatte als Beutegüter nur Waffen, Munitionsbestände, Kriegstechnik sowie Intendanturgüter, Treibstoffvorräte, Spezialfahrzeuge und Proviantlager bezeichnet. Nachdem die Krimkonferenz der UdSSR einen Rechtsanspruch auf Reparationsleistungen aus deutschem Sachvermögen zugebilligt hatte, wurde das Problem der Beute und die präzise Bestimmung dessen, was darunter zu verstehen war, zu einem Konfliktpunkt im polnisch-sowjetischen Verhältnis, zumal die polnische Seite die volle Verfügungsgewalt über das deutsche Eigentum auf ihrem Territorium als ein wichtiges Kriterium ihrer staatlichen Souveränität betrachtete. Da Moskau mit dem weiteren Vorrücken seiner Truppen nach Westen nicht bereit war, die Bestimmungen des Befehls vom 9. August 1944 ohne Einschränkung auf die Gebiete bis zur Oder-Neiße-Linie auszudehnen, kam es im Zuge der Moskauer Februarverhandlungen 1945, die vorrangig der Unterrichtung der Polen über die Ergebnisse und Abma2 3
4
Teheran, Jaita, Potsdam, S. 192 f. Vgl. dazu Byrnes, In aller Offenheit, S. 46 f. Faksimilierter Aufruf „An die deutsche Bevölkerung!", in: Grau, Schlesisches Inferno, S. 155 f. Ursachen und Folgen, Bd. XXI, Dok. 3514c.
6.3. Die wirtschaftliche Behandlung der besetzten Gebiete
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chungen der Krimkonferenz dienten, zu einer heftigen Diskussion über diesen Punkt. 5 Obwohl eine völlige Übereinstimmung in dieser Frage zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelang, hatte der Befehl Nr. 7558 des Moskauer .Staatlichen Verteidigungskomitees' (GKO) über die Übergabe der Oder-NeißeGebiete an den polnischen Staat vom 20. Februar 1945 festgelegt, daß „Anlagen, Fabriken und andere Betriebe" unverzüglich in polnische Hand zu übergeben sind. Dabei sollte jedoch eine Reihe von für die Kriegführung nötigen Industriebetrieben - einem Abkommen mit der polnischen Regierung entsprechend - den Bedürfnissen der Roten Armee und der polnischen Streitkräfte dienen. Der Ablieferungspflicht an die UdSSR unterlagen mit Zustimmung der polnischen Regierung nur die für die Bedürfnisse der Kriegführung unverzichtbaren Anlagen, Materialien und Fertigprodukte aus den Betrieben, die im Laufe des Krieges, d.h. nach 1939, von den Deutschen in Polen auf- und ausgebaut worden waren. Darunter fielen auch die Fabriken, die auf jenem deutschen Territorium lagen, das in den Besitz Polens überzugehen bestimmt war. „Der Rückgabe an die UdSSR", so hieß es im GKO-Befehl vom 20. Februar weiter, „unterliegen diejenigen Anlagen und zurückgelassenen Güter, die von den Deutschen aus der UdSSR weggeschafft worden sind, unabhängig davon, ob diese sich gegenwärtig auf deutschem oder polnischem Gebiet befinden. In die Verfügungsgewalt der polnischen Machtorgane gehen alle von den Deutschen erworbenen Bestände an Mehl, Getreide und aller Arten von Fertigprodukten über, soweit diese nicht unmittelbar für die Bedürfnisse der Roten Armee und der polnischen Streitkräfte vonnöten sind." 6 Ein knappe Woche später erfolgte durch die GKO-Verfügung Nr. 7590 vom 25. Februar 1945 die Gründung eines Sonderkomitees beim .Staatlichen Verteidigungskomitee' für die Demontage von Industriegütern auf dem Gebiet Deutschlands und einer Reihe anderer osteuropäischer Länder. Darunter existierten seit dem 21. Februar d.J. gesonderte Demontagekommissionen mit einem Personalstamm von 60-100 Spezialisten auf der Ebene der einzelnen Fronten. 7 Das Territorium Polens und der deutschen Ostgebiete betreffend sicherte die Sowjetregierung ihre Interessen in dieser Frage in einem Abkommen vom 26. März 1945, das für die polnische Seite der Ministerpräsident der provisorischen Regierung, Edward Osóbka-Morawski, und für Moskau der 5
® 7
V. S. Parsadanova, Sovetsko-pol'skie otnosenija 1945-1949, Moskau 1990, S. 67 f. Basmski/Nazarewicz, Sojusz polsko-radziecki, Dok. 24. Knysevskij, Gosudarstvennyj komitet oborony: metody mobilizacii trudovych resursov, S. 59.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
stellvertretende Verteidigungsminister, Nikolaj Bulganin, unterzeichneten. Im Endergebnis gingen einer Aussage von Hilary Mine zufolge auf dem ehemals deutschen Territorium ein Viertel aller Industrieausrüstungen und 6 Prozent des gesamten dortigen Eigentums an die UdSSR über. Jedoch durften nur die von den sowjetischen Befehlsstellen offiziell übergebenen Industrieobjekte als polnisches Staatseigentum betrachtet werden. Auf dem Territorium des früheren Freistaats Danzig wurden einer Übereinkunft vom Mai 1945 gemäß 30 Prozent aller immobilen Werftanlagen der polnischen Seite zugesprochen. Bei den schwimmfähigen Einrichtungen der Häfen von Danzig und Gdingen einigte man sich auf eine paritätische Aufteilung der Schiffsbrücken und Schwimmdocks, wobei jedoch mit fast 212 000 Schiffstonnen eine viermal größere Tonnage an die sowjetische Seite überging. Einer Erklärung Boleslaw Bieruts nach belief sich der wertmäßige Umfang des gesamten an Polen übergegangenen deutschen Besitzes, der anfangs als Kriegsbeute der UdSSR betrachtet wurde, auf 9,5 Milliarden Dollar, wovon 1,75 Milliarden auf Maschinen und Industrieanlagen entfielen. Davon waren bis zur vollen Übergabe aller Eigentumswerte auf dem Boden der neugewonnenen polnischen Territorien im Westen und Norden am 5. Oktober 1945 Anlagen im Wert von 500 Millionen Dollar von sowjetischen Spezialisten demontiert und in die UdSSR verbracht worden. 8 Von besonderer Wichtigkeit waren für Moskau alle Betriebe, die Güter von strategischer Bedeutung für die deutsche Kriegsführung produziert hatten. Dazu gehörten Werke des Krupp-Konzerns für militärische Schiffsausrüstungen und Torpedos unweit des niederschlesischen Waldenburg, ebenso wie feinmechanische Betriebe von marinetechnischer Bedeutung in den pommerschen Städten Damgarten und Greifenberg. Bedeutsam war gleichfalls das für die Funkmeß- und Radarentwicklung wichtige Transformatorenwerk in Freystadt/Niederschlesien, in dem, einem Befehl des Beutegut-Bevollmächtigten der 1. Ukrainischen Front entsprechend, „alle Anlagen demontiert und mitsamt der halbfertigen Produktion, der elektrischen Anlagen, dem Mobiliar und dem Fahrzeugpark abtransportiert" wurden. 9 Wie aus den Befehlen der sowjetischen Frontkriegsräte an ihre Truppen aus den späten Januartagen 1945 zu schließen ist, galt zunächst alles deutsche Eigentum in den Gebieten östlich von Oder und Neiße, einschließlich privater Wertgegenstände und des Hausrats, als Staatseigentum der UdSSR. Unter den im Jahre 1945 von den Beutegut-Organen der Roten Armee in Deutschland requirierten und in die Sowjetunion abtransportier® 9
Parsadanova, Sovetsko-pol'skie otnosenija, S. 69 f. u. 72. P. N. Knyschewskij, Moskaus Beute, München 1995, S. 68 f. Die folgenden Zahlen ebd., S. 40 f.
