Kreativität und soziale Praxis: Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 9783839433454

Andreas Reckwitz is one of the most important contemporary German social and cultural theorists. His books, from »The Tr

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German Pages 314 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort. Sozialtheorie und Gesellschaf tstheorie jenseits des Rationalismus
1. Auf dem Weg zu einer Theorie sozialer Praktiken
Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse
Praktiken und Diskurse. Zur Logik von Praxis-/Diskursformationen
Doing subjects. Die praxeologische Analyse von Subjektivierungsformen
Kultur und Materialität
Praktiken und ihre Affekte. Zur Af fektivität des Sozialen
Zukunftspraktiken. Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft
2. Auf dem Weg zu einer Theorie des Kreat ivitätsdispositivs
Die Moderne jenseits der Modernisierungstheorien
Die Selbstkulturalisierung der Stadt. Zur Transformation moderner Urbanität in der »creative city«
Der Kreative als Sozialfigur der Spätmoderne
Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse. Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativitätsdispositivs
Ästhetik und Gesellschaft. Ein analytischer Bezugsrahmen
Jenseits der Innovationsgesellschaft. Das Kreativitätsdispositiv und die Transformation der sozialen Regime des Neuen
Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen. Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten
Literatur
Nachweise
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Kreativität und soziale Praxis: Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie
 9783839433454

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Andreas Reckwitz Kreativität und soziale Praxis

Sozialtheorie

Andreas Reckwitz (Prof. Dr.), geb. 1970, ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher zur Sozialtheorie und zur Kulturtheorie der Moderne. Bei transcript ist u.a. der Einführungsband »Subjekt« in der Reihe »Einsichten. Themen der Soziologie« (2008) erschienen.

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Victoria Scholz, Herford Satz: Francisco Braganca, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3345-0 PDF-ISBN 978-3-8394-3345-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie jenseits des Rationalismus   | 7

1. A uf dem W eg zu einer T heorie sozialer P rak tiken Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse | 23 Praktiken und Diskurse Zur Logik von Praxis-/Diskursformationen   | 49 Doing subjects Die praxeologische Analyse von Subjektivierungsformen   | 67 Kultur und Materialität   | 83 Praktiken und ihre Affekte Zur Affektivität des Sozialen   | 97 Zukunftspraktiken Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft   | 115

2. A uf dem W eg zu einer T heorie des K reativitätsdispositivs Die Moderne jenseits der Modernisierungstheorien   | 139

Die Selbstkulturalisierung der Stadt Zur Transformation moderner Urbanität in der »creative city«   | 155 Der Kreative als Sozialfigur der Spätmoderne   | 185 Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativitätsdispositivs   | 195 Ästhetik und Gesellschaft Ein analytischer Bezugsrahmen   | 215 Jenseits der Innovationsgesellschaft Das Kreativitätsdispositiv und die Transformation der sozialen Regime des Neuen   | 249 Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten   | 271 Literatur   | 285 Nachweise   | 309

Vorwort Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie jenseits des Rationalismus

Die Aufsätze, die dieser Band versammelt, sind zwei Fragestellungen gewidmet, die mich in den letzten Jahren schwerpunktmäßig beschäftigt haben: Die eine Frage lautet, welche Form die spätmoderne Gesellschaft dadurch annimmt, dass sie sich mehr und mehr von einem kreativen Imperativ prägen lässt und in ihrem institutionellen Zentrum das ausbildet, was ich als Kreativitätsdispositiv bezeichne. Die andere Frage lautet, welches analytische Instrumentarium eine Theorie sozialer Praktiken bieten kann, um eine erneuerte, interessantere Perspektive auf das Soziale zu eröffnen. Die Texte des Bandes behandeln also auf der einen Seite eine gesellschaftstheoretische, auf der anderen eine sozialtheoretische Problemstellung. Diese lassen sich nicht aufeinander zurückführen, sind aber miteinander verschränkt.1

S ozialtheorie und G esellschaf tstheorie Was macht den Unterschied zwischen Sozial- und Gesellschaftstheorie aus? Für die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin, die am Ende des 19. Jahrhunderts mit Autoren wie Marx, Weber, Durkheim und Simmel ihre bis zur Gegenwart einflussreichen Fragestellungen festlegt, ist von Anfang an die Parallelität und Verknüpfung von Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie grundlegend, zwei Bemühungen, die gleichwohl voneinander unterschieden werden können. Die Soziologie bildet sich gewissermaßen vor dem Hintergrund eines doppelten Fragehorizontes aus. Zum einen muss und will sie ganz grundsätz1 | Ich danke Wiebke Forbrig und Moritz Plewa von meinem Lehrstuhl für die Hilfe bei der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge des Bandes. Michael Volkmer vom transcript Verlag danke ich für die Initiative zu diesem Band. Im Verhältnis zu den Erstveröffentlichungen habe ich die Texte gelegentlich leicht modifiziert.

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lich klären, was das Soziale ausmacht, jener »socius« der Verknüpfung und Vernetzung von Elementen, die über die menschlichen Individuen hinausreicht und diese zugleich umfasst. Eine solche sozialtheoretische Problemstellung erhebt einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit: Es geht ihr um ein Grundvokabular zur Beschreibung des Sozialen, das im Prinzip für Sozialitäten aller Zeiten und Räume anwendbar ist. Durkheims Regeln der soziologischen Methode, Webers Soziologische Grundbegriffe oder Simmels Soziologie sind klassische Beispiele für diesen sozialtheoretischen Fragehorizont. In ihrer Reflexion des Sozialen ist die Sozialtheorie eng mit der Philosophie verwoben und nimmt in neuer Weise alte philosophische Problemstellungen auf – wie die nach der Form des menschlichen Handelns und der Sprache, nach Subjekten und Objekten, nach Normen, Moralität und Traditionen. Zugleich transzendiert sie den »alteuropäischen« Horizont der Philosophie, indem sie resolut Begrifflichkeiten neu erfindet, um überindividuelle Prozesse und Strukturen beschreibbar zu machen. Die gesellschaftstheoretische Problemstellung ist anders ausgerichtet, sie ist für das soziologische Denken von Anfang an jedoch ebenso fundamental. Gesellschaft kann zunächst als das strukturierte Insgesamt miteinander vernetzter Sozialitäten verstanden werden. Die gesellschaftstheoretische Frage lautet entsprechend, welche Form bzw. welche Formen menschliche Gesellschaften bisher angenommen haben, vor allem jedoch, welche besondere Form die Gesellschaft der Moderne hervorbringt und inwiefern sich diese von historisch älteren, traditionalen und archaischen Gesellschaften unterscheidet. Soziologische Gesellschaftstheorie ist damit immer auch Theorie der Moderne. Es ist eine Grundirritation der Soziologie, dass die moderne Gesellschaft, die sich bereits das gesamte 19. Jahrhundert hindurch in Prozessen der Industrialisierung und Kapitalisierung, der Urbanisierung und Demokratisierung herauskristallisiert, neuartige Strukturprinzipien aus sich hervortreibt, die über jene Strukturprinzipien der archaischen und traditionalen, vorindustriell-agrarisch und religiös geprägten Gemeinschaften hinausgehen, wie sie die Menschheitsgeschichte seit dem Beginn des Homo sapiens über einhunderttausend Jahre geprägt haben. Durkheims Über soziale Arbeitsteilung, Marx’ Das Kapital oder Simmels Philosophie des Geldes lassen sich als frühe, bis zur Gegenwart einflussreiche Versuche verstehen, diese gesellschaftstheoretische Frage zu beantworten. Während die Sozialtheorie als Reflexion der erkenntnisleitenden Grundbegrifflichkeit universalistisch ausgerichtet ist, sind die Aussagen der Gesellschaftstheorie damit unweigerlich auf bestimmte historische Phasen und räumliche Kontexte bezogen: Die »Moderne« bildet einen zeitlich und räumlich hochspezifischen Komplex des Sozialen, ebenso wie die anderen, historisch früheren Gesellschaftstypen. Damit ist die Gesellschaftstheorie unweigerlich auf die Forschungen der empirischen Soziologie zu einzelnen Aspekten

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der Gegenwartsgesellschaft – der Wirtschaft und des Staats, der Klassen und der Medientechnologien etc. – angewiesen, aber auch auf die Forschungen anderer Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, Kulturanthropologie, Altertumswissenschaft oder Kunstwissenschaften. Generell bewegt sich die Gesellschaftstheorie dabei in einem Spagat zwischen Zeitdiagnose und Historischer Soziologie: In dem Moment, in dem sie die unmittelbare Gegenwart erreicht und versucht, diese in ihrer Totalität in den Blick zu nehmen, geht sie in »Zeitdiagnose« über (die in meinem Verständnis über bloße Essayistik hinaus eine Form der Theorie bezeichnet). Zugleich kann sie erst über den historischen Vergleich die Besonderheit der Moderne – die mittlerweile ebenfalls bereits eine Geschichte hat – ausloten und wird darin zur Historischen Soziologie. Wenn Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie sich damit voneinander unterscheiden lassen, so sind sie doch aufeinander verwiesen. In meinem Verständnis liefert die Sozialtheorie einen unverzichtbaren Hintergrund für die Gesellschaftstheorie, so dass sich zugleich die Gesellschaftstheorie, insbesondere die Theorie der Moderne, im Vordergrund des soziologischen Interesses befindet. Es kann keine Gesellschaftstheorie ohne Sozialtheorie geben: Erst die Sozialtheorie liefert das Vokabular, vor dessen Hintergrund man weiß, wonach man suchen muss, wenn es um Gesellschaften und ihre heterogenen Formen des Sozialen geht. Sozialtheorien liefern basale Beschreibungsformen, aber auch Erklärungsmuster, das heißt Annahmen bezüglich von Zusammenhängen, die (mit-)bestimmen, was in der gesellschaftstheoretischen Analyse überhaupt sichtbar wird. Eine Gesellschaftstheorie ohne eine sozialtheoretische Reflexion ihrer Grundbegrifflichkeit ist also eigentlich unmöglich – oder aber sie bliebe auf dem Niveau von naiven Vorannahmen, die sich aus dem Common-Sense-Wissen speisen. Zugleich jedoch würde eine Sozialtheorie ohne Gesellschaftstheorie dem Trockenschwimmen ähneln: Denn das eigentliche Ziel der Soziologie besteht darin, informativ die Gesellschaft der Moderne – in ihren einzelnen Phasen und im Verhältnis zur Vormoderne – zu begreifen. Damit ist die Sozialtheorie weder mehr noch weniger als ein unverzichtbares »Mittel zum Zweck« – freilich ein Mittel, das den Zweck nicht unverändert lässt. Sozialtheorien sind keine selbstgenügsamen Ontologien, sondern bewähren sich in ihrer heuristischen Kraft der materialen Analyse.2 Es ist deshalb nur konsequent, dass nicht nur die soziologischen Klassiker der ersten Generation, sondern auch die späteren wichtigsten Theoretiker – Parsons und Elias, Habermas und Luhmann, Bourdieu und Foucault – immer auf beiden theoretischen Klaviaturen gespielt 2 | Hierin sehe ich einen wichtigen Unterschied zur Philosophie, deren Philosophien des Sozialen stärker eine normative Funktion übernehmen, die für die Illusionslosigkeit der empirisch-materialen Analyse der Humanwissenschaften häufig eher blickverengend erscheint.

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haben. Zwischen Sozial- und Gesellschaftstheorie existiert somit kein Verhältnis der Determinierung, sondern eher eines der Ermöglichung (und zugleich der Limitierung): Die sozialtheoretische Grundbegrifflichkeit determiniert nicht kurzerhand die Aussagen der Gesellschaftstheorie, aber die steckt einen Spielraum dessen ab, was in ihr sichtbar wird. Mein Anliegen in den Texten dieses Bandes, aber letztlich in allen meinen Arbeiten in den letzten fünfzehn Jahren, besteht darin, sowohl der sozialtheoretischen als auch der gesellschaftstheoretischen Diskussion einen Impuls zu geben. Sozialtheoretisch ging und geht es mir darum, an einer Theorie sozialer Praxis oder sozialer Praktiken zu arbeiten, die sich nicht nur jenseits des Dualismus von Individualismus und Holismus, sondern auch jenseits von Kulturalismus und Materialismus bewegt. Gesellschaftstheoretisch ging und geht es mir darum, die Moderne und insbesondere die Spätmoderne als eine Gesellschaft zu begreifen, die nicht nur durch einen Prozess der formalen Rationalisierung und funktionalen Differenzierung geprägt ist, sondern zunehmend eine Kulturalisierung und Ästhetisierung des Sozialen forciert.3 Beides bleibt für mich gegenwärtig ein work in progress. Wie häufig lässt sich auch hier die Stoßrichtung eines theoretischen Ansatzes am besten vor dem Hintergrund dessen begreifen, wovon er sich absetzt und was er hinter sich lassen will. Meine Arbeit speiste sich in dieser Hinsicht von Anfang an aus einem Ungenügen: einem Ungenügen bezüglich der Formen und Möglichkeiten der Sozialtheorie wie auch der Gesellschaftstheorie, wie sie sich in den 1990er Jahren in Deutschland darboten.

3 | Mit dem Begriff der Kulturalisierung meine ich eine Expansion kultureller Praktiken und kultureller Objekte, die in einem spezifischen Sinne insofern »kulturell« sind, als sie für die Teilnehmer über eine instrumentelle Relevanz hinaus einen Eigenwert haben, sie also gewissermaßen intrinsisch motiviert sind. Ästhetische Praktiken und Objekte sind eine besonders in der Spätmoderne wichtige Untermenge dieser kulturellen Praktiken und Objekte, aber nicht alle kulturellen Praktiken sind ausschließlich ästhetisch. Sie können auch primär eine hermeneutische, narrative oder expressive Ausrichtung haben. Zu nennen wären hier etwa religiöse oder politische Praktiken, in denen es um die Konstitution von Nationen oder Gemeinschaften geht. Auch diese Dimension von Kulturalisierung jenseits der Ästhetisierung ist für die Moderne zentral, so etwa der Aufstieg von neuen Religionsgemeinschaften oder von identity politics in der Spätmoderne.

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A uf dem W eg zu einer Theorie sozialer P r ak tiken Zunächst zur Sozialtheorie: In meiner Wahrnehmung war die Sozialtheorie in der deutschen Soziologie in den 1990er Jahren in eine Sackgasse geraten, in der zwar mit der Rational-Choice-Theorie, der Theorie des kommunikativen Handelns und der Systemtheorie mehrere Ansätze zur Auswahl standen, die aber alle auf ihre Weise unbefriedigend blieben.4 Aus meiner Sicht leiden diese Theorievokabulare trotz ihrer Unterschiede auf jeweils ihre Weise daran, das Soziale und das menschliche Handeln in ein rationalistisches Korsett zu pressen: der Zweckrationalität des Homo oeconomicus, der normativen Rationalität des kommunikativen Handelns oder der künstlichen Separierung zwischen Kommunikation, Psyche und Körper. Wenn ich das Anliegen meiner sozialtheoretischen Arbeiten zusammenzufassen versuche, dann besteht es darin, dieses rationalistische Korsett aufzusprengen. Es geht darum, den Blick zu weiten und eine neue Sensibilität zu entwickeln, um die Heterogenität und Widersprüchlichkeit des Sozialen zu begreifen. Es ist vor diesem Hintergrund, dass ich mich für die Vorschläge der französischen Sozial- und Kulturtheorie, vor allem von Bourdieu und Foucault (die in der deutschen Soziologie der 1990er Jahre noch wenig präsent waren), später auch von Latour und Boltanski, für die angloamerikanische Kulturanthropologie und für den theoretischen Diskussionskontext zwischen Soziologie und Kulturwissenschaften um Medialität, Räumlichkeit, Subjektivität etc. interessierte. Meine Arbeit an einer »Theorie sozialer Praktiken« ist vor diesem Hintergrund zu verstehen und zielt auf eine nicht-rationalistische Analytik des Sozialen und des Handelns. Die Praxistheorie ist eine materialistische Kulturtheorie bzw. ein kulturtheoretischer Materialismus. Sie transportiert das ins Zentrum des Verständnisses des Sozialen, was zuvor an die Peripherie gedrängt wurde: die impliziten, aber gleichwohl komplexen und machtvollen Wissensordnungen im Handeln und in den Diskursen, die Körperlichkeit des Handelns und die Relevanz von Affektivität und sinnlicher Wahrnehmung, den nur scheinbar geistlosen Automatismus der Routinen und zugleich die Elemente des Experiments und des Scheiterns im Handeln, die Widersprüchlichkeit und Hybridität kultureller Ordnungen, nicht zuletzt die konstitutive Bedeutung der Dinge und Artefakte für die soziale Praxis, einschließlich der Medientechnologien und Konstellationen des Raums. Die Praxistheorie entwickelt dabei nicht nur ein alternatives Bild des Sozialen, sie stellt sich auch als ein anderer, zeitgemäßerer Theorietypus dar. An die Stelle eines teutonischen Verständnisses von »Theorie als System« – in 4 | Vgl. James Samuel Coleman: Foundations of Social Theory, Cambridge 1990; Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981; Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984.

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das man sich in toto einschreibt oder es verwirft – tritt ein Verständnis von Theorie als ein deutlich loser gekoppeltes Vokabular, ein Netzwerk von Begriffen, eine Heuristik im besten Sinne, an der sich an verschiedenen Enden und durch unterschiedliche Forscher weiterarbeiten lässt. Diese Theorie ist nicht in Stein gemeißelt, sondern hat gleichsam ein textiles Format. Obwohl die Praxistheorie in ihren Grundannahmen tief in den philosophischen Diskurs von Heidegger und Dewey bis Deleuze eintaucht, lebt sie primär durch die empirisch-materiale, sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungspraxis. Damit ist die Theorie auch nicht mehr der Empirie vorgelagert, sondern wird Teil der Forschungspraxis. Nachdem ich in Die Transformation der Kulturtheorien (2000) den theoriehistorischen Parcours in Richtung Praxistheorie abgeschritten hatte, habe ich danach in einer Reihe von Aufsätzen einen Grundriss der Praxistheorie präsentiert. Einige dieser Aufsätze wurden in der Anthologie Unscharfe Grenzen (2008) gesammelt.5 Seitdem hat sich in Deutschland wie auch international das Arbeiten an und mit der Theorie sozialer Praktiken in kaum absehbarer Weise intensiviert und deutlich verbreitet.6 Mein Interesse in den letzten Jahren hat sich darauf gerichtet, das praxistheoretische Vokabular in verschiede-

5 | Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerwist 2000; ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008; vgl. darin vor allem »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken« (erstmals 2003 erschienen) und »Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten« (englisches Original erstmals 2002). Vgl. darüber hinaus meine Aufsätze »Die Entwicklung des Vokabulars der Handlungstheorien: Von den zweck- und normorientierten Modellen zu den Kultur- und Praxistheorien«, in: Manfred Gabriel (Hg.), Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie, Wiesbaden 2004, S. 303-328 und »Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler«, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004, S. 40-54. 6 | Vgl. nur Theodore Schatzki: The Site of the Social. A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park 2002; Elizabeth Shove u.a.: The Dynamics of Social Practice. Everyday Life and how it Changes, Los Angeles 2012; Davide Nicolini: Practice Theory, Work, and Organization. An Introduction, Oxford 2013; Theodore Schatzki/Elizabeth Shove (Hg.): Advances in Practice Theory, Oxford 2016; Robert Schmidt: Soziale Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012; Frank Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014; Hilmar Schäfer: Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist 2013; Hilmar Schäfer (Hg): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016.

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nen Richtungen weiterzuentwickeln. Die wichtigsten dieser Weiterführungen finden sich in den Aufsätzen vor allem im ersten Teil dieses Bandes: Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse formuliert einen basalen praxeologischen Bezugsrahmen in Form des »Quadrats« von Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsweisen und Artefaktsystemen. Gegen das Missverständnis, die Praxistheorie sei primär mikrosoziologisch ausgerichtet,7 geht der Aufsatz davon aus, dass dieser Bezugsrahmen letztlich auf die Analyse makrosozialer Einheiten in Zeit und Raum ausgerichtet ist. Praktiken und Diskurse. Zur Logik von Praxis-/Diskursformationen behandelt zwei Konzepte, die häufig als miteinander konkurrierende Grundbegriffe verstanden werden. Der Aufsatz argumentiert jedoch, dass diskursive Praktiken selbst Teil einer praxeologischen Analytik sein müssen und schlägt das anti-dualistische Konzept der »Praxis-/Diskursformation« vor. Doing subjects. Die praxeologische Analyse von Subjektivierungsformen fragt danach, welche praxeologische Perspektive sich auf das »Selbst« und die menschlichen Subjekte auftut, die sich nun gleichsam als Korrelate sozialer Praktiken darstellen. Diese Perspektive profitiert entscheidend vom poststrukturalistischen Blick auf Subjektivierungsweisen, wie er sich etwa bei Foucault und Judith Butler findet.8 Der Aufsatz Kultur und Materialität fragt allgemein, inwiefern sich die sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien seit der Jahrtausendwende »materialisiert« haben und sie das Soziale auf verschiedenen Ebenen – der Artefakte, der Räume, der Medientechnologien – als Netzwerk von kulturellen und materiellen Elementen verstehen. Praktiken und ihre Affekte. Zur Affektivität des Sozialen stellt dar, wie die sozialwissenschaftliche Analyse von Emotionen und Affekten von einer praxeologischen Perspektive profitieren kann, die Emotionen nicht mehr Individuen zuordnet, sondern affektive Stimmungen als Eigenschaften sozialer Praktiken begreift. Die Aufsätze Zukunftspraktiken. Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft und Ästhetik und Gesellschaft. Ein analytischer Bezugsrahmen (im zweiten Teil) kreuzen die sozial- bereits mit der gesellschaftstheoretischen Fragestellung. Sozialtheoretisch geht es ersterem darum, die Leistungsfähigkeit einer praxeologischen Perspektive auf Zeitlichkeit, insbesondere Zukünftigkeit auszuloten, während in letzterem diskutiert wird, dass jede soziale Praktik ihre eigene Organisation sinnlicher Wahrnehmungen betreibt – ästhetische Praktiken stellen sich dann als eine Untermenge dar, die auf sinnliche Wahrnehmungen um ihrer selbst

7 | Vgl. dazu Armin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2006, S. 228ff. 8 | Eine knappe, einführende Rekonstruktion zentraler Subjekttheorien findet sich in meinem Buch Subjekt, Bielefeld 2008.

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willen zentriert sind.9 Es findet sich damit in mehreren dieser Aufsätze ein analoger argumentativer Zug: Elemente der Welt, die gängigerweise Individuen oder einem äußeren Rahmen des Handelns zugeschrieben werden, also im Außen des Sozialen lokalisiert wurden, werden nun als Eigenschaften und Bestandteile einzelnen sozialen Praktiken zugerechnet (eine Praktik enthält eine spezifische Affektivität, eine spezifische Organisation sinnlicher Wahrnehmung, eine Strukturierung der Zeit etc.) – und diese Wende des Blicks eröffnet neue analytische Möglichkeiten.

A uf dem W eg zu einer Theorie des K re ativitätsdispositivs Der zweite Teil des Bandes versammelt eine Reihe meiner gesellschafts- und modernetheoretisch ausgerichteten Aufsätze aus den letzten Jahren, die ich im Umfeld meines Buches Die Erfindung der Kreativität verfasst habe. Gesellschaftstheorie ist hier immer eng mit materialer Kultursoziologie verzahnt. Das praxistheoretische Vokabular steht in diesen Artikeln nicht zur Debatte, sondern wird angewandt. Meine Arbeit im Bereich der Theorie der Moderne verlief von Anfang an parallel zur sozialtheoretischen Reflexion und speiste sich aus einem analogen Unbehagen an der Diskussion in der deutschen Soziologie der 1990er Jahre. Auch hier war für mich der Eindruck eines Denkkorsetts prägend. Dieses presste die Heterogenität gesellschaftlicher Realität in eine modernisierungstheoretisch ausgerichtete Form, die den Eindruck der Überraschungslosigkeit perpetuierte. Die Theorie funktionaler Differenzierung, die in der deutschen Soziologie eine Zeitlang »alternativlos« schien, bildete die Speerspitze dieser modernisierungstheoretischen Perspektive auf die Moderne, verstanden als »Ausdifferenzierung« funktionaler Teilsysteme, die leicht den Eindruck einer veränderungsresistenten und konfliktfreien post histoire vermitteln konnte.10 Im Laufe der Zeit ist mir deutlich geworden, dass diese differenzierungstheoretische Version der Modernisierungstheorie jedoch nur eine spezielle Variante einer grundsätzlicheren soziologischen Perspektive auf die Moderne darstellt, die diese im Kern als einen Prozess formaler Rationalisierung wahr9 | Zwei weitere neue Texte von mir aus diesem Zusammenhang sind in diesem Band nicht wieder abgedruckt, da sie sich relativ stark mit den anderen hier vorliegenden Aufsätzen überschneiden: Andreas Reckwitz: »Affective Spaces. A Praxeological Outlook«, in: Rethinking History 16 (2012), S. 241-258 und »Sinne und Praktiken: Die sinnliche Organisation des Sozialen«, in: Hanna Göbel/Sophia Prinz (Hg.), Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld 2015, S. 441-456. 10 | Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1997.

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nimmt, als eine Implementierung von Zweck-Mittel-Rationalität (wovon die »Spezialisierung« von Organisationen und Funktionssystemen nur ein, wichtiger Aspekt ist).11 Das Verständnis der Moderne als Rationalisierungsprozess – der Vermarktlichung und der Verwissenschaftlichung, der Bürokratisierung und der Leistungsorientierung – trifft nun ohne Zweifel Wesentliches der modernen Gesellschaft. Aber meine Grundirritation war von Anfang an, dass dies nicht alles ist, dass damit die Moderne in ihrer komplexen, widersprüchlichen Struktur nicht vollständig, nicht wirklich getroffen ist – erst recht nicht die Gesellschaft der Gegenwart. Meine Grundintuition lautet, dass sich dieser Widerspruch der Moderne aus einer dem Rationalisierungsprozess entgegengesetzten gesellschaftlichen Kraft ergibt: aus der Ästhetisierung und Kulturalisierung, die den Formalismus, Szientismus und das Effizienzstreben der versachlichten Moderne mit einer Orientierung am »Authentischen«, an der experimentellen Selbstüberschreitung, an der Affektivität, der Sinnlichkeit, an der Kreativität und Singularität konfrontieren.12 Holzschnittartig gesprochen, stehen der Versachlichung der Rationalität soziale Formen entgegen, die intensivierte Affektivitäten produzieren. Diese Gegentendenzen – die selbstverständlich eine lange Vorgeschichte in den archaischen und traditionalen Gesellschaften haben – wirken bereits seit den Anfängen der Moderne im 18. Jahrhundert. Sie gewinnen jedoch in der Spätmoderne (oder Postmoderne) seit den 1970er Jahren großflächig und tiefgreifend eine strukturbildende Kraft und gehen zunehmend hybride Vernetzungen mit der formalen Rationalisierung, Kapitalisierung und Differenzierung ein. Um dieser kulturell-ästhetischen, affektiven Gegentendenz, die mittlerweile selbst im gesellschaftlichen Zentrum angekommen ist und paradoxe Strukturen produziert, auf die Spur zu kom11 | Dies ist die maßgeblich von Max Weber auf den Weg gebrachte Perspektive, vgl. Sam Whimster/Scott Lash (Hg.): Max Weber, Rationality and Modernity, London 1987. Die an Marx angelehnten Kapitalismustheorien, die seit dem Ende der 2000er Jahre ein Revival erleben, nehme ich als eine weitere Variante dieser rationalisierungstheoretischen Perspektive auf die Moderne wahr, vgl. etwa die Beiträge von Dörre und Lessenich in: Klaus Dörre/Stephan Lessenich/Hartmut Rosa: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2009. Viele der aktuell an Foucault anschließenden Arbeiten reihen sich gouvernementalitätsanalytisch ebenfalls in dieses Rationalisierungsnarrativ ein, vgl. etwa Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. 12 | Insbesondere Autoren aus dem Umkreis des Fragekomplexes von »Ästhetik und Gesellschaft« haben seit Simmel, Nietzsche, Freud, Bataille, Benjamin und anderen auf diese Gegentendenzen hingewiesen, vgl. dazu auch Andreas Reckwitz/Sophia Prinz/ Hilmar Schäfer (Hg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften, Berlin 2015.

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men, muss die Theorie der Moderne sich jedoch deutlich breiter empirisch informieren und überraschen lassen, als sie es insbesondere in der neueren deutschen Diskussion lange Zeit getan hat.13 Sie muss sich sehr viel stärker mit den Forschungen der Kulturgeschichte und mit jenen Strängen der empirischen Soziologie, Kulturanthropologie und Kulturwissenschaft konfrontieren und verbünden, die sich auf alternative kulturelle Formate einlässt, etwa in der Arbeits-, Konsum-, Stadt- und Mediensoziologie. Diesen Antagonismus zwischen Rationalisierung und Ästhetisierung/ Kulturalisierung hatte ich in meinem Buch Das hybride Subjekt (2006) unter dem Aspekt verfolgt, inwiefern er die Subjektivierungsformen des modernen Selbst prägt.14 Ich habe dort den ästhetischen Gegenbewegungen der Romantik, der Avantgarden und der Counter Culture besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Zugleich habe ich nachgezeichnet, wie die Ästhetisierung des Subjekts sich über diese Gegenkulturen hinaus in den dominanten Subjektformen der bürgerlichen Moderne, der organisierten Moderne und der Spätmoderne ausgewirkt hat und dort mit der Rationalisierung des Subjekts eine »hybride« Kombination eingegangen ist. Es war für mich ein konsequenter Schritt, in meinem nächsten Buch, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung (2012), über die spezielle Frage nach dem Subjekt hinauszugehen und zu fragen, wie die Ästhetisierung die Form des Sozialen insgesamt transformiert hat.15 Dort argumentiere ich, dass sich um die Orientierung an der Kreativität, das heißt an einem sozialen Regime des Neuen, 13 | Ein historisches Vorbild kann hier Georg Simmel sein. Der Theoriestil von Foucault und Latour war/ist ebenso überraschungsoffen. Auch Zeitdiagnosen wie die von Daniel Bell und Ulrich Beck kultivierten eine erfrischende Neugierde für die Gegenwart, sie sind zugleich jedoch nicht wirklich zu Gesellschaftstheorien ausgearbeitet worden. 14 | Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerwist 2006. Vgl. zu diesem Buch auch die kritische Diskussion von Hartmut Rosa, Uwe Schimank und Karl-Siegbert Rehberg und meine Replik in Hans-Georg Soeffner u.a. (Hg.): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformation. 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008, Bd. 2, Wiesbaden 2010, S. 737-771. 15 | Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. Vgl. zu diesem Buch auch eine erste kritische Diskussion von Walter Siebel, Tobias J. Knoblich und Max Fuchs in: Kulturpolitische Mitteilungen, 141 (2013), S. 35-43. Das Buch entstand im Rahmen eines Konstanzer Forschungsprojekts, in dem auch zwei Dissertationen verfasst wurden, die sich Aspekten des Kreativitätsdispositivs widmen: Hannes Krämer: Die Praxis der Kreativität. Eine Ethnografie kreativer Arbeit, Bielefeld 2014; Anna-Lisa Müller: Green Creative City, Konstanz 2013. In diesem weiteren Forschungskontext bewegen sich auch: Sophia Prinz: Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bie-

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das weniger technisch-kognitiv als ästhetisch-symbolisch ausgerichtet und eng mit einem Künstlerideal verknüpft ist, in der Spätmoderne ein institutionell wirkungsmächtiges Kreativitätsdispositiv ausgebildet hat. Damit ist ein ehemaliges Ideal ästhetischer Gegenkulturen in den institutionellen Mainstream eingesickert, so dass sich eine außergewöhnliche Verzahnung von Prozessen der Ästhetisierung, Ökonomisierung und Medialisierung ergibt.16 Die Aufsätze im zweiten Teil dieses Bandes behandeln verschiedene Aspekte des Kreativitätsdispositivs. Der Aufsatz Die Moderne jenseits der Modernisierungstheorien hat einen generellen und vorbereitenden Charakter, indem er diskutiert, welche Alternativen sich zum modernisierungstheoretischen Narrativ in der Soziologie bieten. Die drei Texte Die Selbstkulturalisierung der Stadt. Zur Transformation moderner Urbanität in der »creative city«, Der Kreative als Sozialfigur der Spätmoderne und Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse. Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativitätsdispositivs beleuchten drei Elemente des Dispositivs der Kreativität: die Kulturalisierung der Metropolen, den »Kreativen« als avancierte Subjektivierungsform, schließlich die besondere Relevanz der Praktiken des künstlerischen Feldes für die Ausbildung des ästhetischen Kapitalismus. Ästhetik und Gesellschaft. Ein analytischer Bezugsrahmen holt sehr weit aus und beleuchtet die Frage nach der Ästhetisierung des Sozialen unter drei miteinander verzahnten Aspekten: der Herausforderung der Sozialtheorie durch eine analytische Fokussierung sinnlich-affektiver, »ästhetischer Praktiken«; die unterschiedlichen Versionen der Ästhetisierung in den drei historischen Typen der Moderne (bürgerliche Moderne, organisierte Moderne, Spätmoderne) und die verschiedenen Versio-

lefeld 2014; Hanna Katharina Göbel: The Re-Use of Urban Ruins. Atmospheric Inquiries of the City, New York u.a. 2014. 16 | Ich arbeite gegenwärtig an einer Fortsetzung und Radikalisierung dieser Analyse unter dem Arbeitstitel »Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne«. Das Leitmotiv ist hier, dass das Gegenprinzip zur Herrschaft des Allgemeinen, wie sie die formale Rationalisierung forciert, eine Orientierung am Besonderen, an den Singularitäten darstellt, wie sie in der Spätmoderne strukturbildend wirkt. Solche Singularitäten sind im starken Sinne »kulturelle«, eigenwerthafte Entitäten (darunter auch, aber nicht nur solche ästhetischer Art) und umfassen singuläre Objekte (viele der postmodernen Waren und Dienste, Bilder und Töne) ebenso wie singuläre Subjekte (Individualitäten), singuläre Räume (Orte) und Zeiten (Momente, Episoden) ebenso wie singuläre Kollektive (Projekte, Neo-Gemeinschaften). Die Transformation der Moderne in Richtung einer Orientierung an den Singularitäten verquickt sich mit einem Schub an rationalistischer Optimierung und Kompetitivisierung, was sich besonders gut im Feld der cultural economy und den digitalen Medien zeigen lässt und erhebliche Konsequenzen für die Form des Sozialen zeitigt.

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nen einer soziologischen Kritik an der Ästhetisierung bzw. ausgehend vom Ästhetischen. Der Aufsatz Jenseits der Innovationsgesellschaft. Das Kreativitätsdispositiv und die Transformation der sozialen Regime des Neuen fasst zunächst die Grundargumentation bezüglich der Strukturen des Kreativitätsdispositivs zusammen und arbeitet daran anschließend den Strukturwandel der sozialen Regime des Neuen von der »technizistischen« organisierten Moderne zur sich kulturalisierenden Spätmoderne heraus: Das Paradigma der Innovation wird hier durch das der Kreation abgelöst. Der letzte Aufsatz, Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen. Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten, schließlich behandelt die Frage, inwiefern die Herrschaft des disziplinären Blicks, wie sie Foucault im Auge hatte und wie sie die klassische, rationalistische Moderne charakterisiert, in der kulturalisierten Spätmoderne von einer neuartigen, in vieler Hinsicht konträr strukturierten Sichtbarkeitsordnung abgelöst wird, einer medialen und ökonomischen Ordnung, in der zwischen »Singularitäten«, das heißt Objekten und Subjekten mit dem Anspruch des Besonderen, ein Kampf um Aufmerksamkeit stattfindet.

J enseits des R ationalismus Natürlich stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen meinen sozialtheoretischen und den gesellschaftstheoretischen Argumentationen. Ergibt sich die eine »natürlicherweise« aus der anderen oder existieren sie unabhängig voneinander? Wie bereits ausgeführt, gehe ich prinzipiell von beidem aus: dass die Sozialtheorie die Gesellschaftstheorie nicht determiniert, aber dass andererseits die Gesellschaftstheorie und Theorie der Moderne auf eine bestimmte sozialtheoretische Grundbegrifflichkeit angewiesen ist. Die Theorie der Praxis ist grundsätzlich weit und flexibel genug, um ganz unterschiedliche Gesellschaftstheorien und empirische Analysen zu ermöglichen, die sie gleichwohl mit ihrem spezifischen praxeologischen Blickwinkel durchdringt. Praxeologie bedeutet also nicht unweigerlich, sich für das Kreativitätsdispositiv und Kulturalisierungsprozesse zu interessieren. Es ist vielmehr auch möglich und sinnvoll, zum Beispiel gerade Prozesse der formalen Rationalisierung praxeologisch zu untersuchen, indem man das doing rationality unter die Lupe nimmt, wie es sich im Zusammenhang von bestimmten Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsformen und Artefaktsystemen abspielt.17 Umgekehrt setzt jedoch meine Perspektive auf die Moderne, welche in ihr einen dynamischen Antagonismus von Rationalisierung und Kulturalisierung/ 17 | Diese Analyserichtung wird beispielsweise in den governmentality studies betrieben, in anderer Weise auch in den science studies.

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Ästhetisierung am Werk sieht, voraus, dass mir sozialtheoretische Begriffe zur Verfügung stehen, um diesen Zusammenhang überhaupt in den Blick nehmen zu können. Die Theorie sozialer Praktiken ermöglicht genau dies – die Prozesse der Ästhetisierung und Kulturalisierung zu fokussieren, die in »rationalistischen« Theorievokabularen nurmehr am Rande des Sichtfeldes auftauchen oder komplett durch das begriffliche Suchraster fallen. Ästhetisierungs- und Kulturalisierungsprozesse zu erfassen, setzt voraus, bestimmte Zusammenhänge zu begreifen, die namentlich die Theorie sozialer Praktiken, verstanden als eine materialistische Kulturtheorie, beschreibbar macht. Dies betrifft erstens die konstitutive Relevanz von Affektivität und sinnlicher Wahrnehmung für menschliches Handeln, welches ein elementares Verständnis der Körperlichkeit der Praxis voraussetzt. Zweitens ist eine Sensibilität für den integralen Zusammenhang zwischen sozialen Praktiken und Artefakten bzw. Objekten nötig, welche als einflussreiche Mitspieler die Praxis mitkonstituieren. Drittens ist ein Verständnis des »Menschen« gefragt, welches diesen weder auf einen reflexiven Akteur oder Normträger noch auf ein psychisches System oder kommunikativen Adressaten engführt, sondern als Ort von durch Körper und Psyche hindurch wirkenden Subjektivierungsprozessen analysierbar macht. Viertens muss jenseits eines Modells normorientierten oder nutzenkalkulierenden Handelns die eigenständige Relevanz expressiver, experimenteller und performativer Formen der Praxis anerkannt werden. Fünftens schließlich ist ein Bewusstsein dafür zu schärfen, dass kulturelle Ordnungen in ihrer Eigenmächtigkeit nicht als homogene, intellektuell geschlossene Entitäten vorausgesetzt werden können, sondern potentiell »unreine« hybride und heterogene Formationen bilden, in denen sich kulturelle Elemente unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher »Herkunft« kreuzen. Wenn man die Moderne nicht auf eine Rationalisierungslogik reduzieren will, sondern den Widerstreit mit Prozessen der Kulturalisierung und Ästhetisierung soziologisch beschreibbar machen will, bilden diese begrifflichen Sensibilisierungen der Praxeologie den Hintergrund. Die sozialtheoretische Rationalismuskritik der Praxeologie und die gesellschaftstheoretische Kritik an einem monolithischen Verständnis von Moderne als Prozess formaler Rationalisierung sind insofern untergründig miteinander verquickt. Den Blick für diese Herausforderung des Rationalen in der sozialen und gesellschaftlichen Realität – die Hoffnungen wie Risiken in sich birgt – zu schärfen, ist es, was mein sozial- und gesellschaftstheoretisches Anliegen umschreiben könnte. Vielleicht ist es ja genau das, die Herausforderung des Rationalen, was eigentlich »Kultur« ausmacht.18 Berlin, November 2015 18 | Vgl. Georges Bataille: »Der Begriff der Verausgabung«, in: ders., Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975, S. 9-31.

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1. Auf dem Weg zu einer Theorie sozialer Praktiken

Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse

1. D ie F aszination der K ultursoziologie Wissenschaftliches Arbeiten kommt nicht ohne affektive Orientierungen aus. Folgt man Max Weber, dann stellen sich die modernen Institutionen zwar auf den ersten Blick als Rationalmaschinen dar, als Orte der scheinbar affektfreien formalen Rationalität, unter denen das wissenschaftliche Feld mit seiner institutionalisierten Teleologie der empirischen Überprüfung von Hypothesen, seinem Willen zur Wahrheit herausragt. Bei näherer Betrachtung gilt jedoch für alle gesellschaftlichen Sphären der Moderne, gerade für die scheinbar rationalsten wie die kapitalistische Ökonomie, den Staat und die Politik, schließlich für die Wissenschaft, dass sie ohne spezifische affektive, libidinöse Orientierungen nicht auskommen, welche die Individuen motivieren, an ihnen zu partizipieren. Während die Affektivität der modernen Ökonomie – die Lust am Exzess der Konsumtion, das Spektakel des riskanten Marktes, die Befriedigung des Arbeitens im Kollektiv oder im Projekt –, ebenso wie die Affektivität der modernen Politik – die Produktion von kollektiven Identitäten, die Inszenierung von Macht und Zukunftshoffnung, die Lust am Kampf – mehr und mehr ins Bewusstsein getreten sind, bleiben die untergründigen libidinösen Orientierungen der Wissenschaften zu entdecken.1 Die allmähliche Entstehung der gegen die Blutleere der Scholastik gerichteten modernen Naturwissenschaften im Renaissance-Humanismus ist so kaum begreif bar ohne die exzentrische Lust am spielerischen Experiment, am praktischen Umgang mit den konkreten Dingen, am Umstürzen von Vorurteilen.2 Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben ihre spezifischen Affektivitäten ausgebildet, die

1 | Vgl. insgesamt Brian Massumi: Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation, Durham 2002. 2 | Vgl. Edgar Zilsel: Wissenschaft und Weltanschauung. Aufsätze 1929-1933, Wien 1992.

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Roland Barthes Lust am Text ebenso einschließen wie die Lust an der (Herrschafts-)Kritik.3 Gerade eine Abhandlung über die Frage, was »Kultursoziologie« ist und sein kann, sollte mit der Frage nach ihren affektiven Impulsen beginnen. Die Tatsache, dass die Kultursoziologie seit dem Beginn der 1980er Jahre zunächst im englischsprachigen, dann auch im deutschsprachigen Raum ein erhebliches Interesse auf sich gezogen hat, und dass gerade ausgehend von jüngeren Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ein hohes Maß an intellektueller Energie in diesen Bereich geströmt ist, scheint ohne diese affektive Attraktivität der Kultursoziologie nicht erklärbar. Die Kultursoziologie ist – wie die Kulturwissenschaften insgesamt – ein Objekt libidinöser Orientierung, sowohl auf der Seite ihrer Produzenten als auch ihrer Rezipienten, ihrer Interessenten und Leser. Jedenfalls gilt dies für jenen zeitgenössischen Fall, in dem sie keine bloße Bindestrichsoziologie darstellt, die sich mit einer abgekapselten Sphäre der Kultur im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Sphären beschäftigt, sondern eine Querschnittsperspektive, die alles Soziale und Gesellschaftliche als Kulturelles, das heißt, als Sinnhaftes, als abhängig von kontingenten kulturellen Codes und Sinnhorizonten wahrnimmt. Die Faszination der Kultursoziologie in dem Sinne, in dem ich sie im Folgenden skizzieren möchte, ist in einem doppelten reflexiven Zug verankert: (1) darin, das scheinbar Vertraute unvertraut zu machen, es als befremdlich, ungewöhnlich und kontingent erscheinen zu lassen, und (2) darin, dieses Unvertraute wiederum durch eine Kontextuierung in einem komplexeren Sinnzusammenhang zu begreifen und zu dechiffrieren.4 Ganz generell hantiert die Kultursoziologie – so wie das kulturwissenschaftliche Denken insgesamt – mit den Kategorien des Sinns, der Bedeutung und des Symbolischen. Das in der sozialen Welt Gegebene ist nicht einfach »vorhanden« und es lässt sich auch nicht kurzerhand über den Verweis auf kausale Kräfte, individuelle Intentionen, statistische Regelmäßigkeiten oder funktionale Folgen erklären. Seine Entstehung und Reproduktion wird vielmehr nur nachvollziehbar, wenn man einzelne Verhaltensweisen, aber auch Artefakte oder Zeichen einbettet in den komplexen Zusammenhang spezifischer Denk- und Wahrnehmungsweisen, kollektiver Interpretations- und Wissensformen, die innerhalb der sozialen Welt selbst nur halb oder gar nicht bewusst sind und die weit weniger stabil 3 | Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1974. 4 | Vgl. auch Andreas Reckwitz: »Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm«, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 1-20; Stefan Hirschauer/Klaus Amann (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt a.M. 1997.

Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse

und homogen sind, als es auf den ersten Blick scheint. Affektiv aufgeladen in der Kultursoziologie ist offenbar genau dieser doppelte reflexive Zug: das scheinbar Vertraute, Normale, Banale, gar nicht Erklärungsbedürftige – die Verwendung des Mobiltelefons und den ökonomischen Maßstab von Effizienz und Nutzen, die Art und Weise, wie man isst, oder die heterosexuelle Anziehung der Geschlechter, den verbreiteten Wunsch, »sich selbst zu verwirklichen« oder den massenhaften Jubel beim Fußballspiel – zu verfremden und damit problematisch und merkwürdig erscheinen zu lassen. Eine derart verfremdende Sichtweise ist auch aus den ästhetischen Avantgarden bekannt. Dieses »Befremden an der eigenen Kultur« bedeutet einen Akt der Dekontextualisierung, ein Herausreißen aus dem vertrauten Umfeld des scheinbar immer schon Verstandenen, aus der Lebenswelt des Alltags (Schütz). Darauf folgt aus der kultursoziologischen Perspektive als zweiter Schritt eine extensive Neubeschreibung ihres Gegenstandes, ein Bewusstmachen der Komplexität des scheinbar Einfachen und seiner Eingebettetheit in spezifische Sinnzusammenhänge, in deren Kontext sie dann auf andere und neue Weise »begreif bar« werden. Die fraglichen Verhaltensweisen erscheinen damit kontingent und sozial zwingend zugleich: In einem anderen Sinnzusammenhang würden sie gar nicht auftauchen, wären völlig unverständlich, aber in dem gegebenen und rekonstruierbaren Kontext kollektiver Denk- und Wahrnehmungsweisen sind diese Verhaltensweisen nur konsequent. Dieser Akt der Dechiffrierung, der Entzifferung einer sinnhaften Logik, in der sich zunächst unverstandene oder scheinbar immer schon verstandene Elemente in ein neues intelligibles Ganzes fügen (ein Ganzes, das sich durchaus auch wieder über Friktionen oder Konflikte zusammensetzt und sich insofern gegen den Alltagsverstand als ein fragiles Gebilde herausstellt), trägt erheblich zur Faszination und Befriedigung der Kultursoziologie bei. Einen besonderen Reiz verschafft der Kultursoziologie dabei, dass sie beständig zwischen den beiden Polen dreier Formen des Fragens und Suchens pendelt: zwischen der Materialfülle der Kulturwissenschaften und der Abstraktion der Kulturtheorie; zwischen der Orientierung an der Gegenwart in ihrer Aktualität und an den Überraschungsmomenten der Geschichte in ihrer longue durée; schließlich zwischen dem Mikro-Interesse an den Details einzelner Praktiken und kultureller Objekte und dem Makro-Interesse an der Transformation der Moderne als kulturelle Formation. Die Kultursoziologie beschränkt sich nicht darauf, einen dieser Pole zu verabsolutieren, vielmehr kann sie ihre Faszination daraus beziehen, ihren doppelten Zug der Dekontextualisierung und Dechiffrierung in der unabschließbaren Bewegung von einem zum anderen Pol anzuwenden. Die Kultursoziologie ist auf der einen Seite eine radikal empiristische Disziplin in dem Sinne, dass ihr potentiell die gesamte Fülle des gegenständlichen Materials der Kulturwissenschaften der Geschichte und Gegenwart zur Ver-

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fügung steht und sie sich detailversessen darauf einlässt: die teilnehmende Beobachtung beliebiger alltäglicher Praktiken, die Aufzeichnung von Kommunikationssequenzen, das ungeheure »Archiv« der textuellen Dokumente (institutioneller Art, massenmedialer Art, Egodokumente etc.), das Archiv der visuellen Objekte (Bilder, Fotos, Filme, digitale Artefakte), die technischen Artefakte von Werkzeugen bis zum Städtebau – alles wird in seinem Detailreichtum zum Gegenstand materialer Analyse. Zugleich jedoch ist die Kultursoziologie mit besonderer Leidenschaft an der Theoriediskussion beteiligt. Diese Theoriediskussion ist prinzipiell nicht mehr disziplinär zurechenbar, sprengt daher häufig auch die Grenzen der »soziologischen Theorie« zugunsten der »Kulturtheorie«, die Impulse aus der Soziologie, Philosophie, Ethnologie, Medienwissenschaft oder Kunst- und Literaturwissenschaft erhält. Ein besonderes Interesse gilt dabei der Entwicklung neuer Begriffswerkzeuge und der Kombination unterschiedlicher Vokabulare. Die Kulturtheorie – als ein heuristisches Werkzeug der Analyse verstanden – drängt dabei immer wieder zu den konkreten Materialien, während die materiale Analyse in ihrem Interesse an der dechiffrierenden Systematisierung immer auch zu kulturtheoretischen Reflexionen drängt. Idealerweise enthusiasmieren sich die Material- und die Theorieorientierung der Kultursoziologie gegenseitig und idealerweise vereinigt die Kultursoziologie zwei nur scheinbar gegensätzliche Sensibilitäten: die Sensibilität für die Details des Materials und jene für den theoretischen Begriff. Ähnliches gilt für die beiden anderen Pole: Seit Baudelaires Zelebrierung der Modernität des aktuellen Moments und Simmels wie Benjamins zeitdiagnostischen Miniaturen lässt sich das kultursoziologische Fragen vom Neuartigen und Befremdlichen des Zeitgenössischen und Gegenwärtigen inspirieren, ohne dieses sogleich aus den bereits vertrauten Strukturen »der Moderne« ableiten zu wollen. Vor allem die diversen studies im Umkreis der Kultursoziologie – science studies, media studies, cultural studies, global studies etc. – kultivieren für die Kultursoziologie immer wieder die Neugierde für neuartige Praktiken, Artefakte und Subjektformen: sei es im Umkreis der neuen Medientechnologien, der Jugendkulturen und Counter Cultures oder der Migrantenkulturen. Die Kultursoziologie ist damit radikal präsentistisch – aber zugleich ist sie ebenso radikal historistisch ausgerichtet: Die Rekontextualisierung von kulturellen Phänomenen bedeutet immer auch eine historische Rekontextualisierung, die Einbettung der Phänomene in die langen Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Intertextualitäten der Geschichte, in denen die Zeitpunkte und Kontexte der Entstehung des scheinbar Universalen und Alternativenlosen deutlich werden. Die Kultursoziologie nimmt hier die historistische Tradition der Geisteswissenschaften in neuer Weise auf, eine Tendenz, wie sie besonders deutlich bei und im Gefolge von Michel Foucault und seiner Programmatik der Archäologie und Genealogie vorangetrieben worden

Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse

ist. Auch hier kombiniert die Kultursoziologie damit zwei scheinbar gegenläufige Sensibilitäten: die für das Neue und für das Alte, das neugierige Wissen des Zeitgenossen um aktuelle Tendenzen und das historische Wissen um die Vergangenheit des Gegenwärtigen. Schließlich pendelt die Kultursoziologie in ähnlicher Weise zwischen den Polen der Mikro- und der Makroperspektive. Ihre Arbeit ist einerseits regelmäßig eine mikrologische »dichte Beschreibung« einzelner – gegenwärtiger oder vergangener – sozialer Praktiken oder Interaktionsformen oder auch eine Detailanalyse der kulturellen Codes, wie sie sich in einem einzelnen Text oder einem einzelnen Bild oder Film finden. Gleichzeitig treibt es die Kultursoziologie jedoch ebenso zur Makrosoziologie, die über die Ethnografie oder Hermeneutik des Details hinausgeht: zu synthetisierenden Aussagen über die langfristige Entwicklung kultureller Ordnungen in der Moderne und ihrer Kulturkonflikte. Die intellektuelle Faszination der Kultursoziologie besteht nicht zuletzt darin, idealerweise beides »im Griff zu haben« und aufeinander beziehen zu können: die Mikrologik des kulturellen Details in all ihrer Komplexität und die makrologische Transformation kultureller Strukturen über lange Zeiträume und größere räumliche Kontexte hinweg. Abbildung 1

2. V ier fr anzösisch - amerik anische I mpulse zugunsten der » neuen K ultursoziologie « Die Kultursoziologie ist dann am leistungsfähigsten und perspektivenreichsten, wenn ihr tatsächlich eine permanente Pendelbewegung zwischen materialen Sozial- und Kulturwissenschaften und Kulturtheorie, zwischen Aktualität und Geschichtlichkeit, zwischen Mikro- und Makroperspektive gelingt. Eine solche heuristisch fruchtbare Kultursoziologie, die somit zugleich eine Klammer zwischen der Soziologie und den Kulturwissenschaften insgesamt bietet, kann sich nicht an einen einzigen Autor oder eine einzelne, abgezirkelte Theorieschule heften. Vielmehr ist hier an ein ganzes Feld heuristischer Strategien und Analytiken zu denken, das ich provisorisch unter dem Etikett einer

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praxeologischen Kulturanalyse versammeln möchte. Neben der Praxistheorie im engeren Sinne liefert hierfür der Poststrukturalismus einen wichtigen Impuls. Im Folgenden geht es um den Grundriss dieser »neuen Kultursoziologie«. In deren Zentrum befindet sich das, was ich das »praxeologische Quadrat der Kulturanalyse« nennen will. Das heißt nicht, dass ältere Denktraditionen der Kultursoziologie damit überholt oder bedeutungslos geworden wären. Max Webers Religionssoziologie, Durkheims Theorien der Rituale und des Sakralen oder Simmels Essays zur Ästhetik und Urbanität, Benjamins kulturkritische Schriften, MerleauPontys Phänomenologie oder Marcel Mauss’ Kulturanthropologie vermögen auch einer aktuellen Kultursoziologie weiterhin Impulse zu liefern. Ihren grundsätzlichen Rahmen erhält die »neue Kultursoziologie« jedoch aus jenen intellektuellen Blickverschiebungen, die sich im Wesentlichen seit den späten 1960er und 70er Jahren in der Soziologie und den Kulturwissenschaften insgesamt ergeben haben. Während die ältere Kultursoziologie zu großen Teilen deutscher Herkunft war und vor allem durch den Neukantianismus, die Phänomenologie und die Hermeneutik vorangebracht wurde, ist die neue Kultursoziologie am Anfang ein französisches und US-amerikanisches Unternehmen, eine franko-amerikanische Koproduktion (die wohl auch deshalb zunächst auf teutonische Skepsis stieß), bevor sie mittlerweile zu einem globalen Projekt avanciert ist. Es sind vor allem vier konzeptuelle Bewegungen, die das Feld der neueren kultursoziologischen Analytik beeinflussen: erstens die Ansätze des Strukturalismus und Poststrukturalismus, zweitens die insbesondere soziologische und ethnologische Bewegung zur Analyse von ethno-methods und sozialen Praktiken, drittens die Ansätze zur Analyse von Artefakten und kulturellen Technologien, schließlich viertens der Komplex von Theorien der »Postmoderne«. Allen gemeinsam ist die dezidierte Kritik an bestimmten Grundannahmen klassischer Sozial- und Geisteswissenschaft: dem Prozess der Modernisierung, der Voraussetzung homogener Kulturen und Sinnsysteme, der Reflexivität und Transparenz des Wissens, schließlich der artefaktvergessenen »Menschlichkeit« des Sozialen. Polemisch zugespitzt formuliert, versuchen sie alle – mit Foucault gesprochen5 – die Sozial- und Geisteswissenschaften aus ihrem »anthropologischen Schlummer« zu wecken, der zugleich ein geschichtsphilosophischer Traum war: 1. Der Strukturalismus hat zunächst sprachwissenschaftliche Wurzeln – klassisch in Ferdinand de Saussures Cours de la linguistique générale –, wird dann vor allem von Lévi-Strauss auf die Ethnologie übertragen, bevor er seit den 1960er Jahren eine breite Rezeption in den Sozial- und Kulturwissenschaften erfährt und in verschiedene Versionen einer poststrukturalisti5 | Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1990.

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schen Analytik überführt wird.6 Am effektivsten und einflussreichsten wird ein solches Analyseprogramm an der Schnittstelle von Strukturalismus und Poststrukturalismus in den Arbeiten von Michel Foucault skizziert.7 Jacques Derridas Verfahren der Dekonstruktion ist zunächst auf die Analyse philosophischer und literarischer Texte angewandt,8 in einem zweiten Schritt – etwa bei Ernesto Laclau und Judith Butler – auch auf die Sozial- und Kulturtheorie übertragen worden.9 Die Leitidee einer strukturalistischen Kulturanalyse besteht darin, »hinter« einzelnen Handlungen, Zeichen oder Artefakten eine kulturelle Grammatik, eine »Ordnung des Denkbaren und Sagbaren« zu dechiffrieren, eine Ordnung, die die Form eines komplexen Systems von Differenzen annimmt, in denen häufig asymmetrisch aufgebauten binären Codes (männlich/weiblich, Effizienz/Verschwendung, links/rechts etc.) eine besondere Funktion zukommt. Poststrukturalistische Analytiken unternehmen in diesem Rahmen eine Akzentverschiebung, indem sie den Blick auf den historischen sowie diskursiven Charakter und vor allem auf die Instabilität, immanente Hybridität, Destabilisierungstendenz und Selbstwidersprüchlichkeit solcher kultureller Codes lenken. Auch die »subjektivierende« Wirkung kultureller Ordnungen auf den Körper wird hier herausgestellt. Die kultursoziologische Perspektive, die sich aus dem poststrukturalistischen Denken ergibt, betreibt damit eine resolute »Dezentrierung des Subjekts« zugunsten diskursiver Ordnungen, welche das Bewusstsein eines Subjekts übersteigen und sich umgekehrt passende Subjektformen produzieren. Sie geht auf Distanz zur Vorstellung der Kontinuität der Geschichte zugunsten eines Modells historischer Diskontinuitäten und Kampfkonstellationen und sie verabschiedet sich von der Annahme der Homogenität kultureller Ordnungen zugunsten einer Fokussierung auf diskursive Destabilisierungen. Aktuelle Anschlüsse für den Poststrukturalismus haben sich in der Kulturgeschichte und diskursorientierten Literaturwis6 | Vgl. Stefan Münker/Alexander Roesler: Poststrukturalismus, Stuttgart/Weimar 2000; Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008. 7 | Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1990; Ders.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1991; Ders.: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a.M. 2004; Ders.: Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Frankfurt a.M. 2004. 8 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983. 9 | Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991.

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senschaft ebenso wie in den gender studies, den post-colonial studies und den cultural studies ergeben. 2. Einen zweiten entscheidenden Impuls erhält die zeitgenössische Kulturanalyse durch das breite Feld soziologischer, ethnologischer und historischer Analytiken, die anstelle der Hypostasierung sozialer Strukturen oder ganzer »Kulturen« die Rekonstruktion der Logik von Praktiken und ihrer ethnomethods in den Blick treten lassen.10 Einen frühen philosophischen Impuls liefert hier Ludwig Wittgensteins Philosophie der Sprachspiele. Ein ausgearbeitetes soziologisches Forschungsprogramm findet sich in Harold Garfinkels Ethnomethodologie, die – gegen Parsons’ Hypostasierung von Normen und Werten gerichtet – den Blick auf das implizite Wissen der alltäglichen practical accomplishments in ihrer Reproduktivität und Eigensinnigkeit, damit auf die implizite »kognitive Organisation der Wirklichkeit« im Handlungsvollzug richtet.11 Einen etwas anderen, aber verwandten Weg gehen Pierre Bourdieus Perspektive einer Theorie der Praxis einerseits, indem sie nach dem praktischen Sinn und den Habitusvoraussetzungen sozialer Praktiken fragt, die Ansätze einer Analytik der »Performativität«, d.h. der Kultur als performative Aufführungs- und Ausführungspraxis andererseits.12 Die Kritik dieser im weitesten Sinne »praxeologischen« Analytiken richtet sich gegen die rationalistischen Voraussetzungen eines Homo oeconomicus und eines Homo sociologicus gleichermaßen und damit gegen das klassische Konzept einer Handlungstheorie, die vom zweckrationalen oder regelorientierten Handeln ausgeht. Stattdessen treten die wissensabhängigen rekursiven Praktiken in den Blick, wobei »Wissen« sich in dieser Perspektive von einem Aussagesystem primär zu einem körperlich-leiblich verankerten Know-howWissen transformiert. Die praxeologischen Analysen haben mittlerweile breite Anschlussmöglichkeiten in der Ethnologie und Ethnografie, der Kommunikationsforschung, der Alltagsgeschichte (»microstoria«), den organizational studies und den science studies gefunden. Neben den beiden Feldern des Strukturalismus/Poststrukturalismus und der Praxeologie finden sich zwei weitere für die neue Kultursoziologie zentrale theoretische Komplexe: 3. Den dritten Anstoß für die neue Kultursoziologie liefert seit den 1990er Jahren ein Feld von Ansätzen, welche den Dualismus zwischen Kultur und 10 | Vgl. François Dosse: L’Empire du sens. L’humanisation des sciences humaines, Paris 1995. 11 | Vgl. Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984; Aaron Victor Cicourel: Sprache in der sozialen Interaktion, München 1975. 12 | Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1979; Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002.

Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse

Materialität versuchen, hinter sich zu lassen. Kulturelle Zusammenhänge erscheinen nun untrennbar verknüpft mit Netzwerken von Artefakten, Dingen, Objekten und Technologien, die Trennung von »ideeller« Kulturalität und Materialität damit überholt. Einen wichtigen Hintergrund bieten hier die wissenschaftshistorischen Arbeiten von Michel Serres und seine Analytik der »Netze«.13 Gilles Deleuze’ Ansatz eines post-strukturalistischen Materialismus der De- und Reterritorialisierung liefert einen ähnlichen Impuls.14 Der wichtigste Analyseansatz zur Relationierung von Intersubjektivität und Interobjektivität in der aktuellen soziologischen Diskussion ist die »symmetrische Anthropologie« Bruno Latours sowie die gesamte actor-network-theory.15 Auch die Arbeiten im Umkreis des spatial turn, die eine Analyse der sozialen Konstitution von Räumlichkeit (etwa im Bereich Architektur und Städtebau) betreiben, die Medientheorien zur Analyse des Zusammenhangs von medialen Technologien und Wahrnehmungsweisen im Gefolge von McLuhan und Kittler sowie die neueren Anschlüsse an Foucaults Dispositiv-Konzept weisen trotz aller Unterschiede in die Richtung einer Forschungsperspektive, welche sowohl den kulturellen Umgang mit Artefaktsystemen als auch die Strukturierung von Praktiken durch Artefaktsysteme ins Zentrum ihres Blicks treten lässt.16 Hier wird der Weg einer anti-idealistischen Kultursoziologie beschritten, die einer Reduktion des Kulturbegriffs auf reine, materialitätsenthobene »Sinnwelten« entgegentritt. 4. Den vierten Impuls erhält die neue Kultursoziologie durch den heterogenen Komplex der Perspektiven auf die »Postmoderne«, die seit den 1980er Jahren in unterschiedlichen Versionen in den Sozial- und Kulturwissenschaften kursieren. Jean-François Lyotards Das postmoderne Wissen liefert hier eine Initialzündung.17 Trotz aller Unterschiede ist allen Autoren dieses Feldes gemeinsam, dass sie versuchen, Alternativen zu den in der Soziologie gängigen modernisierungstheoretischen Narrativen der Moderne zu entwickeln: Alternativen zu einem linearen Modell der Moderne als strukturelle Steigerung (Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung etc.) und als Diffu13 | Vgl. Michel Serres: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a.M. 1994. 14 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1997. 15 | Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995. 16 | Vgl. Jörg Dünne (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006; Alexander Roesler/Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie, München 2005; Andrea D. Bührmann/Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008. 17 | Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz/Wien 1986.

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sionsprozess. Man kann hier mit Featherstone eine »postmoderne Soziologie« von einer »Soziologie der Postmoderne« unterscheiden.18 Ersterer geht es darum, alternative Kategorien zur Analyse der historischen Transformation und globalen Struktur der »Moderne« als ganzer zu entwickeln. Dies gilt etwa für Foucaults Genealogie/Archäologie, für Latours Konzept der Nicht-Moderne, für Eisenstadts Konzept der multiple modernities oder für Perspektiven auf die Globalisierung aus dem Bereich der post-colonial studies.19 Letztere – die »Soziologie der Postmoderne« – konzentriert sich auf die aktuelle Phase der Entwicklung der Moderne seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in ihren besonderen Merkmalen. Dies gilt für die Arbeiten von Zygmunt Bauman, Fredric Jameson, Scott Lash, Gerhard Schulze, Karin Knorr-Cetina, Luc Boltanski, Nikolas Rose und anderen. Beide Versionen des Begriffs der Postmoderne hängen miteinander zusammen: Gerade weil sich die Moderne nicht auf ein stabiles Set struktureller Konstanten festlegen lässt, ist es der »Soziologie der Postmoderne« möglich, für die aktuelle spätmoderne Phase Diskontinuitäten zu früheren Phasen herauszuarbeiten. Versuche einer grundlegenden Alternative zu den Modernisierungstheorien haben neben solchen Diskontinuitäten den Konfliktcharakter moderner Gesellschaften fokussiert, in denen unterschiedliche Versionen der Modernität miteinander kämpfen oder sich hybride miteinander kombinieren, damit ein Kampf zwischen unterschiedlichen kulturellen Logiken der Moderne (Liberalisierung – Rationalisierung, Patriarchat – Geschlechterdiffusität, Ökonomie – Ästhetik, Westen – Osten, Hochkultur – Populärkultur, Pazifizierung – Gewaltkultur etc.) stattfindet. Für das Verständnis der Moderne seitens der Autoren der Postmoderne ist durchgängig »Kultur« von besonderer Relevanz: Die Moderne als Ganze wie ihre neueste, im engeren Sinne postmoderne Phase erscheinen nur begreif bar, wenn man sie über soziale Strukturen hinaus als veränderliche kulturelle Ensembles von Praktiken und Diskursen betrachtet.

18 | Vgl. Mike Featherstone: »Auf dem Weg zu einer Soziologie der postmodernen Kultur«, in: Hans Haferkamp (Hg.), Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt a.M. 1990, S. 209-248. 19 | Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000.

Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse

Abbildung 2

Die ›neue Kultursoziologie‹ Strukturalismus/ Poststrukturalismus (Foucault, Laclau etc.)

Theorien sozialer Praktiken

Artefakttheorien (Latour, Raum- und Medientheorien)

Theorien der Postmoderne (›postmoderne Soziologie‹, ›Soziologie der Postmoderne‹)

(Bourdieu, Garfinkel etc.)

Die vier Antriebskräfte der neuen Kultursoziologie setzen unterschiedliche Akzente und überschneiden sich zugleich an ihren Rändern. Es ergibt sich damit jedoch ein – für die konkreten Forschungen unterschiedlich akzentuierbares und modifizierbares – heuristisches Raster, das Anregungen aus allen vier Richtungen aufnimmt. Diese Forschungsheuristik ist aus meiner Sicht in ihrem Kern praxeologisch ausgerichtet. Sie geht von einem Verständnis von Kultur als Praktiken, gewissermaßen von Kultur als einem Ensemble komplexer »Kulturtechniken« aus. Ein avancierter praxeologischer Analyserahmen bewegt sich dabei im begrifflichen Quadrat von »Praktiken«, »Diskursen«, »Artefakten« und »Subjektivierungen«. Zugleich kann und soll diese Forschungsheuristik poststrukturalistisch inspiriert sein. Dies gilt nicht nur in dem Sinne, dass zentrale Analysekategorien poststrukturalistischer Autoren wie Diskurs, Subjektivierung oder Dispositiv aufgenommen werden, sondern auch und vor allem darin, dass man von den Poststrukturalisten lernen kann, eine besondere Sensibilität nicht nur für die Mechanismen der Stabilisierung, sondern auch für die permanente Destabilisierung kultureller Ordnungen, die Destabilisierung ihrer Strukturen und Grenzziehungen zu entwickeln. Als ein Leitkonzept zur Analyse dieser Prozesse der Öffnung kultureller Kontingenz erweist sich aus meiner Sicht das der »Hybridität« von Wissensordnungen und der »Hybridisierung« in Zeit und Raum.

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3. D as pr a xeologische Q uadr at der K ultur analyse : P r ak tiken , D iskurse , A rtefak te , S ubjek tivierungen In der Ideengeschichte der Humanwissenschaften kommt der Kulturbegriff in unterschiedlichen Varianten vor.20 Kultur kann mit der Schaffenskraft oder Verfeinerung einer herausgehobenen Handlungs- oder Lebensweise identifiziert werden (normativer Kulturbegriff), sie kann auf das Insgesamt menschlicher Sitten und Gebräuche verweisen (holistischer Kulturbegriff) oder das enge funktional differenzierte Segment jener kulturellen Institutionen meinen, denen es in der modernen Gesellschaft um Sinndeutungen geht (differenzierungstheoretischer Kulturbegriff). Demgegenüber verweist das in unserem Kontext relevante Kulturverständnis und mit ihm das Verständnis von Kulturwissenschaften, wie es sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert hat, auf die Ebene von Sinndeutungen und Bedeutungssystemen, kollektiven Interpretationen und Repräsentationen, wie sie in jeder Form von Vergesellschaftung verarbeitet werden. In Weiterentwicklung eines solchen sinnorientierten, ebenso abstrakten wie generalisierten Kulturbegriffs lenkt das praxeologische Kulturverständnis den Blick von der Idealität dieser Sinnsysteme auf jene materialen Prozesse, in denen sie als Wissensordnungen eingesetzt, produziert und reproduziert werden: die Praktiken, Diskurse, Artefakte und Subjektivierungen. Eine solche Kultursoziologie bewegt sich im Quadrat der Analyse dieser vier miteinander verbundenen Phänomenbereiche. Die Leitfragen, die sie stellt, wenn ein soziales Phänomen in seiner kulturellen Logik zu rekonstruieren ist, lauten: Welche Praktiken kommen hier zum Einsatz? Welche Diskurse produzieren welches Wissen? Welche Subjektformen werden hervorgebracht? Welche Artefakte wirken in welcher Weise? Der Ausgangspunkt einer praxeologischen kultursoziologischen Perspektive ist der der sozial-kulturellen Praktiken: Die soziale Welt besteht aus räumlich und zeitlich verstreuten, disparaten und teilweise miteinander verknüpften Praktiken und Komplexen von Praktiken.21 Aus der praxistheoretischen Sicht sind nicht Weltbilder oder Regeln der Bedeutungsproduktion die kleinste Einheit der Kulturanalyse, sondern die Praktik, im Plural die Praktiken. Kultur ist ein Ensemble von »Kulturtechniken«: der Praktik des Gehens und des Schreibens, der Praktiken der Aktenorganisation und der Bilanzbuchhaltung, 20 | Vgl. Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000. 21 | Vgl. Andreas Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282- 301; Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996; P. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis; H. Garfinkel: Studies in Ethnomethodology.

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des Tanzens, Versprechens, Streitens oder des Abhaltens von Parlamentssitzungen. Eine Praktik stellt sich als eine typisierte Form des Sich-Verhaltens dar (Theodore Schatzki spricht von einem »nexus of doings and sayings«), der zwei zentrale Merkmale zukommen: ihre Ermöglichung und Regulierung durch implizite Wissensordnungen und ihre materiale Verankerung in den Körpern sowie in den Artefakten. Eine sozial-kulturelle Praktik ist in diesem Sinne eine durch bestimmte implizite Wissenskriterien regulierte Form von Körperbewegungen. Die einzelne Praktik oder ein ganzer »Praktikenkomplex« – etwa der miteinander verknüpfte Komplex von Techniken, die eine fordistische oder eine postfordistische Wirtschaftsorganisation oder die Lebensform des Bürgertums des 19. Jahrhunderts ausmachen – ist damit über eine implizite, in der Regel nicht verbalisierte Wissensordnung strukturiert und tendiert zur Wiederholung. In der Praxis, d.h. der Serie von temporalen Ereignissen, die eine Aktualisierung der sozial-kulturellen Praktiken durch einzelne Körper, mit bestimmten Artefakten, in präzisen raum-zeitlichen Situationen betreiben, ergibt sich dabei jedoch immer wieder ein Potential für überraschende Verschiebungen, Modifizierungen und Eigensinnigkeiten. Die Praxeologie lenkt damit anders als die intellektualistischen Leitkonzepte der »Weltbilder« oder »Repräsentationssysteme« den kulturanalytischen Blick von vornherein auf Körperlichkeit: Praktiken – des Schreibens wie des Abhaltens von Parlamentssitzungen – sind gekonnte, regelmäßige, routinisierte Bewegungen von Körpern. Dies schließt auch mentale Prozesse ein. Praktiken enthalten damit von vornherein die Elemente der Performativität und der Inkorporiertheit. Körper führen Praktiken auf oder besser umgekehrt: Praktiken bedienen sich der Körper, schaffen sich ihre Körper, um damit intersubjektiv sichtbar bestimmte kompetente soziale Verhaltensweisen zu präsentieren.22 Die Praktiken produzieren sich ihre Subjekte, die nur scheinbar ihre Ursache liefern. Entscheidend ist, dass die Körper dabei ein praktisches, aber auch ein klassifikatorisches und ein evaluatives Wissen inkorporieren, das ihnen die Partizipation an den Praktiken ermöglicht.23 Wissensordnungen als Systeme von Klassifikationen und Repräsentationen kommen dann in der praxeologischen Perspektive in ihrer praktisch inkorporierten Aggregatform vor, als ein tacit knowledge von Kriterien, Skripts, Schemata und Bewertungen. Die praxeologische Perspektive setzt auf diese Weise keinen autonomen »Menschen« als Akteur oder Sinndeuter voraus, sondern betrachtet diesen Akteur umgekehrt als Träger von sozial-kulturellen Praktiken, in denen er eine bestimmte Akteurs- und Subjektposition erhält. Generell motiviert der analytische Fokus auf Praktiken als scheinbar selbstverständliche, tatsächlich aber hochkomplexe 22 | Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. 23 | Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987.

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Kulturtechniken einen quasi-ethnologischen, kulturanthropologischen Blick auf die Sozialwelt. Goffmans Frage »what’s going on here?« lässt sich damit verallgemeinern und auf diverse institutionelle Kontexte wie auf Lebensformen und Milieus anwenden: überall geht es um eine detaillierte Analyse des doing culture. Soziale Praktiken in ihrer Vielfalt enthalten dabei immer drei Bezugsdimensionen, deren Relevanz allerdings je nach Praktik unterschiedlich gewichtet sein kann: die Dimensionen der Intersubjektivität, der Interobjektivität und der Selbstreferenzialität. Als intersubjektiv sind Praktiken Zirkulationsordnungen von Zeichen, sei es, dass sprachliche Zeichen (wie in Kommunikationspraktiken) oder nicht-sprachliche kursieren; im Extrem handelt es sich auch nur um die wahrnehmbaren körperlichen Gesten selbst, die als Exemplar einer Praktik intersubjektiv identifizierbar sind. Zugleich enthalten die Praktiken regelmäßig eine interobjektive Dimension.24 Neben den Körpern greifen sie auch auf bestimmte Artefakte zurück, die in sie eingebaut sind: Tisch, Stuhl, Papier und Stift beim Schreiben, Gebäude, Sitzordnung etc. bei der Parlamentssitzung usw. Schließlich implizieren sie in Bezug auf das kulturell geformte Subjekt die Dimension der Selbstreferenzialität: Das Subjekt stellt in der Praktik einen Bezug zu sich selbst und einen Effekt in sich selbst her, sei es dadurch, dass es seine mentalen Kompetenzen konzentriert, dass es seine Affekte in einem bestimmten Sinne strukturiert etc. – in diesem Sinne sind Praktiken in unterschiedlicher Gewichtung »Technologien des Selbst«. Wenn man damit vom Konzept der Praktiken als kultursoziologisch kleinster Einheit ausgeht und deren intersubjektive, selbstreferenzielle und interobjektive Elemente unterscheidet, dann ergibt sich heuristisch zwanglos ein Anschluss an drei kultursoziologisch zentrale Phänomenbereiche, die jeweils für sich und in ihrer gegenseitigen Konstitution wesentliche Analysefelder bieten: Diskurse, Subjektivierungsweisen und Artefakte. Auch hier geht es wiederum nicht um die Analyse von kulturellen »Sinnwelten« als der materialen Welt enthobene Interpretationsräume, sondern um den Prozess der Produktion und Anwendung solcher Wissensordnungen in praxi: in den regulierten Ereignisketten der Diskurse, in den subjektivierten Körpern, in der Vernetzung von Menschen und Artefakten. Wenn Kultur ein Ensemble von Praktiken darstellt, dann schließt dies diskursive Praktiken bzw. Diskurse von vornherein ein. Diskurse liefern eine Spezialform von Praktiken, und die Diskursanalyse eine spezifische Perspektive auf solche Praktiken: Es handelt sich um Praktiken der Repräsentation, d.h. solche der Darstellung von Sachverhalten, Zusammenhängen, Subjekten, mit

24 | Vgl. zum Konzept der Interobjektivität Bruno Latour: »On Interobjectivity«, in: Mind, Culture, and Activity 3 (1996), S. 228-245.

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argumentativer oder narrativer oder auch bildlicher Struktur.25 Wie alle Praktiken haben auch Praktiken der Repräsentation eine materiale Verankerung, wobei ihr materialer Träger häufig nicht menschliche Körper, sondern medientechnische Artefakte sind (also Bücher, Gemälde, Kinofilme, Computer etc.). Neben sprachlich-textuell strukturierten Diskursen kommen hier visuelle Diskurse als gesellschaftliche Produktionsorte von Wissensordnungen in Frage. Betrachtet man sie alle als »Diskurse«, abstrahiert man von dieser materialen Trägerschaft und interessiert sich für die immanente Strukturiertheit der Repräsentationen, also für die Form und die Art und Weise des hier Gesagten oder Dargestellten, die »Ordnung des Denkbaren und Sagbaren«, sei es als ein reguliertes Aussagesystem, sei es als ein Zeichensystem, als eine Narrationsstruktur oder eine ikonografische Struktur. Wenn Praktiken insgesamt bestimmte Wissensordnungen implizit sind, dann werden in Diskursen Wissensordnungen gewissermaßen expliziert, sie werden selbst zum Thema der Darstellung, so dass sie auch produziert und vermittelt werden können (was entsprechende Praktiken der Rezeption voraussetzt). Wenn das (inkorporierte) Wissen für ein Verständnis von Praktiken zentral ist, dann kommt den Diskursen als Zirkulationsorten von (extrakorporalen) Wissensordnungen legitimerweise ein besonderer Stellenwert zu. Diskurse sind den Praktiken gegenüber damit weder über- noch untergeordnet – sie bewegen sich als Repräsentationspraktiken auf der gleichen, »flachen« Ebene von verstreuten Praktiken insgesamt. Diskursive und nicht-diskursive Praktiken bilden gemeinsam spezifische »Praktikenkomplexe«: Zum Beispiel partizipieren Managementdiskurse als ein Element an dem umfassenderen Praktikenkomplex der ökonomischen Organisation oder die Romanlektüre und ihre Inhalte am Praktikenkomplex der bürgerlichen Lebensform. Eine kulturwissenschaftliche Fragerichtung weist damit von den Praktiken insgesamt auf den besonderen Fall der diskursiven Praktiken, analysiert sie als Diskurse und damit als Produktions- und Zirkulationsordnung gesellschaftlicher Wissensordnungen. Eine zweite, komplementäre kultursoziologische Fragerichtung weist von den Praktiken zu den Körpern, genauer: zur Subjektivierung von Körpern, zur Produktion und Selbstproduktion von Subjekten durch die Körper.26 Als Subjektivierung kann der Prozess verstanden werden, in dem menschliche Körper sich kulturelle Kriterien einverleiben und damit zu gesellschaftlich vollwertigen, sich selbst steuernden Subjekten werden, wo25 | Vgl. M. Foucault: Archäologie des Wissens; sowie Reiner Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse: Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2005. 26 | Vgl. Michel Foucault: »Das Subjekt und die Macht«, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1987, S. 243261; Andreas Reckwitz: Subjekt, Bielefeld 2008; Kathryn Woodward (Hg.): Identity and Difference, London 1997.

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bei diese kulturellen Formen der Subjektivität je nach historischem Kontext sich als sehr unterschiedlich darstellen können (z.B. Ausrichtung an Moralität, Expressivität etc.). Die Frage richtet sich hier auf die Struktur, die Reproduktionsweise von kulturellen Subjektformen (deren mögliches Scheitern eingeschlossen), was ein Ensemble von Kompetenzen und Dispositionen, von Wahrnehmungsstrukturen, von körperlichen Haltungen, Mustern der Selbstinterpretation, psychischen Affektmustern, auch des Begehrens einschließt. Die kultursoziologische Analytik fragt damit auf dieser Ebene nach der Ausformung spezifischer Subjektformen, Subjektivierungsweisen und Subjektkulturen: ökonomischer Subjektformen wie der des Unternehmers oder des Konsumenten, bürgerlicher oder subkultureller, geschlechtlicher oder ethnischer Subjektformen. Eine solche kultursoziologische Strategie setzt keine »Akteure« voraus, sondern fragt nach deren Formung als kulturelle Subjekte, was neben der traditionellen Frage nach dem Rollenverhalten ihren Habitus und ihren scheinbar vorauszusetzenden körperlich-psychischen »Kern« in seiner kulturellen Strukturierung einschließt. Die dritte kultursoziologische Fragerichtung führt von den Praktiken zu den Artefakten. Artefakte stellen sich als Dinge, Objekte dar, die material und kulturell zugleich strukturiert werden, indem sie in soziale Praktiken eingebunden sind.27 Als Ding, als Gegenstand kommt den Artefakten eine Materialität und damit eine Effektivität zu: Artefakte haben (wie Körper) Wirkungen, ob man will oder nicht, eine Eigenmächtigkeit, die sich auf die Möglichkeit von Praktiken, Diskursen und Subjektivitäten auswirkt. Zugleich sind die Artefakte aber nicht nur Fakt, sie sind auch Faktum, sie sind »gemacht« und haben einen künstlichen, keinen natürlichen oder gar mechanischen Charakter. Artefakte sind teilweise von Menschen hergestellt worden, teils sind sie auch »entdeckt«, teils sind sie von Menschen nutzbar und in dieser Nutzbarmachung wiederum verändert worden. In diesem Sinne geht der Begriff der Artefakte auch über die »Technik« im konventionellen Sinne hinaus. Es handelt sich vielmehr um Quasi-Objekte im Sinne Latours, die nicht nur Werkzeuge, Gebäude, Kleidungsstücke oder Prothesen umfassen, sondern auch Hormone, Gene, Ozonlöcher, Getreidefelder oder Parks. Sie alle sind materiell-kulturelle Hybridgebilde28 und sie alle haben einen schwierig zu bestimmenden Doppelstatus innerhalb sozialer Praktiken: Sie werden gehandhabt und drängen sich auf, sie sind Gegenstand der Verwendung und Benutzung und zugleich beeinflussen sie die Form, die soziale Praktiken überhaupt haben können. Eine kultursoziologische Perspektive auf Artefaktsysteme fragt dann danach, von welchen wie strukturierten Artefaktkomplexen bestimmte Praktikenkomplexe 27 | Vgl. B. Latour: Wir sind nie modern gewesen. 28 | Vgl. Donna J. Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York/London 1991.

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abhängen, wie erstere gehandhabt werden und wie sie Praktiken ermöglichen und einschränken. So stellt sich etwa die Frage, in welchem Zusammenhang die Materialität einer bestimmten Architektur und eines bestimmten Städtebaus mit bestimmten Arbeitsformen steht, oder wie mediale Technologien angewandt werden und sich wiederum auf eine bestimmte Wahrnehmungsstruktur des Subjekts auswirken. Es wird damit deutlich, welcher Ort innerhalb einer praxeologischen Kulturanalyse den kulturellen Sinn- und Bedeutungssystemen zukommt. Diese werden analysierbar als Wissensordnungen, welche in Praktiken zum Einsatz kommen, in Diskursen produziert, in Form von Subjektivierungen interiorisiert und in Auseinandersetzung mit Artefaktsystemen verwendet und modifiziert werden. Auf der Ebene von sozialen Praktiken werden implizite Wissensordnungen in Form von kollektivem Know-how-Wissen, Systemen von Deutungsschemata und von kulturell codierten Absichten und Affekten eingesetzt. Diese Wissensordnungen sind nicht den Akteuren/Subjekten, sondern den Praktiken selbst zuzuordnen. Diskurse stellen sich als Räume einer Produktion von textuell oder visuell verankerten Repräsentationssystemen dar. In Form von Subjektivierungen wird das Wissen körperlich und psychisch. Im Umgang mit Artefakten schließlich kommen spezifische Know-how- und Deutungskomplexe im Umgang mit Materialitäten zum Einsatz. Generell werden diese Wissensordnungen über Systeme von vielgliedrigen Differenzen, von Unterscheidungen strukturiert, die auch den Rahmen dafür bieten, wie konkrete Dinge in einer Praktik zu interpretieren und wie sie praktisch zu handhaben sind, welcher »praktische Sinn« entwickelbar ist. Die Wissensordnungen haben dabei durchgängig sowohl einen ermöglichenden, produktiven als auch einen einschränkenden und ausschließenden Charakter: Ihre zentralen Unterscheidungen arbeiten mit Abgrenzungen gegenüber kulturell kaum intelligiblen oder diskreditierten Denk- und Handlungsweisen, bis hin zur Abgrenzung gegen ein »konstitutives Außen«, das die Identität seines Innen, d.h. der verallgemeinerten oder normalisierten Denk- und Handlungsweise stabilisiert, aber unter Umständen auch wiederum destabilisieren kann.29 Während manche Autoren einer praxeologischen Kultursoziologie, etwa Pierre Bourdieu in einigen seiner Arbeiten, im Gefolge des Strukturalismus suggerieren, dass die impliziten Wissensordnungen in der Regel als homogen, eindeutig und widerspruchsfrei vorausgesetzt werden können und die sozialen Praktiken damit zur Reproduktion neigen, lässt sich mit Hilfe des Poststrukturalismus diese Perspektive öffnen. Tatsächlich mögen Konstellationen existieren, in denen Praktiken, Diskurse, Artefakte und Subjektivierun29 | Vgl. E. Laclau/C. Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie; Stuart Hall: »The spectacle of the ›other‹«, in: ders. (Hg.), Representations. Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, S. 223- 279.

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gen reibungslos aufeinander abgestimmt und aneinander gekoppelt und die dort verarbeiteten Wissensordnungen weitgehend eindeutig strukturiert sind, Konstellationen einer kulturellen Stabilisierung, in denen entsprechende Verhaltens- und Wahrnehmungsroutinen auf Dauer gestellt werden. Diese Stabilisierungskonstellationen sind jedoch nicht als Normalfall zu präjudizieren. Die kultursoziologische Heuristik kann vielmehr eine besondere Sensibilität für die kulturellen Destabilisierungsprozesse entwickeln. Zum einen können sich zwischen allen vier genannten Elementen Brüche und Inkompatibilitäten bilden, die sich im Detail herausarbeiten lassen: Es können sich widersprüchliche Anforderungen zwischen den Praktiken mit ihren impliziten Wissensordnungen und den Diskursen ergeben, Artefaktsysteme können auf eine Weise eigendynamisch (re-)agieren, dass sie sich nicht ohne Weiteres in Praktiken einfügen und in Diskursen repräsentierbar sind, Subjektivierungsprozesse können misslingen oder unintendierte Folgen auf der Ebene körperlicher oder psychischer Reaktionen zeitigen. Die exakte Relation zwischen Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsformen und Artefaktsystemen ist auf der grundbegrifflichen Ebene gerade nicht vorauszusetzen, sondern empirisch offen zu lassen. Schließlich kann auch innerhalb der Praktikenkomplexe, der Diskursformationen, der Subjektivierungsformen und der Praxis-Artefakt-Konstellationen jeweils eine Überlagerung und Kombination unterschiedlicher, heterogener Wissensordnungen stattfinden, die ein Moment der Unruhe in die Kultur transportieren. Das Konzept der Hybridität in einem erweiterten Sinn vermag eine Analyse dieser Kombinations- und Überlagerungskonstellationen anzuleiten.30 So kann sich etwa herausstellen, dass die postmodernen Arbeitspraktiken in der Kreativindustrie sich von einem kulturellen Modell des Unternehmerischen ebenso wie von einem Modell des Kreativen anleiten lassen oder dass die klassische bürgerliche Lebensform Kriterien der Moralität ebenso wie solche der autonomen Selbstregierung anwendet.31 Die Hybridität einer Wissensordnung, ihre Kombination von unterschiedlichen Elementen verschiedener Herkunft (auch häufig verschiedenen historischen Ursprungs) muss eine Praktik oder einen Diskurs nicht zwangsläufig destabilisieren, in gewissem Umfang kann sie sogar im Sinne einer kulturellen Überdetermination stabilisierend wirken. Der analytische Blick der Kultursoziologie wird somit jedoch in jedem Fall von der Voraussetzung homogener Weltbilder und Diskursformationen umgelenkt in die im Detail dechiffrierbare, »unreine«

30 | Vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 31 | Vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 500f., 175ff.

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Kombinationslogik diverser kultureller Elemente in den Praktiken, Diskursen, Subjektivierungen und Praxis-/Artefaktsystemen.32 Abbildung 3

4. M akrokulturelle E ntitäten und ihre D estabilisierungen : F elder , L ebensformen , G ene alogie , H ybridisierung Kultursoziologie ist auf einer ersten Ebene eine mikroorientierte, detailversessene Disziplin, ihr geht es darum, das doing culture im Detail zu verstehen. Daher werden einzelne soziale Praktiken (die Praktik des Brainstorming im Unternehmen, die der buddhistischen Meditation, des Sich-Umarmens zur Begrüßung, des Umgangs mit der Digitalkamera, des höfischen Tanzes etc.) und einzelne Texte, Bilder oder Bildsequenzen, von denen ausgehend sich ganze Diskurse nachvollziehen lassen (einzelne psychologische oder unternehmerische Ratgebertexte, Manierenhandbücher, Egodokumente wie Briefe und Tagebücher, Pressefotografien, Spielfilme und Computeranimationen) zu ihrem Gegenstand. Hier kommt die ganze Bandbreite qualitativer und kulturwissenschaftlicher Methoden zum Einsatz. Einen besonderen Stellenwert erhalten dabei zwei methodische Verfahren: die ethnografische, teilnehmende Beobachtung und die Diskursanalyse im weiteren Sinne. Eine empirische Erforschung sozialer Praktiken und ganzer Praktikenkomplexe erfordert – zumindest solange es sich um in der Gegenwart präsente Praktiken handelt – in erster Linie ein ethnografisches Verfahren teilnehmender Beobachtung.33 Die impliziten Wissensformen, die in den Praktiken zum Einsatz kommen, können zusätzlich indirekt mit Hilfe qualitativer Interviews erschlossen werden. Interviews sind dabei keine »Experteninterviews«, sondern Produktionsorte von 32 | Vgl. ebenso S. Moebius/A. Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. 33 | Vgl. Stefan Hirschauer: »Ethnografisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen«, Zeitschrift für Soziologie 30 (2001), S. 429-451.

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Narrationen und Selbstinterpretationen durch die Teilnehmer, »hinter« denen sich wiederum jene kulturellen Codes, Deutungsmuster und möglicherweise auch alltagsmethodischen scripts rekonstruieren lassen, welche in den Praktiken zum Einsatz kommen. Die teilnehmende Beobachtung kann sich dabei ausdrücklich nicht auf das Nachverfolgen der Verhaltensweisen menschlicher Akteure beschränken, sondern muss auch eine Beschreibung der Gestalt und des »Verhaltens« von relevanten Artefakten einschließen.34 Komplementär zur teilnehmenden Beobachtung verhält sich die Analyse diskursiver Praktiken, die »Diskursanalyse«: eine Analyse einerseits von Texten, andererseits von visuellen Artefakten (Bildern, Filmen etc.) unter dem Aspekt, welche kulturellen Codes diese in einem bestimmten historischen Kontext strukturieren.35 Für die Analyse einzelner Texte und Bilder greift die Diskursanalyse auch auf gängige literatur- und kunstwissenschaftliche Verfahren der Text- und Bilderschließung zurück (z.B. close reading, Ikonografie), das darüber hinausgehende Interesse gilt jedoch immer einem Text- oder Bildkorpus als Ort, in dem sich ein umfassendes historisches Aussagesystem manifestiert. Eine von der Praxistheorie und dem Poststrukturalismus, schließlich auch der Artefaktsoziologie und der Postmoderne-Diskussion beeinflusste Kultursoziologie beschränkt sich jedoch nicht auf die Mikroebene. Ihr Interesse gilt darüber hinaus der makrosoziologischen, gesellschaftstheoretischen Frage nach der historischen Transformation und räumlichen Verbreitung ganzer kultureller Ordnungen. Neben klassischen Autoren, vor allem Max Weber und seiner Religionssoziologie, die sich letztlich als umfassende Historische Soziologie von Mensch-Welt-Verhältnissen herausstellt, sind es im Kontext der neueren Kultursoziologie vor allem Michel Foucault und Pierre Bourdieu, welche die Detailanalyse von Praktiken und diskursiven Ereignissen mit umfassenderen gesellschaftstheoretischen und historisch-soziologischen Ansprüchen verknüpft haben. Das makrosoziologische Interesse der Kultursoziologie gilt daher über die Mikrologik der Praxis und der Texte hinaus ganzen Praktikenkomplexen sowie Praxis-Diskursformationen, ihren gesellschaftlichen Konflikt- und Hegemoniekonstellationen, und schließlich gilt es historischen Transformationen und der räumlichen Verbreitung kultureller Muster. Auch und gerade hier sind die umfassenden kulturellen Ordnungen, die Praktiken, Diskurse, Artefakte und Subjektivierungen zeitlich und räumlich bilden, nicht als stabile, eindeutig strukturierte Gebilde vorauszusetzen, welche sich kurzerhand historisch reproduzieren und räumlich diffundieren, vielmehr richtet sich ein besonderes Interesse auf Prozesse der Destabilisierung von Strukturen und Grenzziehungen. 34 | Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007. 35 | Vgl. R. Keller: Wissenssoziologische Diskursanalyse.

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Praktikenkomplexe und ihre Kopplungen mit Diskursen, mit Subjektivierungen und mit Artefaktsystemen strukturieren die kulturelle und gesellschaftliche Realität in zwei orthogonal zueinander stehenden Dimensionen: in diejenige sozialer Felder und diejenige kultureller Lebensformen.36 Sowohl soziale Felder als auch Lebensformen bilden Komplexe, in denen die vier voneinander unterschiedenen Einheiten, die Praktiken, die Diskurse, die Subjektivierungen und die Artefaktsysteme miteinander verknüpft sind. Das Insgesamt verstreuter Praktiken mit ihren zugehörigen Diskursen, Subjektformen und Artefaktsystemen ist in allen Gesellschaften zunächst in spezialisierten, sachlich zusammengehörigen Komplexen organisiert: beispielsweise Praktiken der Erziehung (einschließlich pädagogischer Subjekte wie Schülern, Lehrern, Eltern etc., Erziehungsartefakten wie Schulbänken, Schlagstöcken, Kinderbüchern etc. und möglicherweise pädagogischen Diskursen), ökonomische Praktiken der Produktion und des Austauschs, solche der Konsumtion, der persönlichen Beziehungen, der staatlich-politischen Administration, der Wissenschaft oder der Kunst. Diese Komplexe können als spezialisierte »soziale Felder« verstanden werden, ohne dass damit strikte und in jedem Fall eindeutige Grenzziehungen zwischen ihnen präjudiziert wären und ohne dass eine Homogenität und reibungslose Aufeinanderabgestimmtheit der Praktiken nach innen vorausgesetzt werden kann. Ein besonderes Interesse kann so auch umgekehrt den dispersed practices gelten, die in unterschiedlichen sozialen Feldern zugleich vorkommen (etwa Praktiken des Aushandelns, der Fremdpsychologisierung, der kreativen Innovation, der Moralisierung), sowie den »Interdiskursen«, die auf Spezialisierung verzichten und an »allgemeinen« Themen ausgerichtet sind (z.B. massenmediale oder künstlerische Repräsentationen).37 Orthogonal zu den spezialisierten sozialen Feldern existieren kulturelle Lebensformen, deren Gestalt und Relation Gegenstand eines komplementären kultursoziologischen Interesses sind. Auch eine Lebensform – etwa die des frühneuzeitlichen Adels, des Bürgertums, der creative class, der Punk-Subkultur – bildet ein Ensemble sozial-kultureller Praktiken, aber sie kombiniert Kulturtechniken unterschiedlicher sozialer Felder miteinander, etwa solche der Arbeit und der persönlichen Beziehungen, der Konsumtion und der Erziehung, der politischen Partizipation und der Freizeit. Kulturelle Lebensformen können gesamtgesellschaftlich in Form von Ständen oder Klassen, von Milieus oder Lebensstilen zuzüglich spezifischer Subkulturen strukturiert sein. Auch Lebensformen produzieren spezifische Subjektformen, auch sie sind mit spe36 | Vgl. dazu genauer A. Reckwitz: Das hybride Subjekt. 37 | Vgl. T. R. Schatzki: Social Practices; Jürgen Link: »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 284-307.

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zifischen Artefaktkomplexen (Wohnungen, Bekleidung, Nahrung, medialen Artefakten etc.) verknüpft, teilweise auch mit lebensformspezifischen Diskursen (etwa korrespondierenden Medienformaten), und auch in ihnen können unterschiedliche kulturelle Codes einander hybride überlagern. Sowohl auf der Ebene sozialer Felder als auch auf jener der Lebensformen gilt das kultursoziologische Interesse nicht nur deren immanenter Zusammensetzung, sondern auch ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander. Eine kultursoziologische Leitfrage lautet daher, inwiefern zwischen den Lebensformen bzw. Feldern ein Verhältnis des kulturellen Konfliktes, d.h. der symbolischen Differenzmarkierung besteht und inwiefern auch Konstellationen einer vorübergehenden kulturellen Hegemonie, d.h. der Dominanz bestimmter kultureller Muster gegenüber anderen beobachtet werden können. In routinisierten oder exzeptionellen Kulturkonflikten können Lebensformen oder Felder einander gegenseitig asymmetrisch repräsentieren oder einander delegitimieren – etwa im Kampf der bürgerlichen gegen die adelige Lebensform, im Kampf der ökonomisch-marktorientierten gegen die staatlich-bürokratische Logik der Praxis. Interessant sind neben solchen Konfliktkonstellationen oder mit ihnen unintendiert verknüpft, Prozesse der Hybridisierung zwischen scheinbar gegensätzlichen kulturellen Mustern (etwa zwischen Markt und Bürokratie oder zwischen Adel und Bürgertum). Schließlich gilt eine besondere kultursoziologische Sensibilität jenen Konstellationen, in denen über die Grenzen zwischen verschiedenen Lebensformen oder Feldern hinweg bestimmte Wissensordnungen hegemonialisiert werden, d.h. durch einen Prozess der kulturellen Universalisierung für alle und alles als vorbildlich und erstrebenswert institutionalisiert werden (z.B. kulturelle Muster der Leistung, der Heterosexualität, der Attraktivität etc.) und sich somit mit besonderen kulturellen Abgrenzungsstrategien nach außen verknüpfen.38 Dabei erweisen sich jedoch kulturelle Hegemonien aufgrund einer Kombination unterschiedlicher, durchaus widersprüchlicher kultureller Muster in ihren Wissensordnungen regelmäßig selbst als langfristig instabil: Die Analyse von Hegemonien ist ein herausgehobener Ort der Rekonstruktion des Ineinanderübergehens von Prozessen der Stabilisierung und Destabilisierung kultureller Ordnungen.39

38 | Vgl. E. Laclau/C. Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. 39 | Vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt.

Die »neue Kultursoziologie« und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse

Abbildung 4

Die kultursoziologische Analyse von Komplexen von Praktiken, Diskursen, Artefakten und Subjektformen auf der Ebene sozialer Felder und Lebensformen enthält sowohl eine zeitliche als auch eine räumliche Dimension. Es ist gerade eine besondere Leistung der Kontingenzperspektive der Kultursoziologie, dass sie nicht dazu tendiert, soziale Muster kurzerhand zu verallgemeinern oder sie als konsequentes Ergebnis einer Entwicklungs- und Diffusionslogik vorauszusetzen – wozu die soziologischen Modernisierungstheorien tendieren –, sondern sie radikal kontextualisiert: als ein Produkt spezifischer zeitlicher und räumlicher Kontexte. Die Kultursoziologie betreibt damit eine resolute Historisierung und Lokalisierung ihrer Phänomene, wobei potentiell die gesamte historische Transformation von den Stammesgesellschaften bis zur Postmoderne wie auch die gesamte globale Konstellation als ihr Gegenstand infrage kommt (auch wenn realiter bis vor kurzem zu großen Teilen eine Einschränkung auf westliche kulturelle Muster und solche der Moderne stattgefunden hat). Die Leitfragen der Analyse eines sozialen Phänomens in einer derart historisch und lokal sensibilisierten Kultursoziologie sind daher immer: In welchem präzisen historischen und lokalen Kontext ist dieses Phänomen (Praktik, Diskurs, Subjektivierung, Artefakt) entstanden? Welcher Prozess der zeitlichen und/ oder räumlichen Verbreitung des Phänomens lässt sich ausmachen? Klassischerweise konnte die Kultursoziologie sich in ihrem kontextualisierenden Blick üben, indem sie anstelle einer Universalisierung von Sachverhalten zeitliche und räumliche Grenzen markierte: in der Dimension der Geschichte die kulturellen Diskontinuitäten, etwa jene zwischen klassischer Moderne und Postmoderne oder zwischen Früher Neuzeit und bürgerlichem Zeitalter; und in der Dimension des Raums die Grenzen zwischen unterschiedlichen regionalen Kulturformen (etwa in Max Webers Religionssoziologie oder in Eisenstadts »multiple modernities«). Solche Grenzmarkierungen

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können letztlich jedoch nur behelfsweise erfolgen. Vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen Argumentationen, welche die Gegebenheit fixer Grenzziehungen in Zweifel zieht, lassen sich diese zeitlichen und räumlichen Konstellationen vielmehr entlang zweier alternativer heuristischer Konzepte beobachten: denen einer generalisierten »Genealogie« und einer generalisierten »Hybridisierung«. Beide Begriffe sind sowohl auf Prozesse in der Zeit wie im Raum anwendbar. Das Konzept der Genealogie, wie es Foucault profiliert hat, leitet die antiuniversalistische Frage an, in welchen sehr spezifischen zeitlichen und lokalen Kontexten bestimmte kulturelle Muster (Praktiken, Diskurse, Artefaktsysteme, Subjektformen) entstehen, die später zu einer Selbstuniversalisierung neigen – Kontexte, die sich regelmäßig als Konflikt- und Kampfkonstellationen zwischen unterschiedlichen kulturellen Kräften darstellen.40 Der Kultursoziologie geht es darum, diesen sehr spezifischen historischen und lokalen Kontexten, den Nischen und Konfliktfeldern der Produktion neuartiger Praktiken und Diskurse nachzuspüren: Wann und wo entstehen beispielsweise Maßstäbe der Effizienz und der Leistung, das »Brainstorming« und die »Selbstverwirklichung«? Die Heuristiken der Genealogie und der Hegemonie stellen sich damit als komplementär dar: Die Genealogie fragt nach den Konstellationen der – häufig umstrittenen und zunächst marginalen – Entstehung von Praktiken, Diskursen und ihren Wissensformen; der Begriff der Hegemonie fragt nach den Mechanismen, in denen sich entsprechende Muster verbreiten und institutionalisieren, sie (vorübergehend) dominant werden. Auch das heuristische Konzept der Hybridisierung lässt sich sowohl auf die zeitliche wie auf die räumliche Dimension beziehen. Es dynamisiert den Begriff der Hybridität. Die Leitintuition der poststrukturalistisch inspirierten Kulturanalyse besteht darin, dass die Verbreitung kultureller Muster im Raum nur im Grenzfall dem Modell einer einfachen Diffusion oder eines Aufeinandertreffens inkompatibler Kulturkreise folgt. Der kulturanalytische Blick richtet sich vielmehr auf die komplexen räumlichen Hybridisierungen, d.h. die Produktion von Hybriditäten infolge einer Kombination verschiedener kultureller Elemente unterschiedlicher räumlicher Herkunft (zum Beispiel die Ausbildung des Bollywood-Kinos zwischen indischen und US-amerikanischen Einflüssen). Wenn Praktiken und Diskurse hybride strukturiert sind, dann auf einer ersten Ebene dadurch, dass sich in ihnen kulturelle Elemente unterschiedlicher räumlicher Herkunft kreuzen.41 Das Interesse gilt dann in Anlehnung an Arjun Appadurai nicht nur den konstituierten Hybridkulturen, 40 | Vgl. Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1987, S. 69-90. 41 | Vgl. Jan Nederveen Pieterse: »Globalization as Hybridization«, in: Michael Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hg.), Global Modernities, London 1995, S. 45-68.

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sondern auch den jeweiligen »Strömen« ( flows), d.h. den unterschiedlichen »Transportmitteln« (Zeichen, Menschen, Objekte) dieser kulturellen Einflüsse, und den Überlagerungsräumen (scapes), in denen die Hybridisierung aktiv und unberechenbar stattfindet.42 Die post-colonial studies haben solche Analysen von Hybridisierungen vorangebracht, letztere reichen jedoch weit über die klassischen empirischen Fälle der post-colonial studies – vor allem die Überlappung der Einflüsse alter oder neuer »Kolonisatoren« und »indigener« Kulturen – hinaus. Hybridisierungen finden jedoch nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit statt. Die historische Transformation kultureller Ordnungen ist weder als Kontinuität noch als reine Abfolge von Diskontinuitäten mit fixen Grenzen vorauszusetzen, sondern kann als eine Sequenz von Hybridisierungen dechiffriert werden. Die Frage lautet dann, wie sich eine aktuelle Hybridität kultureller Ordnungen infolge einer Aneignung kultureller Elemente unterschiedlicher Vergangenheiten zurückverfolgen lässt. Gegenwärtige Praktiken und Diskurse können dann als Gebilde dechiffriert werden, in denen sich mehrere »Ablagerungen« unterschiedlicher historischer Herkunft übereinander schichten. So kann sich etwa herausstellen, dass sich im postmodernen Diskurs der Maskulinität Spuren des US-amerikanischen Diskurses des tough guy aus der Zeit um 1900 ebenso wie Elemente des Modells emotionaler Männlichkeit des frühen Bürgertums finden.43 Kulturelle Ordnungen lassen sich dann regelmäßig als ein komplexer Raum historischer »Intertextualitäten« rekonstruieren, d.h. als ein Verweisungszusammenhang, der Elemente von Wissensordnungen verschiedener Zeiten auf unberechenbare Weise miteinander kombiniert.44

42 | Vgl. Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986. 43 | Vgl. Andreas Reckwitz: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 177ff. 44 | Vgl. zu diesem Konzept Tais E. Morgan: »Is there an Intertext in this Text? Literary and Interdisciplinary Approaches to Intertextuality«, in: American Journal of Semiotics (3) 1985, S. 1- 40.

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Abbildung 5

Eine zeitgemäße Kulturanalyse kann so mit Hilfe ihrer Konzepte der Genealogie und der räumlichen wie zeitlichen Hybridisierung eine Makro-Perspektive auf kulturelle Ordnungen entwickeln, die eine Alternative zu den Vorannahmen klassischer soziologischer Modernisierungstheorien stark macht.45 Sie wirkt einerseits im Sinne der Genealogie entuniversalisierend, andererseits lenkt sie den Blick auf die räumliche und zeitliche Produktion »unreiner« kultureller Gebilde, die statt homogener Kulturen komplexe Kombinationsund Überlagerungsstrukturen bilden. Generell kann es einer solchen, sowohl durch die Praxeologie als auch durch den Poststrukturalismus und – mit ihnen verbunden – die Artefakttheorie und die Postmoderne-Diskussion beeinflussten Kultursoziologie nicht darum gehen, eine in sich abgeschlossene und darin sterile »Theorie der Kultur« zu installieren. Vielmehr zielt sie darauf ab, im Sinne einer konzeptuellen Heuristik Fragen für die Analyse vielfältigster sozialer Phänomene als kulturelle Gebilde zu eröffnen. Diese kommen zum einen in erster Linie nicht als ideelle Sinnwelten in den Blick, sondern als materiale Prozesse des doing culture im Rahmen von sozialen Praktiken, Diskursformationen, Subjektivierungsweisen und der Anwendung von Artefaktsystemen. Zum anderen werden sie als Gebilde beobachtet, die einer kulturellen Logik nicht nur der Stabilisierung, sondern auch der Destabilisierung, nicht nur der Grenzmarkierung, sondern auch der Grenzüberschreitung, nicht nur der Homogenisierung, sondern auch der Hybridisierung folgen. Der Fluchtpunkt einer solchen kultursoziologischen Analytik lautet, an dem umfassenden Projekt mitzuschreiben, das Foucault die ›Geschichte der Gegenwart‹ genannt hat.

45 | Vgl. Thorsten Bonacker/Andreas Reckwitz (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York 2007.

Praktiken und Diskurse Zur Logik von Praxis-/Diskursformationen

Im Feld der kulturtheoretischen Analyseansätze der Gegenwart – ob in der Soziologie, Kulturanthropologie, Geschichtswissenschaft oder Literaturwissenschaft – stehen sich als Antworten auf die Frage, was die letzte, erste oder kleinste Einheit der Analyse ausmacht, zwei scheinbar gegensätzliche Optionen gegenüber: die Option der »Praktiken« und die der »Diskurse«. In einer oberflächlichen Betrachtungsweise scheinen diese beiden Leitkonzepte mit den zwei für die Kulturtheorie der Gegenwart wirkungsmächtigsten Autoren verknüpft zu sein: mit Pierre Bourdieu und seiner »Theorie der Praxis« einerseits, mit Michel Foucault und seiner archäologischen Diskursanalyse andererseits. Letztlich gehen die Differenzen jedoch über den vermeintlichen Gegensatz zwischen diesen beiden Autoren hinaus. Es handelt sich hier eher um zwei Felder unterschiedlicher Analysestrategien: Das praxeologische Feld umfasst neben Arbeiten im Anschluss an Bourdieu auch solche aus dem Umkreis der Ethnomethodologie, einer an den späten Wittgenstein anschließenden Sozialwissenschaft und verwirrenderweise selbst solche die an Foucault, namentlich an dessen späte Arbeiten der Techniken des Regierens und des Selbst anknüpfen, am Ende auch manche der neuen Medien- und Artefakttheorien.1 Überall sind es hier – anstelle von Ideen- und Zeichensystemen – soziale Prak1 | Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis (auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft), Frankfurt a.M. 1979; ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987; Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984; Luc Boltanski/Laurent Thévenot: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg 2007; Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996; Michel Foucault: Die Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomiserung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 41-67; Theodore R. Schatzki et.al. (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001.

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tiken in ihrer materialen Verankerung in Körpern und Artefakten sowie ihrer Abhängigkeit von implizitem Wissen, die als kleinste Einheit der sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse vorausgesetzt werden.2 Auf der anderen Seite umfasst das Feld diskurstheoretischer und diskursanalytischer Ansätze nicht nur das interdisziplinär wirkungsmächtige Programm der Diskurstheorie Foucaults, das die sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Rekonstruktion von Aussagesystemen festlegt; im weiteren Umfeld einer auf die Produktionsregeln und Repräsentationsformen von Texten ausgerichteten Kulturanalyse kann man auch die am Leitbegriff der Kommunikation als autopoietischem Prozess geschulte Systemtheorie Luhmanns und die Semiotik als Analyse kultureller Zeichensysteme situieren.3 Das Spannungsverhältnis zwischen einer Theorie der Praktiken und einer Theorie der Diskurse als zwei unterschiedliche kulturtheoretische Fundierungsvokabulare ist kein exklusives Problem der Soziologie, sondern der Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt, soweit man sie als Ensemble sinnrekonstruierender Disziplinen versteht. So erweist sich eine Auseinandersetzung zwischen praxis- und diskurstheoretischen Ansätzen auch für die Geschichtswissenschaft als prägend: Hier steht die »Diskursgeschichte« in der Nachfolge Foucaults einer Alltags- oder Mikrogeschichte, aber auch einer vor allem an Bourdieu orientierten neuen praxistheoretischen Geschichtswissenschaft gegenüber.4 Analoge Differenzen treten in der Kulturanthropologie und der Literaturwissenschaft auf. Dabei neigt die Kulturanthropologie eher zu praxeologischen Ansätzen, die sich als theoretisches Komplement zur Methode ethnografischer Beobachtung eignen; ihnen stehen semiotische Tendenzen etwa in Geertz’ culture as text-Programm entgegen.5 Die neue, kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft tendiert hingegen eher zu diskursanalytischen Ansätzen, die sich bis zu Greenblatts New Historicism und ihrer Thematisierung von Text und Kontext weiterentwickeln lassen;6 die Gegenbewegung hierzu liefern in gewisser Weise die Medientheorien, indem sie in einem im weitesten Sinne praxeologischen Gestus gegen die Verabsolutierung der Aus2 | Vgl. auch Andreas Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301. 3 | Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984; Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1990; Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964. 4 | Vgl. Gabrielle Spiegel (Hg.): Practicing History. New Directions in Historical Writing after the Linguistic Turn, New York/London 2005. 5 | Vgl. Clifford Geertz: »Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture«, in: ders., The Interpretation of Cultures. Selected Essays, London 1993, S. 3-30. 6 | Vgl. Stephen Greenblatt/Giles Gunn (Hg.): Redrawing the Boundaries. The Transformation of English and American Literary Studies, New York 1992.

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sagesysteme deren materiale Verankerung in technischen Artefakten in den Blick nehmen.7 Die Differenz zwischen Praktiken und Diskursen als zwei Ausgangspunkte sozial- und kulturwissenschaftlicher Analyse ist nun jedoch nicht allein auf der Ebene der Sozialtheorie, verstanden als einer Ebene allgemeiner Vokabulare des Sozialen und Kulturellen, von Bedeutung. Sie betrifft auch und vor allem die Ebene der Methodologie. Es handelt sich zwar einerseits um eine sozialtheoretische Differenz zwischen verschiedenen Theoriesprachen, die Praktiken oder aber Diskursen ein quasi-ontologisches Primat zuschreiben. Es steht aber auch und gerade eine methodologische Differenz auf dem Spiel: Die praxeologische Analyse verlangt nach anderen Methoden als die Diskurstheorie (die möglicherweise sogar ihre eigene Methode ist), die Frage nach der methodischen Zugänglichkeit des Gegenstandes stellt sich jeweils in unterschiedlicher Weise. Auch differiert das voneinander, was man den »methodischen Habitus« des praxeologischen Feldforschers und des archäologischen Textanalytikers nennen könnte. Die Frage, um die es mir im Folgenden geht, lautet, ob es sich bei den praxis- und den diskursbezogenen Analyseformen wirklich um zwei inkommensurable Alternativen handelt oder ob es nicht möglich ist, die beiden quasi als zwei Seiten des gleichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyseprojekts wahrzunehmen (ohne einen – immer unbefriedigenden – »Mittelweg« zu wählen). Mittlerweile wird zunehmend deutlich, dass ein Gegeneinanderausspielen praxeologischer und diskursanalytischer Ansätze sich für die Forschungspraxis als wenig fruchtbar erweist.8 Die Frage bleibt, wie diese Opposition entstehen konnte und wie sie möglicherweise in einer umfassenden Analytik produktiv bearbeitet werden kann. Ich will dabei in drei Schritten vorgehen: Zunächst geht es um die Argumentationsgrundlagen der Praxeologie und der Diskurstheorie verstanden als Sozialtheorien, die jede für sich einen Fundierungsanspruch des Sozialen und Kulturellen erheben. Inwiefern können Praxeologen behaupten, dass Praktiken grundlegender sind als Diskurse und Diskurstheoretiker, dass Diskurse grundlegender sind als Praktiken? In einem zweiten Schritt geht es darum, die methodologische Differenz zwischen beiden Ansätzen herauszuarbeiten. Dieser Blick auf die methodische Relevanz entdramatisiert die theoretische Inkommensurabilität der beiden Perspektiven: es stellen sich gegenseitige Interferenzen der beiden approaches in der Forschungspraxis heraus. Der dritte Schritt besteht darin, für die gesellschaftstheoretisch informierte Sozial- und Kulturwissenschaft ein heuristisches Konzept von »Praxis-/Diskursformationen« zu skizzieren, in dem die Brüche 7 | Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995. 8 | Vgl. auch Rainer Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der Bourdieuschen Distinktionstheorie, Opladen 2002.

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und Differenzen nicht primär zwischen Praktiken einerseits, Diskursen andererseits ausgemacht werden, sondern zwischen unterschiedlichen bzw. innerhalb von Praxis-/Diskursformationen und deren Wissensordnungen.

P r ak tiken oder D iskurse – eine theore tische A lternative ? Mit welchen Argumenten erheben praxeologische und diskurstheoretische Ansätze ihren jeweiligen theoretischen Fundierungsanspruch? Wie beobachten sie sich gegenseitig? Es ist gar nicht unbedingt so, dass durchgehend eine direkte Auseinandersetzung zwischen beiden Perspektiven stattfände. Eine solche lässt sich eher unterschwellig ausmachen. Man kann jedoch zumindest implizit folgende gegenläufige Argumente auf beiden Seiten ausmachen, mit denen die jeweilige Seite versucht, ihren Fundierungsanspruch zu begründen: Die praxeologische Perspektive entwickelt ein Materialitätsargument und ein Argument der Implizitheit des Sinns; die diskurstheoretische Perspektive ein Signifikationsargument, daneben aber auch ein modernisierungstheoretisches Argument des technisch-institutionellen Primats der Diskurse in der Sinnproduktion der Moderne. Wenn man sich jene Autoren vornimmt, die den practice turn proklamieren und soziale Praktiken als die kleinste Einheit des Sozialen begreifen, dann wird diese Fundierungsleistung der Praktiken – im Verhältnis zum Handeln, aber auch zu den Diskursen, den Zeichen und der Kommunikation – in der Regel in der Kombination zweier Argumente begründet.9 Das erste ist das Implizitheitsargument: Das Soziale und Kulturelle – so die Praxeologen – existiert primär und in letzter Instanz im impliziten Wissen und impliziten Sinn, ein Argument, das theoriehistorisch durch Wittgenstein ebenso wie durch Husserl vorbereitet ist. Dem expliziten und damit auch dem sprachlich geäußerten, dem diskursivierten Sinn kommt dann im Verhältnis zum impliziten Sinn eine abgeleitete Bedeutung zu. Die praxeologische Perspektive analysiert soziale Praktiken als solche Medien des tacit knowledge, eines Wissens, das kaum je verbalisiert wird und damit in Diskursen auffindbar oder anhand von ausdrücklichen Zeichen ablesbar wäre.10 In dieser Perspektive kommen Diskurse gewissermaßen immer schon zu spät, sie setzen auf einem Reich des Impliziten an und auf. Das zweite, damit häufig verknüpfte praxeologische Argument ist jenes der »Materialität« der Praktiken. Soziale Praktiken lassen sich deshalb als »grundlegend« interpretieren, da sie von vornherein material verankert sind: primär in den Körpern (ein Aspekt, der bei Bourdieu oder 9 | Vgl. auch A. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 282-301. 10 | Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt a.M. 1985.

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Goffman hervorgehoben wird), sekundär auch in den Artefakten. Praktiken sind sinnhaft regulierte Körperbewegungen, die von einem entsprechenden impliziten, inkorporierten Wissen abhängen. Schließlich sind sie regelmäßig Verhaltensroutinen im Umgang mit Artefakten, wobei man die Artefakte – in welcher Weise auch immer – ebenfalls als Träger der Praktiken interpretieren kann. Diskurse hingegen erscheinen in dieser Perspektive als ein intellektueller Überbau von Aussagen, die gewissermaßen auf der Materialität des verkörperten und material verankerten Wissen »aufsitzen«, sich parasitär von ihnen nähren. In der Kombination des Implizitheits- und des Materialitätsarguments scheint sich aus praxeologischer Sicht der Fundierungscharakter von Praktiken als kleinste Einheit der kultur- und sozialwissenschaftlichen Analyse zu begründen. Das diskurstheoretische Lager setzt hier anders an. Möglicherweise ist Foucaults Diskurstheorie durchaus eher methodologisch als sozialtheoretisch zu verstehen (schon früh unterscheidet er schließlich diskursive und nicht-diskursive Praktiken), aber man kann das diskurstheoretische Argument auch kommunikationstheoretisch bzw. zeichentheoretisch so zuspitzen, dass der Fundierungsanspruch deutlich wird. Hier spielt einerseits das Signifikationsargument, andererseits das Argument des Primats des Diskurses in der modernen Sinnproduktion eine Rolle. Das, was ich hier Signifikationsargument nennen möchte, erscheint in ganz unterschiedlichen Versionen, aber zusammenfassend lässt es sich als die These verstehen, dass das Soziale/Kulturelle dort vorkommt, wo Handlungen und Dinge etwas für andere bedeuten. Diese Art und Weise, wie Handlungen und Dinge etwas für andere bedeuten, wird durch kollektive Signifikationsregime reguliert, durch Codes, Formationsregeln, Differenzensysteme etc. In diesem Sinne sind Diskurse – und man muss hier nicht nur an sprachliche oder schriftliche Diskurse denken, sondern auch an visuelle Diskurse, an die Diskurse non-verbaler Kommunikation, der Architektur etc. – Systeme, die regulieren, welche Bedeutungen im jeweiligen Kontext als intelligibel erscheinen. Das Soziale ist damit aus dieser Perspektive Diskurs: Diskurse sind Signifikationsregime, die jegliche Form menschlichen Handelns als sinnhaftes Handeln fundieren. Diskurse sind jene kulturellen »Sprachen«, die eine intelligible Sozialwelt in ihrer Produktion, Reproduktion und Identifikation erst möglich machen. Praktiken erscheinen dann »immer schon« als diskursiv imprägniert, wenn sie von sozialer Relevanz sein wollen. Das zweite diskurstheoretische Argument ist etwas anders gelagert und tritt bescheidener auf: Dieses – und ich würde es Foucault eher zuschreiben, auch wenn es dort nie geäußert wird – unterscheidet durchaus diskursive von nicht-diskursiven Praktiken, damit die »Rede« vom »Tun« außerhalb der Rede. Aber zumindest unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft – d.h. auch den Bedingungen der Schriftlichkeit und des Buchdrucks sowie einer Spezialisierung des Wissens – sind es die Diskurse – eben jene humanwissenschaft-

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lichen, politischen, ökonomischen etc. Diskursformationen, die Foucault und die Foucault-Schule interessieren –, welche neue, dominante kulturelle Codes erfinden und instituieren. Unter modernen Verhältnissen sind die Diskurse primäre Sinngeneratoren für Ordnungen des Denkbaren und Sagbaren – sie prädeterminieren damit, was auch in sogenannten nicht-diskursiven Praktiken über kurz oder lang praktikabel und was nicht praktikabel wird. Humanwissenschaftliche Diskurse etwa bilden keine selbstgenügsamen Aussagesysteme, sondern ihre Codes werden tatsächlich auch außerhalb ihrer selbst angewandt, sie präfigurieren ein ganzes Feld möglichen Handelns und Denkens. Insofern kommt den Diskursen in diesem Verständnis gesellschaftstheoretisch für die Moderne eine Fundierungsfunktion zu: Nicht in allen Gesellschaftsformen besitzen Diskurse die gleiche Relevanz, in der modernen, sowohl im Zuge der Wissensspezialisierung als auch der technischen Reproduizierbarkeit von Schrift (und Bild) radikal diskursivierten, Gesellschaft erhalten die Diskurse jedoch die Rolle außerordentlich einflussreicher Produzenten von Wissensordnungen. Die praxeologischen und die diskurstheoretischen Versuche, jeweils Praktiken bzw. Diskurse als die eigentliche Grundlage des Sozialen/Kulturellen zu präsentieren, stehen einander als anscheinend inkommensurabel gegenüber. In beiden Vokabularen kommt der Leitbegriff des jeweils anderen als Phänomen vor, dem jedoch eine sekundäre Rolle zugeschrieben wird: Aus praxeologischer Sicht sind Diskurse selbst nichts anderes als Praktiken, d.h. wiederum bestimmte – häufig artefaktgestützte – Aktivitäten der Produktion und Rezeption von Äußerungen, die von einem impliziten Wissen der Hervorbringung und Rezeption getragen werden. Aus diskurs- und kommunikationstheoretischer Sicht bilden – jedenfalls in den radikalsten Versionen – sogenannte nicht-diskursive Praktiken selbst letztlich Diskurse (zum Beispiel die Rituale des Essens oder das körperliche Verhalten von Geschlechtern als ein Kommunikationssystem), wenn sie nicht sozial irrelevant sein wollen. Dabei sollte theoriehistorisch nicht übersehen werden, dass beide Fraktionen letztlich versuchen, etwas theoretisch in bestimmten Perspektiven Marginalisiertes, Sekundäres zu rehabilitieren und schließlich als das Primäre zu präsentieren, gewissermaßen eine theoretische Strategie der Umdeutung, des Umkippens eines supplément zu betreiben. Aus praxeologischer Sicht ist es so, dass das Primat der sozialen Praktiken aufgrund des »scholastischen«, d.h. intellektualistischen Habitus – so die Begrifflichkeit Bourdieus, die hier der sozialphänomenologischen Kritik durchaus ähnelt –, lange Zeit verdeckt worden ist: Die theoretizistische, rationalistische Annahme einer scheinbaren Nachrangigkeit des Impliziten und Körperlichen habe die praxeologische Perspektive verhindert. Die Praxistheorien rehabilitieren ihrem eigenen Selbstverständnis nach das in einer charakteristisch neuzeitlichen »rationalistischen« Sichtweise Vernachlässigte, das Primäre, das ins Sekundäre abgeschoben wur-

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de: das implizite Wissen und die kulturelle Materialität der Körper und Artefakte. Aus diskurstheoretischer Sicht ist es wiederum die Marginalisierung der Diskurse als bloßes Reden über die Dinge, als ein Überbau von Aussagen, dem das scheinbar harte Handeln gegenüber steht, welche die Einsicht in die Fundierungsfunktion des Diskursiven verhindert habe. Die Diskurstheorien wenden sich gegen verschiedene Versionen von Basis-Überbau-Theorien, welche Sprachlichkeit, Kommunikation und Wissen in den Überbau eines Sozialen abschoben, das aus dem vorgeblich härteren Material sozialer Strukturen zu bestehen schien. Die Dekonstruktion dieser Basis-Überbau-Unterscheidung erscheint als zentrales diskurstheoretisches Ziel. Auf diese Weise wird deutlich, warum sich Praxeologie und Diskurstheorie in ihrem theoretischen Anspruch zunächst als konträr wahrnehmen müssen: Aus praxeologischer Sicht stehen die Diskurstheoretiker unter dem Verdacht, den Intellektualismus zu stützen, aus diskurstheoretischer Perspektive scheinen die Praxeologen latent einer Basis-Überbau-Unterscheidung nachzuhängen.

D ie I nterferenz der M e thoden : P r ak tikenanalyse und D iskursanalyse Gibt es einen Ausweg aus dem Dualismus von Praxeologie und Diskurstheorie? Kann man die Differenz produktiv machen? Es scheint mir sinnvoll, die Differenz in einem zweiten Schritt auf eine andere Ebene zu transponieren: anstelle der sozialtheoretischen die methodologische. Tatsächlich sind in beiden Analysestrategien Sozialtheorie und Methodologie von vornherein eng miteinander verknüpft, so dass es auf einen Theoretizismus hinausliefe, auf der rein begrifflichen Ebene der Differenz zwischen Sozialontologien zu verbleiben. Diskursanalyse und Praktikenanalyse sind forschungspragmatische approaches, Such- und Findestrategien, Rekonstruktionsformen und Herangehensweisen im Umgang mit empirischem Material. Es geht hier nicht allein um eine theoretische, grundbegriffliche Differenz, auch die Umgangsweise mit dem jeweiligen Gegenstand, der Prozess der Datenerhebung und der Datenauswertung, schließlich auch der »Forschungshabitus« unterscheiden sich zwischen Praktiken- und Diskursanalyse, selbst wenn beide im weiteren Sinne sinnrekonstruktive, »qualitative« Forschung betreiben – die Forschungspraxis allerdings treibt Überschneidungen zwischen beiden Forschungsstrategien hervor, welche diese strikten Differenzen aufweichen. Das, was die empirische Sozialforschung den Prozess der »Datenerhebung« nennt, unterscheidet sich zwischen Praxeologen und Diskursanalytikern aufgrund der Unterschiede in der Zugänglichkeit des Gegenstandes. Soziale Praktiken im praxeologischen Sinne – seien diese intersubjektiv, interobjektiv oder selbstreferentiell – kommen nie unmittelbar zugänglich vor. Dies gilt für ver-

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gangene und gegenwärtige Praktiken noch einmal in unterschiedlicher Weise. Gegenwärtige soziale Praktiken – vom Geschlechterverhalten bis zu den Organisationsroutinen – sind zur einen, der materialen Seite der Wahrnehmung verblüffend »direkt« zugänglich, durch visuelle und auditive Perzeption von Seiten des Forschers in außergewöhnlicher »Unmittelbarkeit« erreichbar, in ihrer Körperlichkeit und Artefaktabhängigkeit »präsent«, anwesend (eine Unmittelbarkeit, die natürlich nur scheinbar ist, hängt die Wahrnehmung doch auch von entsprechenden Schemata und Techniken ab). Allerdings ist die zweite und letztlich für eine sinnrekonstruktive Analyse irreduzible Seite der Praktiken, nämlich das dort enthaltene, inkorporierte Wissen, per definitionem nicht über Wahrnehmung oder das Verstehen von Äußerungen zugänglich – sonst wäre es schließlich nicht implizit. Das implizite Wissen muss zwangsläufig indirekt erschlossen werden, d.h. aus expliziten Äußerungen müssen die impliziten Schemata rückgeschlossen werden. Aus methodischer Hinsicht kompliziert werden Praktiken somit durch ihre Doppelstruktur als materiale Körperbewegungen und als implizite Sinnstruktur, als Kombination einer Präsenz der Körper und Dinge, die der Beobachtung zugänglich sind, und einer Abwesenheit des impliziten Wissens, dessen indirekte Erschließung immer unvollständig bleiben muss. Damit ergibt sich für die Praktikenanalyse in der Soziologie und Ethnologie methodisch ein Primat der teilnehmenden Beobachtung und sekundär eine Relevanz von qualitativen Interviews. Die quasi-ethnographische teilnehmende Beobachtung – die von Beobachtungsprotokollen und einer Aufzeichnung von Handlungs- und Gesprächssequenzen etwa in Film oder Tonband begleitet sein kann – ist gewissermaßen die »natürliche«, ihr korrespondierende Methode der Praxeologie. Sie ermöglicht es, die Regelmäßigkeit von Körperbewegungen (einschließlich des Artefaktanteils) festzustellen. Die Forschungspraxis der Praxeologie ist eine im emphatischen Sinne perzeptive, eine Praxis der Wahrnehmung, primär der visuellen, sekundär der auditiven Wahrnehmung. Die Erschließung des Gegenstandes erfolgt primär über das Auge und erfasst damit auch »stumme« Praktiken, die ohne Worte auskommen. Daneben kann die Registrierung der natürlichen, d.h. nicht künstlich (qua Interview) hervorgerufenen, Redeanteile in den Praktiken es ermöglichen, zumindest indirekt auf das implizite Wissen der Teilnehmer rückzuschließen. Dieses Zugänglichkeitsproblem des Impliziten lässt sich in der Praktikenanalyse nur behandeln, nicht aber lösen: der Forscher ist immer auf einen »Rückschluss« vom Expliziten aufs Implizite angewiesen. In diesem Zusammenhang kann auch die Methode des qualitativen Interviews als ein der Praxeologie angemessenes Verfahren von Bedeutung werden. Im Prinzip steht der Praxeologe ihm mit einem gewissen Misstrauen gegenüber: Interviews »über« die Praktiken und ihr Wissen sind eben nicht die Praktiken selbst. Aber die geäußerte Rede im Rahmen von Interviews kann ein Mittel liefern, um indirekt jene Wissensschemata zu

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erschließen, welche die Praktiken konstituieren (vor allem im Falle von Praktiken, die selbst wenig natürliche Rede enthalten). Der Lackmustest für die auf diese Weise vermuteten impliziten Wissensschemata besteht darin, dass sie zu dem materialen, beobachteten Anteil der Praktiken »passen« müssen. Wenn sich damit für gegenwärtige Praktiken die eigentümliche Konstellation einer Beobachtbarkeit der Körperbewegungen einerseits, dem Zugänglichkeitsproblem gegenüber dem abwesenden Wissen andererseits ergibt, dann verkompliziert sich das Zugänglichkeitsproblem für historisch vergangene Praktiken: Die Materialität der Körperbewegungen ist hier bereits verschwunden, die Beobachtung kommt zu spät. Wenn man präzise sein will, müsste man dabei den Beobachtungsstatus zweier historischer Phasen und Konstellationen voneinander unterscheiden: jene mit und jene ohne audiovisuelle Aufzeichnungstechnologien von Bewegungen. In jener mit Aufzeichnungstechnologien (vor allem der Fotografie und des Films) – und das heißt im Wesentlichen das 20. Jahrhundert – ist auf diese Weise eine Art medial vermittelte Beobachtung möglich – allerdings nur jener Segmente, die tatsächlich aufgezeichnet wurden, beispielsweise in industriellen Bewegungsstudien, Dokumentar- und Spielfilmen, Privatfotografien und -filmen etc. Für alle anderen Segmente und vollständig für die Zeit vor ungefähr 1900 (oder wenn man die frühe Fotografie miteinbezieht vor etwa 1840) gilt, dass keine Beobachtung von Praktiken, auch ihres Anteils der Körperbewegungen mehr möglich ist. Ähnliches gilt für die praxeologische Hilfsmethode der qualitativen Interviews: diese ist höchstens im Falle von noch lebenden Zeitzeugen in Form einer oral history möglich (d.h. gegenwärtig für den Zeitraum ab ungefähr 1930). Wenn man davon ausgeht, dass bereits rein quantitativ der größte Teil der Praktikenmuster historisch und vergangenen ist, müssen im Rahmen einer Praktikenanalyse andere Methoden zum Einsatz kommen als teilnehmende Beobachtung und Interview. Hier sind vor allem drei Dokumenttypen und ihre Analyse von Relevanz: zum einen zeitgenössische schriftliche Praktikenbeschreibungen (wobei zu berücksichtigen ist, dass diese nicht selten einen normativen Charakter haben), zum Beispiel religiöse Manuale, Beschreibungen der höfischen Gesellschaft durch ihre Teilnehmer etc. Zum zweiten kommt Egodokumenten – zum Beispiel Briefen, Tagebüchern – eine wichtige Bedeutung zu: Egodokumente beschreiben nicht nur aus subjektiver Sicht die »äußere« Seite der Praktiken, in ihnen kann möglicherweise auch auf das implizite Wissen der Teilnehmer, das in diese Praktiken eingelassen ist, rückgeschlossen werden. Der dritte Typus relevanter Dokumente sind Artefakte verschiedenster Art: das was Aleida Assmann »Kultur als Monument« (im Unterschied zur »Lebenswelt«) nennt.11 Neben dem verhältnismäßig nahe lie11 | Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt a.M. 1991.

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genden Fall visueller Dokumente vergangener Praktiken – etwa in Gemälden – ist hier beispielsweise an Architektur und Städtebau zu denken: Die überlieferte Materialität der Dinge kann zwar wiederum nicht aussagen, in welchen Praktiken sie gehandhabt wurden, aber wiederum kann dies unter Zuhilfenahme der anderen Dokumentsorte möglich sein. Die Analyse sozialer Praktiken stellt sich damit gerade aufgrund des Problems der Geschichtlichkeit der Praktiken als methodologisch von hoher Komplexität heraus. Die Methodologie, die der Diskurstheorie entspricht, ist eine andere. Sie ist von vornherein stärker auf historisches Material, auf die Realität vergangener Diskurse ausgerichtet. Wenn der Forscherhabitus des Praxeologen letztlich der des Kulturanthropologen ist, dann ist der der Diskursanalytikerin der einer Geisteswissenschaftlerin als Textinterpretin (auch wenn die »Interpretation« durch stärker strukturalistisch informierte Perspektiven auf Texte abgelöst worden ist). Die Besonderheit der diskurstheoretischen Perspektive besteht auf methodologischer Ebene darin, dass das Problem der »Datenerhebung« extrem minimiert wird, so dass Datenerhebung und Datenauswertung nahezu zusammenfallen. Während der Praxeologe Mühe aufwenden muss, um seine »Daten« zu erreichen – er muss »ins Feld eintreten« (was nicht selten mit praktischen Hindernissen verbunden ist) oder aber er muss nach Dokumenten fahnden, die einen indirekten Schluss auf Praktiken zulassen –, scheinen der Diskurstheoretikerin die Daten mühelos vorzuliegen. Die »Daten« der Texte und Zeichensequenzen – dies schließt auch nicht-schriftliche Texte, etwa visuelle Repräsentationen ein –, aus denen die Diskursanalytikerin ihre Codes herausdestilliert, müssen nicht erst erhoben werden, sie sind bereits »vorhanden«, auf ihre Weise »anwesend«: in den Archiven und Bibliotheken, in den Massenmedien, in den Speicherstätten bestimmter Institutionen. Die Datenerhebung enthält hier eher ein Problem der Selektion und die Diskursanalytikerin kann verhältnismäßig umstandslos zur »Datenauswertung« übergehen. Wenn der Praxeologe gewissermaßen charakteristischerweise mit einer Knappheit der Daten kämpft, muss die Diskursanalytikerin eher dem Problem der Fülle – und damit auch der Relevanz – »Herr« werden (und es ist zu vermuten, dass die Attraktivität der Diskursanalyse in den Kulturwissenschaften auch mit dieser scheinbaren methodischen Problemlosigkeit des Datenzugangs zusammenhängt). Das methodische Problem der Diskursanalyse lässt sich auf einer anderen Ebene als das der Praxeologie ausmachen: es ist einmal das Problem der »angemessenen« Rekonstruktion von Codes und Sinnstrukturen, andererseits die Frage nach dem gesellschaftlichen Status bestimmter Diskurse. Letztlich handelt es sich um zwei Aspekte jenes Problems, das innerhalb des kulturwissenschaftlichen New Historicism – der von Foucault beeinflusst, aber methodologisch sensibilisierter ist – als jenes des Verhältnisses von »Text und Kon-

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text« umschrieben wird.12 Das Problem der angemessenen Rekonstruktion von Codes manifestiert sich in der die Diskursanalytikerin ständig beschäftigenden Frage, inwiefern sie den historisch treffenden Code bzw. die treffende Semantik herausgearbeitet hat. Zwangsläufig ist die Diskursanalyse in der Forschungspraxis hier sehr viel hermeneutischer als ihre strukturalistischen Prämissen es ahnen lassen: Nie kann sie sich sicher sein nachzuvollziehen, die historisch effektiven zentralen Differenzmuster gefunden zu haben. Die charakteristische Strategie besteht hier darin, die Anzahl der verarbeiteten Texte weiter auszudehnen, gewissermaßen die textuelle Stichprobe zu vergrößern und zweitens zu versuchen, immer mehr Bestandteile des jeweiligen »Kontextes« in Erfahrung zu bringen, damit aber auch: die nicht-diskursiven Praktiken im Umkreis der Diskurse. Um beispielsweise die Wissensordnungen der Verhaltensmanuale der höfischen Gesellschaft angemessen rekonstruieren zu können, versucht die Diskursanalytikerin möglichst viel über die höfische Gesellschaft in ihrer historischen Praxis in Erfahrung zu bringen (Informationen, deren Gewinnung selbst durch die oben genannten praxeologischen Methodenprobleme erschwert sind). Bereits in Bezug auf die vergangenen, erst recht aber mit Blick auf die gegenwärtigen Praktiken stellt sich zudem das methodische Problem einer Plausibilisierbarkeit der implizit angenommenen Diffusion diskursiver Codes. Implizit ist in der Diskursanalyse regelmäßig die Prämisse enthalten, dass die Diskurse mehr sind als sie selbst, dass sie als Schrittmacher von zu einem bestimmten Zeitpunkt denkmöglichen Wissensordnungen fungieren (ein Zusammenhang den Foucault mit dem Begriff des »Dispositivs« umschreibt).13 Diese diskurstheoretische Grundannahme ist jedoch in der Forschungspraxis mit einem beständigen historischen und soziologischen Zweifel konfrontiert: Inwiefern beispielsweise reichen die Codes des politischen und ökonomischen Diskurses des klassischen Liberalismus oder des aktuellen Neoliberalismus tatsächlich über die Binnenstruktur dieses Diskurses hinaus, in die politischen, privaten Praktiken hinein? Wiederum stellt sich hier die methodische Anforderung der Rekonstruktion eines Kontextes jenseits des Textes, um die Wirksamkeit von Codes zu belegen. Die Diskursanalyse verlässt charakteristischerweise ihre Fokussierung auf die Diskurse und ihre Formationsregeln im engeren Sinne und wendet sich den umfassenden »Dispositiven«, der Verschränkung von Körpern, Artefakten, Repräsentationen und Wissen zu (etwa ökonomisch-organisationellen Praktikenkomplexen, in denen (neo-)liberale Semantiken selbst zum impliziten Wissen geworden sind und entsprechende Subjektformen prägen). 12 | Vgl. S. Greenblatt/G. Gunn (Hg.): Redrawing the Boundaries. 13 | Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt a.M. 1991.

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Wenn man Praxeologie und Diskurstheorie nicht allein als zwei theoretische Optionen mit einander dementierenden Fundierungsansprüchen gegenüberstellt, sondern sie auch als zwei methodische Komplexe behandelt, ergibt sich damit jedoch ein Muster, in dem sich die Inkommensurabilität beider Forschungsstrategien auflöst und sich beide in der Forschungspraxis zu überschneiden beginnen. Die Forschungspraxis der Praxeologie nimmt selbst – ob sie will oder nicht – Züge einer Analyse von historischen Dokumenten an, die sie in die Nähe der Diskursanalyse (mit all ihren Problemen) bringt. Umgekehrt gilt: Jene der Diskurstheorie strebt selbst auf die Seite der Analyse sozialer Praktiken, eines »Kontextes« jenseits des »Textes« hin. Die textanalytischen Elemente der Praxeologie werden insbesondere im Falle der Analyse historischer, vergangener Praktiken deutlich (was – um es zu betonen – kein marginales Problem darstellt, sondern den Großteil jemals existierender Praktiken betrifft). Hier können teilnehmende Beobachtung und qualitatives Interview als klassische praxeologische Methoden nicht mehr zum Einsatz kommen und der Praxeologe sieht sich an das textuelle oder artefaktförmige Material der Diskursanalytiker und Semiologen verwiesen. Zweifellos ist eine praxeologische Analyse von Texten nicht mit einer diskursanalytischen identisch: Der Praxeologe kann – um die Foucault’sche Begrifflichkeit aus seiner Archäologie des Wissens zu verwenden – die Texte nicht als bloßes immanentes »Monument«, sondern muss sie zumindest auch als »Dokument« lesen, das auf eine körperlich-materiale Praxis jenseits ihrer selbst verweist. Aber auch der Praxeologe muss sich nun bemühen, analog der Diskursanalytikerin den impliziten Wissensordnungen einer historischen Phase anhand ihrer Texte nahezukommen: Der Kulturanthropologe avanciert zum Textanalytiker. Die Forschungspraxis der Diskursanalyse nimmt die genau umgekehrte Richtung: Die angemessene Interpretation von Codes und die Abschätzung ihrer Wirksamkeit verlangt nach einer Erweiterung des Blicks zu den i.e.S. nicht-diskursiven Praktiken, d.h. den Praktiken, die trotz ihrer Sinnhaftigkeit keine expliziten Aussagen »über« die Dinge machen, und leitet damit zu den Methoden wie Methodenproblemen der Praxeologie über. Diese Erweiterung der Aufgabenstellung stellt sich sowohl für vergangene wie für gegenwärtige Diskurse: In dem Moment, in dem es nicht mehr allein um Diskurse, sondern um umfassende Dispositive als Komplexe von Körpern, Artefakten, Repräsentationen und Wissen geht, bedient sich auch die Diskursanalyse praxeologischer Methoden.

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A nalyse von P r a xis -/D iskursformationen Was bedeutet diese methodische Annäherung von Praktiken- und Diskursanalyse auf konzeptueller Ebene? Ich will hier eine Alternative skizzieren. Der Kernpunkt dieses Vorschlags lautet, statt eine Differenz zwischen Praktiken und Diskursen als zwei vorgeblich unterscheidbaren Ebenen des Sozialen vorauszusetzen, mit einem Modell von Praxis-/Diskursformationen zu arbeiten, welches nach Differenzen eher zwischen unterschiedlichen Praxis-/Diskurskomplexen sowie innerhalb dieser Praxis-/Diskurskomplexen sucht.14 Die konzeptuelle Anforderung ist damit eine doppelte: Zum einen Praktiken und Diskurse nicht als zwei unabhängige Gegenstände zu separieren – von denen dann jeweils einem je nach theoretischem Hintergrund lediglich eine sekundäre Bedeutung zukommt –, sondern als zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen. Es ist gerade das Konzept der Wissensordnung, das hier das zu bezeichnen scheint, was in Praktiken und Diskursen verhandelt wird. Dem Konzept der Praxis-/ Diskursformation soll hier ein ähnlicher Stellenwert zukommen wie Foucaults power/knowledge oder Latours Natur/Kultur: zwei scheinbar natürlicherweise differente Phänomene sollen als Elemente des gleichen Komplexes deutlich werden. Die zweite Anforderung besteht darin, auf diese Weise jedoch keine homogenen, totalen, gesellschaftlich übergreifenden Praxis-/Diskursformationen anzunehmen – ein strukturalistischer Bias, der kaum zu überzeugen vermag –, sondern – auch im gleichen sozialen Feld – nach unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Praxis-/Diskursformationen sowie nach Instabilitäten innerhalb von Praxis-/Diskursformationen zu suchen. Dies erfordert einen poststrukturalistisch-dekonstruktiven Impuls innerhalb der Praktikenund Diskursanalyse, der deren Neigung zur Präjudizierung von Routinen und Codereproduktionen konterkariert.15 Die konzeptuelle Perspektive, die ich vorschlagen würde, ist die eines praxeologisch-kulturtheoretischen Ansatzes, der jedoch nicht zu einer Abwertung oder Marginalisierung von Diskursen und Diskursanalyse führt. In dieser Perspektive ist die soziale und humane Welt (die sich hier nicht von der nicht-humanen Welt weiterer organischer und anorganischer Prozesse trennen lässt) aus Praktiken zusammengesetzt, die sich als Wiederholung und permanente Verschiebung von Mustern der Bewegung und der Äußerung von aktiven Körpern und Dingen verstehen lassen, welche zugleich durch Formen impliziten Wissens – Know-how-Wissen, interpretatives Wissen routinisierter Sinnzu14 | Vgl. auch Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 15 | Vgl. Urs Stäheli: Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld 2000; A. Reckwitz: Das hybride Subjekt.

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schreibungen, Komplexe kulturell modellierter Affekte und Motivationen – zusammengehalten und ermöglicht werden. Die verstreuten und sich dynamisch beständig umschichtenden wie auch sich reproduzierenden Cluster von Praktiken, die sich damit ergeben, enthalten auf der Ebene ihrer Ordnungen des Wissens spezifische kulturelle Codes, zentrale Unterscheidungen der Weltbeschreibung und Weltbearbeitung, und umfassen eine enorme Bandbreite von Aktivitäten, die stärker interobjektiven, selbstreferentiellen oder intersubjektiven Charakter haben können. »Diskurse« stellen sich in diesem Zusammenhang als eine spezifische Menge von Praktiken dar, sie sind diskursive Praktiken, die sich zunächst auf der gleichen »flachen« Ebene verstreuter Praktiken insgesamt bewegen, damit weder einen Oberflächen-Überbau noch einen tiefenstrukturellen Unterbau der Praxis bilden. Diskurse/diskursive Praktiken unterscheiden sich dadurch von anderen Praktiken, dass sie Praktiken der Repräsentation sind, d.h. Praktiken, in denen Objekte, Subjekte, Zusammenhänge auf eine bestimmte, regulierte Weise dargestellt werden und in dieser Darstellung als spezifische sinnhafte Entitäten erst produziert werden. Welche Praktiken lassen sich in diesem Verständnis als Diskurse verstehen? Welche nicht? Diskurse können aus der hier vorgeschlagenen Perspektive nicht anhand äußerer Kriterien von NichtDiskursen trennscharf unterschieden werden, vielmehr ist der »Diskurs« eine spezifische Beobachterkategorie, welche Zeichen verwendende Praktiken unter dem Aspekt ihrer Produktion von Repräsentationen betrachtet. Dies lässt sich anhand von Beispielen erläutern: Sprachliche Kommunikationen unter Anwesenden – etwa eine Diskussion zwischen Wissenschaftlern auf einer Konferenz, ein Gespräch zwischen Partnern in einer Ehe, zwischen Angestellten am Arbeitsplatz (ob im Zusammenhang ihrer Arbeit oder nicht) – sind in jedem Fall Zeichen verwendende Praktiken, aber ob sie »Diskurse« darstellen bzw. sich in Diskurskomplexe einbetten lassen, hängt davon ab, welche Perspektive man auf sie einnimmt. Die sprachlichen Kommunikationen in der faceto-face-Konstellation können etwa als Praktiken spezifischen intersubjektiven Austausches rekonstruiert werden, in denen sich beispielsweise bestimmte Regeln des turn-taking, ein bestimmter Kommunikationsstil zwischen männlichen und weiblichen Subjekten (auf verbaler und non-verbaler Ebene), zwischen Vorgesetztem und abhängig Beschäftigtem etc. herausarbeiten lassen. Sie können aber auch unter einem anderen Aspekt betrachtet werden: dem, »was« gesagt wird, wie die Welt auf der Ebene der Propositionen repräsentiert wird und wie diese Repräsentationen strukturiert sind, zum Beispiel wie sich bürgerliche Ehepartner im 19. Jahrhundert ihre Ehe, ihre Geschlechterpositionen, Fragen der Kindererziehung etc. vorstellen und wie diese Aussagesysteme aufgebaut sind. Unter dem letzteren Aspekt betrachtet, lassen sich die fraglichen Praktiken als »Diskurse« verstehen.

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Eine analoge Differenz der Perspektiven ergibt sich im Falle der Produktion, Verbreitung und Rezeption schriftlicher Texte oder visueller Darstellungen (zum Beispiel Gemälde, Fotografie, Film, Fernsehen). Man kann diese unter dem Aspekt ihrer Herstellung betrachten, etwa die Praktiken des Schreibens, in denen in einem bestimmten kulturellen Kontext Autoren oder Wissenschaftler bestimmte Texte verfassen oder die Praktiken der Herstellung von Bildern, ob im Atelier oder im Filmstudio. Man kann sie auch primär unter dem Aspekt ihrer Rezeptionsweise untersuchen, etwa die Art und Weise, in der Filme betrachtet werden und auf diese Weise die psychische Apparatur des Subjekts »umgebaut wird« oder die Praktiken des Lesens, in denen schriftliche Texte verarbeitet werden und sich wiederum die Subjektform transformiert: Schriftliche Texte und Visualität interessieren dann gewissermaßen als Bestandteile von spezifischen »Technologien des Selbst«. Als Diskurse werden die Texte oder Bilder jedoch in dem Moment perspektiviert, in dem sie als Repräsentationsformen einer – auf der Grundlage bestimmter Codes und Formationsregeln – hervorgebrachten Welt in den Blick genommen werden: die Frage ist dann, welche Ordnung der Dinge etwa humanwissenschaftliche oder literarische Texte, Filme oder Fernsehsendungen einer bestimmten historischen Phase produzieren. »Diskurse« sind damit nicht aus anderem Stoff gemacht als Praktiken, sie sind selbst (zeichenverwendende) Praktiken und zwar solche, in denen die Dinge auf bestimmte Art und Weise repräsentiert werden. Das Materialitäts- und das Implizitheitsargument der Praxeologen lässt sich umstandslos auch auf diskursive Praktiken anwenden: Diese sind keine ideellen Phänomene, sondern haben ihre eigene Materialität als Sequenz von schriftlichen Markierungen, technisch hergestellten Bildern oder auch lautlichen Schallwellen. Die Diskurse repräsentieren zwar die Dinge »explizit«, sie handeln von den Dingen, reden über sie oder setzen sie ins Bild, aber sie enthalten gleichwohl ebenfalls implizite Codes und Wissensordnungen, die nicht selbst in ihrer Abstraktion Thema der Repräsentationen sind. Gleichwohl lässt sich die Unterscheidung explizit/implizit verwenden, um eine Differenz zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zu bezeichnen: Sinnzusammenhänge, die in allen Praktiken zwangsläufig enthalten sind und ihnen, ohne dass sie repräsentiert oder thematisiert werden müssten, ihre Form geben, werden in Diskursen zum expliziten Thema (ohne dass je alle Sinnzusammenhänge oder die Komplexität kulturell relevanter Unterscheidungen dargestellt werden könnten). Alle sozialen Praktiken enthalten Wissensordnungen und Codes; die diskursiven Praktiken produzieren und explizieren selbst – über den Weg von Argumentationen, Narrationen, Montagen etc. – Wissensordnungen. In ihrer kulturellen Realität sind diskursive Praktiken damit nicht als separiert von den anderen Praktikenkomplexen zu denken, sie sind ihnen weder übernoch untergeordnet. Wenn man gesellschaftstheoretisch davon ausgeht, dass

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die soziale Welt sich aus einer Anzahl verstreuter und gleichwohl miteinander verknüpfter Cluster von Praktiken zusammensetzt – die sich dann auch zu Komplexen wie Organisationen, Institutionen, Milieus, Subkulturen oder sozialen Feldern aggregieren – dann bilden diese Cluster (historisch in unterschiedlichem Maße) regelmäßig Komplexe von Praktiken und Diskursen, d.h. von Praktiken, die in sich diskursive Praktiken enthalten. Man kann hier von Praxis-/Diskurskomplexen sprechen: Jene kulturellen Unterscheidungen, die in den Praktiken insgesamt zum Einsatz kommen, werden in den diskursiven Repräsentationen selbst zum Thema. Beispielsweise können jene Formen des Subjekts, die soziale Praktiken stillschweigend enthalten – etwa einen bestimmten Habitus der Maskulinität und der Feminität –, in Diskursen in Form von Subjektrepräsentationen, etwa die Darstellung und Thematisierung von Maskulinität und Feminität in psychologischen oder literarischen Texten oder in Filmen, zum Gegenstand werden und damit selbst die Transformation von gesellschaftlichen Wissensordnungen beeinflussen. Man kann dies am Beispiel der historischen Transformation der Privatsphäre, d.h. der Praktiken und Diskurse persönlicher Beziehungen erläutern. Um diesen kulturellen Prozess zu begreifen, macht es wenig Sinn, »Diskurse« – Repräsentationen von Liebe, Partnerschaft, Geschlecht, Sexualität in der Humanwissenschaft, Literatur, Visualität etc. – und »Praktiken« – die Routinepraktiken zeitgenössischen Ehe- und Familienlebens – gegeneinander auszuspielen. Vielmehr wird deutlich, dass sich kulturelle Ordnungen in Praktiken und Diskursen gleichermaßen manifestieren. Geht es beispielsweise um die Analyse der Entwicklung der Privatsphäre im 18. Jahrhundert – jener für die moderne Bürgerlichkeit formativen Phase –, wird in der Forschungspraxis rasch deutlich, dass sich Praxis und Diskurs kaum gegeneinander positionieren lassen. Was hier vorliegt, sind Dokumente verschiedener Art: normative Manuale – etwa die Moralischen Wochenschriften der Aufklärungsgesellschaft –, belletristische Literatur – etwa bürgerliche Romane und Dramen, die extensiv um die Frage der Gestaltung bürgerlicher Intimbeziehungen kreisen –, Egodokumente, z.B. