Krieg und Konflikt: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2019, Heft 02 [1 ed.] 9783666800283, 9783525310878, 9783647310879, 9783525800287


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Krieg und Konflikt: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2019, Heft 02 [1 ed.]
 9783666800283, 9783525310878, 9783647310879, 9783525800287

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 2 | 2019 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Krieg und Konflikt Felix Wassermann  Hybrider Friede und imperiale Mächte  Jörn Leonhard  Die Pariser Friedenskonferenz 1919  Dieter Langewiesche  Staatlichkeit und die Einhegung des Krieges  Moshe Zuckermann  Kriegsbedrohung und Ideologie  Nadia Mazouz  Moralphilosophie des Krieges

KOKAIN, MAGNETRESONANZTOMOGRAFIE, RECYCLINGPAPIER – WER HAT’S ERFUNDEN?

Teresa Nentwig | Katharina Trittel (Hg.) Entdeckt, erdacht, erfunden 20 Göttinger Geschichten von Genie und Irrtum 2019. 263 Seiten, mit 36 Abb., Englisch Broschur € 18,00 D ISBN 978-3-525-31087-8 eBook € 14,99 D | ISBN 978-3-647-31087-9

Der Band präsentiert erfolgreiche und gescheiterte Göttinger Entdeckungen und Ideen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart und fragt nach deren gesellschaftlichen Folgen. Göttingen, »die Stadt, die Wissen schafft«, die Stadt der Nobelpreisträger. Wegweisende Erfindungen gehen auf Göttinger zurück, manche hier entwickelte Idee ist wiederum längst vergessen. Einige brachten Fortschritt und Innovation, andere Skandale und Unglück. Von dem Versuch einer Neuerfindung der deutschen Sprache über die Rassenideologie bis hin zu Kokain, Bihunsuppe und Recyclingpapier spannt der Sammelband einen Bogen über die kuriosesten, bahnbrechendsten und verwerflichsten Ideen, die ihren Ursprung in Göttingen nahmen.

EDITORIAL ΞΞ Marika Przybilla-Voß / Matthias Micus

Meldungen über Kriege und Konflikte sind in den Tagesnachrichten allgegenwärtig – Handelskonflikte, Bürgerkriege, Stellvertreterkriege. Abrüstungsabkommen werden gebrochen, Atomverträge gekündigt und die weltweiten Verteidigungsausgaben steigen immer weiter, auch wenn Deutschland absehbar weit unter dem von den NATO-Mitgliedern vereinbarten Ziel bleiben wird, den Militäretat bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufzustocken. Die Thematik von Krieg und Konflikt ist mithin omnipräsent – und dennoch: Die Antworten auf die Frage, was ein Krieg oder ein Konflikt denn nun sei, bleiben diffus. Bereits im 19. Jahrhundert widmete sich Carl von Clause­ witz ebenjener Frage und stellte seither vielzitierte Prinzipien auf – etwa, dass Krieg die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln sei –, welche die Wahrnehmung von Kriegen und Konflikten zumindest in der westlichen Hemisphäre bis heute prägen. Zu Zeiten des preußischen Generals zeigte sich zwar schon die Wandelbarkeit des Krieges, schon damals wurde er als ein »Chamäleon« beschrieben, dessen Gestalt entsprechend der jeweiligen Kontextbedingungen vielfarbig schillere, doch scheint sich ebenjene Wandelbarkeit im 21. Jahrhundert in Tempo und Ausmaß potenziert zu haben. Selten nur passt noch das überkommene dualistische Verständnis einer klaren Trennung zwischen Front und Hinterland, Zivilisten und Soldaten, Sieg und Niederlage zu aktuellen Kriegen und Konflikten, welche sich vielmehr gerade durch Entgrenzung und Unberechenbarkeit auszeichnen. Selten ist der Angreifende klar zu benennen, die Motivation hinter einem Angriff bleibt vielfach unklar und eine (territoriale) Grenzziehung unmöglich. Eine Konstante von Kriegen und Konflikten ist jedoch geblieben: Sie finden nicht isoliert statt, sind sowohl an die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontexte als auch an spezifische Bedingungen gekoppelt – und sie fordern Opfer. Ihre Auswirkungen sind stets innerhalb der Gesellschaft zu spüren und sie greifen in den Alltag der Zivilbevölkerung ein, verändern ihn und stellen die Betroffenen vor neue Herausforderungen. Welche Herausforderungen die neuen Formen der Kriegsführung nicht nur auf begrifflicher, definitorischer Ebene mit sich bringen, erläutert Felix Wassermann im Interview in der vorliegenden Ausgabe der INDES. Die Frage nach

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Reaktionsmöglichkeiten sowie Deutungsmustern aktueller Kriege und Konflikte ergänzt den einführenden Blick auf den Schwerpunkt dieser Ausgabe. Die Philosophin Nadia Mazouz thematisiert die Herausforderungen neuer Kriegspraktiken und legt die Debatten innerhalb der Moralphilosophie dar. Dabei liegt ihr Augenmerk auf den Theorien eines gerechten Krieges, die sie kritisch reflektiert und diskutiert. Was bedeutet das Attribut »gerecht« in Verbindung mit Krieg? Welche Rolle spielt hier die Moral? Besonders Letzteres ist gegenwärtig relevant, stehen doch sicher geglaubte Regeln von Kriegen und Konflikten – etwa der Verzicht auf chemische Waffen, der Schutz der Zivilbevölkerung und die Vermeidung von Angriffen auf humanitäre oder zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen – in Anbetracht aktueller Geschehnisse mehr denn je zur Disposition. Nun liegt die Annahme recht nahe, dass spätestens seit 2001 ein neues Zeitalter angebrochen sei, mit Kriegsformen, -praktiken und -strategien, die Grenzziehungen mit Blick auf das Kriegsgebiet und Kriegshandlungen diffus werden lassen und zumindest in Europa und der westlichen Welt seit dem Zeitalter der Aufklärung unbekannt waren. Dass diese Art der Kriegsführung jedoch auch in Europa oder jedenfalls bei den europäischen Kriegs­parteien diesseits aller Beschwörungen von Menschenrechten und der Unantastbarkeit menschlicher Würde durchaus bekannt blieb, zeigt ein Blick auf die imperiale und koloniale Vergangenheit des Kontinents. Wie dessen Staaten außerhalb der eigenen Grenzen Krieg führten, zeigt der Beitrag von Dieter Langewiesche eindrücklich. Dass Frieden und Sicherheit bloß ein vorläufiger und somit durchaus wackeliger Zustand sein können, ist angesichts dessen beinahe zu einem Gemeinplatz geworden. Wie solch eine stetige Bedrohung die eigene Wahrnehmung einer Gesellschaft beeinflusst, die Rolle und das Ansehen der Armee formt, thematisiert Moshe Zuckermann in seinem Beitrag. Ein Blick auf das derzeitige Europa und die Europäische Union macht darüber hinaus deutlich, dass das Ausscheiden Großbritanniens nicht nur zu lähmenden Konflikten in der Union, zwischen der EU und Großbritannien sowie innerhalb des britischen Parlaments führt, sondern auch die Zerrissenheit der britischen Bevölkerung vertieft. So droht der Nordirlandkonflikt aktuell neu aufzuflammen – die jüngsten Bilder und Geschehnisse lassen frisch verheilte Narben der Bevölkerung in der Region wieder aufbrechen und den Glauben an Frieden bröckeln. Thomas Noetzel ermöglicht mit seinem Artikel einen Einblick in dieses Konfliktfeld. Als roter Faden scheint sich schließlich jene bereits aufgeworfene Konstante durch die vorliegende Ausgabe zu ziehen: Kriege und Konflikte geschehen

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EDITORIAL

niemals isoliert. Stets ist die Gesellschaft, die in welcher Form auch immer in den jeweiligen Krieg oder Konflikt eingebunden ist, betroffen und Veränderungen unterworfen. Diese können sich auf das Verhalten, das Sicherheitsgefühl, die individuellen Freiheiten und Zukunftspläne eines jeden Individuums auswirken. Ebenso zeigen die unterschiedlichen Beiträge des aktuellen Schwerpunkts die Vielfalt der Thematik Krieg und Konflikt auf, die zumeist als Diffusität wahrgenommen wird und gleichermaßen Theorie und Praxis, Täter und Opfer, Sicherheit, Frieden und Angriffe umfasst. Mit der vorliegenden Ausgabe der INDES versuchen wir, wie gewohnt einen möglichst reflektierten, disziplinübergreifenden und hoffentlich aufschlussreichen Einblick in dieses changierende Themenfeld zu geben. Wir wünschen viel Freude und manch neue Perspektive bei der Lektüre.

EDITORIAL

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INHALT

1 Editorial ΞΞMarika Przybilla-Voß / Matthias Micus

>> INTERVIEW



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»Wir müssen über hybriden Frieden nachdenken« ΞΞEin Gespräch mit Felix Wassermann über asymmetrische K­ riegführung, Herausforderungen für die Wissenschaft und imperiale Mächte

>> ANALYSE 25 Die Herausforderungen neuer Kriegspraktiken Aktuelle Debatten der Moralphilosophie des Krieges ΞΞNadia Mazouz

36 Demokratisierung der Demokratie?

Radikaldemokratische Konfliktontologie in der Diskussion ΞΞBastian Mokosch

45 Staatlichkeit und die ­Einhegung des Krieges

Warum europäische Staaten in Europa andere Kriege führten als außerhalb ΞΞDieter Langewiesche

53 Der Siebenjährige Krieg als Zäsur

Über militärischen, politischen und ­gesellschaftlichen Wandel im ersten ­globalen Konflikt ΞΞThomas Klingebiel

63 »Operation mitten im Ballsaal«

Die Pariser Friedenskonferenz 1919 als Krise der politischen ­Kommunikation ΞΞJörn Leonhard

72 Spanische Erinnerungskulturen im Widerstreit Über das Ringen von Geschichts­vergessenheit, Geschichtsversessenheit und politischer Lagerbildung ΞΞWalther L. Bernecker

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80 Nordirland und der Brexit

Zur Gefahr einer Konflikteskalation ΞΞThomas Noetzel

88 Abkehr vom Pazifismus

Japans sicherheitspolitische Kehrtwende ΞΞFelix Spremberg

99 Umgeben von Feinden

Kriegsbedrohung und Ideologie in der israelischen Gesellschaft ΞΞMoshe Zuckermann

108 Nach dem Konflikt ist vor dem Konflikt? Über Peacebuilding und Transitional Justice ΞΞKristine Avram / Alexandra Engelsdorfer

115 Umgang mit Krieg und Konflikt

Anspruch, Strategiefähigkeit und Öffentlichkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik ΞΞSarah Brockmeier / Philipp Rotmann

PERSPEKTIVEN >> ANALYSE 126 Das Schisma der ­Konservativen

Eine exemplarische Konfliktskizze aus ­teilnehmender Beobachtung im ­katholisch-konservativen Milieu ΞΞAndreas Püttmann

>> ESSAY 143 Die »Nichtregierung«

Konkordanzsystem und Direkte Demokratie als Modell für die EU? ΞΞKarl-Martin Hentschel

149 Dünnes Eis? Ach was!

Vier Thesen in Verteidigung des Puritanismus ΞΞAndrea Roedig

Inhalt

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SCHWERPUNKT: KRIEG UND KONFLIKT

INTERVIEW

»WIR MÜSSEN ÜBER HYBRIDEN FRIEDEN NACHDENKEN« ΞΞ Ein Gespräch mit Felix Wassermann über asymmetrische ­Kriegführung, Herausforderungen für die Wissenschaft und imperiale Mächte

Eine Reaktion auf die sich verändernde Kriegführung seit den 1990er Jahren besteht in der Verwendung des Begriffs »hybrider Krieg«. Sie deuten diese Bezeichnung als einen Ausdruck der Orientierungslosigkeit auf begrifflicher und politischer Ebene. Worin besteht die Orientierungslosigkeit und von welchen Akteuren geht sie aus? Ich glaube, mit dem Jahr 2014 wurde die Semantik des Hybriden durch zwei Phänomene prominent. Erstens: Was in der Ostukraine und auf der Krim geschah, wurde weithin als ungewöhnlich wahrgenommen. Russland tat etwas Überraschendes. Die internationale Staatengemeinschaft wusste zunächst nicht, ob sie es mit einem inner-ukrainischen Konflikt oder einem zwischenstaatlichen Kriegszustand zu tun hatte. Die NATO war schlichtweg überrumpelt: Ein Staat hatte aus den Vorgehensweisen nichtstaatlicher Akteure gelernt – nämlich wie man ohne Uniform, ohne Hierarchie, ohne Kriegserklärung, sondern verdeckt und dezentral und somit eigentlich partisanenartig operiert. Zweitens erschien, am anderen Ende der Skala zwischen Staatlichkeit und Nichtstaatlichkeit, der sogenannte Islamische Staat auf der Bildfläche. Zwar ist diese Terrorgruppe jetzt territorial wieder zurückgedrängt, doch hatte sie zeitweise zwischen Syrien und Irak quasistaatliche Strukturen aufgebaut und war somit in Richtung der hybriden Mitte gewandert. In diesen Bereich bewegte sie sich genau wie Russland hinein, aber aus der umgekehrten Richtung kommend, von der Nichtstaatlichkeit her. Diese beiden gegenläufigen, in der hybriden Mitte zusammentreffenden Entwicklungen sind verwirrend, weil wir bestimmte Dinge aus dem Blick verloren haben. Wenn wir an Krieg denken, sind wir es gewohnt, an Uniformen zu denken, an Schlachten, an Kriegsdenkmäler und an Friedensschlüsse.

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Diese Bilder und Begriffe in unseren Köpfen haben uns allerdings vergessen lassen, dass Krieg auch ganz anders ablaufen kann. Die Orientierungslosigkeit ist also nicht unbedingt eine Folge der völligen historischen Neuheit der Phänomene, sondern sie resultiert aus unserer Überforderung mit dem gemischten, zwitterhaften, eben hybriden Charakter des jüngeren Konfliktgeschehens. Denn der hybride Krieg unterläuft die klassischen Unterscheidungen aus dem Zeitalter der Staatenkriege, an die wir uns gewöhnt haben: die Unterscheidungen zwischen Krieg und Frieden, Staatenkrieg und Bürgerkrieg, Außenpolitik und Innenpolitik, Militär und Polizei. Gerade das Verwischen dieser Unterscheidungen führt zur Orientierungs­losigkeit, und eben das zeigt die Semantik des Hybriden an: dass unsere alten Begriffe, wie Staatenkrieg und Frieden, nicht mehr taugen. Deswegen ist es produktiv, darüber zu sprechen, wo die Grenzen des alten Vokabulars liegen, und im nächsten Schritt zu schauen, was genau das Hybride ausmacht und wie man damit strategisch und politisch umgehen kann. Warum braucht es, anstatt an den jeweiligen Kontext der Phänomene anzuknüpfen, einen definierten Begriff des Krieges? Was ist bei einer begrifflichen Unklarheit zu befürchten? Grundsätzlich ist es die Aufgabe der Geisteswissenschaft, die Dinge auf den Begriff zu bringen, sie zu verstehen und zu ordnen. Die politische Ideengeschichte von Krieg und Frieden hat in diesem Sinne Begrifflichkeiten anzubieten, die zur Beschreibung politischer Gewalt genutzt oder auch hierfür adaptiert werden können. Die empirische Kriegs- und Konfliktforschung kann natürlich auch differenzierter herangehen und eine Vielzahl von Kontext­ variablen einbeziehen. Sie kann bspw. untersuchen, ob die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Konfliktaustragungen mit dem Ausmaß von Armut steigt und inwiefern Gewaltkonflikte in Gebieten häufiger sind, in denen es Gebirge gibt. Aber ohne einen theoretisch geschärften Kriegsbegriff bleibt leicht unklar, was daran eigentlich das Kriegerische ist – man könnte ja ansonsten auch von Kriminalität sprechen. Neben begrifflichen Ordnungsaspekten kommen hier politische Aspekte hinzu. Denn für die Sicherheitspolitik stellt sich irgendwann die Frage, wie man reagiert, also ob man kriegerisch antwortet oder nicht. Wir sind es wie gesagt gewohnt, binär zu denken: entweder Frieden oder Krieg, entweder Polizei oder Militär. Die politische Theorie von Krieg und Frieden kann mit ihren Begriffsangeboten zur Klärung solcher Urteile beitragen – gerade auch in Situationen, in denen die Lage unklar ist, weil etwa vordergründig ganz zivile Dinge passieren, Massendemonstrationen stattfinden, Stromnetze zusammenbrechen und Einflussnahmen allenfalls

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Krieg und Konflikt  —  Interview

zu vermuten sind. Auf der Krim ist fast kein Schuss gefallen, während in den Auseinandersetzungen der Ostukraine bis heute Menschen sterben – teilweise unter Ausschluss der europäischen Öffentlichkeit. Bisherige Parameter und Begrifflichkeiten laufen hier leicht ins Leere. Deswegen finde ich es wichtig, zu überlegen, wie man das begrifflich fasst – und wie man dann damit umgeht, falls man zu dem Schluss gelangt, das lasse sich begrifflich eigentlich nicht mehr fassen. Wie begründen Sie, gerade wenn es um begriffliche Klarheit geht, dass etwa im Kontext Afghanistan in den 2000er Jahren der Kriegsbegriff zu vermeiden versucht und stattdessen von bewaffneten Konflikten gesprochen wurde? In der politischen Sprache kann es Gründe dafür geben, etwas nicht Krieg zu nennen. Im Fall Afghanistans sorgte wohl die Überzeugung dafür, es verringere die gesellschaftliche Unterstützung für den Einsatz, wenn dieser als Kriegseinsatz bezeichnet würde. Ein anderer Grund, den Kriegsbegriff zu meiden, ist, dass diese Bezeichnung immer schon eine bestimmte Antwort nahelegt. Wenn etwa ein terroristischer Anschlag als Krieg bezeichnet wird, dann liegt eine militärische Reaktion nahe. Es gibt aber gute Gründe, Terrorismus nicht als Krieg zu behandeln, etwa weil eine militärische Reaktion Terrorgruppen auch stärken kann. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wiederum hat man durchaus auch etwas zu verlieren, wenn man auf den Kriegsbegriff verzichtet, nämlich das ganze analytische Instrumentarium, das uns die Kriegstheorie seit Carl von Clausewitz, eigentlich schon seit Thukydides oder Sunzi bietet. Insofern empfiehlt es sich, zwischen politischem und wissenschaftlichem Sprachgebrauch zu unterscheiden, wenn man überlegt, warum jeweils von Krieg die Rede ist oder gerade nicht. Herfried Münkler hat daran erinnert, dass auch die klare Unterscheidung von Krieg und Frieden eine (positive) Folge der Verstaatlichung des Krieges gewesen ist. Zuvor war es insbesondere an den Rändern der alten Großreiche ständig zu einer Diffusion von Kriegs- und Friedenszuständen gekommen. Erleben wir, zum Beispiel mit Blick auf die ukrainisch-russische Grenzregion, derzeit einen Rückfall in solche vorstaatlichen, vormodernen Konstellationen? Das lässt sich mit Begriffspaaren wie Symmetrie und Asymmetrie beschreiben. Das symmetrische Modell ist jenes nach dem Westfälischen Frieden 1648. Die Symmetrie äußert sich darin, dass sich die Gegner wechselseitig als Gleiche anerkennen, einander dasselbe Recht zur Kriegführung zusprechen und sich zudem auf dieselben Regeln im Kriege verpflichten – zumindest idealtypisch, denn diese Regeln wurden, vor allem in den Kolonialkriegen, Ein Gespräch mit Felix Wassermann

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aber nicht nur dort, immer wieder verletzt. Grundlage der Symmetrien war, dass es sich bei den Kontrahenten in Europa seit 1648 in der Regel um institutionelle Flächenstaaten handelte. Diese sind ähnlich territorial verortet, füreinander sichtbar und deswegen auf gleiche Weise verwundbar. Hierdurch kommt eine spezifische symmetrische Rationalität ins Spiel – und so standen sich auf den europäischen Schlachtfeldern nicht nur ähnlich organisierte Truppen gegenüber, die vergleichbar rekrutiert, equipiert und trainiert waren, sondern die Staatenheere wendeten auch ähnliche Strategien an. All das ist nicht der Fall, wenn sich die Gegner nicht als im Prinzip Gleiche wahrnehmen und anerkennen, wenn also etwa die eine Seite untertaucht, nicht mehr auf der Landkarte sichtbar und territorial verortet ist, oder wenn die andere Seite imperial auftritt, sich für übermächtig oder in moralischer Hinsicht überlegen hält und daher ihre Gegner nicht als Gleiche anerkennt. Dann kommt entweder eine Partisanen-Guerilla-­Logik oder eine imperiale Logik ins Spiel, also in beiden Fällen: Asymmetrie. Diese Logik der Asymmetrie beruht im Kern darauf, dass beide Seiten sich nicht mehr wechselseitig als Gleiche wahrnehmen und anerkennen, und sie führt dazu, dass sie auch nicht mehr dem gleichen Entwicklungspfad folgen. Im symmetrischen Konflikt folgt die Entwicklung dem Prinzip der Nachahmung: Wenn Frankreich die Wehrpflicht einführt, holt Preußen das nach. Und wenn den einen eine Rüstungsinnovation gelingt, dann überlegen sich die anderen eine spiegelbildliche Verteidigungsmaßnahme oder Nachrüstung. Asymmetrie bedeutet demgegenüber, dass die Entwicklungspfade grundsätzlich verschieden sind und in verschiedene Richtungen weisen. Wenn der eine auf Drohnen setzt, setzt der andere, weil er sie technologisch nicht erreichen kann, auf Selbstmordattentate. Sie sind technologisch billiger, aber setzen Heroismus voraus: Entschlossenheit bis zum Opfer. Diese Ressource wiederum ist in westlichen Gesellschaften vergleichsweise knapp. Hier gewinnt also – zusätzlich zu den organisatorischen, technologischen und strategischen Asymmetrien zwischen einer nichtstaatlichen Kämpfergruppe, einem Territorialstaat und einem Imperium – eine Asymmetrie der Entschlossenheit und des Heroismus an Bedeutung. Das Problem ist, dass sich heroische Akteure nicht leicht zur Beendigung der Kampfhandlungen oder gar zu Friedensschlüssen bewegen lassen, nicht einmal durch schwere Niederlagen. Aber auch imperial auftretende Mächte sind schwerlich in Friedensarrangements einzubinden, wenn diese auf Reziprozität und Symmetrie beruhen. Eben deswegen droht unter Bedingungen der Asymmetrie die Grenze zwischen Krieg und Frieden zu verwischen. Irgendein Akteur ist immer der Meinung, den Kampf weiterführen zu können und zu sollen. Ob das jetzt wiederkommt?

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Krieg und Konflikt  —  Interview

In mancherlei Hinsicht scheint es sich tatsächlich um eine Wiederkehr zu handeln. Es erinnert etwa an den Dreißigjährigen Krieg, wo die symmetrischen Grenzziehungen noch nicht so deutlich waren. Doch daneben lassen sich immer wieder auch Innovationen in diesem asymmetrischen Feld beobachten, die keine direkten Vorläufer, ihrerseits aber Nachahmer haben – von der kreativen Umnutzung ziviler Infrastrukturen offener Gesellschaften durch Terrorgruppen bis zu Strategien drohnengestützter Überwachung und Tötung durch technologisch führende Mächte. Sie schreiben, die entscheidende Herausforderung der westlichen Außen- und ­Verteidigungspolitik in den kommenden Jahren sei, »jene Symmetrie, die infolge der historischen Umbrüche und Asymmetrierungsschübe nach 1991 und nach dem 11. September 2001 unter- und verlorengegangen ist, durch ein neues angemessenes Maß auf höherer Ebene wiederherzustellen, also eine neue ›Syn-­Metrie‹ als ›Wohlgeordnetheit‹ im Verhältnis zwischen Symmetrie und Asymmetrie zu bestimmen und zu verwirklichen«. Was meinen Sie damit? Wie könnte eine solche »Syn-Metrie« aussehen? Dem alten griechischen Wortsinn nach meint Symmetrie ja, zusammengesetzt aus syn und metron, eben dies: das richtige, angemessene Maß. Erst in der Neuzeit tritt demgegenüber die Bedeutung von Symmetrie als Spiegelgleichheit in den Vordergrund. Wenn nun in den asymmetrischen Konstellationen unserer Zeit die Spiegelgleichheit zwischen den politisch-strategischen Akteuren verlorengeht, weil sich die Gegner nicht mehr als gleichartig wahrnehmen und anerkennen, dann könnte es sich lohnen, darüber nachzudenken, wie eine zeitgemäße, angemessene und in diesem Sinne syn-­metrische Ordnung zu beschreiben und umzusetzen wäre. Ich habe eine solche syn-­ metrische Ordnung als ein Neben- und Gegeneinander von Symmetrien und Asymmetrien zu umreißen versucht. Als Theoretiker nehme ich dabei das Privileg für mich in Anspruch, Fragen zu formulieren und Herausforderungen zu präzisieren. Wenn Praktiker – friedenspolitische Akteure oder auch die Bundeswehr – mich fragen, was das denn konkret heißt und was nun die operative Antwort ist, betone ich, dass das doch eigentlich ihre Aufgabe sein müsste: die Konkretion für die Praxis. Wenn die politische Theorie diese Aufgabe auch noch übernähme und versuchte, die Syn-Metrie und den Umgang mit ihr exakt zu benennen, bekäme sie sicherlich sehr lukrative Beratungsaufträge entsprechender Institutionen. Der eigentümliche Beitrag der Theorie von Krieg und Frieden besteht aber darin, sicherheits- und friedenspolitische Entwicklungen gedanklich zu durchdringen und begrifflich zu erfassen. Mit dem Begriff der Syn-Metrie lassen sich nun jüngere Tendenzen im Ein Gespräch mit Felix Wassermann

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Zusammenspiel von Symmetrien und Asymmetrien auf den Punkt bringen, bspw. auf Ebene der Organisationsform: Wir haben das klassische staatliche Militär auf der einen und den fluiden, dezentralen, anpassungsfähigen Akteur auf der anderen Seite. Beide improvisieren immer stärker im Zwischenfeld. Armeen überlegen, wie sie kurzfristiger, schneller, dezentraler agieren können. Die Preußen entwickelten bereits das Führungsmodell der Auftragstaktik, demzufolge ein Auftrag erteilt und dann dezentral umgesetzt wird. Hier gibt es also Vorläufer. Nichtstaatliche Kämpferverbände bauen heute ihrerseits territoriale, hierarchische Strukturen auf, ohne aber ganz auf die strategischen Vorteile ihrer fluiden Organisationsform verzichten zu wollen. Dieses syn-metrische Experimentieren im Zwischenbereich betrifft zudem die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Akteuren und Aktionen. Die Terrorgruppe möchte im Untergrund bleiben, um sich nicht verwundbar zu machen, muss aber doch immer wieder sichtbar werden – sei es, um ihre Schreckensbotschaft zu verbreiten, sei es, um Anhänger zu mobilisieren, sei es, um spektakuläre Angriffe zu inszenieren. Umgekehrt wollen wir natürlich sehen und demokratisch kontrollieren, was sicherheitspolitisch passiert; doch wird manches inzwischen notgedrungen in das parlamentarische Kontrollgremium ausgelagert, da es in einem Graubereich abläuft. Es ist eine Herausforderung für eine Gesellschaft, zu überlegen, ob sie aus strategischen Gründen bereit ist, diesen Weg in das hybride Zwischen- oder Mittelfeld zu gehen, oder ob sie bei der klassischen symmetrischen Aktionsweise bleibt – was allerdings auch seine Kosten hat. Wo könnte also das angemessene Maß, die Syn-Metrie liegen? Neben Organisationsform und Sichtbarkeit betrifft dies das Verhältnis von Kohärenz und Flexibilität. Wir wollen eine einheitliche, möglichst kohärente Außen- und Sicherheitspolitik. Dann ist oft die Rede von einem vernetzten Ansatz, dem alle Bereiche der Planung unterliegen. Vieles ist aber nicht planbar, gerade, wenn man annimmt, dass potenzielle Kontrahenten nicht immer nach den Spielregeln der Symmetrie spielen. Hier besteht die Herausforderung darin, das Unplanbare zu planen und rational mit unserem eigenen Nichtwissen umzugehen. Nur so lässt sich hoffen, dass man zugleich kohärent agiert und flexibel bleibt, wie es eine syn-metrische Herangehensweise verlangt. Hannah Arendt ging davon aus, dass man sich nur als das wehren kann, als was man angegriffen wird. Wie können nun Demokratien auf diese Art der Kriegführung, die als Angriff auf die Demokratie verstanden werden kann, reagieren? Können und müssen sie ihren Zweck, die Demokratie zu schützen und zu erhalten, etwa mit undemokratischen und nicht-kalkulierbaren Mitteln durchsetzen?

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Krieg und Konflikt  —  Interview

Die eine Seite würde sagen, man kann nicht dauerhaft mit einem Arm auf den Rücken gebunden diesen Kampf führen. Wir müssen kriegsrechtliche und normative Bindungen lösen, so etwa mit Blick auf den Einsatz von Spezialkräften, Drohnen und Überwachungssoftware. Das ist die rein strategische Sicht. Im Extremfall würde das bedeuten, unsere Bindungen völlig abzulegen. Dann gewinnen wir vielleicht einen Kampf, aber verlieren uns selbst und unsere demokratischen Grundwerte. Andere mahnen deswegen zum demonstrativen Festhalten an den Errungenschaften der demokratischen, offenen Gesellschaft. So wurde nach dem Breivik-Attentat die gelassene Reaktion der norwegischen Gesellschaft sehr gelobt. Zu sagen, wir machen weiter wie bisher, diese Beschwörungsformel, die wir nun auch nach dem Attentat von Christchurch in Neuseeland gehört haben, ist grundsätzlich sicher wünschenswert. Man sollte aber realistisch einschätzen, was passieren kann, wenn es ein organisierter Gegner nicht bei einem Anschlag belässt. Hält eine Gesellschaft das auf Dauer aus? Oder drohen dann die Scharfmacher Gehör zu finden, die sämtliche Bindungen lösen wollen und alle liberaldemokratischen Errungenschaften für »mehr Sicherheit« opfern? Das sind natürlich Schreckensszenarien; und wenn man darüber nachdenkt, besteht immer die Gefahr, dass man sich in ein Risiko- und Präventionskalkül hineinsteigert, das stets vom schlimmsten Fall ausgeht. Aber eine realistische demokratische Sicherheitspolitik hat doch die normativen mit den strategischen Erfordernissen zu vermitteln und also auch in diesem Sinne syn-metrisch zu agieren. Das gelingt ihr, wenn sie vorbeugend und vorausschauend das demokratische Vertrauen in die Sicherheitsbehörden fördert, damit schwerwiegende Ereignisse nicht dazu führen, dass man Zuflucht bei denjenigen sucht, die Sicherheit durch radikale Maßnahmen, durch Einschränkung der bisherigen Regelungen versprechen. Im Moment des Anschlags muss eine Bevölkerung das Vertrauen haben können, dass von den Sicherheitsbehörden alles getan wurde. So lässt sich am ehesten der Gefahr vorbeugen, dass wir uns als etwas wehren, das wir eigentlich nicht sind. Sind nicht, seitdem der Krieg gegen den Terror geführt wird, schon viele ethische Maßstäbe perdu? Man denke nur an Guantanamo Bay, an die Errichtung von Lagern in Zwischenterritorien, die nicht dem US-amerikanischen Recht unterstehen. Ist das Teil einer neuen Kriegführung, die notwendig ist, um den Krieg zu gewinnen? Zumindest haben das die Verantwortlichen in den USA so gesehen. Sie haben ihre Gegner nicht als reguläre Kriegsgefangene behandelt, mit denen Ein Gespräch mit Felix Wassermann

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nach den Vorgaben des Humanitären Völkerrechts zu verfahren wäre. Stattdessen haben sie die Zwischenkategorie des Unlawful Combatant verwendet, um die »unrechtmäßigen« Gegner exterritorial unterzubringen. Der Unlawful Combatant ist einerseits, wenn er denn ein Krieger ist, natürlich nicht ein solcher, der wie »reguläre« Krieger mit offenem Visier sichtbar antritt. Er möchte strategisch von der Unsichtbarkeit profitieren, aber andererseits im Fall der Gefangennahme doch so behandelt werden, als ob er mit offenem Visier symmetrisch gekämpft hätte. Das führt die Beteiligten und ihre Beobachter in einen Kampf der Lawfare hinein, also in eine rechtliche Kriegführung um Kategorien, die auch den massenmedialen Raum erfassen kann. Die Errichtung solcher Camps widerspricht unserem Verständnis vom Umgang mit Kriegsgefangenen, und langfristig dürfte sie auch strategisch kontraproduktiv sein; aber sie war vermutlich eine Reaktion darauf, dass man sagte: Das sind zwar keine regulären Kombattanten, die wir nach den Regeln des Humanitären Völkerrechts behandeln wollen, aber andererseits auch nicht einfach Kriminelle, die wir mit unseren bisherigen juristischen und polizeilichen Mitteln fassen können. Da wir sie für gefährlich halten, setzen wir sie als unrechtmäßige Kämpfer fest, auch wenn die Beweislage wohl nicht für eine Verurteilung reichen würde. Ob diese Vorgehensweise notwendig ist, um den Krieg zu gewinnen, ist eine schwierige Frage. Denn das Gewinnen eines Krieges im Sinne eines Sieges ist eine Kategorie aus dem alten symmetrischen Krieg. Dort waren, wie gesagt, Krieg und Frieden klar unterschieden, und der Frieden wurde durch den Sieg und den anschließenden Friedensschluss begründet. Aber wie endet der sogenannte Krieg gegen den Terror? Eine Entscheidungsschlacht ist hier nicht zu erwarten. Vermutlich kann dieser Krieg nur durch eine bewusste Entscheidung beendet werden, und zwar eine Entscheidung von uns. Das Kriegsvokabular ist hier sehr verführerisch. Nach dem Anschlag von Nizza am französischen Nationalfeiertag sagte der französische Botschafter am Pariser Platz in Berlin, man werde diese Schlacht gewinnen. Das ist auf die eine Art nachvollziehbar: Man will Zuspruch, man will Entschlossenheit kommunizieren, der Öffentlichkeit sagen, dass man sich nicht einschüchtern lässt. Aber Begriffe wie »Schlacht« und »Gewinnen« führen auf eine falsche Fährte. Es kann kleinere Erfolge geben, etwa wenn ein Anschlag durch die Sicherheitsbehörden aufgedeckt wird oder wenn ein Passant jemanden zu Boden bringt, der mit einer Waffe um sich schießt. Solche Erfolge sind strategisch bedeutsam, weil sie das gesellschaftliche Vertrauen in die eigene Abwehrfähigkeit stärken. Um Siege im eigentlichen Sinne handelt es sich dabei aber nicht.

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Krieg und Konflikt  —  Interview

Die Frage ist also eher, was als Indikator oder auch Äquivalent für einen Sieg gelten kann. Nehmen wir den IS. Territorial ist er jetzt tatsächlich zurückgedrängt. Die staatliche, hierarchische Struktur scheint besiegt, nicht aber das globale Kommunikationsnetzwerk und vor allem nicht das Narrativ. Jeder, der aus welchen Gründen auch immer Bedeutsamkeit für den eigenen Konflikt erlangen will, kann sich an dieses Narrativ andocken. Wir wissen manchmal nicht, ob ein Anschlag wirklich organisatorisch oder in irgendeiner Weise dem IS zuzuordnen ist. Dann gibt es ein Bekennerschreiben, mit dem sich eine womöglich abseitige Splittergruppe in eine weltpolitische Auseinandersetzung hineinerzählt. In letzter Zeit zeigt sich, dass sich die Vorgehensweise des IS wieder den asymmetrischen Anfängen annähert. Sicherlich ist es ein Erfolg, dass man einen solchen Druck auf den IS aufgebaut hat, dass kaum noch mit großen Operationen, sondern eher mit kleineren Anschlägen zu rechnen ist. Es gibt ja Pamphlete des IS, die seine Anhänger auffordern: Kommt nicht mehr in den Irak und nach Syrien zum Kampf, sondern bleibt, wo ihr seid, und kämpft dort für unsere Idee mit den einfachsten Mitteln. Solange diese Idee Menschen zum Kampf mobilisiert bzw. solange es Kämpfern attraktiv erscheint, sich mit ihr zu identifizieren, ist der IS nicht besiegt. Welche Rolle spielen dann also Narrative für einen Krieg oder einen Konflikt? Wenn man annimmt, der Krieg verfolgt einen politischen Zweck, und es gibt – clausewitzianisch gedacht – jemanden, der diesen Zweck mit Gewalt durchsetzen will, dann ist es im konventionellen Krieg der Staatsmann, der den besagten Zweck bestimmt, zu dem Krieg geführt wird. Der Feldherr hingegen legt fest, wie dieser Zweck kriegerisch erreicht werden soll, während die kämpfende Bevölkerung die physische Gewalt als Mittel der Kriegführung zur Verfügung stellt. Die kämpfende Bevölkerung liefert gewissermaßen die physische Brutalität, der Feldherr die strategische Kreativität und der Staatsmann wiederum die politische Rationalität für den Krieg. Um nun alle Kräfte zu bündeln und hinter dem durchzusetzenden Kriegszweck zu versammeln, kommen oftmals Narrative zum Einsatz. Im Zeitalter symmetrischer Staatenkriege wurde bspw. von vergangenen Niederlagen, Opfern und Schuld erzählt, aber auch von zu sichernden Ressourcen, Räumen und Interessen, um den Kriegszweck zu unterstreichen. Auch dem Gegner wurde dabei zumeist ein kohärenter Wille unterstellt bzw. anerzählt, damit man diesen Willen antizipieren und ihm zuvorkommen konnte. Das ist unter Bedingungen der Asymmetrie nicht grundsätzlich anders. In diesem Sinne fragen wir uns ja bei Anschlägen: Warum auf dem Weihnachtsmarkt? Warum Berlin? Warum zu Ein Gespräch mit Felix Wassermann

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diesem Zeitpunkt? Noch bevor es ein Bekennerschreiben gibt, beginnen wir zu deuten – oder zu erzählen. Wir wollen den politischen Willen verstehen, der hinter dem Anschlag steht. Denn die Alternative hierzu wäre ja, anzunehmen, die Tat sei willenlos erfolgt, die Täter seien Irre bzw. es handle sich bei ihrem Anschlag um einen zweck- und ziellosen Akt expressiver Gewalt. Um den heutigen Erzählungen derjenigen etwas entgegenzusetzen, die weltweit strategische Köpfe inspirieren und Kämpfer für den terroristischen Kampf mobilisieren, ist wohl so etwas wie eine politisch-strategische Gegenerzählkunst nötig. Es kommt darauf an, die verschiedenen Dinge, die auf der Welt passieren, aus den Universalphrasen der Ideologen herauszuerzählen, die etwa vom Kampf »Der Westen gegen den Islam« fabulieren. Es ist wichtig, genauer hinzusehen und die Ursachen der einzelnen Konflikte zu unterscheiden, um dann der sie verbindenden Großerzählung mit wirklichkeits­ näheren Analysen zu begegnen, die gerade die Widersprüche im gegnerischen Narrativ offenlegen. Diese strategische Bedeutung haben Narrative sowohl im Staatenkrieg als auch im asymmetrischen Krieg. Bei der Findung eines Gegennarrativs in Letzterem sollte man sich allerdings einer Besonderheit bewusst sein: Unter Bedingungen der Asymmetrie genießt strategische und legitimatorische Vorteile, wem es gelingt, sich in die Rolle des schwachen David im Kampf gegen einen übermächtigen Goliath hineinzuerzählen. Denn dem Hirtenjungen wird seine irreguläre Kampfweise mit der Steinschleuder gegen den schwerbewaffneten Krieger in der Regel nachgesehen, ja er zieht häufig gerade die Sympathien der Umstehenden auf sich, und zwar auch unabhängig davon, wofür er eigentlich kämpft. Für vergleichsweise starke Akteure ist es besonders anspruchsvoll, solchen Narrativen mit überzeugenden Erzählungen zu begegnen. Während der Westen weiter in seinen dualistischen Kategorien denkt, sagen Sie, dass bspw. Russland von der asymmetrischen Kriegführung sehr viel mehr gelernt habe und deshalb besser reagieren könne. Worin sehen Sie die Gründe dafür, dass einige Staaten oder politische Akteure diese Art der Kriegführung schneller lernen? Ein Grund ist vielleicht Schwäche. Niederlagen sind immer gute Lehrmeister. Die technologische Überlegenheit der USA kann für diese auch eine Lernblockade bedeuten. Man kann weiter vor allem auf Technologie setzen und eine risikoaverse Zero-Casualty-Kriegführung betreiben. Aus russischer Perspektive stellt sich hingegen schon länger die Frage, wie man so einer Überlegenheit begegnen kann, ohne gleichziehen zu müssen, also zu überholen, ohne einzuholen. Dafür beobachtet man besonders aufmerksam diejenigen

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Akteure und Ereignisse, die erfolgreich waren. Ein kleines Netzwerk konnte die Supermacht ins Herz treffen und dadurch weitreichende psychologische Effekte und sogar eine Umstellung der Außenpolitik erzielen. Könnte nicht auch ein Staat das irgendwie einsetzen? In Reden und Militärdokumenten wird seit einiger Zeit überlegt, wie Russland stärker auf die Verwundbarkeiten seiner eigentlich überlegenen Gegner abzielen kann. Insbesondere findet sich dort die Lehre, dass eine Gesellschaft durch einzelne Nadelstiche oder auch durch scheinbar zivile Aktionen grundsätzlich aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Doch dieser Lernprozess ist noch nicht und wahrscheinlich nie vorbei. Es ist ja immer auch heikel, als Staat Kontrolle abzugeben, Milizen zu bewaffnen und loszuschicken. Hier taucht wieder die Frage von Kohärenz und Flexibilität auf. Einerseits gewinnt man womöglich Flexibilität, wenn man Milizen einsetzt, für deren Tun man zudem die Verantwortung abstreiten kann. Andererseits droht man die zentrale Steuerung zu verlieren. Wer weiß, ob die dezentrale Kriegführung nicht irgendwann aus dem Ruder läuft? Der Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs über der Ostukraine mit 298 Menschen an Bord deutet in diese Richtung. In solchen unscharfen Räumen zu agieren und mit deren Dilemmata umzugehen, stellt staatliche Armeen vor erhebliche Lernherausforderungen. In Anbetracht von Flexibilisierung, Technologisierung und neuen Kriegsstrategien: Wie können wir Cyberkriege im Kontext neuer Kriege fassen? Benötigen wir, mit Blick auf die Vorstellung, dass Krieg immer mit Gewalt einhergeht, eine neue Begrifflichkeit für diese Art des Angriffs? Eine berühmte Studie von Thomas Rid heißt »Cyber War Will Not Take Place«. Dieser Titel sollte irritieren. Gemeint war nämlich nicht, dass nichts passieren wird, sondern dass das, was dort passiert, kein Krieg im clausewitzianischen Sinne mit dem Einsatz physischer Gewalt ist. Wenn wir aber mit dem Kriegsbegriff auch die kriegstheoretischen Beschreibungskategorien ganz aufgeben und also bei Cyberattacken nicht mehr nach Zweck und Ziel, Mittel und Effekten fragen, was steht uns dann noch zur Verfügung, um das Phänomen angemessen zu fassen? Anonymität ist hier sicherlich ein Problem. Woher kommen die Angriffe? Kann ich Vergeltungsmaßnahmen einsetzen oder bleibt der andere unsichtbar? Denn Krieg setzt ja in jedem Fall den Zweikampf voraus. Anstelle einseitiger Aktionen muss Reaktion möglich sein. Den physischen Aspekt würde ich allerdings weniger heranziehen. Denn wenn man sich streng auf physische Gewalt beschränkt, ist man ja auch beim Terror, der vor allem auf psychische Effekte aus ist, schon an der Grenze. Und doch können die Effekte von Cyberangriffen durchaus physischer Art sein, Ein Gespräch mit Felix Wassermann

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etwa wenn ein Krankenhaus stillgelegt wird – auch wenn die Waffe nicht kinetisch ist, sondern per Code funktioniert. Das Mittel ist hier zwar nicht physisch, aber der Effekt ist es sehr wohl. Die entscheidende Frage ist aus meiner Sicht aber die nach den Reaktionsmöglichkeiten. Wenn diese überhaupt nicht mehr gegeben sind, müsste man überlegen, welche Beschreibungsmöglichkeiten es jenseits der Kriegskategorie und Kriegstheorie gibt. Die Entstaatlichung des Krieges äußert sich auch darin, dass etwa achtzig Prozent der in bewaffneten Konflikten Getöteten Zivilisten sind, während früher in den großen Staatenkriegen neunzig Prozent der Getöteten Soldaten waren. Kann man auf der Grundlage solcher Zahlen sagen, dass die verstärkt seit 1989/90 einsetzende Entstaatlichung des Krieges auch eine Entzivilisierung des Krieges mit sich gebracht hat? Man kann das eine Entzivilisierung im Sinne einer Brutalisierung nennen, darin gleichzeitig aber auch eine Zivilisierung erkennen in dem Sinne, dass der Bürger – cives – zunehmend auf das Schlachtfeld der Kriege gerät. Der unbeteiligte Zivilist und der uniformierte Kombattant: Diese Unterscheidung verwischt und mit ihr diejenige zwischen Front und Hinterland als zwei Kategorien, die wir uns gewöhnlich als getrennt vorstellen – abgesehen vielleicht von Denkern des totalen Krieges wie Erich Ludendorff. Die haben in Umkehrung der Clausewitz­’schen Formulierung gemeint, Krieg sei nicht die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln, sondern umgekehrt setze die Politik den Krieg fort, weshalb der Krieg als totaler zu begreifen und zu führen sei. Totalisierung heißt dann, dass auch das Hinterland zum Schlachtfeld wird und die Heimatfront tatsächlich eine solche ist. Das ist eine Vorstellung der Entgrenzung. Wenn man das Schlachtfeld gedanklich ausweitet auf die Zivilgesellschaft und auf die zivile Infrastruktur, dann geht letztlich die Zivilität als solche verloren. Das erscheint vielleicht paradox: Die Zivilisierung der Kriegsbeteiligten führt zur Entzivilisierung der Gewalt. Diese Paradoxie löst sich aber auf in der Beobachtung, dass die Bürger in den Krieg hineingezogen werden und dass das entgrenzende, entzivilisierende Folgen hat. An diesem Prozess wirken auch diejenigen mit, welche die Willensbildung der Zivilgesellschaft strategisch zu beeinflussen versuchen, so etwa durch Schreckensnachrichten oder Bilder von Leid, die das Fernsehpublikum und die Internetnutzer zu bestimmten Reaktionen oder auch Überreaktionen provozieren. Hier weitet sich das Schlachtfeld also in die medialen und digitalen Räume hinaus aus. In diesen Medien und Räumen bewegen sich zivile Kämpfer wie »Fische im Wasser«, um eine Formulierung von Mao Zedong aufzugreifen. Er meinte damit, dass der Partisan in der Zivilbevölkerung

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unterzutauchen habe. Sein Vorteil besteht darin, dass er sich nicht klar zu erkennen gibt, dass er ohne Uniform agiert. Das funktioniert allerdings nur, wenn das Umfeld ihn deckt, ihn selbst unter Repressionen nicht verrät, zu denen die Partisanenbekämpfer verleitet werden, was wiederum zur Entzivilisierung der Gewalt beiträgt. Der transnationale Terrorismus hat sich jüngst allerdings von dieser direkten zivilen Unterstützung gewissermaßen losgesagt. Er braucht keine breite gesellschaftliche Basis mehr, in der er sich bewegt und deren Anliegen er zu vertreten vorgibt. Ihm reichen oftmals wenige todesmutige Kämpfer, die hinreichend ideologisiert und organisiert sind, um die Zivilbevölkerung zu attackieren und zu terrorisieren. Die Brutalisierung äußert sich dann darin, dass gezielt kritische Infrastrukturen, zivile Einrichtungen, Krankenhäuser angegriffen werden. Das ist eine Art der Entgrenzung des Krieges, die von Zivilisten ausgeht und Zivilisten zur Zielscheibe macht. Wir sprechen von einer Entgrenzung des Krieges, wenn Schulen oder Krankenhäuser angegriffen werden. Doch ist es nicht abhängig vom jeweiligen politisch-kulturellen und gesellschaftlich-kulturellen Hintergrund, wo diese normative Grenze gezogen wird? Das ist ein sehr interessanter Aspekt. Die Zonen des Friedens oder des Nichtkrieges sind kulturell befestigt. Das kann ein Zeitraum sein wie bei den Griechen der Antike die Olympiade; in dieser Zeit wird kein Krieg geführt. Das kann auch ein Ort sein wie Delphi, das Orakel, an dem kein Krieg geführt wird. Solche Festtage und Heiligtümer können einerseits Inseln des Friedens mitten im Kriegsgeschehen begründen, laden natürlich andererseits auch zur strategisch kalkulierten Ausnutzung ein. In Vietnam war es die Tet-Offensive, die bewusst am Tag des vietnamesischen Neujahrsfestes, einem nationalen Feiertag, einsetzte. Das ist eine Verrohrung, die darauf anspricht, dass es keine Tabus mehr gibt. Alle Schwellen werden überschritten und eingeebnet. Eine solche profane Grenzüberschreitung ist vermutlich wahrscheinlicher, wenn die Gegner sich verschiedenen Kulturen zurechnen. Insofern muss man überlegen, was das Verbindende, Kulturübergreifende ist. Wenn das die Kriegsparteien nicht gleichermaßen zu binden vermag, dann steht zu erwarten, dass sie wechselseitig ihre jeweiligen kulturellen Selbstbindungen ausnutzen und manipulieren. Das Paradebeispiel ist der zivile Schutzschild, aus dessen Deckung heraus diejenigen agieren, die etwa Raketen bewusst aus einer Schule heraus abfeuern. Wie man sie wirksam bekämpfen kann, ohne jene zivilen Opfer zu verursachen, die auch strategisch zum Eigentor werden können – das ist eine drängende Frage, wenn man seinerseits aus gutem Grund nicht dazu bereit ist, alle normativen Grenzbefestigungen einzureißen. Ein Gespräch mit Felix Wassermann

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Wenn es darum geht, wie die NATO im Falle eines Angriffs durch Russland reagieren soll, entsteht der Eindruck, dass die NATO immer noch sehr stark symmetrisch denkt. Wenn es aber zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO käme, wären doch nicht mehr konventionelle, sondern atomare Mittel kriegsentscheidend. Warum übt man dennoch klassische Manöver nach? Das Paradebeispiel einer symmetrischen Konfrontation ist gerade die nukleare. Der Kalte Krieg: zwei Blöcke, die sich zwar gegenseitig die Legitimität ihrer Weltvorstellungen absprachen und beide einen globalen, universellen Anspruch erhoben. Aber strategisch gab es im Gleichgewicht des Schreckens doch eine Balance, die auch eine Rationalität der Symmetrie bewirkte, weil man davon ausgehen konnte, dass auf der anderen Seite ähnlich gedacht wurde. Unterhalb dieser symmetrischen Konfrontation kam es natürlich immer wieder zu Zwischenfällen und Vorfällen – ähnlich wie jetzt in der Ostukraine –, auf die eine nukleare Antwort aber völlig irrational gewesen wäre. Es war schlichtweg unverantwortlich und in diesem Sinne irrational, diesen Schritt zu gehen und die Eskalation zu wagen. Die NATO hat seit dem Kalten Krieg immer sehr technologisch und konventionell gedacht. Doch sie hat zunehmend erkannt, dass die Sicherheitsherausforderungen des 21. Jahrhunderts vielfach breiter sind und gerade auch eine politisch-­gesellschaftliche bzw. zivile Dimension besitzen; auch, dass man viel schneller und beweglicher sein muss, und zwar möglichst, ohne bisherige Abkommen zu verletzen. Man ist bspw. in Polen nicht ständig präsent, sondern rotiert. Auf diese Weise wird sowohl die Stabilität als auch die Flexibilität erhöht. Das hat sicherlich wiederum Konsequenzen für die Gesellschaft, und zwar nicht nur für die Familien und für die Soldaten, die alle vier Wochen versetzt werden. Aber dass man nur auf Atomwaffen setzen würde, das sehe ich nicht und das war auch im Kalten Krieg nie der Fall, zumal die Atomwaffen ja immer als »defensive« Waffen galten, die primär der Abschreckung gegnerischer Angriffe dienen sollten. Im Umkehrschluss ergibt sich hieraus aber eine drängende Frage für asymmetrische Konstellationen: Wie soll man mit Gegnern umgehen, die sich nicht abschrecken lassen? Mit Blick auf die Verrohung, die mit der Entstaatlichung des Krieges einhergeht, müsste die vorrangige Aufgabe westlicher Friedensmissionen sein, Statebuilding zu forcieren, damit die Staaten wieder die alleinigen Herren des Krieges werden. Wenn aber eigene Opfer erbracht werden müssen, zieht der Hegemon sich schnell wieder zurück. Ist der Wille dazu in der Bevölkerung des Westens nicht vorhanden? Wahrscheinlich nicht. Das eine Modell wäre ja die Durchsetzung weltweiter Staatlichkeit, also globale Symmetrierung. Alle Regionen auf das Niveau

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der Staatlichkeit und Zurechenbarkeit zu heben und die Vereinten Nationen zu stärken, stände eigentlich gerade einem Staatenbund wie der EU als Projekt gut zu Gesicht. Alle bisherigen Ansätze zur Umsetzung eines solchen Projekts machten aber sehr schnell deutlich, dass die Kräfte nicht ausreichen. Die Ansprüche und Kriegszwecke, die man etwa in Afghanistan verfolgte, wurden immer weiter zurückgeschraubt, bis man nun mit den Taliban verhandelt. Statebuilding würde sehr viele Gelder und auch Opfer erfordern. Das Gegenmodell ist gewissermaßen das US-amerikanische: ein imperiales Akzeptieren und Nutzen von Asymmetrien. Man will nicht mehr Gleichartigkeit und weltweite Staatlichkeit durchsetzen, sondern spielt die eigene technologische Überlegenheit aus. Man lässt aber auch manche Zonen, solange sie nicht gefährlich werden, in der Peripherie. Wenn irgendwo Terrorcamps oder Ähnliches entstehen oder der Zugang zu wichtigen Ressourcen blockiert wird, greift man unilateral ein. Das ist ein imperiales Management der Peripherie. Das also sind wohl die zwei Alternativen. Dabei lohnt es zu betonen, dass auch die erste Alternative – die Durchsetzung von Staatlichkeit – mit Gewalt einhergeht. Sie erfordert Intervention, Durchsetzung des Rechts, eine Weltpolizei. Wer soll das sein? Die USA möchten diese Rolle und die damit verbundenen Kosten erkennbar nicht mehr übernehmen. Die EU nimmt sich ihrerseits dieser Aufgabe bisher nicht an, obwohl sie gut darin ist, zu betonen, dass es wünschenswert wäre. Zu Beginn dieses Jahrzehnts schien es im Libyen-Einsatz, als Teil des UN-Mandats, in diese Richtung zu gehen. Aber offenbar haben die ambivalenten Auswirkungen des Einsatzes und der mögliche Staatszerfall in der Region dazu geführt, dass man wieder Abstand von dieser Vorgehensweise genommen hat. Wie würden Sie die Zukunft, gerade in Bezug auf die R2P, die »Responsibility to Protect«, und die damit verbundene Auflösung territorialer Grenzen bewerten? Um die »Responsibility to Protect« – also das Prinzip der Schutzverantwortung, das zeitweilig als eine internationale emerging norm gehandelt wurde – ist es eher still geworden. Wer urteilt denn darüber, ob ein Staat seine Verantwortung gegenüber seinen Bürgern verletzt hat? Ist es der imperiale Akteur, der intervenieren will und sich um staatliche Souveränitätsansprüche nicht mehr schert? Oder ist es die Weltgemeinschaft, die sich aber im Sicherheitsrat blockiert? Dort gibt es natürlich verschiedene Einfluss­ interessen. Daher ist es sehr auslegungsbedürftig, wann Verantwortung verletzt wird und ob dann eine Pflicht zur Intervention besteht oder lediglich ein Recht der Staatengemeinschaft hierzu. Ich glaube nicht, dass das weiter ausgebaut wird, auch weil unklar ist, welche Instanz noch infrage käme. Im Ein Gespräch mit Felix Wassermann

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Völkerrecht wird diskutiert, ob die Generalversammlung im Verhältnis zum Sicherheitsrat aufgewertet werden soll. Stand jetzt ist aber nach wie vor der Sicherheitsrat gefragt, Interventionen völkerrechtlich zu legitimieren. Ungeachtet solcher Debatten erleben wir jedoch eine Tendenz zum Rückzug ins Isolationistische, gerade in den USA unter Donald Trump, der gleichzeitig jedoch mit unilateralen Interventionen droht. Insofern ist das Bild hier uneinheitlich und inkonsistent. Die USA ziehen sich zurück und in der internationalen Staatengemeinschaft entsteht eine immense Leerstelle der Verantwortungsübernahme und Ordnungsmacht. Ist die Vorstellung einer solchen Macht mittlerweile vielleicht eine Illusion? In der Politikwissenschaft werden verschiedene Ordnungsentwürfe diskutiert. Das symmetrische Staatensystem der souveränen Staaten ist ein verbreitetes, das Imperium ein anderes politiktheoretisches Angebot. Ersteres wurde bisher allenfalls ansatzweise, wenn nicht vielfach nur symbolisch in den Vereinten Nationen realisiert. Dass hingegen eine Weltmacht eine globale Ordnungspolitik betreibt, setzt die Fähigkeiten, den Willen und ein gewisses Maß an Akzeptanz voraus. Historisch gesehen stellt die von den USA gestützte liberale Weltordnung hier einen Ausnahmefall dar. Multipolare Ordnungen sind demgegenüber häufiger anzutreffen, sie produzieren aber auch viel öfter instabile Systeme vorherrschender Großmächterivalität. Derzeit scheinen sich in der Tat die USA , Russland und China auf eine neue Welt unregulierter Konkurrenz einzustellen, während die EU zu selten wirksam eine gemeinsame Position vertritt. Von einer »Weltgemeinschaft« kann unter diesen Bedingungen jedenfalls immer weniger gesprochen werden, eher vielleicht von vier, fünf regionalen Gemeinschaften, die sich teilweise miteinander koordinieren, manchmal auch miteinander kooperieren, aber ansonsten in ihren »eigenen Welten« leben und mit unterschiedlichen Weltvorstellungen konkurrieren. Vor nicht allzu langer Zeit standen die USA als sogenannte Supermacht fest. Wenn wir aber beobachten, dass dieser Akteur nicht mehr willens und wirtschaftlich vielleicht auch bald nicht mehr dazu in der Lage ist, wie gehen wir damit um? Was passiert, wenn diese Macht wegfällt und jede Einheit, jeder Staat losgelöst von der internationalen Gemeinschaft agiert? Eine Ordnung braucht die Bereitschaft, Ordnungsverletzer zu sanktionieren. Das ist allerdings auch für den Sanktionierenden mit Kosten verbunden – Kosten, welche die USA im Moment nicht mehr zu schultern bereit sind, es sei denn, es betrifft die eigenen Interessen. Die EU kann es nicht. Nun

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ist oft die Rede von strategischer Autonomie. Wenn damit gemeint sein soll, die EU emanzipiert sich von den USA und von der NATO, dann ist das eine reine Vision oder leere Rhetorik, unterfüttert weder von Ressourcen noch von dem Willen, innerhalb der EU Souveränität abzugeben und zu bündeln. Wer setzt sich also für Gemeingüter wie freien Welthandel, offene Meere und grenzüberschreitende Sicherheit ein? Wahrscheinlich geht der Trend, wie gesagt, in Richtung kleinteiliger, nicht mehr globaler Lösungen, hin zu verschiedenen Ordnungsräumen. Eine Aufgabe für die EU wäre es dann, den eigenen Raum und dessen unmittelbare Peripherie zu ordnen – quasi-imperial, in konzentrischen Kreisen, mit nach außen abnehmender Integrationskraft. Die Politikwissenschaft jedenfalls sollte sich stärker als bisher der Aufgabe stellen, darüber nachzudenken, welche Ordnungsmodelle wir, auch ideengeschichtlich unterfüttert, ins Spiel bringen können. Wir in den Sozialwissenschaften sind ja zumeist ziemlich gut darin, Ordnungsentwürfe zu dekonstruieren – also Vorschläge, Visionen und politische Programme auseinanderzunehmen. Das kann auch sehr bequem sein, immer zu warten, um dann zu historisieren und zu dekonstruieren. Mir erscheint es riskanter, aber nicht weniger verantwortlich, gelegentlich auch eigene Ordnungsmöglichkeiten zu kon­struieren und entsprechende Vorschläge in die politische und öffentliche Diskussion einzubringen. Kriege und Konflikte gelten als Gegensätze zum Frieden. Die Vorstellung von Frieden ist hierzulande sehr etabliert und stark an Sicherheit gekoppelt. Terroristische Angriffe auf die Gesellschaft wie der von Anis Amri auf den Berliner Weihnachtsmarkt durchbrechen dieses tiefverwurzelte Verständnis. Welche Rolle spielt der Friedens- und Sicherheitsgedanke für eine Gesellschaft und wie wandelt sie sich, wenn er zu zerfallen beginnt? Es gibt diese schönen Bilder des Friedens, etwa von Ambrogio Lorenzetti im Friedenssaal des Palazzo Pubblico in Siena. Der Frieden ist dort allegorisch als eine Frauenfigur dargestellt, die ganz gelassen und entspannt zurückgelehnt dasitzt, den Kopf versonnen auf eine Hand gestützt. Sicherheit ist etwas anderes. Sicherheit bedeutet und beinhaltet immer auch Anspannung; man sitzt gewissermaßen in Habachtstellung, ist innerlich bereit zum Aufspringen. In diesem Sinne unterscheidet sich Sicherheit hinsichtlich des Lebensgefühls vom Frieden. Man kann das manchmal in größeren Menschenansammlungen beobachten, auf Konzerten oder auf einem Weihnachtsmarkt: Die Menschen haben, gerade nach Berichten über Terroranschläge, einen anderen Blick; sie schauen genauer hin, etwa wo sich der Notausgang befindet, sie scannen ihr Umfeld. Das ist dann ein Zustand der Sicherheit. Er Ein Gespräch mit Felix Wassermann

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beruht, anders als der sorglose Friede, auf einem spezifischen statt generellen Vertrauen, nämlich darauf, dass sich andere Menschen Gedanken über Eventualitäten gemacht und dafür gesorgt haben, dass im Fall der Fälle der Notausgang nicht verschlossen und verstellt ist. Zudem richtet sich das Vertrauen auch auf die unmittelbaren Nachbarn und Nächsten: dass sie notfalls füreinander da sind, statt sich über die Füße zu trampeln. In diesem doppelten Sinne ist der Sicherheitszustand ein spezifischer Vertrauenszustand: Man vertraut auf die zuständigen Verantwortlichen wie auch auf das Verantwortungsbewusstsein der Nichtzuständigen. Wenn nun die Unsicherheit darüber um sich greift, wem man eigentlich noch vertrauen kann, dann verändert sich das Miteinander. Haben die Zuständigen alles Menschenmögliche getan, um die S ­ icherheit zu gewährleisten? Wird mein Nachbar mir im Ernstfall beistehen? Es kommt zu Verdächtigung und Misstrauen. Eine solche grundsätzliche Verunsicherung ist typisch für hybride Szenarien: In ihnen kann ich mir nicht sicher sein, ob mein Vertrauen in die Zuständigen und Nächsten angemessen ist oder naiv. Denn hybride Strategien untergraben gezielt die Erwartungserwartungen friedlicher Zivilität. Hat vielleicht ein Hacker die Elektronik am Notausgang manipuliert? Wird mein Nächster, wenn etwas passiert, sofort zum Smartphone greifen, um das Geschehen live in die Welt zu streamen? Angesichts solcher Befürchtungen ist es wichtig, gerade in hybriden Momenten und trotz der Ungewissheit, die damit einhergeht, Vertrauen in die Sicherheitsbehörden sowie in die Mitbürger zu bewahren und auch zu zeigen. Friedfertige Gelassenheit mag naiv sein, verunsicherte Panikmache ist sicherlich ebenfalls kontraproduktiv. Den sogenannten Sicherheitseliten kommt hier eine erhebliche Verantwortung zu, und zwar nicht nur denjenigen aus Politik und Verwaltung, sondern auch denjenigen aus Medien und Wissenschaft. Wenn das Hybride zwischen Krieg und Frieden zu verorten ist, so haben die Sicherheitseliten nicht nur über den hybriden Krieg nachzudenken, sondern auch über den hybriden Frieden. Die Frage wäre dann, wie man ihn so gestaltet, dass er ein möglichst sicherer und zugleich gelassener Zustand ist und kein kriegerischer. Das Gespräch führten Marika Przybilla-Voß und Danny Michelsen.

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Dr. Felix Wassermann, geb. 1977, vertritt seit 2018 die Professur für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören der Wandel des Krieges, der Einfluss von Experten und Ratgebern auf die Politik sowie die Zukunft des Staates und der Demokratie. 2015 erschien sein Buch »Asymmetrische Kriege. Eine politiktheoretische Untersuchung zur Kriegführung im 21. Jahrhundert« (Campus) und 2018 das von ihm mitherausgegebene Buch »Staatserzählungen. Die Deutschen und ihre politische Ordnung« (Rowohlt Berlin).

ANALYSE

DIE HERAUSFORDERUNGEN NEUER KRIEGSPRAKTIKEN AKTUELLE DEBATTEN DER MORALPHILOSOPHIE DES KRIEGES ΞΞ Nadia Mazouz

Kriege werden in der Öffentlichkeit häufig sehr kontrovers debattiert, etwa mit Blick auf ihre politische Rolle, die Gewinnchancen der Kontrahenten, die Klugheit der eingesetzten Strategien und Techniken – zumindest gilt dies weltweit für unser gegenwärtiges Zeitalter. Typisch ist, dass moralische Fragen im Zentrum der Debatten stehen: Sind die gebrauchten Mittel der Kriegsführung legitim, ist der Krieg selbst moralisch zu rechtfertigen?1 In verschiedenen Disziplinen, in der Theologie, der Politikwissenschaft sowie der Philosophie sind Theorien zur Beurteilung von Kriegen entwickelt worden; für die Gegenwartsdiskussion prägend sind drei Theoriestränge: der Realismus, der Pazifismus und Theorien des gerechten Krieges (TgK). Die Realisten lehnen prinzipiell ab, Kriege moralisch zu bewerten; Pazifisten dagegen bewerten Kriege moralisch, behaupten im Gegensatz zu Theoretiker*innen 1  So auch Michael ­Walzer, Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations, New York, 2013. 2  Für uns hat Gerechtigkeit heute die Konnotation der Gegenseitigkeit, sodass der Titel »gerechter Krieg« unpassend erscheint. Gegenwartsautoren gebrauchen zwar noch den überlieferten Titel, meinen aber »moralisch legitime Kriege« (Walzer) oder »moralisch zu rechtfertigende Kriege« (Johnson). 3  Vgl. {Smith, 1986 #5999}, 1. und 219–220.

des gerechten Krieges aber, dass das Ergebnis der Bewertung immer negativ sei, dass Kriege prinzipiell nicht gerecht sein könnten. TgK verurteilen Kriege als im Prinzip moralisch schlecht, rechtfertigen diese aber unter bestimmen Umständen als moralisch richtig: Die Grundidee ist, dass Kriege zur Abwehr von Ungerechtigkeit legitim sein können;2 so grenzen die TgK sich gegen sogenannte heilige Kriege ab. Der Realismus bezeichnet eine Familie von Theorien, die eine lange, üblicherweise auf Thukydides zurückgeführte, Tradition hat. Dieser Theoriestrang findet sich heute vornehmlich in der Politikwissenschaft, insbesondere in der Disziplin »Internationale Beziehungen«. Zwei zentrale Thesen dieses Ansatzes lauten: Die Hauptakteur*innen internationaler Beziehungen seien Staaten, und »sentimentale« Moral habe keinen Ort in internationaler Politik, da es um Machtkämpfe gehe.3 Ausschlaggebend für die Theoriebildung des

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Realismus ist die Anarchie des internationalen Systems: die Tatsache, dass souveräne Nationalstaaten nebeneinander bestehen ohne übergeordnete Instanz, die verbindlich Regeln setzen und durchsetzen könnte. Pazifistische Positionen sind sowohl in der Öffentlichkeit als auch in verschiedenen akademischen Disziplinen in unterschiedlichen Versionen

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

weitverbreitet: Einige verurteilen prinzipiell Gewalt, andere vornehmlich krie4  Vgl. Andrew Fiala, »Pacifism«, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2018 Edition), URL: https://plato.stanford.edu/ archives/fall2018/entries/pacifism/ [eingesehen am 28.05.2019].

gerische Gewalt; einige sind absolute Positionen, andere lassen Ausnahmen zu; einige sind als politische, andere als persönliche Ideale ausformuliert.4 Dabei ist schwer, nicht-absolutistische Varianten der pazifistischen Theorien gegen TgK abzugrenzen – beide gehen davon aus, dass Kriege moralisch schlecht und der Frieden als ein Zustand minimaler Gerechtigkeit anzustreben sei; dennoch formulieren beide starke Bedingungen für einen moralisch

5  Siehe Seth Lazar, »War«, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2017 Edition), URL: https://plato.stanford.edu/ archives/spr2017/entries/war/ [eingesehen am 28.05.2019]. 6  Vgl. Michael Walzer, The Triumph of Just War Theory (and the Dangers of Success), in: Ders., Arguing about War, New Haven (Conn.) 2004, S. 6 ff. Diese Entwicklung beschreibt vornehmlich den intellektuellen Kontext in den USA. 7  Wichtigstes Buch: Jeff ­McMahan, Killing in War, Oxford 2009. 8  Wie sogar Walzer zugibt; siehe Michael Walzer, Response, in: Y. Benbaji u. N. Sussmann (Hg.), Reading Walzer, London 2014, S. 328–332, hier S. 328. 9  Unter der Bezeichnung »neue Kriege« wird eine Gestalt asymmetrischer Kriege thematisiert, die sich seit einigen Jahrzehnten herausgebildet hat. Zentral ist, dass darin Gruppen, die keine konventionellen politischen Ziele verfolgen – etwa die Erringung der Regierungsgewalt – und vom Krieg leben, klassische Nationalstaaten herausfordern; vgl. Mary Kaldor, New and Old Wars, Cambridge 2012; Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbeck 2002; Sven Chojnacki, Wandel der Kriegsformen? – Ein kritischer Literaturbericht, in: Leviathan, Jg. 32 (2004), S. 402–424; Frank Schimmelfennig, Internationale Politik, Paderborn 2015, S. 198.

zu rechtfertigenden Krieg. Auch die Theorien des gerechten Krieges bilden eine intern ausdifferenzierte Familie. TgK haben eine lange, sehr komplexe und bis heute umstrittene Geschichte.5 Nach einer berühmten These Michael Walzers habe die TgK (im Singular) in unserem Zeitalter triumphiert, sie sei die in Politik und Öffentlichkeit dominierende Theorie – gemeint ist, dass sie die moralischen Grundlagen biete, auf die wir alle als politisch denkende Bürger*innen, Politiker*innen und sogar Sprecher*innen militärischer Streitkräfte bei der Bewertung von Kriegen und Weisen der Kriegsführung zurückgreifen würden.6 Sicherlich ist diese These in ihrer weltweiten Geltung fraglich, darüber hinaus ist aber auch offen, welche Version der TgK denn angeblich als moralischer Kompass der Gegenwartsdebatten fungieren können soll. Derzeit prägt ein tiefgreifender interner Zwist innerhalb der Theorien des gerechten Krieges die Auseinandersetzung mit TgK. Zuvor schien es lange so, als wäre mit dem Erscheinen des Gegenwartsklassikers »Just and Unjust Wars« von Michael Walzer nicht nur in Öffentlichkeit und Politik ein inhaltlicher Konsens ausformuliert, sondern auch die wesentliche Theoriearbeit geleistet worden. Inzwischen findet jedoch eine alternative Theorie mehr und mehr Zuspruch, in welcher Inhalt und Methode der Walzer’schen Theorie grundlegend kritisiert und revidiert werden – die sogenannte revisionistische Theorie von Jeff McMahan.7 In einer spektakulären Wendung hat diese Theorierichtung spätestens seit den 2010er Jahren die Oberhand gewonnen.8 Der Kürze halber werden in diesem Beitrag die beiden in der Philosophie dominierenden alternativen Versionen der TgK kurz dargelegt und analysiert (I). Diese dissensgeprägte Theoriekonstellation trifft indes auf eine aktuell sich vollziehende enorme Dynamik in den Kriegspraktiken. Seit einigen Jahrzehnten treten nicht mehr nur klassische Staaten- und Bürgerkriege auf, vermehrt werden auch neue Formen des Krieges bzw. der im großen Maßstab organisierten Gewalt verzeichnet – diese werden unter dem Titel »neue Kriege« beschrieben9. Wie die beiden paradigmatischen TgKs durch die neuen Praktiken des Krieges herausgefordert werden, soll ebenso dargestellt werden (II). Nadia Mazouz  —  Die Herausforderungen neuer Kriegspraktiken

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I TRADITIONELLE VERSUS REVISIONISTISCHE THEORIE DES GERECHTEN KRIEGES Theorien des gerechten Krieges gehören zu einer spezifischen, mindestens bis ins europäische Mittelalter zurückreichenden Theorietradition.10 Die Struktur der Bewertung von Kriegen in den TgK ist eine doppelte: Die Gerechtigkeit des Krieges (ius ad bellum) macht eine Komponente aus, die Gerechtigkeit im Krieg (ius in bello) eine zweite.11 Die zentralen Kriterien des ius ad bellum sind der gerechte Kriegsgrund sowie die politische Autorität, und für das ius in bello die Diskriminierungsregel.12 In den klassischen Ansätzen zum gerechten Krieg gibt es noch kein allgemeines ius in bello, sind die Gewalthandlungen derjenigen, die das ius ad bellum verletzen, durchgängig moralisch zu verurteilen.13 Die moralische Bewertung der Kriegsführung ist dabei allein für Parteien vorgesehen, die

10  Vgl. James Turner Johnson, Just War Tradition and the Restraint of War, Princeton (NJ) 1981.

das ius ad bellum einhalten.14 Das ius in bello also wird als abhängig vom ius ad bellum gefasst. Letztlich werden erst in der Theorie von Walzer die beiden Bereiche als moralische Bereiche getrennt aufgefasst: Demnach kann es Kriege geben, die gerecht sind im Sinne des ius ad bellum, aber ungerecht geführt werden, sowie Kriege, die ungerecht sind im Sinne des ius ad bellum, aber dennoch gerecht geführt werden.15 Die sogenannte revisionistische Theorie vertritt in ihrem Kern die Positionen der klassischen TgK: Grundsätzlich wird im Gegensatz zu Michael Walzer wieder eine Abhängigkeit des ius in

11  Reichberg zufolge seien die Begriffe »ius ad bellum« und »ius in bello« von Grotius in seinem bahnbrechenden »De Jure Belli« zum ersten Mal verwendet worden; siehe Gregory M. Reichberg, Just War and Regular War, in: D. Rodin u. a. (Hg.), Just and Unjust Warriors. The Moral and Legal Status of Soldiers, Oxford 2008, S. 193–213.

bello vom ius ad bellum behauptet.16 12  Vgl. Lazar.

Dualistische TgK Verteidigung gegen Aggression ist für Walzer der paradigmatisch akzeptierte gerechte Kriegsgrund. Das Recht auf Verteidigung politischer Gemeinschaften gegen Aggression wird konkretisiert durch das Recht auf Verteidigung der territorialen Integrität sowie der politischen Souveränität. Politische Autorität gilt hier als zentrales Kriterium und ist durch zumindest in einem minimalen Sinne politisch selbstbestimmte Gemeinschaften bestimmt – das heißt für Walzer nicht, dass sie frei und demokratisch organisiert sein müssten, es reiche aus, wenn sich die Mitglieder mit den politischen Entscheidungen identifizieren. Das in der Theorie implizite Primat der politischen Selbstbestimmung bedingt eine besondere Begründungslast, wenn es um die Intervention in eine Gemeinschaft geht, der Rechteverletzungen angelastet werden.17 Diese sogenannte Präsumtion gegen Interventionen kann jedoch übertrumpft werden: Allerdings nur dann, wenn individuelle Rechte in einer Weise verletzt werden, die es absurd erscheinen lässt, die territoriale Integrität und politische Souveränität der entsprechenden Gemeinschaft zu

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

13  Die Geschichte der TgK wird kontrovers diskutiert; vgl. Reichberg; Stephen C. Neff, War and the Law of Nations. A General History, Cambridge 2005; kurz zusammengefasst in: Nadia Mazouz, Die Praxis des Krieges. Zur aktuellen Kontroverse um Theorien des gerechten Krieges, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Jg. 43 (2018), H. 2, S. 161–191. 14  Vgl. Neff, S. 58 f. 15  Vgl. Walzer, Just and Unjust Wars, S. 21. 16  Siehe McMahan, Killing in War, S. 237 (FN 26). 17  Vgl. Walzer, Just and Unjust Wars, S. 86.

respektieren – in Situationen, in denen Verletzungen von Rechten in einem Ausmaß geschehen, die das »Bewusstsein der Menschheit schockieren«18. Walzer positioniert sich klar gegen Theorien, in denen ein Regimewechsel (»regime change«) als potenziell gerechter Interventionsgrund betrachtet wird.19 Damit grenzt er sich ab vom sogenannten liberalen Interventionismus, der davon ausgeht, dass moralisch immer geboten ist, gegen Rechts18  Ebd., S. 107. 19  Vgl. ebd., Vorwort zur vierten Auflage, 2006. 20  Vgl. Fernando R. Tesón, The liberal case for humanitarian intervention, in: J. L. Holzgrefe u. a. (Hg.), Humanitarian Intervention. Ethical, Legal, and Political Dilemmas, Cambridge 2003, S. 93–129. 21  Vgl. Walzer, Just and Unjust Wars, S. 41. 22  Vgl. ebd., S. 145.

verletzungen von Individuen zu intervenieren – was allerdings nicht immer pragmatisch möglich ist.20 Die für die Moral der Kriegsführung zentrale Diskriminierungsregel bestimmt, wer Ziel direkter Angriffe werden darf und wer nicht. Der Dualismus der Theorie bedingt den moralisch gleichen Status aller Kombattant*innen im Krieg, auf welcher Seite sie auch immer kämpfen. Auf die Formel gebracht, bedeutet dies: Kombattant*innen haben das gleiche Recht zu töten.21 Damit ist kein Anspruchsrecht gemeint, sondern eine moralische Erlaubnis – eine Erlaubnis, feindliche Kombattant*innen, nicht aber Nicht-Kombattant*innen direkt anzugreifen. Dabei wird der Begriff »Kombattant*in« verwendet, weil er über Soldaten hinaus auch Personen umfasst, die im Namen politischer Gemeinschaften kämpfen, die (noch) nicht als Staaten verfasst sind, also etwa Guerillakämpfer*innen. Der Begriff »Nicht-Kombattant*in« wird in der

23  Vgl. ebd., S. 155. Die Doktrin des doppelten Effekts ist ursprünglich von Thomas von Aquin entwickelt worden; sie beruht auf der Analyse, dass Handlungen zwei Typen von Effekten haben: einen direkt intendierten (der Handlungszweck) und indirekte, zwar vorhergesehene, jedoch nicht intendierte, Effekte. Die indirekten Effekte sind weder Mittel noch Zwecke der Handlung, sie werden begrüßt oder nicht, je nachdem, wie sie von der Handelnden eingeschätzt werden. Die traditionelle Doktrin sieht vor, dass negative vorhergesehene, aber nicht intendierte Effekte in Kauf genommen werden dürfen, wenn das durch den Handlungszweck realisierte Gute das Schlechte des Nebeneffekts überwiegt. Auf diese Weise kann die Tötung eines Aggressors in einer Verteidigungshandlung gerechtfertigt werden, auch in einer Moraltheorie, die intentionales Töten absolut verbietet. Vgl. Thomas von Aquin, Summe der Theologie, I–III, Stuttgart 1985, II, q. 64 a.7.

dualistischen Theorie oft anstatt desjenigen des Zivilisten gebraucht – denn er hebt hervor, worauf es der Theorie ankommt: Gemeint sind Personen, die nicht an den Kämpfen beteiligt sind. Warum dürfen Kombattant*innen im Krieg andere Kombattant*innen töten? Wie verlieren diese ihr Recht auf Leben? Walzers Antwort ist: dadurch, dass Kombattant*innen sich zu gefährlichen Instrumenten ihrer jeweiligen politischen Gemeinschaften haben machen lassen.22 Weil sie Gewalt ausüben bzw. jederzeit ausüben können, stellen sie eine Gefahr für alle anderen dar. Da sie politische Instrumente sind, liegt es nicht in ihrer Verantwortung, ob der Krieg, in dem sie kämpfen, gerecht ist; verantwortlich sind sie aber für die Art und Weise, in der sie kämpfen. Ihre größte Verantwortung liegt darin, die Immunität von Nicht-Kombattant*innen zu respektieren. Der dualistischen Theorie liegt eine Vorstellung von Verantwortungsteilung zugrunde: Das ius ad bellum liegt in der Verantwortung politischer Entscheider*innen, das ius in bello in der Verantwortung von Kombattant*innen. Nicht-Kombattant*innen dürfen in dieser Theorie, gemäß einer abgewandelten Theorie des doppelten Effekts, als Nebeneffekt erlaubter Kriegshandlungen verletzt oder getötet werden: Dann nämlich, wenn Kombattant*innen angemessen Sorge dafür tragen, dass der Schaden für Nicht-Kombattant*innen minimiert wird – auch indem sie erhöhte Risiken auf sich nehmen.23 Nadia Mazouz  —  Die Herausforderungen neuer Kriegspraktiken

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Walzers Methode ist kasuistisch; ihm zufolge teilen wir eine gemeinsame Moral24 des Krieges, welche die Theorie des gerechten Krieges herausarbeiten und explizit machen soll. Dabei müssen grundlegende individuelle Rechte als moralische Fixpunkte vorausgesetzt werden, vornehmlich das Recht auf Leben und elementare Freiheit sowie das Recht auf politische Selbstbestimmung. Die Aufgabe der Theoriebildung besteht darin, zu zeigen, dass und wie die Prinzipien, die »wir« für richtig halten, mit den vorausgesetzten Fixpunkten zusammenstimmen. Nach Erscheinen seines Buches 1977 »Just and Unjust Wars« und bis in die 2000er Jahre scheinen Walzers Resultate auch weitgehend überzeugend gewesen zu sein. Danach wurden sie durch den revisionistischen Ansatz jedoch effektiv untergraben.

24  Vgl. Walzer, Just and Unjust Wars, S. xxii. 25  Vgl. David Rodin, The Moral Inequality of Soldiers: Why jus in bello Asymmetry is Half Right, in: Ders. u. a. (Hg.), Just and Unjust Warriors. The Moral and Legal Status of Soldiers, Oxford 2008, S. 44–68, S. 45 f.

Monistische TgK Eine Kurzfassung der revisionistischen Kritik an der dualistischen Theorie besteht aus einer einfachen und schlüssig erscheinenden Argumentation25: Verteidigung wird als einzig gerechter Kriegsgrund anerkannt. Aber Verteidigung begründet asymmetrische Rechte: Die angegriffene Partei darf – moralisch betrachtet – unter bestimmten Bedingungen mit Gewalt auf einen Angriff reagieren; die angreifende Partei darf aber auch daraufhin keineswegs Gewalt anwenden. So ist es zumindest im Bereich der interpersonalen Moral. Demnach sei, so Jeff McMahan, die Trennung der beiden ius inkorrekt und der im ius in bello festgeschriebene gleiche Status der Kombattant*innen falsch. Diese Schlussfolgerungen beruhen auf einer objektiven intuitionistischen Moraltheorie26, wobei die Intuitionen, die in Friedenszeiten für den Bereich interpersoneller Moral gelten, auf Kriegssituationen angewendet werden. Deshalb haben schon Walzer und einige nach ihm27 auf die Disanalogie zwischen Friedens- und Kriegszeiten hinsichtlich der moralischen Beurteilung aufmerksam gemacht. In der monistischen Theorie spielt der Begriff der Verantwortung die entscheidende Rolle;28 genauer analysiert McMahan Verteidigungssituationen mit dem normativen Konzept der »Liability«.29 Als »liable to attack« werden Personen bezeichnet, die gegenüber bestimmten Anderen ihr Recht auf Leben und Unversehrtheit durch einen ungerechtfertigten Angriff verwirkt haben, sofern die Gewalt notwendig und verhältnismäßig ist, um die Grundrechtsverletzungen abzuwenden.30 Laut McMahan sei eine Person »moralisch liabel für Angriffe im Krieg gemäß ihrer Verantwortung für ein Unrecht, das ausreichend ernst ist, um einen gerechten Kriegsgrund abzugeben, oder indem sie moralisch verantwortlich ist für eine ungerechte Gefährdung im Kontext des Krieges«31.

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

26  Vgl. Jeff McMahan, Moral Intuition, in: Hugh LaFollette u. a. (Hg.), Blackwell Guide to Ethical Theory, Oxford 2013, S. 92–110. 27  Siehe Walzer, Just and Unjust Wars, S. 127 f.; Christopher Kutz, Fearfull Symmetry, S. 69–86 sowie Henry Shue, Do We Need a ›Morality of War‹?, S. 87–111 (beide in: David Rodin (Hg.), Just and Unjust Warriors. The Moral and Legal Status of Soldiers, Oxford 2008). 28  Vgl. McMahan, Killing in War, S. 8 u. S. 34. 29  Vgl. ebd., S. 8, S. 11 u. S. 38 ff. Es gibt keine angemessene Übersetzung von »Liability«; Haftbarkeit passt noch am besten, wird aber im Deutschen vornehmlich in juristischen Zusammenhängen gebraucht, weshalb im Folgenden die künst­ lichen Fremdwörter »Liabilität« und »liabel« verwendet werden. 30  Vgl. ebd., S. 10. 31  McMahan, The Morality of War and the Law of War, in: David Rodin (Hg.), Just and Unjust Warriors. The Moral and Legal Status of Soldiers, Oxford 2008, S. 19–43, hier S. 22 (eigene Übersetzung).

Auf Basis des von ihm vertretenen Kriteriums für Liabilität plädiert McMahan für die Aufhebung der Trennung der Moral des Krieges von der Moral im Krieg, mithin für asymmetrisch geltende Rechte im Krieg. McMahan bezeichnet Kombattant*innen, die für eine Partei kämpfen, die ohne gerechten Grund Krieg führt, als ungerechte Kombattant*innen und Kombattant*innen, die für eine Partei kämpfen, die mit einem gerechten Grund Krieg führt, als gerechte Kombattant*innen.32 Seiner Ansicht nach dürfen nun – im moralischen Sinn von »dürfen« – gerechte Kombattant*innen typischerweise ungerechte Kombattant*innen töten, umgekehrt aber nicht, da Erstere typischerweise liabel sind, Letztere dagegen nicht.33 Ungerechte Kombattant*innen greifen intentional und ungerechtfertigt Personen an und gefährden wei32  Vgl. McMahan, Killing in War, S. 5. 33  Es werden Komplikationen eingeführt, bspw. um zuzulassen, dass auch ungerechte Kombattant*innen sich so wie Zivilisten auf ihrer Seite gegen mögliche Verstöße gegen das ius in bello durch gerechte Kombattant*innen verteidigen dürfen; vgl. McMahan, Killing in War, Kap. 2. 34  Vgl. ebd., S. 182. 35  Vgl. ebd., S. 208 f. 36  Vgl. ebd., S. 183.

tere – somit könnten sie der Liabilität nur entkommen, wenn ihnen jegliche Verantwortungsfähigkeit abgeht.34 Die traditionelle Regel, Kombattant*innen im Wesentlichen durch das militärische Personal einer kämpfenden Partei zu bestimmen, wird von McMahan prinzipiell zurückgewiesen; der entscheidende Unterschied wird im Grad der Verantwortung der Mitglieder der ungerechten Seite gesehen.35 Allerdings argumentiert McMahan weiter, dass ungerechte Kombattant*innen aufgrund ihrer Wahl der Rolle des Kombattant*innen auch dann legitime Angriffsziele seien, wenn sie selbst noch nicht ungerechte Gewalt ausgeübt hätten, sondern bloß Teil eines Angriffskrieges seien.36 Dies stellt eine grobe Generalisierung dar, wie McMahan auch zugibt, da es ungerechte Kombattant*innen gibt, die ihre Rolle nicht gewählt haben und/oder die nicht wissen können, dass der Krieg, in welchem sie eingesetzt werden, ungerecht ist.37 Zivilisten können, so McMahan, in verschiedener Weise verantwortlich

37  Vgl. ebd., S. 184 ff. 38  Vgl. ebd., S. 214 f.

sein für einen ungerechten Krieg: Sie können den Krieg propagandistisch unterstützen, in die Produktion von Waffen involviert sein, einfach nur Steuern bezahlen, aus denen die Kriegsmittel finanziert werden oder sie können

39  Vgl. ebd., S. 218–221. McMahan vertritt die Doktrin des doppelten Effekts in ihrer unveränderten Version; Walzers zusätzliche Forderung, demnach notwendig sei, dass Kombattant*innen Risiken auf sich nähmen, um Gefahr von Non-Kombattant*innen abzuwenden, übernimmt er nicht. 40  Vgl. ebd., S. 224.

auch unterlassen, Widerstand gegen einen ungerechten Krieg zu leisten.38 Nach McMahan sei intuitiv plausibel, dass diese Formen der Mitverantwortung mindestens dafür ausreichend seien, indirekte kriegerische Gewalt (sogenannte »Kollateralschäden«) zu rechtfertigen.39 Auch direkte Gewalt gegenüber verantwortlichen Zivilisten sei nach McMahan in bestimmten Fällen gerechtfertigt.40 Allerdings schwächt er diese Konsequenz mit pragmatischen Gründen wieder ab: Meist sei unmöglich, solche Verantwortung klar zuzuweisen; es sei nicht effektiv, Zivilisten zu töten, da von ihnen keine direkte Gefahr ausgehe. Weiterhin sei meist unmöglich, die ungerechten Entscheider

41  Vgl. ebd., S. 225–231 sowie McMahan, The Morality of War and the Law of War.

von den unschuldigen Zivilisten so zu isolieren, dass ein Angriff zu rechtfertigen wäre.41 Das heißt, eine weitgehende Immunität für Zivilisten ergibt Nadia Mazouz  —  Die Herausforderungen neuer Kriegspraktiken

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sich aus pragmatischen, nicht aber aus prinzipiellen moralischen Gründen. McMahan macht also in der Konsequenz ungerechte Kombattant*innen generell als liabel für direkte kriegerische Gewalt aus, ungerechte Zivilisten hingegen (aus pragmatischen Gründen) generell als nicht liabel. McMahan zufolge sei die Moral des Krieges, die er auf der Basis des Kriteriums für Liabilität ausformuliert, die tiefe Moral (»deep morality«) des Krieges, die vom Recht des Krieges im Sinne der Legalität (»law of war«) unterschieden werden müsse – im Recht des Krieges spielen pragmatische Gesichtspunkte eine entscheidende Rolle.42 Im Recht des Krieges sei laut McMahan der gleiche Status der Kombattant*innen zu rechtfertigen,43 der Hauptgrund für die legale Gleichheit sei die epistemische Unsicherheit, unter welcher die Kombattant*innen agierten: Typischerweise wüssten Kombattant*innen nicht, ob der Krieg, in dem sie kämpfen (sollen), gerecht sei; die allermeisten glaubten dies jedoch.44 Die epistemische Unsicherheit der Akteure sei laut McMahan darauf zurückzuführen, dass keine »autoritative Anleitung in Sachen ius ad bellum«45 existiere. Um dieses Problem zu beheben oder zumindest zu mindern, schlägt er vor, eine Art Gericht zu installieren, das Fragen des ius ad bellum epistemisch verlässlich beantworten könnte.46 Der zweite Argumentationsstrang der monistischen Theorien betrifft das ius ad bellum. Die wichtigste Ad-bellum-Regel, der gerechte Kriegsgrund, aber auch die Regel der angemessenen Autorität, werden grundlegend anders gefasst als in dualistischen Theorien. In Bezug auf die These, der einzige zu akzeptierende gerechte Kriegsgrund sei die Verteidigung gegen Aggression, gibt es zwei Stoßrichtungen der Argumentation. Die erste wendet sich dagegen, Verteidigung allgemein als gerechten Kriegsgrund anzusehen. Nicht jeder Angriff gegen die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit eines Staates rechtfertige eine kriegerische Antwort;47 insbesondere nicht die sogenannte geringfügige Aggression, bei der basale Grundrechte

42  Vgl. McMahan, The Morality of War and the Law of War, S. 27 ff. 43  Vgl. ebd., S. 27. 44  Vgl. ebd., The Morality of War and the Law of War, S. 27 f. u. S. 30–33.

der angegriffenen Gesellschaftsmitglieder – Leben und elementare Freiheitsrechte – nicht gefährdet sind, etwa ein Krieg um Ressourcen oder politische Kontrolle. Dieser tendenziell kriegskritischen Stoßrichtung der Argumenta-

45  Ebd., S. 41.

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tion steht eine zweite entgegen, in welcher die gerechten Kriegsgründe ausgeweitet werden. Dies geschieht auf zwei Weisen: Erstens, indem gerechtfertigte Verteidigung weiter gefasst wird als in der dualistischen Theorie, nämlich allgemein im Sinne der Verteidigung der Grundrechte einzelner Individuen. So werden humanitäre Interventionen legitimiert und eine Basis für die Legitimierung von Veränderungen politischer Verhältnisse durch kriegerische Gewalt geschaffen. Zweitens werden neben der Verteidigung noch weitere Gründe als gerechte Gründe geltend gemacht, klassischerweise die Bestrafung

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

46  Vgl. McMahan, The Prevention of Unjust Wars, in: Y. Benbaji u. N. Sussmann (Hg.), Reading Walzer, London 2014, S. 246 ff. 47  Vgl. McMahan, What Rights May Be Defended by Means of War?, in: Cecile Fabre u. a. (Hg.), The Morality of Defensive War, Oxford 2014, S. 115–158. 48  Vgl. ebd., S. 117.

politischer Entscheider*innen für Grundrechtsverletzungen sowie auch die Korrektur extrem ungerechter Güterzuteilungen.49 McMahan kritisiert ferner die für die traditionellen Theorien charakteristische Einschränkung der Regel der legitimen Autorität auf staatliche oder zumindest minimal institutionell verfasste politische Gemeinschaften. Er argumentiert, dass zur Verteidigung gegen Grundrechtsverletzungen unter bestimmten Bedingungen für Individuen legitim sein könne, sich zu Gruppen von Individuen zusammenzuschließen und auch kriegerische Gewalt anzuwenden.50 Die wichtigste Voraussetzung der Argumentation McMahans ist: Die Urteile und Regeln, die für interpersonale Situationen gelten, können übertragen werden auf Situationen, in denen politische Gemeinschaften involviert sind. Die Angemessenheit der Übertragung belegt McMahan mit einem bestimmten Modell der Relation zwischen politischen Gemeinschaften, nämlich dem individualistischen Modell, bei dem Relationen zwischen Gemeinschaften letztlich zurückzuführen sind auf Handlungen zwischen Individuen, sodass gilt: »Gerechte Kriege sind bloß die kollektive Ausübung des individuellen Rechts auf Selbstverteidigung und auf die Verteidigung Dritter in einer koordinierten Weise gegen eine gemeinsame Bedrohung«51. Die Angemessenheit des individualistischen Modells scheint McMahan unmittelbar einleuchtend. Alternative unterstellte Kriegspraktiken Den beiden alternativen Theorien des gerechten Krieges – der dualistischen von Walzer und der monistischen von McMahan – liegt jeweils eine eigene Auffassung von der Praxis des Krieges zugrunde. Denn ihre jeweiligen Argumente basieren darauf, dass die Kriegspraxis auf eine bestimmte Weise gefasst wird: Für Walzer ist Krieg eine Praxis des Kampfes zwischen Kombattant*innen mit politischen Zielen, nach McMahan ist Krieg eine Praxis des Kampfes gerechter Kombattant*innen gegen ungerechte Personen. Dies bedeutet, dass Kriege in der dualistischen Version der TgK als politisch begrif49  Vgl. Jeff McMahan, Just Cause for War, in: Ethics & International Affairs, Jg. 19 (2005), H. 3, S. 1–21, hier S. 12 ff. 50  Vgl. McMahan, What Rights May Be Defended. 51  McMahan, The Ethics of Killing in War, in: Ethics, Jg. 114 (2004), S. 693–733, hier S. 717 (eigene Übersetzung).

fen werden und in der monistischen Version als unpolitisch. Die unpolitische Bestimmung der Praxis des Krieges geht einher mit der Kontinuitätsauffassung der Moral des Krieges: Kriege werden nach dem Modell von gewöhnlichen – wenn auch mit einem größeren Ausmaß an Gewalt einhergehenden – Verbrechen und Polizeieinsätzen begriffen. Diese Position könnte man unter dem Titel »Normalismus« fassen, da für sie zentral ist, dass die Moral des Kriegs die »normale« Moral ist, die auch im Frieden gilt. Die politische Bestimmung der Praxis des Krieges geht einher mit der Diskontinuitätsauffassung der Moral des Krieges – Kriege sind nach einem eigenen Modell zu Nadia Mazouz  —  Die Herausforderungen neuer Kriegspraktiken

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begreifen. Diese Position wird auch »Exzeptionalismus« genannt. Aufgrund der je unterstellten Kriegspraxis ziehen die gegenseitigen kritischen Argumente nicht, die ja auf der jeweiligen Auffassung der Praxis beruhen. Der Dissens zwischen den beiden alternativen Theorien, der dualistischen und der monistischen, lässt sich mit den internen Mitteln der jeweiligen Theorien nicht begründet beheben. Man könnte argumentieren, dass sowieso nicht von großer Relevanz sei, diesen Dissens aufzulösen, da die alternativen Theorien letztlich zu sehr ähnlichen praktischen Empfehlungen kämen. Zwar sieht McMahan ungerechte Zivilisten unter bestimmten Umständen als legitime Zielscheiben direkter Gewalt – etwas, das Walzer prinzipiell ausschließt –; allerdings besteht dies nur auf der Ebene der »deep morality«. Mit pragmatischen Gründen rechtfertigt McMahan letztlich doch den Schutz von Zivilisten generell. Diese Argumentationsstrategie greift aber zu kurz, wenn man die sich wandelnde Praxis des Krieges betrachtet. II HERAUSFORDERUNGEN DER TGK DURCH NEUE ­KRIEGSPRAKTIKEN Wie eingangs erwähnt, hat seit einigen Jahrzehnten ein Wandel der Praxis des Krieges stattgefunden. Neben die klassischen Staaten- und Bürgerkriege treten sogenannte neue Kriege52. Das hervorstechende Merkmal der neuen Kriegspraktiken ist die Rolle, die Politik darin spielt bzw. eigentlich eben nicht spielt. In der klassischen Praxis des Krieges sind politische Ziele zentral; es geht um politische Souveränität und/oder um politische Kontrolle über Territorien, Ressourcen und dergleichen. In den neuen Kriegspraktiken aber ist die politische Rolle tendenziell abgeschwächt, auf jeden Fall komplexer. Für die neuen Kriege ist kennzeichnend, dass die Politik keine oder eine unklare Rolle spielt; die politischen Auftraggeber*innen treten, wenn es sie denn gibt, nicht öffentlich auf, der eventuelle politische Auftrag an die Kombattant*innen sowie die verfolgten gesamtpolitischen Ziele sind noch nicht einmal in einem minimalen Sinne klar. Greift man auf die beiden den Diskurs über die Moral des Krieges dominierenden TgK zurück, um sich bei der Bewertung dieser neuen Kriegspraktiken zu orientieren, wird man zu scheinbar einfachen und eindeutigen Ergebnissen kommen. Aus der Perspektive der dualistischen Theorie von Walzer sind diese Kriegspraktiken im Grundsatz einzuschränken oder ganz zu verurteilen: Wie am Beispiel der humanitären Intervention bereits diskutiert, ist Walzer der Ansicht, dass es einer besonderen Rechtfertigungspflicht bedürfe, politische Selbstbestimmung zu übertrumpfen. In seiner Theorie ist legitime

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

52  Kontrovers ist, wie neu solche Kriegspraktiken sind. Einige Autor*innen betonen, dass diese in Europa typisch und vor dem Dreißigjährigen Krieg verbreitet gewesen und erst mit der Instituierung des sogenannten Westfälischen Systems verdrängt worden seien. Vgl. Sven Chojnacki.

politische Autorität eine notwendige Bedingung für einen gerechten Krieg, und Verteidigung politischer Selbstbestimmung der paradigmatisch gerechte Kriegsgrund. Aus der Perspektive der monistischen Theorie M ­ cMahans sind diese neuen Kriegspraktiken im Grundsatz akzeptabel; sie können im Einzelnen aber natürlich ungerecht sein, wenn illegitime Ziele verfolgt werden: Wie am Beispiel der humanitären Intervention schon diskutiert, ist ­McMahan der Ansicht, dass politische Selbstbestimmung keine besondere Rolle spiele. Worauf es ankomme, seien allein individuelle Rechte auf Leben und basale Freiheiten. Diese Resultate aber sind schlicht Folgerungen aus den Annahmen der jeweiligen Theorie, speziell der unterstellten Auffassung der Praxis des Krieges – politisch im dualistischen und unpolitisch im monistischen Theoriestrang. Die eher affirmative Tendenz der monistischen und die eher ablehnende Tendenz der dualistischen Theorievariante gründen beide gleichermaßen in einer selbst nicht weiter gerechtfertigten Auffassung davon, was die Praxis des Krieges sei. Die »neuen« Kriegspraktiken fordern die zwei paradigmatischen Theorien des gerechten Krieges meiner Meinung nach gleichermaßen grundsätzlich heraus – unabhängig davon, dass die jeweiligen Theorien zu tendenziell entgegengesetzten inhaltlichen Stellungnahmen führen: Denn die eigentlich relevante Frage beim Aufkommen der »neuen« Kriege ist doch die nach Gründen für oder gegen diese Praktiken, nicht ihrer einfachen Befürwortung oder Ablehnung. Moralisch problematisch ist, ob solche Praktiken mit einem unklaren politischen Profil gerechtfertigt werden können – und wenn ja: mit welcher Art von Gründen.

Prof. Dr. Dr. Nadia Mazouz, geb. 1970, Universitätsprofessorin für Praktische Philosophie in Marburg mit den Forschungsschwerpunkten: Moralphilosophie, Politische Philosophie und Sozialphilosophie, Kantische Moralphilosophie, Kontraktualismus und Diskursethik, Philosophie der Gefühle, Theorie der Demokratie, Umwelt- u. Klimaethik, Tierethik, Medizinethik, Zahlen in der Ethik, Moral von Krieg und Frieden.

Nadia Mazouz  —  Die Herausforderungen neuer Kriegspraktiken

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DEMOKRATISIERUNG DER DEMOKRATIE? RADIKALDEMOKRATISCHE KONFLIKTONTOLOGIE IN DER DISKUSSION ΞΞ Bastian Mokosch

Radikale Demokratie ist politische Theorie und Strategie zugleich. Unabhängig davon, welche theoretischen Prämissen den heterogenen radikaldemokratischen Positionen jeweils zugrunde liegen, lässt sich folgende formale Gemeinsamkeit herausstellen: Ihr Ziel ist die fortschreitende sowohl theoretische als auch praktische Problematisierung gesellschaftlicher Ungleichheiten, um diese kontinuierlich abzubauen sowie möglichst breite soziale und politische Teilhabe zu ermöglichen. Radikale Demokratie stellt somit die progressive Umgestaltung nicht nur bestehender demokratischer Gesellschaften in Aussicht, sondern zugleich noch die der elementarsten kollektiven Akteure, die innerhalb derselben an der Gestaltung politischer und sozialer Prozesse mitwirken. Ganz formal ließe sich dieses Ziel wohl auf das Schlagwort »Demokratisierung der Demokratie« reduzieren. Jedoch bleibt dieses formale Ziel derart abstrakt, dass sich fundamental widersprechende politische Theorien und Praxiszusammenhänge mit grundsätzlich divergierenden normativen Prämissen gleichermaßen darauf berufen können. Denn je nachdem, was als das elementare progressive Moment moderner Demokratien gegenüber ihren nichtdemokratischen Alternativen herausgestellt wird, ergibt sich ein je eigenständiges Bild, was »Demokratisierung der Demokratie« bedeuten kann. Michael Hirschs (in Anschluss an Ingeborg Maus formulierter) »radikaldemokratischer Rechtsformalismus« etwa entwirft ein herrschaftskritisches und aufklärungsaffines Konzept radikaler Demokratie. Hirsch bestimmt den Zweck Letzterer darin, dass die »gleiche Freiheit« allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen zukommen müsse: eine Freiheit, die aus der Verringerung von politischen und sozialen Ungleichheiten hervorgeht und die gleichbedeutend ist mit der »Selbstständigkeit aller«.1 Diese je individuelle Selbstständigkeit sei zwar eines der wesentlichen normativen Prinzipien des Liberalismus, werde aber beständig durch die Verselbstständigung der antagonistischen Struktur kapitalistischer Vergesellschaftung und des aus ihr jeweils hervorgehenden bürokratischen Staatsapparates verhindert. Denn diese Prozesse sozialstruktureller Verselbständigung blockierten die Fähigkeiten

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1  Vgl. Michael Hirsch, Nominalismus der radikalen Demokratie. Zur Kritischen Theorie der Politik im Linkskantianismus, in: Oliver Eberl (Hg.), Transnationa­ lisierung der Volkssouveränität. Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates, Stuttgart 2011, S. 57–82, hier S. 62.

der Individuen, gemeinsam und bewusst die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens zu gestalten. Normatives Ziel von Hirschs radikaldemokratischem Rechtsformalismus ist die »totale Verrechtlichung von Herrschaft«; sie solle aus der vollständigen gesellschaftlichen Unterwerfung von Staat, Ökonomie und Sozialem unter die Gesetze der souveränen Gesamtheit der aus Freien, Gleichen und Selbstständigen Assoziierten resultieren. Politik wird in diesem Kontext als Mittel betrachtet, die bewusste Gestaltung von Gesellschaft zu ermöglichen.2 Die konfliktontologischen Ansätze »radikaler Demokratie« hingegen, die im Fokus dieses Beitrags stehen, würden die von Hirsch vorgeschlagene Konzeption indes als zu rationalistisch oder objektivistisch und daher nicht mehr zeitgemäß zurückweisen. Eine prominente Variante dieser konfliktontologischen Theorie radikaler Demokratie, die sich explizit nicht als herrschaftskritisch, sondern als aufklärungskritisch und machttheoretisch versteht, vertreten Chantal Mouffe und Ernesto Laclau. Beide sind die mutmaßlichen Begriffsschöpfer der »radikalen Demokratie«, die sie Mitte der 1980er Jahre gebrauchten, um die Zukunft der in die Krise geratenen sozialistischen Bewegungen zu denken.3 Anders als Hirsch bestreiten sie, dass radikale Demokratie und liberaler Rechtsformalismus Synonyme füreinander seien. Ihnen zufolge herrsche die Rule of Law bereits unter den gegebenen liberal-kapitalistischen Bedingungen und sei für liberale Demokratien grundsätzlich notwendig, um demokratische Fortschritte zu institutionalisieren, universale Regeln des demokratischen Miteinanders zu bestimmen und individuelle Freiheit zu ver2  Vgl. ebd., S. 62 f. u. S. 65. 3  Vgl. Chantal Mouffe u. Ernesto Laclau, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991 (im Original 1985).

teidigen. Doch das formale Recht sei dabei höchstens die Rahmenbedingung demokratischer Praxis. Eine ausschließliche Konzentration auf Rechtsnormen verleugnete den von Mouffe und Laclau beschworenen »Antagonismus im Sozialen«. Liberaler Rechtsformalismus sei zwar insofern radikaldemokratisch, als der Anwendungsbereich seiner universalen Regeln sich beständig auf neue soziale Gruppen ausweiten müsse und dadurch interne Demokra-

4  Vgl. ebd., S. 23; Ernesto Laclau, The future of radical democracy, in: Lars Tønder u. Lasse Thomassen (Hg.), Radical democracy. Politics between abundance and lack, Manchester 2005, S. 256–262, hier S. 259. 5  Vgl. Chantal Mouffe, For an agonistic public sphere, in: Lars Tønder u. Lasse Thomassen (Hg.), Radical democracy. Politics between abundance and lack, Manchester 2005, S. 123–132, hier S. 128 f.

tisierung der liberalen Institutionen beständig aus sich selbst heraus produziere.4 Doch tendiere die ausschließliche Konzentration auf den liberalen Rechtsformalismus ebenso zum Gegenteil: dass die demokratische Dimension moderner Demokratie ihrer liberalen Tradition geopfert werde. Dies sei vor allem dann zu beobachten, wenn politische Liberalisierungsprozesse mit Verweis auf einen unhintergehbaren moralischen Konsens auch rechtlich institutionalisiert werden und damit der politischen Auseinandersetzung mit jenen entzogen, die diese Liberalisierungstendenzen grundsätzlich ablehnen.5 Die demokratische Tradition moderner Demokratien, auf die sich radikale Demokratie zu beziehen habe, weise sich laut Mouffe und Laclau durch etwas Bastian Mokosch  —  Demokratisierung der Demokratie?

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anderes aus: Als politisch-pluralistische Praxis gründe Demokratie sowohl auf der praktischen Anerkennung der prinzipiellen Konflikthaftigkeit des menschlichen Sozialen – sprich des Antagonismus – als auch auf dem Versuch, diese Konflikthaftigkeit zu institutionalisieren. Die antagonistischen Feinde werden in liberalen Demokratien zu parlamentarischen Gegnern, wodurch keineswegs die verschiedenen ideologischen Positionen miteinander versöhnt, sondern in einem vermittelnden institutionellen Rahmen miteinander konfrontiert würden. Wie im Hinblick auf das aktuelle Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen zudem erkannt werden könne, so Mouffe, führe ein breiter Konsens über grundsätzliche Fragen aufseiten der institutionalisierten Politik zu einer Konstellation, in der sich wirkmächtige alternative Positionen außerhalb des parlamentarischen Rahmens etablierten. Ein Konsens – und sei er »moralisch« noch so gerechtfertigt – tendiere stets dazu, den Antagonismus auf institutioneller Ebene eliminieren zu wollen. Dies sei stets zum Scheitern verurteilt, da der Antagonismus tief im Wesen des Sozialen ankere.6 Radikale Demokratie, im Sinne Laclau und Mouffes, sei nun der Versuch, die permanente Gegenwart des Antagonismus »anzuerkennen« und ihn radikal pluralistisch zu denken und demokratisch zu wenden. Fungierte in ihren früheren Schriften »radikale Demokratie« noch als Bezeichnung für eine politische Strategie, die eine ideologisch gespaltene Linke zu einer potenten widerständigen, pluralistischen Kraft zu vereinen helfen sollte, um gegen die neoliberale Neuordnung kapitalistischer Gesellschaften ein politisch schweres und emanzipatorisches Gegengewicht zu formieren,7 tendieren ihre späteren Konzeptionen von radikaler Demokratie dahin, die pluralistische Form der Politik, wie sie sich unter neoliberalen Bedingungen ergab, als die einzig mögliche Gestalt von Politik überhaupt zu rechtfertigen.8 Dieser späteren Konzeption zufolge muss der Antagonismus agonal transformiert werden, sodass die ihm eigene Feind­seligkeit, der die politischen Akteure ausgesetzt seien, einer auf gegenseitiger Anerkennung basierenden Gegnerschaft weicht.9 Radikale Demokratie in diesem späteren, agonistischen Sinn setzt sich aus drei Formen zusammen: Erstens aus ihrer liberalen Form, die gleichbedeutend ist mit den internen Demokratisie-

6  Vgl. ebd., S. 125 f.; Dies., Exodus und Stellungs­ krieg, Die Zukunft radikaler Politik, Wien 2005, S. 51 ff. 7  Vgl. Mouffe u. Laclau, S. 31–35. 8  Bezüglich dieser Diskrepanz in Laclau und Mouffes Verständnis von Radikaler Demokratie vgl. Karin Priester, Mystik und Politik. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und die radikale Demokratie, Würzburg 2014, S. 192 ff.

rungstendenzen des universalistischen liberalen Rechtsformalismus; zweitens aus ihrer populistischen Form, welche die Art und Weise umfasst, wie ein durch die liberalen Institutionen erzeugter künstlicher Konsens durch eine

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

9  Vgl. Chantal Mouffe, ­ gonistik, Die Welt politisch A denken, Berlin 2014, S. 28–30.

wirkmächtige oppositionelle Kraft aufgekündigt wird; und drittens aus ihrer pluralistischen Form, welche die Heterogenität der oppositionellen Widerstandsbewegung betrifft sowie die Art und Weise, wie trotz der zahlreichen partikularen Ziele, die mit diesen heterogenen elementaren Widerstandspositionen existieren, die Opposition als Einheit konstituiert werden kann.10 Nur aus dem Zusammenwirken dieser drei Formen radikaler Demokratie könne eine »Demokratisierung der Demokratie« hervorgehen. Doch lässt sich weder die Einheit der drei Formen noch das proportionale Verhältnis, in dem sie stehen, rational bestimmen. Sowohl ihr Zusammenwirken als auch die von den drei Formen unterhaltenen Relationen seien nach Laclau radikal kontingent. Radikale Demokratie, würde sie als soziale Ordnung imaginiert, wäre eine sich selbst in ihrem Gehalt und ihrer Gestalt permanent zur Debatte stellende Form, in der Fragen bezüglich ihrer Verfasstheit als Ordnung nicht durch auf Konsens ausgerichtetes rationales Argumentieren hergestellt, sondern allein durch politisches Intervenieren entschieden würden.11 10  Vgl. Laclau, The future of radical democracy, S. 261. 11  Vgl. ebd.

Nun ist es vor allem diese letzte Behauptung, die verdeutlicht, dass es sich bei radikaler Demokratie, wie sie von Laclau und Mouffe verstanden wird, nicht nur um politische Praxis im engeren Sinne handelt, sondern ebenso um Bastian Mokosch  —  Demokratisierung der Demokratie?

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eine politisch-theoretische Haltung gegenüber der antagonistischen Verfasstheit der Welt. Und um eine Kritik der modernen Sozial- und Politikwissenschaften. Doch was ist der theoretische Gehalt dieses Antagonismus, dieser Konflikthaftigkeit des Sozialen, auf die beide stets verweisen, um ihre Konzeption von radikaler Demokratie zu begründen? KONFLIKTONTOLOGIE: ANTAGONISMUS ALS WESEN DES POLITISCHEN ODER DER MODERNE? Dafür, dass Antagonismus eines der zentralen Argumente in Mouffes und Laclaus Theorie radikaler Demokratie ist, bleibt er bei ihnen doch erstaunlich unterbestimmt. In zahlreichen ihrer Texte heißt es lapidar, er sei zu »akzeptieren« oder »anzuerkennen«, ohne dass erläutert würde, weshalb. Dadurch – und weil der Antagonismus als Wesen des Politischen fast ausschließlich im Zuge der Diskussion von demokratisch-politischen Ordnungen behandelt wird12 – bleibt unklar, ob mit dem Politischen das Wesen moderner Demokratien oder, sozialontologisch, das des menschlichen Sozialgefüges insgesamt beschrieben wird. Zum einen heißt es in »Hegemony and Socialist Strategy«13 – wo die konzeptuelle Erörterung des Antagonismus theoretisch am profundesten ist –, dass beide die grundsätzliche Frage interessiere, welchen Typ sozialer Beziehung ein antagonistisches Verhältnis voraussetze. Und zwar unabhängig von seinen tatsächlichen realen Erscheinungen in sozialen Konflikten und von den Ursachen, die diese haben könnten. Eine solche Frage fokussiert das allgemeingültige Wesen des Antagonismus. Diesem »ontologischen Bedürfnis« stehen jedoch zwei theorieimmanente Sachverhalte entgegen. Zum einen verweisen Mouffe und Laclau selbst auf den ganz spezifischen historischen Kontext ihrer eigenen Theorie: auf die Erfahrung mit den »Neuen Sozialen Bewegungen« seit den 1960er Jahren. Diese ließen sie die Frage nach dem Antagonismus fokussieren, um aus der Perspektive einer politischen Strategie für eine internationale demokratische Linke in einer »globalisierten Welt« die Herausforderungen zu denken, vor welchen

12  Vgl. exemplarisch Mouffe, Exodus und Stellungskrieg, S. 51. Bezüglich der Omnipräsenz argumentativ unbegründeter Behauptungen in Mouffes und Laclaus Theorie vgl. Priester, S. 13 f.

diese sich gestellt sieht.14 Das andere Mal sind es die seltenen historischen Beispiele, die sie innerhalb ihres theoretischen Rahmens bemühen, um das abstrakte Theorem Antagonismus figürlich zu illustrieren. Diese Beispiele reichen höchstens bis zur Französischen Revolution zurück, sodass sie stets moderne soziale und politische Hintergründe vor Augen haben, wenn sie vom Antagonismus als »Wesen des Politischen« sprechen. Doch bevor sich der Frage, welcher Antagonismus welches Wesen des Politischen beschreibe, gewidmet wird, soll zunächst dargestellt werden, was Mouffe und Laclau unter Antagonismus verstehen.

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

13  Vgl. Mouffe u. Laclau, S. 161 f. 14  Vgl. ebd., S. 31. Auch die frühen Kritiker haben die Essenz von »Hegemony and Socialist Strategy« in diesem historisch-spezifischen Sinn verstanden; vgl. Ellen Meiksins Wood, Democracy against Capitalism. Renewing Historical Materialism, Cambridge 1996, S. 256 f.

Zunächst: Mouffes und Laclaus Antagonismus ist nicht deckungsgleich mit der dem Sozialen eingeschriebenen Konflikthaftigkeit. Letztere geht vielmehr aus Ersterem hervor. Antagonismus ist formal als etwas vorzustellen, dass das Verhältnis von Ideologie und Erkenntnis betrifft. Er sei zunächst die »diskursive Form«, in der sich die »›Erfahrung‹ der Grenze aller Objektivität«15 geltend mache. Mit dieser Bestimmung kann Antagonismus weder als logischer Widerspruch noch als reale Opposition von verschiedenen sozialen Akteuren begriffen werden. Denn der Antagonismus von Mouffe und Laclau fällt, mit seiner Bestimmung als Grenze der Objektivität, in jenen Bereich, den beide (Widerspruchs- oder Oppositions-)Pole miteinander teilen und der sie vereint. Es ist ein Bereich, in dem eine argumentative Erklärung, etwa zur Verfasstheit einer sozialen Ordnung, in einen nichtargumentativen, zum Teil affektgeladenen Appell – zum Beispiel an den gesunden Menschenverstand – mündet, um sich von einer entgegengesetzten ideologischen Position abzugrenzen. Beide Pole des antagonistischen Verhältnisses sind dabei zwei miteinander unvereinbare »Terrains von Objektivität«16, die sich dennoch gegenseitig bedingen, um mittels Verweises auf die Unzulänglichkeit des jeweils anderen die eigene Identität zu bewahren bzw. zu konstituieren. Während in Marx’ Antagonis15  Mouffe u. Laclau, S. 161. Die folgenden Darstellungen beziehen sich auf Meiksins, S. 161–165. 16  Ernesto Laclau, Ideologie und Post-Marxismus, in: Martin Nonhoff (Hg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld 2007, S. 25–39, S. 28.

muskonzeption, Laclau und Mouffe zufolge,17 sich zwei unversöhnliche, jeweils mit sich selbst identische Totalitäten (Klassen) gegenüberständen, gehen sie selbst davon aus, dass kein sozialer Akteur aus sich heraus eine Ganzheitlichkeit erzeugen könne. Denn soziale Akteure seien gezwungen, so Mouffe und Laclau, ihre Identitäten in Opposition zu den ihnen feindlich gegenüberstehenden Anderen erst herzustellen. Das heißt wiederum, dass das antagonistische Andere als Negation der eigenen Identität in die eigene Identitätskonstruktion einbezogen werden muss. Für Laclau und Mouffe ist bspw. das Proletariat nicht es selbst, sondern es konstituiere sich durch sein Antikapita-

17  Hierbei reproduzieren sie lediglich den Marx des Arbeiterbewegungsmarxismus, dem sie selbst entstammen. Demgegenüber hat die neuere Marxforschung herausgearbeitet, dass Klassen bei Marx nicht als (soziale) Identitäten, sondern als formanalytische Kategorien fungieren. Vgl. Moishe Postone, Time Labor, and Social Domination. A reinterpretation of Marx’ critical theory, Cambridge 1996, S. 355 f.; Sven Elmers, Die formanalytische Klassentheorie von Karl Marx, Duisburg 2007. 18  Vgl. Mouffe u. Laclau, S. 31.

listisch-Sein, wie umgekehrt die Kapitalistenklasse sich durch ihr Antiproletarisch-Sein konstituiere. Jedoch gehen beide nicht nur von einem dualistischen Antagonismus als Grund der Konflikthaftigkeit des Sozialen aus, sondern haben bereits die Pluralisierung von politischer Praxis vor Augen, wie sie sich mit den »Neuen Sozialen Bewegungen« ergab. Ihr Antagonismus ist einer der extremen Pluralität unendlich vieler realer Möglichkeiten von Identitätskon­ struktionen, die zwar in konflikthaften Relationen zueinander stehen, jedoch ebenso einander bedürfen.18 Nach dieser Skizzierung des Konzepts des Antagonismus von Mouffe und Laclau sollen an dieser Stelle die weiter oben aufgeworfenen Fragen zur ontologischen Bestimmung des Wesens dieses Antagonismus wieder aufgegriffen werden. Für die Vermutung, dass beide die Gestalt moderner Demokratien im Bastian Mokosch  —  Demokratisierung der Demokratie?

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Sinn haben, wenn sie den pluralistischen Antagonismus als das »Wesen des Politischen« bestimmen, spricht bereits, dass sie sich beide an prominenten Stellen zustimmend auf Claude Leforts Theorie der »demokratischen Revolution« beziehen.19 Dies ist deshalb interessant, weil Lefort, der die radikaldemokratischen Ontologien wie kein anderer geprägt hat,20 die konstitutive Wirkung des Konflikts explizit für die demokratische Form von Politik herausgearbeitet hat – und zwar nicht nur für die aktuellen, möglicherweise schon wieder gefährdeten, sondern für alle möglichen Varianten von Demokratie. Er vertrat die Ansicht, dass in demokratischen Gesellschaften sowohl der »Ort« als auch der »Körper« der Macht zu einer »Leerstelle« und fortan Gegenstand politischen Wettstreits geworden sei. Während im Ancien Régime der Fürst, in seiner Funktion als Repräsentant der jenseitigen Macht Gottes, die Einheit seines territorial begrenzten Herrschaftsbereichs auch mit seiner Person verkörperte, existiert in demokratischen Gesellschaften ein solches jenseitiges Außen, das zur politischen Einheitsstiftung und Machtlegitimation verwendet werden könnte, nicht mehr. In demokratischen Gesellschaften werde laut Lefort die gesellschaftliche Einheit erst durch den Konflikt um Macht hergestellt und der Ort der Macht könne weder durch einen spezifischen sozialen Akteur verkörpert noch dauerhaft besetzt werden. So weisen Monarchie und Demokratie gegensätzliche Bedingungen ihrer Einheit auf. Zugleich werde es, laut Lefort, durch diesen für die Demokratie konstitutiven konflikthaften Umstand unmöglich, den Ort der Macht rational zu lokalisieren, da dieser selbst dem institutionalisierten politischen Wettbewerb nachgeordnet sei und sich erst aus diesem ermittele.21 Und noch etwas Spezifisches hat Lefort für die Demokratie bestimmt, das Mouffe und Laclau zustimmend in ihre Theorie aufnehmen.22 Leforts These ist es, dass mit der demokratischen Revolution eine neue Form von Gesellschaft etabliert werde, die strukturell offen und deshalb mit sich selbst nicht identisch sei. Dabei ist der revolutionäre Charakter der Herstellung von Demokratie ernst zu nehmen. Sie entwickelt sich nicht in einem evolutionären Prozess, der sich von der Politikwissenschaft historisch rekonstruieren ließe, sondern wird in einem revolutionären Akt der politischen Formgebung etabliert. Diese Formgebung umfasst dabei nicht nur die Schaffung eines Apparats neuer sozialer und politischer Institutionen, in dem die Verfassung der neuen Ordnung repräsentiert wird. Er bedeutet ebenso, dass im und mit dem Ereignis der Revolution neue intelligible Weltverhältnisse erschaffen werden, die etwa Unterscheidungen zwischen dem Realen und Imaginären, Wahren und Falschen usw. auf eine von der monarchischen Form vollkommen verschiedene Weise treffen. Diese umfassende Differenz in der politischen Form

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19  Vgl. ebd., S. 231 ff. 20  Vgl. Oliver Marchart, Die politische Differenz, Berlin 2010, S. 118. 21  Vgl. Claude Lefort, Die Frage der Demokratie, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a. M. 1990 (im Original 1983), S. 281–297, hier S. 293 f. 22  Vgl. Mouffe u. Laclau, S. 196.

bedingt ferner, dass die Negation der Demokratie nicht mehr durch die alten Formen Monarchie oder Despotie geschehen kann, sondern selbst durch eine revolutionierte Form erfolgt: den Totalitarismus. Dieser trachtet danach, die durch Demokratie etablierte Konflikthaftigkeit zu eliminieren, scheitert aber kontinuierlich.23 Wenn das Wesen des »Politischen«, wie bei Laclau und Mouffe, im Sinne der konflikthaften Relation partikularer Akteure verstanden wird, dann wird Demokratie, die laut Lefort ebenjene wesensmäßige Konflikthaftigkeit etabliere und fortan ein unendlicher und kontingenter Prozess des In-Form-Setzens sei, erstaunlicherweise zum Inbegriff des Politischen selbst.24 Dass das Wesen des Politischen und das konflikthafte Wesen der Demokratie bei Mouffe und Laclau zusammenfallen, lässt sich auch anhand der für die Antagonismuskonzeption wichtigen Diskurstheorie zeigen. Mouffe und Laclau übernehmen den Gedanken der Formierung von Gesellschaft durch das Politische vor allem mit Fokus auf die sinngebende Dimension und entwickeln daraus eine Diskurstheorie des Sozialen. Im Zuge dessen wird vorausgesetzt, dass jedes menschliche Soziale mit Machtverhältnissen durchzogen ist und von diskursiven Bedeutungssystemen strukturiert wird, die zueinander in antagonistischen Relationen stehen. Jedes dieser Bedeutungssysteme ist als eine Gesamtheit von partikularen sozialen Akteuren, Institutionen oder Ideologien vorzustellen, die über ihre identitäre Partikularität und internen ideologischen Differenzen hinweg etwas Gemeinsames verbindet. Dies ist zum einen die Auffassung, Teil eines universalen Geltungsgrundes zu sein, dessen Bestimmung es ist, die gesellschaftliche Ordnung zu verkörpern bzw. verkörpern zu müssen; zum anderen vereint die einzelnen Akteure die ihnen allen gemeinsame Bedrohung durch ein außerhalb des eigenen Diskur23  Vgl. Lefort, S. 282–286. 24  Vgl. Hendrik Wallat, Politica perennis. Zur politischen Philosophie des Postmarxismus, in: Devi Dumbadze u. a. (Hg.), Kritik der politischen Philosophie, Eigentum – Gesellschaftsvertrag – Staat II, Münster 2010, S. 272–316, hier S. 276. 25  Vgl. Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, Wien 2013, S. 52 f.; Ders., Ideologie und Post-marxismus, S. 28 f.

ses konstituiertes Drittes, welches das antagonistische Andere verkörpert. Dieses Dritte gewährleiste laut Mouffe und Laclau nicht nur die einheitliche Identität des Bedeutungssystems, ohne die Partikularität der einzelnen Elemente und ihre Differenz untereinander dabei zu eliminieren; auch werde es notwendig in die Identität des Diskurses selbst eingeschrieben, der ohne das Andere nicht existieren würde.25 Der Konflikt, der sich für Laclau und Mouffe also im Sozialen abspielt und stets eine jeweilige Verwirklichung des rational nicht zu fassenden Antagonismus ist, ist einer zwischen verschiedenen Systemen von identitärer Objektivität, die um die Sinnstiftung von Gesellschaft ringen. Dieses »Zusammenfließen – oder vielmehr de[r] wechselseitig[e] Zusammenbruch – von Objektivität und Macht« ist das, was beide als Hegemonie begreifen.26

26  Vgl. Mouffe u. Laclau, S. 27; Laclau, Ideologie und Post-Marxismus, S. 28.

Konstitutiv für Laclau und Mouffes Antagonismus ist, dass plurale Diskurse existieren, die jeweils Negationen füreinander sind und im Sozialen Bastian Mokosch  —  Demokratisierung der Demokratie?

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darum ringen, sich als Objektives und universell Gültiges schlechthin zu etablieren. Dieser Konflikt zwischen Universalität beanspruchenden Bedeutungssystemen besteht zunächst unabhängig davon, ob der institutionelle Rahmen, in dem sie miteinander in Konflikt stehen, demokratisch verfasst ist. Allerdings gibt Laclau selbst einen Hinweis dafür, dass diese plurale und soziale Identität konstituierende Diskurskonstellation etwas spezifisches Modernes sein könnte. Denn dass verschiedene partikulare Diskurse um Universalität ringen können, setzt voraus, dass Universalität bereits weltlich geworden ist.27 Noch im vormodernen Ancien Régime, in welchem der Fürst als Repräsentant Gottes fungiert und die Einheit der Ordnung repräsentiert, ist Universalität etwas, das einzig Gott zukommt. Es existieren keine pluralen Universalitäten, die miteinander in Konflikt stehen könnten, da Gott als einziges universales Prinzip fungiert, das in allen irdischen Dingen als »Inkarnation« anwesend ist. In Bezug auf diese Universaltität Gottes sind alle Menschen gleich und stehen als irdische Partikularitäten dem transzendenten Universalen gegenüber. Erst in einer säkularen Gesellschaft, in der die Vernunft Gott als Universales ablöst, ist es möglich, dass Universalität prekär und damit Gegenstand von diskursiven Kämpfen wird. Erst »[i]m Fall einer säkularen Eschatologie, wenn die Quelle des Universellen nicht äußerlich ist, sondern vielmehr innerlich, kann sich das Universelle nur durch die Errichtung einer essentiellen Ungleichheit der objektiven Positionen sozialer Akteure manifestieren«28.

27  Siehe im Folgenden Laclau, Emanzipation und Differenz, S. 49–53. 28  Ebd., S. 51.

Das heißt, dass die säkulare Moderne die Bedingung des von Laclau und Mouffe konzipierten Antagonismus von Bedeutungssystemen ist, die im Sozialen um Hegemonie ringen. Wenn nun aber dieser Antagonismus als Wesen des Politischen bestimmt wird, heißt das entweder, dass dieses Politische nur in säkularen, modernen Gesellschaften existiert – dann wäre die Existenz des Politischen unweigerlich an die »demokratische Revolution« gekoppelt und sein Wesen fiele mit dem Wesen der Demokratie und ihrer Negation, dem Totalitarismus, zusammen. Oder aber es heißt, dass das konflikthafte Wesen der Demokratie den vordemokratischen, vorsäkularen Formen des Politischen schon ihre eigene Zukunft anzeigt: als Ordnungen, die dahin tendieren, dass das sie konstituierende jenseitige Universelle säkular, prekär und identitär werden wird. Diese beiden möglichen Konsequenzen, die wenig überzeugend sind, vor Augen, erscheint es für die Perspektive der Demokratisierung zeitgenössischer Demokratien vielversprechender, die oben von Hirsch – und anderen – eröffnete Problematisierung des pluralistischen Antagonismus als Strukturmoment moderner kapitalistischer Vergesellschaftung zu versuchen, anstatt diesen Antagonismus immer schon vorauszusetzen.

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Bastian Mokosch, geb. 1983, ist als Doktorand am Center for ­Political Practices and Orders der Universität Erfurt assoziiert und promoviert zur historischen und theoretischen Kontextualisierung postmarxistischer Theorien des Politischen.

STAATLICHKEIT UND DIE ­EINHEGUNG DES KRIEGES WARUM EUROPÄISCHE STAATEN IN EUROPA ANDERE KRIEGE FÜHRTEN ALS AUSSERHALB ΞΞ Dieter Langewiesche

Kriege wurden in Europa im 19. Jahrhundert seltener und die Kriegführung »zivilisierter«. Wo europäische Staaten als Kolonialmächte auftraten, war die Situation hingegen gänzlich anders. Koloniale Imperien ließen sich allein mit Kriegen erschaffen. In Europa setzten die Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts als Leitbild den gehegten Krieg durch, der duellartig zwischen staatlichen Armeen oder Flotten entschieden wurde; außerhalb Europas führten sie ungehegte Kriege, deren Zerstörungsgewalt sich stets auch gegen die Zivilbevölkerung richtete. Kurzum: Imperien waren Kriegsmächte. Warum war das so? Um diese Frage zu erörtern, wird zunächst der europäische Sonderweg des gehegten Krieges skizziert, um anschließend den Blick auf die kolonialen Räume zu richten.1 DER SONDERWEG DES KRIEGES IN EUROPA Die Französische Revolution und die napoleonische Ära markieren eine Zäsur in der Geschichte des Krieges in Europa. Die Zeit des Kabinettskrieges war vorbei – die Revolutionäre hatten den Krieg zur Aufgabe der gesamten Nation erklärt. »Im achtzehnten Jahrhundert […] war der Krieg noch eine bloße Angelegenheit des Kabinetts, an welchem das Volk nur als blindes Instrument teilnahm; im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts standen die beiderseitigen Völker in der Wageschale.« So hat es Carl von Clausewitz in seinem berühmten Werk »Vom Kriege« beschrieben. Diesen neuen Volks- oder Nationalkrieg habe der »Kriegsgott selbst«2 hervorgebracht, wie Clausewitz bewundernd Napoleon nannte. Er verwandelte die revolutionäre levée en masse, 1  Ausführlich dazu Dieter Langewiesche, Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, München 2019; darin wird die umfangreiche Fachliteratur genannt.

die den »Bürgersoldaten« zu den Waffen rief, in Zwangsaushebungen, mit denen Frankreich, seine Verbündeten und die Eroberten die riesigen Armeen Napoleons zu füllen hatten. Nichts machte die napoleonische Herrschaft in der europäischen Bevölkerung so verhasst wie diese Konskriptionen; doch waren sie zugleich ein Schritt in Richtung politischer Gleichheit durch eine

2  Carl von Clausewitz, Vom Kriege (1830–32), Frankfurt a. M. 1980, S. 648.

allgemeine Wehrpflicht für Männer. Die gesamte Bevölkerung im Kriegsfall zu mobilisieren – wehrtaugliche Männer als Soldaten, alle anderen und die

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Frauen als Helfer an der »Heimatfront« –, indes aber den Krieg als Kampf zwischen regulären Armeen in staatlicher Regie zu führen: Darauf zielte das neue Konzept des Volks- oder Nationalkrieges, wie es sich im 19. Jahrhundert durchsetzte. Ein preußischer Offizier hat es 1829 präzise formuliert: »Wir verstehen unter Volkskrieg einen Kampf, in dem die Energie und Kraft aller Bürger eines Staats sich mit entgegenkommender Bereitwilligkeit in der durch das Staats-Oberhaupt vorgezeichneten Richtung bewegt, und die Mehrzahl zwischen Selbstaufopferung oder Rettung des Vaterlandes nicht unschlüssig bleibt.«3 Die gesamte Nation soll sich im Krieg engagieren – Männer und Frauen –, aber jeder und jede an der Stelle, welche die staatliche Führung für richtig hält. Die Nation füllt die Armeen, rechtfertigt den Krieg moralisch, unterstützt und finanziert ihn, aber geführt und entschieden wird er vom Militär. Kombattanten und Zivilbevölkerung sollen strikt voneinander getrennt werden. Der Volkskrieg als Entscheidungskampf zwischen Nationen, ausgetragen von staatlichen Armeen und Flotten nach den Regeln des ius in bello, das Schlachtfeld als oberster Schiedsrichter – dieses Leitbild ist im 19. Jahrhundert in Europa entwickelt worden. Mit ihm suchte man aus den schrecklichen Erfahrungen der napoleonischen Kriegsära zu lernen, insbesondere aus dem Geschehen in Spanien, dessen Grausamkeiten Francisco de Goya in seinen Grafiken »Desastres de la Guerra« der Nachwelt überliefert hat. Gänzlich verwirklicht wurde dieses Leitbild des gehegten Krieges zwar auch in Europa nie; doch als Norm legte es fest, was als erlaubt galt und was nicht. Das blieb auch so, als mit dem Ersten und vor allem dem Zweiten Weltkrieg dieser europäische Sonderweg des gehegten Krieges auch in Europa endete. Im Völkerrecht überlebte jedoch dieses europäische Erbe und wurde weiterentwickelt. Außerhalb Europas haben sich die europäischen Staaten dagegen lange nicht daran gebunden gefühlt – dort führten sie andere Kriege. Doch zunächst soll dieser europäische Sonderweg genauer betrachtet, sollen seine Grenzen auch auf dem europäischen Kontinent skizziert werden. 1815 beendete der Wiener Kongress eine Kriegsära, in der die großen europäischen Staaten in und außerhalb von Europa mit- und gegeneinander um ihre Zukunftsposition gekämpft hatten. Annähernd eine Million Menschen waren in diesen Kriegen getötet worden, etwa die Hälfte von ihnen in Europa. Nun folgte ein Jahrhundert, in dem es gelang, den großen europäischen Krieg zu vermeiden. Alle neuen Nationalstaaten, die in Europa entstanden, gingen zwar aus Kriegen hervor – lediglich die Trennung Norwegens von Schweden gelang 1905 friedlich –, doch es blieben Regionalkriege. Dies gilt auch für den Krimkrieg, mit dem die europäischen Rivalitäten im Kampf

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3  Heinrich von Brandt, ­ andbuch für den ersten UnterH richt in der höheren Kriegskunst. Zum Gebrauch in Militair-Schulen und für den Selbstunterricht, Berlin 1829, S. 322.

um das osmanische Erbe einen ersten Höhepunkt erreichten. Ebenso gilt es für die italienischen und die deutschen Einigungskriege, obwohl diese das europäische Machtgefüge völlig veränderten und mit der Habsburgermonarchie, Frankreich und Preußen dabei europäische Großmächte militärisch aufeinanderstießen. Am stärksten war die Gefahr, dass die militärischen Kämpfe auf die Zivilbevölkerung übergriffen, im deutsch-französischen Krieg 1870/71.4 Er begann zunächst als ein Krieg zwischen regulären Armeen. Die Öffentlichkeit auf beiden Seiten verstand diesen Staatenkrieg zwar von Beginn an als Nationalkrieg, doch die militärischen und die politischen Führungen waren gewillt, ihn als Kampf zwischen staatlichen Armeen nach den Regeln des ius in bello zu führen. Deshalb suchten sie auch die schnelle Entscheidungsschlacht. Als sie schließlich bei Sedan gegen Frankreich entschieden wurde, kapitulierte zwar der französische Kaiser mit seiner Armee, nicht aber die französische Nation. Sie erklärte sich zur Republik und rief indes den Volkskrieg als g­ uerre à outrance aus. Dadurch wurde die Barriere zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung durchlässiger, während auf beiden Seiten die militärischen Führungen eine gänzliche Enthegung des Krieges zu vermeiden suchten. Dies gelang. Der Nationalkrieg blieb ein Staatenkrieg als Kampf der Streitkräfte, obwohl nun Zivilisten zu den Waffen griffen. Sie wurden als Franktireure in die reguläre Armee integriert, wenngleich der Übergang zum Guerillakrieg hier fließend blieb. Auch die Belagerungen und Beschießungen französischer Festungsstädte fügen sich in dieses Bild – hier wurde die Zivilbevölkerung unvermeidlich stets mitgetroffen. Dies hatten beiden Seiten zu verantworten, und sie billigten es auch. Staaten, die Städte zu Festungen ausbauten, wussten, was dies im Kriegsfall für die Stadtbevölkerung bedeuten würde. Als die »Vernichtungsschlacht« bei Sedan – Vernichtung im damaligen Verständnis des Militärs: die gegnerische Streitmacht kampfunfähig machen – keine Entscheidung erzwang, musste der Sieg im Kampf gegen Paris, den symbolischen Ort des republikanischen Willens zur Fortsetzung des 4  Breiter ausgeführt (mit der Fachliteratur) bei Dieter Lange­ wiesche u. Nikolaus Buschmann, »Dem Vertilgungskriege Grenzen setzen«: Kriegstypen des 19. Jahrhunderts und der deutsch-französische Krieg 1870/71. Gehegter Krieg – Volks- und Nationalkrieg – Revolutionskrieg – Dschihad, in: Dietrich Beyrau u. a. (Hg.), Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 163–195.

Krieges, erzwungen werden. Die französische Metropole wurde zur Geisel einer Kriegführung, die sich auf beiden Seiten anders entwickelte als erwartet. Die deutsche Strategie der schnellen Entscheidungsschlacht als Duell regulärer Armeen misslang, weil die französische Nation die verlorene große Schlacht nicht als Kriegsentscheidung akzeptierte; doch verhinderte der Wille der französischen Republik zum Volkskrieg, der vom Mythos der großen Revolution und ihrer Kriege lebte, die vielen deutschen Siege ohne Entscheidung nicht. Zur guerre à outrance um Paris kam es aber nicht. Die Beschießung durch die deutsche Artillerie richtete sich gegen die Forts um Dieter Langewiesche  —  Staatlichkeit und die ­Einhegung des Krieges

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Paris; entsprechend gering war die Zahl der Toten und Verwundeten. Doch auch die französische Führung wollte keinen Kampf um Paris bis zum Äußersten. Sie beendete ihn, als die Forts dem Beschuss der Artillerie nicht standgehalten hatten. Auch sie wollte ungeachtet aller Aufrufe zum Volkskrieg die Enthegung des Krieges nicht. Diese vollzog sich erst im innerfranzösischen Bürgerkrieg, der sich anschloss. Er verlief in anderen Bahnen als der Staatenkrieg. Auf beiden Seiten wurde der politische Gegner zum sozialen Feind verteufelt, der mit dem äußeren paktiere, grausam kämpfe und kein Mitleid verdiene. Etwa 20.000 Menschen waren an den Kämpfen beteiligt – ca. vierhundert Offiziere und Soldaten wurden getötet, über tausend ernsthaft verwundet. Die Verluste unter der Zivilbevölkerung werden auf 10.000 bis 30.000 Tote geschätzt. Die meisten von ihnen wurden erst nach den Kämpfen erschossen, als die Armeeführung nichts unternahm, um die Massaker an den Kommunarden und Zivilisten zu stoppen. Neben Soldaten waren vor allem Polizisten und Nationalgardisten daran beteiligt. Auch im Staatenkrieg wurden vereinzelt keine Gefangenen gemacht. Das blieben jedoch Ausnahmen. Ihnen stehen die Ehrenbezeugungen gegenüber, mit denen der Sieger den Gegner und sich selbst würdigte. Im Bürgerkrieg hingegen sprachen die Sieger den Besiegten die Ehre ab. Wer von ihnen die Massaker überlebt hatte, wurde nach einem Schnellverfahren vor Militär­ gerichten in der Stadt erschossen oder später in die Strafkolonien von Neukaledonien und nach Afrika verbannt. Zu dieser Art von enthegtem Krieg, der aus dem militärischen Bereich ausbricht, kam es damals auch in Algerien, wo ein Unabhängigkeitskrieg französischer Kolonisten einen antikolonialen Krieg auslöste, den algerische Stämme zum Jihad ausriefen. Etwa 100.000 Mujahidin folgtem diesem Aufruf. Insgesamt waren über 800.000 Menschen am Aufstand beteiligt, die Kämpfe dauerten sieben Monate. Zwischen Kombattanten und Zivilisten unterschied keine Seite. Dies tat die französische Republik, die Truppen nach Algerien entsandte, auch nach ihrem Sieg nicht. Sie belastete die autochthone Bevölkerung mit enormen Kontributionen an Geld und Land. Von der Landkonfiskation profitierten auch die ca. 125.000 Emigranten, die 1871 vor der deutschen Annexion von Elsass und Lothringen nach Algerien auswichen. Dass damals der europäische mit dem nordafrikanischen Kriegsraum verbunden war, ist in der Geschichtsschreibung, die sich mit dem deutsch-französischen Krieg beschäftigt, weitgehend ausgeblendet worden. In Algerien führten alle Seiten jenen enthegten Krieg, den die Kriegsparteien in Europa zu vermeiden suchten. Doch auch auf dem europäischen Kontinent kam es

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im 19. Jahrhundert zu solchen Kriegen, die zwischen Kombattanten und Zivilisten nicht unterschieden. Aus ihnen gingen sämtliche Staaten der südosteuropäischen Gebiete des Osmanischen Reichs hervor. Der Erste Weltkrieg markierte zwar einen vorläufigen Schlusspunkt, doch setzte sich die gewaltsame Auflösung dieses multinationalen Raumes letztlich mit der Zerstörung Jugoslawiens bis in unsere Gegenwart fort.5 Mit welcher moralischen Selbstgewissheit europäische Politiker im 19. Jahrhundert auf den osmanischen Balkan herabsahen, bezeugt William Ewart Gladstones Schrift »The Turco-Servian War. Bulgarian Horrors and the Question of the East« (New York 1876), die seinerzeit schnell zum Bestseller wurde. Gladstone rief in biblischer Sprache Gottes Beistand auf im Kampf des »United Europe« gegen die osmanische Regierung, welche die göttliche Legitimation staatlicher Macht missachte: »for the punishment of the evil-doers, and for the encouragement of them that do well.«6 Der Krieg auf dem Balkan – den Gladstone als barbarisch verdammte, da 5  Mit der Fachliteratur dazu Marie-Janine Calic, Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region, München 2016; Langewiesche, Kap. IV.

er die Zivilbevölkerung nicht verschonte und deshalb gegen die Kriegsregeln verstieß, denen sich die europäischen Staaten in Europa verpflichtet wussten – glich jedoch jenen Kriegen, welche die Europäer außerhalb Europas selber führten. In Räumen schwacher Staatlichkeit fehlten auch in Europa

6  William Ewart Gladstone, The Turoco-Servian War. Bulgarian Horrors and the Question of the East, New York 1876, S. 37, u. S. 39. Übersetzung des Zitats durch die Redaktion: »für die Bestrafung der Übeltäter und für die Ermutigung derer, die Gutes tun.«

die Voraussetzungen für den gehegten Krieg. Deshalb folgten die Kriege, mit denen in der »europäischen Türkei« Staaten und Nationen geschaffen wurden, nicht den Regeln der Kriegführung, die im westlichen Europa in der Ära des europäischen Sonderwegs des Krieges weitgehend beachtet worden sind. Diese Ära überdauerte ein Jahrhundert, vom Wiener Kongress bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Warum die europäischen Kolonialmächte außerhalb

7  Siehe Charles Edward Callwell, Small Wars. Their Principles and Practice, 3. Aufl. 1906, Neudruck London 1996 (1. Aufl. 1899). Im Vorwort zum Nachdruck von 1996 nennt Douglas Porch Callwell »the Clausewitz of the colonial warfare«.

Europas andere Kriege führten, soll nun erörtert werden.

8  C. Braithwaite Wallis, West African Warfare, London 1905, S. 2. Übersetzung des Zitats durch die Redaktion: »Tatsächlich ist Großbritannien nie in Frieden, und ein Teil unserer Armee – die einzigartigste und elastischste Armee der Welt – ist immer irgendwo und kämpft darum, unsere Flagge und die Vorherrschaft unseres Imperiums zu verteidigen.«

in dem sie nicht irgendwo in der kolonialen Welt Krieg führte. »In fact, Great

KOLONIALKRIEG – DER ANDERE KRIEG Es ist kein Zufall, dass mit Charles Edward Callwell ein britischer Offizier zum »Clausewitz des Kolonialkrieges« avancierte.7 Schließlich war Großbritannien die führende Imperialmacht. Im 19. Jahrhundert gab es kaum ein Jahr, Britain is never at peace, and some portion of our army – the most unique and elastic army in the world – is ever somewhere struggling to uphold our flag and the supremacy of our empire«8, so ein erfahrener britischer Kolonialoffizier 1905 in seinem Buch über den Krieg in Westafrika. Doch was unterschied den Kolonialkrieg vom gehegten Krieg, dem sich die europäischen Staaten im 19. Jahrhundert in Europa verpflichtet fühlten? Callwells einfache, doch präzise Antwort aus militärischer Sicht: »the battle-field Dieter Langewiesche  —  Staatlichkeit und die ­Einhegung des Krieges

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is the supreme arbiter« in Europa, im kolonialen »small war« gebe es dieses Schlachtfeld als Entscheidungsort dagegen nur höchst selten.9 Der Gegner sei meist eine fluide Größe ohne Entscheidungszentrum; man wisse nie, wann eine Gruppe, die man besiegt wähnte, erneut zu den Waffen greife und andere Gruppen ebenfalls in den Kampf einträten. Deshalb gehe es im Kolonialkrieg weniger um die Schlacht als vielmehr um eine Zerstörung der Lebensgrundlagen, aus denen der Gegner immer wieder seine Kraft zum erneuten Kampf schöpfe. Wer sich im Kolonialkrieg behaupten wolle, müsse das »System der strafenden Überraschungsangriffe« beherrschen: Man dringe in den feindlichen Ort ein und »cuts down all who resist, carries off women, children, flocks and herds, and seizes any other booty that can removed, burning the remainder«10. Kurz: Callwells Lehrbuch des Kolonialkrieges, worin er die Kriegserfahrungen aller Kolonialmächte um 1900 auswertete, empfahl eine Kriegführung, die systematisch nicht zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung trennte. Der Widerstandswille und die Widerstandsfähigkeit von Gesellschaften müssten gebrochen werden, nicht die Kampfkraft von Armeen. Kämpfen wie der Gegner, »to play the enemy’s own game«11, lautete die Kriegsregel, die Kolonialoffiziere weitergaben und nach der Kolonialtruppen ausgebildet wurden. Für den gehegten Krieg, dem zur gleichen Zeit europäische Staaten in Europa als Leitbild folgten, fehlten in den kolonialen Räumen meist die Voraussetzungen. Doch auch dort, wo sich der Gegner zur Entscheidungsschlacht stellte, fühlten sich europäische Armeen nicht an die Kriegsregeln gebunden, die sie in Europa befolgten. Als sich im September 1898 das große, erfolgsgewohnte Heer der Mahdisten bei Omdurman, nahe Khartum im Sudan, der britisch-ägyptischen Armee unter dem Kommando von Horatio Herbert Kitchener zur Entscheidungsschlacht stellte, wurde diese aufgrund der Tötungsleistung der neuesten Waffen, über welche die Briten verfügten, zu einem Massaker. Winston S. Churchill sprach in seinem Schlachtbericht zwar vom größten Triumph, der jemals »by arms of science over barbarians« errungen worden sei, doch in einem privaten Brief sah er den britischen Sieg geschändet durch das inhumane Abschlachten der Verwundeten, das Kitchener befohlen hatte. Das Gerücht, er habe sich aus dem Schädel des Mahdi einen Trinkbecher machen lassen, drang bis zur britischen Königin.12 Gleichwohl stieg er zum Militärgouverneur im Sudan und zum britischen Kriegshelden auf. Die Offiziere europäischer Armeen hatten den »savage war« – den unzivilisierten, barbarischen Krieg, wie sie den Kolonialkrieg zu nennen pflegten – nicht »erfunden«. Es war der übliche Krieg in den außereuropäischen Räumen, die sie erobern sollten.13 Sie perfektionierten ihn dank ihrer überlegenen

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9 

Callwell, S. 127.

10  Ebd., S. 213. Übersetzung des Zitats durch die Redaktion: »alle, die sich wehren, niederreißen Frauen, Kinder, Herden und Herden wegführen und jede andere Beute beschlagnahmen, die entfernt werden kann, und den Rest verbrennen.« 11 

Wallis, S. 5 f.

12  Siehe Winston S. Churchill, The River War. An Account of the Reconquest of the Sudan, London 1902, S. 111; vgl. Langewiesche, S. 370. 13  Vorzüglich dazu Richard J. Reid, Warfare in African History, Cambridge 2012; Dierk Walter, Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion. Gestalt und Logik des Imperialkrieges, Hamburg 2014.

Kampfkraft, ihrer Organisation und Logistik. Erst als im Laufe des 20. Jahrhunderts diese Überlegenheit schwand, endete das Zeitalter kolonialer Imperien. DIE LANGE VORGESCHICHTE DER NEUEN KRIEGE Diese Art von Krieg, die sich gegen die gesamte Gesellschaft richtet, um deren Widerstandskraft zu vernichten, ist bis heute charakteristisch für Räume mit schwacher Staatlichkeit. Nicht-staatliche Armeen treten gegeneinander an und suchen die militärische Entscheidung, die mit politischen Mitteln nicht gelungen ist. Es sind Kriege anderer Art: Ihr Hauptmerkmal ist der offene Übergang zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung. Wenn der Gegner aus der Gesellschaft heraus kämpft und sich dann in sie zurückzieht, wird die Gesellschaft zum Kampfobjekt. Die Europäer taten sich schwer, diese Kolonialkriege als das zu benennen, was sie waren: Kriege. Sie sprachen von Aufständen, gegen die sie »Strafexpeditionen« durchführten. Sprache wurde hier zur Waffe. Die Kolonialherren erklärten das Territorium, das sie beanspruchten, zu ihrem staatlichen Besitz. Wer sich gegen diese Eroberung wehrte, führte keinen legitimen Abwehrkrieg, sondern galt als Aufständischer. Heute spricht man von den »neuen Kriegen«14. Doch es sind die alten Kriege. Tribale Kriege wurden so geführt, und aus der europäischen Geschichte kennt man sie ebenfalls.15 Neu erscheinen sie nur, wenn man von der historisch späten Erfahrung des europäischen Staatenkrieges ausgeht, und insbesondere vom 19. Jahrhundert, als sich der Sonderweg des gehegten Krieges durchgesetzt hatte – in Europa. Außerhalb Europas haben die europäischen Kolonialherren stets andere Kriege geführt. Im 20. Jahrhundert kehrte der enthegte Krieg nach Europa zurück. Staatliche Armeen führten ihn, doch er richtete sich gegen die gesamte Gesellschaft, um deren Kampfbereitschaft zu brechen. Blicken wir abschließend nochmals auf den Kolonialkrieg. Man macht es sich zu einfach, wenn man die Bereitschaft europäischer Kolonialmächte 14  Siehe Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2004. 15  Vgl. Jürgen Helbling, Tribale Kriege. Konflikte in Gesellschaften ohne Zentralgewalt, Frankfurt a.M 2006; Lawrence H. Keeley, War before civilization. The myth of the peaceful savage, Oxford 1996; Beyrau u. a.

zum enthegten Krieg allein oder vorrangig im Rassismus begründet sieht. Der gehegte Krieg ist an Voraussetzungen gebunden, die in den kolonialen Räumen meist nicht gegeben waren. Doch rassistisches Überlegenheitsdenken war zweifellos bedeutsam: Unzivilisierter Krieg in unzivilisierten Gesellschaften – mit dieser Vorstellung legitimierte man eine Kriegführung, die man im eigenen Kulturkreis als unerlaubt verwarf. Das taten Militärexperten wie Callwell und ebenso bedeutende liberale und demokratische Denker wie John Stuart Mill oder Alexis de Tocqueville. Dieter Langewiesche  —  Staatlichkeit und die ­Einhegung des Krieges

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Mill beschloss sein Werk über die Repräsentativ-Regierung mit einem Kapitel zur Kolonialpolitik. Er war überzeugt vom »Ideal der Herrschaft eines freien Volkes über ein barbarisches oder halbbarbarisches«. Es sollte eine Herrschaft auf Zeit sein – allerdings eine unbestimmt lange Zeit. Aus dem Völkerrecht leitete Mill eine koloniale Zivilisierungsmission ab, für die militärische Intervention nicht nur erlaubt, sondern auch notwendig sei.16 Er hatte eine globale pax britannica vor Augen, die den Staatenkrieg möglichst vermeiden, während der Kolonialkriege aber zur Normalität gehören würden. Auch Alexis de Tocqueville konnte seine Demokratietheorie mit kolonialer Eroberungspolitik gegen »halbbarbarische Völker« zusammendenken. In seinen »Gedanken über Algerien« von 1841 forderte er eine Kolonialisierung Algeriens, die Siedlungsraum für Franzosen schaffen würde. In dem dazu notwendigen Unterwerfungskrieg würden »mörderisch Unternehmungen […] mitunter unentbehrlich« sein. Das »Land zu verwüsten«, sei dort kriegsrechtlich erlaubt. Ihm graute aber davor, dass diese Kriegspolitik eines Tages von Algerien ins Mutterland übergreifen könnte: »Gott bewahre uns davor, jemals erleben zu müssen, dass Frankreich von einem Offizier der Afrika-Armee gelenkt wird!«17 Alexis de Tocqueville sprach hier eine Frage an, die Hannah Arendt in ihrer Analyse von Imperialismus und Kolonialismus ebenfalls thematisiert hat und die bis heute die Forschung bewegt: die Rückkehr kolonialer Herrschaftspraxis von Europäern nach Europa.18 Doch der ungehegte Krieg war kein koloniales Geschöpf. Er ist ein globales Phänomen und reicht zeitlich weit zurück. Alle europäischen Kolonialmächte haben ihn außerhalb Europas noch gerechtfertigt, als sie ihn in Europa als völkerrechtswidrig verurteilten. Seit dem Ersten Weltkrieg führten

16  Vgl. John Stuart Mill: Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung, Leipzig 1873 (engl. Original 1861), S. 247.

17  Alexis de Tocqueville Gedanken über Algerien, in: Ders., Kleine politische Schriften, hg. v. Harald Bluhm, Berlin 2006, S. 109–162, S. 120 f. u. S. 127.

sie ihn auch in Europa. Der kurze europäische Sonderweg des Krieges war vorbei. In den Völkerrechtsnormen, die in dieser Zeit formuliert und vereinbart wurden, hat er überlebt.

Prof. Dr. Dr. h. c. Dieter Langewiesche, geb. 1943, war von 1978 bis 1985 Professor für Sozialgeschichte an der Universität Hamburg, von 1985 bis 2008 Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte der Universität Tübingen und von 1997 bis 2001 Mitglied des Rektorats beim Aufbau der Universität Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte von Liberalismus und Bürgertum sowie von Nation und Krieg in der Moderne.

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18  Siehe Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1962.

1  Vgl. Jeremy Black, Britain as a Military Power. 1688–1815, in: The Journal of Military History, Jg. 64 (2000), S. 159–177; Reed Browning, New Views on the Silesian Wars, in: The Journal of Military History, Jg. 69 (2005), S. 521–534; Walter Mediger u. Thomas Klingebiel, Ferdinand von Braunschweig und die ­alliierte Armee im Siebenjährigen Krieg, Hannover 2011, S. 33–44. 2  Den Militärhistorikern, die sich der amerikanischen Revolutionszeit widmen, ist oft nicht bekannt, was die von ihnen behandelten britischen und deutschen Kommandeure in Europa getan und gelernt haben; vgl. Matthew H. Spring, With Zeal and With Bayonets Only. The British Army on Campaign in North America 1775–1783, Norman 2008, S. 142–144; Brent Nosworthy, The Anatomy of Victory. Battle Tactics 1689–1763, New York 1990, S. 190 f.

DER SIEBENJÄHRIGE KRIEG ALS ZÄSUR ÜBER MILITÄRISCHEN, POLITISCHEN UND ­GESELLSCHAFTLICHEN WANDEL IM ERSTEN ­GLOBALEN KONFLIKT ΞΞ Thomas Klingebiel

Der Siebenjährige Krieg (1756–63) gehört zu den älteren historischen Forschungsfeldern, die nicht leicht zu überblicken sind: Der Umstand, dass der Konflikt in vier Weltteilen sowie unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen ausgetragen wurde, hat eine Regionalisierung und Nationalisierung der Forschung begünstigt. Während die Forschung in den europäischen Ländern aufs Ganze gesehen stagniert,1 hat die amerikanische Historiografie auch auf diesem Feld die Führungsrolle übernommen. Sie betrachtet den French and Indian War, wie der Konflikt in Nordamerika traditionell genannt wird, allerdings vornehmlich im Kontext der nationalen Geschichte – als Prolog des amerikanischen Revolutionskriegs.2

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Die Regionalisierung und Spezialisierung der Forschung steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu der an den Buchtiteln der jüngsten Zeit abzulesenden Entwicklung, den Siebenjährigen Krieg als globalen Konflikt oder gar als ersten Weltkrieg zu charakterisieren: Denn der damit suggerierte Eindruck, es handele sich bei dem Siebenjährigen Krieg um eine historische Zäsur, wird konzeptionell nur ansatzweise eingelöst. Stattdessen erweist sich selbst bei den vergleichend angelegten Synthesen, die nur teilweise oder gar nicht auf eigenem Aktenstudium beruhen, immer wieder die Wirkungsmacht der alten Narrative.3 Besonders hartnäckig hält sich ein Ansatz, der geradezu verbietet, den Siebenjährigen Krieg als Einheit zu betrachten: Man behauptet, dass der Krieg der europäischen Kontinentalmächte mit dem imperialen Überseekrieg zwischen Frankreich und Großbritannien wenig oder nichts zu tun gehabt habe.4 Das vereinfacht zwar die Darstellung, verhindert aber neue Einsichten und ist obendrein falsch: Die politische und militärische Kooperation zwischen Berlin und London war bis zum Rücktritt des Premierministers William Pitts im Herbst 1761 eng genug, um gemeinsame strategische Konzepte zu verabreden und umzusetzen.

3  Vgl. Daniel Baugh, The Glo­ bal Seven Years War 1754–1763. Britain and France in a Great Power Contest, Harlow 2011; Tim Pocock, Battle for Empire. The Very First World War, London 1998; William Nester, The First Global War, Westport 2000; Mark H. Danley u. Patrick J. Speelman (Hg.), The Seven Years’ War. Global Views, Leiden 2013 (hier Einl. Danleys); Vielfach überholt sind die Darstellungen des Siebenjährigen Kriegs bei Frank W. Brecher, Losing a Continent. France’s North America Policy 1753–1763, Westport 1998; Christopher M. Clark, Iron Kingdom: The Rise and Downfall of Prussia. 1600–1947, London 2006; Tim Blanning, Friedrich der Große – König von Preußen, München 2019 (engl. Originalausgabe 2016).

Die mit britischen Mitteln unterhaltene alliierte Armee Herzog Ferdinands von Braunschweig (1721–92), die den Kampf gegen Frankreich auf dem Kontinent zu führen hatte, bildete das strategische Instrument, das den europäischen mit dem Überseekrieg verband. In der alliierten Armee wurden die britischen Siege in Übersee ebenso mit einem Freudenfeuer zelebriert wie die Erfolge Friedrichs des Großen. Französische und britische Offiziere, die in Nordamerika eingesetzt waren, dienten anschließend oft auf dem europäischen Kriegsschauplatz; und die jüngeren Offiziere der alliierten und französischen Armeen trafen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg erneut aufeinander. Wer die Funktionsweise und Leistungsfähigkeit des britisch-preußischen Bündnisses verstehen will, muss sich folglich mit der alliierten Armee beschäftigen, deren Oberbefehlshaber auch eine bedeutende politische Rolle spielte.5 Die europäischen Militärhistoriker im engeren Sinne haben in jüngster Zeit freilich noch weniger Interesse am Siebenjährigen Krieg gezeigt als die Allgemeinhistoriker. So wird diesem Konflikt im Rahmen der Military Revolution – einem Narrativ, das von Michael Roberts für die frühmoderne Epoche Europas entwickelt und von Geoffrey Parker entfaltet und erweitert worden ist6 – lediglich die Funktion eines Epilogs zugewiesen.7 In diesem Konzept wird die Französische Revolution (1793) auch in militärgeschichtlicher Hinsicht als wichtige Zäsur begriffen.8 Diese Bewertung geht auf den einflussreichen Schweizer Kriegsschriftsteller Antoine-Henri Jomini (1779–1869)

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4  Vgl. Dieter Langewiesche, Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, München 2019, hier S. 36–48; Franz Szabo, The Seven Years War in Europe. 1756–1763, Harlow 2008, hier S. 16 f. 5  Zuletzt hierzu Mediger u. Klingebiel. 6  Siehe Michael Roberts, The Military Revolution. 1560–1660, Belfast 1956; Geoffrey Parker, The Military Revolution: Military Innovation and the Rise of the West. 1500–1800, Cambridge 1996. 7  Kritisch dazu Jeremy Black, A Military Revolution? Military Change and European Society 1550–1800, Basingstoke 1991; John Stone, Technology, Society, and the Infantry. Revolution of the Fourteenth Century, in: The Journal of Military History, Jg. 68 (2004), S. 361–380. 8  Vgl. Geoffrey Parker (Hg.), The Cambridge History of Warfare, Cambridge 2005, S. 167–188.

9  Vgl. zu Jomini zuletzt vor allem Jean-Jacques Langendorf, Krieg führen: Antoine-Henri Jomini, Zürich 2008, hier S. 268.

und auf Carl von Clausewitz (1780–1831) zurück, die ihre theoretischen Befunde aus der Analyse der Revolutionskriege entwickelten.9 In jüngster Zeit scheint eine Sichtweise der frühneuzeitlichen Militärgeschichte vermehrt Zustimmung zu finden, die im Unterschied zur Military Revolution die Evolu-

10  Eine Zwischenbilanz bieten: Clifford J. Rogers (Hg.), The Military Revolution Debate. Readings on the Military Transformation of Early Modern Europe, Boulder 1995; Frank Jacob u. Gilmar Visoni-Alonzo, The Military Revolution in Early Modern Europe. A Revision, London 2016; John A. Lynn, Clio in Arms. The Role of the Military Variable in Shaping History. in: Journal of Military History, Jg. 55 (1991), S. 83–95. 11  So wird Broglie die Einführung von Divisionen (Verbände aus verschiedenen Waffengattungen) zugeschrieben; vgl. Hew Strachan, European Armies and the Conduct of War, London 1988, S. 34 f.; Azar Gat, A History of Military Thought. From the Enlightenment to the Cold War, Oxford 2002, S. 46. 12  Konzeptionelle Überlegungen zu einer modernen Operationsgeschichte bietet Jörg Echternkamp, Wandel durch Annäherung oder: Wird die Militärgeschichte das Opfer ihres Erfolgs? Zur wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit der deutschen Militärgeschichte seit 1945, in: Ders. u. a. (Hg.), Perspektiven der Militärgeschichte, München 2010, S. 1–38, hier S. 23. 13 

Frederic le Grand, Oeuvres, hg. von Johann D. E. Preuß, Berlin 1846–1856, hier Bd. XIX, S. 63 f., Friedrich an Marquis d’Argens, Breslau, 1758 März 1. 14 

Vgl. John A. Lynn, Battle. A History of Combat and Culture, Boulder 2003, S. 143.

15  Vgl. Oeuvres, Bd. XIX, S. 53 f., Friedrich an Marquis d’Argens, Dürgoy (bei Breslau), 1757 Dezember 19.

tion und Kontingenz der Vorgänge betont.10 Man darf hoffen, dass dadurch auch ein erneuertes Interesse am Siebenjährigen Krieg entsteht. Die Urteile, die man in der militärgeschichtlichen Literatur über die Kriegführung König Friedrichs, Ferdinands, Dauns oder Broglies finden kann, sind oberflächlich und nicht selten falsch.11 Es wäre wohl nötig, eine moderne, vergleichende Operationsgeschichte in Angriff zu nehmen, um die individuellen Beiträge der großen Feldherren zur Fortentwicklung der aufgeklärten Kriegstheorie erfassen zu können.12 VOM KABINETTSKRIEG ZUM VOLKSKRIEG? Wer den Ort eines militärischen Konflikts von den Dimensionen des Siebenjährigen Kriegs bestimmen will, muss das Mittel des Vergleichs nutzen und prüfen, auf welchen Feldern Veränderungen eingetreten oder beschleunigt worden sind. Im engen Rahmen dieser Betrachtung kann das allerdings nur im Hinblick auf den europäischen Kriegsschauplatz und in kurzen Strichen unternommen werden. An erster Stelle ist die Kriegführung selbst in den Blick zu nehmen. Friedrich II., der als sein eigener Feldherr fungierte, hatte dem Marquis d’Argens (1704–71) bereits Anfang 1758 geschrieben: Dieser Krieg sei schrecklich; er werde von Tag zu Tag barbarischer und inhumaner.13 Der König wollte damit sagen, dass die in Europa übliche Form des Kabinettskriegs zerbrochen war. Zum Kabinettskrieg gehörte, dass man die militärischen Auseinandersetzungen auf die Sommermonate begrenzte und nach Möglichkeit durch eine Entscheidungsschlacht beendete. Dieser Duellcharakter des Kriegs,14 der erlaubte, die Zivilbevölkerung und die Ressourcen zu schonen, ließ sich nach den ersten Feldzügen des Siebenjährigen Kriegs nicht mehr bewahren. Friedrichs erste große Niederlage bei Kolin (18. Juni 1757), die er durch seine im November/Dezember 1757 erfochtenen Siege bei Rossbach und Leuthen auffangen, aber nicht ausgleichen konnte,15 markierte die Wende zu einer anderen Art des Kriegs, die er begrifflich noch nicht zu fassen vermochte. Bei Kolin war der Angriff der preußischen Truppen von den Österreichern mit taktischen Mitteln zurückgeschlagen worden, die Marschall Daun (1705–66) aus der Fortifikationslehre entwickelt hatte: Er hatte sich auf eine starke Artillerie und eine tiefe Aufstellung seiner Kräfte gestützt. Die Preußen hatten beim Angriff auf die österreichische Stellung hohe Verluste erlitten. Thomas Klingebiel  —  Der Siebenjährige Krieg als Zäsur

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Friedrich gelang zwar bei Rossbach und Leuthen noch einmal, seine auf der Konzentration und raschen Entfaltung der Kräfte beruhende Angriffstaktik durchzusetzen; doch musste er nun selbst zusehends mehr zu Mitteln des Stellungskriegs greifen, um sich gegen die der Zahl nach deutlich überlegenen österreichischen, russischen und schwedischen Streitkräfte zu behaupten. Diese Umstellung auf die strategische Defensive brauchte Zeit, denn die preußischen Truppen waren dazu ausgebildet worden, sich in einer offenen Feldschlacht durchzusetzen. Während der Stellungskrieg eine Verstärkung der Artillerie erforderte, erzwang der ihn ergänzende kleine Krieg, der gegen die Nachschublinien des Feindes geführt wurde, eine Vermehrung der leichten Truppen (Husaren, Jäger, Freibataillone). Der Krieg wurde nun mit wechselnder Intensität das ganze Jahr über geführt. Friedrichs Diktum, dem zufolge ein Winterfeldzug eine Armee ruinieren könne, wurde von der Necessitas außer Kraft gesetzt.16 Auf dem westlichen Kriegstheater, auf dem die alliierte Armee mit den Franzosen rang, war die Entwicklung – was Intensität und Permanenz der Kriegführung anging – ähnlich. Hier suchte man aber, unter Verweis auf Diskurse der Aufklärung, die Regeln einer »zivilisierten« Kriegführung einzuhalten: Im Frühjahr 1758 hatten die beiden Armeechefs eine Konvention über den Gefangenenaustausch genehmigt, die eine Rückführung gefangener Soldaten binnen 14 Tagen erzwang. Die Versorgung der Verwundeten wurde ebenfalls im Sinne der Reziprozität gesichert. Die Verluste der alliierten und der französischen Armee hielten sich bei den großen Schlachten (Krefeld, Minden, Vellinghausen, Wilhelmsthal) mit 10–15 Prozent im Vergleich zum östlichen Kriegstheater in Grenzen. In den kleineren Gefechten mit hoher Intensität war das freilich anders. Im Unterschied zur preußischen Armee mussten die Kader der alliierten Armee aber nie vollständig ersetzt werden; ihre Regimenter wurden lediglich ergänzt.17 Was die Kriegführung selbst anging, so befand sich Herzog Ferdinand mit seiner aus Briten, Hannoveranern, Hessen, Braunschweigern und weni-

16  Vgl. Oeuvres, Bd. XXVIII, S. 104 (Principes généraux), S. 139 (Pensées et règles géné­ rales pour la guerre); Martin Rink, Der Kleine Krieg: Entwicklungen und Trends asymmetrischer Gewalt (1740–1815). in: Militärgeschichtliche Zeitschrift, Jg. 65 (2006), S. 359–388, hier insbes. S. 367–377. 17  Vgl. Mediger u. Klingebiel, S. 903 f.

gen Preußen bestehenden Armee, die seit 1760 knapp 100.000 Mann zählte, der fast doppelt so großen französischen Streitmacht gegenüber meist in der strategischen Defensive. Allerdings verfügte er in ganz Nordwestdeutschland über Festungen, Magazine und belastbare Nachschubwege, insbesondere auf den Flüssen Elbe, Weser und Ems.18 Die Franzosen hatten ihre Basen am Main und Niederrhein; um ihre operative Mobilität zu erhalten, mussten sie ihre Lebensmittel und den Kriegsbedarf der Feldarmee meist über Land anfahren.19 Der alliierte Feldherr kombinierte Elemente des Bewegungs- und Stellungskriegs, um die französische Superiorität zu schwächen und durch

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18  Vgl. Roger Morriss, The Foundations of British Maritime Ascendancy. Ressources, Logistics and the State 1755–1815, Cambridge 2011, S. 355–357 u. S. 358–363. 19  Vgl. John A. Lynn (Hg.), Feeding Mars. Logistics in Western Warfare from Middle Ages to Present, Boulder 1993, hier S. 9–27.

sorgfältig vorbereitete Operationen zu brechen. Gerhard David Scharnhorst (1755–1813), der die westlichen Schlachtfelder des Siebenjährigen Kriegs als junger Offizier besucht und vermessen hatte,20 notierte zum Feldzug Ferdinands von 1761: »Dieser Feldherr führte den Krieg nicht nach der alten Methode, sondern nutzte alle Hülfsmittel, welche ihn Nachdenken und Erfahrung lehrten, auf kluge Weise.«21 Um den Krieg nach seinen Vorstellungen führen zu können, baute Ferdinand seine Armee sukzessive um: Die Artillerie wurde stark vermehrt – ein Prozess, den man zur Modernisierung und Vereinheitlichung des Geschützparks nutzte. Das Gros der neuen Geschütze kam aus England, wo man schon lange auf die Herstellung leichter Bronzekanonen setzte, die mobiler waren und zugleich weniger Zugtiere benötigten als die eisernen Stücke. Aus den britischen Gießereien erhielt die alliierte Armee nun vor allem die 20  Vgl. Gerhard H. D. Scharnhorst, Private und dienstliche Schriften, Köln 2002–2007, hier Bd. 2, hg. von Johannes Kunisch und Michael Sikora, Köln 2003, S. 96–112 (Juli 1797), 709 (Winter 1798/99); ebd., Bd. 4, Köln 2007, S. 56 (zum Potsdamer Kriegsarchiv). 21  Scharnhorst, Private und dienstliche Schriften, Bd. 2, S. 774; vgl. Gerhard von Scharnhorst, Militärisches Taschenbuch, Hannover 1793. 22  Vgl. Christian H. Ph. von Westphalen, Geschichte der Feldzüge Herzogs Ferdinands von Braunschweig, Berlin 1859–1873, hier Bd. I, S. 103; Carl von Decker, Die Schlachten und Hauptgefechte des Siebenjährigen Krieges, Berlin 1837, hier S. 17. 23  Vgl. John Muller, A Treatise of Artillery, London 1768, S. 148 f. u. S. 203; Johann Gottfried von Hoyer, Geschichte der Kriegskunst seit der ersten Anwendung des Schießpulvers zum Kriegsgebrauch bis an das Ende des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1797/1800, Bd. 2, S. 459 f., S. 488 u. S. 490; vgl. Ken Alder, Engineering the Revolution: Arms and Enlightenment in France 1763–1815, Princeton 1997, S. 95 f.

mittelschweren und leichten Sechs- und Zwölfpfünder, die den Kernbestand des Artillerieparks bildeten und einheitlich munitioniert werden konnten.22 Die Leistungsfähigkeit der Kanoniere wurde zudem durch neue Visiere und Richtschrauben erhöht, die man aus Holland bezog. In den Wintermonaten wurden auf den westfälischen Übungsplätzen technologische Neuerungen erprobt, um die Reichweite und Zielgenauigkeit der Kanonen sowie die Durchschlagskraft der Geschosse zu verbessern.23 Die alliierte Artillerie wurde in Brigaden formiert, die sich während der Schlacht ihre Stellungen in ihrem Abschnitt je nach Gefechtsentwicklung selbstständig suchten. Die britische Artillerie bewegte sich auf dem Marsch so rasch, dass sie von manchen Historikern als berittene Artillerie klassifiziert worden ist. Auch die Franzosen suchten ihre Artillerie zu modernisieren, erreichten während des Siebenjährigen Kriegs aber nicht den Standard der alliierten oder der österreichischen Armee. In der Summe darf man festhalten, dass die technische und taktische Entwicklung der Artillerie im Zeitalter des Siebenjährigen Kriegs größere Fortschritte machte als in der Epoche Napoleons. Nicht weniger signifikant als die Modernisierung der Artillerie war der Ausbau der leichten Truppen, die in der alliierten Armee zuletzt mehr als 12.000 Mann zählten. Sie bestanden aus den Husaren, den Jägern, den schottischen Highlandern und den Freibataillonen (leichte Infanterie und Reiterei). Ihre Aufgabe war ursprünglich die Aufklärung und die Abschirmung der eigenen Armee gegen feindliche Überfälle. Unter Herzog Ferdinand wurden sie zu vielseitig verwendbaren Einheiten umgebildet: Die Husaren wurden mit der Kavallerietaktik vertraut gemacht, sodass sie bei Bedarf mit der schweren Linienreiterei zu kooperieren vermochten. Die Jägerverbände, die von Haus aus mit weittragenden Büchsen ausgerüstet waren, erhielten Thomas Klingebiel  —  Der Siebenjährige Krieg als Zäsur

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zusätzlich Musketen und Bajonette, sodass sie nach entsprechender Ausbildung in der Lage waren, in den taktischen Modus der Linieninfanterie zu wechseln.24 Die Jägerverbände und Freibataillone der alliierten Armee waren folglich mit der Lineartaktik ebenso vertraut wie mit dem zerstreuten Gefecht, das sie als Einzelkämpfer oder in kleinen Gruppen zu bestehen wussten. Die Kommandeure erhielten vom Feldherrn zwar schriftliche Instruktionen, sollten sie aber nicht wörtlich, sondern den möglicherweise veränderten Umständen gemäß ausführen.25 Im durchschnittenen, waldreichen Gelände, das für das nordwestdeutsche Kriegstheater typisch war, erlangten die leichten Truppen der Alliierten aufgrund ihrer taktischen Schulung bald ein Übergewicht. Es liegt auf der Hand, dass diese Truppen im Unterschied zu den Linienregimentern fast ständig unter Kriegsbedingungen lebten: In der winterlichen Jahreszeit lagen sie im vorgeschobenen Kordon, der die Winterquartiere der Armee gegen feindliche Überfälle zu schirmen hatte; im Sommer wurden sie bei einer Vielzahl von Operationen eingesetzt, vielfach hinter den feindlichen Linien, wobei man die Waldgebiete als verdeckten Aufmarschraum nutzte. Im Sommer 1761 gelang den alliierten Jägern, mehrere große Lebensmittelkonvois der Franzosen zu vernichten, sodass sie einige Wochen brauchten, um wieder mobil zu werden. Die leichten Truppen, insbesondere die Jäger und Husaren, betrachteten sich angesichts ihrer Erfolge und des ihnen abverlangten Dauereinsatzes als Elite der Armee. Der Erbprinz von Braunschweig, ein Experte des kleinen Krieges, lobte nach der Schlacht bei Warburg die Leistung des neu aufgestellten Highlander-Korps, das mit zwei bewährten Grenadierbataillonen kombiniert worden war: »Every candid man must confess, they do all that can be expected. That Young Corps has now the fairest field before them. The service they are now employed upon, in a campaign of this kind, is more instructive to the officers, than ten dull, tedious, uninteresting years passed in the line.«26 Die Mentalität dieser leichten Truppen ähnelte zusehends mehr jener des modernen Berufssoldaten als derjenigen des Parteigängers. Sie erhielten Sold und waren nach der disziplinierenden Professionalisierung keine Beutegemeinschaften mehr, die ihrem spezifischen Interesse folgten. Die aus dieser Zeit noch vorhandenen Gewohnheiten, insbesondere der Husaren, waren kaum mehr als Traditionselemente, die den Zusammenhalt der Regimenter förderten. Allerdings hatten die weit umherschweifenden Husaren weiterhin bessere Chancen, Beute zu machen, als andere Einheiten. Die deutschen Linientruppen der alliierten Armee rekrutierten sich zu großen Teilen aus den Milizverbänden der welfischen Lande und der Landgrafschaft Hessen. Da diese Gebiete 1757 von den Franzosen besetzt worden

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

24  Vgl. Geschichte des Siebenjährigen Krieges, in einer Reihe von Vorlesungen, mit Benutzung authentischer Quellen, bearbeitet von Offizieren des Großen Generalstabs, Bd. I–VI, Berlin 1824–47, hier Bd. V/1, S. 39 f. 25  Vgl. Westphalen, Geschichte der Feldzüge, Bd. VI, S. 107, Ferdinand an Cavendish, Bühne, 1762 Juni 22. 26  Miscellaneous Correspondence, III, London 1764, S. 507.

waren, appellierte Herzog Ferdinand sogleich an den Patriotismus seiner Soldaten und stilisierte den Kampf zum Befreiungskrieg. Seine ideelle Kriegführung blieb nicht auf die eigenen Truppen beschränkt: Er wandte sich auch an die Bevölkerung der besetzten Länder und nutzte vor allem die Presse, um die Öffentlichkeit im In- und Ausland auf seine Seite zu ziehen. Sein Sekretär Philipp Westphalen (1723–92), der Großvater von Jenny Marx, verfasste Armeebulletins, die zuerst in den führenden Gazetten der Niederlande erschienen, um dann von anderen Presseorganen in ganz Europa nachgedruckt zu werden.27 Das alliierte Hauptquartier griff dabei auf eine ideelle Ressource zurück, die bereits aus der Mode gekommen zu sein schien: auf den politischen Protestantismus. Der politische Protestantismus, der seit der Glorious Revolution in England Verfassungsrang hatte, wurde durch Positionen der Aufklärung angereichert, die sich gegen die als despotisch charakterisierten katholischen Monarchien einsetzen ließen. Herzog Ferdinand war vor allem daran interessiert, die britische Öffentlichkeit zu gewinnen – denn der Unterhalt seiner 27  Vgl. Landesarchiv Niedersachsen – Hauptstaatsarchiv Hannover: Hann. 38 A, Nr. 36, Berichte aus dem Hauptquartier Ferdinands, die für die Veröffentlichung in Hamburg bestimmt waren, 1758; Hann. 9e, Nr. 287, Zeitungssammlung, 1759 (zur Schlacht bei Minden).

Streitmacht, die jährlich bis zu fünf Millionen Pfund (25 Millionen Reichstaler) vom Londoner Schatzamt erhielt,28 musste Jahr um Jahr vom House of Commons bewilligt werden. Einfluss auf die Haushaltsberatungen konnte er auch auf direktem Weg nehmen – denn nicht wenige Offiziere der alliierten Armee gehörten dem Unterhaus an und reisten im Spätherbst nach London, um zur Eröffnung der Parlamentssession zur Stelle zu sein. Daneben ging es Ferdinand aber auch darum, die alliierten Lande und die größere Öffentlich-

28  Westphalen, Geschichte der Feldzüge, Bd. I, S. 111 u. S. 538; zu den Kontributionen, die von der alliierten Armee aus den besetzten Territorien gezogen wurden, siehe Mediger u. Klingebiel, S. 1028 u. S. 1045.

keit zumindest des protestantischen Deutschland zu gewinnen; aber auch

29  Zum Wandel des von Ferdinand beinahe alltäglich verwendeten Begriffs citoyen im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts siehe Pierre Rétat, Citoyen-Sujet, Civisme, in: Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt (Hg.), Handbuch der politisch-gesellschaftlichen Grundbegriffe in Frankreich. 1680–1820, H. 9, München 1988, hier insbes. S. 81–84.

Ferdinand selbst war ungeachtet seiner Herkunft und Karriere kein Freund

30  Vgl. zur Biografie Bauers: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 30, Bd. 2, Leipzig 1875 (Spehr), S. 142 f.

die der Niederlande, um deren Wohlwollen er sich schon mit Blick auf seine Kommunikations- und Versorgungslinien an Rhein und Ems stets bemühte. DIE ARMEE ALS GESELLSCHAFTLICHE AVANTGARDE der Ständegesellschaft, sondern von den fortschrittlichen Ideen der französischen Aufklärung erfüllt.29 Während Friedrich II. sich zwar der Begriffswelt der Aufklärung bediente, aber an den Pfeilern der preußischen Ständeordnung nicht rütteln mochte, erlaubte sich Ferdinand in seiner Funktion als Feldherr und Militärgouverneur größere Freiheiten. Der Herzog suchte in seiner Armee eine Meritokratie zu etablieren, sodass auch begabte Offiziere bürgerlicher Herkunft rasch in hohe Funktionen aufsteigen konnten. Zu den wichtigsten Mitarbeitern des Herzogs zählten neben Philipp Westphalen der junge Generalquartiermeister Friedrich Wilhelm Bauer (1731–83)30 und der Husarenkommandeur Nikolaus Luckner (1722–94), der 1791 im Thomas Klingebiel  —  Der Siebenjährige Krieg als Zäsur

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revolutionären Frankreich zum Marschall aufstieg. König Georg II. hatte der Promotion Luckners zum Generalmajor im Januar 1760 nur zögerlich zugestimmt, da die hannoversche Generalität mit dem Avancement des aus Cham stammenden Husarenoffiziers nicht einverstanden war.31 Ferdinand indes ließ ständische Vorbehalte und das Prinzip der Anciennität nicht gelten: »Vorzügliche Meriten erfordern auch vorzügliche Distinctiones. Und kann dergleichen außerordentliches Avancement ehrliebenden Officirs nicht anders als Emulation und keine Jalousie erwecken.«32 Auch in der preußischen Armee wurden im Laufe des Kriegs immer mehr Offiziersstellen von Bürgerlichen besetzt. Das lag allerdings daran, dass ein großer Teil der adligen Stelleninhaber gefallen, gefangen oder dienstunfähig war. König Friedrich hatte nach dem Ende des Kriegs nichts Besseres zu tun, als die bürgerlichen Offiziere zu verabschieden oder im Garnisondienst zu beschäftigen, um den nachrückenden adligen Kräften Platz zu schaffen. Er beharrte darauf, dass der Offiziersstand vom Adel gestellt werden müsse, da dieser keine andere Erwerbschance habe als den Degen und daher zur unbedingten Loyalität verpflichtet sei.33 Obgleich nicht nur in der preußischen Armee, sondern auch in den Streitkräften der deutschen Bundesfürsten nach dem Ende des Kriegs im Zuge der Truppenreduzierung restaurative Bestrebungen durchschlugen, war nun doch allgemein akzeptiert, dass die adlige Herkunft allein für den Offiziersberuf nicht ausreichte. Die Nobilitierung verdienter Offiziere war ein probates Mittel, um die Grenze zwischen Geburtsund Berufsstand zu überwinden. Im Übrigen setzte sich die Professionalisierung des Offiziersstandes fort: Überall entstanden nun Militärakademien. Die beiden wichtigsten Mobilitätskanäle für bürgerliche Militärs blieben freilich vorerst die Artillerie und das Ingenieurwesen. KRIEGSFINANZIERUNG UND SCHULDENLAST Um die intensive, alle Ressourcen verschlingende Kriegführung finanzieren zu können, mussten die kriegführenden Mächte schon bald zu außergewöhnlichen Mitteln greifen. Die ordentlichen Steuern und Abgaben, vermehrt durch Kriegskontributionen, reichten nicht aus, um die Kosten zu decken. Da politische und rechtliche Widerstände die Einführung neuer Steuern und Abgaben erschwerten, finanzierte man den Krieg in den westlichen Ländern Frankreich und Großbritannien, aber auch in Österreich zusehends mehr mithilfe von Krediten. Während die britische Regierung keine Mühe hatte, sich am Kapitalmarkt mit den nötigen Mitteln zu versehen, musste die französische Monarchie immer höhere Zinsen zahlen – im Laufe des Kriegs wuchs die Schuldenlast beider Staaten auf das Doppelte an.

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

31  Vgl. NLA-Hauptstaats­ archiv Hannover: Hann.9e, Nr. 1062, Bl. 343–345, Georg II. an Ferdinand, St. James, 1760 Januar 25, hier Bl. 343v–344r. 32  Ebd., Randbemerkung Ferdinands dazu. 33  Vgl. Oeuvres, Bd. VI, S. 9–123, Memoires depuis la paix de Hubertusbourg jusqu’ à la fin du partage de Pologne (1763– 1774), hier S. 102 f. u. S. 106.

Zu einer anderen Finanzierung des Krieges sah sich Friedrich II. genötigt: Er zog hohe Kontributionen aus dem besetzten Sachsen und anderen Gebieten, die zeitweilig unter seiner Kontrolle standen. Dazu ließ er aus den Subsidien, die er seit 1758 von London erhielt, schlechte Münzen prägen, sodass er statt vier bis zu 16 Millionen Taler gewann. Seine regulären preußischen Einkünfte, vermindert durch feindliche Besatzung, trugen indes weniger als ein Drittel zum Gesamtaufkommen bei.34 In Österreich wiederum hatte man zwar schon vor Beginn des Siebenjährigen Kriegs die Finanzverwaltung verbessert, um die Einkünfte auf 24 Millionen Taler jährlich zu steigern und den Unterhalt der Armee auf längere Frist zu sichern; doch die Bewilligung der für den Krieg benötigten Steuern lag bei den Ständeversammlungen der verschiedenen Territorien, die unter der habsburgischen Herrschaft in Personalunion vereinigt waren. Ähnlich wie in Frankreich bildete in den habsburgischen Landen die Steuerfreiheit des Adels und des Klerus das bedeutendste Hindernis auf dem Weg zu einer allgemeinen Besteuerung. Zwangsabgaben und Zwangsanleihen galten als Notbehelfe, nicht als Präzedenzfälle einer allgemeinen Steuerreform. Der Wiener Hof erhielt zudem französische Subsidien, doch musste er schließlich auch Kredite aufnehmen, um den Krieg fortsetzen zu können.35 Nach dem Ende des Kriegs bildete die Refinanzierung der Schuldenlast beinahe überall das zentrale Thema der Politik. In Großbritannien beanspruchte der Zinsdienst im Jahrzehnt nach 1763 mit fünf von zehn Millionen Pfund die Hälfte des (freilich stark verringerten) Haushalts. Während man hier zu einer geregelten Abtragung der Schulden überging – wobei allerdings auch neue Abgaben eingeführt wurden, die den folgenschweren Konflikt mit den amerikanischen Kolonien auslösten (stamp act) –, blockierten die exem34  Vgl. Oeuvres, Bd. VI, S. 85; Bernd Kluge, Für das Überleben des Staats. Die Münzverschlechterungen durch Friedrich den Großen im Siebenjährigen Krieg. in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 59 (2013), S. 125–143. 35  Vgl. Christopher Duffy, The Army of Maria Theresia, London 1977, Kap. I u. X. 36  Vgl. Paul Bairoch, L’économie francaise dans le contexte européen à la fin du XVIII siècle. in: Revue économique, Jg. 40 (1989), S. 939–964.

ten Stände in Frankreich alle Pläne, die eine substanzielle Verringerung der Staatsschulden zu bewirken vermocht hätten. Um die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staats zu erhalten, musste man daher immer wieder auf Aushilfen zurückgreifen.36 Mit dem Problem der Schuldenfinanzierung war überall die Frage der Steuerverfassung und der Steuergerechtigkeit verbunden. Sie wurde insbesondere in Frankreich und jenen Territorien des Reichs aufgeworfen, die Kriegsschulden abzutragen hatten und über Landtage verfügten. Die Forderung nach der Besteuerung der exemten Stände wurde hier, zumal in den Jahren mit schwacher Agrarkonjunktur, immer lauter erhoben. In Preußen existierte dagegen weder ein Landtag noch ein Schuldenproblem. König Friedrich hielt sich zugute, am Ende des Kriegs, in welchem Preußen fast zehn Prozent seiner Bevölkerung eingebüßt hatte, über einen Staatsschatz Thomas Klingebiel  —  Der Siebenjährige Krieg als Zäsur

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von zwanzig Millionen Talern zu verfügen, der ihm nicht nur das Rétablissement, sondern sogar die Melioration seiner Lande erlaubte. Folglich ging die preußische Monarchie gestärkt aus dem Krieg hervor. In politischer und gesellschaftlicher Hinsicht erlebte Preußen freilich eine Restauration, die Züge der Erstarrung annehmen konnte.

*** In der Summe lässt sich sagen, dass der Siebenjährige Krieg eine Reihe von technischen und taktischen Innovationen hervorgebracht hat, die erlauben, ihn in militärgeschichtlicher Hinsicht stärker als bisher mit den Kriegen des anschließenden Revolutionszeitalters zu verbinden. In der alliierten Armee kam es temporär bereits zu Entwicklungen, die sich dann im revolutionären Frankreich auf Dauer durchsetzen sollten. Der Krieg hatte vielleicht noch als Kabinettskrieg begonnen, doch bald einen moderneren, allgemeinen Charakter angenommen: Die politische, konfessionell grundierte Mobilisierung der Bevölkerung insbesondere in den Ländern des protestantischen Bündnisses, aber auch in Böhmen und Österreich, hatte dazu geführt, dass sich das Publikum mit den eigenen Streitkräften identifizierte und feindlichen Besatzungstruppen zu widerstehen suchte. Die mithilfe der Druckmedien und der intellektuellen Multiplikatoren erzeugte patriotische Stimmung ließ das Trennende der Ständegesellschaft in der Wahrnehmung hinter dem gemeinen Wohl zurücktreten. Im gesellschaftlichen Verkehr zeigten sich die Umrisse einer egalitären Bürgergesellschaft, die bis dahin nur in der Begriffswelt der aufgeklärten Philosophen existiert hatte. Verbunden mit der realen Erblast des Kriegs – den Kriegsschulden –, ergab sich ein Reformdruck und Reformbegehren, das nicht nur im gebildeten Bürgertum, sondern selbst im bildungsfernen Bauernstand auf Resonanz stieß. Insofern war der Siebenjährige Krieg ein Faktor der Modernisierung und Dynamisierung der Gesellschaft. Er entband dabei Wirkungen, die weit über die ursprünglichen Intentionen und Kalkulationen der kriegführenden Mächte hinauswiesen.

Thomas Klingebiel ist habilitierter Historiker. Er hat ein Vierteljahrhundert an der Universität Göttingen gelehrt. Inzwischen arbeitet er als freier Autor. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Migrationsgeschichte, zur Verfassungs- und Sozialgeschichte, zur Kirchengeschichte und zur Militärgeschichte vornehmlich der Frühen Neuzeit publiziert.

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

»OPERATION MITTEN IM BALLSAAL« DIE PARISER FRIEDENSKONFERENZ 1919 ALS KRISE DER POLITISCHEN KOMMUNIKATION ΞΞ Jörn Leonhard

Im Januar 1919 schien Paris dem jungen britischen Diplomaten Harold Nicolson wie eine »noch vom Nervenschock befallene Hauptstadt«. Das Gewimmel an Menschen, das Nebeneinander von Erwartungen, Nachrichten und Gerüchten bedeuteten für ihn von Anfang an eine enorme physische und psychische Herausforderung. Paris, so schien es Nicolson, »verlor für die Dauer dieser paar Wochen seine Seele. Das Gehirn von Paris, dieses glorreiche Produkt westlicher Zivilisation, hörte auf zu funktionieren. Die Nerven von Paris schrillten misstönend durch die Luft.« Schon bald empfand er die Größe der Stadt, die Theater, Konzerte und Museen, den Verkehr und ein hoch nervöses Publikum als Hindernis für die notwendige Konzentration, die doch alle brauchten, um sich der Architektur des Friedens widmen zu können: »Wir kamen uns vor wie Chirurgen, die eine Operation mitten im Ballsaal vornehmen sollten, mit allen Tanten und Anverwandten des Patienten ringsherum.«1 Den Zeitgenossen war bewusst, wie schwer es werden würde, nach diesem totalisierten Krieg und seinen Millionen von Opfern einen Frieden zu schließen. Denn je mehr Opfer der Krieg gefordert hatte, desto weniger kam für die beteiligten Staaten ein Kompromissfrieden infrage, und desto mehr konzentrierten sie sich auf einen Sieg, der in seinen Bedingungen alle zurück1 

Harold Nicolson, Friedensmacher 1919, Berlin 1934, Eintragung vom 14. Januar 1919, S. 76–79; Ferdinand Czernin, Die Friedensstifter. Männer und Mächte um den Versailler Vertrag, Bern 1968, S. 84; Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018, S. 652–653. 2  Georges Clemenceau, Rede vom 8. März 1918, zit. nach ­Michel Winock, Clemenceau, Paris 2007, S. 431; Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 864.

liegenden Opfer rechtfertigen musste. Dieser Mechanismus setzte sich fort, bis eine Seite unter der anhaltenden Belastung zusammenbrechen sollte – aber bis in den Spätsommer 1918 blieb für die meisten offen, wer das am Ende sein würde. Anfang 1918 erkannte der französische Kriegspremier Georges Clemenceau, wie eng Sieg und Niederlage nebeneinanderliegen würden. In dieser Situation werde derjenige siegen, der für kurze Frist noch einmal alle moralischen Kräfte mobilisieren könne: »Der Sieger ist derjenige, der es schafft, eine viertel Stunde länger als der Gegner zu glauben, dass er nicht besiegt wurde.«2 Als der Krieg dann tatsächlich endete, offenbarte sich ab Januar 1919 wie unter einem Brennglas, worin sich der Friedensschluss nach diesem Weltkrieg von anderen neuzeitlichen Friedenskonferenzen in der Tradition von

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Münster und Osnabrück 1648 oder Wien 1814/15 unterscheiden würde. Das begann bereits mit der schieren Zahl von Teilnehmern, Agenden und Aufgaben. Ein Zentrum der Welt war Paris im Frühjahr und Sommer 1919 nicht allein wegen der geografischen Agenda, die von Samoa, Schantung und Ostafrika über Mossul, Albanien und Teschen bis nach Eupen-Malmedy und Danzig reichte. An der Konferenz nahmen mehr als zwei Dutzend offizielle Delegationen aus unabhängigen Staaten sowie den britischen Dominions Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika teil, dazu Abordnungen aus Indien und Ägypten ohne offiziellen Status. Insgesamt bildete die Konferenz mit etwa 10.000 Personen – Delegierte, Assistenten, Berater, Experten und Hunderte von Journalisten aus der ganzen Welt – einen eigenen Mikrokosmos. Allein am Gesamtplenum, das auf Vorschlag des amerikanischen Präsidenten den französischen Premierminister Georges Clemenceau zum Vorsitzenden wählte, und den 58 Ausschüssen nahmen bis zu eintausend Mitglieder teil. Hinzu kam – weit über den engeren Kreis der offiziellen Delegierten hinaus – eine internationale Öffentlichkeit, die 1919 in Paris etwa den späteren Ho Chi Minh, William Du Bois oder Aga Khan III. umfasste.3 Aus dieser rein quantitativen Dimension entstand eine Dynamik, die etwas ganz anderes war als die souveräne Entscheidung souveräner Akteure, das Ergebnis einer geordneten Konferenz in der Tradition der klassischen Diplomatie. In Paris existierte eine globale Konferenzöffentlichkeit – ein Publikum aus offiziellen, halboffiziellen und nichtoffiziellen Teilnehmern, das die Erwartungen an die Konferenzergebnisse vervielfältigte und in die vielen Heimatgesellschaften zurück vermittelte, von denen wiederum die Reaktionen auf den Fortgang der Verhandlungen in Paris ankamen.4 Zur Vorbereitung auf die Friedenskonferenz hatten sich viele Delegationen an früheren Konferenzen orientiert. Im Gepäck der britischen Diplomaten fand sich nicht zufällig das 1918 erschienene Buch des Historikers Charles Webster über den Wiener Kongress, das der Autor als Warnung vor den Fehlern der Staatsmänner von 1814/15 verfasst hatte. Über einen entscheidenden Unterschied zwischen 1815 und 1919 machte sich Webster keine Illusion: Während in Wien nach dem Ende der antinapoleonischen Kriege alle wichtigen Akteure versammelt gewesen seien und die kaum überwindbaren geografischen Distanzen eine besondere Konzentration ermöglicht hätten, schien Paris 1919 permanent unter dem Eindruck von teils dramatischen Entwicklungen in anderen Krisenräumen zu stehen – so etwa mit Blick auf

3  Vgl. Manfred Berg, Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt, München 2017, S. 163; Eberhard Kolb, Der Frieden von ­Versailles, München 2011, S. 49–53; Margaret MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, Berlin 2015 [engl. 2001], S. 533. 4  Vgl. Leonhard, Frieden, S. 655.

die Revolutionsexpansion der Bolschewiki mit Räterepubliken in Ungarn und München oder Aufstände gegen eine Fortsetzung von Kolonialpraktiken von Ägypten bis Korea.5

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

5  Siehe Charles Webster, The Congress of Vienna 1814–1815, London 1918.

Hatten die Diplomaten auf den großen Friedenskonferenzen von 1648 und 1815 noch darauf vertraut, Machtungleichgewichte durch territoriale Verschiebungen auszubalancieren und sie durch Dynastien sowie die revolutionsprophylaktische Wirkung des monarchischen Prinzips einzuhegen, traten in Paris Nationalstaat, Völkerbund und ein international abgesicherter Minderheitenschutz in den Vordergrund. Hatten die Monarchen 1814/15 darauf gesetzt, mit dem Wiener Kongress unter expliziter Einbeziehung Frankreichs die Epoche der Revolution abzuschließen und die postrevolutionäre französische Gesellschaft zu stabilisieren, setzte seit 1917 ein ganz eigener Rhythmus von Revolutionen und Gegenrevolutionen ein – er reichte über das Kriegsende im November 1918 und den Friedensschluss im Sommer 1919 hinaus und stellte die Ergebnisse des Friedens unter Vorbehalt.6 1815 hatten die Diplomaten auf die prinzipielle Gleichrangigkeit souveräner Monarchien gesetzt und die Pentarchie als Mittel einer Machtbalance zwischen Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich und Preußen begriffen, um Hegemonialbestrebungen zu verhindern. Schließlich erschien ein restabilisiertes monarchisches Prinzip als das beste Mittel, um einen neuen großen Krieg zu verhindern und zugleich einer neuerlichen Revolution wie 1789 vorzubeugen.7 So vertraten die Staatsmänner und Diplomaten in Wien einen relativ begrenzten Regelungsanspruch, der sich primär auf Europa bezog und zu dem ein Instrumentarium aus diplomatischen Traditionen gehörte. Dazu zählte die Trennung zwischen Vorfrieden, Präliminarien und eigentlichem Friedenskongress. Das Jahr 1919 war demgegenüber durch globale Gestaltungsansprüche und eine extrem hohe Regelungsdichte der Friedensverträge gekennzeichnet, was deren Umfang und die vielen Details erklärt. Schließlich 6  Vgl. Dieter ­Langewiesche, Kongress-Europa in global-­ historischer Perspektive, in: Zeitschrift für Weltgeschichte, Jg. 16 (2015), S. 11–30. 7 

Vgl. Leonhard, Frieden, S. 1265 f.

8  Vgl. Reinhard Stauber, Innerstaatliche Ordnung und internationales System auf dem Wiener Kongress 1814/15, in: Der Staat, Beiheft 23: Verfassung und Völkerrecht in der Verfassungsgeschichte. Interdependenzen zwischen internationaler Ordnung und Verfassungsordnung, hg. v. Gabriele Schneider u. Thomas Simon, Berlin 2016, S. 79–99.

lag ein entscheidender Unterschied im Souveränitätskonzept, das 1815 noch monarchisch geprägt war und den prinzipiellen Verzicht auf Interventionen von außen enthielt. 1919 erwies sich, dass in der Berufung auf übergeordnete Sicherheitsprinzipien auch das Souveränitätsparadigma durchbrochen werden konnte. Das zeigte sich gegenüber Deutschland in der Reparationsfrage, im Anschlussverbot gegenüber Deutsch-Österreich, aber auch im Umgang mit dem Osmanischen Reich und in den Minderheiten-Schutzverträgen gegenüber den ostmittel- und südosteuropäischen Staaten.8 Doch der wichtigste Faktor, der Paris 1919 von früheren Konferenzen und Friedensschlüssen unterschied, verwies auf eine Krise der politischen Kommunikation infolge einer Praxis der Emotionalisierung von Politik und einer Symbolisierung von Schuld. Mehr als tausend Menschen waren am 28. Juni 1919 zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags im Spiegelsaal des Königsschlosses anwesend, der in drei Zonen aufgeteilt war. An einem Ende Jörn Leonhard  —  »Operation mitten im Ballsaal«

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drängelten sich die Vertreter der internationalen Presse, die aus der Zeremonie einen globalen Medienmoment machen sollten; am anderen saßen zum letzten Mal die internationalen Delegationen. In der Mitte befand sich eine »hufeisenförmige Tafel« für die Repräsentanten der Entente und der Vereinigten Staaten – noch einmal die Hierarchie der Sieger betonend. Genau in der Mitte nahm der französische Premierminister Georges Clemenceau als Gastgeber und Vorsitzender der Friedenskonferenz Platz. Davor war, in den Worten Nicolsons, »wie eine Guillotine, der Tisch« platziert, »an dem die Unterzeichnung vor sich gehen soll[te]«. Der Effekt der Menge erinnerte ­Nicolson an die Spannung des Publikums vor einem Konzert.9 Vom Protokollchef der Friedenskonferenz, William Martin, wurden Hermann Müller und Johannes Bell schließlich zu ihren offiziellen Plätzen in einer Ecke des Saales geleitet. Die Vertreter des Deutschen Reiches nahmen zwischen den Delegierten Japans und Uruguays Platz. Selbst dieser kurze Moment des 28. Juni 1919 war bis an die Grenze des Absurden symbolisch aufgeladen. In seinen Erinnerungen berichtete Hermann Müller von französischen Zeitungsartikeln, die sich vor der Zeremonie in allen Details ausmalten, »die Unterschriften mit einem besonderen Federhalter vollziehen zu lassen, den die elsass-lothringischen Verbände Frankreichs und der französischen Kolonien gestiftet hätten«. Müller stellte seine Reaktion als symbolische Selbstbehauptung gegenüber einem letzten Versuch der Demütigung Deutschlands vor den Augen der Welt dar. So habe er seinen eigenen Füllfederhalter nach Versailles mitgebracht – anders als Johannes Bell, der »aus dem Hotel einen gewöhnlichen 5-Pfennig-Federhalter« mitgenommen habe, »den er in Zeitungspapier rollte und in seine Gehrocktasche steckte. Er zog ihn erst heraus, als wir aufgerufen wurden und damit unterzeichnete er.« Wie alle vorangegangenen direkten Treffen der Deutschen mit den Siegermächten war auch dieser Moment von der Nicht-Kommunikation geprägt, deren Konsequenz darin bestand, dass den geringsten Details und Gerüchten plötzlich eine enorme Bedeutung beigemessen wurde. Müllers Bericht beleuchtete diese Eigendynamik, die in vielen französischen Zeitungen wiedergegeben wurde – allerdings in karikaturistischer Weise. So druckte eine Pariser Zeitung eine Zeichnung mit der Unterschrift »Das letzte Manöver der Boches: Hermann Müller unterzeichnet mit Geheimtinte«10. An diesem 28. Juni 1919 kam es im Spiegelsaal zu einer Szene, die exem­ plarisch für die emotionale Aufladung der Friedensordnung durch moralische Implikationen von Schuld und Verantwortung steht. Bevor man die deutsche Delegation in den Saal führte, wurden fünf in ihren Gesichtern schwer versehrte französische Soldaten in der Nähe des Tisches platziert, an welchem die

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

9  Siehe Nicolson, Friedensmacher, Eintragung vom 28. Juni 1919, S. 350–352. 10  Hermann Müller, Die Unterzeichnung, in: Victor Schiff, So war es in Versailles. Mit Beiträgen von Otto Landsberg, Hermann Müller und Friedrich Stampfer, Berlin 1929, S. 135–143, hier S. 140; Leonhard, Frieden, S. 1026 f.

deutschen Politiker ohne jede Aussprache die Dokumente zu unterzeichnen hatten. Der französische Premier Clemenceau unterstrich diese Geste noch, indem er den »cinq gueules cassés« vor dem Eintritt der deutschen Delegation stumm die Hände schüttelte. Auf Tausenden von Bildpostkarten sollten die fünf Soldaten nach dem Friedensschluss zum Symbol der französischen Kriegsopfer werden – sie gaben durch ihre entstellten Physiognomien dem Krieg erst recht ein Gesicht und erhöhten dadurch stellvertretend sowohl das Gewicht der Schuldfrage als auch die Erwartungen an den Frieden.11 Hatten die Friedensverträge nach 1648 und vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Konfessions- und Bürgerkriege mit einer charakteristischen Oblivionsklausel die Idee eines »wohltätigen Vergessens« enthalten, so trat an dessen Stelle in Paris eine neuartige Inszenierungskultur.12 Sie ging einher mit einer starken emotionalen Aufladung. Die prinzipielle Gleichrangigkeit der Akteure und die nach den Exzessen des 17. Jahrhunderts betonte Entkriminalisierung des Feindes, die Idee des »iustus hostis«, wurde verdrängt von der Vorstellung des Krieges als Verbrechen und Bruch moralischer Normen. Damit knüpfte man an die großen Hoffnungen an, mithilfe des internationalen Rechts eine universell gültige Friedensordnung auf der Basis rationaler Kriterien zu schaffen. Zumal, die alliierte Kriegspropaganda hatte den Weltkrieg als Konflikt um das Völkerrecht dargestellt, und entsprechend schien die Sprache des Rechts 1919 die einzig legitime Form für einen Friedensschluss, der etwas anderes sein sollte als das Ergebnis machtpolitischer Rivalität. Doch zugleich bot diese Sprache des Rechts eine eigene Grundlage für eine ausgesprochene Moralisierung der Politik. So wurden die Kategorien von Verbrechen, Schuld und Bestrafung Teil der Friedenspolitik von 1919. Ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit verhinderte den unverstellten 11  Vgl. Stéphane Audoin-­ Rouzeau, Die Delegation der ›Gueules cassées‹ in Versailles am 28. Juni 1919, in: Gerd Krumeich (Hg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001, S. 280–287; Verena Steller, Diplomatie von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Handlungsformen in den deutsch-französischen Beziehungen, Paderborn 2011, S. 464–465.

Blick auf sachliche Lösungen, wie sich zumal in der Reparationsfrage zeigte. Hier überlagerten sich politische und moralische Ökonomie, indem Schuld und Schulden immer wieder aufeinander bezogen wurden. Und hier zeigte sich das Scharnier des Epochenjahres 1919, indem die Konferenz sich in vieler Hinsicht als ein Hybrid aus diplomatischen Traditionen seit dem 17. Jahrhundert und ganz neuen Bedingungen des 20. Jahrhunderts erwies. Mit formellen Einladungen, Konferenzsprachen, diplomatischem Zeremoniell, der Idee einer Präliminarkonferenz und selbst mit dem Genre der Historienmalerei lehnte man sich an historische Vorbilder an. Demgegenüber

12  Vgl. Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979, S. 92–123.

standen neuartige Regelungsansprüche und eine durch universelle Ermächtigungsformeln wie zumal der »self-determination« geschürte Dynamik globaler Erwartungen – vermittelt durch Hunderte von Journalisten und eine moderne Infrastruktur zur Übertragung von Nachrichten. Nachdem Paris im Jörn Leonhard  —  »Operation mitten im Ballsaal«

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Januar 1919 in der älteren Tradition einer Vorfriedenskonferenz begonnen hatte, blieb eine formale Einladung der Unterlegenen zu einem Friedenskongress aus. Der Übergang der Vorfriedenskonferenz zu einem Kongress unter Beteiligung der besiegten Staaten fand nicht statt – genau hier wurde letztlich politische Kommunikation verhindert, die ein Minimum an Vertrauen hätte schaffen können. Aus der langwierigen Klärung der Interessengegensätze zwischen den Siegern ging im Mai 1919 ein Definitivfriedensvertrag hervor, den man den Deutschen zusammen mit einem Ultimatum zur Unterzeichnung vorlegte. So schloss man die Besiegten von der politischen Kommunikation aus und räumte zugleich den emotionalen Inszenierungen enormes Gewicht ein. Das Ergebnis war eine charakteristische Spirale aus Demütigungsmomenten und Ehrverwahrungen, die in den Wochen zwischen Mai und Juni 1919 die kommunikative Kluft zwischen Siegern und Besiegten noch vertieften.13 Gerade hier werden die Probleme eines Friedensschlusses exemplarisch erkennbar: ein Nebeneinander von globalen Erwartungsüberschüssen, die Auflösung tradierter diplomatischer Formen und die strukturelle Überforderung aller Beteiligten durch eine Vielzahl von Problemen und Agenden. Nicht nur die Interessengegensätze zwischen den französischen, britischen, amerikanischen und italienischen Delegationen, sondern auch eine ausgesprochene Polykratie von Akteuren, Gremien und Entscheidungsebenen bei gleichzeitigem Fehlen klarer Prioritäten belasteten die Verhandlungen. Hinzu kam die Spannung zwischen der Nachfrage vieler anwesender Journalisten nach Informationen und der Notwendigkeit, zentrale Entscheidungsprozesse von der Öffentlichkeit abzuschirmen, um überhaupt zu Ergebnissen zu gelangen. Einerseits wandte man sich von überkommenen Formen der Kriegs- und Friedensdiplomatie ab: von der Unterscheidung zwischen Präliminar- und Definitivfrieden, vom Prinzip der Gleichrangigkeit unter Einbeziehung der Unterlegenen, den mündlichen Verhandlungen mit den besiegten Mächten und dem Einsatz diplomatischer Unterhändler und Mittelsmänner. Doch als die Staats- und Regierungschefs mit den Problemen einer riesigen Konferenz, mit der Hierarchie von Teilnehmern, den Erwartungen von Presse und Öffentlichkeit sowie der bewussten Instrumentalisierung von Nachrichten konfrontiert waren, griffen die Hauptakteure andererseits auf die Mittel der Geheimdiplomatie zurück, indem sie mit dem Rat der Vier – dem amerikanischen Präsidenten sowie den Regierungschefs der Entente aus Paris, London und Rom – einen neuen Arkanbereich schufen.14 Diese Isolation des Konferenzkerns, dabei vor allem der bewusste Ausschluss der Besiegten, beschränkte die Kommunikation über den Frieden auf das Gespräch der anwesenden Sieger. Wo es aber keine direkte

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

13  Vgl. Leonhard, Frieden, S. 1266 f. 14 

Vgl. ebd., S. 1047.

Kommunikation gab, konnten jedes Gerücht und jede Geste mit enormen Affekten aufgeladen, von den Medien aufgegriffen und multipliziert werden. Im Ergebnis zeigte sich eine bemerkenswerte Parallele zur Kommunikationsgeschichte des Sommers 1914 vor Ausbruch des Krieges: Die Mechanismen der gegenseitigen Wahrnehmung und die besonderen Kommunikations­ bedingungen brachten ihre eigenen Wirklichkeiten hervor. So reduzierte sich das Möglichkeitswissen, also die Fähigkeit, die Handlungslogik der Gegenseite zu verstehen oder sich zumindest zeitweise in sie hineinzuversetzen. Während die meisten deutschen Politiker und Diplomaten die strukturelle Schwäche der französischen Seite als Folge der anhaltenden Verwundbarkeit ignorierten, unterschätzte die französische Führung die permanente innenpolitische Belastung der neu gegründeten deutschen Republik.15 Der Soziologe Niklas Luhmann hat in seinen Arbeiten die grundlegende Bedeutung von personaler Interaktion als Kommunikation unter Anwesenden herausgearbeitet. Danach geht von dieser direkten und konkreten Interaktion eine spezifische Sozialisierung von Akteuren aus: Die Erfahrung, durch Kommunikation an sozialen Gefügen teilzuhaben, ermöglicht demnach, eine Distanz zur eigenen Rolle zu entwickeln und sich zumindest teilweise in die Position des Gegenübers einzufühlen. Eine solche Empathiefähigkeit vermag einer sich gegenseitig verstärkenden Dynamik von Fremd- und Selbstbildern etwas entgegenzusetzen.16 Genau der Mangel an Empathie machte es in der historischen Situation der Friedenskonferenz unmöglich, den Zirkel der sich gegenseitig verstärkenden Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen – das verband das Frühjahr 1919 mit dem Sommer 1914. Einen entscheidenden Unterschied gab es jedoch: die Asymmetrie zwischen Siegern und Besiegten, die wie ein Leitmotiv alle symbolischen Momente vom 11. November 1918 bis zum 28. Juni 1919 miteinander verknüpfte. Schließlich kollidierte in Paris nicht zuletzt die Vorstellung großer politischer Autonomie der Friedensmacher mit einer sehr eingeschränkten konkreten Handlungsfreiheit. Als die Pariser Friedenskonferenz im Januar 1919 eröffnet wurde, unterstellten die meisten Zeitgenossen den versammelten Staatsmännern, Politikern, Diplomaten und Experten eine enorme Entscheidungsmacht, aus der eine neue Friedensarchitektur hervorgehen sollte. Doch schon diese 15 

Vgl. ebd., S. 1047 f.

Vorstellung enthielt ein Element der Überforderung. Der Weltmoment im Frühjahr 1919 war Ausdruck der vielen Projektionen, mit denen Menschen

16  Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 560–573; Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1998, S. 814–816.

aus der ganzen Welt nach Paris gekommen waren oder an denen sie durch die Massenmedien teilhatten. Dazu kam der globale November 1918, der Zusammenbruch der alten Imperien und Militärmonarchien in Berlin und Wien sowie die Person Woodrow Wilsons, dessen euphorischer Empfang in Europa Jörn Leonhard  —  »Operation mitten im Ballsaal«

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seine Rolle als Verkörperung neuer Prinzipien unterstrich. Doch die auf ihn gerichteten Erwartungen bedeuteten auch eine Belastung. Die Begrenzung der Handlungsbedingungen wirkte sich auch innenpolitisch auf die bereits durchgeführten oder die nach der Konferenz bevorstehenden Wahlen im Zeichen eines vielerorts demokratisierten Wahlrechts aus. Sie wurden zu regelrechten Plebisziten über die Ergebnisse des Friedens. Sie galten aber auch international durch eine Praxis vollendeter Tatsachen, rivalisierender Interessen und enttäuschter Hoffnungen. Bereits sechs Tage nach dem Beginn der Friedenskonferenz betonte Woodrow Wilson am 24. Januar im Plenum der Konferenz, wie tief beunruhigt er über die Praxis sei, gewaltsam vollendete Tatsachen zu schaffen und sich in den Besitz von Gebieten zu bringen, »deren rechtmäßige Inhaber von der Friedenskonferenz bestimmt werden sollten«. Er warnte, dass »durch Gewalt erzwungener Besitz ernstlich die Ansprüche jener schädigt, die solche Mittel anwenden«. Auch der britische Premier Lloyd George stand immer wieder unter dem Eindruck der fortwährenden Kämpfe um die Beute des Krieges. Während man in Paris berate, liefen andauernd Berichte »über bewaffnete Auseinandersetzungen in allen Teilen des ausgedehnten Kriegsschauplatzes vom Pazifik bis zum Schwarzen Meer und zur Ostsee, von den vereisten Flüssen Sibiriens bis zu den sonnigen Küsten der Adria« ein. Gerade der Kampf um das Erbe des Zarenreiches und der Habsburgermonarchie erwies sich als enorme Belastung für die Friedensbemühungen. Im Rückblick erschienen Lloyd George

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

diese Gebiete wie »Mangrovensümpfe, in denen die völkischen Wurzeln so ineinander verstrickt waren, dass sich kein Friedensmacher in ihnen bewegen konnte, ohne sich zu verfangen«17. Trotz aller Widersprüche und Schwächen des Friedensvertrags und trotz der emotionalen Verbitterung, die den Weg nach Versailles kennzeichnete, gelang in Paris am Ende ein Friedensschluss. Angesichts der Erbschaften des Krieges, der Überlastung mit widerstreitenden Erwartungen und der vielen globalen Krisenmomente im Frühjahr 1919 war das alles andere als selbstverständlich. Immer wieder hatte die Konferenz kurz vor dem Scheitern gestanden. Doch der Friedensvertrag war eben nicht mit Frieden gleichzusetzen – und hier liegt eine entscheidende Problematik, die weit über 1919 hinaus auf Probleme von Friedensschlüssen in der Gegenwart verweist: Ein Friedensvertrag markiert immer nur den Beginn eines langen Prozesses, aber er kann nicht das Ende der Suche nach einer Nachkriegsordnung sein. Einen Tag nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags zog der spätere Premierminister Südafrikas, Jan Smuts – eine der prägenden Figuren der Pariser Friedenskonferenz –, in einem Artikel für die New York Times Bilanz und kritisierte die seiner Ansicht nach zu harschen Vertragsbedingungen für Deutschland. Vor allem hob er hervor, dass jener 28. Juni 1919 nur der Beginn eines langen und mühsamen Prozesses sein könne: »Die eigentliche 17  David Lloyd George, The Truth about the Peace Treaties, 2 Bde., London 1938, hier Bd. 1, S. 307; Czernin, S. 193 f. 18  Siehe o.V., Smuts Calls Peace terms too Harsh, in: New York Times, 30.06.1919; vgl. William Mulligan, The Great War for Peace, New Haven (Conn.) 2014, S. 300 f.; Leonhard, Frieden, S. 1049 f.

Arbeit am Frieden wird erst beginnen, nachdem dieser Vertrag unterschrieben worden ist und ein definitives Ende der zerstörerischen Leidenschaften gesetzt ist, die Europa fast fünf Jahre lang heimgesucht haben.« In der Unterzeichnungszeremonie erblickte er lediglich ein formelles Ende des Krieges. Es war mit anderen Worten der Anfang eines komplizierten und langwierigen Prozesses, und es würde darauf ankommen, wie eine neue Generation von Politikern und Diplomaten diese Rahmenbedingungen konkret ausfüllen und an sich wandelnde Bedingungen anpassen würde.18

Prof. Dr. Jörn Leonhard, geb. 1967, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Seine wichtigsten Publikationen: »Liberalismus – Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters« (München 2001); »Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914« (München 2008); »Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert« (gemeinsam mit Ulrike von Hirschhausen, 2. Aufl. Göttingen 2010); »Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs« (5. Aufl. München 2014) sowie die aktuelle ­Publikation »Der überforderte Frieden – Versailles und die Welt 1918–1923« (München 2018).

Jörn Leonhard  —  »Operation mitten im Ballsaal«

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SPANISCHE ERINNERUNGSKULTUREN IM WIDERSTREIT ÜBER DAS RINGEN VON GESCHICHTS­VERGESSENHEIT, GESCHICHTSVERSESSENHEIT UND POLITISCHER LAGERBILDUNG ΞΞ Walther L. Bernecker

Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert sah sich Spanien mit einer sensationellen Bewegung konfrontiert. In den Regierungsjahren des konservativen Ministerpräsidenten José María Aznar (1996–2004) kam es nämlich zum ersten Mal seit Francos Tod (1975) in breiten Bevölkerungskreisen zu einer ernsthaften und weitverbreiteten Reflexion und Diskussion über den Bürgerkrieg, das franquistische Unrechtsregime und den Übergang von der Diktatur zur Demokratie – mit all seinen Licht- und Schattenseiten.1 Plötzlich setzte eine Art Vergangenheitsaufarbeitung ein, die im Spanischen ­memoria histórica genannt wird. Bis dahin war in der Historiografie und im politischen Diskurs die Transition zumeist als großer Erfolg dargestellt worden. Für die neue spanische Demokratie war die Transition nämlich der Gründungsmythos schlechthin, der neuer Symbole bedurfte: des Bildes der nationalen Versöhnung, der volkstümlichen Monarchie, der Verfassung für alle politischen Lager, des friedlichen Zusammenlebens nach jahrhundertelanger Konfrontation. Da diese Bilder der Legitimierung der neuen demokratischen Staats- und Regierungsform dienten, war die Zeitgeschichtsschreibung zum Übergang vom autoritären System des Franquismus in die parlamentarische Demokratie überwiegend positiv und lediglich vereinzelt von kritischen Stimmen gebrochen worden, die auch nach dem »Preis« der Transition fragten. Ein zentraler Aspekt der Argumentation der frühen Kritiker war der Verweis auf das Verdrängen der »historischen Erinnerung«. Der hochgelobte gesellschaftliche »Konsens« der Übergangszeit sei mit einem Verschweigen der Vergangenheit (amnesia colectiva), einer Tabuisierung der franquistischen Verbrechen, erkauft worden. In der Tat war es in Spanien weder zu einer juristischen Aufarbeitung der Diktatur noch zu einer breiten gesellschaftlichen oder politischen Diskussion über Verantwortlichkeiten in der Diktatur gekommen. An vielen Orten überlebte auch das franquistische Symbolsystem, was die Spanier viele Jahre lang daran erinnerte, dass die politische

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1  Vgl. Gregorio Marañón, El precio de la transición, ­Barcelona 1991.

Reform aus einem Pakt hervorging, der innerhalb der autoritären Institutionen ausgearbeitet worden war und schließlich zum Übergang in die Demokratie geführt hatte.2 Diesem Übergangscharakter entsprechend gingen die Streitkräfte, der juristische Apparat, die Bürokratie sowie alle anderen staatlichen Instanzen ohne jegliche Art von Säuberung von der Diktatur in den Postfranquismus über.3 VERSCHLEPPTE VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG UND DER KONSENS DER ÜBERGANGSZEIT Die Tatsache, dass es keinen klaren demokratischen Bruch mit der franquistischen Diktatur gab, hat einen Schatten auf jene Bereiche der Vergangenheit geworfen, die in der neueren Historiografie »Orte der Erinnerung« genannt werden.4 Die Transition stellte eine Art Ehrenabkommen dar, durch das die Kompensation der Franquisten für die Übergabe der Macht im Rahmen einer kollektiven Amnesie erfolgte. Beschränkte sich das offizielle Vergessen und Verdrängen zuerst auf den Bürgerkrieg, so wurde es später auf die Repression im Franquismus ausgedehnt. Wegen des konsensualen Reformcharakters der Transition mussten nach 1975 ein Bruch mit der diktatorischen Vergangenheit und eine klare Distanzierung von der franquistischen Propaganda ausbleiben; daher bestanden auch franquistische Mythen vorerst fort. Übereinstimmung wurde schnell hinsichtlich der aus der Bürgerkriegserfahrung zu ziehenden Lehren erzielt: Der Krieg wurde als kollektive Tragödie dargestellt, die sich nie wiederholen dürfe. Aus dieser Deutung ergab sich die zwingende Notwendigkeit einer Versöhnung der seit dem Bürgerkrieg gespaltenen spanischen Gesellschaft; diese Versöhnung bedeutete zugleich die »Aufarbeitung« des Kriegs und ermöglichte eine weitgehend 2  Vgl. Ramón Cotarelo (Hg.), Transición política y consolidación democrática. España (1975–1986), Madrid 1992.

friedliche Demokratisierung. Wegen der jahrzehntelang dominanten franquistischen Propaganda wurde nach 1975 erwartet, dass im demokratischen Spanien (insbesondere an den Jahrestagen des Bürgerkriegs) verstärkte Aktivitäten stattfinden würden, um

3  Vgl. Teresa M. Vilarós, El mono del desencanto, Madrid 1998.

Die Jahrestage 1976/79 fielen allerdings in die politisch aufgewühlte Transi-

4  Vgl. Pierre Nora (Leitung), Les lieux de mémoire, Paris 1984.

Energien auf die Bewältigung des Übergangs von der Diktatur in die Demo-

dem Informations- und Aufklärungsbedürfnis der Bürger nachzukommen. tionsphase – sowohl die Politik als auch die Zivilgesellschaft musste all ihre kratie konzentrieren. Als diese Gratwanderung erfolgreich abgeschlossen

5  Zum Gesamtzusammenhang vgl. Walther L. Bernecker u. Sören Brinkmann, Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und ­Gesellschaft 1936–2010, ­Nettersheim 2011.

war und seit 1982 die Sozialistische Partei unangefochten regierte, bot der Jahrestag 1986 erstmals im redemokratisierten Spanien die Gelegenheit, des Bürgerkriegsbeginns vor fünfzig Jahren ohne staatlich verordnete ideologische Vorgaben zu gedenken.5 Walther L. Bernecker  —  Spanische Erinnerungskulturen im Widerstreit

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Allerdings ließ sich das »offizielle« Spanien so gut wie nicht vernehmen. Die einzige Verlautbarung aus dem »Moncloa-Palast«6 besagte, der Bürgerkrieg sei »kein Ereignis, dessen man gedenken sollte, auch wenn er für die, die ihn erlebten und erlitten, eine entscheidende Phase in ihrem Leben darstellte«. Inzwischen sei der Krieg jedoch »endgültig Geschichte, Teil der Erinnerung und der kollektiven Erfahrung der Spanier«; er sei »nicht mehr lebendig und präsent in der Realität eines Landes, dessen moralisches Gewissen letztlich auf den Prinzipien der Freiheit und der Toleranz basiert«.7 Der Wunsch nach Aussöhnung und die Angst davor, alt-neue, nicht verheilte Wunden wieder aufzureißen, mögen die damals regierenden Sozialisten mitbewogen haben, den Jahrestag 1986 offiziell nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja, zu verdrängen und obendrein politisches Verständnis für die ehemals »andere« Seite zu zeigen. Weiter hieß es nämlich in der Moncloa-Erklärung, die Regierung wolle »die Erinnerung an all jene ehren und hochhalten, die jederzeit mit ihrer Anstrengung – und viele mit ihrem Leben – zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie in Spanien beigetragen haben«; zugleich gedenke sie »respektvoll jener, die – von anderen Positionen aus als denen des demokratischen Spanien – für eine andere Gesellschaft kämpften, für die viele auch ihr Leben opferten«. Die Regierung hoffe, dass »aus keinem Grund und keinem Anlass das Gespenst des Krieges und des Hasses jemals wieder unser Land heimsuche, unser Bewusstsein verdunkle und unsere Freiheit zerstöre. Deshalb äußert die Regierung auch ihren Wunsch, dass der 50. Jahrestag des Bürgerkriegs endgültig die Wiederversöhnung der Spanier besiegle.« Mit solchen Interpretationen griffen die bis 1996 regierenden Sozialisten auf die Erblast der Angst zurück, um ihre politische Vorsicht abzusichern, um keine radikalen Änderungen vorzunehmen, die damals möglicherweise die Stabilität des Systems gefährdet hätten.8 In den auf Francos Tod folgenden zwei Jahrzehnten legten die politischen Eliten (gleich welcher Couleur) in der Frage der Vergangenheitsaufarbeitung eine auffällige Zurückhaltung an den Tag. Bis Ende des 20. Jahrhunderts war die Amnestie, die zu Beginn der Transition (1977) verkündet worden war, mit einer politischen Amnesie verbunden, die eine umfassende gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit verhinderte.9 Kritiker sehen darin eines der größten Defizite der Transition. Als weiteren Indikator für die Imperfektion der Transition lässt sich die Behandlung der Familienangehörigen der auf republikanischer Seite im Bürgerkrieg (und danach) »Verschwundenen« anführen: Durfte nämlich die franquistische Seite unmittelbar nach dem Bürgerkrieg ihre Toten identifizieren und ehrenhaft bestatten, ist dies mit den

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

6  Der »Moncloa-Palast« ist seit 1977 Sitz des spanischen Ministerpräsidenten. 7  O. V., »Una guerra civil no es un acontecimiento conmemorable«, afirma el Gobierno, in: El País, 18.07.1986. 8  Vgl. ebd. 9  Zur Amnestie und der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Amnestiegesetze vgl. Santos Juliá (Hg.), Memoria de la guerra y del franquismo, Madrid 2006.

Republikanern bis heute nicht geschehen. Angeblich über 100.000 Repu­ blikaner warten darauf, aus anonymen Massengräbern in die Obhut der Familienangehörigen überführt zu werden. Erst im Jahr 2002, nachdem die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen eingeschaltet worden war, kam Bewegung in diese Frage; erste Leichen wurden exhumiert und umgebettet. Und erst Ende 2002 verabschiedete das spanische Parlament eine Resolution, in der die Regierung aufgefordert wurde, die Suchaktionen auch finanziell zu unterstützen und die politischen Opfer des Franquismus als solche anzuerkennen. Die damals regierende konservative Volkspartei wusste allerdings zu verhindern, dass der Putsch von 1936 ausdrücklich verurteilt wurde.10 EROSION DES GESELLSCHAFTLICHEN KONSENSES Es scheint klar zu sein, dass diese Phänomene fehlender Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den Kompromisscharakter der Transition zurückzuführen waren. Nach 1975 kam es formal zu keinem Bruch; daher konnte der Antifranquismus auch nicht zum Gründungsmythos der neuen spanischen Demokratie werden. Fast ein Vierteljahrhundert musste vergehen, bis jener gesellschaftliche »Konsens« der Übergangszeit, der einer Tabuisierung der franquistischen Verbrechen gleichgekommen war, aufgebrochen wurde. Angesichts der lange Zeit ablehnenden Haltung der konservativen Regierung von José María Aznar schritt im Herbst 2000 eine Bürgerinitiative selbst zur Tat und führte die Exhumierung der Leichname von 13 »Verschwundenen« des Bürgerkriegs durch. Das große öffentliche Echo auf diese Exhumierungen hatte die Gründung der Vereinigung zur Rückgewinnung der historischen Erinnerung (Asociación para la Recuperación de la Memoria Histórica, ARMH) sowie einiger ähnlicher Plattformen mit Internetpräsenz zur Folge. 10  Die Zahl der nach dem Krieg Ermordeten und irgendwo Verscharrten ist bis heute umstritten. Zum Streit über Zahlen vgl. Emilio Silva, Las fosas de Franco. Crónica de un desagravio, Madrid 2005; Santos Juliá (Hg.), ­Víctimas de la Guerra Civil, Madrid 2004; Rafael Torres, Víctimas de la Victoria, Madrid 2002; Julián Casanova (Hg.), Morir, matar, sobrevivir. La violencia en la dic­ tadura de Franco, Barcelona 2002.

Seither kämpft der Verein um die landesweite Aufklärung politischer Morde und Massenhinrichtungen, welche die Aufständischen während des Bürgerkrieges und danach an den Anhängern der Republik verübt haben. Angesichts der großen Zahl nicht identifizierter Toter fehlen dem Verein jedoch die für die Exhumierungen erforderlichen Mittel.11 Was den Zusammenhang zwischen öffentlicher Aufarbeitung der franquistischen Repression und Bürgerkriegshistoriografie betrifft, verdient die These von Santos Juliá Aufmerksamkeit: Er bestreitet, dass es in Spanien je einen »Pakt des Schweigens« gegeben habe; vielmehr sei im öffentlichen Diskurs die Erinnerung stets präsent gewesen. Erst die Erinnerung habe als stete

11  Vgl. die Website der ARMH, URL: http://memoriahistorica.org. es/ [eingesehen am 21.05.2019].

Mahnung den entscheidenden Impuls für die Aushandlung der Amnestien in der Frühphase der Transition gegeben und jenes »heilsame« Vergessen Walther L. Bernecker  —  Spanische Erinnerungskulturen im Widerstreit

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ermöglicht, durch das der Bürgerkrieg als Argument des politischen Wettbewerbs gebannt werden konnte. Juliá verweist auf die intellektuelle Vorgeschichte der Transition, in der sich die gemäßigten Kräfte innerhalb und außerhalb des Regimes schon lange vor dem Tod des Diktators angenähert und den späteren Versöhnungsdiskurs gewissermaßen mental vorbereitet hätten. Deutlichstes Anzeichen dafür war die allmähliche Umdeutung des Bürgerkriegs, der im unmittelbaren Nachfranquismus – von ideologischer Last und gegenseitigen Schuldzuweisungen befreit – in erster Linie als ein kollektives Unglück betrachtet wurde, für das beide Seiten gleichermaßen Verantwortung trügen. Hinter den Erinnerungsansprüchen zu Beginn des 21. Jahrhunderts stand somit, folgt man Juliá, nicht die Ablehnung eines (­ohnehin inexistenten) »Verschwiegenheitspakts«, sondern die Aufkündigung des Erinnerungskonsenses der Transition, der eine gleichmäßige Verteilung der Schuld implizierte.12 DIE SPANNUNGSREICHE AKTUALITÄT DER FRANQUISTISCHEN VERGANGENHEIT Dass die gesellschaftliche Aufarbeitung der franquistischen Repressionsvergangenheit in den letzten beiden Jahrzehnten zu einem solch unerwartet bedeutenden Thema in Spanien geworden ist, hängt damit zusammen, dass der konservative Partido Popular (PP) unter Aznar und sodann Mariano Rajoy sich von Anfang an in zeitgeschichtlichen und geschichtspolitischen Fragen als Sachwalter des franquistischen Erbes verhielt. Auf die Initiativen der Opposition, sechzig Jahre nach Kriegsende (1939–99) das Andenken der Bürgerkriegsexilanten zu ehren, reagierte die damalige Regierungspartei ablehnend und beharrte auch in der Folgezeit darauf, dass der Bürgerkrieg eine »überwundene Phase« spanischer Geschichte sei. In ihrer zweiten Amtszeit (2000–04) lehnte die Regierung Aznar über 25 parlamentarische Initiativen ähnlicher Stoßrichtung ab. Zivilgesellschaftlich führte diese Regierungshaltung allerdings zu verstärkten, von den Oppositionsparteien zumeist unterstützten Aktivitäten.13 Erst die im Frühjahr 2004 nach den islamistischen Terroranschlägen von Madrid überraschend ins Amt gekommene sozialistische Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero schlug eine neue Tonart an und beschloss die Einsetzung einer Untersuchungskommission, die Vorschläge zur »moralischen und juristischen Rehabilitierung der Repressionsopfer« erarbeiten sollte. Bald war die Rede von einem »Wiedergutmachungsgesetz«. Dieses wiederholt angekündigte und immer wieder verschobene Gesetz, das umgangssprachlich »Gesetz der historischen Erinnerung« (Ley de Memoria Histórica) genannt

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

12  Vgl. Santos Juliá, Echar al olvido. Memoria y amnestía en la transición, in: Claves de razón práctica, H. 129 (2003), S. 14–24. 13  Vgl. Gonzalo Pasamar (Hg.), Ha estallado la memoria. Las huellas de la Guerra Civil en la Transición a la Democracia, Madrid 2014.

wird, wurde schließlich nach hektischen Verhandlungen und zahlreichen Kompromissen im Oktober 2007 verabschiedet – es verurteilte explizit den Franquismus. Die Gerichtshöfe, die während des Bürgerkriegs Urteile aus politischen, ideologischen oder religiösen Gründen gefällt hatten, wurden als »illegitim« bezeichnet, ebenso die Gerichtsurteile während der Diktatur, die in diese Kategorie fielen. Die Normen, die im Franquismus unter Verletzung der Grundrechte verabschiedet worden waren, wurden für juristisch ungültig erklärt. Unmittelbare juristische oder wirtschaftliche Folgen hatte das Gesetz allerdings nicht, wenn auch die Illegitimität der Gerichtsurteile bei einer beantragten Revision oder Aufhebung derselben zu einem wichtigen Argument wurde. Der Staat verpflichtete sich, bei der Öffnung der Massengräber von Hingerichteten und der Exhumierung von Leichen zu helfen. Außerdem mussten von allen öffentlichen Gebäuden die Symbole, die das franquistische System verherrlichten, entfernt werden; dies galt auch für entsprechende Straßenbezeichnungen.14 Trotz aller nach wie vor von zivilgesellschaftlichen Organisationen geübten Kritik – vor allem an der mangelhaften Umsetzung des Gesetzes während der Regierungsperioden der Konservativen – muss betont werden, dass die Ley de Memoria Histórica im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten geradezu einen Meilenstein im offiziellen Umgang mit der jüngeren Vergangenheit bedeutete. Mehr als elf Jahre nach dem Inkrafttreten des Memoria Histórica-Gesetzes fällt die vergangenheitspolitische Bilanz allerdings alles andere als befriedigend aus – zumal die Arbeit der unterschiedlichen Gruppen und Initiativen von Behördenschikanen, politischen Erschwernissen, fehlender Richterkooperation und ausbleibenden staatlichen Mitteln sehr behindert wurde und wird. VON DER »GESCHICHTSVERGESSENHEIT« ZUR »GESCHICHTSVERSESSENHEIT« Geht es um die moralische und juristische Aufarbeitung von vergangenem staatlichen Unrechtshandeln, um Fragen der Wiedergutmachung, Entschädigung und Entschuldigung bildet Spanien gewissermaßen einen Sonderfall. Seit dem Ende des Bürgerkrieges sind inzwischen achtzig Jahre vergangen, und noch immer weigert sich die konservative Partei PP, an der Aufarbeitung der Vergangenheit mitzuwirken. Vielmehr behindert sie diese nach Kräften. Trotzdem ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Krieg und Diktatur in Spanien zu einem Signum der vergangenen zwei Jahrzehnte 14  Zum Gesamtzusammenhang vgl. Bernecker u. Brinkmann.

geworden. In den letzten Jahren ist diese Auseinandersetzung, die zwischenzeitlich etwas abgeflaut war, wieder voll aufgebrochen. 2016 etwa wurde Walther L. Bernecker  —  Spanische Erinnerungskulturen im Widerstreit

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zum ersten Mal auf gerichtliche Anordnung hin die Exhumierung der körperlichen Reste zweier Republikaner aus dem »Tal der Gefallenen« unternommen, die dort gegen den Willen ihrer Angehörigen ruhten. Ungefähr gleichzeitig begann man endlich, einigermaßen flächendeckend jenen Auftrag des Gesetzes zur Historischen Erinnerung von 2007 umzusetzen, der die Umbenennung zahlloser franquistischer Straßennamen, Denkmäler und Gedenktafeln vorsieht, soweit diese der Verherrlichung der franquistischen Diktatur dienten; jede einzelne dieser in den Kommunen zu beschließenden Umbenennungen war von heftigen Polemiken sowohl der einen wie der anderen Seite begleitet. Im Mai 2017 beschloss der Kongress – auf Initiative der Sozialistischen Partei – ohne Gegenstimmen schließlich die Exhumierung Francos aus dem »Tal der Gefallenen«; 2017 beschloss das katalanische Parlament außerdem einstimmig die Ungültigkeit sämtlicher Urteile, die während des Franquismus »aus politischen Gründen« gefällt worden waren. Das katalanische Gesetz war von größter symbolischer Bedeutung für das ganze Land, erklärte es doch sämtliche »politischen« Prozesse, die in den 36 Jahren Diktatur geführt worden waren, für ungültig – eine bis heute höchst umstrittene Entscheidung. Die neue Popularität des Erinnerns hat jedoch paradoxerweise die Aussichten auf einen Erinnerungskonsens, auf eine einmütige Verurteilung der jüngeren, von Krieg und Diktatur geprägten Vergangenheit eher erschwert. Deutlich wird dies an der Erinnerungspolitik der seit Mitte 2018 im Amt befindlichen sozialistischen Regierung von Pedro Sánchez, die Francos Gebeine aus dem (staatlich finanzierten) »Tal der Gefallenen« entfernen lassen will – eine zwar dringend erforderliche Maßnahme, die aber bis heute (Stand: Mai 2019) auf den entschiedenen Widerstand nicht nur der Familie Franco, sondern auch der Konservativen im Lande stößt. Geschichtspolitische Maßnahmen der sozialistischen Regierung wurden in einem Atemzug mit innenpolitischen Entscheidungen (etwa in der Katalonienfrage) von der noch weiter nach rechts abdriftenden Opposition (Partido Popular, Ciudadanos, Vox) heftig kritisiert, sodass sich dem kritisch beobachtenden Zeitzeugen ein Bild des politischen Spanien präsentierte, in welchem (quasi als Hinterlassenschaft des Bürgerkrieges und mit nahezu demselben Vokabular) Lagerdenken und politische Schwarz-Weiß-Malerei die Debatten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Landes beherrschen. Die Intensivierung der geschichtspolitischen Diskurse hat das Land aus einer relativen Geschichtsvergessenheit in eine neuerliche Geschichtsversessenheit geführt.15 Der eher personalistischen Frage, wo die Gebeine Francos ihre letzte Ruhestätte finden sollten, schloss sich die weitergehende Debatte

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

15  Vgl. zusammenfassend Paloma Aguilar u. Leigh Payne, El resurgir del pasado en España, Barcelona 2018.

an, was aus dem monumentalen, Franco glorifizierenden »Tal der Gefallenen« werden sollte: ein Erinnerungsort für alle, ein Museum, ein Zentrum der Wiederversöhnung? Damit verband sich als weitere Frage, welche Rolle in Zukunft die Kirche bei der Verwaltung und Ausrichtung dieses Komplexes spielen sollte, da der Benediktinerorden von Anbeginn an die Obhut über die Gesamtanlage hat. Die spanische Erfahrung mit ihrer harten innenpolitischen und innergesellschaftlichen Konfrontation hat sich als Besonderheit erwiesen, die in einer rund 35-jährigen Diktaturgeschichte perpetuiert und erst durch die Transition überwunden wurde. Zwar fand sich am Anfang der neuen spanischen Demokratie ein Grundkonsens der damaligen politischen Lager; doch zählen Kriegs- und Diktaturbewältigung in Spanien bis heute nicht zu den Selbstverständlichkeiten der politischen Kultur des Landes. Zunächst bestand in Fragen des Beschweigens der konfliktiven Vergangenheit ein überparteilicher Konsens. Inzwischen verweigert sich der Vergangenheitsarbeit – offensichtlich aus wahltaktischen und parteipolitischen Gründen – nur noch das kon16  Vgl. das aktuelle Übersichtshandbuch zu sämtlichen Aspekten der spanischen Erinnerungskulturen: Ricard Vinyes (Hg.), Diccionario de la memoria colectiva, Barcelona 2018.

servative und ultrarechte Lager – allerdings heftiger denn je. Die Erinnerungsdebatten dürften noch lange Zeit andauern, da seit Jahren polyphone Geschichtsinterpretationen im Raum stehen, die gegenwärtig um die erinnerungskulturelle Hegemonie kämpfen.16

Prof. Dr. Walther L. Bernecker, geb. 1947, ist pensionierter Professor für Neueste Geschichte an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Neuere Publikationen: »Das Franco-Regime in Spanien. Der Streit um einen chamäleonhaften Systemtypus« (Frankfurt a. M. 2016); »Spaniens ­Geschichte seit dem Bürgerkrieg« (München 2018).

Walther L. Bernecker  —  Spanische Erinnerungskulturen im Widerstreit

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NORDIRLAND UND DER BREXIT ZUR GEFAHR EINER KONFLIKTESKALATION ΞΞ Thomas Noetzel

KONFLIKTENTSTEHUNG UND KONFLIKTVERLAUF Der Blick auf zahlreiche politische und wissenschaftliche Äußerungen zum Nordirland-Konflikt offenbart immer wieder die Wahrnehmung einer sich über Jahrhunderte hinziehenden Kolonialisierung Irlands durch England bzw. des Vereinigten Königreichs von England, Schottland und Wales. Danach habe sich mit der irischen Teil-Unabhängigkeit von 1921 quasi eine erste postkoloniale Situation entwickelt. Die langanhaltende strukturelle Diskriminierung einer gälisch-katholischen Mehrheit durch eine protestantisch-britische Minderheit habe wenigstens im Süden der irischen Insel mit diesem Anglo-Irish Treaty ein Ende gefunden. Nur die durch das Vereinigte Königreich weiter beherrschten sechs nördlichen Provinzen, mit einer protestantisch-britischen Mehrheitsbevölkerung, seien darüber hinaus eine Bastion katholisch-irischer Unterdrückung geblieben. Der insbesondere durch die Irisch-Republikanische Armee (IRA) militärisch betriebene Widerstand habe, nach Jahrzehnten erbitterter Auseinandersetzung, Ende des 20. Jahrhunderts eine Teilung der politischen Macht in Nordirland bewirkt (festgelegt im sogenannten Karfreitagsabkommen von 1998). Dass sich eine solche Interpretation vor allem in irisch-nationalistischen Kreisen und Parteien durchsetzen konnte und bis heute manche Perzeption bestimmt, verwundert nicht. Die Seite der britisch-loyalistischen Protestanten Nordirlands hat geradezu klappsymmetrisch eine entsprechende Realitätswahrnehmung entwickelt. Danach sei es vor allen Dingen die Gewalttätigkeit der IRA , die in Nordirland zu einem verheerenden hybriden Bürgerkrieg geführt habe, der zwischen 1969 und 1998 ca. 3.500 Menschen das Leben kostete, eine weit höher liegende Zahl verwundete und versehrte und erhebliche volkswirtschaftliche Schäden verursachte. Somit ist auch nicht verwunderlich, dass die im Nordirland-Konflikt beteiligten gesellschaftlichen Gruppen solche wechselseitigen Kausalitätsannahmen und Schuldvorwürfe erhoben. Allerdings ist es mehr als erstaunlich, dass ebenfalls ein großer Teil der irischen, britischen und etwa auch der deutschen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Nordirland-Konflikt in ähnliche Unterscheidungslogiken verfiel.1

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1  Offensichtlich operieren politikwissenschaftliche Analysen oft als Wissenschaft in der Gesellschaft und ergreifen Partei, ohne sich dieser Parteinahme selbstkritisch bewusst zu sein. Damit wird Wissenschaft zur Konfliktpartei und ihre Analysen Teil eines politischen Kampfes. Ein Großteil der vorhandenen wissenschaftlichen Literatur zum Nordirland-Konflikt unterliegt genau diesem Problem. Als Beispiele für eine langjährige Wirkung solcher Wahrnehmungen ist das insbesondere die deutsche Nordirland-Perzeption prägende Buch von Dietrich Schulze-Marmeling, Dritte Welt in Europa. Die irische Krise, Wien 1988.

Nun ist sicherlich schwer bestreitbar, dass sich in Nordirland nach Eta­ blierung eines irischen Freistaates und schließlich einer irischen Republik im Süden der Insel im Norden ein protestantisch dominiertes politisches System entwickelte, in dem bis etwa Anfang der 1960er Jahre Katholiken vor allem hinsichtlich ihrer politischen Teilnahmerechte diskriminiert worden sind. In diesem Zusammenhang spielte etwa die gezielt gegen Katholiken gerichtete Manipulation von Wahlkreisgrenzen, die auch in katholischen Mehrheitsgebieten eine politische Mehrheit der dort wohnhaften protestantischen Minderheit garantierte, eine große Rolle. Darüber hinaus lassen sich spezifische gesellschaftliche Schieflagen beobachten, etwa die Unterrepräsentation von Katholiken im öffentlichen Dienst Nordirlands, insbesondere in der Polizei, die Ungleichheiten im Bildungswesen, in der Arbeitswelt usw. Ob hier in allen Fällen eine antikatholische Diskriminierung durch die protestantische Mehrheitsgesellschaft vorgelegen hat, muss allerdings bezweifelt werden. Beispielhaft kann hier auf die geringe Zahl von katholischen Polizeibeamten hingewiesen werden. Dass es so wenige Katholiken im Polizeidienst gegeben hat, lag vor allem daran, dass die IRA katholische Polizisten verfolgte, ihre Familien aus katholischen Wohnvierteln vertrieb oder sogar ermordete.2 Dieser Hinweis ist auch deshalb wichtig, weil er zeigt, dass der Nordirland-Konflikt letztlich bloß zu einem kleinen Teil aus der tatsächlichen oder angenommenen Diskriminierungslage der katholischen Bevölkerung deterministisch zu erklären ist, primär hingegen aus dem konkreten Verhalten der konfliktbeteiligten politischen Parteien und militärischen Verbände. Für die hier maßgebliche IRA war Nordirland Teil einer 1921 unvollendet gebliebenen nationalen Revolution. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Friedensvertrag zwischen der südirischen Regierung und der britischen Regierung gegen den Willen der IRA zustande gekommen war. Konsequenterweise folgte auf den Friedensschluss, der – wie schon oben erwähnt – die Teilung der irischen Insel in einen freistaatlichen Süden und einen beim Vereinigten Königreich verbleibenden Norden mit sich brachte, ein inneririscher Bürgerkrieg. Einer, der von beiden Seiten, also den Befürwortern eines Friedensvertrags mit der britischen Regierung und den Gegnern eines solchen Vertrags, überaus brutal 2  Vgl. Gerry Moriarty, Why are there still so few Catholics in the PSNI?, in: The Irish Times, 04.10.2018, URL: https://www. irishtimes.com/news/ireland/irishnews/why-are-there-still-so-fewcatholics-in-the-psni-1.3650559 [eingesehen am 28.04.2019].

und schließlich terroristisch geführt wurde und mit einer Niederlage der IRA endete. Letztere wurde in der Republik Irland verboten und ihre führenden Repräsentanten (etwa der spätere irische Minister- und Staatspräsident Eamon de Valera) zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die meisten Mitglieder der damaligen unversöhnlichen IRA-Führung kamen in der Republik Irland erst wieder frei und gelangten zum Teil sogar in politische Ämter, nachdem sie Thomas Noetzel  —  Nordirland und der Brexit

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die Teilung der Insel, die Etablierung eines südirischen Teilstaates und die Existenz Nordirlands als Teil des Vereinigten Königreichs akzeptiert hatten. Der irischen Regierung gelang zwar nicht, die IRA endgültig zu zerschlagen, doch wurde diese weitgehend in die politische und militärische Bedeutungslosigkeit zurückgedrängt. Zwar gab es immer wieder terroristische Untergrundaktivitäten sowohl im Süden als auch im Norden, aber insgesamt blieb die Gewaltanwendung eingehegt. Das änderte sich erst mit der Entstehung einer durch Katholiken ins Leben gerufenen nordirischen Bürgerrechtsbewegung, die Anfang der 1960er Jahre gegen die damals noch bestehenden politischen Diskriminierungen aufbegehrte. Auf deren friedliche Proteste reagierte die nordirische Regierung unverhältnismäßig gewalttätig und so entstand schließlich ein gesellschaftliches Sympathisantenumfeld, in welchem es den noch vorhandenen Kadern der alten IRA relativ rasch gelang, Unterstützung für ihr terroristisches Vorgehen gegen die nordirische Regierung und die schließlich zur Beruhigung der Situation ins Land gebrachten britischen Streitkräfte zu finden. Die durch die britisch-loyalistischen paramilitärischen Verbände ausgeübte Gewalt gegen irische Nationalisten und vermutete Anhänger der IRA verschärfte den Konflikt. Gerade der Versuch der britischen Regierung in London, den Konflikt in Nordirland militärisch zu kontrollieren, führte zum Gegenteil. Sehr schnell zeigte sich, dass eine Militarisierung der politischen Auseinandersetzung ins Desaster führte.3 Sie mündete in einer militärischen Pattsituation: Weder gelang der IRA , Irland zu vereinigen, noch konnte die nordirische Regierung oder (nach der Übernahme der Verwaltung Nordirlands durch die Londoner Zentralregierung) die britische Regierung den Konflikt beenden. Allerdings zeigte eine auf Repression und politische Reformen zielende Nordirland-Politik der britischen und irischen Regierung Wirkung, weil sie die irisch-nationalistischen und unionistisch-loyalistischen Terrorgruppen personell und strukturell schwächte. Schließlich gelang der britischen Regierung unter Tony Blair – in enger Kooperation mit der irischen Regierung – die durch den jahrzehntelangen Konflikt ausgelaugten nordirischen Konfliktparteien in einen Verhandlungsprozess zu integrieren, der 1998 mit dem Agreement reached in the multi-party negotiations (10. April 1998) (umgangssprachlich auch Good Friday Agreement genannt) endete. DAS KARFREITAGSABKOMMEN Das Karfreitagsabkommen stellte zunächst nicht mehr dar als eine Absprache zwischen den in Nordirland politisch und militärisch beteiligten Konfliktparteien. In diesem Sinne ist es ein Agreement ohne rechtliche Bindungswirkung.

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3  Die Geschehnisse des sogenannten Bloody Sunday, während der am 30. Januar 1972 in Londonderry/Derry 13 unbewaffnete Demonstranten durch das britische Militär erschossen wurden, weil sich dieses durch Heckenschützen der IRA unter Feuer genommen sah, können für die Konflikteskalation beispielhaft herangezogen werden. Die Aufarbeitung der Vorgänge hat mehrere Untersuchungskommissionen in Großbritannien und Irland beschäftigt, die zu widersprüchlichen Ergebnissen hinsichtlich einer tatsächlichen Gefährdung britischer Soldaten durch IRA-Kräfte gekommen sind. Im März 2019 gab die britische Regierung bekannt, gegen einen britischen Soldaten ein Strafverfahren wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in vier Fällen zu eröffnen. Eine Anklage gegen 16 weitere Soldaten sowie zwei IRA-Mitglieder wurde wegen mangelnder Beweise gerichtlich abgelehnt.

Einen solchen Gehalt erhielt das Karfreitagsabkommen erst durch einen ­A nnex, in welchem sich die irische und die britische Regierung zu bestimmten gesetzgeberischen Maßnahmen verpflichtet haben, die den Inhalten des Agreements einen genauen institutionellen Ausdruck verschaffen. Dazu gehört die Zusage der britischen Regierung, in Nordirland ein politisches System zu etablieren, in welchem Diskriminierungen von jeweiligen Minderheiten ausgeschlossen sind. Erreicht wird dies durch die Einführung eines strikten konkordanzdemokratischen Systems. So werden die Wahlen zum nordirischen Parlament gemäß dem auch in der Republik Irland gültigen STV-Wahlrecht ausgeführt.4 Das garantiert Minderheiten parlamentarische Repräsentation. Im Parlament selbst müssen sich alle Abgeordneten einer der beiden nordirischen Gemeinschaften (irischen Nationalisten/britischen Unionisten) zuordnen. Die nach der Wahl zu bildende nordirische Regierung muss sich paritätisch aus sämtlichen im Parlament vertretenen Parteien zusammensetzen – es sei denn, Parteien verzichten von sich aus auf eine entsprechende Regierungsbeteiligung. Durch diese nach D´Hondt vorzunehmende Kabinettsbeteiligung finden sich alle politischen Gruppen im Kabinett wieder.5 Die Wahl des nordirischen Ministerpräsidenten und seines Stellvertreters muss eine Mehrheit in beiden Gemeinschaften finden. Misslingt eine solche Konkordanzentscheidung, werden Neuwahlen angesetzt. Die Regierungs4  Single Transferable Vote. In 18 Wahlkreisen werden insgesamt neunzig Abgeordnete gewählt; aus jedem Wahlkreis gelangen also fünf Kandidatinnen und Kandidaten in das nordirische Parlament. Gewählt ist, wer ein bestimmtes Quorum erreicht. Dieses Wahlrecht begünstigt gesellschaftliche Minderheitengruppen, die gute Chancen haben, über die Quorum-Regelung Parlamentssitze zu erhalten. 5  Die alleinige politische Zuständigkeit liegt beim nordirischen Parlament und der nordirischen Regierung für die Arbeitsbereiche: Arbeit, Erziehung, Finanzen, Gesundheit, Handel, Justiz und Polizei, Kunst und Kultur, Landwirtschaft, Soziale Entwicklung, Regionales, Umwelt. Die Zuständigkeiten für Außenpolitik, Währung, Einwanderungspolitik, Asylrecht, Verteidigung und Streitkräfte verbleiben in der Zuständigkeit des britischen Parlaments.

bildung muss drei Wochen nach der Wahl abgeschlossen sein. Diese Frist hat sich in der Vergangenheit allerdings als durchaus dehnbar erwiesen. Die letzte Wahl zum nordirischen Parlament fand am 2. März 2017 statt und bis heute steht die Regierungsbildung aus. Aber nicht nur die immer noch bestehenden tiefreichenden gesellschaftlichen Trennlinien zwischen irisch-nationalistischen und unionistisch-britischen Milieus mit den entsprechenden politischen Parteibindungen machen das Funktionieren der nordirischen Konkordanzdemokratie problematisch. Hinzu kommt, dass als entscheidender Teil des Karfreitagsabkommens die grundsätzliche und endgültige Entwaffnung aller paramilitärischen Verbände nicht vollumfänglich durchgesetzt werden konnte. Insbesondere Reste der IRA , die das Karfreitagsabkommen ablehnen und sich unter Namen wie »Real IRA« oder »New IRA« neu gruppiert haben, verfügen noch immer über mi-

litärische Ausrüstungen, wie Handfeuerwaffen, automatische Gewehre und Sprengstoff. Die Real IRA verübte im August 1998 einen Bombenanschlag in der nordirischen Stadt Omagh, bei dem 29 Menschen starben und über 300 verletzt wurden. Das Sympathisantenumfeld für solche terroristischen Unternehmungen hat sich aufgrund des politischen Konsolidierungsprozesses in Nordirland drastisch verkleinert und stützt sich auf alte Seilschaften der IRA Thomas Noetzel  —  Nordirland und der Brexit

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sowie auf Familienverbände, die über Generationen hinweg immer wieder IRA-Mitglieder stellten und Leitungsfunktionen ausübten. Dazu kommen

neu rekrutierte junge – vor allem männliche – Anhänger, welche die Auseinandersetzung der 1970er Jahre nur noch aus Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern kennen. Dieser New IRA werden bis heute vier Morde, Schutzgelderpressungen, Drogenhandel und Bombenanschläge vorgeworfen – auch hat sich die Gruppe zur Erschießung einer nordirischen Journalistin an Ostern 2019 bekannt, die sie als »Kollateralschaden« bedauert.6 Gleichwohl die Etablierung eines konkordanzdemokratischen Systems nicht vollständig gelungen ist und von bewaffneten terroristischen Gruppen immer noch eine erhebliche Gefahr ausgeht, sollten die Erfolge des Karfreitagsabkommens nicht unterschätzt werden. Durch das Abkommen gelang der nordirischen Gesellschaft, eine politische Stabilisierung herbeizuführen, die Zeit und Raum für eine Normalisierung der zivilgesellschaftlichen Verhältnisse ließ. Die durch den gewalttätigen Konflikt verursachten sozioökonomischen Entwicklungsrückstände in Nordirland konnten – wenn auch bei Weitem nicht vollständig – ausgeglichen werden. Die Wohlstandsentwicklung in Nordirland, die Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungssituation, die Verringerung von Arbeitslosigkeit und die infrastrukturelle Modernisierung legen davon Zeugnis ab. Diese positive Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse nach 1998 ist ein Grund dafür, dass der Verständigungsprozess von einem Großteil der nordirischen Bevölkerung verteidigt wird. Nicht zufällig gehört zu dieser neuen Orientierung der nordirischen Gesellschaft auch eine positive Bezugnahme auf die Europäische Union, die für den Erfolg der Friedensbemühungen mitursächlich gewesen ist. In diesem Zusammenhang sind nicht nur die regionalen und strukturellen Förderprogramme von erheblicher ökonomischer und gesellschaftlicher Bedeutung. Darüber hinaus stellt auch der normative Referenzrahmen, für den die Europäische Union steht, ein Fundament der befriedenden Wirkung des Karfreitags­abkommens dar. Im Agreement hat sich die britische Regierung verpflichtet, die europäische Menschenrechtscharta zum normativen und institutionellen Orientierungspunkt zukünftiger nordirischer Gesetzgebung zu machen. Die Öffnung des britischen Rechtssystems für die die Ansprüche der europäischen Menschenrechtscharta (Human Rights Act, 1998) ist deutlich durch die EU-freundliche Politik der Regierung Blair herbeigeführt worden. Sicherlich hat die starke Betonung dieser Charta vor allem eine symbolische Funktion gegenüber der irisch-nationalistischen Bevölkerungsseite, die immer wieder vermeintliches oder tatsächliches Unrecht des nordirischen Polizeiund Justizsystems beklagt hatte. Allerdings sollte die symbolische Bedeutung

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6  Vgl. Kirsty Bosley, New IRA admits responsibility for journalist’s death in L ­ ondonderry, in: Bristol Post, 23.04.2019, URL: https://www.bristolpost. co.uk/news/uk-world-news/ new-ira-admits-responsibility-journalists-2786750 [eingesehen am 28.04.2019].

nicht unterschätzt werden, weil sich hier eine Geste der Versicherung dieses nordirischen Milieus politisch gehaltvoll manifestierte. Darüber hinaus war die Europäische Union aber auch eine Arena, in der nordirische Abgeordnete – ganz unabhängig von ihrer irischen oder britischen Grundorientierung – für die Entwicklung Nordirlands zusammenarbeiteten. In Brüssel vollzog sich also so etwas wie eine nordirisch orientierte antagonistische Kooperation der binnengesellschaftlich sich skeptisch gegenüberstehenden Lager. Dieses gemeinsame Vorgehen sollte ebenfalls in seiner Wirkung auf die Verhältnisse in Nordirland nicht unterschätzt werden. Jenseits der ideologischen Grabenkämpfe konnte sich hier eine pragmatische Interessenkooperation durchsetzen und für Nordirland selbst wirkungsvoll werden. Die Lernerfahrungen, welche die Akteure hier auf der europäischen Bühne gemacht haben, sind auch für die internen nordirischen Auseinandersetzungsprozesse nicht folgenlos geblieben, was Inhalt und Form der nordirischen Politik betrifft. DER NORDIRLAND-KONFLIKT UND DER BREXIT Bei dem im Juni 2016 abgehaltenen Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union stimmte in Nordirland eine Mehrheit für den Verbleib in der EU (55,8 Prozent votierten für den Verbleib, 44,2 Prozent für den Austritt). Die Wahl wurde analog zur Wahlkreisverteilung für die Wahlen zum britischen Unterhaus abgehalten. Von den insgesamt 18 Wahlkreisen gab es in elf Wahlkreisen eine Mehrheit für den Verbleib und in sieben Wahlkreisen eine Mehrheit für den Brexit. Die räumliche Verteilung korrespondiert mit den Wahlerfolgen irisch-nationalistischer Parteien bzw. britisch-unionistischer Parteien zu den 2017 abgehaltenen Wahlen zum nordirischen Parlament. In denjenigen Wahlkreisen, in denen die unionistischen Parteien – vor allem die Democratic Unionist Party ( DUP) – erfolgreich waren, gab es beim Brexit-Referendum eine Mehrheit für den Austritt; dort hingegen, wo Sinn Féin (SF) bei den Parlamentswahlen erfolgreich war, gab es eine Mehrheit für den Verbleib.7 Obwohl sich die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in Nordirland also für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hat, ist eine deutliche sozialräumliche Spaltung der Wahlbevölkerung festzustellen. Damit bestätigen die Wahlen 2016 und 2017, dass die Spaltung der nordirischen Gesellschaft analog zur Frage der staatsrechtlichen Zuord7  Siehe Elections 2017, URL: http://www.eoni.org.uk/Elections/ Election-results-and-statistics/ Election-results-and-statistics-2003-onwards/Elections-2017 [eingesehen am 28.04.2019].

nung nach wie vor besteht und das politische Verhalten nachhaltig bestimmt. Die Zugehörigkeit zur Europäischen Union hat diese Trennlinie als Gegenstand der innenpolitischen Auseinandersetzung in Nordirland in den Hintergrund treten lassen. Gerade mit Blick auf die Vertretung nordirischer Thomas Noetzel  —  Nordirland und der Brexit

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Interessen im Brüsseler Politikprozess war die Kooperation der Konfliktpartner notwendig. Mit dem Karfreitagsabkommen hat es dann einen – wenn auch schwerfälligen und immer noch defekten – konkordanzdemokratischen Entwicklungsweg gegeben, der diesen gemeinsamen Interessen eine entsprechende institutionelle Grundstruktur gegeben hat. Mit dem Brexit steht dieser Ordnungserfolg »antagonistischer Kooperation« (Bredow) wieder infrage. Er setzt die staatsrechtliche Zuordnung Nordirlands zur Republik im Süden oder zum Vereinigten Königreich wieder auf die Tagesordnung; und es ist eben kein Zufall, dass die terroristischen Restbestände jetzt versuchen, sich als Akteure in dieser Auseinandersetzung wieder bemerkbar zu machen. Insbesondere mit den jüngsten Gewalttaten der New IRA zeigt sich, wie gefährlich diese Orientierung an alten Konfliktthemen und Konfliktformationen für die nordirische Gesellschaft sein kann. Das Karfreitagsabkommen hatte der irisch-nationalistisch orientierten Bevölkerung des Nordens die langfristige Perspektive auf eine Volksabstimmung über die endgültige Vereinigung der Insel und einen Beitritt des Nordens zur Republik eröffnet. Die Einbettung der Republik Irland und des Vereinigten Königreichs in das politische System der Europäischen Union hat auch diese Frage einer endgültigen Volksabstimmung entschärft. Im Rahmen der gemeinsamen EU-Mitgliedschaft konnte sich schon eine gesellschaftliche Vereinigung etablieren, ohne dass es dazu größerer staatlicher Symbolisierungen bedurft hätte. Das Karfreitagsabkommen hat die nordirischen Verhältnisse so weit befriedet, dass etwa eine militärische Grenzsicherung zwischen Nordirland und der Republik im Süden zur Sicherung gegen terroristische Angriffe im Norden nicht mehr notwendig war. Folgerichtig wurden nach 1998 die Grenzsicherungsanlagen, Wachtürme, Zäune und Gräben abgebaut, grenzüberschreitende Nebenstraßen, Wege usw. wieder geöffnet. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union wird die Grenze zwischen der Republik im Süden und Nordirland jedoch zu einer Außengrenze der EU mit entsprechenden hermetischen Grenzsicherungsanlagen, die insbesondere den sogenannten kleinen Grenzverkehr sehr stark einschränken, wenn nicht sogar unmöglich machen. Damit wird die Frage der sozialräumlichen Zuordnung wieder zu einem Problem des politischen Systems, vor allem im Norden der Insel. An dieser Stelle wird deutlich, warum die Frage der offenen Grenzen für die irische Regierung aber auch für die Europäische Union ein so zentrales Thema geworden ist. Eine Idee, wie das zukünftige Grenzregime zwischen Nordirland und der Republik Irland gestaltet werden kann, ist noch nicht entwickelt worden und käme wohl einer Quadratur des Kreises gleich.

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Beide nordirischen Lager haben als Reaktion auf die Austrittsabsichten der britischen Regierung unterschiedliche Strategien entwickelt. Die irisch-nationalistischen Parteien – in dieser Frage unterstützt von der irischen Regierung – votieren für eine Volksabstimmung in Nordirland über die Wiedervereinigung der irischen Insel und den Beitritt des Nordens zur Republik. Die unionistischen Parteien – vor allem die auch im Londoner Parlament vertretene DUP – tritt hingegen für einen radikalen Trennungsschritt von der EU ein, um die alten Konfliktlinien zu aktualisieren und letztlich Nordirland wieder zu einem britischen (und nicht irischen) Politikfeld zu machen. Hier glaubt man dann, durch die Nähe zur Konservativen Partei des Vereinigten Königreichs bessere Chancen zur Durchsetzung unionistischer Interessen zu 8  Die DUP ist als Mehrheitsbeschafferin für die konservative Minderheitsregierung in Großbritannien zurzeit unersetzlich. Diese Bedeutung hat die unionistische Partei in den Brexit-Verhandlungen auf konservativer Seite auch immer wieder deutlich gemacht. Da aber auch eine eventuell nach den nächsten Unterhauswahlen an die Macht kommende Labour Party parlamentarische Unterstützung mobilisieren müsste, käme auch hier wieder die DUP infrage. Unionisten haben schon in den 1970er Jahren Minderheitsregierungen der Labour Party toleriert. Die DUP zielt mithin auf eine Rolle als Veto Player im politischen System Großbritanniens.

haben.8 Berücksichtigt man zudem, dass der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union auch für Nordirland gerade mit Blick auf den innereuropäischen Handel, den Tourismus und die Strukturförderung durch die EU zu volkswirtschaftlichen Verlusten führen wird, zeigen sich die negativen Auswirkungen des Brexits für Nordirland noch deutlicher. Auch wenn nicht zu erwarten ist, dass der Weg Nordirlands unmittelbar zu einer Wiederaufnahme bürgerkriegsähnlicher Gewalttaten führen dürfte, so wird die Gefahr eines Rückfalls in solche Prozesse der Konflikteskalation durch den Brexit doch wahrscheinlicher. Politisch motivierte Gewalt wird in Nordirland wieder stärker zu einem Gegenstand öffentlicher Diskurse werden. Feindbildkonstruktionen und polizeiliche Repression könnten wieder zunehmen. Die durch das Karfreitagsabkommen und die Mitgliedschaft in der EU erwirtschaftete Friedensdividende scheint weitgehend aufgebraucht zu sein.

Prof. Dr. Thomas Noetzel, geb. 1957, ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Philips-Universität Marburg. Von ihm stammen zahlreiche Publikationen zum politischen System Großbritanniens und Irlands.

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ABKEHR VOM PAZIFISMUS JAPANS SICHERHEITSPOLITISCHE KEHRTWENDE ΞΞ Felix Spremberg Im Dezember 2018 legte das Kabinett von Premierminister Abe Shinzô Pläne für eine massive Aufrüstung sowie ein Rekordbudget für Militärausgaben vor. Das Land, das bereits über schlagkräftige Streitkräfte verfügt, ist eigentlich durch Artikel 9 der japanischen Verfassung in seiner Militärpolitik weitgehend eingeschränkt. Dass sich Japan nun zunehmend in einen Widerspruch zu seiner pazifistischen Verfassung begibt, lässt sich zum einen sicherheitspolitisch begründen: Darunter fallen das Erstarken Chinas, Zweifel an der künftigen Verlässlichkeit des US-amerikanischen Bündnispartners sowie die Bedrohung durch die nordkoreanische Diktatur. Die Abkehr Japans vom Pazifismus ist zum anderen jedoch vor allem innenpolitischen Prozessen geschuldet. Sie vollzieht sich vor dem Hintergrund einer soziokulturell-politischen Verschiebung nach rechts seit den 1970er Jahren und in Form einer Reihe politischer »Schläge« der liberaldemokratischen Dauerregierungspartei, ­Jiyu-minshuto-, kurz LDP, gegen ihre linken und liberalen Gegenspieler, vor allem im Bildungswesen und in den Medien. Aus einem engen »sicherheitspolitischen« Blickwinkel betrachtet mag Japans Remilitarisierung rational erscheinen. Tatsächlich spricht jedoch vieles dafür, dass das ungestüme Vorgehen der konservativ-reaktionären Elite Japans zur Beseitigung des Pazifismus und zur Wiederaufrüstung von irrational-nationalistischen Emotionen geleitet ist. VERANKERUNG DES PAZIFISMUS NACH DEM KRIEG Nach Jahrzehnten des Imperialismus und Faschismus bekannte sich Japan nach dem Zweiten Weltkrieg ausdrücklich zum Pazifismus, der in Artikel 9 der neuen demokratischen Verfassung verankert wurde und vorsieht, dass »das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation [verzichtet]« und dass »keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel« unterhalten werden. Obwohl die pazifistische Verfassung von der Bevölkerung mit Begeisterung aufgenommen und in der Folge gegen Revisionspläne verteidigt wurde, zweifeln viele die Tiefe dieser pazifistischen Haltung an: Die einen behaupten, sie sei lediglich eine unreflektierte Reaktion auf die leidvolle Kriegserfahrung der Japaner selbst, wobei die Perspektive der Opfer ignoriert werde; andere wiederum sehen den in

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der Verfassung verankerten Pazifismus als oberflächliches Ergebnis US-amerikanischen Zwangs – die pazifistische Verfassung sei Japan von den US-Besatzern aufgezwungen worden. Diese Interpretationen enthalten zwar ohne Zweifel einen wahren Kern, dürfen aber nicht den Blick auf die Tatsache verstellen, dass Japan zum einen über eine eigene pazifistische Tradition verfügt, die auf durchaus einflussreiche sozialistische und christliche Strömungen der Vorkriegszeit zurückgeht.1 Und zum anderen wurde die Nachkriegsverfassung zwar tatsächlich im Wesentlichen von US-amerikanischen Beamten angefertigt; allerdings haben auch japanische Akteure an der Nachkriegsverfassung mitgearbeitet und deren Inhalt beeinflusst. Zudem ließ die japanische Regierung die Gelegenheit einer frühzeitigen Verfassungsrevision, welche die Besatzungsmacht USA der japanischen Seite einräumte, ungenutzt.2

DAS POLITISCHE FUNDAMENT DES PAZIFISMUS Tatsächlich war der Pazifismus nach dem Krieg und im Goldenen Zeitalter (Hobsbawm) unangefochten dominant, ja eines der wenigen Prinzipien, auf die sich die vor dem Hintergrund des Kalten Krieges scharf in links und rechts geteilte japanische Gesellschaft mehrheitlich einigen konnte. Zwar wurden bereits 1954 auf Druck der USA die sogenannten Selbstverteidigungsstreitkräfte etabliert, um Japan vor im Kalten Krieg eine Landesverteidigung zu ermöglichen. Unter Führung der konservativen LDP, die durch eine systematische Subventions- und Interessenpolitik zur dominanten Partei aufstieg, verzichtete Japan allerdings auf eine Rückkehr zum Militarismus und investierte bloß vergleichsweise geringe Summen in die Wiederbewaffnung. Stattdessen ordneten sich die LDP-Regierungen außenpolitisch weitgehend der US-amerikanischen Schutzmacht unter und konzentrierten sich ganz auf Handel, Diplomatie und Kultur. Innerparteiliche Widerstände gegen diese nach dem damaligen Premierminister Shigeru Yoshida benannte »Yoshida-­Doktrin« – wie sie bspw. von Kishi Nôbusuke, dem zeitweiligen Anführer der reaktionär-nationalistischen Strömung innerhalb der Partei und Großvater des heutigen Premiers Abe Shinzô, geleistet wurden – vermochten sich lediglich punktuell durchzusetzen. Dies lag auch am Widerstand der linken Opposition in Politik und Gesell1  Vgl. Nobuya Bamba u. John F. Howes, Pacifism in Japan: The Christian and Socialist Tradition, Kyoto 1978.

schaft, die sich in erster Linie aus der Sozialistischen Partei (SPJ) sowie den Gewerkschaften des öffentlichen Sektors (Sôhyô-Gewerkschaftsbund) zusammensetzte und als Kristallisationspunkt einer lebendigen Friedensbewegung diente. Dieses Bündnis konnte dauerhaft rund ein Drittel der Parlaments-

2  Vgl. Shôichi Koseki, The Birth of Japan’s Postwar Constitution, Boulder 1997, S. 3 f.

mandate für die SPJ sichern und Zehntausende für Demonstrationen mobilisieren. Die SPJ war allerdings innerlich stark zersplittert in Sozialdemokraten, Felix Spremberg  —  Abkehr vom Pazifismus

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Marxisten, Leninisten und sogar Maoisten, sodass sich die unterschiedlichen Parteiströmungen kaum auf eine gemeinsame politische Linie einigen konnten. Am meisten Übereinstimmung bestand hinsichtlich des Pazifismus, sodass man – nach Streit und Spaltung der Partei – sich wenigstens auf die »Vier Friedensprinzipien« (Friedensschluss mit allen Nationen inklusive der Sowjetunion, Neutralität, keine Errichtung von US-Militärbasen in Japan, keine Wiederbewaffnung) zu einigen vermochte. Diesen Pazifismus rückte man in den Vordergrund – auch um das Fehlen einer kohärenten gesamtpolitischen Linie zu überdecken. Zwar konnten die Sozialisten keines dieser Prinzipien durchsetzen; gemeinsam mit der kleineren Kommunistischen Partei Japans ( KPJ) wirkten diese jedoch als Korrektiv zur dominanten LDP, in der immer wieder reaktionäre Tendenzen aufkeimten. DIE LEHRER UND NIKKYÔSO Eine Sonderstellung bei der gesellschaftlichen Verankerung des Pazifismus nahmen japanischen Lehrkräfte ein, die nach dem Krieg fast vollständig in der Gewerkschaft Nikkyôso organisiert waren. Die Gewerkschaft fasste die Sicherung des jungen Friedens als ihre »historische Aufgabe« auf. Ihr Einfluss war unmittelbar nach dem Krieg besonders groß, da die US-Besatzungsbehörden das Bildungswesen dezentralisiert und das Bildungsministerium, das im Faschismus der 1930er und 1940er Jahre als Propaganda-Zentrale gedient hatte, wichtiger Funktionen beraubt hatten. Auch wenn die LDP im Laufe ihrer Regierungszeit dies schrittweise wieder rückgängig machte, blieb die Unabhängigkeit der Lehrenden teilweise

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bestehen. Zwar wurde dem Ministerium das Recht eingeräumt, alle Lehrbücher zu zensieren und auszuwählen; auch der Moralkundeunterricht – früher ein Instrument zur Vermittlung von Nationalismus und Untertanengeist – wurde 1958 wieder etabliert. Aufgrund der Stärke und Entschlossenheit von Nikkyôso drang der Einfluss des Ministeriums aber nicht vollständig in die Klassenzimmer. So unterliefen die Lehrkräfte teilweise die Vorgaben des Ministeriums und verwendeten eigene Lehrmaterialien. Bei ihrem Widerstand konnten sie sich auf das Erziehungsgrundgesetz von 1947 stützen, das die Erziehung zum Frieden als eines der höchsten Bildungsziele festlegte. Der Einfluss von Nikkyôso ging über die Klassenzimmer hinaus: Mit dem Slogan »Schickt nie wieder Kinder in den Krieg! Jugendliche, nehmt nie wieder Waffen in die Hand!« traf die Gewerkschaft insbesondere in den 1950er Jahren den Geist der Zeit. Denn die Kriege im nahen Korea und später in Vietnam führten den Japanern die Schrecken des brutalen Konfliktes vor Augen, den man im Westen – aus der Entfernung betrachtet – als »Kalten Krieg« verstand. IDEOLOGISCHE UND STRUKTURELLE EROSION DES PAZIFISMUS SEIT DEN 1960ER JAHREN Im Goldenen Zeitalter nahm der Pazifismus eine feste Stellung ein: Er war in der Verfassung und im Bildungswesens verankert und wurde von der sozialistischen Opposition, Gewerkschaften und großen Teilen der Zivilbevölkerung derart vehement eingefordert, dass auch die dominante LDP diesen Kurs im Großen und Ganzen mittrug. Und doch setzte schon damals ein schleichender Erosionsprozess ein, der das Fundament des Pazifismus schwächte und die späteren Angriffe der nationalistischen Rechten auf Verfassung und Pazifismus ideologisch wie institutionell vorbereitete. Einen Hinweis auf den ideologischen Mechanismus dieses Prozesses gibt bereits die Kapitulationserklärung durch den Tenno Hirohito (dt. »Himmlischer Herrscher« oder »Kaiser Hirohito«) im Sommer 1945. In seiner berühmten Radioansprache an die Bevölkerung hieß es: »In der Tat erklärten Wir den USA und Großbritannien nur den Krieg, um die Existenz Unseres Reiches und die Stabilität Ostasiens zu sichern, und nicht etwa aus der Absicht heraus, andere Länder unter unsere Souveränität zu zwingen oder ihr Territorium zu besetzen […]. Außerdem setzt der Feind einen neuen, grausamen Bombentyp ein, der viele unschuldige Menschen­ leben vernichtet und Schäden von unkalkulierbarem Ausmaß hervorruft. Wenn Wir unter diesen Voraussetzungen den Kampf fortsetzen, wird letztendlich nicht nur Unser Volk untergehen, sondern auch die von der menschlichen Rasse aufgebaute Zivilisation wird in sich zusammenbrechen.«3

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3  Zit. nach Gerhard Krebs, Die Kapitulation Japans und der Abwurf der Atombomben, in: Periplus 1995. Jahrbuch für Außereuropäische Geschichte, Jg. 5 (1996), S. 34–52, hier S. 51.

Hier finden sich bereits die wesentlichen Elemente des japanischen Geschichtsrevisionismus: der japanische Angriffskrieg als Akt der Selbstverteidigung, ja quasi als Wohltat für die überfallenen Nationen (»Stabilität Ostasiens«), die Vernichtung von »unschuldigen Menschenleben« durch die »grausamen« US-Amerikaner und schließlich die Beendigung des Krieges – weniger zur Abwendung der sicheren nationalen Niederlage denn als freiwilliger Akt der Verantwortung –, um die Zerstörung der Menschheit abzuwenden.4 Diese Deutung des Geschehens konnte einflussreich werden, weil Tenno Hirohito von den Besatzern im Amt belassen wurde, um für den neuen, demokratischen Staat als Integrationsfigur zu dienen. Zwar musste Hirohito seine »Göttlichkeit« widerrufen; doch auch in seiner neuen Rolle als »Symbol der nationalen Einheit« war er jeder legitimen Kritik entzogen – geschichtsrevisionistische Ansichten konnten sich fortan implizit auf den Tenno stützen, wobei dessen persönliche Verantwortung für den Krieg tabuisiert wurde. Sogar die SPJ, die sich nicht scheute, radikale Forderungen nach einer Verstaatlichung der Schlüsselindustrien zu stellen, schreckte davor zurück, die Debatte um die Kriegsschuld des Tennos anzustoßen. Selbstverständlich gab und gibt es Bemühungen zahlreicher einflussreicher linker und liberaler japanischer Intellektueller, mit dem alten System abzurechnen und die Wahrheit der japanischen Rolle im Zweiten Weltkrieg, inklusive der Kriegsverbrechen, aufzudecken. Jedoch wurde durch das Tabu der Kriegsschuld des Tenno eine offene Diskussion über die japanische Geschichte, wie sie es unmittelbar nach dem Krieg für kurze Zeit durchaus gegeben hatte, empfindlich eingeschränkt. Selbst nach dem Tod Hirohitos im Jahr 1989 blieb eine umfassende kritische Aufarbeitung der japanischen Kriegsschuld aus. Dieser Mangel an historischer »Aufarbeitung« des Faschismus begünstigte schließlich eine Fokussierung auf das Kriegsleid der Japaner selbst, wohingegen die Opfer der japanischen Invasion zunehmend aus dem Diskurs verschwanden.5 4  Vgl. Christopher Barnard, Language, Ideology, and Japanese History Textbooks, London 2003, S. 121–131. 5  Vgl. Yuan Cai, The Rise and Decline of Japanese Pacifism, in: New Voices, H. 2/2008, S. 182 ff., URL: https://newvoices. org.au/volume-2/the-rise-and-­ decline-of-japanese-pacifism [eingesehen am 15.05.2019].

DER NIEDERGANG DER LINKEN Auch das strukturell-politische Fundament des Pazifismus bekam schon früh erste Risse, denn die SPJ verlor im Laufe der 1960er und 1970er Jahre stetig an Einfluss. Während die Linke in Europa unter einem sozialdemokratischen Kurs von Erfolg zu Erfolg eilte, unterlagen in der SPJ die reformatorischen Kräfte. Stattdessen verfolgte die Partei weiter einen Staatssozialismus, der durch die Menschrechtsverletzungen und wirtschaftlichen Misserfolge der Sowjetunion und der VR China längst an Attraktivität eingebüßt hatte. Felix Spremberg  —  Abkehr vom Pazifismus

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Durch den inneren Streit gelähmt, konnten die Sozialisten immer weniger Wähler mobilisieren. Als sich die SPJ gegen Ende der 1980er Jahre schließlich reformierte, rückte sie so unvermittelt in die politische Mitte, dass sie sich von einem Großteil ihrer verbliebenen Anhänger entfremdete. Nach dem Ende des Kalten Kriegs kam es dann in den 1990er Jahren zu einem »Boom der neuen Parteien« – einer komplexen Restrukturierung der japanischen Parteienlandschaft, die eine weitere Schwächung der Linken mit sich brachte. Neue neoliberale und neokonservative Reformideologien zogen die Aufmerksamkeit auf sich, nachdem das Land durch das Platzen einer gewaltigen Spekulationsblase in eine bis heute andauernde Wirtschaftskrise geraten war. Auch heute noch gibt es ein pazifistisches und antinationalistisches Lager in Japan. Allerdings umfassen die Fraktionen der Konstitutionell-Demokratischen Partei, der KPJ und der winzigen Sozialdemokratischen Partei (der Überrest der SPJ) zusammen weniger als ein Viertel der Sitze im Unterhaus. Sie stehen einer rechten Zweidrittelmehrheit gegenüber. Nicht besser erging es den Gewerkschaften als zweiter Stütze des japanischen Pazifismus. Die Organisationsquote nahm seit den 1960er Jahren kontinuierlich ab. Betrug die Organisierungsquote der Lehrerschaft im Jahr 1958 noch 86,3 Prozent, so ist die Zahl in den letzten Jahren auf unter dreißig Prozent gesunken. NATIONALISMUS UND REMILITARISIERUNG SEIT DEN 1990ER JAHREN Diese Abschwächung des linken Korrektivs und eine durch die Wirtschaftskrise ausgelöste Krisenstimmung begünstigten in den 1990er Jahren eine Verstärkung reaktionärer sowie rechtsextremistischer Strömungen in der Politik und Kultur Japans. Zwar hatte es schon seit den 1950er Jahren eine überschaubare rechtsextremistische Subkultur gegeben; nun aber drang diese machtvoll in den (pop-)kulturellen Mainstream vor: Kriegsverherrlichende Filme wurden zu Kassenschlagern, ultranationalistische Manga, wie ­Kobayashi Yoshinoris »Über den Krieg« (Sensôron), erreichten hohe Auflagen und rechtsgerichtete Magazine wie Sapio etablierten sich auf dem Markt.6 Zudem erfuhren rechte Intellektuelle zwar keine ungeteilte Zustimmung, doch zumindest große Aufmerksamkeit: So forderte der Literaturkritiker Katô Norihiro, man müsse zuerst den drei Millionen japanischen Kriegsgefallenen gedenken, erst dann den zwanzig Millionen Kriegstoten in Asien.7 Der Mathematiker Fujiwara Masahiko versuchte in einem Bestseller, die Japaner davon zu überzeugen, dass nur derjenige, der zuerst sein eigenes Land liebe, die Menschheit lieben könne.

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6  Vgl. Matthias Pfeiffer, Die Ästhetik des Opfers: Anmerkungen zur jüngsten Patriotismusdebatte in Japan, in: David Chiavacci u. Iris Wieczorek (Hg.), Japan 2007. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, München 2007, S. 69–99. 7  Vgl. Tessa Morris-­Suzuki, Unquiet Graves: Katô Norihiro and the Politics of Mourning, in: Japanese Studies, Jg. 18 (1998), H. 1, S. 21–30.

Weiter formierten sich zu dieser Zeit geschichtsrevisionistische Gruppen mit dem Ziel, Japans Bildungssystem vom »masochistischen Geschichtsbild« der Nachkriegszeit zu befreien und den japanischen Kindern Stolz und Patriotismus zu vermitteln. Eine Sonderrolle nahm dabei die »Vereinigung zur Erstellung neuer Geschichtslehrbücher« (Tsukurukai) ein, die Mitte der 1990er Jahre eine Reihe patriotisch-beschönigender Schulbücher veröffentlichte. Nur sehr wenige lokale Schulbehörden setzten sich für die Verwendung dieser Bücher ein, obwohl einige Kommunen die Bücher angeschafft hatten. Aber allein die Tatsache, dass das Bildungsministerium diese Bücher zuließ, zeigte, wie weit sich die konservative Elite Japans bereits nach rechts orientiert hatte. Etwa zur gleichen Zeit formierte sich mit der »Japankonferenz« (Nippon kaigi) eine der LDP nahestehende rechte Lobby­organisation, welche die Shintô-Religion nach dem Muster des 19. Jahrhunderts als Staatsreligion wiederbeleben und die Verfassung reformieren wollte. Schließlich brach Premierminister Mori Yoshirô 1999 das letzte Tabu, indem er Japan als »Land der Götter mit dem Tenno im Zentrum« bezeichnete – ganz so, als sei das Land noch immer eine Monarchie mit einem Gottkaiser als Souverän.8 Während diese ultrarechten Äußerungen und Aktivitäten bei weiten Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung stießen, erhielten Forderungen, dass Japan vom strikten Pazifismus abrücken und ein »normales Land« werden solle, größeren Zuspruch. Noch 1991 hatte sich das Land am Golfkrieg lediglich finanziell beteiligt und sich dabei den Vorwurf der »Scheckbuch­diplomatie« zugezogen. Bereits kurz darauf wurden die eigentlich nur für die Landesverteidigung gegründeten Selbstverteidigungsstreitkräfte zur ihrer ersten Peace Keeping Operation (PKO) entsandt. Von entscheidender Bedeutung ist, dass sich die beiden Prozesse hin zu Nationalismus und Remilitarisierung vermengten: So führte Premier Koizumi Jun’ichirô die japanischen Streitkräfte 2003 zum ersten Mal ohne UN-Mandat in eine Auslandsmission (Aufbau- und Friedenssicherung im Irak) und etablierte gleichzeitig die umstrittene Praxis, dass führende japanische Politiker den Yasukuni-Schrein in Tokyo besuchen, in welchem neben den Kriegsgefallenen auch explizit über 1.000 Kriegsverbrechern gedacht wird. »SICH JAPAN ZURÜCKHOLEN!« – ABE SHINZÔS TRAUM 8  Vgl. Ishikawa Masumi u. Yamaguchi Jirô, Sengo Nihon seijishi [Politische Geschichte der Nachkriegszeit], Tokyo 2010, S. 202.

Etwa seit der Jahrtausendwende gilt die »Führung durch das Premierministeramt« (kantei shudô) als eines der Ideale japanischer Politik. Darunter wird verstanden, dass ein starker Premier unabhängig von Lobbyinteressen und Bürokratie eine kohärente Agenda durchsetzt. Neben dem bereits erwähnten Felix Spremberg  —  Abkehr vom Pazifismus

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Koizumi ist bislang nur Abe Shinzô diesem Ideal eines starken Premiers gerecht geworden. Abe ist ein Politiker mit zwei Gesichtern: Einerseits stellt er seine gleichermaßen ambitionierte wie gewagte Wirtschaftspolitik mit dem eingängigen Namen »Abenomics« in den Vordergrund, wobei er sich außenpolitisch moderat gibt. Andererseits ist er aber auch ein reaktionärer Ideologe.9 Dies zeigte sich bereits während seiner ersten kurzen Amtszeit 2006: Trotz drängender Probleme ließ Abe eine Reform des Erziehungsgrundgesetzes verabschieden – seitdem ist das Bildungswesen in Japan gesetzlich zum Patriotismus verpflichtet. Um eine Revision der pazifistischen Verfassung in die Wege zu leiten, ließ Abe die gesetzliche Grundlage für ein künftiges Plebiszit zur Annahme einer neuen Verfassung verabschieden. Weiter setzte er durch, dass das Verteidigungsamt zum vollwertigen Ministerium ausgebaut wurde. Diese Maßnahmen sollten eine »Befreiung vom Nachkriegsregime« ermöglichen, waren allerdings unpopulär. Abe musste daraufhin zurücktreten, obwohl dafür vor allem Skandale und weniger seine »patriotischen« Gesetzes- und Verfassungsinitiativen ausschlaggebend waren. Laute Proteste blieben jedoch aus und es wurde sichtbar, wie sehr das linke Lager Japans und Gewerkschaften wie Nikkyôso an Einfluss in der japanischen Öffentlichkeit verloren hatten. Seinen Traum von Japan als »schönem Land«, den er in einem gleichnamigen Buch darlegte, konnte Abe ab 2012 weiterverfolgen, als er erneut zum Premier gewählt wurde. Den Wahlkampf bestritt er unter dem Motto »Sich Japan zurückholen!« – womit er einen Sieg über die Demokratische Partei meinte, die seit 2009 drei Jahre regiert hatte, aber wohl auch auf seine Idee einer Überwindung des »Nachkriegsregimes« anspielte. Dieses Mal räumte Abe der Wirtschaftspolitik oberste Priorität ein; doch wie weit die LDP insgesamt nach rechts gerückt war, offenbarte die Tatsache, dass 2014 ganze 15 von 19 Ministern seines Kabinetts der »Japankonferenz« angehörten.10 Während sich die Aufmerksamkeit der Medien vor allem auf die so bezeichneten »Pfeile« von »Abenomics« richtet, kämpft das Kabinett Abe an drei Fronten gegen das pazifistische und liberale »Nachkriegsregime«: mit Angriffen auf die Freiheit der Presse, mit der Ausweitung der staatlichen Kon­ trolle des Bildungswesens und mit einer Erweiterung der militärischen Möglichkeiten Japans.

9  Vgl. Muneo Narusawa, Abe Shinzo: Japan’s New Prime Minister a Far-Right Denier of History, in: The Asia-Pacific Journal, Jg. 11 (2013), H. 1, URL: https://apjjf.org/2013/11/1/Narusawa-Muneo/3879/article.html [eingesehen am 15.05.2019].

Kritische Medienberichte passen dabei nicht in Abe Shinzôs Vorstellung eines »schönen Landes«, in welchem Nation und regierende Eliten dieselben nationalen Ziele verfolgen. Ein erster Schlag gegen die Pressefreiheit war im Jahr 2013 der Erlass des »Gesetzes zum Schutz von Staatsgeheimnissen«, das Whistleblower kriminalisiert und die Möglichkeiten des investigativen

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10  Vgl. Norihiro Kato, Tea ­Party Politics in Japan, in: The New York Times, URL: https://www. nytimes.com/2014/09/13/opinion/ tea-party-politics-in-japan.html [eingesehen am 15.05.2019].

Journalismus stark einschränkt. Weiter besetzte Abe den Aufsichtsrat der einflussreichen öffentlich-rechtlichen Senderfamilie NHK mit Freunden aus dem rechten Spektrum.11 Mittlerweile hat man sich daran gewöhnt, dass auch kritische Stimmen in den privaten Medienkonzernen auf Druck der Regierung oder reaktionärer Wirtschaftskreise zum Schweigen gebracht werden. Kuniya Hiroko, eine der renommiertesten TV-Journalistinnen des Hauptsenders NHK, wurde nach 23 Jahren entlassen. Seit einem Eigentümerwechsel ist auch die einst liberale Japan Times, eine einflussreiche englischsprachige Tageszeitung, kaum wiederzuerkennen.12 So überrascht nicht, dass Japan in der Rangliste der Pressefreiheit stark abgefallen ist: Erreichte das Land im Jahr 2010 noch den 11. Platz, liegt es mittlerweile zwischen Niger und Malawi auf Platz 67.13 Neben den Medien sind die Schulen die bedeutendste diskursive Kampfzone Japans. Um die Kinder an Tugenden und Patriotismus heranzuführen, setzt die LDP seit Beginn des Jahrtausends auf einen Ausbau des bereits erwähnten Moralkundeunterrichts. Schon im Jahr 2002 wurde eine vom Mi11  Vgl. Felix Spremberg, Rechtsruck in Japan? Am Rundfunksender NHK zeigen sich die Konflikte der japanischen Gesellschaft, in: ipg-journal, 04.08.2014, URL: http://www. ipg-journal.de/kommentar/ artikel/rechtsruck-in-japan-533/ [eingesehen am 15.05.2019].

nisterium erarbeitete Lehrbuchreihe »Notizheft des Herzens« herausgegeben und 2012 erweitert. Allerdings hatten die Lehrenden noch immer das Recht, ihren Unterricht frei zu gestalten. Aus diesem Grund verabschiedete die Regierung Abe ein Gesetz, das nicht bloß eine Verwendungspflicht für eine neue Generation von Lehrbüchern vorsah, sondern die Moralkunde zu einem regulären, benoteten Schulfach aufwertete. Welche abstrusen Auswüchse der Nationalismus im Bildungswesen mittlerweile annimmt, zeigt eine Episode

12  Vgl. David McNeill u. Justin McCurry, Reinventing the Japan Times: How Japan’s oldest English-language newspaper tacked right: Updated, in: The Asia-Pacific Journal, 01.04.2019, URL: https://apjjf.org/2019/07/ McNeill-Kingston.html [eingesehen am 15.05.2019]. 13  Vgl. URL: https://www. reporter-ohne-grenzen.de/ uploads/tx_lfnews/media/Rangliste_der_Pressefreiheit_2019.pdf [eingesehen am 15.05.2019]. 14  Vgl. o. V., Change to ethics textbook has bakeries up in arms, in: The Japan Times, 18.04.2017, URL: https://www.japantimes.co.jp/ news/2017/04/18/national/change-ethics-textbook-bakeries-arms [eingesehen am 15.05.2019].

aus dem Jahr 2012: In der Neuausgabe des Moralkundebuchs für die Grundschule war in einer Geschichte der Rubrik »Unsere Stadt, unser Land« eine Bäckerei abgebildet; die Geschichte musste aufgrund mangelnder Vaterlandsliebe jedoch geändert werden: Die Bäckerei wurde durch eine traditionelle japanische Konfiserie ersetzt.14 Als Manifestation des Nationalstolzes, der durch die Beseitigung störender Kritiker und eine Erziehung nach »korrekten japanischen« Werten herbeigeführt werden soll, gilt für Abe eine starke Armee. Zwar gelingt ihm bislang nicht, die pazifistische Verfassung zu beseitigen; da aber die traditionell wenig selbstbewussten Gerichte die Auslegung des Verfassungstextes der Regierung überlassen, war eine Neuinterpretation des Artikels 9 ein gangbarer Weg zu dessen Aufweichung. Seit der Wahl 2014 mit einer Zweidrittelmehrheit ausgestattet, ließ Abe die Verfassung per Gesetz so uminterpretieren, dass sie die kollektive Selbstverteidigung nun zulässt. Die rechtlich strikt auf die Landesverteidigung beschränkten Selbstverteidigungsstreitkräfte können dadurch in einen Krieg eintreten, sollte ein Alliierter von einer dritten Macht Felix Spremberg  —  Abkehr vom Pazifismus

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angegriffen werden. Für diesen »proaktiven Pazifismus« wurde ein Nationaler Sicherheitsrat geschaffen, der – durch das Gesetz zum Schutz von Staatsgeheimnissen geschützt – geheim tagt. Der nun vorgelegte fünfjährige Rüstungsplan sieht eine Ausgabensteigerung um 13 Prozent im Vergleich zum vorangegangenen Zeitraum vor, wobei die Rüstungsausgaben allerdings bereits seit sieben Jahren kontinuierlich ansteigen. Zusammengefasst: Durch eine mangelnde »Aufarbeitung« der faschistischen Geschichte Japans, die von der Tabuisierung der Institution des Tenno ausging, und durch die Erosion der linken Opposition ging sowohl ein ideologischer als auch ein organisatorischer Gegenentwurf zum Konservatismus der LDP verloren. Seit den 1990er Jahren verfolgen Teile der rechten Elite, wie die Vereinigung zur Erstellung neuer Geschichtslehrbücher oder die »Japankonferenz« eine reaktionäre Agenda, die den Nationalismus als ideologische Grundlage Japans reaktivieren will. Auch in der eng mit der »Japankonferenz« verflochtenen LDP hat sich mittlerweile die reaktionäre Strömung erkennbar durchgesetzt, auch wenn die Partei kein homogener Block ist. Konkrete Pläne für eine autoritäre Verfassungsrevision existieren bereits.15 Genau diese Entwicklung – das Wiederaufleben von Nationalismus und autoritären Tendenzen – macht die größere militärische Rolle, die Japan in Ostasien anstrebt, so problematisch. Noch gilt die pazifistische Verfassung, noch betragen Japans Rüstungsausgaben lediglich einen Bruchteil der chinesischen. Und die Mehrheit der japanischen Bevölkerung steht den Plänen für eine Verfassungsrevision bislang mit Abneigung oder Desinteresse gegenüber. Allerdings ist gegenwärtig eine politische oder gesellschaftliche Kraft, welche die vereinzelten Proteste gegen den Rechtskurs bündeln und das riesige Reservoir der politisch Passiven und Nichtwähler zu mobilisieren vermöchte, nicht einmal in Ansätzen zu erkennen. So wird die reaktionäre Elite Japans wohl auch in den kommenden Jahren schrittweise an der Ablösung des pazifistischen »Nachkriegsregimes« arbeiten können.

Felix Spremberg, geb. 1981, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich »Modernes Japan« am Asien-Orient-Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Interessengebiete umfassen Politik und Sozialgeschichte des modernen Japan sowie die politischen Ideologien der Moderne.

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15  Vgl. Lawrence Repeta, Japan’s Democracy at Risk – The LDP’s Most Dangerous Proposals for Constitutional Change, in: The Asia-Pacific Journal, Jg. 11 (2013), H. 28 (Nr. 3), S. 1–16.

UMGEBEN VON FEINDEN KRIEGSBEDROHUNG UND IDEOLOGIE IN DER ISRAELISCHEN GESELLSCHAFT ΞΞ Moshe Zuckermann

Gleich drei ehemalige Generalsstabschefs der israelischen Armee standen bei den jüngsten Wahlen in Israel an der Spitze des sich gegen das Lager des regierenden Premiers Benjamin Netanjahu gebildeten Parteienblocks (BlauWeiß): Benny Gantz, Moshe (Bogie) Ya’alon und Gabi Ashkenazi. Schon daraus ließ sich ersehen, dass die Rede von einem »Links-Mitte-Block«, als der Blau-Weiß von den Medien weitgehend apostrophiert wurde, hanebüchen war. Selbst wenn man die Kategorie einer sozialen Linken ignoriert – von der in der gesamten israelischen Parteienlandschaft ohnehin kaum noch die Rede sein kann –, muss man feststellen, dass sich die politischen Positionen der blau-weißen Führungsgestalten von denen des amtierenden rechten Regierungschefs kaum unterscheiden: Keiner von ihnen denkt auch nur an eine erneute Ankurbelung der Friedensgespräche mit den Palästinensern, geschweige denn an einen Rückzug aus den besetzten Gebieten und einen damit verbundenen Abbau der Siedlungen im Sinne der Zweistaatenlösung des Konflikts. Als sich Benny Gantz nach wochenlangem Schweigen zum ersten Mal öffentlich dem israelischen Wahlvolk präsentierte, fiel ihm – dem als gemäßigt und unbescholten gepriesenen Neuling in der israelischen Politszene, der den korrupten und verlogenen, einzig auf Macht- und Herrschaftserhalt bedachten Netanjahu stürzen sollte – nichts Besseres ein, als sich damit zu brüsten, im letzten Gazakrieg 1.364 Palästinenser getötet zu haben. Er verschwieg dabei, wie viele Frauen und Kinder darunter waren. Gantz wusste, was er tat bzw. was er zu tun hatte, wenn er bei der weitgehend rechten, zum Teil auch rechtsextrem ausgerichteten jüdischen Bevölkerung Israels ankommen wollte – er musste sich martialisch gebärden, mithin sein biografisch akkumuliertes militärisches Kapital ausspielen. Nicht unbedingt, weil er sich selbst so sah (es ist nicht auszuschließen, dass er in der Verwendung dieser Rhetorik der Empfehlung seiner Wahlberater folgte), sondern weil er dem als »Mister Sicherheit« zelebrierten (auch selbstbefeierten) amtierenden Premier »in diesem Bereich« Konkurrenz machen wollte. Jeder Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten in Israel muss entweder selbst eine angesehene Militärvergangenheit oder zumindest einen renommierten General an seiner

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Seite aufweisen können. Sicherheit und Sicherheitsbewusstsein sind der Lackmustest für den höchsten Rang der israelischen Politik. Wie ist das zu erklären? ARMEE UND GESELLSCHAFT IN ISRAEL Das Verhältnis der jüdisch-israelischen Gesellschaft zur israelischen Armee ist libidinös besetzt. Es drückt sich in liebender Verehrung aus, die sich zum einen verblendeter Ideologie verdankt, zum anderen aber einen unabweisbaren Realitätskern in sich birgt. Dass Wehrhaftigkeit zur nationalen Tugend schlechthin avancierte, ist historisch nachvollziehbar – manifestierte sich in ihr doch die offenkundige Raison d’Être der Errichtung einer nationalen Heimstätte für die wehrlosen, über Jahrhunderte in vielen Ländern der Welt verfolgten Juden. Nicht von ungefähr stellte sich die prägnanteste Ikone des prästaatlichen Zionismus im heroischen Bild des jungen, muskulösen Pioniers dar, der, ein Gewehr auf seiner Schulter, einen Pflug auf dem Feld betätigt. Denn der »Neue Jude« des Zionismus sollte nicht nur produktiv werden, indem er den Boden des künftigen Staates bearbeitete; er sollte diesen Boden, mithin sich selbst als dessen Bearbeiter, auch verteidigen können – eine Forderung, die sich bereits in jener prästaatlichen Phase als »Sicherheitsfrage« stellte, da der Boden, um den es ging, ja nicht unbewohnt war und die mit ideologischem Pathos beschworene Kolonisierung des Landes (hitjaschwut) mit einer Landnahme einherging, in der die Tragödie dessen, was späterhin allgemein als Nahostkonflikt apostrophiert werden sollte, wurzelte. Entsprechend bildeten sich bereits in der Ära des Yishuv (des prästaatlichen Eretz Israel) paramilitärische Organisationen und aktionistische Untergrundbewegungen, die jenen hohen Stellenwert von wehrhaftem Heroismus sowie selbstherrlicher Macht- und Gewaltgewissheit fundierten, die sich im Übergang zur staatlich institutionalisierten IDF (Israel Defence Forces) und angesichts fortwährender Kriegserfahrung in den darauffolgenden Jahrzehnten zum integralen Bestandteil der israelischen politischen Kultur und nationalen Mentalität verfestigen sollten. Der zweifellos heldenhaft bestandene Krieg von 1948, der sich unmittelbar mit der Staatsgründung als solcher verband, wie der unerwartet schnell und eindeutig errungene Sieg im 1967er Krieg taten ein Übriges, um den Mythos der siegreichen, mithin unbesiegbaren Armee zu zementieren. Vor diesem Hintergrund ließe sich nun erläutern, was es mit David Ben-­ Gurions Behauptung in den Anfangsjahren des Staates, normal werde I­ srael erst dann sein, wenn es seinen ersten jemenitischen Generalstabschef ernenne, auf sich hatte – warum er also unter allen möglichen Staatsinstitutionen (zumindest rhetorisch) ausgerechnet die Armee als ultimatives Kriterium für die nationale Integration heterogener Ethnien beschwor. Auch ließe

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sich darstellen, wie die IDF als unhinterfragbare israelische Sozialisationsinstanz fungiert – wie sie also in entscheidenden Jahren jugendlichen Heranwachsens die Schmelztiegel-Ideologie Israels praktiziert, dabei aber zugleich auch den formalen Maßstab für die Chancen bei künftiger Jobsuche und Ernennungen zu öffentlichen Ämtern stellt. Ferner könnte dargelegt werden, wie selbstverständlich die Militärkarrieren bedeutender Generäle als politisches Kapital gehandelt werden, mithin als Sprungbrett für die Besetzung hoher Positionen im zivilen Leben – wie also die Militärerfahrung von Moshe Dayan, Yitzhak Rabin, Ezer Weizmann, Ariel Sharon und vielen anderen das politische Schicksal des Landes entscheidend mitbestimmt hat. Entsprechend ließe sich des Weiteren die öffentliche Reaktion auf das Debakel des zweiten Libanonkriegs analysieren – mehr als viele Vorkommnisse im Verlauf der Kampfhandlungen, die berechtigten Anlass zur Besorgnis gaben, spiegelte besagte Reaktion primär eine unterschwellige nationale Kränkung wider angesichts des von der stärksten Armee im Nahen Osten ganz und gar nicht glänzend geführten Krieges gegen die Guerillaeinheiten der Hisbollah: Lebt man doch seit dem nicht zufällig so genannten »Sechstagekrieg« von 1967 in der permanenten Erwartung, Israels Militär werde »kurzen Prozess« machen, sobald es darauf ankomme – eine Erwartung, die, genau besehen, bei keiner der Herausforderungen, denen sich Israel seit 1967 gegenüber gestellt sah, erfüllt worden ist. Statt dieser (und noch vieler anderer) struktureller, sozialer wie sozialpsychischer Erscheinungen, die sich insgesamt als das manifestieren, was man die Mentalität des israelischen Militarismus nennen könnte, sei hier stellvertretend eine eher kleine Begebenheit reflektiert, die zwar schon mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegt, aber noch nichts von ihrer regressiven Frische und symptomatischen Validität im generellen israelischen Zusammenhang verloren hat. DAS BEISPIEL »JUBEL – DIE IDF FÜR DIE JUGEND« Anfang 1997 versammelten sich in einer bekannten halbuniversitären israelischen Institution etwa 250 Reserveoffiziere, Schulrektoren und andere Personen aus dem Erziehungsbereich. Sie kamen zur feierlichen Inauguration eines neuen, »Zahala – Zahal für die Jugend« betitelten Projekts1. Initiiert 1  »Zahal« ist das hebräische Akronym des vollen Namens der isrelischen Armee; »Zahala« bedeutet im Hebräischen Freude bzw. Jubel; der Projekttitel wäre also mit »Jubel – die IDF für die Jugend« zu übersetzen.

wurde das Projekt von Reservegeneral Ran (Peker) Ronen, einem glorreichen ehemaligen Kampfflieger und bekannten Kommandanten der israelischen Luftwaffe. Ziel des »ganz auf freiwilliger Basis« gestellten Projekts, so hieß es in der Presse, sei »die Adoption von Schülern neunter Klassen aus ganz Israel durch Reserveoffiziere vom Hauptmannsrang aufwärts, um sie Moshe Zuckermann  —  Umgeben von Feinden

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in engagierte Bürger zu verwandeln, oder anders ausgedrückt: sie für einen ›inhaltsreichen Dienst‹ in der israelischen Armee zu motivieren«. Der Projektvorschlag wurde vom damaligen Erziehungsminister Zevulun Hammer spontan angenommen. Nicht nur behauptete dieser in der Eröffnungsfeier, es handle sich um »eines der wichtigsten Ereignisse des Erziehungssystems«; auch verstieg er sich sogar dazu – zwei Tage nach einem horrenden Hubschrauberunglück, bei dem 56 Soldaten umgekommen waren –, die Initiative in den Rang eines »nationalen Projekts« zu heben. Was im Munde des Ministers zum »nationalen Projekt« avancierte, hatte drei Jahre zuvor begonnen, als Peker eine Gruppe von 14 Kindern einer Tel-Aviver Schule im Alter zwischen 14 und 15 Jahren unter seine erzieherische Obhut nahm. Seiner eigenen Aussage zufolge habe er mit den Kindern von Anbeginn »nur über Themen, die nichts mit der Schule zu tun haben, geredet: Werte, Menschenliebe, die Verbundenheit zu Israel, Zionismus, Freundschaft, unser Recht auf das Land, der Dienst in der IDF«. Das erste halbe Jahr sei hart gewesen: »Ein Pendel, von dem ich nicht wusste, wo es anhalten würde, bei ihnen oder bei mir. Zuletzt neigte es sich mir zu. Ich begann, das Herz der Kinder zu gewinnen. Wir machten Ausflüge und Exkursionen im ganzen Land, besuchten fast sämtliche Einheiten der Luftwaffe, das Merkawa-­P rojekt [Entwicklungsprojekt eines hochgerühmten israelischen Panzers], die Gedenkstätte des Militärgeheimdienstes. Wir gingen auch zu Spielen von Makkabi Tel-Aviv [einer renommierten israelischen Basketballmannschaft]«. Den Lohn für seine Mühe sah Peker so: »Aus begabten Wilden, gefangen in gegenwärtiger Vergnügungsstimmung und künftiger Desertation vom Militär, wurden Jugendliche, die allesamt zu Kampfeinheiten gehen werden, die meisten von ihnen auch zu Offizierskursen. Zwei unter ihnen befinden sich auf dem Weg zum Pilotendienst bei der Luftwaffe. Nur zwei, mit gesundheitlichen Problemen, reden nicht von Kampfeinheiten. Verhalten, Disziplin, Loyalität, Genauigkeit und Ordnung, die man bei ihnen findet, gehören zu den besten, die ich kenne; auf dem Niveau von Flugkadetten. Sie waren einsame Wölfe und sind heute eine vorbildliche Gruppe«. ERZIEHUNGSINHALTE UND MILITÄRISCHE INDOKTRINATION Es lohnt sich, die Worte des mit Erziehungsanspruch auftretenden Generals genauer unter die Lupe zu nehmen. Erstens fällt die wie selbstverständlich vorgenommene Gleichsetzung von »engagierten Bürgern« und Menschen, die zum »›inhaltsreichen Dienst‹ in der israelischen Armee« motiviert seien, ins Auge. Der hier gerade in zivilem Kontext gebrauchte Begriff des Engagements wird leichtfertig der Militärsphäre subsumiert, sodass die hohe Motivation

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bei der Verrichtung des Armeedienstes zum Kriterium guter Bürgerlichkeit gerät, die sich ihrerseits an patriotischer Hingabe bemisst. Nicht von ungefähr erachtete der staatsoffizielle Vertreter der Erziehung das »Projekt« als eines der »wichtigsten Ereignisse des Erziehungssystems«, ja entblödete sich nicht, es im Zuge der nach dem Hubschrauberunglück staatlich ausgerufenen kollektiven Trauer in den Stand eines »nationalen Projekts« zu erheben. Hingewiesen sei – zweitens – auf die »Themen«, über die der Erziehungsgeneral mit seinen Schützlingen vorzugsweise gesprochen habe: »Werte, Menschenliebe, die Verbundenheit zu Israel, Zionismus, Freundschaft, unser Recht auf das Land, der Dienst in der IDF«. Zwar werden die »Werte« in die scheinbar ermutigende Nähe universeller Begriffe wie »Menschenliebe« und »Freundschaft« gebracht, im selben Atemzug aber auch ausgesprochen partikularen Kategorien wie »Zionismus« und »Verbundenheit zu Israel« unterstellt, die sich ihrerseits herrschaftlicher Assertivität wie »unserem Recht auf das Land« oder »dem Dienst in der IDF« verschwistert wissen. Der den »Werten« vermeintlich innewohnende Humanismus entpuppt sich als Schein, der Universalismus als Ideologie. Die ideologische Indoktrination wird – drittens – durch organisierte Erlebnisse der Gruppengemeinschaft zementiert. Um »das Herz der Schüler zu gewinnen«, werden diese auf eine Route gesinnungserprobter Events geleitet, auf der sich die Matrix der erzieherischen Intention manifestiert. Die Scheinnaivität der allgemeinen Aussage »Wir machten Ausflüge und Exkursionen im ganzen Land« verfliegt, sobald man sich die Stationen der Ausflüge vor Augen führt: »fast sämtliche Einheiten der Luftwaffe, das Merkawa-Projekt, die Gedenkstätte des Militärgeheimdienstes«, aber auch die »Spiele von M ­ akkabi Tel-Aviv«. Ein Erlebnisgemisch also, das sich aus militärischer Macht, kollektiver Gedenkemotion und konsensuellem »Fun«, der aus unbestimmtem Grund gleichfalls für patriotisch erachtet wird, zusammensetzt. Das angepeilte menschliche Produkt besagter ideologischer Indoktrination wird – viertens – von Peker selbst deutlich angezeigt: Die jugendlichen »Wilden« hätten sich zum ansehnlichen Kandidatenkontingent für »Kampfeinheiten«, »Offizierskurse« oder den militärischen »Pilotendienst« gewandelt. Das der »Vergnügungsstimmung« beigemessene Ungehörige – wie selbstverständlich mit künftiger Desertation vom Militär assoziiert – ist getilgt, die Leichtlebigkeit der zu Erziehenden effizient unter Kontrolle gebracht worden. Diese zeichnen sich nunmehr durch »Verhalten, Disziplin, Loyalität, Genauigkeit und Ordnung« aus, die der erziehende General nur begeistert loben kann; nachgerade »auf dem Niveau von Flugkadetten« erscheinen sie ihm – ein Standard, den er mir nichts, dir nichts zum Maßstab gesitteter Haltung erhebt. Die hier Moshe Zuckermann  —  Umgeben von Feinden

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anvisierte Ideologie ist, so besehen, nicht einmal mehr Schein, der einen verborgenen Zweck zu decken trachtet, sondern ein offen ausgesprochenes Postulat; das Erziehungsziel, manifest geworden in der Entindividualisierung der Schüler und ihrer Verwandlung in well-adjusted people, um einen Begriff der amerikanischen funktionalistischen Soziologie um die Mitte des letzten Jahrhunderts zu verwenden, wird mit der Unbekümmertheit gängiger Werbeslogans formuliert: »Sie waren einsame Wölfe und sind heute eine vorbildliche Gruppe«. Freilich war die Individualität der Schüler, ehe sie der voluntierende Militärmann nach seiner assertiv-rigorosen Weltanschauung zu bearbeiten begann, auch nur Schein. Handelt es sich ja nicht um eine Individualität, die sich unter (wie auch immer beschränkten) freien Bedingungen, geschweige denn aus einem freien Bewusstsein herausgebildet hat. Einer der Schüler betonte zwar: »Wir sind nicht minderwertig und waren es auch nie, obwohl wir aus Yaffo stammen [einem Stadtgebiet bei Tel-Aviv, das sozial-ökonomisch als besonders problematisch gilt]«; aber im selben Zusammenhang fügte sein Freund hinzu: »Ran schärfte uns ein, wohin wir zu gehen hätten, gab uns das Gefühl, dass es das Wichtigste sei, zur Armee zu gehen, und zwar nicht nur so, sondern mit dem Ziel, wichtige Funktionen aufs Beste auszuführen – uns nicht zu vergeuden. Jetzt glauben wir auch daran«. Ein dritter aus der Gruppe bekräftigte: »Er öffnete uns den Werten des Militärs und zwischenmenschlicher Beziehungen«, während ein vierter feststellte: »Gute Menschen waren wir schon vorher, jetzt wird ein größerer Teil von uns auch gute Soldaten sein«. Die Verzahnung der Gewissheit, »gute Menschen« zu sein, und des Werts dessen, was die Schüler »zwischenmenschliche Beziehungen« nannten, mit der Aussicht »gute Soldaten« zu werden, beseelt von »Werten des Militärs«, fällt hier nicht nur im Hinblick auf die militaristische Matrix besagter Konnexion ins Auge, sondern nicht minder auch als Indiz für die strikte autoritäre Indoktrination, der sich die Schüler ausgesetzt sahen. Die im Militarismus des Ex-Offiziers wurzelnde Indoktrination schlug sich deutlich in den Erziehungsinhalten nieder, die den Kindern eingetrichtert wurden; zugleich verfestigte sie aber auch deren autoritäre Abhängigkeit von der militärischen Erziehungsperson: Durch die Verinnerlichung der autoritären »Werte« gerieten sie zu leicht formbaren Objekten der propagierten Ideologie. Nicht die individuelle Autonomie der Schüler wurde hier gefördert, nicht ihre reflektierte Ausrichtung auf die Welt, die sie umgab, geschweige denn ihre kritische Haltung gegenüber der Autorität selbst, sondern die konforme Integration Einzelner, ihre Transformation in eine »vorbildliche Gruppe«. Angestrebt wurde eine Mentalität, die sich in erster Linie durch autoritäre Abhängigkeit speiste – durch jene psychische Prädisposition, die das autonome Potential Moshe Zuckermann  —  Umgeben von Feinden

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individueller Souveränität tendenziell zerstört, um es heteronomen Zwecken patriotischer Ideologie als funktionstüchtige Energie mit umso größerem Erfolg zufließen zu lassen. DIE GESCHICHTLICHE ENTWICKLUNG UND DAS EIGENLEBEN DES ISRAELISCHEN MILITARISMUS Das will wohlverstanden sein: Der israelische Militarismus hat sich historisch nicht im luftleeren Raum gebildet; er hatte angesichts des realen Sicherheitsproblems, dem sich das Land von Anbeginn ausgesetzt sah, durchaus seinen nachvollziehbaren Wahrheitskern. Gleichwohl entwickelte er nach und nach ein Eigenleben, ließ die Sicherheit zur Ideologie, die sie garantierende Armee zum Fetisch gerinnen. Das ist nicht nur zivilgesellschaftlich gesehen äußerst bedenklich, sondern erweist sich zunehmend auch unter zweck­rationalen Gesichtspunkten – und entgegen gängiger Vorstellung – als kontraproduktiv, ja bedrohlich für Israels Zukunft. Denn wohl stimmt es, dass nur ein (militärisch) starkes Israel eine wirkungsvolle Friedenspolitik zu betreiben vermag. Zu fragen bleibt gleichwohl, ob die (als militärbesetzte Gebiete kodierte) Stärke mittlerweile nicht solchermaßen ideologisiert, die Macht der Armee nicht so fetischisiert worden ist, dass der viel beschworene, vorgeblich sehnsüchtig erwartete Frieden längst schon zur leeren Worthülse, zum zynisch-erbärmlichen Lippenbekenntnis degeneriert ist. Diese ideologische Emphase nimmt sich umso absurder aus, als die israelische Armee längst schon nicht mehr die Funktion einer Armee-im-Kriegszustand erfüllt (die Zeit der großen regionalen Kriege ist längst vorbei), sondern – als überdimensionaler Polizeiapparat – die Verwaltungsfunktion der Okkupation übernommen hat. Sie beschäftigt sich primär mit sogenannter Terrorbekämpfung und gerät im Gazastreifen periodisch in Gewaltaustausch mit der Hamas, wobei von einem symmetrischen Kräfteverhältnis nicht im geringsten die Rede sein kann; im Übrigen auch nicht von einem dezidierten Vorhaben, die Hamas niederzuringen, an deren Fortbestand als Antipoden der PLO die israelische Regierung interessiert ist. Die Gewalteskalationen mit der

Hamas münden entsprechend in disproportionale Einsätze der israelischen Luftwaffe, welche die ungeheuerlichen Verwüstungen im Gazastreifen zeitigen. Nach einigen Tagen wird beidseitige Waffenruhe beschlossen, obgleich es stets heißt, Israel verhandle nie mit der Hamas; die Hamas reklamiert den »Sieg«, der israelischen Armee (die den Bodeneinsatz von Truppen bewusst scheut) widerstanden zu haben; Israel wiederum rühmt sich, den »Terroristen« einen Denkzettel verpasst zu haben – bis zum nächsten Mal. Zu keinem Zeitpunkt wird der Kausalnexus der ökonomischen und militärischen Einschnürung

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des Gazastreifens durch Israel und der Hamas-Gewalt gegen südliche israelische Ortschaften ernsthaft erörtert. Von daraus gezogenen praktischen politischen Konsequenzen darf ohnehin keine Rede sein. Wie ist das zu verstehen? Der Holocaust im 20. Jahrhundert war der negative Höhepunkt einer sehr langen jüdischen Verfolgungsgeschichte. Schon der Ende des 19. Jahrhunderts aufkeimende politische Zionismus trachtete, dieser alten Gewalt­geschichte durch die Bildung einer nationalen jüdischen Heimstätte ein Ende zu setzen. Die zionistische Reaktion auf das diasporische Dasein der Ohnmacht gerann zum Postulat der Wehrfähigkeit, was also ex negativo entstanden war, wandelte sich im Selbstverständnis des jüdischen Nationalismus zur positiven Tugend. Das Diktum Theodor Herzls »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet« enthält bereits das ganze Paradox: Der Staat der Juden wurde im Überbau einer nicht existierenden Basis gegründet. Damit die Basis bestehe, war es notwendig, ihr Territorium zu bestimmen. Damit das Territorium das der Juden werde, musste es erobert (dabei aber auch auf seine Wahrnehmung als »Einöde« insistiert) werden. Für diese Eroberung aber war eine besiedelnde Bevölkerung nötig; so sorgte man für die Ankunft eines kolonisierenden Volkes. Erst dann konnte der Staat als formaler Rahmen jener Kolonisationsbewegung gegründet werden. Und erst nach der Gründung des Staates wurde die kritische Masse ihrer Bürgerbevölkerung importiert. Der Staat der Juden, eine Spätfolge der europäischen Nationalstaatsideologie, ist der einzige Staat der Welt, der ideell bestimmt worden war, bevor es die materielle Basis für die Verwirklichung der Idee gab; der territorial bestimmt worden war, ehe es das Kollektiv für die Besiedlung dieses Territoriums gab; der gegründet worden war, ehe die notwendige Bürgermasse für seine Existenz bestand. Ein Überbau ohne gesellschaftliche Praxis also? Nein. Denn das Bewusstsein der »Notwendigkeit« der Gründung eines Juden­ staates ist durch das soziale Sein der (europäischen) »Diaspora« bestimmt worden. Das ist der Grund für die zentrale Rolle, die das Postulat der »Diaspora-Negation« in der zionistischen Ideologie spielt. Lange bevor der Zionismus wusste, was es mit dem »Neuen Juden« auf sich hatte, wusste er, was er nicht sein sollte: Der »Neue Jude« sollte das negative Abziehbild des »diasporischen Juden« bilden. Zwischendurch ereignete sich der Holocaust. Nun war die »Notwendigkeit« objektiv geworden – und mit ihr die Legitimation Prof. Dr. Moshe ­Zuckermann, geb. 1949, ist ­Historiker und ­Soziologe. Er lehrt an der Tel Aviv University ­Geschichte und Philosophie der ­Geistes-, Gesellschafts- und Kultur­ wissenschaften.

der staatlichen Wehrhaftigkeit. Denn indem der zionistische Staat in einer feindlichen Umwelt errichtet worden war, gewann das Pro­blem der Sicherheit neue Dimensionen und gerann zum »Sicherheitspro­blem«, zur dieologie dessen, was die Realität zwar vorgab, aber eben zum verdinglichten Fetisch mutierte. Das war die Geburtsstunde des israelischen Militarismus. Moshe Zuckermann  —  Umgeben von Feinden

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NACH DEM KONFLIKT IST VOR DEM KONFLIKT? ÜBER PEACEBUILDING UND TRANSITIONAL JUSTICE ΞΞ Kristine Avram / Alexandra Engelsdorfer

»Um den Preis des eigenen Gutseins darf es eine Gegenwarts­ bewältigung nicht geben.« (Max Czollek, Desintegriert euch!1) Die deutsche Nachkriegszeit ebenso wie verschiedenste internationale Bemühungen um den Aufbau von nachhaltigem Frieden geben Aufschluss über ein Phänomen, das Max Czollek in seiner Streitschrift »Desintegriert euch!« zu Recht kritisiert: Werden Gewalt und Konflikt in der Vergangenheit verortet, so wird damit eine simplifizierende und dichotome Selbstidentifikation von heute und damals betrieben. Hinzu kommt, dass eine rigorose Trennung zwischen einer gewaltvollen Vergangenheit und einer friedvolleren Gegenwart – und schließlich einer friedvollen Zukunft – Kontinuitäten von Gewalt und Konflikt unsichtbar macht. Der Erfolg von AfD und Co. ist damit, wie Max Czollek treffsicher analysiert, weniger eine Überraschung als das Ergebnis davon, rechte Ideologien und Gewalt in der Vergangenheit zu verorten. Internationale Bemühungen um Frieden und Gerechtigkeit, die unter den Begriffen Peacebuilding (dt.: Friedenskonsolidierung) und Transitional Justice (dt.: Übergangsjustiz und Vergangenheitsaufarbeitung) zusammengefasst werden, weisen eine ähnliche Logik auf: So liegt der Auseinandersetzung mit dem Thema Transitional Justice, das sich mit dem Ende der 1990er Jahre als eigenständiges Forschungs- und Praxisfeld etabliert hat, die Annahme zugrunde, dass nur ein »klarer Bruch« mit vergangenem Unrecht den Übergang (transition) von einer Diktatur oder einem (Bürger-)Krieg in eine Demokratie und friedliche Zukunft ermögliche und dass in dieser Phase Gerechtigkeit (justice) hergestellt werden müsse, um einen nachhaltigen Frieden zu verwirklichen. Die Herstellung von Gerechtigkeit lasse sich allerdings nicht mit alltäglichen Praktiken und Instrumenten erreichen, sondern bedürfe spezifischer Maßnahmen. Auf ähnliche Weise verfolgt auch das Peacebuilding-Konzept eine klare – d. h. lineare und nach vorn gerichtete – zeitliche Orientierung an der Zukunft. Demnach werden Ziele und Maßnahmen von Peacebuilding-Interventionen nicht anhand der Vergangenheit, d. h. unter der realistischen Annahme des Fortbestehens konflikthafter Strukturen auch nach der offiziellen

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1  Max Czollek, Desintegriert euch!, München 2018.

Beendigung eines bewaffneten Konflikts, sondern an der Idealvorstellung einer zukünftig friedlichen bzw. friedvolleren Gesellschaft ausgerichtet. Entsprechende friedensbildende und gerechtigkeitsherstellende Maßnahmen der Vereinten Nationen und der anderen internationalen staatlichen und nicht-staatlichen Akteur*innen sind jedoch weniger von Erfolg gekrönt, als man zunächst hoffen mag. Unabhängig von den Fragen, ab wann eine Maßnahme eigentlich als erfolgreich gilt und wie Frieden und Gerechtigkeit überhaupt gemessen werden können, zeichnet die Realität ein eindeutiges Bild: In gut der Hälfte aller beendeten Konfliktsituationen verzeichnet man nach fünf Jahren Frieden eine erneute gewaltsame Eskalation2. Die Friedens- und Konfliktforschung hält hierfür unterschiedlichste Erklärungsansätze bereit, die von einer fehlenden Beteiligung der betroffenen Bevölkerung über die mangelhafte Koordination der Interventionsakteur*innen bis hin zu einer grundsätzlichen Kritik am Liberalismus als Grundkonsens der Missionen reichen.3 Unser Argument schließt an diese Debatten insofern an, als es sich in einer Kritik am liberalen Grundkonsens verorten lässt und die spezifische Vorstellung von Transition, die sowohl der Idee von Peacebuilding als auch der Idee von Transitional Justice zugrunde liegt, problematisiert. Diese fußt auf einer dichotomen Vorstellung der Realität, die Krieg und Konflikt auf der einen und Frieden auf der anderen Seite als sich ausschließendes Gegensatzpaar konzipiert. Während Krieg – trotz der gegenwärtig zu beobachtenden Hetero­genisierung von Kriegsstrukturen und -dynamiken sowie der beteiligten Akteur*innen – empirisch noch leichter von Frieden getrennt werden 2  Dieses als conflict trap bezeichnete Phänomen weist je nach Studie leicht variierende Zahlen auf, die aber im Mittelmaß zwischen 44 Prozent (Michael W. Doyle u. Nicholas Sambanis, Making War & Building Peace, Princeton (NJ) 2006) und über fünfzig Prozent liegen (Håvard Hegre u. a., Evaluating the Scope and Intensity of the Conflict Trap: A Dynamic Simulation Approach, in: Journal of Peace Research, Jg. 54 (2017), H. 2, S. 243–261. 3  Siehe Oliver P. Richmond, A Postliberal Peace, London 2011. 4  Vgl. Roger Mac Ginty, H ­ ybrid Peace: The Interaction Between Top-Down and Bottom-Up Peace, in: Security Dialogue, Jg. 41 (2010), H. 4, S. 391–412.

kann, ist und war die Vorstellung von Konflikt als Gegensatz zu Frieden nicht haltbar. In der Empirie zeigt sich, dass Konflikt und Frieden öfter nebeneinander existieren als zeitlich aufeinander folgen.4 Frieden ist weder ein absoluter Zustand, der durch bestimmte Schritte erreicht werden kann, noch der Natur­zustand von Gesellschaften, der durch Peacebuilding wiederhergestellt werden könnte. Entsprechend ist auch die Idee von einer Transition, also von einem Übergang von einer gewaltvollen Phase in eine friedliche Gesellschaftsform, nicht haltbar – zumal Konflikte grundlegender Bestandteil sozialer Interaktionen und sogar Motor gesellschaftlicher Veränderungen sind. FRIEDEN UND GERECHTIGKEIT ALS GLOBALES PROJEKT? Betrachtet man die Geschichte der Entwicklung von Peacebuilding und Transitional Justice zu einer sich global verbreitenden Praxis, erweisen sich beide als elastische Konzepte, die ihren Geltungsbereich und die darunter gefassten Ziele stetig erweitert haben. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird gemeinhin als Beginn von Transitional Justice betrachtet. In dieser Phase Kristine Avram / Alexandra Engelsdorfer  —  Nach dem Konflikt ist vor dem Konflikt?

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wurden mit den Nürnberger und Tokioter Tribunalen erstmalig internationale Verbrechen rechtlich geahndet und die oberste nationale Führungsriege zur Verantwortung gezogen. Dabei wurde ein retributiver – also ein im Strafrecht verankerter und somit täter*innen-orientierter – Ansatz von Gerechtigkeit (die sogenannte retributive justice) fokussiert. Mit den Übergängen von Diktaturen zu Demokratien in Lateinamerika und Osteuropa wurde in den 1980er Jahren zunehmend internationales Recht in nationale Rechtsprechungen integriert; außerdem wurden neue Mechanismen, insbesondere Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, implementiert. Kommissionen wie in Südafrika fußen auf einem Ansatz restaurativer, also wiederherstellender Gerechtigkeit, der restorative justice, und orientieren sich demnach nicht an der Bestrafung von Täter*innen, sondern an der Wahrheitsfindung und Aussöhnung zwischen Täter*innen und Opfern. Somit erhält die Perspektive der Opfer eine zentrale Stellung. Angesichts der Bürgerkriege und Völkermode in den 1990er Jahren ist das Transitional Justice-­ Konzept wieder verstärkt durch internationale Strafverfolgung geprägt, was seine Entsprechung in den vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingesetzten Tribunalen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda, den hy­ briden Gerichten in Kambodscha und Sierra Leone sowie im Internationalen Strafgerichtshof ( IStGH) in Den Haag gefunden hat. Mit dem IStGH hat sich letztlich eine institutionell gestützte Norm zur Ahndung und Aufarbeitung vergangener Verbrechen begründet, die nachfolgende Transitional Justice-Prozesse anleitet. Gleichzeitig hat sich seit den 2000er Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass Transitional Justice-Prozesse auf einem »holistischen«, also ganzheitlichen, Ansatz fußen sollen, der die Elemente der individuellen Strafverfolgung, Wahrheitsfindung, Wiedergutmachung sowie institutionellen Reform in komplementärer sowie sich gegenseitig verstärkender Weise integriert. Die »Agenda für den Frieden« aus dem Jahr 1992 bedeutete eine Zäsur in der internationalen Politiklandschaft, insbesondere in der Friedenspolitik der Vereinten Nationen. Sie gilt als Gründungsdokument der Friedenskonsolidierung (Peacebuilding) und zielt darauf ab, nach der Beendigung bewaffneter Konflikte einen nachhaltigen Frieden zu erwirken, der einen Rückfall in die Gewalt verhindern soll. Im Gegensatz zu Peacekeeping-Einsätzen, die bis zur »Agenda für den Frieden« den Schwerpunkt internationaler Friedensmissionen gebildet hatten, wurde dabei auf nicht-militärische Maßnahmen gesetzt, um Konfliktursachen zu bekämpfen. So soll in Konflikte nicht erst eingegriffen werden, wenn es abermals zu einer bewaffneten Eskalation kommt, sondern der Rückfall in die Eskalation soll präventiv verhindert

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werden. Dazu zielen die Maßnahmen nicht nur auf die Beendigung direkter Gewalt­a nwendungen, sondern auch auf die Abwesenheit struktureller Gewaltformen und sozialer Ungerechtigkeit, welche häufig Bedingung und/oder Ursache für gewaltsame Konflikte sind. Der Maßnahmenkatalog der Vereinten Nationen für die Umsetzung der Agenda besteht aus drei wesentlichen Säulen, die sicherheitspolitische (bspw. Entwaffnung und die Überwachung des Waffenstillstands), politisch-administrative (bspw. Aufbau von Verwaltung und Rechtsstaat, Durchführung von Wahlen) und sozioökonomische (bspw. wirtschaftlichen Wiederaufbau) Elemente umfassen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Konzepte Transitional Justice und Peacebuilding im Kern auf eine Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse abzielen und damit einen hohen Anspruch verfolgen, der in seiner Logik ein multidimensionales und koordiniertes Eingreifen in die Konfliktkontexte erfordert und selbiges zugleich rechtfertigt. Dabei verfolgen beide Ansätze den Gedanken von Frieden und Gerechtigkeit als lineare Prozesse, die zwar von Rückschlägen geprägt sein können, aber grundsätzlich kontextunabhängig gleich ablaufen. Dies hat den Konzepten den Vorwurf eines Toolbox-Charakters eingebracht – also eine Art Werkzeugkiste für den Frieden bzw. für Gerechtigkeit zu sein, die geschichtsvergessen unterschiedliche Instrumente für den Wiederaufbau und eine Wiedergutmachung zur Verfügung stellt. Pate für die wiederaufzubauenden Gesellschaften stehen liberale Grundideen eines funktionierenden Staates, die sich an Elementen wie Industrialisierung und Stabilisierung, Sicherheit, Statebuilding oder der Entwicklung nach westlichen Maßstäben orientieren, dabei jedoch kontextspezifische Faktoren vernachlässigen. Kritische Friedens- und Konfliktforscher*innen sehen deshalb in Transitional Justice- und Peacebuilding-Maßnahmen die Fortsetzung kolonialer Herrschaftsverhältnisse in einer postkolonialen Situation. Demnach sei die Kolonialzeit zwar offiziell beendet, globale Machtungleichheitsverhältnisse beständen jedoch fort.5 In der Tat lassen sich geografische Kontinuitäten und ein gewisser Eurozentrismus, der den Globalen Norden zum Vorbild für friedliche Gesellschaften nimmt, nicht leugnen. Wo Peacebuilding und Tran­ sitional Justice stattfinden und wer darüber entscheidet, lässt sich beinahe pass5  Siehe Susanna Campbell, David Chandler, Meera Sabaratnam (Hg.), A Liberal Peace? The Problems and Practices of Liberal Peacebuilding, London 2011; Vivienne Jabri, Peacebuilding, the Local and the International. A Colonial or a Postcolonial Rationality?, in: Peacebuilding, Jg. 1 (2013), H. 1, S. 3–16.

genau anhand einer Globaler-Norden-Globaler-Süden-Achse nachzeichnen. PEACEBUILDING UND TRANSITIONAL JUSTICE ALS GEMEINSAMES PRAXIS- UND FORSCHUNGSFELD Die erwähnte (Ziel-)Orientierung an nationalstaatlichen Strukturen ist gerade bei Peacebuilding-Maßnahmen offenkundig, da diese überwiegend auf innerstaatliche Konflikte fokussieren, wodurch erstens Konfliktursachen auf Kristine Avram / Alexandra Engelsdorfer  —  Nach dem Konflikt ist vor dem Konflikt?

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nationalstaatliche Grenzen verkürzt werden und zweitens der Aufbau eines funktionierenden Staates als Kernziel priorisiert wird. Problematisch wird diese Fokussierung nicht erst in einer globalisierten Welt, in der zahlreiche Interdependenzen einem klar abgrenzbaren und auf nationalstaatliche Grenzen reduzierten Ursache-Wirkungs-Prinzip deutlich widersprechen; vielmehr verdeutlichen sie ein grundsätzliches Problem der internationalen Beziehungen, das oft unter dem Stichwort des »methodologischen Nationalismus«6 diskutiert wird. Unter diesem Schlagwort kritisieren Wissenschaftler*innen, dass Nationalstaaten mit einem dazugehörigen Territorium als ›Normalzustand‹ politischer Ordnungsmechanismen betrachtet und in der Folge andere politische Organisationsformen als Untersuchungsgegenstand wissenschaftlicher Analysen entweder vernachlässigt oder deren Legitimität angezweifelt würde. Die Vorstellung des Nationalstaates als (erstrebenswerter) Normal­zustand folgt demnach einer eurozentrischen Wissenslogik, die Nationalstaaten zum Inbegriff und zur Bedingung der Moderne macht. Durch die Konzentration auf den Aufbau staatlicher Organe und Institutionen sowie auf die Durchsetzung internationaler Rechtsnormen haben sich zudem Legitimationsprobleme in den Interventionsgesellschaften ergeben. Zahlreiche Studien verdeutlichen, dass mit den Transitional Justice- und Peace­building-Ansätzen zunächst eine gewisse Hoffnung auf Gerechtigkeit und Frieden verbunden war, die jedoch u. a. durch die mangelnde Einbindung der lokalen Bevölkerung zutiefst enttäuscht wurde. Zumal diese Studien zeigen, dass Gerechtigkeit und Frieden multidimensionale Konzepte sind, die abhängig u. a. von dem kulturellen und politischen Kontext sowie von sozialer Positioniertheit und Religiosität in den betroffenen Bevölkerungen ganz unterschiedlich gedeutet werden. Der sogenannte local turn – also eine verstärkte Beteiligung der Bevölkerung und Orientierung an Bedürfnissen der vom Konflikt Betroffenen – sollte deshalb zu mehr Effizienz und Nachhaltigkeit der Maßnahmen führen. Dies ist nicht nur aufgrund der weitergehenden Verhaftung auf nationalstaatliche Eliten zu problematisieren, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass Gesellschaften nie als ein monolithischer Block, der alle Interessen und Bedürfnisse unter sich vereint, verstanden werden können, sondern als ein organischer Komplex, der in verschiedenste Machtund Herrschaftsstrukturen eingebettet ist. Obwohl Peacebuilding und Transitional Justice also in ihrer Logik, aber auch in der Interventionspraxis der Vereinten Nationen, aufs Engste miteinander verbunden sind, ist das Zusammenwirken der beiden Ansätze selten Forschungsgegenstand – vielmehr haben sich voneinander weitestgehend abgekoppelte Forschungsfelder entwickelt7. Warum eine engere Kooperation

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6  Nina Glick Schiller u. Andreas Wimmer, Methodological Nationalism and Beyond: Nation-State Building, Migration and the Social Sciences, in: Global Networks, Jg. 2 (2002), H. 4, S. 301–334. 7  Vgl. Catherine Baker u. Jelena Obradovic-Wochnik, Mapping the Nexus of Transitional Justice and Peacebuilding, in: Journal of Intervention and Statebuildling, Jg. 10 (2016), H. 3, S. 281–301, hier S. 282.

der beiden Konzepte sinnvoll wäre, zeigt nicht erst der Blick auf entsprechende Maßnahmenkataloge der Vereinten Nationen, welche die Parallelität der Programme offenbaren. Gemeinsamkeiten lassen sich gerade auch konzeptionell aufweisen. Zum einen werden Vergangenheitsaufarbeitung und Friedenskonsolidierung häufig nur dann als Transitional Justice- oder Peacebuilding-Praxis wahrgenommen, wenn dies unter externem bzw. internationalem Eingreifen erfolgt. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass externe Akteur*innen neutrale und objektive Positionen im Konflikt einnehmen können, die zu gerechteren Lösungen führen. Zudem neigen sowohl die Mechanismen und Prozesse der Übergangsjustiz als auch diejenigen der Friedenskonsolidierung dazu, die Frage nach wirtschaftlichem, sozialem und politischem Kapital zu ignorieren, obgleich ebenjenes bzw. die Abwesenheit desselben maßgeblich die gegenwärtige Situation von Gesellschaften nach einem Konflikt und/oder dem Ende einer Diktatur strukturiert. Auch lässt der Fokus von Transitional Justice auf Wahrheit und Gerechtigkeit häufig keinen Raum für eine ergebnisoffene Untersuchung von Bedürfnissen und Wahrnehmungen der von Konflikten betroffen Gemeinschaften. Zum anderen folgen sowohl Transitional Justice als auch Peacebuilding einer linearen Prozesslogik. Eine ganz wesentliche Problematik ist das Festhalten an der Vorstellung einer Transition von einer gewaltvollen Vergangenheit in eine friedliche Gegenwart und Zukunft durch die jeweiligen Interventionen. Damit wird das Trugbild des Zustandes eines erreichbaren und absolut gerechten Friedens aufrechterhalten und die Auseinandersetzung mit konfliktiven und gewaltvollen Kontinuitäten in der Gegenwart verhindert. Ein Beispiel aus der rumänischen Vergangenheitsaufarbeitung illustriert, was ein erzwungener Bruch mit der Vergangenheit zum Zweck der Konstruktion einer rechtsstaatlichen, gerechten und »vergangenheitsbewältigten« Gegenwart bedeuten kann: Kurz vor dem Eintritt Rumäniens in die Europäische Union verurteilte der damalige Staatspräsident Traian Baˇsescu 2006 den Kommunismus erstmalig offiziell als illegitimes und kriminelles System und unterstrich so gleichzeitig einen vermeintlichen Bruch zwischen dem alten und dem neuen, »demokratischen« System. Entsprechend rechnete er die über vier Jahrzehnte andauernde kommunistische Diktatur der Vergangenheit an, während die Gegenwart (vermeintlich) von Demokratie, freier Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit geprägt sei. Eine solch simplifizierende Trennung in »damals« und »heute« erklärt, warum der vor kurzem pensionierte Generalstaatsanwalt Augustin Lazaˇr, der in seiner Amtszeit während des kommunistischen Systems die Freilassung politischer Häftlinge Kristine Avram / Alexandra Engelsdorfer  —  Nach dem Konflikt ist vor dem Konflikt?

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maßgeblich verhindert hatte, wiederholt für sein Engagement für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ausgezeichnet wurde. Indem die kommunistischen Verbrechen und ihre strukturellen Ursachen der Vergangenheit zugerechnet werden und der »klare Bruch« zeitlich und nicht etwa personell festgemacht wird, kann eine Verantwortung für vergangene Taten bestimmter Personen abgekoppelt und letztlich in die Vergangenheit ausgelagert werden. Auf diese Weise bleibt der Blick auf strukturelle und personelle Kontinuitäten verstellt, wodurch eine umfangreiche öffentliche Aufarbeitung der vergangenen und letztlich auch gegenwärtigen Macht-, Herrschafts- sowie Gewaltstrukturen und -dynamiken in den Hintergrund rückt. Kurzum: Friedensmissionen und Transitional Justice-Maßnahmen wohnen nach wie vor ein gewisser Interventionscharakter, die Orientierung an den liberalen Grundideen eines funktionierenden Nationalstaates und eine lineare Prozesslogik inne. Insofern weisen beide Ansätze auch konzeptionelle Schieflagen auf, als insbesondere die lineare Prozesslogik – die sich an einem wie auch immer bestimmten »klaren Bruch« mit der gewaltsamen Vergangenheit orientiert – konträr zu den eigentlichen Ansprüchen und Zielen von Transitional Justice und Peacebuilding steht. Wie das Beispiel aus Rumänien gezeigt hat, trägt das Rekurrieren auf einen vermeintlichen Bruch mit der gewaltsamen Vergangenheit maßgeblich dazu bei, personelle und strukturelle Kontinuitäten fortzuschreiben, anstatt – den Konzepten Transitional Justice und Peacebuilding entsprechend – eine umfassende Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse hin zu einer gerechten und friedvollen Gesellschaft anzuregen. Dies befördert außerdem die Konstituierung eines idealisierten nationalen Selbstbildes, wie es Max Czollek für Deutschland aufgezeigt hat.

Kristine Avram ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg, wo sie auch lehrt und promoviert. Ihr aktuelles Forschungsprojekt befasst sich mit der Zuschreibung von Verantwortung für kollektive Gewalt und staatliche Repression; Rumänien dient hier als Einzelfallstudie. Ihre Forschungsinteressen umfassen Rechtssoziologie, (inter-) nationale Strafjustiz und Transitional Justice sowie narrative Ansätze und Analysen. Kürzlich war sie Mitherausgeberin des Themenheftes »Gift-giving and reciprocity in global society: Introducing Marcel Mauss in international studies« des Journal of International Political Theory.

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Alexandra Engelsdorfer ist ­Doktorandin und Lehrbeauftragte am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Univer­ sität Marburg. Ihr Dissertationsprojekt, in welchem sie zu Raumkonzeptionen im internationalen Post-Conflict-­Peacebuilding forscht, wird von der Hans-Böckler-­Stiftung gefördert. In ihrer Forschung untersucht sie mithilfe queerfeministischer und postbzw. dekolonialer Ansätze Phänomene des »Dazwischen« (»In-Between«) im Zuge post­humanistischer Globalisierungs- und Digitalisierungseffekte. Sie ist Nachwuchssprecherin der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung.

UMGANG MIT KRIEG UND KONFLIKT ANSPRUCH, STRATEGIEFÄHIGKEIT UND ÖFFENTLICHKEIT IN DER AUSSEN- UND SICHERHEITSPOLITIK ΞΞ Sarah Brockmeier / Philipp Rotmann1

Fünf Jahre ist es her, dass der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in einer Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz von seinem Land einforderte, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen. »Engagieren wir uns schon ausreichend dort«, fragte Gauck, »wo die Bundesrepublik eigens Kompetenz entwickelt hat – nämlich bei der Prävention von Konflikten?« Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier und die Verteidigungs­ 1  Der vorliegende Beitrag beruht auf dem jüngst erschienenen Buch der Autoren mit dem Titel »Krieg vor der Haustür: Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können«, Bonn 2019 sowie einem auf dem Buch basierenden Beitrag der Autoren auf Zeit Online mit dem Titel »Wofür eigentlich?«, in: Zeit Online, 15.02.2019, URL: https://www.zeit.de/politik/ ausland/2019-02/aussenpolitikdeutschland-internationale-­ verantwortung-europamuenchner-sicherheitskonferenz [eingesehen am 04.06.2019]. 2  Thomas Kleine-Brockhoff, Gegen Schwurbel-Politik, Internationale Politik Mai/Juni 2019, URL: https://zeitschrift-ip.dgap. org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/ jahrgang-2019/mai-juni-2019/ gegen-schwurbel-politik [eingesehen am 04.06.2019]. 3  Thorsten Benner, Gegen das Geschwurbel, in: Internationale Politik, März/April 2019, URL: https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-2019/maerz-april-2019/ gegen-das-geschwurbel [eingesehen am 04.06.2019].

ministerin Ursula von der Leyen schlugen in dieselbe Kerbe: Deutschland müsse sich »früher, entschiedener und substantieller« als bisher für Sicherheit und Frieden einsetzen, sowohl im eigenen Interesse als auch als Ausdruck eigener Werte und Überzeugungen. Das war Ende Januar 2014 – wenige Wochen bevor die russische Aggression in der Ukraine und der mörderische Vormarsch des »Islamischen Staates« die Schlagzeilen bestimmten, aber bereits im zweiten Jahr des blutigen Krieges in Syrien, dem Europa schon damals nur weitgehend ohnmächtig zusah. Die sogenannte Flüchtlingskrise mit ihren tektonischen Verschiebungen in den politischen Systemen der EU-Länder war die Folge. WACHSENDE LÜCKE ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT Heute, fünf Jahre später, scheint die deutsche Außenpolitik keinen Schritt weiter zu sein. Im Gegenteil: Die »Lücke zwischen hochgesteckten Ansprüchen und eigenem Handeln weitet sich langsam zur Schlucht«2. Mancher macht sogar den Begriff der »Verantwortung« dafür mitverantwortlich – er mache es Spitzenpolitikern zu leicht, »diffuse Wohligkeit inmitten weltpolitischer Turbulenzen« zu verbreiten.3 In Syrien, Libyen oder Jemen (ganz zu schweigen von geopolitischen Herausforderungen im Verhältnis zu China oder Russland) spielt Europa trotz teilweise wachsender Bemühungen einzelner Regierungen weiterhin keine Rolle, die geeignet wäre, die gemeinsamen Interessen des Kontinents oder der EU entscheidend voranzutreiben. Weniger relevant oder gefährlich sind die Kriege und Konflikte in Europas Nachbarschaft indes nicht geworden. Sie wachsen weiter und betreffen

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uns auch weiterhin direkt. Laut Weltbank und den Vereinten Nationen hat sich die Anzahl der Gewaltkonflikte zwischen 2010 und 2017 verdreifacht. 4  Vgl. Weltbank u. Vereinte Nationen, Pathways for Peace Inclusive Approaches to Preventing Violent Conflict, 2018, URL: https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/28337 [eingesehen am 04.06.2019]. 5  Eigene Berechnungen auf Grundlage des Datensatzes »Number of reported fatalities per country-year«, Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED), URL: https://www.acleddata.com, [eingesehen am 09.05.2019].

Mehr Länder sind in Konflikte verwickelt als in jedem der dreißig Jahre zuvor. Nicht zuletzt wegen des Kriegs in Syrien sind auch die Opferzahlen rasant angestiegen: von knapp 190.000 Toten weltweit zwischen 2005 und 2010 auf 565.000 Menschen im folgenden Sechsjahreszeitraum zwischen 2011 und 2016.4 Die Daten für den Zeitraum 2017–19 zeigen weiterhin über 10.000 Konflikttote pro Monat – der schreckliche Trend dauert an.5 Die EU ist weiterhin zurückhaltend. Das Kernproblem seien hier die Deutschen, so lamentiert die Mehrzahl der Experten in Berlin. Denn ohne die deutsche Blockadehaltung könnte ein französisch-deutscher Motor auch den Rest der EU auf den Weg zu kluger außenpolitischer Stärke führen, die EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker so gewitzt als »Weltpolitikfähigkeit« bezeichnet hat. Dieses Argument stützt sich vor allem auf Um-

6  Nora Müller, Den Schuss nicht gehört, in: Zeit Online, 22.01.2019, URL: https://www. zeit.de/politik/ausland/2019-01/ aussenpolitik-deutschland-­ europa-vereinte-nationeninternationale-verantwortung [eingesehen am 04.06.2019].

fragen: Nur vier von zehn Bürgerinnen und Bürgern seien für eine aktivere Rolle Deutschlands in der Welt. »Die Deutschen haben […] den Schuss nicht gehört«6, wie Nora Müller auf Zeit Online behauptet. SIND DIE BÜRGER SCHULD? Doch das Problem sind nicht die deutschen Bürger, sondern ihre Politike-

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Bernd Ulrich, Ihr langer Weg nach Trudering, in: Die Zeit, 01.06.2017, URL: https://www. zeit.de/2017/23/angela­-merkeltransatlantische-beziehungenkritik-donald-trump [eingesehen am 04.06.2019].

8  In einer Umfrage der Körber-Stiftung im Frühjahr 2014 gaben z. B. 82 Prozent der Befragten an, dass sie zur Verhinderung eines Völkermords selbst einen Militäreinsatz für gerechtfertigt halten würden. Vgl. Einmischen oder Zurückhalten? Deutsche Außenpolitik 2014, Studie von TNS Infratest im Auftrag der Körber-Stiftung, Tabellenband, Hamburg 2014. Zu Europa: EU-Kommission, »Special Eurobarometer 461 Designing Europe’s future«, April 2017, URL: http://ec.europa.eu/ commfront­office/publicopinion/ index.cfm/Survey/getSurveyDetail/instruments/ SPECIAL/surveyKy/2173 [eingesehen am 04.06.2019].

rinnen und Politiker. Denn diese bleiben seit fünf Jahren eine überzeugende Antwort darauf schuldig, was das eigentlich heißt, »mehr Verantwortung« zu tragen und »unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand zu nehmen«, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel 2017 im Truderinger Bierzelt gefordert hat.7 Wer seitdem die politische Debatte verfolgt, hat vor allem von einem Riesenstreit um die Verdoppelung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung und von Rüstungsproblemen der Bundeswehr gehört und vielleicht auch am Rande mitbekommen, dass gemeinsame europäische Militärprojekte verabredet worden sind.  Alles Militärthemen. Nun ist die Mehrheit der Deutschen eher skeptisch, was den politischen Nutzen militärischer Gewalt betrifft – aber auch darin differenzierter, als es die Debatte widerspiegelt und als viele Politiker glauben. Viele Deutsche, auch die große Mehrheit der Europäer wünschen sich eine stärkere außen-, sicherheits- und friedenspolitische Rolle Europas in der Welt.8 Deutschland und Europa sollen also nicht nur mehr Verantwortung in der Welt übernehmen, wie so viele Politiker gefordert haben, die Deutschen und die anderen Europäer sind auch bereit dazu. Eine »aktive Außenpolitik« befürworten etwa sechzig Prozent der Deutschen, und gleichzeitig wollen nur gut vierzig Prozent der Befragten, dass sich Sarah Brockmeier / Philipp Rotmann1



Umgang mit Krieg und Konflikt

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Deutschland künftig (noch) »stärker engagiert«. Das ist die Zahl, die Nora Müller und den meisten ihrer Kollegen Sorgen macht. Dabei kommt es sehr auf die Details an: Überwältigende Mehrheiten sind für mehr humanitäre Hilfe (86 Prozent), ein stärkeres Engagement bei diplomatischen Verhandlungen (85 Prozent), mehr Stärkung der Zivilgesellschaft (80 Prozent), mehr Ausbildung von Polizei- und Sicherheitskräften in Krisenländern (75 Prozent), eine knappe Mehrheit auch für »Stabilisierungseinsätze« der Bundes­ wehr (56 Prozent) – aber nur 34 Prozent sind für »Kampfeinsätze«.9 In einer anderen Umfrage halten 82 Prozent Friedensförderung für »lebensnotwendig«, siebzig Prozent fordern höhere Investitionen dafür.10 Wer also Jahr für Jahr auf die inzwischen wieder sinkenden Zustimmungsraten zu »aktiver Außenpolitik« starrt, sollte dabei die differenzierteren Befunde der Umfrageforschung nicht aus den Augen verlieren. Die Befragten können nur bewerten, was sie sehen – und sichtbar ist vor allem das Militärische. DIE DEUTSCHE MILITÄR-BLOCKADE Genau hier liegt ein weithin unterschätztes politisches Problem: Weil die deutsche Spitzenpolitik die internationale Rolle ihres Landes sowie Europas ausschließlich in Form militärischer Themen diskutiert – das einzige außenpolitische Wahlkampfthema 2017, sowohl von Seiten der Union als auch der SPD, war die Erhöhung des Verteidigungshaushalts –, verstärkt sie den Eindruck, das Gerede von »mehr Verantwortung« sei letztlich bloß ein Deckmäntelchen, um militärische Gewalt als Mittel der Außenpolitik wieder salonfähig zu machen; mit anderen Worten: um eine deutsche oder europäische strategische Kultur zu schaffen, die von der amerikanischen, britischen oder französischen strategischen Kultur nicht zu unterscheiden wäre. Damit wären die meisten Deutschen tatsächlich nicht einverstanden – ebenso wie viele Bürgerinnen und Bürger anderer EU-Staaten. Doch mit ebendieser Engführung auf militärische Mittel blockiert sich die deutsche Debatte immer wieder selbst. Denn der erste und mächtigste Reflex in der deutschen außen- und sicherheitspolitischen Debatte ist nicht die Frage nach Gefahr oder Risiko, Ziel oder Strategie, sondern die Frage nach den Mitteln: militärisch oder zivil? Brot oder Bomben? Renten oder Rüstung? Das ist nicht nur in Wahlkämpfen der Fall, sondern wiederholt sich von Krise zu Krise. Wenn die politischen Taktiker der Ministerien, Fraktionen und Parteien keine groben Fehler machen, dann bleiben Vorschläge aus, die sich mit den tatsächlichen Konflikten beschäftigen und eine deutsche Mitverantwortung für das Erreichen konkreter Ziele – wie

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9  Vgl. Körber-Stiftung 2014, Einmischen oder Zurückhalten?, Graphiken, S. 32; Körber-Stiftung, Deutsche Außenpolitik – September 2018, Studie von Kantar Public im Auftrag der Körber-Stiftung, URL: https://web.archive. org/web/20181210124734/https:// www.koerber-stiftung.de/ fileadmin/user_upload/koerber-­ stiftung/redaktion/the-berlin-­ pulse/pdf/2018/The-Berlin-Pulse2018_Table-of-Results.pdf [­eingesehen am 04.06.2019] sowie Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsbild in der Bundesrepublik Deutschland, 24.10.2017, URL: http://www.mgfa-potsdam.de/ html/einsatzunterstuetzung/ downloads/1_171220kurzberichtbevoelkerungsumfragezmsbw2017aktualisiertneu.pdf [eingesehen am 04.06.2019]. 10  Vgl. Conciliation Resources, Public support for peacebuilding, September 2017, URL: https://www.c-r.org/downloads/Public%20Support%20 for%20Peacebuilding.pdf [eingesehen am 04.06.2019].

etwa Waffenstillstand, Friedensabkommen, Schutz der Zivilbevölkerung – in den Raum stellen. Damit wird vermieden, dass über andere als zivile Mittel überhaupt gesprochen wird. Infolgedessen bleibt auch die Thematisierung einer Strategie aus. Selbst über rein zivile Strategien wird nicht gesprochen – denn schon eine kritische Diskussion über die Wirksamkeit ziviler Mittel könnte ja als Einfallstor für militärische Mittel missbraucht werden. Nach bald 75 Jahren Frieden und knapp dreißig Jahren Einheit haben wir in Deutschland einen erheblichen Nachholbedarf, Gewalt und Krieg ernst zu nehmen, zu analysieren und ebenso pragmatisch wie ehrlich zu diskutieren. Als Reaktion auf die historische Schuld Deutschlands wurden die Probleme der Welt nur allzu gern der Hoffnung auf das Völkerrecht, auf die Vereinten Nationen oder die Vereinigten Staaten von Amerika überlassen – und dann von der Seitenlinie aus kritisiert, wenn das Ergebnis unseren Ansprüchen nicht gerecht wurde. Die gebetsmühlenhaft vorgetragene Forderung nach »politischen Lösungen« als einzigem Ausweg aus Kriegen und Konflikten ist durchaus richtig – nur ist sie eben auch banal: Sie führt genauso wenig zu realistischen Lösungen wie die vorschnelle Forderung nach einem militärischen Eingreifen. Das liegt daran, dass Konfliktparteien Gewalt als ein Mittel zur Durchsetzung oder Verteidigung ihrer politischen Interessen nutzen: Sie machen Politik mit der Waffe, sie nutzen Gewalt, um das durchzusetzen oder zu bewahren, was die bestehenden politischen Regeln oder Gesetze nicht durchsetzen können. Der Kern des Problems ist also nicht der Schuss aus dem Sturmgewehr, sondern das politische Versagen, das ihn ermöglicht oder sogar erzwingt. Deshalb scheitern auch so viele Waffenstillstände, wenn die politischen Probleme hinter der Gewalt nicht gelöst werden. Insofern gibt es tatsächlich keine militärischen Lösungen; denn jeder Gewaltkonflikt ist im Kern politisch – der professionelle Einsatz von Gewalt reicht nie aus, um andere Gewalt dauerhaft zu beenden. Lösungen müssen deshalb auch politisch sein: Ihnen muss gelingen, die zugrundeliegenden politischen Konflikte in konstruktive Bahnen zu lenken, in denen sie nicht mehr über Gewalt ausgetragen werden. Erst einmal ausgebrochen, ist der Kreis von Gewalt und Gegengewalt extrem schwer zu durchbrechen. Niemand möchte der erste sein, der strategische Vorteile ungenutzt lässt oder Waffen abgibt und sich damit nicht nur verwundbar macht, sondern auch einen Anspruch auf einen Platz am Verhandlungstisch der nächsten Friedensverhandlungen zu verlieren droht. Wer ganze Volksgruppen oder Religionsgemeinschaften auslöschen will, setzt ja gerade auf die einseitige Übermacht der Gewalt. Genauso, wie es keine Sarah Brockmeier / Philipp Rotmann1



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»militärischen Lösungen« gibt, kann es deshalb auch oft keine rein zivilen Lösungen für Kriege und Gewaltkonflikte geben. Deshalb ist die Politikerformel von den »politischen Lösungen« ebenso korrekt wie banal. Sie kann lediglich der Anfang einer strategischen Diskussion sein. Wer sich mit der Leerformel der politischen Lösungen zufrieden gibt, übernimmt keine Verantwortung. Wer politische Lösungen mit zivilen Lösungen gleichsetzt oder gar gegen militärische Mittel in Stellung bringt, schlägt sich stillschweigend auf die Seite der militärisch Stärkeren und legitimiert das Zuschauen, wo möglicherweise Handeln gefordert wäre.11 Die deutsche Öffentlichkeit, das zeigen die Umfragen, ist durchaus nicht überfordert mit einer konkreten politischen Debatte über strategische Ziele, notwendige Mittel und die damit verbundenen Abwägungen. Nicht Des­ interesse, Pazifismus oder Eskapismus, sondern der Mangel an strategischer Debatte und politischer Führung ist der Grund für die zurückhaltende Zustimmung zu Leerformeln wie »aktive Außenpolitik« oder »mehr Verantwortung«.12 Es ist die Aufgabe der Spitzenpolitiker – der Kanzlerin, des Außenministers, der Parteivorsitzenden –, dem Land konkret zu erklären, wie es »sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen« kann, in den Worten von Angela Merkel. Das hat natürlich auch wichtige militärische Aspekte, doch die deutsche Bevölkerung ist zu Recht misstrauisch, wenn ihre Politiker nur über militärisches Gerät wie Schiffe, Flugzeuge oder Panzer streiten, doch kaum etwas dazu sagen, was sie damit eigentlich erreichen wollen. Es fehlen ja schon dort die konkreten Vorschläge, wo bereits überwältigende gesellschaftliche Unterstützung besteht. Zum Beispiel in der zielgerichteten Steuerung des Krisenengagements, zum Beispiel darin, früher und damit präventiver zu handeln, und zum Beispiel darin, zumindest auf deutschem und europäischem Boden die gesetzlichen Mittel gegen Kriegsverbrecher konsequent anzuwenden. DEN AUTOPILOTEN ABSCHALTEN Zielgerichtet, strategisch zu handeln würde zum Beispiel heißen, den bürokratischen Autopiloten abzuschalten: Was wollen, was können Deutschland und Europa im Irak, in Mali, in Syrien erreichen, und welche Mittel setzen wir gemeinsam mit anderen dafür ein? Darüber lohnt es sich zu diskutieren. Politiker und Experten zu konkreten, plausiblen Antworten zu drängen – und auch über andere Themen als bloß über den Einsatz des Militärs zu streiten. Wer wie Kanzlerin Merkel im August 2011 »Assad muss weg!« ruft, sollte auch erklären können, wie das gehen soll – vor allem, wenn A ­ ssad offenbar nicht gehen will und, wie viele deutsche Politiker immer wieder betonten,

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11  Mehr zur blockierten Strategiedebatte in Deutschland samt einer detaillierten Fallstudie in Brockmeier u. Rotmann, Krieg vor der Haustür, S. 31–54. 12 

So auch Müller.

ein Bundeswehreinsatz nicht zur Debatte steht.13 Das war jahrelang die Basis der Regierungspolitik im Falle Syriens, die auch in der Öffentlichkeit breite Unterstützung fand. So saß die Bundesregierung von Anfang an in der strategischen und politischen Sackgasse. Beim nächsten Konflikt sollten wir das anders machen. Will die deutsche Regierung an den meisten Schauplätzen weiterhin bloß mitschwimmen und seufzen oder ist sie bereit, den Akteuren in Berlin und Brüssel die notwendigen Mittel in die Hand zu geben, damit sie alles Menschenmögliche versuchen können, um in Afghanistan, Mali, Syrien oder im Jemen einen Weg zum Frieden zu finden? Oftmals mangelt es an Einfluss auf Warlords und Diktatoren, um schnell Frieden zu stiften – doch zumindest sollten wir keinen zusätzlichen Schaden anrichten. Beispiel Mali: Bis 2011 hat der Westen Mali als Musterland für demokratische Entwicklung behandelt. Fast zwei Jahrzehnte lang flossen zunehmend mehr Entwicklungsmillionen, obwohl die Korruption immer schlimmer und die Justiz immer schwächer wurde. Korrupte Beamte, Politiker und Offiziere aus Mail konnten die ohnehin schwachen Institutionen immer weiter aushöhlen, während die Zuständigen in Weltbank, EU-Kommission und Bundesregierung zuschauten – bis zum Crash: Kleine, mäßig ausgerüstete Rebellengruppen rollten 2011 und 2012 innerhalb weniger Monate über das Land und konnten erst in letzter Minute militärisch gestoppt werden. Heute sind im Rahmen der Stabilisierungsmission der UN mehr deutsche Soldaten in Mali stationiert als irgendwo sonst. Zusammen mit den malischen und anderen internationalen Kameraden riskieren sie dabei täglich ihr Leben.14 Bürokratische Standardabläufe und Autopiloten zu hinterfragen, für konkrete Ziele zu kämpfen, hieße auch mehr Verantwortung zu übernehmen. So wie im Jemen, wo das Auswärtige Amt begonnen hat, eine zentrale di13  Siehe o.V., Obama und Merkel fordern Assads Rücktritt, in: Der Tagesspiegel, 18.08.2011, URL: https://www. tagesspiegel.de/politik/syrienobama-und-merkel-fordernassads-ruecktritt/4512266.html [eingesehen am 04.06.2019]. 14  Für überblicksartige Fallstudien der bürokratischen Automatismen bei der Umsetzung der Entwicklungszusammenarbeit in Mali und der NATO-Mili­ tärintervention in Libyen siehe Brockmeier u. Rotmann, Krieg vor der Haustür, S. 55–78.

plomatische Rolle zu übernehmen, damit der Ende 2018 in Stockholm geschlossene Waffenstillstand überlebt und hoffentlich ein erster Schritt zu einem echten Friedensprozess sein kann. Doch dem Diplomatischen Dienst geht es kaum anders als der Bundeswehr mit ihrem Material: Nach Jahrzehnten der Kürzungen und der Stagnation fehlt die Kapazität, angefangen beim Personal. VORBEUGUNG ERNSTNEHMEN Ein zweites Beispiel ist die Krisenvorsorge. Obwohl Prävention Konsens ist, kümmern sich die europäischen Regierungen erst dann um Krisenherde, wenn es schon zu spät ist. Ob und wie schnell zum Beispiel der derzeit noch sehr einseitig regierte irakische Staat das Vertrauen aller Bevölkerungsgruppen Sarah Brockmeier / Philipp Rotmann1



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gewinnt, könnte eine entscheidende Rolle spielen für die Bewahrung der brüchigen Ordnung im Mittleren Osten – so lautet zumindest das Ergebnis einer noch unveröffentlichten Risikoanalyse des Global Public Policy Institute im Rahmen des EU-finanzierten Forschungsprojektes »EU-LISTCO«.15 Doch kaum ist der selbsternannte Islamische Staat von den Bildschirmen verschwunden, erlahmt auch schon das politische Interesse. Zentrale Fragen bleiben aus: Was ist das europäische Ziel im Irak, und was machen wir mit den Hunderten von Millionen Euro für Stabilisierung und Entwicklung dort? Welche Rolle spielt die klitzekleine deutsche militärische Ausbildungsmission dabei? Um das zu ändern, müssten sich Politik und Bürokratie Prävention stärker zutrauen – und dort früher und engagierter handeln, wo noch keine Krise ausgebrochen ist. Das ist auch eine Frage politischer und institutioneller Stellschrauben: Wessen Aufgabe unter den Tausenden von Beamten in Kanzleramt, Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungsministerium war es, sich letztes und vorletztes Jahr detaillierte Gedanken zu Krisenszenarien in Algerien oder im Sudan zu machen, lange bevor dort Anfang 2019 Proteste begannen? Wie oft haben die Kanzlerin oder der Außenminister nachgefragt? Die US-Regierung hat während Barack Obamas zweiter Amtszeit mit einer Reihe bürokratischer Experimente, wie zum Beispiel der Schaffung eines ressortübergreifenden »Präventionsrats«, gezeigt, welche Stellschrauben gedreht werden können, um früher zu planen, früher zu handeln und damit der Tendenz des ständigen Reagierens entgegenzuwirken.16 Diesem Beispiel folgend, hätten wir bessere Chancen, zukünftige Krisen und Kriege bereits in der Entstehung zu erkennen, früher Informationen zusammenzuführen, Warnzeichen ernster zu nehmen und gezielte Handlungsoptionen zu einem Zeitpunkt zu entwickeln, an dem langsamere Instrumente noch wirken und eine Militärintervention noch nicht die einzige Option ist, um innerhalb weniger Tage oder Wochen noch möglichst viele Menschenleben zu retten.17 KRIEGSVERBRECHER KONSEQUENTER VERFOLGEN Mehr Verantwortung hieße auch, in Deutschland und Europa Kriegsverbrecher konsequenter zu verfolgen und Sanktionen und Reisesperren effektiv umzusetzen. Denn es gilt zu verhindern, dass von Deutschland aus Kriegsverbrechen geplant werden – oder dass Kriegsverbrecher sich frei zum

15  Veröffentlichung voraussichtlich im September 2019 auf http://www.eu-listco.net/. 16  Vgl. Tessa Alleblas u. a., In the Shadow of Syria: Assessing the Obama Administration’s Efforts on Mass Atrocity Prevention, in: Global Public Policy Institute, URL: https://www.gppi. net/2017/05/03/in-the-shadow-ofsyria [eingesehen am 04.06.2019].

Shoppen nach Europa aufmachen können. Seit dem Syrien-Krieg gibt es hier Fortschritte, bis hin zu Gerichtsverfahren gegen Angehörige des syrischen Regimes. Doch fehlt es hier überall an Kapazitäten, vom Bundeskriminalamt

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17  Vgl. Brockmeier u. Rotmann, Krieg vor der Haustür, S. 107–138.

bis hin zu den deutschen Gerichten. Im Vergleich zu den vielen Tausend Experten, die deutschlandweit in den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten arbeiten, wären die notwendigen spezialisierten Ermittler sowie das Geld für besseren Zeugenschutz und die Ausstattung der Gerichte keine große Investition.18 SCHLUSSFOLGERUNG: STRATEGIEFÄHIGKEIT UND DIPLOMATIE Dies sind nur drei Beispiele für konkrete Wege, mehr Verantwortung zu übernehmen und sich dabei nicht mit der Diskussion über den Einsatz von Militär zu blockieren. Natürlich sind auch mehr Investitionen in militärische Fähigkeiten nötig. Doch die Bevölkerung in Deutschland erwartet zu Recht, dass sich hehre Prinzipien wie der Primat der Politik über Finanz-, Militär- oder Ausbildungsinstrumente oder der Primat der Prävention über Reaktion und Nachsorge nicht nur in wohlklingenden Kabinettsbeschlüssen mit Titeln wie »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern«19 finden lassen, sondern auch darin widerspiegeln, über welche außenpolitischen Themen ihre Spitzenpolitiker sprechen und welche konkreten Vorschläge sie dabei machen. Die Kanzlerin und alle ihre Außenminister – Steinmeier, Westerwelle, Gabriel und Maas – haben vollmundigen Versprechen zum Trotz zu wenig dazu beigetragen, solche konkreten Wege zu mehr Verantwortung anzugehen, die Strategiefähigkeit der Bundesregierung beim Umgang mit Kriegen und Konflikten so zu entwickeln, wie es den von ihnen selbst formulierten Ambitionen entsprochen hätte. Zwar wurden Papiere geschrieben und Projektmittel um Milliarden Euro aufgestockt, doch die zentrale Ressource sind Menschen, und in den entscheidenden Funktionen – den politischen Abteilungen der Botschaften, den Länderreferaten im Auswärtigen Amt und im Kanzleramt, um nur einige Stellen herauszugreifen – fehlen Menschen, die den Wandel von reaktiver zu strategischer Politik vollziehen würden. In Deutschland, anders als in Frankreich oder den USA , ist die Schnitt18 

Vgl. ebd., S. 165–194.

19  Auswärtiges Amt: Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern. Leitlinien der Bundesregierung, Kabinettsbe­ schluss vom 14. Juni 2017, URL: https://www.auswaertiges-amt.de/ blob/283636/d98437ca3ba49c0ec6a461570f56211f/leitlinien-krisen­ praevention-konfliktbewaeltigungfriedensfoerderung-dl-data.pdf [eingesehen am 04.06.2019].

stellenfunktion der Diplomatie zugeordnet: nicht Militärs, sondern Diplomaten bilden das Rückgrat der außen- und sicherheitspolitischen Abteilung im Kanzleramt und der zunehmend interdisziplinär gemischten Stäbe und Referate im Auswärtigen Amt sowie in den Botschaften. Die systematische Verkleinerung des Auswärtigen Dienstes in den 1990er und 2000er Jahren und eine aufgeblähte Verwaltungsstruktur führen dazu, dass heute kaum eine Botschaft in einem Kriegs- oder Konfliktland über mehr als einen politischen Referenten verfügt. Die meisten Länderreferenten im Außenministerium in Berlin müssen allein mehrere Länder bearbeiten; und für all Sarah Brockmeier / Philipp Rotmann1



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die Krisenherde und Risikofälle des Nahen und Mittleren Ostens – Syrien, ­Jemen, Irak, Libyen, Algerien, Libanon, Iran, Jordanien – ist neben den Botschaftern vor Ort lediglich ein einziger höherer Beamter zuständig. Anders als in Paris oder Washington versucht die deutsche Militärbürokratie bisher nicht, die fehlenden Diplomaten zu ersetzen und damit außenpolitische Gestaltungsmacht an sich zu ziehen. Hier ist das Ergebnis keine militarisierte, sondern eine blockierte Außen- und Sicherheitspolitik in Bezug auf Kriege und Konflikte. Und damit wird die bürokratische wieder zu einer politischen Frage: Dass Deutschland und Europa eine funktionsfähige Bundeswehr brauchen, und dass dies mehr Geld kostet als heute für Verteidigung ausgegeben wird, tragen und akzeptieren breite Mehrheiten sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Bundestag. Ebenso ist Konsens, dass militärische Mittel allein keine ­Sicherheitsprobleme lösen können, weshalb die politischen Parteien – in unterschiedlichen Ausprägungen – auch kein Interesse daran haben, dass »mehr Geld für die Bundeswehr« allein die Breitenwahrnehmung ihrer Außenund Sicherheitspolitik bestimmt. »Mehr Geld für Entwicklung« und »mehr Geld für humanitäre Nothilfe« schaffen eine politische Balance; doch die notwendige Belebung der Diplomatie fehlt bislang als entscheidendes drittes Standbein einer Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, die mit vernetzter, strategischer Politik dem notwendigen Anspruch europäischer Selbstbehauptung gerecht werden kann.

Sarah Brockmeier, geb. 1987, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin, wo sie den PeaceLab-Blog mitsamt einem Podcast betreibt (www.peacelab.blog). Zuvor hat sie u. a. für die UN in New York gearbeitet. Gemeinsam mit Philipp Rotmann erschien von ihr zuletzt »Krieg vor der Haustür: Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können« (Dietz-Verlag 2019). Philipp Rotmann, geb. 1980, leitet die friedensund sicherheitspolitische Arbeit am Global ­Public Policy Institute (GPPi) in Berlin. Er war für die NATO in Afghanistan und die OSZE in Bosnien-­ Herzegowina tätig. Neben von »Krieg vor der Haustür« ist er Autor von Studien über Friedenseinsätze, Stabilisierung, Sicherheitssektorreform, Schutzverantwortung und Evaluierung in der Außenpolitik.

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Krieg und Konflikt  —  Analyse

PERSPEKTIVEN

ANALYSE

DAS SCHISMA DER ­KONSERVATIVEN EINE EXEMPLARISCHE KONFLIKTSKIZZE AUS ­T EILNEHMENDER BEOBACHTUNG IM ­K ATHOLISCH-KONSERVATIVEN MILIEU ΞΞ Andreas Püttmann

»Über drei Dinge soll man niemals in Gesellschaft reden: Religion, Politik und Krankheit«, sonst drohten Peinlichkeit, Missstimmung und Konflikte bis zum Zerwürfnis, lautet eine viel zitierte Benimmregel. Statt Krankheit werden auch Geld oder Beziehungsprobleme als Konversations-»No Go« genannt; aber in jeder Variante sind Religion und Politik dabei – schlecht für Menschen wie mich, die beides im Elternhaus von Jugend an als wesentliche Lebensinhalte vermittelt bekamen und zum Studienschwerpunkt sowie Lebensraum ihres gesellschaftlichen Engagements machten oder sogar zum Gegenstand publizistischer Tätigkeit. Letztere hat meistens nicht nur vor einem großen Publikum zu bestehen, sondern bleibt auch dem eigenen sozialen Umfeld nicht verborgen. Privat und beruflich lässt sich das nicht hermetisch voneinander trennen – politischer Journalismus wird in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung zu doppelt »vermintem Terrain«. KONSERVATIVE DEFENSIVE UND UNZUFRIEDENHEIT IN DER ÄRA KOHL Großkonflikte gab es schon in der »alten« Bundesrepublik mehrfach: Wieder­ bewaffnung, Studentenrevolte, Ostpolitik, § 218-Reform, Anti-Atomkraft-­ Bewegung, Nachrüstung. Im Wahlkampf 1972 bekam ich es als Achtjähriger erstmals zu spüren: Das Familiennarrativ stand quer zum Zeitgeist, dem linksliberalen Meinungsklima nach dem ersten Entkirchlichungs- und »Wertewandel«-Schub ab Mitte der 1960er Jahre. Konservativ zu sein, war übel beleumundet. Den Durchmarsch der Linken abzuwehren, misslang im »Willy wählen«-Fieber. 1976 scheiterten wir erneut, diesmal bloß knapp mit

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48,6 Prozent für den Kanzlerkandidaten Helmut Kohl, 1980 nach einer »Stoppt Strauß«-Kampagne dann wieder deutlicher. Kein Zweifel: Die kulturelle Hegemonie übte die Sozialdemokratie aus, und das bedeutete für Konservative: ein Leben im Dauerkonflikt. Im Gymnasium bekam ich die Übermacht zu spüren. Die jüngeren Lehrer: alle links. Der Deutschlehrer verordnete uns den Liedermacher Franz Josef Degenhardt, der nicht nur der APO nahestand, sondern auch der DDR-­ gesteuerten DKP angehörte, aber angeblich bloß die Spießigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft anprangerte. Dazu Bertolt Brecht und Günter Grass, Goethe lediglich zur Vorbereitung der »Neuen Leiden des jungen W.« des DDR-Autors Ulrich Plenzdorf; in Französisch Albert Camus, Eugène ­Ionesco

und Jean-Paul Sartre, im Religionsunterricht Hans Küng und Ernesto Cardenal statt Joseph Ratzinger. Die Sowi-Lehrerin stichelte bei der Notenvergabe: »Püttmann, trotz der politischen Meinung, 15 Punkte«. Immerhin. Erst kurz vorm Abitur 1983 wurden die Machtverhältnisse im Bund wieder geradegerückt – aber gefühlt waren links und liberal weiter in. Das heißt aber keineswegs, dass Kohl und die CDU bei Konservativen so gut gelitten waren, wie es deren heutiger Anti-Merkel-Diskurs glauben machen will. Man warf dem die CDU modernisierenden »schwarzen Riesen« u. a. eine zu große Spendierfreudigkeit in Europa, Nachgiebigkeit bei Frauen­ quorum und Abtreibungsregelung, den Ausverkauf deutscher Ostgebiete und privater Restitutionsansprüche sowie seinen zu linken Generalsekretär Heiner Geißler und das Ausbleiben der »geistig-moralischen Wende« vor. Immer wieder bildeten sich gegen den angeblichen »Linksdrall« der CDU rechtskonservative Grüppchen wie die »Aktionsgemeinschaft Vierte Partei« oder die Liberal-Konservative Aktion1. Daran änderte auch nichts, dass unter Kohl das Wort konservativ 1978 erstmals in der CDU-Programmatik auftauchte: In Ziffer 2 der Präambel des Ludwigshafener Programms präsentierte sich die Volkspartei als »Antwort auf die Zerrissenheit der Demokraten in der Weimarer Republik. Freiheit und Menschlichkeit sollen sich nicht wieder in verhängnisvoller Gegnerschaft zwischen sozialen, liberalen und konservativen politischen Strömungen verlieren«. 1  Siehe Dennis Radtke, Die CDU war nie eine konservative Partei! Mitteilung vom 16.01.2018, URL: https://www. cdu-ratsfraktion-bochum.de/tl_ files/cdu-template/upload/partei/ abgeordnete/Dennis Radtke/pdf/ RADTKE Die CDU war nie eine konservative Partei! (002).pdf [eingesehen am 21.05.2019].

Die Union wollte ein großer Wähler-Staubsauger sein, doch ihr Identitätskern war auch damals nicht konservativ, sondern christlich-­demokratisch – ein vielfach verkannter Unterschied. Schnittmengen von beidem gibt es, ideologische Kongruenz aber nicht. Das musste ich 2014 in einer CDU-Kommission sogar einem inzwischen ziemlich bekannten Politiker erklären, der sich nach meinem Vortrag zum »C« und den Kirchen irritiert erkundigte: »Wieso haben Sie ›christlich‹ und ›konservativ‹ so deutlich unterschieden? Für mich war das Andreas Püttmann  —  Das Schisma der ­K onservativen

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im Grunde immer das Gleiche.« Ich entgegnete, die traditionellen Leitsterne des Konservativismus seien nun mal »Arbeit, Familie, Vaterland« – der Wahlspruch des Vichy-Regimes »Travail, Famille, Patrie« ersetzte »Liberté, Égalité, Fraternité« an allen öffentlichen Gebäuden Frankreichs –2, die Trias der höchsten christlichen Werte hingegen »Glaube, Liebe, Hoffnung«. Beides sei zwar oft miteinander kompatibel, aber bisweilen ergäben sich auch Ziel- und Prioritätenkonflikte. Die Flüchtlingskrise sollte dies zeigen. Obwohl den Konservativen am rechten CDU-Rand in der Ära Kohl noch nicht wie heute die sozialen Netzwerke und zahlreichen Online-Portale zur Verfügung standen, um aus dem kommunikativen Ghetto ihrer kleinen Zeitschriften und Zirkel ausbrechen und ein breiteres Klientel agitieren zu können, gelang ihnen bereits 1983 die Gründung einer Partei – ausgerechnet in München durch ehemalige Mitglieder der CSU, die sich doch als die konservativere der Unionsschwestern profiliert hatte. Die »Republikaner« bekannten sich als national- und sogar ausdrücklich als rechtskonservativ3 und gelangten in Baden-Württemberg (1992: 10,9 Prozent, 1996: 9,1 Prozent) und Berlin (1989: 7,5 Prozent) gleich dreimal in Landesparlamente; in Bayern (1990: 4,9 Prozent) und Hamburg (1993: 4,8 Prozent) scheiterten sie lediglich knapp. Im Juni 1989 zogen sie mit 7,1 Prozent der in Deutschland abgegebenen Stimmen für fünf Jahre ins Europäische Parlament ein. Von 1992 bis 2006 wurden sie wegen des Verdachts rechtsextremer Bestrebungen vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Das Präsidium der Bundes-CDU hatte im Juli 1989 Koalitionen mit den Reps generell ausgeschlossen, sodass die Partei ohne Gestaltungsperspektive blieb und nach der Jahrhundertwende schließlich in der Bedeutungslosigkeit verschwand. Im mir vertrauten christlich-konservativen Milieu hatte diese Parteigründung trotz mancherlei Unzufriedenheit mit der CDU nicht »gezündet«. Mit nationalen, anti-europäischen Parolen konnte man hier kaum punkten – sind doch durch eine christliche »Heimat im Himmel« (Phil 3,20) alle irdischen Bindungen und Behausungen relativiert und vor Übersteigerung zumindest tendenziell gefeit. Ein Übriges taten die Erinnerungen an die Kirchenfeindschaft der rechten Diktatur, die bis vor wenigen Jahren noch von Familien­ angehörigen wie meiner Tante Maria authentisch geschildert werden konnten, sowie die christliche Idee des Abendlandes, für die auch die katholischen Gründerväter des vereinten Europa – Adenauer, Schuman, De Gasperi – standen. In einem Vortrag beim Veldensteiner Kreis eher liberal-konservativer Extremismusforscher bestätigte Wahlforscher Jürgen Falter diesen Eindruck durch eine Analyse der Republikaner-Wahlabsicht im Jahr 1992: Bei etwa fünf Prozent im Bundesdurchschnitt erreichte die Partei unter kirchennahen

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Perspektiven — Analyse

2  Mit »Arbeit. Familie. ­ aterland« ist übrigens auch V das NPD-Parteiprogramm von 2010 überschrieben. 3  Die Republikaner – rechtskonservativ, demokratisch und verfassungstreu. Antwort auf eine Broschüre des Landesamtes für Verfassungsschutz, hg. von der Fraktion Die Republikaner im Landtag von Baden-Württemberg Stuttgart, Februar 2001, URL: http://www.rep-krisch.de/ aktuell/383VS01.htm [eingesehen am 21.05.2019].

Katholiken nur 1,8 und unter kirchennahen Protestanten 2,3 Prozent; je geringer die Kirchgangsfrequenz, desto höher stieg der Balken der REP-Wähler in beiden Konfessionen – ein Muster, das sich später bei der AfD wiederholen sollte. Übrigens scheiterte die NPD in Sachsen-Anhalt (2011) und Sachsen (2014) am Einzug in die jeweiligen Landtage nur aufgrund des Votums der christlichen Wähler (kaum ein Viertel der Bevölkerung). VORBOTEN DES BRUCHS IM CHRISTLICH-KONSERVATIVEN LAGER AB 2001 Dennoch gab es bereits lange vor dem Auftreten der AfD ideologische Konflikte auch im christlich-konservativen Lager. So löste nach den terroristischen Anschlägen von 9/11 ein Essay von Gabriele Kuby in der katholischen Tagespost eine heftige Kontroverse aus. Unter der Überschrift »Von New York nach Ninive« geißelte die wenige Jahre zuvor zur katholischen Kirche konvertierte konservative Publizistin das besonders in Amerika ausgeprägte westliche Freiheitsverständnis als »die Freiheit des kapitalistischen Marktes und die Freiheit zur himmelschreienden Sünde. In diesem von Gott gelösten Freiheitswahn ist das Christentum im Begriff zu versinken«4. Von ihrer Diagnose ausgehend, dass »der Kern unserer freiheitlichen und offenen Gesellschaft faul ist«, deutete Kuby den verheerenden Terroranschlag als »­Menetekel« und suchte seinen »Ort in der Heilsgeschichte«. Dafür griff sie zurück auf Endzeitvisionen aus der Apokalypse des Johannes vom »Zorn Gottes über die Erde« (Offb 16,1) und von dem aus dem Himmel herabsteigenden Engel, der »rief mit gewaltiger Stimme: ›Gefallen, gefallen ist Babylon die Große‹« (Offb 18,2). Diese Visionen gäben »etwas von ihrem Geheimnis preis, wenn man sie im Schatten des 11. September betrachtet«. Aber auch Jesu Prophetien aus Mt 24,6–13 und Lk 21,28 zog sie heran, in denen von Kriegen, Erdbeben, Hungersnöten, Tötungen und Hass als »Anfang der Wehen« vor der nahenden Erlösung die Rede ist. Der »moralische Verfall der Gesellschaften, die als christlich gelten«, sei »für islamische Völker ein offenkundiger Beweis für die Überlegenheit ihrer eigenen Religion. Es sind Völker, die beten und fasten«, hielt sie der Dekadenz und Gottlosigkeit des Westens entgegen, garniert mit einem Verweis auf den deutschen Bundeskanzler (Schröder) und Minister, »die es bei ihrer Verteidigung für überflüssig hielten, Gott um Hilfe zu bitten«. Auch gegen die Kirchen teilte Kuby aus: dass »bei unheilvollen Ereignissen« die erste Frage laute: »Wie konnte Gott das zulassen?«, sei auch »Frucht der geistlichen Beschwichtigung, die in der kirchlichen Verkündigung 4  Gabriele Kuby, Von New York nach Ninive, in: Die Tagespost, 18.10.2001, im Folgenden ebd.

vorherrscht. Es wird uns fast nur noch der allliebende, allbarmherzige Gott gepredigt. Wir hören nicht mehr viel über die todernsten Folgen der Sünde«. Andreas Püttmann  —  Das Schisma der ­K onservativen

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Dass der Artikel nicht in einem Nischenblättchen der religiösen Subkultur, sondern im publizistischen Flaggschiff des konservativen Katholizismus erschien, mutet an wie ein erster Fanfarenstoß für den intellektuellen Niedergang und die antiliberale Radikalisierung auch dieses Milieus. In der nachfolgenden »Leserbriefschlacht«, die ich eröffnete, traten mir bezeichnenderweise nur Wissenschaftler zur Seite: der Philosoph und Politologe Nikolaus Lobkowicz, bis 1996 Präsident der Katholischen Universität Eichstätt, und der (Moral-)Philosoph und Theologe Martin Rhonheimer, Priester der Personalprälatur Opus Dei, beide dem konservativen Kirchenspektrum zuzuordnen. Die anderen Schreiber ergriffen Partei für Kuby, die sich gänzlich uneinsichtig zeigte und sich auch nach Jahren (2014 per Mail) noch gegen die Kritik an ihrem Rundumschlag verwahrte: Sie habe die Anschläge von 9/11 nicht als Strafe Gottes gedeutet (was ihre Rede von den »todernsten Folgen der Sünde« jedoch nahelegte), sondern nur »für die Notwendigkeit der Umkehr« plädiert. Ich hätte eine »Schwester im Glauben« »angegriffen«, auf sie »eingeschlagen«. Daraus, dass ihr Artikel »eine wochenlange Leserbrief-­ Diskussion« ausgelöst habe, folgerte sie: »Er war also ein Beitrag zur freiheitlichen Demokratie« – eine typische Reaktion auch der heutigen Rechtspopulisten: Erst teilt man scharf aus und setzt steile Thesen in die Welt, dann erklärt man, es gar nicht so gemeint zu haben, und bemitleidet sich selbst als Opfer von »Kampagne« und »Verleumdung«. Kritik wird als illegitime Aggression verstanden und im Falle von Glaubensbrüdern oder Gesinnungsfreunden zusätzlich als Verrat angekreidet. Kritische Selbstreflexion bleibt aus. Ein Ausdruck narzisstischer Kränkung und eines Wagenburgsyndroms: Wir Guten, Standhaften, Wahrheitsinhaber hier drinnen (religiös: der ›heilige Rest‹) müssen uns gegen Angriffe der Unerleuchteten und Bösen draußen wehren und unbedingt solidarisch miteinander sein. Eine sektenähnliche Logik, immun gegen Einspruch, Selbstzweifel und Einsicht in den eigenen Anteil an der moralischen Schwäche und Irrtumsanfälligkeit des Menschen. Der nächste Vorbote der konservativen Wasserscheide ab 2013: Mitstreiter von mir verteidigten die »Tätervolk-Rede« des Fuldaer CDU-Bundestags­ abgeordneten Martin Hohmann zum 3. Oktober 2003. Zwar hatte der gläubige Katholik letztlich Gottlosigkeit als Wurzelübel des Totalitarismus identifiziert und damit ähnlich meiner religionssoziologischen Thesen gesprochen5; auch hielt ich ihn nicht für einen Antisemiten. Doch die national-apologetischen Winkelzüge und populistischen Parolen Hohmanns (»Gerechtigkeit für Deutschland, Gerechtigkeit für Deutsche!«, »Erst kommen die anderen, dann wir!«) – darunter die, dass man nicht nur die Deutschen, sondern (wegen ihrer Überrepräsentanz bei den Bolschewiken) auch »die Juden mit einiger

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Perspektiven — Analyse

5  Siehe Andreas Püttmann, Gesellschaft ohne Gott. Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands, Asslar 2010.

Berechtigung als ›Tätervolk‹ bezeichnen« könne – erschienen mir dilettantisch und obszön. Hohmann sei »nicht fähig, den Zwiespalt von angemessener Scham und natürlicher Vaterlandsliebe mit historischem und ethischem Sachverstand in die richtige geistige Ordnung zu bringen. So musste es schließlich irgendwann zu dieser fürchterlichen Entgleisung kommen«, schrieb ich an die Tagespost und unterstützte seinen Ausschluss aus Partei und Fraktion. Die Mehrheit der Deutschen sei dem NS-Regime jahrelang loyal oder begeistert gefolgt und »insofern für eines der monströsesten Verbrechen der Menschheitsgeschichte mit verantwortlich«. Dessen Opfer stellten vor allem die Juden, die Täter »als Schreibtischtäter oder Straßenmob, Denunzianten oder KZ-Schergen im Wesentlichen das deutsche Volk«; daher könne man »durchaus vom ›Tätervolk‹ sprechen, ohne damit jeden einzelnen Deutschen und seine Nachkommen in einer Kollektivschuld zu sehen«.6 Auch dieser Eklat, samt konservativer Solidaritätsinitiative und Buch7, ist als Präfiguration von Wahrnehmungs- und Agitationsmustern des späteren AfD-Geschichtsrevisionismus zu verstehen: Hohmann-Verteidiger agierten mit unterkomplexen, larmoyanten Behauptungen einer linken Medienkampagne, abwegigen Parallelisierungen mit den gleichgeschalteten Medien der DDR sowie dem Vorwurf an nicht-linke Kritiker, »nach fremden Pfeifen«

zu tanzen und »eine gemeinsame Front […] mit Gegnern der katholischen Kirche« zu bilden8 – Letzteres übrigens ein für die rechtskatholische Szene typischer Kurzschluss von politischem Lagerdenken mit religiöser Wagenburgmentalität. Thematisch ähnlich gelagert der nächste Konflikt 2004: Professor Konrad Löw, der mich einige Jahre zuvor zu einem Gastvortrag an der Universität 6  »Weitschweifiges Schwadronieren«. Leserbrief in der Tagespost vom 29.11.2003.

Bayreuth eingeladen hatte, schickte mir seinen Aufsatz »Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte«9 mit der Bitte um eine Einschätzung. Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) hatte ihn im Deutschland Archiv

7 

Siehe Fritz Schenk, Der Fall Hohmann und kein Ende. Mit dem Text des ›Sondervotums‹ des Bundesparteigerichts der CDU«, München 2004.

zunächst publiziert, sich dann aber per Brief an Tausende Abonnenten vom Inhalt distanziert und bei allen entschuldigt, die sich »durch den Beitrag verunglimpft fühlen«; die Restauflage wurde eingestampft. Löw, ein durchaus verdienter Marxismuskritiker und wie Kuby dem Kuratorium des Forums

8  So Lutz Sperling, ein Magdeburger Professor für »Technische Dynamik und Schwingungslehre« in einem Leserbrief an die Tagespost vom 02.12.2003.

Deutscher Katholiken angehörend, hatte in dem Text viele Beispiele aufge-

9  Konrad Löw, Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte, in: Deutschland Archiv, Jg. 37 (2004), H. 2, S. 230–240.

jüdische Symbiose unter dem Hakenkreuz« gegeben. Zudem verwies er auf

zählt, in denen Deutsche im »Dritten Reich« Juden halfen. Er versuchte damit zu belegen, dass die Mehrheit der Bevölkerung zur Zeit des NS-Regimes nicht antisemitisch eingestellt gewesen sei, ja es habe sogar eine »deutsch-­ jüdische Anführer der Münchner Räterepublik, eine »jüdische Kriegserklärung« an Deutschland 1933 und einen »beachtlichen Beitrag« von Juden bei Andreas Püttmann  —  Das Schisma der ­K onservativen

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der Umsetzung der »Endlösungspläne«, »als Judenräte, als Häscher, als Polizisten, in den Gaskammern«. Eine solch abwegige, ungehörige Relativierung der Täter-Opfer-Unterscheidung konnte auch der nachfolgende Hinweis auf die »Angst um das eigene nackte Leben« nicht mehr retten. Mir schien Löw wie Hohmann davon angetrieben, die Ehre des deutschen Volkes auf Biegen und Brechen doch noch zu retten. Selbst die linker Kampagnen unverdächtige Welt in Gestalt des leitenden Redakteurs Geschichte verriss den Text als »ziemlich kruden Unsinn«10. Zwar bekam Löw später vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die BpB Recht, weil deren Behandlung der Sache ihn als Autor hingestellt habe, mit dem eine Auseinandersetzung nicht mehr möglich sei und der nur noch »makuliert« werden könne, was bei einem so sensiblen Thema wie Antisemitismus unverhältnismäßig stigmatisierend sei. Doch inhaltlich musste auch ich meinen Freund durch Widerspruch in mehreren Punkten enttäuschen. Wir konnten uns zwar schließlich mit Mühe darauf einigen, unseren kontroversen Briefwechsel im Sinne einer konservativen Streitkultur in der Zeitschrift Criticón11 abdrucken zu lassen, doch die Freundschaft war dahin. Eine weitere Etappe der (christlich-)konservativen Konfliktgeschichte vor dem parteipolitischen Bruch 2013 war die Gründung eines Arbeitskreises engagierter Katholiken (AEK) in den Unionsparteien im November 2009 durch den CSU-Bundestagsabgeordneten Norbert Geis, den ehemaligen bayerischen Wissenschaftsminister Thomas Goppel, den CSU-Europaabgeordneten Bernd Posselt, den Trierer Theologieprofessor Wolfgang Ockenfels, den Abtprimas des Benediktinerordens Notker Wolf, die Bundesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben Mechthild Löhr sowie den Journalisten und Vorsitzenden des Bundesverbands Lebensrecht Martin Lohmann, der als Sprecher des AEK im Deutschlandfunk den heute rechtspopulistisch üblichen Ton anschlug,

Kanzlerin Merkel sei »Parteivorsitzende und nicht Staatsratsvorsitzende«12. In näherer Kenntnis der meisten beteiligten Personen, insbesondere des Sprechers, kritisierte ich die Gründung im Bundesorgan der Jungen Union. Aus der CDU-Parteispitze, die eine Anerkennung als offizieller Arbeitskreis ablehnte, wurde mir von dem Ansinnen berichtet, ein Votum des AEK zugunsten des Katholiken Christian Wulff als nächstem Bundespräsidenten möge mit einem Sitz in der Bundesversammlung belohnt werden. Das passte ins Bild. Als das christlich-konservative Magazin KOMMA ohne Beratung mit mir als CDU-kundigem Redaktionsmitglied die Initiative und ihren Sprecher »hoch

schrieb«, beendete ich die Mitarbeit. Wenig später kam es zur Spaltung des AEK durch die Verselbstständigung eines bayerischen CSK (Christlich-Soziale

Katholiken) in der CSU und zum Scheitern des CDU-Teils. Lohmann trat kurz

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Perspektiven — Analyse

10  Sven Felix Kellerhoff, Eine Ansammlung a­ ntijüdischer Klischees, in: Die Welt, 15.04.2004, URL: https://www.welt.de/ print-welt/article306609/Eine-­ Ansammlung-antijuedischerKlischees.html [eingesehen am 21.05.2019]. 11  Siehe Konrad Löw u. Andreas Püttmann, Geschichte und Moral. Ein Disput um die Verantwortung der Deutschen für den Holocaust, in: Criticón, H. 185 (2005), S. 39–44. 12  Martin Lohmann im Gespräch mit Stefan Heinlein, »Frau Merkel ist Parteivorsitzende und nicht Staatsratsvorsitzende«, in: Deutschlandfunk, 14.01.2010, URL: https://www.deutschlandfunk.de/frau-merkel-ist-parteivorsitzende-und-nicht.694. de.html?dram:article_id=68065 [eingesehen am 21.05.2019].

vor der Bundestagswahl 2013 öffentlichkeitswirksam aus der CDU aus. Später beschimpfte er seinen konservativen, AfD-kritischen Kölner Erzbischof Woelki im neurechten Blatt Junge Freiheit (JF) als »roten Kardinal«, dem »die Anpassung an den (Kirchen-)Zeitgeist […] keine Mühe zu bereiten« scheine.13 Unter christlichen Autoren und Anhängern dieser heutigen Quasi-Partei­ zeitung der AfD gab es im Jahr 2012 einen Aufschrei, als der Augsburger 13  Martin Lohmann, Auf Profilsuche. Rainer Maria Woelki. Der einst konservative Kleriker hat sich gründlich gewandelt, in: Junge Freiheit, 23.12.2016: »Für viele« sei Woelki, der »ihm missliebige Überzeugungen als ›Populismus‹ geißelt«, selbst »ein – knallroter – Populist«, setzte Lohmann noch eins drauf. Offenbar unter Druck geraten, entschuldigte er sich – nach Wochen – auf Facebook. 14  Siehe Andreas Püttmann, Falsche Verbündete, in: Christ und Welt, 17.08.2012. 15  Rémi Brague, Europa – ­seine Kultur, seine Barbarei. ­Exzentrische Identität und römische Sekundarität, Wiesbaden, 2012, S. 149.

Bischof Konrad Zdarsa seinem Pfarrer Georg Oblinger untersagte, dort weiter zu publizieren. Wortführer der konservativ-katholischen Szene traten als Bannerträger der Meinungsfreiheit auf. Als ich in einem Essay für die Zeit-­ Beilage Christ und Welt14 ihre Verharmlosungen der nationalistischen Rechten kritisierte, wurde ich in mehreren Briefen zurechtgewiesen und als Renegat einsortiert. Professor Manfred Spieker, Mitherausgeber meiner Dissertation, schrieb, es hätten ihn »schon drei E-Mails bzw. Anrufe deswegen erreicht. Alle sind voller Entsetzen«. Eine ausführliche Briefantwort von mir mit JF-­ Zitaten blieb unbeantwortet. Einer konkreten Disputation geht man lieber aus dem Weg. Man bevorzugt nicht-diskursive Methoden der Konfliktaustragung. DIE SCHEIDUNG DER GEISTER 2013 FF.: »CHRISTIANISTEN« IM AFD-FAHRWASSER Von Beginn des Franziskus-Pontifikats an fiel auf, dass bislang ostentativ »Papsttreue« an Stil und Inhalten des Argentiniers im Petrusamt herumnörgelten. Parallel dazu breitete sich »Islamkritik« im Gestus einer cultural ­defense durch »Christianisten«15 aus, die den kirchenamtlich gepflegten inter-

16  Siehe Gabriele Kuby, Die demographische Katastrophe abwenden. Internationales Forum »Große Familien und die Zukunft der Menschheit« im Kreml, in: kath.net, 24.09.2014, URL: http://www.kath.net/news/47655 [eingesehen am 21.05.2019].

religiösen Dialog alarmistisch konterkarierten. Hinzu kamen decouvrierende Reaktionen auf den Bischofskandal in Limburg: Die Totalapologeten von Tebartz-van Elst, welcher der Unwahrheit, eidesstattlichen Falschaussage und Verschwendung überführt wurde, übten sich hier plötzlich in jenem moralischen Relativismus, den sie als erklärte Anti-Relativisten immer bekämpft hatten. Der Betreiber eines privat-katholischen Internetportals schrieb mir

17  Siehe Andreas Püttmann, Putins nützliche Idioten. Warum eine katholische Subkultur begeistert nach Moskau starrt, in: Zeit Online, 22.09.2014, URL: https://www.zeit.de/politik/ausland/2014-09/russland-­kircheputin [eingesehen am 21.05.2019].

sogar: »Selbst wenn der Bischof gelogen hat – so what?« Danach beendete ich meine langjährige ehrenamtliche Mitarbeit. Im September 2014, auf dem Höhepunkt der russischen Ukraine-Invasion, reiste Gabriele Kuby zu einer Kreml-Propagandakonferenz mit westeuropäischen Rechtsextremisten und -populisten über »Großfamilien und die Zukunft der Menschheit«. Sie publizierte anschließend eine Eloge über

18  Siehe etwa Johannes Graf, Püttmanns merkwürdiger Kampf gegen die Gebote der Kirche, in: kath.net, 25.09.2014, URL: http://kath.net/news/47665 [eingesehen am 21.05.2019].

das Treffen in der Tagespost, übernommen von kath.net16. Mein Kommentar dazu in Christ und Welt sowie Zeit Online17 löste eine mit Unterstellungen und Verleumdungen gespickte Kampagne aus.18 Die Diskreditierung der Person soll von ihren Argumenten ablenken. Pater Professor Wolfgang Ockenfels Andreas Püttmann  —  Das Schisma der ­K onservativen

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entfernte mich nach 22-jähriger Mitarbeit ohne Gespräch oder Mitteilung aus dem Beirat der Zeitschrift Die Neue Ordnung. Aus dem von ihm geleiteten Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg zog ich mich daraufhin selbst zurück, mein Schreiben dazu blieb unbeantwortet. Konservative Freunde von mir blieben und suchten kein Gespräch über Gründe und Umstände meines Verschwindens. Die Verbundenheit mit alten Kampfgefährten gegen links wiegt schwerer als neue Grenzziehungen nach rechts. Es gibt einen falsch verstandenen Korpsgeist und eine »Feigheit vor dem Freunde«, der nach rechts entgleist ist. Während zu viele Gemäßigte sich solchermaßen »einen schlanken Fuß machen«, ziehen die radikalen Bataillone im Schutz der Anonymität die Daumenschrauben an: Nach einem Drohbrief, der mir zur Psychotherapie riet (Unterschrift: »Deine Freunde«), sowie wochenlangem frühmorgendlichen Telefonterror erhielt ich zwei große Pakete: eines voller Navigationsgeräte, eines mit mehreren Paar Kinderschuhen, unter falscher Mailadresse auf meinen Namen und meine Rechnung bestellt. Kriminell. Die Botschaft: Der politisch orientierungslos gewordene kinderlose Demografiedienstversager möge mit technischer Hilfe wieder auf den »rechten Weg« zurückfinden. Auf effektive Hilfe der Sicherheitsbehörden braucht man in solchen Fällen nicht zu hoffen. Im Frühjahr 2015 beauftragte mich die Hauptabteilung Forschung und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung mit einem internen Policy Paper zu Radikalisierungstendenzen am rechten Rand der Kirchen, das unter dem Titel »Unheilige Allianzen« mit zahlreichen Zitaten Putin-Belobigung, »PEGIDA«und AfD-Sympathien sowie Demokratie und Diktatur verähnlichende »Widerstands«-Rhetorik in typisch rechtspopulistischem Stil nachwies. Daraufhin entfachte das informelle rechtskatholische Journalistennetzwerk unter Nutzung persönlicher Kontakte in den Stiftungsvorstand einen orchestrierten Shitstorm, der darauf abzielte, mich persönlich zu diskreditieren. Jürgen Liminski, damals noch Deutschlandfunk-Redakteur, psychopathologisierte und kriminalisierte mich auf seiner Website: »Seit einiger Zeit bemüht sich Andreas Püttmann, Publizisten, die sich für die traditionelle Ehe und Familie einsetzen, mit dem Etikett ›rechtsradikal‹ zu versehen und sie so im politischen Diskurs und auch in der innerkirchlichen Diskussion zu stigmatisieren«; das Vorgehen gegen »die personalen Objekte seines Verfolgungswahns« erfülle »sicher auch den Tatbestand der üblen Nachrede«.19 Im Januar 2017 erschien unter dem Titel: »Die Kirche, die AfD und die kirchlichen ›Rechtsausleger‹« in der Zeitschrift Mut, in der ich seit 1994 publizierte, ohne Vorwarnung ein Verriss meines Aufsatzes »Was ist die AfD – und

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Perspektiven — Analyse

19  Jürgen Liminski, Der Fall KAS: »Kein offizielles Dokument der Adenauer-Stiftung«, in: liminski.de, URL: https://www. liminski.de/aktuelles/disput/ [eingesehen am 21.05.2019].

wie mit ihr umgehen?«20 in der jesuitischen Kulturzeitschrift Stimmen der Zeit. Der Autor: ein Studienfreund, Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für Politische Bildungsarbeit in Brandenburg, der mich bis dato gern als Referenten eingesetzt hatte, zudem Autor in Pater Ockenfels’ Zeitschrift Die Neue Ordnung. Selbst nicht für das Thema fachlich ausgewiesen, verzerrte er meine Analyse durch selektive Wiedergabe zu einer dilettantischen Wutrede: Püttmann »umgehe« das »Kernthema« Migrationspolitik und unternehme den Versuch, die »demokratisch legitimierte Partei« AfD »als extremistisch abzuhalftern«. Er behauptete, ich attestierte »der Kirche« Defizite in »differenzierter Sozialverkündigung« und »demokratischen Nachholbedarf« ohne Erläuterung, »worin diese Mängel bestehen«. Dabei war meine Kritik ausdrücklich auf ein »älteres«, »autoritäres kirchliches Staatsdenken« (laut Literaturhinweis des 19. Jahrhunderts) sowie eine mangelhafte Rezeption der Konzilsbestimmung zur »richtigen Autonomie der Kultursachbereiche« in Teilen des Katholizismus bezogen und durchaus inhaltlich erläutert als eindimensionale »output«-Orientierung der Staatsbewertung im Sinne »katholischer Gesetze«. Meine empirischen Hinweise auf weit überdurchschnittliche Fremdenfeindlichkeit und nationalen Chauvinismus unter AfD-Anhängern erwähnte er nicht und begnügte sich mit einer Abqualifizierung der Leipziger »Mitte-Studie«, die »u. a. in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung entstanden« sei. Motto: Linke Auftraggeber – kann ja nichts taugen! Den Hinweis auf »historische Sünden der (kirchlichen) Kumpanei mit faschistoiden Systemen« tat er mit dem Hinweis ab, davon könne »zumindest auf Deutschland bezogen gar nicht die Rede sein« – womit er über große Teile des katholischen Europa sowie die »Deutschen Christen« und Rechtskatholiken hinweg huschte. Im März 2019 sprach die Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik – ein Zusammenschluss von Professoren, die das Fach an katholisch-theologischen Fakultäten lehren – Ockenfels’ Zeitschrift die fachliche Reputation 20  Andreas Püttmann, Was ist die AfD – und wie mit ihr umgehen?, in: Stimmen der Zeit, Jg. 141 (2016), H. 10, S. 674–688. 21  Marianne Heimbach-Steins, Erklärung der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik zu der Zeitschrift »Die Neue Ordnung«, URL: http://www.christliche-sozialethik.de/wp-content/ uploads/2019/03/Ag-CSE_DieNeue-Ordnung_Erklaerung_­ Pressetext.pdf [eingesehen am 21.05.2019], im Folgenden ebd.

ab: Wer die von Rechtspopulisten verbreiteten »Stereotypen und Ressentiments reproduziert, deren Ausgrenzungen und Abwertungen kritiklos übernimmt und deren Politik der Skandalisierung und Empörung verstärkt, stellt sich außerhalb der Grenzen eines seriösen Fachdiskurses der katholischen Sozialethik«21. Die medial verbreitete Erklärung legte Kollegen nahe, nicht mehr in der unter Pater Ockenfels »in ein populistisches und extrem rechtes Fahrwasser« geratenen Zeitschrift zu publizieren und sie nicht mehr in wissenschaftlichen Bibliotheken zu führen. »Die neueren Editorials des hauptverantwortlichen Redakteurs sind gespickt mit den für Rechtspopulisten typischen Ressentiments, u. a. mit Pauschalkritik an den Printmedien und Andreas Püttmann  —  Das Schisma der ­K onservativen

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am öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Leugnung des Klimawandels und islamophoben Äußerungen.« Auch zahlreiche Artikel der früher »hochrelevanten«, »strikt konservativen« Zeitschrift nehme man »mangels wissenschaftlicher Substanz nur noch als zugespitzte Meinungsäußerungen wahr«. Den Dominikanerorden riefen die Wissenschaftler dazu auf, »Wege zu suchen, den Schaden für den Orden wie auch für die Sozialethik zu begrenzen«. Der Provinzial des Ordens, Peter Kreutzwald, hatte bereits Mitte 2018 hinsichtlich der Mitarbeit des umstrittenen Paters in der AfD-nahen Desiderius-­ Erasmus-Stiftung erklärt: »Die Haltung von Wolfgang Ockenfels zur AfD ist seine persönliche Einzelmeinung und wird von der Provinzleitung nicht geteilt.« In einem DLF-Bericht22 rückte der emeritierte Osnabrücker Professor Manfred Spieker die Sozialethiker-Erklärung allen Ernstes in die Nähe antisemitischer Akte der Nationalsozialisten – sie erinnere ihn »an die Aufforderung: ›Bei Juden kauft man nicht‹ oder an eine Bücherverbrennung«. Solche grotesken Selbstviktimisierungen rückte Felix Neumann, katholisch. de-Redakteur und Vorstandsmitglied der Gesellschaft Katholischer Publizisten, auf Twitter ­zurecht: »Mich wundert nur, dass es so lange gedauert hat, bis Sozialethiker/innen dazu etwas sagen – die ›Neue Ordnung‹ hat sich doch schon vor Jahren radikalisiert«23. ERKLÄRUNGSFAKTOREN FÜR DAS KONSERVATIVE SCHISMA SEIT 2013 Sowohl die hier exemplarisch biografisch geschilderten innerkonservativen Konflikte der vergangenen Jahrzehnte als auch die Sozialforschung zu rechtsautoritären und rechtsextremen Einstellungen in Deutschland legt den Schluss nahe, dass die erfolgreiche Gründung einer Partei rechts von Union und FDP, die stabil über zehn Prozent liegt, keine plötzliche, eigentlich vermeidbare und reversible Anomalie im politischen System der Bundesrepublik darstellt. Vielmehr hat jetzt offen Gestalt angenommen, was schon lange in Gesinnungen und wohl auch Persönlichkeitsmerkmalen vorhanden war,24 aber aus kulturellen und sozialpsychologischen Gründen (Werteerziehung, Geschichtskenntnisse, Bildungshierarchie, Tabus) politisch latent blieb. Zum Coming out des »Geistes in der Flasche« in Gestalt einer Partei der nationalistisch-autoritären Rechten und zur Emanzipation der Rechtskonservativen vom moderaten Konservativismus der Bonner Republik trug nicht nur die liberale Gesellschafts- und Migrationspolitik in der Ära Merkel bei, wie eine national verengte Sicht des rechten Diskurses glauben machen will. Das Phänomen ist international und leuchtete schon ab 2009 im Tea Party-Movement in den USA auf.

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Perspektiven — Analyse

22  Siehe Michael Hollenbach, Neue Ordnung, rechte Ordnung?, in: Deutschlandfunk, 27.03.2019, URL: https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-christliches-magazin-neue-ordnung-rechte-ordnung.886. de.html?dram:article_id=444627 [eingesehen am 21.05.2019]. 23  URL: https://twitter.com/ fxneumann/status/111116466953 9115008 [eingesehen am 21.05.2019]. 24  Zur Theorie: Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, hg. von Ludwig von Friedeburg, Frankfurt 1973; aktuelle empirische Befunde: Oliver Decker u. Elmar Brähler (Hg.), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Die Leipziger Autoritarismus-­ Studie 2018, Gießen 2018.

In Deutschland war nach der Katastrophe des »Dritten Reichs« für Jahrzehnte nicht nur der Nationalsozialismus, sondern auch der deutschnationale Konservativismus der Weimarer Republik als dessen antidemokratischer Partner nachhaltig diskreditiert. Verunsichert schlüpfte je ein Teil seiner Vertreter bei der FDP und – mit oder ohne Umweg über die Deutsche Partei (DP) – bei den Christlichen Demokraten unter, die weltanschaulich einer ökumenisch erweiterten Zentrumspartei glichen. Das ist schon personell ersichtlich: Von den Vorsitzenden regionaler und überregionaler Zusammenschlüsse der Unionsparteien bis 1950 kamen 23 vom katholischen Zentrum, acht aus der linksliberalen DDP, fünf aus der nationalliberalen DVP, je drei aus der rechtskonservativen DNVP und der bayerisch-katholischen BVP (die 1925 für den preußisch-protestantischen Militär Hindenburg als Reichspräsidenten statt für den Zentrumskandidaten Marx votierte) sowie zwei vom evangelischen CSVD. Im Weimarer Parteiensystem kamen die Deutschnationalen auf zehn bis zwanzig Prozent der Stimmen, bevor beim Durchbruch der NSDAP 1930 (von 2,6 auf 18,3 Prozent) vor allem sie einbrachen (–7,2 Prozent),

aber auch die DVP –4,2 Prozent), indes das Zentrum stabil blieb –0,3 Prozent) und die beträchtlichen Verluste der SPD (–5,3 Prozent) wohl zur Hälfte an die KPD (+2,5 Prozent) gingen. Der parteilich organisierte Liberalismus versagte als Widerlager der Nazis, vor allem die wirtschaftsnahen Rechtsliberalen; die DDP war schon bis 1924 von 18,6 auf 5,7 Prozent geschrumpft und 1930 bedeutungslos. Die Konservativen liefen demnach etwa zur Hälfte zur NSDAP über, die andere Hälfte ließ sich 1933 als Steigbügelhalter benutzen. Ein geistig-moralisches Versagen auf der ganzen Linie. Sollte man von den ideologischen (und soziodemografischen) Nachfolgern dieser beiden politischen Strömungen angesichts des heute erstarkenden Rechtsextremismus mehr Resistenz erwarten? Nach dem Verblassen der historischen Erinnerung – die ohnehin zu sehr auf die Jahre 1933–45 fokussiert war statt auf 1918–33 – wäre das wohl illusionär. Meine These zur Spaltung des die alte Bundesrepublik prägenden Unions-konservativen Lagers lautet also: Jetzt wächst auseinander, was ideell und historisch nicht zusammengehört. In der Perspektive der longue durée 25 kehren politische Grundströmungen unserer Geschichte in ihr altes Flussbett 25  Siehe Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: Marc Bloch u. a., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. von Claudia Honegger, Frankfurt a. M. 1977.

zurück. Die Phase der Integration und Konzentration im westdeutschen Parteiensystem, begünstigt durch wachsenden Wohlstand und die verbindende antikommunistische Frontstellung des Kalten Kriegs, musste irgendwann zu Ende gehen. Trotz ihrer zeitlichen Dauer wäre es illusionär, sie als Normalfall zu betrachten. Vielmehr tritt jetzt gewissermaßen eine Normalisierung nach einem langen Ausnahmezustand ein. Die extreme Rechte ist wieder da Andreas Püttmann  —  Das Schisma der ­K onservativen

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und in ihrer regional unterschiedlichen Stärke auch mit den geistigen Erblasten der kommunistischen Diktatur im Osten zu erklären – und sei es nur als erratische anti-linke Reaktion, wie es die am falschen Objekt abreagierten Déjà-vus ehemaliger DDR-Regimegegner zeigen. Und prompt verfällt ein Teil der Konservativen und Liberalen gegenüber den Rechten wieder in alte Muster opportunistischer Verharmlosung, rhetorischen Nacheiferns oder offener antiliberaler Kollaboration im Sinne einer konservativen Revolution. Relativ resistent zeigen sich hingegen – abgesehen von einer kleinen, umtriebigen Minderheit – die christlichen Kernmilieus der CDU, bestärkt von ihren kirchlichen Autoritäten, deren Einfluss allerdings gerade aus anderen Gründen schwindet. Damit die verblassende historische Erinnerung und entsprechende Tabu-­ Aufweichungen in Verbindung mit längerfristigen ideologischen und psychologischen Dispositionen innerhalb weniger Jahre die alten politischen Legierungen aufbrechen konnten, bedurfte es aber eines weiteren, vielleicht gewichtigsten Faktors: Die Revolution der Kommunikation durch das Internet sowie die sozialen Netzwerke und die damit verbundene Fragmentierung sowie Entprofessionalisierung der Meinungsbildung hatten eine nicht zu unterschätzende Wirkung. Sie wirkten wie Brandbeschleuniger für Wut und Zügellosigkeit unter Konservativen, die doch traditionell immer die Mäßigung betonten. Sascha Lehnartz skizzierte 2016 die Dramatik der Entwicklung in begrifflicher Reminiszenz an einen Essay von Botho Strauß aus dem Jahr 1993: »Zunächst enthemmte sich das Reden in obskuren Internetforen, dann zog es in die sozialen Netzwerke und Kommentarspalten der Medien. Ein anschwellender Bocksgesang, der alles abräumen möchte, was unser Gemeinwesen trägt: Parlamente, Medien, Institutionen und ihre Repräsentanten. Der dünne Firnis der Zivilisation wird munter abgeschabt. Der destruktive Charakter, sagt Walter Benjamin, will Platz schaffen. Wofür, weiß er nicht. Als gäbe es ernsthaft etwas Besseres. Das Prinzip Verantwortungslosigkeit hat inzwischen die Wahlkämpfe erreicht. Trumps Kampagne ist dafür ebenso beredtes Beispiel wie Teile der Debatte um den ›Brexit‹. In beiden dominiert die Verächtlichmachung des anderen. Es ist ein Hass-Sprechen, das Hass-­ Taten gebiert«26. Man erfährt es nicht nur durch Medienberichte, sondern auch durch Erlebnisse im Bekanntenkreis, sofern man sich in den affizierten Milieus bewegt. Manche konservativen oder liberalen Freunde haben sich in erschreckend kurzer Zeit radikalisiert, rechtspopulistisches Vokabular adaptiert und trampeln Widerspruch und Kritik so verärgert nieder, dass man sich an Ionescos Drama »Die Nashörner«27 erinnert fühlen kann.

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Perspektiven — Analyse

26  Sascha Lehnartz, Verrohung und Verdummung, in: Die Welt, 23.06.2016. 27  Siehe Andreas P ­ üttmann, Die Nashörner kommen. ­Menetekel einer rechtskonservativen Radikalisierung in vier Szenen, in: Starke Meinungen, 01.03.2016, URL: http://starke-meinungen.de/ blog/2016/03/01/die-­­nashoe­r­­ner-kommen-menetekel-­ einer-rechtskonservativenradikalisierung-in-vier-szenen/ [eingesehen am 21.05.2019].

Auf Facebook ist die AfD »eine Macht. Sie verfügt über eine regelrechte Armee von Unterstützern und über Reichweiten, von denen SPD und Union nur träumen können. Und das weiß sie gekonnt einzusetzen«28. Moralisch desensibilisierende Effekte der Online-Kommunikation sind allenthalben offenkundig. Wo der Einzelne sich wie nie zuvor in Filterblasen und Echo­ kammern des Netzes mit Gleichgesinnten zusammentun und, so Reinhard Kardinal Marx, »in Szenen gegenseitig bestätigen und hochjubeln« kann, ohne sich argumentativ mit Andersdenkenden messen und Publikationsstandards journalistischer Gatekeeper erfüllen zu müssen, greifen leicht statt Schwarmintelligenz Schwarmborniertheit und Schwarmaggressivität um sich; »Verbloggung« könne »Verblödung« fördern, sagte Marx in der Abschlusspressekonferenz der Herbstvollversammlung 2015 der deutschen Bischöfe.29 Ich selbst konnte diese Effekte bei Freunden beobachten, die in relativ kurzer Zeit wie ausgewechselt wirkten. SELBSTREFLEXION: KONSERVATIVER WIDERSTAND GEGEN DAS RECHTE »68« Trotz zahlreicher Erfahrungen von Aggression und Verleumdung aus dem konservativen Milieu habe ich mich bemüht, meiner Herkunft treu zu bleiben und mich nicht zu einem Umkippen und Lagerwechsel provozieren zu lassen. Die Loyalität ging zum Teil bis an die Grenze des noch Vertretbaren. Dank darf man dafür nicht erwarten. Man fühlt sich wie ein Sektenaussteiger. Die politische Großwetterlage verlangt im Sinne des Gleichgewichtsmotivs neue Positionierungen, ohne dass man seine Wertüberzeugungen verändert hätte. Als ich vor zwei Jahren auf der Plattform Facebook erstmals als »linksliberal« und auf Twitter als »Linkskatholik« rubriziert wurde, wusste ich endgültig: Unverrückbar geglaubte Fundamente unserer politischen Kultur müssen ins Rutschen gekommen sein. So arg, dass man sich mit Richard David Precht fragen kann: »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?« Die Hälfte meiner konservativ-katholischen Weggefährten vom Anti-68er-Lager ist inzwischen perdu. Verloren als Freunde und meist auch für die liberale Demokratie. Der 28  Sebastian Horsch u. Til Huber, Die AfD und ihre Facebook-Armee. Einfache, plakative, provokante Botschaften, in: Merkur.de, 12.06.2016, URL: http:// www.merkur.de/politik/afd-undihre-facebook-­armee-6479596.html [eingesehen am 21.05.2019].

Rechtskonservativismus einer DNVP oder eines Barons von Papen war mir

29  URL: https://www.youtube. com/watch?v=p1O6ZYG7BKU [eingesehen am 21.05.2019].

• die Radikalisierungsdynamik, legitimiert durch eine angebliche »struktu-

nie weniger fremd als Sozialismus oder Libertinage. Die neuen Hugenbergs und Papens haben aus der Geschichte nichts gelernt. Vor allem dieses nicht: dass es nicht reicht, »kein Nazi« zu sein, um ein guter Demokrat zu sein. Der neurechts-rechtspopulistische Habitus ist dem der 68er übrigens in mancherlei Hinsicht ähnlich. An die linke Revolte erinnern: relle Gewalt«, heute des »Merkel-Regimes« und seiner »Meinungsdiktatur«; Andreas Püttmann  —  Das Schisma der ­K onservativen

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• damit verbundene Ermächtigungsfantasien, als »Bewegung« gegen parlamentarische Mehrheiten dem Volksinteresse oder der »Wahrheit« zum Durchbruch verhelfen zu dürfen und müssen, notfalls auch revolutionär; • die Verharmlosung Rechtsextremer durch Rechte, bis hin zur »klammheimlichen Freude« über Verbalexzesse oder Gewaltakte; • die Idealisierung rechtspopulistischer Bewegungen in anderen Ländern, selbst dann, wenn diese sich den Staat zur Beute machen, die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat schleifen und öffentlich-rechtliche Medien zu Propagandaorganen umschmieden; • die Nachsicht gegenüber der Kreml-Diktatur und ihrer Aggressivität gegen Nachbarländer und den Westen bis hin zur Dankbarkeit für Putins Kampf gegen westliche »Dekadenz«; • die Propagierung von »Widerstand« und Rechtfertigung illegaler Aktionen wie derer der Identitären Bewegung, etwa durch Matthias Matussek30, Peter Winnemöller, der Artikel 20 IV GG ins Gespräch brachte gegen die angebliche Angriffe auf die Meinungsfreiheit,31 oder Professor Ockenfels, der meint, gegen den »Suizid der Nation« sei »Widerstand geboten, aus naturrechtlicher Notwehr und Nothilfe«32. Solche Widerstandsrhetorik hat womöglich fatale Folgen: • der psychisch labile Attentäter gegen Henriette Reker verstand sich als »wertkonservativer Rebell«33; • ein idealistisches Menschenbild (nun auf biodeutsche Volksgenossen reduziert), das alle Übel bösen, unfähigen Politikern des »Systems« anlastet; • die Verachtung des mühsamen, pragmatischen Interessenausgleichs der Politik zugunsten eines Pathos der nationalen Erhebung. Trotz gegensätzlicher Ideologien sind es insofern ähnliche Gründe, die mich zum Gegner der damaligen linken und der heutigen rechten Kulturrevolution

30  Siehe Matthias M ­ atussek, Wie ich von links nach rechts gelangte, in: Zeit Online, 06.07.17, URL: https://www.zeit. de/kultur/2017–07/68er-matthias-matussek-rechtspopulismus-identitaere [eingesehen am 21.05.2019]. 31  Siehe Peter Winnemöller, Langsam wird mir bange, in: kath.net, 22.05.2015, URL: http://www.kath.net/news/50657 [eingesehen am 21.05.2019].

gemacht haben. Deren Trommler behaupten zwar, erhalten zu wollen, also konservativ zu sein, würden aber zerstören und einen regime change herbeiführen. Sie einzudämmen wird erschwert durch einen Typus nicht AfD-affiner, meist älterer Konservativer, die im Sturm der Zeit dem bösen Feind immer noch an der linken Reling auflauern, wie es sich für sie seit Jahrzehnten bewährt hat. Dass der Wind längst drehte, realisieren sie nicht – oder nehmen ihn als Rückenwind wahr. Die demokratisch-rechtsstaatliche Grundierung auch manches nicht nationalistischen oder rassistischen konservativen Christen erweist sich angesichts der Zumutungen der liberalen Gesellschaft mit Abtreibungspermissivität und Homo-Ehe als nicht wetterfest. Katholischerseits mag die Berieselung durch kirchlich-autoritäres Denken vom Zweiten

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Perspektiven — Analyse

32  Wolfgang Ockenfels: Spaltung statt Versöhnung?, in: kath.net, 12.12.2018, URL: http:// www.kath.net/news/mobile/61998 [eingesehen am 21.05.2019]. 33  Zit. nach o. V., »Ich bin kein Nazi, ich bin ein wertkonservativer Rebell«, in: RP online, 15.04.2016, URL: https:// rp-online.de/nrw/staedte/ koeln/henriette-reker-prozessin-duesseldorf-frank-s-willsich-aeussern_aid-9197897 [eingesehen am 21.05.2019].

Vatikanischen Konzil lehrhaft abgestellt worden sein; aber die Kleider manches alten Kämpfers sind noch so klamm davon, dass er die Spritzer der neuen Anbrandungen von rechts gar nicht als Feuchtigkeit verspürt. Derweil frohlocken neurechte Ideologen wie Götz Kubitschek, Chef des Antaios Verlags: »Wahrhaft christlich bekäme die Verteidigung des Abendlandes eine ganz andere geistige Wucht«34. Und so kann man sich als »Alt-Anti-68er« heute in der Verteidigung der liberalen Demokratie Seit’ an Seit’ mit so manchem 68er wiederfinden, der politisch bei den Sozialdemokraten oder Grünen gelandet ist oder kirchlich eine andere Reformagenda hat, der man als Konservativer skeptisch gegenübersteht. Differenzen über die richtige policy (sachpolitische Inhalte) treten nun zurück hinter der fundamentaleren Herausforderung der polity (staatliches Regelsystem), mit der Folge neuer Allianzen. Der rechte Journalist Michael Klonovsky prognostizierte vor einigen Jahren im Magazin eigentümlich frei: »Es wird in den nächsten Jahren eine Spaltung dieses Landes in zwei Lager stattfinden, wie sie in den USA bereits weitgehend vollzogen ist. Die Bruchlinien sind mit Namen wie Sarrazin, Pirinçci, AfD und Pegida markiert, desgleichen gehören die Petitionsbetreiber gegen die Schulsexualisierung in bald vielen Bundesländern dazu, vielleicht auch die Maskulinisten, ein paar HoGeSa-Leute (Hooligans gegen Salafisten) und die Handvoll deutsche Libertäre. Es wird eine Bürgerbewegung werden, die sich die amerikanische Tea-Party zum Vorbild nehmen dürfte« und die es satt habe, »für das humanitaristische Theater [zu] blechen«, welches die »Lautsprecher des Zeitgeistes« inszenierten; die »Fronten müssen völlig neu gezogen werden«.35 Wir sind mittendrin. Auch wenn viele Konservative es noch nicht begriffen haben: Der große Gegensatz der Gegenwart lautet nun nicht mehr »rechts oder links«, sondern 34  Briefwechsel zwischen Claus Leggewie und Götz Kubitschek (Teil II), in: Sezession, 07.01.2017, URL: https:// sezession.de/56950/briefwechsel-zwischen-claus-leggewieund-gotz-kubitschek-teil-ii [eingesehen am 21.05.2019]. 35  Michael Klonovsky, Die Fronten müssen völlig neu gezogen werden, in: eigentümlich frei, 28.12.2014, URL: https:// ef-magazin.de/2014/12/28/6110pegida-giesst-den-tea-zurparty-die-fronten-muessenvoellig-neu-gezogen-werden [eingesehen am 21.05.2019].

»liberal oder autoritär«. Der Kampf wird in Staat und Kirche gleichermaßen ausgetragen. Europas Zukunft hängt auch davon ab, was sich religiös durchsetzt: ein Christianismus als staatlich protegierte Ordnungsideologie und nationaler, xenophober Identitätsmarker – oder ein weihnachtliches Christentum der Menschwerdung Gottes, der jeder Person Würde und Freiheit verlieh und der zu einer Kultur der Liebe aufruft. Da der Staat, zumal der demokratische, mit dem spanischen Kulturphilosophen José Ortega y Gasset (»Der Aufstand der Massen«, 1929) als »der Status, die Statik, die Gleichgewichtslage der Meinungen« begriffen werden kann, besteht der beste Dienst, den wir unser aller Freiheit leisten können, darin, uns »antizyklisch« zu positionieren – auch wenn dies konfliktträchtig ist und zu einem unkomfortablen Platz »zwischen allen Stühlen« führen Andreas Püttmann  —  Das Schisma der ­K onservativen

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kann. Thomas Mann bezeichnete sich 1934 als »Mensch des Gleichgewichts. Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht – und umgekehrt«36. Es gibt andere, die es andersherum machen: In der APOZeit knallrot, heute braun, wie der Anwalt Horst Mahler. Immer zur Stelle, wo man gerade meint, Avantgarde sein zu können. Früher maoistischer, heute konservativer Revolutionär, wie Matthias Matussek. Oder der »schwule Theologe« David Berger: erst vom ultrakonservativ-katholischen Traditionalismus in die liberal-kirchenkritischen Talkshows und von der Päpstlichen Akademie des Heiligen Thomas von Aquin zum Chef eines »Männermagazins«; dann in nicht weniger atemberaubendem Tempo durch das gesamte politische Spektrum nach radikal rechts, wo homophobe Katholiken den islamo-

36  Am 20.02.1934 an Karl Kerényi, zit. nach Hans Wysling, Narzissmus und illusionäre Existenzform. Zu den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull, Bern 1982, S. 210.

phoben AfD-Anhänger wieder in die Arme schlossen. Der echte Konservative hingegen ist ein Mensch des Maßes und der Stabilität, der Skepsis und Distanz, des Gemeinwohl-sensiblen Individualismus, nicht des Rudels. In der Kirche schätzt er die Tradition als eine »Demokratie der Toten« (Chesterton), als eine harmonische und formschöne Ordnung, die ihre Legitimation nicht »von unten«, sondern von (ganz) oben erfährt; die allerdings bereit ist, neue wissenschaftliche Erkenntnisse über den Menschen oder die Dinge der Welt ins Lehrgebäude einzuflechten, doch behutsam und skeptisch gegenüber dem bleibt, was sich allzu laut »fortschrittlich« nennt. Zum echten Konservativen gehört auch die Demut, sich stets der Irrtumsanfälligkeit des Menschen gewahr zu bleiben, im Sinne des Jesaja-­ Verses: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR , sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.« In diesem Sinne bin ich gern weiterhin ein politisch und kirchlich eher Konservativer, nach den heftigen Konflikten der letzten Jahre aber um einige Desillusionierungen und Blessuren reicher. Kein Grund zur Traurigkeit! Mancher Verlust ist Gewinn. Die große Konservative Elisabeth Noelle-Neumann zitierte gern Paul Valéry: »Wenn wir überrascht sind, stehen wir vor der Wirklichkeit.« Und beim Allensbacher Betriebsausflug 1988 hatte sie für den jungen Praktikanten aus Bonn eine Lebensweisheit parat: »Glück und Schwierigkeiten gehören zusammen. Nur auf Umwegen erreicht man das Glück. Es geht darum, seine Kräfte einzusetzen, Schwierigkeiten zu überwinden, Konflikten nicht auszuweichen und dabei zu wachsen.«

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Perspektiven — Analyse

Dr. Andreas Püttmann, geb. 1964 in Dinslaken, ist Politik­wissenschaftler und Publi­ zist. Er lebt in Bonn. Zuletzt erschienen: »Wie katholisch ist Deutschland – und was hat es ­davon?« (Bonifatius, 2017) und als Co-Autor: »AfD, Pegida und Co. Angriff auf die Religion?« (Herder, 2017), »Gender-Nation-­ Religion. Ein internationaler Vergleich von Akteursstrategien und Diskursverflechtungen« (Campus, 2019). 2014/15 war Püttmann Mitglied der CDU-Zukunftskommission zum Gesellschaftlichen Zusammenhalt, 2015–18 kooptiertes Mitglied im Vorstand der Gesellschaft Katholischer Publizisten. 2018 wurde er in den Ständigen Arbeitskreis »Politische und ethische Grundfragen« des Zentralkomitees der deutschen Katholiken berufen.

ESSAY

DIE »NICHTREGIERUNG« KONKORDANZSYSTEM UND DIREKTE DEMOKRATIE ALS MODELL FÜR DIE EU? ΞΞ Karl-Martin Hentschel

»Das stabilste Land der Welt hat keine Regierung. Und es ist nicht stabil, obwohl, sondern weil es keine Regierung hat. […] Menschen auf der Straße, denen Sie zufällig begegnen […] (wissen) den Namen der Präsidenten von Frankreich oder der USA, […] nicht aber den ihres eigenen Landes.« (Nassim Taleb1) Mit dem »stabilsten Land der Welt«, von dem Nassim Taleb spricht, meint er natürlich die Schweiz. Die Bilanz dieses eigentümlichen Gesellschaftssystems kann sich trotz vieler berechtigter Kritikpunkte sehen lassen: In 170 Jahren ohne Beteiligung an einem Krieg entwickelte sie sich zu einem der reichsten, sozialsten und umweltbewusstesten Staaten der Erde, mit einer der besten Rentenversicherungen für jeden – auch für die 25 Prozent ohne schweizerischen Pass. Vor allem aber stehen die Schweizer hinter ihrer Demokratie und sind davon überzeugt, dass sie – das Volk – das Sagen haben. Können wir davon etwas lernen oder handelt es sich um eine besondere Mentalität eines kleinen Bergvolkes, die nicht auf andere Länder oder gar die EU übertragbar ist? DIE NICHTREGIERUNG – WAS IST DAS KONKORDANZSYSTEM? Es stimmt tatsächlich: Die Schweiz hat wirklich keine Regierung – zumindest nicht das, was man im üblichen Sinne darunter versteht, nämlich ein Gremium, welches das Land in die eine oder andere Richtung lenkt. Doch stellt sich die Frage, wie ein solches System funktionieren kann. Die Antwort 1  Nassim Taleb, Risiko-­ Forscher an der New York University, in: Ders., »Antifragilität«, München 2013.

ist einfach und verblüffend zugleich: An der Spitze der Exekutive – also der Ministerien – steht ein siebenköpfiger kollegialer Verwaltungsrat: der Bundesrat. Dieser wird von allen größeren und mittleren Parteien gemeinsam

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zusammengesetzt und entscheidet stets im Konsens. Diese Konstruktion nennt man »Konkordanzsystem«. Laut den Analysen der Zeitschrift Economist sind die effizientesten Regierungen regelmäßig die der Schweiz mit ihrem Konsensmodell und die Skandinaviens, wo Minderheitsregierungen Tradition haben. Nicht die direkt gewählten Präsidenten sind stark und handlungsfähig, sondern die Regierungen, die einen breiten Konsens in der Gesellschaft repräsentieren. Sie sind stark, weil sie das Land nicht spalten, sondern ein großes Vertrauen der Menschen genießen. Der Bundesrat verwaltet also die Schweiz – parteipolitisch neutral und konsensual. Die politische Richtung jedoch wird vom Parlament und dem Volk in Volksentscheiden vorgegeben. Der Bundesrat – die »Nichtregierung« – führt die Gesetze aus, die das Parlament oder das Volk beschlossen hat. Erstaunlicherweise genießt diese Nichtregierung ein im internationalen Vergleich einmalig hohes Vertrauen bei den Bürgern. Zugleich entwickeln sich daraus völlig andere Rollen und Verhaltensweisen des Parlamentes, der Fraktionen und der Parteien. EIN MODELL FÜR EUROPA? Wie komme ich nun darauf, dass dies ein geeignetes Modell für Europa sein könnte? Einige Ähnlichkeiten drängen sich auf: Europa ist ein extrem vielfältiger Erdteil. Tatsächlich haben weder Europa oder die EU noch die Schweiz ein Staatsvolk. Vor ihrer Gründung vor 170 Jahren bestand die Schweiz aus drei Monarchien, sechs Landsgemeinden (mit einer direkten Demokratie der Grundbesitzer), sieben Patriziaten (Herrschaft des Stadtadels – also der alten Kaufmannsfamilien), vier Zunftverfassungen (Herrschaft der selbstständigen Handwerker), zwei Föderationen (bestehend aus mehreren autonomen Gemeinden) und einer Reihe von Untertanengebieten (von Städten fremdregiert ohne eigene Rechte). Dazu gab es vier verschiedene Sprachen und zwei Religionen, die wenig mehr als Hass verband – der letzte Schweizer Religionskrieg von 1847 war noch frisch in Erinnerung. Heute werden in Europa über 250 Muttersprachen gesprochen (davon ein Drittel durch Migranten) und es gibt 24 EU-Amtssprachen, in die alle nach außen wirksamen Dokumente von Parlament und Kommission übersetzt werden müssen. Heute befindet sich die EU in der Krise und Stimmen mehren sich, die eine Neugründung der EU als föderale Republik fordern. Dann stellt sich die Frage, ob dieses künftige Europa einen direkt gewählten Präsidenten bekommt, ein System mit Mehrheitsregierungen wie in Deutschland oder Großbritannien oder etwa das Schweizer System. Und dann spricht vieles für das Konsensmodell. Eine Mehrheitsregierung oder gar ein direkt gewählter

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Perspektiven — Essay

Karl-Martin Hentschel  —  Die »Nichtregierung«

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Präsident wäre für die EU geradezu gefährlich. So wie in der Schweiz die Deutschschweizer niemals akzeptieren würden, dass die romanischen Kantone dominieren, dass die Katholiken die Mehrheit in der Regierung stellten, dass die Städter Vorschriften für die Bauern in den Bergen machten, so würde man auch in der EU keine Dominanz der Westeuropäer, der Südeuropäer, der Katholiken und so weiter akzeptieren. Bei einer Mehrheitsregierung könnte Osteuropa in Opposition zu einer westlich geprägten Regierung treten, Südeuropa könnte in Opposition zu einer nördlich geprägten Regierung geraten. Und eine gemeinsame Mehrheitsbildung des Südens und Ostens gegen Deutschland würde erst recht massive Verwerfungen hervorrufen. DIE AUSWIRKUNGEN AUF PARLAMENT UND PARTEIEN Dieses Problem kann auch nicht durch eine Direktwahl des Präsidenten gelöst werden, wie Ulrike Guérot, die Vorkämpferin für eine europäische Verfassung, sie vorschlägt. Interessant ist, dass ausgerechnet Parag Khanna, ehemals enger Vertrauter und außenpolitischer Berater von US-Präsident Obama, die Direktwahl des Präsidenten für den größten Fehler der US-Verfassung hält, da sie das Land spaltet und die politische Debatte personalisiert. Schon Rousseau lehnte sie als »Wahlkönigtum« ab. Eine Konsensdemokratie dagegen mit einem Kollegialrat als Leitung der Exekutive würde die heute oft als produktiv beschriebene offene Atmosphäre im EU-Parlament ohne Fraktionszwang erhalten. Hätte ein solcher Kollegialrat der EU zum Beispiel 15 Mitglieder, dann säßen nach der heutigen Zusammensetzung des Europaparlaments im Kollegialrat vier Vertreter der Europäischen Volkspartei (mit CDU/CSU), drei der Sozialdemokraten, zwei der Liberalen, zwei der Konservativen (darunter ein englischer Tory), eine der Linken, eine der Grünen, eine der Populisten und eine der Nationalisten. Diese 15 Kollegialräte müssten sich auf eine gemeinsame Politik verständigen und vor allem die Gesetze des Parlamentes umsetzen. Unvorstellbar? Ich denke nicht: Es wäre vielleicht eine große Chance, Vertrauen in die Politik aufzubauen, anstatt die Völker Europas zu spalten. Die politischen Debatten würden dann zu Sachdebatten im Parlament werden. Parteien sind im Konkordanzsystem auch keine Machtapparate mehr wie in Deutschland. Nur bei der Benennung der Bundesräte üben sie Macht aus. Die lautstarken Politiker hätten weniger Anreize, in die Regierung zu gehen, weil sie sich dort gar nicht profilieren könnten. Sie säßen im Parlament – also da, wo die politischen Debatten auch hingehören. Und dort gäbe es keine Koalitionen mehr und auch keinen Fraktionszwang, sondern nur noch Fraktionen, die für ihre politischen Ziele werben.

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Perspektiven — Essay

Dieser Effekt ließe sich durch Volksentscheide auf europäischer Ebene noch verstärken, dadurch politische Debatten quer durch Europa über die Zukunft des Kontinents ermöglichen. Dann fokussierten sich die öffentlichen Debatten und die Berichterstattung in den Medien zum einen auf das Parlament (die Legislative) und zum anderen auf die Volksinitiativen und Referenden – also die direkte Demokratie. Dadurch bekämen die Debatten in der Zivilgesellschaft und den Nichtregierungsorganisationen viel mehr Gewicht. Denn diese wären nicht nur unwichtige Zuschauer und kommentierende Beobachter und Kritiker, sondern direkt handelnde Subjekte in der Demokratie. DAS PROBLEM BOUTEFLIKA Kann das Konkordanzsystem auch ein Vorbild für andere Demokratien sein? Im März 2019, als Hunderttausende in Algerien gegen Präsident Bouteflika demonstrierten, stellte sich mir die Frage: Warum wollte bis dahin ein großer Teil der politischen Elite, dass der Patriarch Bouteflika erneut als Präsident kandidieren sollte? Schließlich sitzt der 82-Jährige nach mehreren Schlaganfällen im Rollstuhl und kann kaum noch sprechen. Sein Regime gilt als korrupt, autoritär und extrem unpopulär, wenn nicht verhasst. Warum also hielten linke Militärs, gemäßigte Islamisten und korrupte Wirtschaftslobbyisten an ihm fest? Sie alle einte nur eines: Sie hatten Angst vor der Zeit nach Bouteflika. Denn vor seinem Regierungsantritt herrschte ein grausamer Bürgerkrieg. Und seine zahlreichen Gegner reichen von radikalen Islamisten bis zu radikalen Demokraten und sind daher heillos zerstritten. Daher fürchteten viele Gemäßigte einen erneuten Bürgerkrieg oder gar eine Entwicklung wie in Syrien, Afghanistan oder Ägypten. Der Fall Bouteflika ist keine Ausnahme. Die taz berichtete über linke junge Intellektuelle in Kasachstan.2 Sie hoffen, dass der Diktator Nasarbajew, der seit 25 Jahren das Land beherrscht und sich dabei gnadenlos bereichert hat, noch lange weitermacht. Denn sie fürchten nach seinem Tod antirussischen Nationalismus und muslimischen Fundamentalismus. Vielleicht wäre in einer solchen Situation eine demokratisch gewählte Konsensregierung die einzige Alternative. Aber auch für Präsidialdemokratien wie Frankreich oder die USA könnte dies eine Alternative sein, die dazu beitrüge, die extreme Polarisierung der Gesellschaft zu überwinden. KONKORDANZ SCHAFFT SICHERHEIT Das Konsenssystem der Schweiz bringt mehr Sicherheit und Verlässlichkeit in 2  Siehe Viktoria Morasch, Die mit dem Plan B, taz am Wochenende, 07./08.01.2017.

die Politik und erleichtert langfristige Planungen und Projekte. Aber dennoch stellt sich die Frage, ob es nicht schnelle Entscheidungen für grundlegend Karl-Martin Hentschel  —  Die »Nichtregierung«

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neue Weichenstellungen behindert? Tatsächlich werden Letztere in der Schweiz meist durch Volksinitiativen angestoßen, selbst wenn diese beim ersten Mal keine Mehrheit gefunden haben. Nassim Taleb vermutet, dass die Schweiz deshalb ein so guter Wirtschaftsstandort und Finanzplatz ist, weil sie so sicher und verlässlich ist. Und das hängt direkt mit der Konkordanz und der direkten Demokratie zusammen. Ein Konkordanzsystem ist auch ein Schutz vor der Gefahr internationaler Abenteuer. Ich vermute, dass es in keinem Land der Welt heute noch einen Konsens für ein militärisches Eingreifen außerhalb des Landes gäbe. Damit will ich nicht behaupten, dass eine Einmischung in diktatorische Regime, die Völkermord betreiben, nie mehr nötig wäre. Allerdings bin ich der Meinung, dass solche Einsätze nur im Auftrag der Vereinten Nationen durch eine Art internationale Polizei stattfinden dürfen und legitimiert werden können – aber nicht durch Truppen eines Nationalstaates. UNREALISTISCHE UTOPIE? Spätestens seit der ersten großen Europarede von Macron hat die Debatte um eine künftige EU-Verfassung begonnen. »Brexit« und Wahlerfolge von Populisten haben deutlich gemacht, dass ein »Weiter so«, ohne das Demokratie- und Handlungsproblem der EU anzupacken, immer schwieriger wird. Fast alle EU-Befürworter fordern eine handlungsfähige Regierung, nicht selten sogar die Direktwahl eines Präsidenten nach US-Vorbild. Trotzdem glaube ich, dass das Konsensmodell nicht nur das wesentlich bessere Modell für Europa ist, sondern überdies große Realisierungschancen hat. Denn wenn es tatsächlich aufgrund von breitem öffentlichem Druck, vielleicht sogar aufgrund einer europaweiten Konventskampagne, zur Wahl eines Verfassungskonventes kommt, dann werden die Karten völlig neu gemischt. Ein zentralisiertes Europa und eine starke Mehrheitsregierung sind mit Sicherheit nicht mehrheitsfähig. Es muss so viel dezentralisiert werden wie möglich. Nur die wichtigsten Aufgaben wie die Besteuerung von internationalen Konzernen, ein wirksamer Finanzausgleich, eine Verpflichtung auf Klimaziele oder die Außenpolitik müssen von der EU unbedingt übernommen werden. Ein Konsensmodell für die Regierung würde der Vielfalt Europas am besten gerecht werden und wäre am ehesten geeignet, das Vertrauen vieler Menschen in allen europäischen Staaten zu gewinnen. Vieles spricht dafür, dass ein Konkordanzsystem die größten Chancen hätte, im Verfassungskonvent und in einer europaweiten Abstimmung über die Verfassung die Mehrheit zu bekommen. Die Utopie könnte sich als das Modell mit den realistisch betrachtet meisten Chancen erweisen.

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Perspektiven — Essay

Karl-Martin Hentschel, geb. 1950, ist ehemaliger Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, Vorstandsmitglied von Mehr Demokratie e. V. und freier Autor. Ehrenamtlich vertritt er Attac im Vorstand des Netzwerk Steuergerechtigkeit. In seinem 2018 erschienenem Werk »Demokratie für morgen – Roadmap zur Rettung der Welt. Mit einem konkreten Entwurf für ein gerechtes Europa« widmet er sich der Neugestaltung der EU.

DÜNNES EIS? ACH WAS! VIER THESEN IN VERTEIDIGUNG DES PURITANISMUS ΞΞ Andrea Roedig Das Jahr 2018 war das Jahr des »Puritanismus«. Eine kursorische Recherche in der Datenbank Genios für deutschsprachige Printmedien ergibt, dass der eigentlich unmoderne Begriff mit 474 Zitationen fast doppelt so häufig vorkam wie 2017. Dass das Adjektiv »puritanisch« 2017 etwas höher rangierte, lag an einem Massaker an Gläubigen in einer Moschee in Rawda (Ägypten), ausgeführt im Namen des »puritanisch-salafistischen« Islam, über das alle Zeitungen berichteten. Der 2018er Peak bei »Puritanismus« aber geht auf das Konto Catherine Deneuves, die zu Beginn des Jahres prominent den offenen Brief einiger Französinnen gegen #Metoo unterzeichnet hatte. »Genau das ist das Wesen des Puritanismus: Im Namen eines vermeintlichen Allgemeinwohls Argumente für den Schutz der Frauen […] suchen, nur um sie besser anketten zu können […]. Wie in den guten alten Tagen der Hexerei«, hieß es in dem Text, mit dem die Damen ihrer Besorgnis um die Freiheit des heterosexuellen Flirts Ausdruck verliehen. Obwohl Deneuve sich später für den Brief entschuldigte, sprangen andere KollegInnen und zahlreiche Medien auf jenen Zug auf, der schon lange vor 2018 seinen Bahnhof verlassen hatte: »Die Puritaner sind unter uns« (Welt, 5.2.2018) titelten also die Zeitungen, »Haneke kritisiert ›Hexenjagd‹« (afp, 10.2.2018), »Von Trotta warnt vor Puritanismus« (Münchner Abendzeitung, 28.6.2018), »Die neuen Puritaner« (Tages-Anzeiger, 16.8.2018), »Leben wir 1 

Wenn man mit dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) vertraut ist, hat der Begriff Puritanismus seinen Zenit längst überschritten. Er liegt für die deutschsprachige Verwendung eigentümlicherweise zwischen 1880 und 1980; siehe die historische Verlaufskurve der Verwendungshäufigkeit der Begriffe puritanisch/Puritanismus auf dwds.de, URL: https://www. dwds.de/r/plot?view=1&corpus=­ public&norm=date%2Bclass&sm ooth=spline&genres=0&grand= 1&slice=10&prune=0&window= 3&wbase=0&logavg=0&logscale= 0&xrange=1600 %3A 2017&q1=Puritanismus [­eingesehen am 07.03.2019].

schon wieder im 19. Jahrhundert?« (taz, 28.9. 2018), »Ingrid Caven fürchtet, dass ein neuer Puritanismus droht« (Spiegel Online 15.11.2018) und so weiter und so fort. Andere, viel seltenere Verwendungsweisen des Wortes waren überdies »puritanisches Design« oder der »Abgas-Puritanismus unserer Zeit« (Auto-Bild, 2.3.2018). Es wäre vermessen, zu behaupten, eine zufällige Genios-Abfrage belegte einen Trend zur Rede über neuen Puritanismus.1 Aber man stößt doch in den letzten Jahren auffällig oft auf die Bezeichnung »puritanisch« bzw. »Puritanismus«, vor allem im Kontext der Auseinandersetzungen um Political Correctness (PC). Dort ist gerne vom »Terror der Tugend« die Rede oder vom »Kulturpuritanismus«, von »Calvinistischem Chor« oder dem »alten Gift Calvins«. Soweit ich sehe, gibt es im westeuropäischen Kulturkreis keine positive Bedeutung von »puritanisch«, weshalb sich dieses Wort – eng verschweißt mit

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den Assoziationen »lustfeindlich«, »rigide«, »humorlos«, »verklemmt« – perfekt für Polemik eignet, was die Anti-PC-Fraktion ausgiebig nutzt. In dieser polemischen Verwendung steckt aber auch etwas Diagnostisches. Vergleicht man unsere heutige mit der Welt der 1970er Jahre, scheint ja tatsächlich nicht nur im Hinblick aufs Sexuelle vieles geregelter, sauberer und gefühlt »puritanischer« zu werden: Wir tragen sogar den Hundekot fein säuberlich in Tütchen fort – eine Absurdität eigentlich –, und dass neben schriftlichen Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen auch Bilder mit Krebsgeschwüren zu sehen sind, mag manchem Tabakfreund wie der perverse Gipfel eines puritanischen Bildersturms erscheinen. Puritanisch sein möchte niemand. Aber was fürchten wir so daran? Im Folgenden werde ich versuchen, die gängige negative Intuition gegen den Strich zu bürsten, ohne jedoch den diagnostischen Aspekt außer Acht zu lassen. Es ist klar: »Puritanismus« nervt. Vielleicht lässt sich ihm aber doch etwas abgewinnen? Das klingt nach glattem Eis. Versuchen wir es trotzdem und auf dem Weg werden wir neuzeitliche Puritaner treffen, die Sex nicht schlecht finden; moderne Anti-PCler, die vielleicht Recht haben, aber nicht so, wie sie glauben; coole Jungs in der Raucherecke; ausschweifend-asketische Rebellen und einen historischen Gegensatz von feudal und bürgerlich, der vermutlich immer noch gegenwärtige Debatten strukturiert. A hotter sort of Protestants »Puritanisch« war immer schon ein Schimpfwort. Als »Puritaner« wurden ursprünglich jene radikalen, calvinistisch inspirierten Bewegungen in England unter Heinrich VIII. und Elisabeth I. bezeichnet, die sich die vom Papst abgespaltene anglikanische Kirche strenger protestantisch wünschten. Als »a hotter sort of Protestants« und glühende Anti-Katholiken wollten sie die Liturgie verändern, Bilder aus den Kirchen verbannen, den Priesterornat abschaffen. Politisch standen sie eher auf der Seite des Parlaments als auf der des Königs, und der englische Bürgerkrieg ab 1642, der schließlich mit der Enthauptung König Karls I. endete und den Lord Protector Oliver Cromwell an die Macht brachte, wird folglich auch als »Puritanische Revolution« bezeichnet.2 Das Religiöse war politisch und das Politische religiös und auch von Fragen der Lebensführung nicht zu trennen. Die Puritaner, die sich selbst »the godly«, also die Frommen, nannten, strebten eine religiöse Erneuerung und durchgreifende Spiritualisierung des Alltagslebens an. Im Lauf der Zeit übernahmen sie den für sie erfundenen Schimpfnamen »Puritaner« als Eigenbezeichnung. Etliche unter ihnen waren Millenaristen, sie glaubten an ein

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Perspektiven — Essay

2  Die Hochzeit der englischen Puritaner könnte man von 1540 bis 1660 ansetzen. Mehr Einfluss auf die gesamte Kultur hatten dann jene Separatisten, die ab 1620 als selbsternannte Heilige, als Pilgerväter in die Neue Welt emigrierten und an der Westküste Amerikas New England als ein »Neues Jerusalem« errichteten. Ich gehe im Folgenden nicht speziell auf die amerikanische puritanische Tradition ein.

tausendjähriges Reich, das auf Erden zu errichten sei und in welchem der Messias wiederkehrt. Spott und Häme gegenüber dem strengen Protestantismus sind im 17. Jahrhundert nur vor dem Hintergrund von Glaubensauseinandersetzungen zu verstehen. Sie waren religionspolitisch motiviert, aber zum Teil auch lebensweltlich. Weniger aus asketischen denn aus spirituellen Gründen wandten sich die Puritaner gegen Tanz, Glücksspiel und die körperliche Betätigung am heiligen Sabbath, gegen Alkohol- und Tabakgenuss und das Theater, das sie mitunter auch als »chapel of satan« bezeichneten; tatsächlich waren unter Oliver Cromwell auch für kurze Zeit die Theater in London geschlossen. Kein Wunder also, dass sich die Polemik gegen die Puritaner bevorzugt der angefeindeten Bühnenbretter bediente. In Ben Johnsons Stück »Bartholomäusmarkt« von 1614, der bekanntesten zeitgenössische Theaterparodie auf die Puritaner, treten eine Dame Purecraft, Frau »Reinekunst« auf – und ein Zeal of the Land Busy, übersetzt etwa »Herr Eifer vom Heiligen Land«. Er ist ein Paradebeispiel der Scheinheiligkeit, wettert gegen die fleischlichen Genüsse, liebt aber das Schweinefleisch, will das Puppentheater zerstören, wird später jedoch bekehrt zum glühenden Theateranhänger. 3  »Iago is an obscene, sexually phobic character representing a psychological oxymoron, which openly reflects the projecitiv, Manichaean nature oft he puritan mind«, Alessandro Serpieri, Abuse and Use of the Theatre: Shakespeare and the Puritans, in: Paola Puglatti u. Alessandro ­Serpieri (Hg.), English Renaissance Scenes, Oxford 2008, S. 15–58, hier S. 56. 4  Michael Hochgeschwender, Amerikanische Religion. Evangelismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt a. M. 2007, S. 41. Informationen basieren auch auf einem Gespräch und Interview mit Hochgeschwender; siehe »Die Puritaner waren nicht verklemmt«, in: Der Tagesspiegel, 11.12.2018. Siehe auch gegen die Konnotation puritanisch = prüde ­Barbara Vinken, Was bedeutet die ­Freiheit der Liebe?, in: WOZ Die Wochenzeitung, 18.01.2018; allerdings wirft Vinken dem Puritanismus Kontrollzwang und Genussfeindlichkeit, eine »tiefe Liebes- und Erosverachtung« vor.

Subtiler als bei Ben Johnson sind die Anspielungen auf Puritaner in William Shakespeares Stücken, etwa in »Hamlet«, »Maß für Maß« oder »Othello«. Shakespeare gehe es weniger um die Parodie als um die Psychologie des Puritanismus, meint der Literaturwissenschaftler Alessandro Serpieri. Der Jago im »Othello« etwa sei »ein obszöner, sexuell phobischer Charakter, ein psychologisches Oxymoron, das offen die projektive, manichäische Natur des puritanischen Geistes widerspiegelt«3. Sexuelle Phobie, psychische Widersprüchlichkeit, Projektion und ein zweigeteiltes Weltbild – wir werden diese Diagnose später wiederfinden. Fraglich ist aber, ob sie wirklich das trifft, was schon Shakespeare im Sinn hatte. Man könne den Puritanern einiges vorwerfen – ihren Kontrollwahn, ihre Rigidität – nicht jedoch sexuelle Verklemmtheit, meint der Kulturanthropologe Michael Hochgeschwender. Was Sex in der Ehe anging, seien die Puritaner aufgeschlossener gewesen als die Katholiken oder auch die Lutheraner, sie hätten recht deftige Ehemanuale verfasst und fortschrittliche Ideen über den weiblichen Orgasmus vertreten. Dass Puritanismus heute mit sexueller Verklemmtheit assoziiert wird, hält Hochgeschwender für eine Erfindung späterer Zeiten: »Vieles von dem, was heute als puritanisch firmiert, ist ein Produkt der Obsessionen von Aufklärern und bürgerlichen Viktorianern des 19. Jahrhunderts […]. Um es in ein Schlagwort zu fassen: Die Puritaner waren nicht puritanisch und die Aufklärer nicht aufgeklärt.«4 Andrea Roedig  —  Dünnes Eis? Ach was!

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Auch die deutschen Pietisten gaben – ein Jahrhundert nach den Puritanern – eine gute Zielscheibe des Spotts ab: 1736 verfasste die damals 23-jährige Luise Adelgunde Victorie Gottsched eine Komödie mit dem Titel »Die P ­ ietisterey im Fischbeinrocke«. In diesem Stück, das zunächst anonym erschien und an dem zugegebenermaßen das Beste der Titel ist, geht eine geistlich ambitionierte »Frau Glaubeleichtin« dem »Magister Scheinfromm« auf den Leim und verliert fast ihr ganzes Vermögen, würde nicht »Herr Wackermann« rechtzeitig einspringen. Sein Lamento auf die Dummheit mancher Pietisten beschließt das Stück: »Der Betrug, die Gleißnerey, die Lust zur Sectirerey, die Bosheit […] ist […] so sichtbar, daß man mit fleiß muß blind seyn wollen; wenn man es nicht siehet. Wie viel elende Schmieralien, wie viel Heuchler, wie viel verborgene Bösewichter, wie viel liederliche Kerl […] wie viel leichtfertige […] Weiber giebt es nicht unter ihnen.«5 Will man es auf einen Nenner bringen, so scheinen sich die historischen Vorwürfe gegen den Puritanismus im Kern immer um Heuchelei zu drehen. Diese Kritik allerdings ist so alt wie die Welt und nicht besonders spezifisch; mit Vorliebe wurde und wird Doppelmoral ja auch dem katholischen Klerus unter die Nase gerieben. Und dann gibt es da noch dieses schillernde Wort: Zeal, Eifer – es beschreibt den emotionalen Grund, das Feuer, das die Puritaner und ihre Gegner offenbar in gleichem Maße beseelt. NARZISSTISCHE NEIDHAMMEL? Was heute unter dem Label »Puritanismus« firmiert, hat mit dem historischen Puritanismus nicht viel zu tun, ist eher ein semantisches Konstrukt, unklar vermischt auch mit Fantasien über das 19. Jahrhundert (Puritanismus und Viktorianismus scheinen da manchmal durcheinander zu geraten) und befördert durch zahlreiche literarische sowie filmische Bearbeitungen des Stoffs. Nathaniel Hawthornes Romanklassiker »The Scarlet Letter« von 1850 gehört dazu, genauso wie Stefan Zweigs »Castellio gegen Calvin«, Arthur Millers »Hexenjagd«, aber auch Filme wie Michael Hanekes »Das weiße Band« oder Ingmar Bergmans »Fanny und Alexander«, die jeweils einen brutal sadistischen Protestantismus ins Bild setzen. Zur Literarisierung beigetragen hat auch Max Weber mit seiner immer wieder aufregend zu lesenden Studie »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«. Das puritanische Ethos hole die ursprünglich klösterlich-weltflüchtige Askese ins Alltagsleben hinein: »Mit voller Gewalt wendet sich die Askese […] vor allem gegen eins: das unbefangene Genießen des Daseins und dessen, was es an Freuden zu bieten hat.«6 Diese »innerweltliche Askese« trägt laut Weber zu einer für die Entwicklung des Kapitalismus

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Perspektiven — Essay

5  Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Die Pietisterey im Fischbeinrocke, Stuttgart 1996, S. 139 f. 6  Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München 2004, S. 190 (183).

wesentlichen Disziplinierung und Rationalisierung der Lebenswelt bei, in 7 

Ebd., S. 150 f. (105).

deren Folge Arbeit zum Selbstzweck werde. Am Ende ständen jene »stahlharten puritanischen Kaufleute«, die als »selbstgewisse Heilige« Erfolg und

8  In seiner Studie »Multikulturalismus und Political Correctness in den USA« (Wiesbaden 2005) erinnert Mathias Hildebrandt daran, dass »PC« ursprünglich eine Bezeichnung der Linken war, um selbstironisch eine zu strenge Linientreue im eigenen Lager zu markieren. Schnell wurde der Begriff dann von neokonservativer Seite vereinnahmt, die ihn zu einem polemischen Werkzeug gegen den multikulturellen Anspruch linker Bürgerrechtsbewegungen und ihre Forderungen nach Minderheitenrechten machte.

Reichtum nicht genießen, sondern anhäufen und als Zeichen ihres Gnadenstandes betrachten.7 Auch wenn Max Webers Thesen mittlerweile umstritten sind, behalten sie ihre Plausibilität und befestigen das Bild einer protestantischen Strenge, also jenes semantische Konstrukt »Puritanismus«, auf das heute die Gegner der Political Correctness zugreifen – wobei sie es um den Aspekt der »Prüderie« bereichern, der bei Weber meines Wissens nicht vorkommt. Man wundert sich, wie lang die Debatte um Political Correctness schon andauert. Sie ist ein Import aus den USA: Die sogenannten Cultural Wars der 1990er Jahre8 lieferten auch europäischen AutorInnen Munition für derbe Attacken gegen das angebliche Gutmenschentum, wobei hierzulande das Andrea Roedig  —  Dünnes Eis? Ach was!

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Adjektiv »puritanisch« oft synonym mit »amerikanisch« verwendet wird, um jene eigenartig religiös verbrämte und verklemmte Kultur zu benennen, die aus europäischer Perspektive wenig nachvollziehbar ist.9 Was wird nun heute gegen »Puritanismus« vorgebracht, wie lauten die Argumente, wenn wir »Puritanismus« nicht als – wenn man so will – »Argument an sich« hinnehmen wollen? Vieles dreht sich dabei um die Schlagworte Verbot, Rigidität und Spaßverderberei. Neben der oft diffamierenden und grobschlächtigen Anti-PC-Polemik von rechts äußern sich, bisweilen etwas interessanter in der Argumentation, auch Autoren aus dem politisch linken Spektrum wie etwa Matthias Dusini und Thomas Edlinger mit ihrem Buch »Glanz und Elend der Political Correctness« (2012) oder Robert Pfaller in seinen Bestsellern »Wofür es sich zu leben lohnt« (2011) und »Erwachsenensprache« (2017). Diese Autoren sehen die »politisch korrekte Sprache« und ihre Anliegen als von Narzissmus, Lustfeindlichkeit und einer gewissen Hochnäsigkeit gesteuert. Dusini und Edlinger seufzen: »Wer spricht noch […] über Transgression,

9  Folglich spricht Robert Pfaller von einer »zeitgenössischen hegemonialen Sexualfeindlichkeit«, die in einem »für die USA typische[n] Kulturpuritanismus« gründe, und vom »Radikalfeminismus« als »gegenderte[r] Variante dieses Puritanismus« (Robert Pfaller, Erwachsenensprache, Frankfurt a. M. 2017, S. 57 f.). Ich gehe davon aus, dass in der US-amerikanischen Debatte das Wort »puritanisch« komplett anders verwendet wurde und wird als in der europäischen, auf die ich mich vorwiegend beziehe. Interessant wäre zu untersuchen, inwieweit durch das »puritanisch« die hiesige Debatte auch einen Touch Antiamerikanismus mit aufnimmt.

Erotik oder Rausch? Der größte Spaß scheint gegenwärtig der Masochismus der Rauchverbote und Körperdressuren zu sein. Narziss, so behaupten wir, hat sich als verborgener […] Gott eines politisch korrekten Lebensstils inthronisiert – und als dessen Dämon.«10 Robert Pfaller findet, seit den 1990er Jahren habe »das Asketische Konjunktur. Vieles, was vorher ein hohes Ansehen genossen hat und als lustvoll anerkannt war, gilt jetzt als prollig.«11 Auch Pfallers Argumentation fußt auf der Narzissmus-These12, die er – hier kehrt das Konstrukt des Puritanismus wieder – mit dem Vorwurf der Genussfeindlichkeit verbindet: Die auf Sicherheit bedachten fürsorglichen Regelungen, Triggerwarnungen, Gesundheitshinweise infantilisierten uns und schnitten mit allem, was uns gefährlich und unangenehm werden könnte, auch den Genuss ab. Genuss ist für Pfaller eine soziale und politische Haltung, die bedroht werde durch narzisstische Empfindlichkeit und das, was ihr zugrunde liege: nämlich Neid. Wobei der lustfeindliche Neid – das ist der Clou – ein Neid auf etwas sei, das man selbst nicht will. In Bezug auf sein Lieblingsthema Rauchverbote schreibt Pfaller: »Eine beträchtliche Zahl der Verbotsbefürworter [scheint] in erster Linie vom Neid auf das Glück des Anderen, verbunden mit dem Hass auf das Neidobjekt [befallen] zu sein.«13

10  Matthias Dusini u. Thomas Edlinger, Glanz und Elend der Political Correctness, Frankfurt a. M. 2012, S. 163. 11  Robert Pfaller, Kurze Sätze über ein gutes Leben, Frankfurt a. M. 2015, S. 39. 12  Das Argument geht so: Im Nachgang der 68er und ihrer Bestrebungen nach Selbstverwirklichung sei eine politische Kultur entstanden, die das Private nicht mehr vom Öffentlichen trenne und eher das Individuum mit seinen subjektiven Empfindlichkeiten politisiere – etwa als Identitätspolitik –, statt den eigentlich wichtigen Strukturfragen nachzugehen. Pfaller hält die gegenwärtigen ethischen Debatten für eine Ideologie bestimmter »Eliten der Empfindlichkeit«, die »großes Pathos aufbringen für kleinstes Pipifax« (Robert Pfaller, Erwachsenensprache, S. 48).

Die psychologisierende Deutung, dass die Politisch Korrekten im Grunde narzisstisch-empfindsame Neidhammel seien, geht zurück auf Friedrich Nietzsche, aus dessen Repertoire sich Pfaller sattsam bedient. Weil er sich

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Perspektiven — Essay

13  Robert Pfaller, Wofür es sich zu leben lohnt, Frankfurt a. M. 2011, S. 106 f.

nicht holen kann, was er will, ist Nietzsches bekanntes Argument in der »Genealogie der Moral«, erfindet der Schwache eine Institution: das christlich schlechte Gewissen, mit dem er alles vergiftet, verpestet und verbietet, was Spaß macht. Am Grunde der Moral liege versteckter Hass. Hier ist es wieder: das alte Argument der Scheinheiligkeit. Und natürlich bekommt in dem fulminanten Rundumschlag gegen das Christentum, den Nietzsche zugleich noch antisemitisch grundiert, auch der Puritanismus sein Fett weg: »Sofort triumphierte wieder Judäa, dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiment-Bewegung, welche man die Reformation nennt.«14 Die historischen Vorwürfe gegen den Puritanismus und die neuen Einwände gegen Political Correctness sind zwar nicht identisch, aber überschneiden sich in wesentlichen Punkten. Galt der Puritaner früher seinen Gegnern als scheinheilig, rigide, freudlos und dumm, gelten die Politisch Korrekten heute als empfindlich, selbstgerecht, genussfeindlich und dogmatisch. Gleich geblieben scheint vor allem der Vorwurf des dogmatischen Eifers, aus dem auch eine gewisse Dummheit und Begrenztheit resultiert, die allerlei Spott rechtfertigt. Neudeutsch ausgedrückt waren Puritaner und sind die Politisch Korrekten vor allem eines: uncool und spießig. VIER THESEN UND EIN PLÄDOYER Hoch unbefriedigend an der Debatte um Political Correctness, in deren Ausläufern wir uns offenbar immer noch befinden, ist, dass sie auch alle Folge14  Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Karl Schlechta (Hg.), Nietzsche, Werke III, München 1969, S. 796. 15  Vieles an der Polarisierung ist rechter Polemik geschuldet, eine Mitschuld trifft aber auch die Linke. »Offensichtlich konnte der konservative Propagandafeldzug nur erfolgreich sein, weil der Öffentlichkeit zumindest die exzessiven Tendenzen des Multikulturalismus und seine Neigung zu Dogmatismus und Intoleranz aus eigener Erfahrung bekannt waren. Die Berichte der Presse klangen deshalb plausibel, weil sie durch eigene Erfahrung bestätigt wurden«, schreibt Mathias Hildebrandt in Bezug auf ältere US-amerikanische Debatten (Hildebrandt, S. 86).

debatten auf falsche Weise polarisiert. Wie zwei starke Magneten saugt die Entgegensetzung – PC/Anti-PC – jede Äußerung auf eine der Seiten, als gäbe es derzeit keine Sprache für abwägende, offene Positionen.15 Gemeinhin neigt die Linke dazu, Anti-PC-Argumente rundweg als unsinnige Polemik zurückzuweisen. In der Kritik an der eigenen Attitüde aber gleich den camouflierten Rechtspopulismus zu vermuten, ist, wie ich glaube, eine falsche und auch gefährliche Strategie. Denn die Vorwürfe sind ja nicht ganz aus der Luft gegriffen; es gibt an der Haltung, die wir als »puritanisch« oder »politisch korrekt« empfinden, tatsächlich etwas, das sehr auf die Nerven geht. Es ginge also darum, genauer hinzuschauen, sich die Wendung »politisch korrekt« wieder als Terminus einer linken Selbstkritik anzueignen, sie gegebenenfalls aber auch, wie den sogenannten Puritanismus, in einigen Aspekten offensiv positiv zu besetzen. Für den Puritanismus lässt sich ja durchaus auch eine Lanze brechen; nicht alles ist falsch am puritanischen Geist, und es steckt, wenn man genau hinschaut, ein erheblich kritisches, ja anarchisches Potenzial in ihm. Was also stört und was ließe sich retten? Dazu vier Thesen: Andrea Roedig  —  Dünnes Eis? Ach was!

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These 1: Der eigentliche Stachel am Puritanismus ist sein Sektierertum Puritaner und auch Pietisten grenzten sich stark ab von der Orthodoxie der Kirchen, sie schlossen sich oft zu kleinen, dezentral organisierten Gemeinschaften – etwa als Herrnhuter »Banden« – in Gebetskreisen und Lesezirkeln zusammen, mit verbindlichen Regeln und Techniken der Gewissenserforschung und Introspektion. Man heiratete untereinander. Solche Abgrenzung ruft bei der Gegenseite immer Misstrauen hervor und reizt dazu, die verrückten Außenseiter zu ridikülisieren. Denn ja, natürlich, Seklusion befördert oft Wahnsinn, Rückständigkeit und inzestuösen Gruppenzwang – sie hat aber gegebenenfalls auch eine potenziell fortschrittliche gesellschaftliche Sprengkraft.16 Es ist leicht, sich über diejenigen lustig zu machen, die es ernst mit etwas meinen. Puritaner waren beseelt von ihrer Überzeugung, so wie es heute die angeblichen »Gutmenschen« sind oder jene radikalökologisch Bewegten, die tatsächlich den Lebensstandard einschränken wollen zugunsten der folgenden Generationen. Ihr Ernst mag lächerlich erscheinen, naiv, wunderlich, unmodern, genussfeindlich und bieder. Aber spricht er nicht wahr und ist er nicht auch – je nach gesellschaftlicher Lage – ein Stück weit Avantgarde? These 2: Nicht das Verbot regt auf, sondern seine ­Vernünftigkeit Dass der Puritanismus oder auch der deutsche Pietismus manchen Zeitgenossen so sehr ärgerte, lag – so vermutet die Historikerin Ulrike Gleixner – an seinem elitären Habitus: »Eine Haltung, die ausdrückt: Ihr macht es falsch und wir machen es richtig, nur wir sind moralisch gut, ist ein immenser Vorwurf. Im Grunde genommen ist es eine Unverfrorenheit, ein Sich-Erheben über die anderen.«17 In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um eine »puritanische Verbotskultur« geht es nicht wirklich ums Verbot, sondern eher um diese Besserwisserei, vielleicht auch um das Sich-Einmischen in eine Lebensführung, die von der Gegenseite als »privat« empfunden wird – denn Puritanismus ist ja totalitär in der Hinsicht, dass er aufs ganze Leben geht.18 Interessanterweise haben diejenigen, die sich in populistischer Manier als Opfer von Zensur und Verbot gerieren, oft gar nichts gegen Law and Order einzuwenden. Ein Gesetz, erlassen vom Präsidenten oder König, gilt ihnen nicht als besonders spießig. Warum wirken die als »Empfindlichkeit« verhöhnten puritanischen Gebote dagegen so bieder? Weil sie sich nicht auf blanke Gewalt stützen, sondern eine religiöse, moralische oder lebenspraktische

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Perspektiven — Essay

16  Im Puritanismus und Pietismus steckt mehr Feuer, als das Vorurteil der dummen Biederkeit vermuten ließe, und am interessantesten sind diese Bewegungen (aus der Distanz betrachtet) vielleicht dort, wo sie sich, extrem radikalisiert, gleichsam in ihr Gegenteil verkehren. Die spirituellen Verzückungen eines Grafen Zinzendorf muten in ihrer Blut- und Wundenmystik mitunter sehr katholisch an. Ein krasses aber gutes Beispiel, um den Eindruck puritanischer Prüderie Lügen zu strafen, ist auch die »Buttlarsche Kommune« oder »Buttlarsche Rotte«, die sich um 1700 im Hessischen Allendorf ansiedelte. Diese radikalpietistische Gemeinschaft von siebzig Personen lebte in kommunistischer Gütergemeinschaft, verehrte ihre Führerin Eva von Buttlar als »himmlische Sophia«: »Alles Geistige ins Leibliche ziehend […] wurde nach der Einführung des urchristlichen Liebeskusses der geschlechtliche Umgang unter den Mitgliedern der Gemeinschaft zur Glaubenspraxis erklärt. […] In der geschlechtlichen Vereinigung erlebte man die Wiederherstellung des androgynen Schöpfungszustandes«, schreibt der Pietismusforscher Johannes Wallmann über diese Kommune (Johannes Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 1990/2005, S. 175). Natürlich hielt sie sich nicht lange; ihre Mitglieder wurden verklagt, vertrieben und zerstreut. Die übrig Gebliebenen traten gemeinschaftlich zum Katholizismus über. 17  Gespräch mit Ulrike Gleixner am 13.07.2018; siehe auch Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum, Göttingen 2005.

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Bei Licht besehen verbietet die angebliche Verbotskultur derzeit nicht mehr als andere Zeiten – sie verbietet nur anderes. Letztlich sind viele der inkriminierten Regelungen – Umweltauflagen, Gesundheitsschutz, Diskriminierungsverbote – Reaktionen auf die Auswirkungen einer globalen Konsumkultur. Wir sind vorsichtiger, sauberer, aber auch wesentlich freier geworden in den letzten fünfzig Jahren.

Begründung anführen: Es ist gottgefälliger, zu beten und zu arbeiten, statt eitlem Zeitvertreib nachzugehen. Es schadet der Gesundheit und macht dich dumm, deshalb solltest du in Maßen trinken und besser gar nicht rauchen. Weil es unfair ist und dem Sinn für Gerechtigkeit widerspricht, darfst du Behinderte nicht diskriminieren, Frauen nicht sexistisch ansprechen, Vertreter anderer Ethnien nicht herabsetzen. Psychoanalytisch gedeutet, entspringt das puritanische Verbot nicht der autoritär-begründungslosen väterlichen Instanz des Über-Ich, sondern eher der des neurotisch-ängstlichen Ich. Genau das macht es fragil, angreifbar und angeblich »lustfeindlich«. In seiner gewissenhaften Vernünftigkeit hebelt der Puritanismus den im Grunde autoritätshörigen und lustproduzierenden Mechanismus von Verbot und Übertretung aus. Nicht das Verbot an sich, sondern dessen trockene Rationalität ruft Affekte des Trotzes hervor. Die Politisch Korrekten erinnern an die ungeliebten Streber der Schulzeit – jene Lehrerlieblinge, die brav und mit blitzblankem Hemdkragen alle Regeln befolgen, während doch die eigentliche Verbrüderung darin besteht, cool in der Raucherecke abzuhängen. Zugunsten der Politisch Korrekten muss man aber eingestehen, dass sie oft recht haben, obwohl sie Spießer sind. These 3: Askese ist antiautoritär Manchmal erweckt die Debatte um Political Correctness den Eindruck, als konkurrierten hier untergründig zwei zu Mentalitäten geronnene Autoritätsmodelle miteinander: ein »feudales«, das klare Hierarchien kennt, und ein egalitär-»bürgerliches«, das Selbstverantwortung aber auch Selbstdisziplin verlangt. Die linken PC-Kritiker wie Pfaller, Dusini/Edlinger geben sich als Genuss-Rebellen, ihnen gilt Dekadenz, Libertinage als anarchisch, widerständig, unzähmbar. Fraglich ist nur, ob dieser in die Jahre gekommene antibürgerliche Gestus heute noch den richtigen Gegner trifft, ob Genuss sich wirklich gegen die Herrschenden richtet. Im Jahr 1618 erlaubte der englische König Jakob I. im »Book of Sports« sonntägliche Sportveranstaltungen explizit, gegen den Willen der Puritaner. Der König hatte guten Grund, die karg-fromme Lebensführung als Bedrohung wahrzunehmen und sein Volk bei Laune zu halten, vermutet Max Weber in seiner »Protestantischen Ethik«, denn Askese sei »in ihrer genuinen Gestalt stets ›autoritätsfeindlich‹«19. Das ist ein interessanter Satz, und in dem Zusammenhang folgt ein weiterer, der sich durchaus bis in die Gegenwart verlängern ließe: »Die mon-

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Weber, S. 245

archisch feudale Gesellschaft schützte die ›Vergnügungswilligen‹ gegen die Andrea Roedig  —  Dünnes Eis? Ach was!

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entstehende bürgerliche Moral und das autoritätsfeindliche asketische Konventikel ebenso, wie […] die kapitalistische Gesellschaft die ›Arbeitswilligen‹ gegen ]…] den autoritätsfeindlichen Gewerkverein zu schützen pflegt«, schreibt Weber.20 Heute schützt die Konsumgesellschaft die Genusswilligen gegen den autoritätsfeindlichen Verzicht, möchte man hinzufügen. Robert Pfaller hat recht, wenn er um die Genussfähigkeit fürchtet. Er hat recht, aber nicht vollständig und nicht in der Weise, wie er glaubt. Natürlich hat der neoliberale Selbst­ optimierungszwang Gesundheit an die Stelle der Gottgefälligkeit gesetzt; wir disziplinieren, regeln und vermessen alles – aber der Grund für diese Regeln heute ist kein Puritanismus, sondern die Angst vor Verlust. Askese ist heute der eigentliche Affront; es ist ein Wort, das nachgerade Panik auslöst. Der historische Antipuritanismus empörte sich eher über den Eifer und die Scheinheiligkeit der Frommen, weniger über deren angebliche Genussfeindlichkeit. Heute ist das anders. Die Politisch Korrekten, so ist die Befürchtung, predigen nicht nur Wasser, sondern trinken es auch. In einer Gesellschaft, die wahnsinnige Angst hat, man könnte ihr etwas wegnehmen, wird Genuss genauso zur Ideologie wie früher der Verzicht. These 4: Nicht der Fanatismus an sich ist schlimm, sondern seine Kleinlichkeit »In Kürze gesagt, Mylord, ist die melancholische Art, mit der Religion umzugehen, diejenige, die sie unheilvoll macht.« Das schreibt Anthony Ashley-­ Cooper, 3. Earl of Shaftesbury 1707 in seinem »Brief über den Enthusiasmus«.21 Zuvor schon, 1701, hatte Shaftesbury in der Schrift »Die eingeweihten Damen« einen Bekehrungsversuch durch eine Quäkerfrau geschildert, der dem Freigeist Shaftesbury natürlich nichts anhaben konnte. Der Enthusiasmus – also jener Eifer (zeal), dem wir jetzt schon oft begegnet sind – ist für ihn »der größte Brandstifter der Welt« und eine Folge von Melancholie, also schlechter Laune. Es ist aber nicht der Eifer an sich, den Shaftesbury für gefährlich hält – er selbst verteidigt sogar einen »göttlichen Enthusiasmus« –; brandgefährlich sei nur seine melancholische, dunkle Schlagseite. Am semantischen Konstrukt des Puritanismus – und von nichts anderem kann hier die Rede sein – lässt sich einiges retten: sein Ernst, seine Strenge, seine Prinzipientreue und Starrköpfigkeit, sein Asketismus und vielleicht sogar seine Rechthaberei und sein Sektierertum. Nichts spricht dagegen, mit Eifer und voller Wucht, hundertprozentig überzeugt für Ziele einzutreten, welche die Welt besser und – wenn man es so formulieren will – Gott gefälliger machen.

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20  Weber, S. 190 21  Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury, A letter concering Enthusiasm/Ein Brief über den Enthusiasmus, in: G. Hemmerich u. W. Benda (Hg.), Standard-Edition, Sämtliche Werke englisch/deutsch Bd. I, 1, Ästhetik, Stuttgart 1987, S. 347.

Nicht am Eifer retten lässt sich aber bad humour, eine fehlende Großmut. Es ist nicht unbedingt das Was, das am angeblichen Puritanismus oder der Political Correctness stört – sondern das Wie: Der im schlechten Sinne »puritanische« Geist zeichnet sich aus durch einen falschen Umgang mit Ambivalenz. Er ist jener Negativismus, den Nietzsche in der christlichen »Sklavenmoral« witterte, die strenge Unerbittlichkeit eines pessimistischen Weltbildes. Diese – zu Deutsch gesagt – Korinthenkackerei ist kein Alleinstellungsmerkmal des Protestantismus, sondern auch bei Katholiken, Muslimen, bei politisch Rechten wie Linken zu finden. Sie ist jener Geiz, jene Kleinlichkeit und Enge, die vergisst, dass nichts im Leben ohne ein Gegenteil existiert und keine Linie exakt scharfe Ränder hat.22 »Gute Laune ist nicht nur die beste Sicherheit gegen Enthusiasmus, sondern auch die beste Grundlage der Frömmigkeit und wahren Religion«, findet Shaftesbury.23 In den derzeit bis zur Ermüdung polarisierten Debatten mag sein Rat helfen. Den »prüden«, »humorlosen«, »melancholischen« Anteil gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklung dem Puritanismus in die Schuhe zu schieben, ist historisch und sachlich falsch. Gute Laune, good 22  Siehe auch Armin Nassehi, der versucht, den Punkt zu finden, an dem ein »berechtigtes Anliegen in Bullshit« umschlägt; Armin Nassehi, Political Correctness, Zwischen Orthofonie, Bullshit und sozialem Wandel, in: Ders. u. Peter Felixberger (Hg.), Kursbuch 191, September 2017, S. 113–128, hier S. 119. 23  Shaftesbury, Brief über den Enthusiasmus, S. 335.

humour im Shaftesbury­’schen Sinn, bedeutet Überzeugtheit in der Sache, aber die Großzügigkeit und Offenheit, anders zu denken. Das beinhaltet auch, ein anderes Bild vom Puritanismus zu zeichnen. Wir könnten uns zur Abwechslung einmal einen gut gelaunten Puritanismus vorstellen. Dünnes Eis? Ach was. Teile dieses Textes sind im Rahmen eines Fellowships des Center for Humanities and Social Change an der Humboldt Universität zu Berlin entstanden. Ich danke dem Center für die großzügige Unterstützung.

Dr. Andrea Roedig, geb. 1962, promovierte im Fach Philosophie, war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin, später Geschäftsführerin der G ­ rünen ­Akademie der Heinrich Böll Stiftung. Von 2001 bis 2006 leitete sie in Berlin die Kulturredaktion der ­Wochenzeitung Freitag. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Wien, schreibt als freie Publizistin für diverse deutsche, österreichische und schweizerische Medien mit den Schwerpunkten Gender, Alltagsreportage, Kulturessay. Seit Mai 2014 ist sie Mitherausgeberin der ­Literaturund Essay-Zeitschrift Wespennest. Letzte Buchveröffentlichungen: »Bestandsaufnahme Kopfarbeit. Interviews mit Geisteswissenschaftler/innen der mittleren Generation« (gemeinsam mit Sandra Lehmann, Klever-Verlag 2015); »Schluss mit dem Sex. Wünschelruten, Testosteron und anderes Zeug« (Klever-Verlag 2019).

Andrea Roedig  —  Dünnes Eis? Ach was!

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben durch das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Alexander Deycke, Jens Gmeiner, Julia Bleckmann, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Luisa Rolfes. Konzeption dieser Ausgabe: Marika Przybilla-Voß. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de

BEBILDERUNG Die Bebilderung dieser Ausgabe zeigt gestalterische Veränderungen im öffentlichen Raum – ob durch Plakate, Graffiti oder Aufkleber. Zu sehen sind unterschiedliche Techniken, die genutzt wurden, um diesen jeder Person frei zugänglichen Bereich kreativ zu gestalten und somit zu formen. Es ist eine Art Kampf und Konflikt um den öffentlichen Raum, dessen Nutzung und Deutung. Die Wahrnehmung und Einordnung der Symptome dieses Konflikts sind so divers wie die Gestaltungsformen an sich. So können diese als Vandalismus, ja sogar als Straftat angesehen werden oder aber als Kunst und somit als Weg der freien Meinungsäußerung. Die Gestaltung des öffentlichen Raumes durch meist anonyme Personen kann folglich eine Form der politischen Positionierung sein. Sie richtet sich gegen eine Obrigkeit und drückt das Unverständnis gegenüber politischen oder gesellschaftlichen Machtverhältnissen aus. Diese Veränderungen können somit ihrem Inhalt nach Ausdruck eines Konflikts sein und dabei gleichzeitig selbst Konflikte hervorrufen.

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Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-666-80028-3 ISSN 2191-995X © 2019 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen

WARUM FÜHREN FRIEDLIEBENDE POLITIKER IMMER WIEDER KRIEGE?

Jürgen Peter Schmied (Hg.) Kriegerische Tauben Liberale und linksliberale Interventionisten vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart 2019. 206 Seiten, gebunden € 40,00 D ISBN 978-3-8471-0974-7 eBook € 32,99 D | ISBN 978-3-205-23269-8 Bonn University Press

Im Zuge der Aufklärung kam die Idee auf, dass Demokratien eine friedliche Außenpolitik betreiben würden. Verschiedene Politiker aus dem liberalen Spektrum haben in den vergangenen zweihundert Jahren mit dieser Vorstellung sympathisiert und dennoch Kriege geführt, wenn sie an der Macht waren. Der Band untersucht dieses widersprüchliche Phänomen – angefangen mit Thomas Jeffersons Vorstellungen von Krieg und Frieden, über William E. Gladstones Intervention in Ägypten und die Entscheidung David Lloyd Georges und Woodrow Wilsons zum Eintritt in den Ersten Weltkrieg bis hin zu John F. Kennedys Eingreifen in Vietnam. Zudem werden Joschka Fischers Unterstützung für eine Intervention im Kosovo, Tony Blairs Beteiligung am Irakkrieg und Barack Obamas Drohnenkrieg gegen den Terror betrachtet.

VERLAG WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT

Helmut Dahmer

Hartfrid Krause

Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis

Rosa Luxemburg, Paul Levi und die USPD

2019 – 525 Seiten – 45,00 € ISBN 978-3-89691-271-8

ISBN 978-3-89691-274-9 2019 – 198 Seiten – 25,00 €

Carina Book / Nikolai Huke / Sebastian Klauke / Olaf Tietje (Hrsg.)

Alltägliche Grenzziehungen

Das Konzept der „imperialen Lebensweise“, Externalisierung und exklusive Solidarität 2019 – 270 Seiten – 25,00 € ISBN 978-3-89691-273-2

Alex Demirović / Susanne Lettow / Andrea Maihofer (Hrsg.)

Emanzipation

Zur Aktualität eines politischen Begriffs 2019 – 233 Seiten – 25,00 € ISBN 978-3-89691-282-4

WWW . DAMPFBOOT - VERLAG . DE

Eine lange vernachlässigte Problematik von größter Relevanz:

Die Gestaltung von Friedens- und Sicherheitsordnungen in Afrika

Sicherheits- und Friedensordnungen in Afrika Nationale und regionale Herausforderungen Herausgegeben von Dr. Hans-Georg Ehrhart und Prof. Dr. Michael Staack 2019, 249 S., brosch., 54,– € ISBN 978-3-8487-5944-6 (Demokratie, Sicherheit, Frieden, Bd. 222) nomos-shop.de/41860

Das Buch gibt anhand von einem Grundsatzartikel und neun Fallstudien fundierte und kritische Einblicke in europäische und afrikanische Politikansätze und macht politikpraktische Vorschläge. Es richtet sich an PolitikwissenschaftlerInnen aus dem Bereich Internationale Beziehungen, Europa- und Afrikaexpertinnen, die Friedens- und Konfliktforschung und alle an Afrikapolitik Interessierten. Mit Beiträgen von Dr. Dominik Balthasar, Dr. Hans-Georg Ehrhart, Prof. Wuhibegezer Ferede, Bewuketu Dires Gardachev, M.A., Dr. Jan Grebe, Dr. Melanie Müller, Sonja Nietz, M.A., Dr. Armin Osmanovic, Matthias Schwarz, M.A., Prof. Michael Staack, Prof. em. Rainer Tetzlaff

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Sebastian Elsbach / Ronny Noak / Andreas Braune (Hg.)

Konsens und Konflikt Demokratische Transformation in der Weimarer und Bonner Republik

Weimarer schriften zur republik - band 9 die herausgeber Sebastian Elsbach ist Politikwissenschaftler und promovierte an der Forschungsstelle Weimarer Republik der Universität Jena zum Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der politischen Gewalt in der Weimarer Republik. Ronny Noak ist Politikwissenschaftler und schließt gerade seine Promotion über die Schulungsarbeit der politischen Parteien in der Weimarer Republik an der Forschungsstelle Weimarer Republik der Universität Jena ab. Andreas Braune ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Universität Jena.

Mit dem Schlagwort der „Weimarer Verhältnisse“ verbindet man auch heute noch eine Zeit des Chaos und der Gewalt, die scheinbar zwangsläufig in den Nationalsozialismus mündete. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes zeigen, wie sehr Deutschlands erste Demokratie eine Phase des institutionellen Umbruchs war: Ihre Konflikte waren Ausdruck tiefgreifender Transformationsprozesse, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassten – nicht nur in Parteien und Parlamenten, sondern auch in Universitäten, Schulen, Kirchen und sogar auf der Straße wurde miteinander gerungen. Nach dem Zusammenbruch alter Gewissheiten musste ein neuer demokratischer Konsens gefunden werden, was nur selten gelang. Dennoch wurden in dieser Zeit durchaus Fortschritte erzielt, die die Grundlage für ähnliche Transformationsprozesse in der frühen Bonner Republik bildeten. Auch Deutschlands zweite Demokratie war in ihren Anfängen keine konfliktfreie Zeit, konnte aber auf den Erfahrungen aus der Weimarer Republik aufbauen. mit beiträgen von Florian J. Schreiner, Felix Selgert, Anne Otto, Ronny Noak, Oliver Gaida, Michaela Bräuninger, Timo Leimbach, Birgit Bublies-Godau, Jörn Retterath, Angela Schuberth, Sebastian Elsbach, Sebastian Gräb, Simon Sax, Alex Burkhardt, Andreas Behnke, Helene Eggersdorfer, Ludwig Decke, Frank Schale, Sarah Langwald, Thomas Schubert

2019 XXIII, 354 Seiten mit 4 Tabellen und 9 s/w-Abbildungen € 53,– 978-3-515-12448-5 kartoniert 978-3-515-12449-2 e-book

Hier bestellen: www.steiner-verlag.de

ZUR AKTUELLEN DEBATTE ÜBER ANTISEMITISMUS

Helga Embacher | Bernadette Edtmaier | Alexandra Preitschopf Antisemitismus in Europa Fallbeispiele eines globalen Phänomens im 21. Jahrhundert 2019. 338 Seiten, m. 11 s/w-Abb., gebunden € 35,00 D ISBN 978-3-205-20774-0 eBook € 27,99 D | ISBN 978-3-205-23269-8

Die Studie gibt einen umfassenden Überblick über die Debatten zum Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Anhand zahlreicher Beispiele aus unterschiedlichen europäischen Ländern, insbesondere Frankreich, Großbritannien und Österreich, werden der Umgang mit diesem komplexen Phänomen und hieraus resultierende sozio-politische Herausforderungen nachgezeichnet. LeserInnen sollen dafür sensibilisiert werden, in welchen Kontexten der Begriff Antisemitismus Verwendung findet und wie unterschiedlich der Begriff interpretiert und auch instrumentalisiert wird. Die Studie sucht nach historisch-gesellschaftspolitischen Erklärungen im Kontext nationaler und globaler Entwicklungen und verzichtet bewusst auf die Idee, Antisemitismus als „unheilbaren Virus“ o.Ä. zu begreifen.

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VOM MASSENMÖRDER ZUM VOLKSSCHULLEHRER – DAS DOPPELLEBEN ARTUR WILKES Jürgen Gückel Klassenfoto mit Massenmörder Das Doppelleben des Artur Wilke Mit einem Nachwort von Peter Klein. 2019. Ca. 300 Seiten, gebunden ca. € 25,00 D ISBN 978-3-525-31114-1 Auch als eBook erhältlich Erscheint im September 2019

Jürgen Gückel, mehrfach ausgezeichneter Gerichtsreporter, geht einer Spur nach. Einer Geschichte, die ihn seit der Schulzeit beschäftigt, denn Walter Wilke war sein erster Lehrer. Gückel rekonstruiert einen einzigartigen Lebensweg: „Walter“ war in Wahrheit Artur Wilke, der die Identität seines gefallenen Bruders angenommen hatte. Das Buch zeichnet nicht nur eine spektakuläre deutsche Biografie im 20. Jahrhundert nach – die Entwicklung eines Intellektuellen zum Täter und die Verneinung jeglicher persönlicher Schuld, das Wegsehen der Gesellschaft. Es zeigt auch auf, wie schwierig das Erinnern ist, wie unterschiedlich Erlebtes bewertet wird und wie schwer die Erarbeitung historischer Wahrheit letztlich ist.