6.3. Die wirtschaftliche Behandlung der besetzten Gebiete
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ten über 400 000 Eisenbahn-Güterwaggons befanden sich neben vielen zehntausenden Waggons mit Industrieausrüstungen und Rohstoffen gut 73 000 mit Einrichtungs- und Wertgegenständen aus Privatwohnungen, darunter 60 000 Klaviere und andere Musikinstrumente, fast 500 000 Radioapparate und eine knappe Million Möbelstücke. Zahllose deutsche Zeugenberichte bestätigen den Eindruck, daß die sowjetischen Militärbehörden nahezu alles getan haben, „um vor der Auflösung ihrer Kommandanturen in Ostdeutschland und vor Übergabe der Verwaltung an den polnischen Staat aus den deutschen Ostprovinzen an wirtschaftlichen Werten herauszuholen, was noch irgend möglich war". Dabei hätten sie „vom Frühjahr bis zum Herbst 1945 den Abbau wertvoller Industrieeinrichtungen und den Abtransport von Sachgütern mit äußerster Intensität und Beschleunigung betreiben lassen". 10 Ein Zeugenbericht aus dem pommerschen Landkreis Neustettin über die Frühjahrs- und Sommermonate 1945 vermerkte in diesem Zusammenhang: „Der Russe überließ dem Polen nichts. Riesige Viehherden, Pferde und Schafe wurden ostwärts getrieben, sämtliche Maschinen und Ackergeräte abtransportiert. In Neustettin sah ich, wie ganze Lastzüge mit Klavieren oder Betten und Matratzen zur Bahn gebracht wurden. Der russische Kommandant in Dieck sagte mir: ,Er, der Pole, behält [nur] die Erde'." 11 Dasselbe bestätigte im wesentlichen das damalige führende Mitglied des Lubliner Komitees und spätere langjährige Chef des polnischen Staatssicherheitsdienstes, Jakub Berman, in Interviews aus den achtziger Jahren. „Die Sowjets betrachteten", so Berman wörtlich, „die wiedergewonnenen Gebiete [d.h. die deutschen Ostgebiete] als Kriegsbeute und waren der Auffassung, die dort befindlichen Werte gehörten nicht uns, sondern seien deutsches Eigentum, weshalb ihr Anrecht darauf nicht bestritten werden konnte. Sie schufen .Trofejnye Komandy', Beutekommandos, deren vorrangige Aufgabe darin bestand, den Aufbau ihres zerstörten Landes zu unterstützen, indem sie möglichst viel Beute nach Hause schafften." 12 Erheblicher, zumeist privater Wertbesitz ist bereits in den ersten Tagen und Wochen der sowjetischen Besatzung infolge von Plünderungen und Bränden zerstört worden oder durch den den Rotarmisten seit Dezember 1944 gestatteten monatlichen Paketverkehr mit ihren Angehörigen (5 kg für den Soldaten, 10 kg für den Offizier) gewissermaßen .privat' in die
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Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 1 (^Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. I), S. 100E. Ebd., Bd. 2, Dok. 200 (S. 236). Dazu auch der Bericht in Dok. 202 (S 242) aus der gleichen Region. Teresa Torañska, Die da oben. Polnische Stalinisten zum Sprechen gebracht. Aus dem Polnischen von Martin Pollack, Köln 1987, S. 233 f.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
Sowjetunion transferiert worden. Gelegentlich wurde von Armeedienststellen auf Soldatenmärkten oder in speziellen Militärverkaufsstellen (voentorgi) auch Beute- und Plünderungsgut an die eigenen Armeeangehörigen verkauft. 13 Die systematische Erfassung und Sicherung des feindlichen Eigentums staatlicher oder privater Provenienz unterlag den Organen des Beutedienstes (russ. trofejnaja sluzba) der Roten Armee. Dieser war nach der Schlacht von Moskau durch eine Verordnung des Staatlichen Verteidigungskomitees vom März 1942 als „ein stabiler Apparat der Beuteerfassung mit Spezialeinheiten und -einrichtungen" begründet worden. Seit April 1944 bestanden im Intendanturdienst der Fronten und Armeen eigene Beuteabteilungen. Im Januar 1945 wurden bei den Fronten und Armeen die Dienststelle eines Stellvertreters des Chefs der rückwärtigen Dienste für Beuteangelegenheiten geschaffen und in den besetzten Städten und größeren Siedlungen besondere Gehilfen der Ortskommandanten für die Bearbeitung wirtschaftlicher Fragen ernannt. 14 Beim .Staatlichen Verteidigungskomitee' gab es seit dem Frühjahr 1944 ein spezielles Komitee für Beutegut unter dem Vorsitz Marschall Vorosilovs - nach seiner Umorganisation zum .Demontage-Komitee' am 25. Februar 1945 unter Georgij Malenkov - dem defacto eine eigene Beutegut-Hauptverwaltung des Verteidigungskommissariats unter Generalleutnant Fedor Vachitov untergeordnet war. Vachitovs Kommando unterstanden gemäß einer GKO-Verfügung vom 19. April 1944, die den Aufbau der Beutegut-Einheiten an der Front als einer eigenständigen Truppengattung regelte, 39 Sonderbataillone mit einem Personalbestand von ca. 35 000 Mann; ein Umfang, der sich mit dem Näherrücken des Kriegsendes stetig erhöhte. Die Institutionen des Beutedienstes arbeiteten ähnlich den Organen des Sicherheitsdienstes und des NKVD selbständig und unabhängig von den Ortskommandanturen. 15 „Die Organe des Beutedienstes", so schrieb der Chef der rückwärtigen Dienste der 1. Weißrussischen Front, Generalleutnant Antipenko, „haben es im Kriege gelernt, die befreiten Gebiete ökonomisch aufzuklären. Vertreter des Beutedienstes drangen gemeinsam mit den vorderen Truppenteilen in die Städte und Dörfer ein, stellten rechtzeitig Posten auf und sicherten das Beutegut." Daneben erfüllten sie eine ganze Reihe von Nebenaufgaben wie das Löschen von Bränden, das Sprengen erbeuteter Munitionsbestände und die Wiederinbetriebnahme von Elektri13
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Siehe dazu Bulganins .Päckchen-Befehl' vom 20. Dezember 1944 in: BA, Ost-Dok. 8/511, Bl. 14; ebenso: BA-MA, RH 2/2684. Bl. 60. Auch Lev Kopelev, in: Befreier und Befreite, S. 130. Siehe das Stichwort ,Trofejnaja sluzba', in: Velikaja Otecestvennaja Vojna 1941-1945. Enciklopedija, S. 726; Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 289 f. Kowalski, Powrót Slqska Opolskiego do Polski, S. 24.
6.3. Die wirtschaftliche Behandlung der besetzten Gebiete
193
zitätswerken, Mühlen und Wasserversorgungseinrichtungen. 16 Ein Armeebefehl aufgrund einer Weisung des Kriegsrats der 3. Weißrussischen Front in Ostpreußen vom November 1944 beschrieb die Aufgaben der Beuteerfassung auf Armeebene wie folgt: „Der Chef der Versorgung der Armee hat an den Verladebahnhöfen Beutelager zu errichten. Zu diesen Lagern ist das ganze vom Feinde und der örtlichen Bevölkerung zurückgelassene Gut und das landwirtschaftliche Gerät zusammenzufahren. Es ist eine genaue Erfassung und zuverlässige Bewachung des Beutegutes sicherzustellen. Die als Beute anfallenden Industrieunternehmen sind sofort zu erfassen und unter Bewachung zu nehmen. Dem Chef der Versorgung der Armee ist eine kurze Beschreibung des Betriebes zuzuleiten." 17 Ähnliche Bestimmungen wie für gewerbliche Anlagen und Güter galten für die Devisenguthaben, Wertdepots und Edelmetallbestände der Banken und Sparkassen. Diesbezüglich hatte der für das Finanzwesen verantwortliche stellvertretende Verteidigungskommissar Bulganin mit einem Fernschreiben vom 17. Dezember 1944 die Versorgungschefs der Fronten und Armeen angewiesen, „in den Banken und Kreditanstalten Deutschlands und Ungarns in den von der R[oten] A[rmee] besetzten Ortschaften [...] unverzüglich die Wertgegenstände, Geschäftsbücher und Geschäftspapiere unter Bewachung zu nehmen". Zur Zählung und Übergabe der Wertgegenstände von Banken und Kreditanstalten waren bis zu den Divisionen herab Kommissionen einzusetzen, die sich aus je einem Vertreter der Feldkasse der Staatsbank, des Finanzdienstes und der Politabteilung der jeweiligen Divisionen zusammensetzten. „Die Kommission", so hieß es im Befehl Bulganins weiter, „stellt anhand der Geschäftsbücher bzw. durch Vernehmung der am Ort verbliebenen Angestellten fest, ob alle Wertgegenstände vorhanden sind und ob nicht ein Teil derselben an anderen Orten untergebracht ist. In letzterem Falle sind Maßnahmen zur Beschlagnahme aller Wertgegenstände zu ergreifen." Die Ergebnisse der Werterhebung waren aktenkundig zu machen und Verzeichnisse gemäß den Vorschriften der Staatsbank in vierfacher Ausfertigung herzustellen. Die beschlagnahmten Wertgegenstände mußten spätestens nach Ablauf von zwei Tagen der Divisionsfeldkasse bzw. der Abteilung der Staatsbank in der jeweiligen Armee abgeliefert werden, wobei eine Abschrift der Beschlagnahmungsakte der Finanzabteilung der Armee zuzuleiten war. 18 Solange der Krieg noch im Gang war, konzentrierte sich Moskaus Interesse unter den Industrieunternehmen besonders auf jene Betriebe der Leichtindustrie, die direkt und ohne größere Instandsetzungsarbeiten für 16 17 18
Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 395f. BA-MA, RH 2/2470, Bl. 53. BA-MA, RH 2 /2681, Bl. 195.
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die Bedürfnisse der Front produzieren konnten, insbesondere Mühlen, Großbäckereien und Teigwarenfabriken. „Wir [...] nutzten aber auch jede Möglichkeit", erinnerte sich Generalleutnant Antipenko, „um in Textil- und Lederfabriken die Produktion wieder in Gang zu bringen, denn die Front brauchte Uniformen, Fußbekleidung und anderes mehr. Die Besitzer dieser Betriebe waren fast alle geflohen, aber viele Arbeiter waren geblieben. Wo es an Arbeitskräften mangelte, wurden repatriierte Sowjetbürger vor ihrer Heimreise hinzugezogen." 19 Bis zum 18. März 1945 hatte die 1. Weißrussische Front, nach einem Bericht ihres Kriegsratsmitglieds, Generalleutnant Telegin, an das Moskauer Staatsverteidigungskomitee vom gleichen Tage, allein im Bereich der Woiwodschaft Posen durch ihre Ortskommandanturen insgesamt 1264 Betriebe in polnische Hand übergeben. 20 Bei den schwerindustriellen Betrieben gestaltete sich die Situation schwieriger, da sich häufig russische und polnische Ansprüche auf dasselbe Objekt gegenüberstanden. Oft blieb den Polen an Ausrüstungen nur, was die sowjetischen Beutekommandos übrig gelassen hatten. 21 In einigen Fällen kam es zu Interventionen der polnischen Kommunisten in Moskau. „Wegen der Werke in Police [Pölitz] bei Szczecin [Stettin]", erinnerte sich Berman später, „fuhr ich persönlich zu Molotov. Das Werk [die Treibstofffabrik der norddeutschen Hydrierwerke] war groß genug, um eine Auseinandersetzung zu rechtfertigen, und es gelang, seine Demontage zu verhindern. Auch Mine intervenierte oft in Moskau. Unser Argument, daß wir ein in Trümmern liegendes Land aufbauen müßten, stieß bei Molotov und Stalin im allgemeinen auf Verständnis." 22 Auch für das ziemlich unversehrt in sowjetische Hand gefallene oberschlesische Industrierevier galten offensichtlich Sonderbestimmungen, die dafür sorgen sollten, es möglichst umgehend der polnischen Industrieproduktion nutzbar zu machen. 23 Hinsichtlich der Demontagen bestätigen Bermans Aussagen die Schilderungen und Eindrücke vieler deutscher Zeugenberichte über die enormen Verluste an wertvollem Gerät und Ausrüstungen durch unsachgemäßen Abbau und Transport: „In der Praxis [...] zeigte sich, daß damit nicht viel zu gewinnen war, denn die Fabriken wurden in Eile demontiert, ohne Sorgfalt und besondere Fachkenntnis, und beim Abtransport unter völlig ungeeigneten Bedingungen wurde vieles unbrauchbar gemacht oder ging überhaupt ver19 20
21 22 23
Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 286. Dokumenty i materialy po istorii sovetsko-pol'skich otnosenij, Bd. VIII, Dok. 223 (S. 381383). Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 10, Bd. 2, Dok. 191 (S. 203). Torañska, Die da oben, S. 234. Vgl. Konew, Das Jahr fünfundvierzig, S. 42 f. Dazu auch: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 10, Bd. I, 2, Dok. 214.
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loren. Darauf stützten wir unsere Intervention bei den sowjetischen Behörden." 24 Generalleutnant Antipenko bestätigte die großen Probleme im besonderen bei den Industriedemontagen: „Es fehlten Facharbeiter für die Demontagearbeiten. Auf diese Arbeiten waren die Beuteorgane nicht vorbereitet, und die zivilen Verwaltungen schalteten sich zu langsam ein. Im Endergebnis blieb die Hauptarbeit fast bis zum Kriegsende an den rückwärtigen Diensten der Front und der Armeen hängen." Tatsächlich bestand ein Großteil des Beuteaufkommens aus Schrott: „Meist wurden die staatlichen Vorgaben für die Schrottbereitstellung und den -abtransport erfüllt und übererfüllt. Die Beuteerfassungsorgane haben Schrott im Werte von fast 2 Milliarden Rubel in die metallurgischen Werke transportieren lassen." 25 Es kann angenommen werden, daß zu dem Zeitpunkt, als im Rahmen des polnisch-sowjetischen Regierungsabkommens vom 16. August 1945 über die Beteiligung Polens am sowjetischen Reparationsanteil die UdSSR „zugunsten Polens auf alle Forderungen an deutschem Eigentum und Aktienbesitz deutscher Industrie und Transportunternehmen, einschließlich der auf dem an Polen übergehenden deutschen Territorium gelegenen", verzichtete, Moskau seine wesentlichen wirtschaftlichen Interessen bereits wahrgenommen hatte. 26 Insgesamt betrugen nach der von der polnischen Verwaltung 1946 für die neuerworbenen .Westgebiete' durchgeführten Kriegsschadensfeststellung die Kapazitätseinbußen im Durchschnitt aller Industriezweige um die 60 Prozent. Dabei rangierten die Hochöfen, Kokereien und Stahlwerke mit 30 bis 40 Prozent auffälligerweise am Ende der Skala, während die verarbeitende Metallindustrie von den Walzwerken bis zu den Galvanisierungsbetrieben mit 95 Prozent an Verlusten deutlich die Spitze bildete, was auf eindeutige branchenmäßige Schwerpunkte bei den Demontagen schließen läßt. 27 Auch im Verkehrswesen gab es umfangreiche Demontagen. Vor allen Dingen war das Eisenbahnnetz betroffen, wo auf zahlreichen Strecken das zweite Gleis oder in manchen Fällen, wie um die pommerschen Eisenbahnknotenpunkte Stolp und Pollnow herum, ganze Strecken systematisch abgebaut wurden. 28 Dazu kamen große Mengen an rollendem Material. 24 25 26
27
28
Torañska, Die da oben, S. 234. Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 289 u. 395. Dokumenty i materialy, wie Anm. 19, Dok. 315 (S. 543). Ebenso Kowalski, Powrót SI3ska S. 25. Zur späteren Tätigkeit der sowjetischen Demontagekommissionen auf dem Gebiet der SBZ siehe den Erinnerungsbericht von Κ. I. Koval', Zapiski upolnomocennogo GKO na territorii Germanii, in: NNI, 3/1994, S. 124-147. Die Ostgebiete des Deutschen Reiches. Im Auftrag des Johann Gottfried Herder- Forschungsrates hg. von Gotthold Rhode, Würzburg 1957, S. 211. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 10, Bd. 2, Dok. 202 (S. 242) u. 208 (S. 272).
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
„Unsere Truppen hatten 15 000 intakte Waggons und 380 Lokomotiven erbeutet", berichtete Generalleutnant Antipenko allein für den Operationsbereich der 1. Weißrussischen Front. 29 Außerdem wurden von den Eisenbahnbrigaden der Fronten umfangreiche Streckenumnagelungen durchgeführt, so daß bereits im März 1945 der Zugverkehr von Moskau bis Frankfurt/Oder auf sowjetischer Spurweite rollte. 30 Im nördlichen Bereich fuhren die Demontagezüge, meist mit deutschem Zugpersonal bemannt, auf der Strecke Allenstein-Insterburg über Kaunas, Minsk und Smolensk direkt in die sowjetische Hauptstadt. 31 Ein besonderes Kapitel bildete der landwirtschaftliche Sektor. Anders als die westalliierten Armeen mit ihren riesigen Versorgungs- und Verpflegungslagern und ihrem großen logistischen Apparat, der ein Mehrfaches der eigentlichen Fronttruppe ausmachte, lebte die Rote Armee den gesamten Krieg hindurch wesentlich „aus dem Land", in dem sie gerade operierte. Dadurch konzentrierte sich der Transportapparat des Fernverkehrs vorrangig auf die Belieferung der Truppe mit Munition, Treibstoff und Ersatzteilen. Somit lag der Schwerpunkt der Nahrungsmittelversorgung auf der Gewinnung und Bereitstellung frischer, nichtkonservierter Lebensmittel und damit auf dem Prinzip der Eigenversorgung an Ort und Stelle. Antipenko bemerkte dazu: „Von den 40 Millionen Tonnen Lebensmitteln, die die Streitkräfte in 4 Jahren verbrauchten, wurden 26 Millionen Tonnen oder 65 Prozent durch Eigenversorgung aufgebracht. Das erleichterte die Fürsorge des Staates für die Armee wesentlich und entlastete den Fernverkehr auf den Bahnlinien. Die Truppen stellten nicht nur Getreide bereit, sie verarbeiteten es auch an Ort und Stelle zu Mehl und Grütze. Fronten, Armeen und Divisionen richteten Nebenwirtschaften ein. Lazarette erhielten aus diesen Betrieben häufig frische Eier und Milch." 32 Das System der Nebenwirtschaften (russ. podsobnye chozjajstva) bildete neben den Hauptversorgern Kolchos und Sowchos eine der Säulen der Lebensmittelversorgung in der gesamten Sowjetunion in den Jahren des Kriegs, besonders seitdem 1942 durch Anordnung der Staatsführung die Selbstversorgungsbewegung unter der Parole des ,Gärtnereiaktivismus' (russ. ogorodnicestvo) mit bis zu 18 Millionen Aktivisten gegen Kriegsende
29 30 31
32
Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 225. Ebd., S. 275. Horst Wolf, Ich sage die Wahrheit oder ich schweige. Als Arzt in Preußisch-Eylau bei der Roten Armee, Leer 1983, S. 83. Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 381. Zum „Leben aus dem Lande" siehe die Aussage Andrej Vysinskijs gegenüber dem amerikanischen Diplomaten Robert Murphy, Diplomat unter Kriegern. Zwei Jahrzehnte Weltpolitik in besonderer Mission, Berlin 1965, S. 260.
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zu einer wahren Volksbewegung angewachsen war. 33 Industriebetriebe, Behörden, Krankenhäuser und andere Einrichtungen betrieben solche Nebenwirtschaften, um damit das Ernährungsniveau ihrer Mitarbeiter zu erhöhen. An der Front gründete das Prinzip der Eigenversorgung durch Nebenwirtschaften auf zwei Pfeilern: den zahllosen kleineren .Küchennebenwirtschaften' der Truppenverbände (zumeist auf Regimentsebene) und den im größeren Maßstab wirtschaftenden Militärsowchosen. Über die Küchennebenwirtschaften schrieb der Leiter der Verpflegungsabteilung beim Chef der rückwärtigen Dienste der 1. Baltischen Front, Generalleutnant Sausin: „Vor allem bauten diese Wirtschaften Kartoffeln und Gemüse im frontnahen Gelände an und mästeten Schweine und Rinder durch Futterkulturen, die von den Truppenteilen angebaut wurden [...] Größe und Profil waren sehr unterschiedlich. Für die Feldarbeiten wurden Rotarmisten der rückwärtigen Einheiten herangezogen, die sich in der Landwirtschaft auskannten. Sie säten Roggen und Hirse, fütterten das Vieh, mähten Gras und ernteten. Zogen die Truppen weiter, übergab man die Nebenwirtschaften mit allem Gerät, dem Vieh und Saatgut den örtlichen Staatsorganen. Am neuen Standort begann wieder alles von vorn." 34 Die erzielten Erträge durften nach dem Ermessen des jeweiligen Kommandeurs für die Angehörigen seines militärischen Verbandes verwendet werden. Überschüsse konnten verkauft und mit den eingenommenen Geldern andere Lebensmittel besorgt werden. Andere Formen der Nebenwirtschaft waren Mühlen und kleinere Molkereien, meist an abgelegenen Standorten, die schwer mit frischen Milcherzeugnissen zu beliefern waren. Ebenso zählten dazu Fischereibrigaden, die, wie an der ostpreußischen Samlandküste, die zurückgelassenen Fischbestände in Besitz nahmen und den Fischfang organisierten, wodurch die Truppe schon nach kurzer Zeit mit einigen Dutzend Tonnen Frischfisch versorgt werden konnte. Gegen Kriegsende existierten allein im Bereich der 1. Baltischen Front im Norden Ostpreußens mehr als 400 solcher Küchennebenwirtschaften, die über ausgedehnte landwirtschaftliche Nutzflächen verfügten und aus denen später eine Reihe von großen Sowchosen hervorgegangen ist. 35 Die auf großen Flächen wirtschaftenden militärischen Staatsgüter dienten, anders als die Küchennebenwirtschaften, der planmäßigen, nicht der ergänzenden Versorgung der Armee. Als Hauptversorger lieferten sie eine große Palette agrarischer Erzeugnisse, entlasteten damit das Transportsystem erheblich und hielten die Lebensmittelverluste gering. 36 Mit dem Ein33
34 35 36
Siehe das Stichwort .Podsobnye chozjajstva', in: Velikaja Otecestvennaja Vojna 19411945. Enciklopedija, S. 566 f.; ebenso das Stichwort „Ogorodnicestvo", ebd., S. 504. Sauschin, Soldatenbrot, S. 114 f. Ebd., S. 116. Ebd., S. 171 f.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
marsch nach Deutschland bezogen sie zumeist die früheren großen Rittergüter des Ostens, wo sie unter Verwendung zwangsverpflichteter deutscher Arbeitskräfte als landwirtschaftliche Großbetriebe wirtschafteten. Ein ähnliches System der militärischen Eigenversorgung betrieben die im Verband der Roten Armee eingesetzten polnischen Streitkräfte, die von ihrem Oberkommando den Befehl erhielten, sogenannte Landwirtschaftsdivisionen zu bilden, die über 100 000 Hektar Land bestellten und von April bis Juni 1945 insgesamt 255 ehemals deutsche Güter in ihre Verwaltung übernahmen. 37 Insgesamt bestellten allein die Soldaten der Roten Armee rund 150 000 Hektar Land, d.h. etwa 60 Prozent des gesamten im Frühjahr 1945 in den deutschen Ostgebieten eingesäten Bodens. „Es gelang uns", berichtete Generalleutnant Antipenko, „dank tatkräftiger Mithilfe vieler Kommandeure und Einrichtungen bereits vor Beginn und während der Berliner Operation 300 000 Hektar Ackerland mit verschiedenen Sommerkulturen zu bestellen. Dieses Ackerland erhielt nach dem Krieg die Volksrepublik Polen. Laut Vertrag mit der polnischen Regierung wurde die Ernte aber noch durch unsere Truppen eingebracht." Nach dem Abschluß der Berliner Operation im Mai organisierte die 1. Weißrussische Front für die Versorgung ihrer beiden Kavalleriekorps im großen Stil die Heumahd auf den Wiesen von Oder und Warthe, wobei über 100 000 Tonnen Heu eingebracht wurden. 38 All diese Maßnahmen konnten jedoch nicht verhindern, daß ein erheblicher Teil der früheren Nutzflächen brachlag und der raschen Verwilderung verfiel. 39 Einen wertmäßig erheblichen Beuteanteil bildeten die riesigen Viehbestände, die der Roten Armee auf deutschem Boden in die Hände fielen. Da ihr Verbrauch an Ort und Stelle nicht möglich war und ein Bahntransport ebenfalls nicht in Frage kam, entschloß man sich zu ihrer Zusammenfassung in großen Herden mit anschließendem Viehtrieb über viele hundert Kilometer bis ins Innere Rußlands. Dabei traten jedoch eine Reihe von Problemen auf, die einen erheblichen Teil des hochwertigen Viehs verenden ließ, noch bevor es seine Bestimmungsorte erreichen konnte. Zwar besaß die Armee seit den Tagen des Bürgerkriegs Erfahrungen im Viehtrieb über weite Entfernungen, doch gewannen die Unterschiede in der Viehhaltung in Deutschland und Rußland unerwarteterweise eine gravierende Bedeutung. Während das russische Vieh auf seinen weiten heimischen Auslaufflächen gewohnt war, viele Kilometer am Tage zurückzulegen, war das deutsche 37 38 39
Stanislaw Poplawski, Kampfgefährten, (Ost)Berlin 1980, S. 285 f. Ebd., S. 286; Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 285 f. Vgl. dazu die vielen Erinnerungsberichte zurückgebliebener deutscher Bewohner in den Ostdokumentationen. Als Beispiele: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 10, Bd. 2, Dok. 196, 202 u. 208.
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vorwiegend in Ställen oder kleinen Viehkoppeln gehalten worden, was dazu führte, daß weder Klauen noch Muskulatur für einen längeren Trieb vorbereitet waren. Hinzu kam das Problem der Futter- und Wasserversorgung auf den langen Wegen. Dazu erinnerte sich Generalleutnant Antipenko: „Die Veterinäre hielten den Viehtrieb in futterreiche Bezirke für möglich und wünschenswert, aber das Vieh mußte rechtzeitig physisch trainiert und die Strecken mußten sorgfältig ausgesucht werden. Ein spezielles Trainingsprogramm mit Einreibungen, Massagen und anderem wurde ausgearbeitet. Die Klauen mußten gereinigt, beschnitten und mit Pech eingeschmiert werden. Die Strecke mußte Punkte fürs Tränken, Füttern und für tierärztliche Behandlung enthalten." Am Ende gelang es, nicht zuletzt durch die Heranziehung zahlreicher Repatrianten dieses Problem einigermaßen zu bewältigen und wenigstens ein Massensterben des Viehs zu verhindern. 40 Der Heimtransport von Millionen sowjetischer Repatriierter, zumeist Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, bildete ein weiteres Problem, das die Dienststellen der rückwärtigen Dienste auf deutschem Boden zu organisieren hatten. Allein im Mai und Juni 1945 betrug der mittlere Tageszugang 36 000 von ihnen, so daß sich bis zur Jahresmitte allein im Bereich der 1. Weißrussischen Front eine Million Menschen angesammelt hatten, die auf ihre Rückführung warteten. Da ausreichender Bahntransportraum für diese Massen nicht zur Verfügung stand, entschloß man sich, 650 000 von ihnen zu Fuß in die Sowjetunion zurückkehren zu lassen. Sie marschierten im Laufe des Sommers 1945 auf fünf verschiedenen Routen von ca. 1000 km Länge in Kolonnen von je 5000 Mann unterteilt, die in Abständen von einem Tag einander folgten. Frauen, Kinder und Kranke kamen später per Bahntransport oder auf anderen Wegen nach. Insgesamt kehrten nach offiziellen sowjetischen Angaben im Laufe mehrerer Jahre gut fünfeinhalb Millionen Repatrianten in die UdSSR zurück, wozu auch ehemals sowjetische Staatsbürger deutscher Nationalität gehörten, die im Zuge der deutsch-sowjetischen Umsiedlungsabkommen der Jahre 1939/40 ins Reich gekommen waren. 41 Ein letzter Komplex, der im seinerzeitigen Verständnis Moskaus ebenfalls zur wirtschaftlichen Ausbeutung der deutschen Ostgebiete zählte, war die zwangsweise Verbringung von Deutschen als Arbeitskräfte in die Sowjetunion. Dieses Kapitel der .Reparationsverschleppungen' ist bereits im vorhergehenden Abschnitt über die Tätigkeit der NKVD-Organe behandelt worden. Es gehört, obwohl es sich hierbei um das Schicksal von Menschen,
4 0 41
Antipenko, In der Hauptrichtung, S. 2 8 4 f. Ebd., S. 291 f. Vgl. dazu das Stichwort „Repatriacija", in: Velikaja Otecestvennaja Vojna 1941-1945. Enciklopedija, S. 6 0 8 f.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
statt um Güter und Sachwerte handelt, ebensosehr in den Themenzusammenhang dieses Kapitels.
6.4. Das Ende der sowjetischen Kommandanturen und der Übergang zur polnischen Verwaltung Am raschesten erfolgte die Ablösung der sowjetischen Ortskommandanturen durch polnische Lokalverwaltungen in jenen Gebieten der Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Posen-Wartheland, die ebenso wie das östliche Oberschlesien bis 1939 großteils zum polnischen Staatsgebiet gehört und einen vergleichsweise hohen polnischsprachigen Bevölkerungsanteil behalten hatten. Hier tauchten polnische Bürgermeister, Milizen und andere Ordnungskräfte oft schon nach Tagen oder wenigen Wochen nach der militärischen Besetzung durch die Rote Armee auf, was mit dem Dekret über die Bildung der Woiwodschaft Danzig vom 30. März 1945 auf übergeordneter Ebene seinen Ausdruck fand. 1 Ähnliches galt für das Oppelner Schlesien, das bereits am 18. März im Rahmen einer feierlichen Zeremonie in Kattowitz „mit dem [polnischen] Vaterland wiedervereint" worden war. 2 Hier wurden noch am selben Tag in den drei Kreisen Beuthen (polnisch: Bytom), Hindenburg (Zabrze) und Gleiwitz (Gliwice) die ersten polnischen Verwaltungen eingerichtet. In weiteren sechs Kreisen der Region folgte deren Installierung in den Tagen darauf. Obwohl Boleslaw Bierut, der Chef des Landesnationalrats (KRN) bereits am 5. Februar zu Beginn der Jaltakonferenz in einer Presseerklärung die Übernahme der Zivilverwaltung im gesamten Gebiet östlich von Oder und Neiße durch den polnischen Staat angekündigt hatte, dauerte es in den übrigen Gebieten mit nahezu rein deutscher Bevölkerung erheblich länger. Im südlichen Teil Ostpreußens kann von einer flächendeckenden polnischen Lokalverwaltung nicht vor dem Ende der Potsdamer Konferenz im August 1945, teilweise erst im Laufe des Herbstes gesprochen werden. Selbst im frühzeitig übernommenen oberschlesischen Regierungsbezirk Oppeln (s.o.) fiel das Ende der Tätigkeit sowjetischer Kommandanturen erst in die Zeit des Septem-
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße, Bd. 1, S. 107E f. (=Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. I). Edmund Jan Osmancik, Byl god 1945 ..., S. 28 f.
6.4. Das Ende der sowjetischen Kommandanturen
201
ber/Oktober. 3 Auffällig ist die vergleichsweise frühe Einführung polnischer Verwaltungsorgane in den an die Oder-Neiße-Linie angrenzenden westlichen Kreisen Niederschlesiens, Pommerns und Ostbrandenburgs noch vor dem Beginn der Potsdamer Konferenz Mitte Juli 1945. 4 Hinsichtlich Stettins kam es zwischen Mai und November d.J. zu einem verwirrenden Hin und Her, nachdem, möglicherweise unter dem Eindruck der amerikanischen Protestnote vom 8. Mai, am 19. d.M. an die polnischen Verwaltungsstellen der Befehl ergangen war, die Stadt wieder zu räumen. Mitte Juni folgte für wenige Tage ein neuer vergeblicher Versuch, eine polnische Stadtverwaltung zu installieren, bis schließlich Anfang Juli eine Grundsatzentscheidung über die politische Zukunft der pommerschen Metropole gefallen zu sein schien, und der Ingenieur Piotr Zaremba aufgrund einer Weisung Marschall Zukovs am 5. Juli als polnischer Stadtpräsident erneut die Verwaltung aus den Händen des deutschen Oberbürgermeisters übernahm. Nachdem die Potsdamer Konferenz Anfang August das Schicksal der Stadt und ihres westlichen Vorfeldes im internationalen Rahmen geklärt hatte und im Laufe des September eine detaillierte Grenzmarkierung im Gelände vorgenommen worden war, übernahm die polnische Verwaltung am 10. November 1945 endgültig das gesamte Gebiet des .Stettiner Zipfels' einschließlich der bereits am 6. Oktober besetzten Stadt Swinemünde und ihres Hafens. Der Stettiner Hafen verblieb als wichtiger Lager- und Umschlagplatz für Demontagegüter noch eine Zeitlang unter sowjetischer Kontrolle und ging bis auf einen Teil des Freihafenbezirks erst im September 1947 in die Verfügungsgewalt einer polnischen Hafenverwaltung über. 5 Aus dem zeitweiligen Nebeneinander polnischer und sowjetischer Verwaltungen in manchen Regionen ergab sich einiges an Zündstoff im Verhältnis zwischen Polen und Russen, wobei besonders die ersteren auf Gemeinde· und Kreisebene ihre vertraglich geregelten Rechte anmahnten und Eigenmächtigkeiten sowjetischer Kommandanturen und anderer Armeedienststellen beklagten. 6 Die deutsche Bevölkerung konnte in gewissem Sinne sogar davon profitieren und genoß häufig den Schutz der russischen 3
4
5
6
Kowalski, Powrót Slqska Opolskiego do Polski, S. 25. Zur Zusammenarbeit des polnischen Bürgerkomitees für das Oppelner und Breslauer Schlesien mit der sowjetischen Militärmacht siehe die bei Osmancik wiedergegebenen Memoranden vom Februar 1945, wie Anm. 2, S. 8 ff. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 1, Bd. 2, Dok. 282-305. Siehe dazu die Zusammenfassung in der Einleitung Martin Broszats, ebd., Bd. 1, S. 140E-143E. Dazu: Richard Breyer, Die Oder-Neiße-Linie bei Stettin, in: Recht im Dienste der Menschenwürde. Festschrift für Herbert Kraus, Würzburg 1964, S. 423-443, hier besonders S. 429-436. Von polnischer Sicht vgl. Wieslaw Dobrzycki, Granica zachodnia w polityce Polskiej 1944-1947, Warschau 1974, S. 48 f. Vgl. dazu Kowalski, Powrót Slqska, S. 24.
202
6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
Ortskommandanten gegen polnische Übergriffe. In anderen Bereichen leisteten sowjetische Armeedienststellen insbesondere der rückwärtigen Dienste organisatorische und logistische Hilfestellung beim Aufbau der polnischen Verwaltungsorgane.7 Die zeitlichen Stufen und organisatorischen Formen der polnischen Verwaltungsübernahme von der Ernennung der ersten Wojewoden (zunächst noch .Bevollmächtigte der Provisorischen Regierung') im März 1945 über das Dekret „Betreffend die Verwaltung der Wiedergewonnenen Gebiete" vom 24. Mai, die Arbeit der verschiedenen behördlichen .Operationsgruppen' zur Vorbereitung der polnischen Ansiedlung bis zur Schaffung des .Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete' unter Wladyslaw Gomulka am 13. November 1945 können hier nur angedeutet werden. 8 Im Kern war die polnische Politik, insbesondere nach der Potsdamer Konferenz, immer offenkundiger auf das Ziel ausgerichtet, der noch verbliebenen deutschen Bevölkerung die Existenzgrundlagen für ein weiteres Verbleiben in ihrer Heimat mehr und mehr zu entziehen. Die wichtigsten Instrumente dabei bildeten eine gesteigerte örtliche Polizeiwillkür, eine verschärfte antideutsche Gesetzgebung, die mit dem Dekret über die „Ausschließung von Personen deutscher Nationalität aus der polnischen Volksgemeinschaft" vom September 1946 ihren Höhepunkt fand, und ein stetig erhöhter Siedlungsdruck polnischer Zuwanderer. Die Polen übernahmen in der Regel die von den russischen Militärbehörden eingerichteten Sammel- und Umschlaglager und bauten sie für ihre Zwangsarbeits- oder Internierungszwecke noch aus. Insgesamt bestanden nach einer Liste des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes in den Gebieten östlich von Oder und Neiße 1255 Lager der unterschiedlichsten Größen sowie 227 Gefängnisse, die der Inhaftierung von Deutschen dienten. 9 Daß die deutsche Bevölkerung durch polnische Milizen oder andere bewaffnete Gruppen häufig einer zweiten Ausplünderungswelle ausgesetzt war, die oft die Reste dessen zerstörte oder fortnahm, was die sowjetischen Soldaten übrig gelassen hatten, paßte zu jenem kriminellen Plünderer- bzw. Glücksritterunwesen (poln. szabrownictwo), das die neuen ,Westgebiete' damals wie magisch anzogen und gegen das die erst im Aufbau befindlichen polnischen Behörden anfangs einen nahezu vergeblichen Kampf führten. 10 7 8
9
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 1, S. 104E. Hierzu wie im folgenden Walter Kuhn, Das Deutschtum in Polen und sein Schicksal in Kriegs- und Nachkriegszeit, in: Osteuropa-Handbuch Polen, hg. von Werner Markert, Köln/Graz 1959, S. 158-160. Dokumentation von Vertreibungsverbrechen, S. 36. Dietmut Lötzsch, Die Rolle der PPR bei der Eingliederung Niederschlesiens in den polnischen Staat (1945), in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 8 (1964), S. 103-123, hier S. 118 f. Vgl. auch Kowalski, Powrót
6.4. Das Ende der sowjetischen Kommandanturen
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Die mit ihrer ersten Welle bereits im Juni/Juli 1945 einsetzende Vertreibung gehörte gleichfalls weitgehend in den Bereich polnischer Initiative und Verantwortung. Die sowjetische Militärverwaltung in der SBZ stoppte diese sogar Mitte Juli durch zeitweilige Sperrung der Oder-Neiße-Übergänge, um das drohende Chaos unkontrollierter Zusammenballungen von Flüchtlingsmassen in den östlichen Grenzstädten ihrer Besatzungszone abzuwenden. Zum anderen hat es besonders bei den nachfolgenden Vertreibungswellen auch technische und organisatorische Hilfestellungen gegeben, die in nicht wenigen Fällen das Los der betroffenen deutschen Bevölkerung zu erleichtern geholfen haben. „Russische Soldaten und Kommandanturen haben mitunter, indem sie Militärfahrzeuge zur Verfügung stellten und Deutsche bis an die Oder-Neiße-Grenze fuhren, helfend dazu beigetragen, daß die Vertriebenen den Schikanen der polnischen Austreibungskommandos entgingen", bemerkte dazu bereits die Vertreibungsdokumentation des Jahres 1954. 11 Die sowjetische Besatzungsmacht förderte damit den weiteren ethnographischen Strukturwandel dieser Gebiete zugunsten ihres polnischen Verbündeten. Nach den offiziellen Zahlen der ersten polnischen Volkszählung nach dem Krieg vom 14. Februar 1946 lebten in den neuen vom polnischen Staat übernommenen .Westgebieten' - also ohne das nördliche Ostpreußen - noch 2,1 Mill. Deutsche zuzüglich eines separat gezählten, sogenannten autochthonen Bevölkerungsteils von 1,5 Mill., d.h. ca. 45 Prozent der Bevölkerung des Jahres 1939. Dem standen zu diesem Zeitpunkt nach polnischen Angaben bereits 2,7 Mill, polnische Neusiedler aus den verschiedensten Landesteilen Polens gegenüber. 12 Mitentscheidend für die vergleichsweise schnelle Auflösung der russischen Militärkommandanturen waren neben dem raschen Wandel der Bevölkerungsstruktur in den deutschen Ostgebieten die einschneidenden organisatorischen Veränderungen, die die Sowjetstreitkräfte schon kurz nach Kriegsende auf polnischem Boden erfuhren. Bereits Ende Mai 1945 wurden, einer Direktive der Stavka gemäß, die verschiedenen Frontoberkommandos der Roten Armee aufgelöst und auf der Basis vorwiegend der Truppenverbände der 2. Weißrussischen Front die .Polnische Gruppe der Sowjetstreitkräfte', die spätere .Westgruppe', gebildet. An ihre Spitze trat
Slqska, S. 296 ff. Dazu neuerdings auch: Adam Krzeminski, Polen im 20. Jahrhundert. Ein historischer Essay, München 1993, S. 112-115. Ein Beispiel für den Versuch der polnischen Behörden, die chaotischen Zustände der ersten Zeit in den neugewonnenen Westgebieten zu bekämpfen, war der RunderlaB Nr. 14 des .Ministeriums für die Wiedergewonnenen Gebiete' vom 19. Februar 1946 „betreffend Maßnahmen gegen die Verwüstungen von Arbeitsstätten". Siehe dazu: Siegrid Krülle, Die Konfiskation deutschen Vermögens durch Polen. Teil I. Die Enteignungsmaßnahmen, Bonn 1993, S. 30. ' ' Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 1, S. 142E u. 146E. 12 Klafkowski, Die deutsch-polnische Grenze nach dem II. Weltkrieg, S. 76 u. 81.
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6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
mit seinem neuen Hauptquartier im niederschlesischen Liegnitz Marschall Rokossovskij.13 Das System der Selbstversorgung auf der Grundlage von Eigenwirtschaften auf polnischem Boden ist von der Roten Armee noch eine geraume Zeit fortgeführt worden. Die rechtliche Grundlage dafür schuf ein Vertrag vom 26. April 1946 über die Versorgung der Soldaten der Westgruppe, in deren Verfügungsgewalt ca. 200 000 Hektar an Grund und Boden einschließlich großer Wiesen und Weideflächen übergingen. 14 Auf ähnliche Weise wie auf dem Boden Polens oder der SBZ war am 15. August 1945 aus den Truppenverbänden der 3. Weißrussischen Front im nördlichen Teil Ostpreußens der Baltische Militärbezirk mit Armeegeneral Bagramjan an der Spitze gebildet worden. Verwaltungsmäßig wurde hier nach der offiziellen Aufnahme des Territoriums in den sowjetischen Staatsverband am 17. Oktober 1945 ein halbes Jahr später durch einen Erlaß des Obersten Sowjet das .Königsberger Gebiet' (Kenigsbergskaja oblast', seit dem 4. Juli 1946 .Kaliningradskaja oblast') geschaffen. Das Memelland war zu diesem Zeitpunkt bereits der Litauischen Sowjetrepublik angegliedert. 15 Anders als die Polen hatten die Russen in ihrer neuen Verwaltungsregion kein nationales Interesse an einer möglichst raschen Vertreibung der deutschen Bevölkerung, zumal auch der Siedlungsdruck fehlte. Man versuchte im Gegenteil ihre Arbeitskraft möglichst intensiv zu nutzen, solange sich der Zuzug sowjetischer Neusiedler in Grenzen hielt und mit ca. 47 000 Personen bis zum Sommer 1946 nur zögernd in Gang kam. Es existierte sogar eine eigene Zeitung in deutscher Sprache, die .Neue Zeit', die zweimal wöchentlich zum Preis von 20 Kopeken erschien. Daneben gab es ein deutschsprachiges Rundfunkprogramm. Über die Lebensbedingungen in den stark zerstörten Städten und den von den sowjetischen Militärbehörden betriebenen Arbeitslagern liegen eine ganze Reihe z.T. erschütternder Zeugenberichte vor. Nach den Schätzungen des Mediziners Wilhelm Starlinger aus den fünfziger Jahren verstarben von den rund 100 000 nach der Einnahme im April 1945 in Königsberg verbliebenen Menschen bis zum Frühjahr 1947 fast Dreiviertel, die meisten von ihnen an Unterernährung, Entkräftung und Infektions-
14
15
Kowalski, Powrót Slqska, S. 24. Vgl. dazu das Stichwort „Severnaja gruppa vojsk (SGV)", in: SVE, Bd. 7, S. 288 f. Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 1, S. 102E. Vgl. dazu die Zeugenberichte, ebd.. Bd. I, 2, Dok. 202, 206 u. 228. Zur Rechtsgrundlage: Parsadanova, Sovetsko-pol'skie otnosenija 1945-1949, S. 77. Sauschin, Soldatenbrot, S. 181. Zur Verwaltungsgeschichte der Region siehe: Peter Wörster, Das nördliche Ostpreußen nach 1945, in: Osteuropa, 35. Jg. (1985), H. 7/8, S. 506-519, hier besonders S. 510 ff.
6.4. Das Ende der sowjetischen Kommandanturen
205
krankheiten aller Art. 16 Die seit kurzem bekannten sowjetischen Statistiken nennen erheblich andere Zahlen. Danach befanden sich am 1. September 1945 noch genau 129 614 Deutsche im sowjetischen Teil Ostpreußens, davon 68 000 in Königsberg. Ihre Zahl reduzierte sich im Laufe der folgenden 14 Monate, d.h. bis Mitte November 1946, auf rund 91 000, wobei die Königsberger Bevölkerung sogar auf knapp 39 000 zurückging. Der sich daraus ergebende Verlust von fast einem Drittel - das belegen die sowjetischen Statistiken - war in erster Linie ein Ergebnis von Sterbefällen infolge der extrem knappen Ernährungsrationen, die z.B. im Herbst 1945 für gut 70 Prozent der Stadtbewohner nur bei nominell 200 Gramm Brot am Tag lagen. In dieser Zeit, d.h. von August bis November 1945, erreichte der monatliche „Abgang" (russ. ubyl') mit ungefähr 5000 seinen Höhepunkt. 17 Eine Reihe großer zentraler Arbeitslager wie in Preußisch-Eylau (russ. Bagrationovsk) beschickten die umliegenden, zu Kolchosen und Sowchosen zusammengefaßten Landgüter - 1947 gab es im ganzen Kaliningrader Gebiet 342 Kolchoswirtschaften - mit Arbeitskommandos. Auch hier war die Sterblichkeitsrate außerordentlich hoch, wobei die Lagerkommandanten im allgemeinen bestrebt waren, die Kranken und Schwachen möglichst gerade noch so rechtzeitig zu entlassen, daß sie die Sterblichkeitsstatistik nicht mehr belasteten. 18 Oft gelang das Überleben, insbesondere deutscher Kinder, nur durch die hilfreiche Unterstützung litauischer Bauern. Noch im
16
Wilhelm Starlinger, Grenzen der Sowjetmacht im Spiegel einer West-Ost-Begegnung hinter Palisaden, von 1945-1954. Mit einem Bericht der deutschen Seuchenkrankenhäuser York und St. Elisabeth über das Leben und Sterben in Königsberg von 1945-1947, Kitzingen 1954, S. 38 u. 53. Zum AusmaB der Seuchen und Mangelinfektionen siehe auch: Eberhard Beckherrn/Alexej Dubatow, Die Königsberg-Papiere. Neue Dokumente aus russischen Archiven, München 1994, S. 108-115. Zu den Lebensverhältnissen der deutschen Bevölkerung in Stadt und Umland von Königsberg allgemein siehe u.a.: Hans Graf v. Lehndorff, Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945-1947, München 1961; Lucy Falk, Ich blieb in Königsberg. Tagebuchblätter aus dunklen Nachkriegsjahren, München 1965; Elfriede Kalusche, Unter dem Sowjetstern. Erlebnisbericht einer Königsbergerin in Nordostpreußen 1945-1947, München 1973 sowie Hildegard Rosin, Führt noch ein Weg zurück? Als der Krieg vorbei war, noch drei Jahre in Königsberg, Leer 1984. Aus neuerer Zeit die Erinnerungen Michael Wiecks, Zeugnis vom Untergang Königsbergs. Ein .Geltungsjude' berichtet, Heidelberg 1990. Wie bei den vielen Verschleppungsschicksalen kann auch an dieser Stelle nur ein Bruchteil der inzwischen existierenden Erinnerungsliteratur genannt werden.
17
Die Zahlen nach Ju. V. Kostjasov, Vyselenie nemcev iz Kaliningradskoj oblasti ν poslevoennye gody, in: VI, 6/1994, S. 186 f. Vgl. dazu die entsprechenden Zahlenangaben bei Beckherrn/Dubatow, Die Königsberg-Papiere, S. 104-107. Herbert Wolf, Ich sage die Wahrheit oder ich schweige, S. 86. Siehe auch den Zeugenbericht über das Arbeitslager von Preußisch-Eylau, in: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung, wie Anm. 1, Bd. 2, Dok. 173.
18
206
6. Die Rote Armee als Besatzungsmacht
Frühjahr 1947 stellten die Deutschen nahezu 50 Prozent aller Beschäftigten auf den Sowchosgütern wie in den Industrieunternehmen der Region. Erst ab dem Herbst 1947 folgte die Sowjetunion dem Beispiel Polens und siedelte, beginnend mit dem Befehl Nr. 001067 des Innenministers, Generaloberst Kruglov, vom 14. Oktober 1947, in den folgenden Jahren die noch verbliebene deutsche Bevölkerung schubweise in insgesamt 48 Eisenbahn-Transportzügen nahezu vollständig aus. Rund 102 000 Deutsche, davon gut 29 000 Bewohner Königsbergs, verließen bis zum Jahre 1951 das Kaliningrader Gebiet. Dagegen verblieb die Mehrzahl der 1944 nicht geflohenen oder evakuierten Memelländer, die der litauischen Nationalität zugeschlagen wurden und damit aus dem Kreis der auszusiedelnden deutschen Volksteile ausschieden, in ihrer Heimat. 19
Zur Aussiedlung der deutschen Restbevölkerung aus dem Kaliningrader Gebiet, die auf einem geheimen Ministerratsbeschluß vom 11. Oktober 1947 basierte, siehe Kostjasov, wie Anm. 16, S. 187 f. und Beckherrn/Dubatow, wie Anm. 16, S. 199 f. Zur ersten Aussiedlungsaktion vom Oktober 1947 siehe auch den dokumentarischen Artikel: Zum Schluß Schokolade, in: Der Spiegel, 47. Jg. (1993), H. 26, S. 160-168; zu den folgenden Transportschüben: Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung , wie Anm. 1, S. 152E.
7. Zusammenfassung Als konzentrierte Bilanz der Untersuchung stehen am Ende die folgenden Ergebnisse: Hinsichtlich der Zukunft der Gebiete östlich von Oder und Neiße war die Sowjetregierung bereits politische Verpflichtungen eingegangen, lange bevor die Potsdamer Konferenz der .Großen Vier' Anfang August 1945 über diese Territorien entschieden hatte. Das Problem der Austreibung der dortigen Bevölkerung in einer Größenordnung von zehn Millionen Menschen stand somit schon seit dem Sommer 1944 im Raum. Die Lösung dieses Problems, das das interalliierte Kriegsbündnis zu belasten drohte, durch eine große Evakuierungs- oder Fluchtbewegung der deutschen Bevölkerung erschien Moskau ganz offenbar als der geeignetste und bequemste Weg. Daß, anders als im Herbst 1944 in Ostpreußen und im Memelland, im darauffolgenden Winter die organisierte Evakuierung durch die Behörden so gut wie versagte und die deutsche Zivilbevölkerung weitgehend auf die eigene Initiative angewiesen blieb, um sich vor der heranrükkenden Front in Sicherheit zu bringen, überraschte Moskau ganz offensichtlich. Die Rote Armee traf dadurch in weit größerem Maße auf deutsche Bevölkerung, als es die politische und militärische Führung erwartet hatte. Die militärischen Operationen auf deutschem Boden verliefen insgesamt langwieriger, als es in den ersten optimistischen Planungen des sowjetischen Oberkommandos und seines Generalstabs vorgesehen war. Die im Oktober 1944 beabsichtigte kombinierte Zangenoperation der 1. Baltischen und 3. Weißrussischen Front gegen Ostpreußen mit weitgesteckten operativen Zielen bis in den Danziger Raum scheiterte an einer Fehleinschätzung der deutschen Kräfte durch die sowjetische Frontaufklärung und mußte im November d.J. fast auf die Ostgrenze Ostpreußens zurückgenommen werden. Auch die aus der Weichselstellung im Januar 1945 mit großer Anfangsdynamik begonnene Winteroffensive verlief im Endeffekt langsamer und schwieriger, als in den günstigsten Annahmen geplant. Das Beziehen der Oder-Neiße-Linie als einer durch die Entwicklung der militärischen Gesamtlage erzwungenen operativen Pausenstellung, aus der heraus gewissermaßen in einem zweiten ,Luftholen' erst Mitte April 1945 der entscheidende Angriff auf Berlin erfolgte, war anfangs nicht vorgesehen. Geplant war vielmehr die Einnahme der Reichshauptstadt bereits im Februar des Jahres aus der ohne operative Pause zu forcierenden Oderlinie. Letztlich bildete der starke deutsche Widerstand im ost- und westpreußischen Raum den Schlüssel zum gesamten weiteren militärischen Geschehen. Die Unfähigkeit der 2. Weißrussischen Front, zwei auseinanderstre-
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7. Zusammenfassung
bende operative Schwerpunkte gleichzeitig zu verfolgen, führte zur nördlichen Flankenbedrohung für die in rasantem Tempo bis zur mittleren Oder durchgebrochenen Teile der 1. Weißrussischen Front Marschall Zukovs durch die deutsche Heeresgruppe Weichsel. Dies verdarb Moskau das ursprüngliche operative Blitzkonzept. Ähnliches galt für den hartnäckigen deutschen Widerstand an der anderen Flanke der strategischen Front im deutsch-polnischen Raum: den Abwehrkampf der 1. Panzerarmee in Märisch-Schlesien, und das nur mühsame Vorankommen der 4. Ukrainischen Front in der nordmärischen Region. Auch hier war das Moskauer Oberkommando - nicht zuletzt auch durch fehlerhafte Aufklärungsergebnisse der westalliierten Verbündeten - bis in den März 1945 hinein von der Gefahr einer großen deutschen Gegenoffensive überzeugt. Die Erweiterung des erklärten Kriegsziels im Frühjahr 1944 unter der Stalin-Parole der „Vernichtung der faschistischen Bestie in ihrer eigenen Höhle" eröffnete eine neue Etappe der politisch-propagandistischen Mobilisierung in den Reihen der von Kriegsmüdigkeit gezeichneten Streitkräfte. Die moralische Verpflichtung gegenüber den Opfern des deutschen Besatzungsterrors zur Sühne und Vergeltung wurde zum zentralen Stimulanzmittel in der Presse- und Agitationsarbeit innerhalb von Armee und Bevölkerung. Die stark am Kollektivschuldgedanken orientierte und das deutsche Volk in seiner Gesamtheit moralisch verurteilende Kriegspublizistik des Schriftstellers Il'ja Erenburg spielte dabei als die mit Abstand massenwirksamste Waffe an der publizistischen Front bis tief in das Frühjahr 1945 hinein eine zentrale Rolle. Die sofort mit dem Überschreiten der Reichsgrenze einsetzenden Gewalttaten an der deutschen Zivilbevölkerung erfolgten in ihrer überwiegenden Mehrheit durch die Infanteristen der sowjetischen Schützenverbände, wobei der Anteil von propagandistischer Stimulation und persönlicher Leiderfahrung als Auslöser schwierig zu gewichten ist. Auch die für viele Sowjetsoldaten nur schwer zu verarbeitenden Eindrücke von den Lebensverhältnissen außerhalb der eigenen Grenzen, die daraus resultierende psychische Desorientierung vieler Rotarmisten, dazu die rauschhafte Siegeseuphorie und die verhängnisvolle Rolle des Alkohols waren hierbei von nicht geringer Bedeutung. Die gleichfalls allerorts zu beobachtenden großen Zerstörungen sind nur zu einem geringeren Teil den stark präventiven und hoch zerstörerischen taktischen Grundsätzen und Vorgehensweisen der Armee - insbesondere der in größeren Städten mit massiver Artillerieunterstützung praktizierten Sturmgruppentaktik - zuzuschreiben. Der größere Teil - auch hier bleibt die genauere quantitative Gewichtung schwierig entstand durch vorsätzliche Zerstörungen, Plünderungen und Brandstiftungen nach dem Ende der eigentlichen Kampfhandlungen. Dadurch nahm sich die Armee selber einen Großteil der Vorteile, die ihr die Bewegungs-
7. Zusammenfassung
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kriegsfiihrung mit der fast unversehrten Einnahme vieler Ortschaften, Verkehrseinrichtungen, Industrieanlagen und Warenlager bescherte. 1 Gegen das Uberhandnehmen der sinnlosen Gewalttaten und Disziplinlosigkeiten auf deutschem Boden griff die Führung mit Gegenbefehlen, disziplinarischen Maßnahmen und ernsten Ermahnungen an die Truppe ein. Auch der militärische Justizapparat wurde mobilisiert. Ein wirksames, auch mit den propagandistischen Mitteln der Massenpresse betriebenes Umschwenken erfolgte jedoch erst mit dem Kurswechsel Moskaus in seiner Deutschlandpolitik im Laufe des März 1945. Erst mit der offenen Verurteilung der Auffassungen Erenburgs im sowjetischen Parteiorgan Mitte April 1945 zum Auftakt des Angriffs auf Berlin wurde auch das deutsche Volk erklärtermaßen in die durch die Rote Armee vom Faschismus zu befreienden Völker aufgenommen. Moskaus .Besatzungspolitik' östlich von Oder und Neiße erschöpfte sich in einem Netz von militärischen Ortskommandanturen über das gesamte Gebiet mit rein lokalen Administrationsaufgaben. Eine überregionale zentralisierte Organisation und Führung, vergleichbar der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), war nicht zu beobachten und entsprach auch nicht der bereits im Sommer 1944 öffentlich erklärten Absicht. Die Arbeit der NKVD-Organe mit ihrem über die Grenzen des eigenen Landes durch Polen hindurch bis nach Deutschland hinein wandernden Lagersystem erfaßte Kriegsgefangene wie Zivilisten gleichermaßen. Sie konzentrierte sich auf die politisch-militärische Säuberung des Hinterlandes der Front, die Übernahme und Unterbringung der anfallenden Kriegsgefangenen und die massenhafte Aufbringung von Zwangsarbeitern mit den für das stalinistische Herrschaftssystem typischen Mitteln. Eine gewisse, wenngleich im konkreten Ablauf unter Zeitdruck vielerorts chaotisch umgesetzte Systematik ließ die wirtschaftliche Ausbeutung der Gebiete durch die von der Größe ihrer Aufgabe überforderten Organe des Beuteerfassungsdienstes der Armee erkennen. Anders als das reine Territorium, dessen Übernahme durch die polnischen Staatsorgane möglichst schnell, d.h. vor der Potsdamer Konferenz, abgeschlossen sein sollte, galt der Großteil des deutschen festen und beweglichen Eigentums staatlicher und nichtstaatlicher Provenienz, von Ausnahmen wie das oberschlesische
1
In der sechsbändigen Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion aus den sechziger Jahren hieB es in diesem Zusammenhang in Bd. 5, S. 101: „Der zügige Vorstoß der Truppen hinderte die Faschisten daran, Städte und Industriebetriebe, Eisenbahnen und Straßen zu zerstören, und nahm ihnen die Möglichkeit, die polnische Bevölkerung zu verschleppen und zu erschießen sowie Vieh und Lebensmittel abzutransportieren.
210
7. Zusammenfassung
Revier abgesehen, als Kriegsbeute der Roten Armee und damit als sowjetisches Staatseigentum. Das russische Prinzip der Eigenversorgung aus dem Land mit seinem dichten Geflecht militärischer Nebenwirtschaften bezog die deutschen Gebiete voll in ihr System ein, solange sich noch sowjetische Truppen in nennenswerter Zahl dort befanden. Zur wirtschaftlichen Ausbeutung der deutschen Gebiete im Rahmen der auf der Krimkonferenz der UdSSR von ihren Verbündeten zugestandenen Reparationsleistungen gehörten auch die gut 250 000 Zivilverschleppten - ein wegen der hohen Zahl der im Laufe der Deportationsmaßnahmen Umgekommenen besonders tragisches Kapitel der sowjetischen Besatzungsherrschaft im Zeichen des allgegenwärtigen NKVD-Apparats. Die zwangsweise Rekrutierung dieser .Reparationsverschleppten' endete noch vor dem Kriegsschluß Anfang Mai 1945 infolge der mit der deutschen Kapitulation anfallenden großen Zahl an Kriegsgefangenen. Die Ablösung der sowjetischen Militärkommandanturen durch die nachrückende polnische Zivilverwaltung erfolgte je nach Region unterschiedlich. Am schnellsten geschah dies in den hinsichtlich ihrer Zukunft unter den Alliierten noch strittigen Gebieten Niederschlesiens und Ostbrandenburgs dicht an der Oder-Neiße-Linie. Dort setzten auch bereits im Frühsommer 1945 - noch vor dem Beginn der Potsdamer Konferenz - die ersten systematischen Vertreibungen ein, während man sich damit in den für den polnischen Staat bereits .gesicherten' Territorien wie Ostpreußen und Oberschlesien erkennbar mehr Zeit ließ. Die in den Monaten nach der Potsdamer Konferenz vollzogene systematische Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße fiel ungefähr zusammen mit dem Ende der kurzen sowjetischen Besatzungsherrschaft und leitete die polnische Bevölkerungsentwicklung dieser Region ein. Die Vorgänge dieses und der folgenden Zeitabschnitte sind weitgehend Teil des deutsch-polnischen Verhältnisses und der langen wie wechselvollen Beziehungsgeschichte dieser beiden unmittelbaren Nachbarvölker, die nicht mehr Gegenstand dieser Untersuchung sind. Was viele Millionen Flüchtlinge, Vertriebene, Kriegsgefangene, Internierte und Reparationsverschleppte oft über lange und schmerzliche Umwege aus ihrer Heimat östlich von Oder und Neiße - aber nicht nur von dort - an Erinnerungen an das Kriegsende 1945 ins Nachkriegsdeutschland mitbrachten, berührt hingegen auch heute noch, ein halbes Jahrhundert später, das deutsch-polnische wie das deutsch-russische Verhältnis gleichermaßen. So steht auf drei Seiten die Erinnerung an Krieg, Besetzung und gegenseitig zugefügtes Leid unverändert als Mahnung für eine Zukunft in Frieden,
7. Zusammenfassung
211
Ausgleich und Verständigung sowie die Erkenntnis, „daß es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann" (Richard von Weizsäcker). 2
Richard v. Weizsäcker, Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ansprache am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, Bonn 1985, S. 2.
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Die Herbstoffensive der 3. Weißrussischen Front gegen Ostpreußen vom 16. bis 23. Oktober 1944
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3. weißrussische Front 26., 3 1 . russische Armee I i . russische Garde-Armee
(Aus Kurt Dieckert, Horst G r o s s m a n n , Der K a m p f u m Ostpreußen, München 1960, S. 6 0 )
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Die militärischen Ereignisse an der Ostfront zwischen Januar und April 1945
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(Aus: Große Geschichte des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs. Zusammenbruch. Redaktion Christian Zentner, München-Köln 1989, S. 18/19)
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Aufruf Armeegeneral Cernjachovskijs an die Truppen der 3. Weißrussischen Front zum Auftakt der ersten sowjetischen Offensive gegen Ostpreußen im Oktober 1944. (BA-MA, RH2/2681)
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SOVIET WAR NEWS
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GRAND
BUILDINGS
Tuesday, A n g u t 22. 1944
WOE TO GERMANY!
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By Dya Ehrenburg
E have reached the borders of Germany, and we have not come there to admire the frontier poete. We have reached the frontier in order to croes it. August, 1944, had to come after J u n e , 1941. Before me lies an interesting document. I t is an Order of the Day issued by General Reinhardt, Commander of the German 3rd Tank Army (or rather of remnants of t h a t army), dated J u l y 11, 1944. This is what General Reinhardt saya t o his men . " Serious defensive battles which the 3rd Tank Army has been waging against superior enemy forces ever since June 22, 1944, have brought the front line near to the borders of our Fatherland. It has now become necessary to transfer many supply bases of the 3rd Tank Army to East Prussia and other parts of Germany. " The withdrawal of the German army to German territory will, naturally, cause grave disturbance and alarm among local inhabitants. The German soldier must, therefore, by his conduct, inspire in the population of Germany that confidence in victory which accompanied him in the campaigns carried deep into enemy territory. " This necessitates a radical change in all existing rules and habits. Russia's wide expanses offered the army a liberty of action for which there is no room on the territory of Germany. The absence of methodically ux/rking local administration in Russia permitted and dictated arbitrary actions MI arranging for one's comforts and needs. Everything that was needed could be taken wherever it was to be found. " Military units and establishment often did not restrict themselves when employing Russian labour power. Many units which received additional supplies from local resources did not stop to reflect that they were living better than many people in Germany. When troops were quartered usually no attention was paid to the population ; everywhere the addier was master. " The situation in German towns and villages is diametrically opposite to what has been described. The people we shall now come in contact with are our fellow countrymen whom we must respect and, whom it is our duty to help " Without turning a hair General Reinhardt, Commander of t h e 3rd Tank Army, admite t h a t his subordinates in Rueeia behaved like ruffians and marauders. W h a t worries him is t h a t his Fritxes, by force of habit, m a y begin slaughtering German cows, and setting light
to German villages. And so he hastens to explain to his unbridled soldiery t h a t the " w i d e expansée of Russia " are a thing of the past. W h a t particularly appeals to me is the German general's expression " diametrically opposite." If the Germans were a t all blessed with a sense of humour, I would say t h a t a great humorist has been lost in this beaten panzer general. I might develop General R e i n h a r d t s idea. A murderer and a judge are diametrically opposite ; Germans on the Volga and Russians in Prussia are diametrically opposite ; so are murder vans and a court ; so are " Heil Hitler " and " Hitler k a p u t " ; so are crime and punishment. This general of bandite says t o his lads : Germany is not Russia ; very well. We shall remember his words. We shall repeat them in Kcenigsberg. We shall repeat them in Berlin. Until we reached Germany's borders we were liberators. Now we shall be judges. And never shall we mistake the home of a child slayer for an orphan asylum. We remember other Orders of the Day issued b y German generals. We remember how they burned down Tillages ; how they carried off children and old f o l k ; how they created a " d e s e r t zone " ; how they killed babies and branded prisoners with red hot irons ; how they tortured and hanged. There are many such Orders of the Day. Maybe our men do not remember their exact words. But they will never forget what they have seen for themselves— all the things which were done in pursuance of these orders. We are coming to Germany, having left behind us the Ukraine, Byelorussia, the ashes of our cities, the blood of our children. Woe to the country of assassins ! Not only our troops, the shadows of the slain too, have come to the borders of Germany. Who is hammering a t the gates of Prussia ? The slaughtered old men from Trostyanets ; the children from the Babii Yar ravine ; the martyrs of Sia vu ta. The children drowned in wells are hovering like angels of vengeance over Insterburg. Old women, whom the Germans tied to horses' tails, are stretching out their hands to Tilsit. ( Continued on page 2)
„Wehe d e m Land der M ö r d e r ! " Artikel IF ja Erenburgs in der von der L o n d o n e r Sowjetbotschaft herausgegebenen Soviet W a r News v o m 22. August 1944, als die ersten V e r b ä n d e d e r Roten A r m e e die ostpreußische G r e n z e erreichten. D e r Schlußsatz lautet: „Die in Brunnenschächten ertränkten Kinder schwirren wie Racheengel über Insterburg; alte F r a u e n , die die Deutschen an Pferdeschwänze g e b u n d e n haben, strecken ihre H ä n d e aus nach Tilsit."
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Sondergenehmigung fur einen Rotarmisten der 269. Schützendivision, „wegen Auszeichnung im Kampf für den Monat Januar 1945 von der ostpreuBischen Front ein Geschenkpaket in die Heimat schicken zu dürfen (10. Februar 1945). (BA-MA, RH 2/2688)
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Feldpostbrief (Feldpostnummer 29415) eines Sowjetsoldaten vom 30. Januar 1945 aus der tags zuvor eingenommenen ostpreußischen Stadt Bischofstein (Kreis RöBel) nach Moskau. Im Brief heißt es u.a.: „Eben haben wir diese vergleichsweise kleine preußische Stadt im Kampf genommen. Der Feind flieht in Panik und treibt die gesamte Bevölkerung weg, aber wohin? Ich sitze in einem reichen Haus, die Besitzer haben alles im Stich gelassen und sich davongemacht. Wir machen reiche Beute, alles was die Deutschen in unserem und in anderen Ländern geplündert haben."
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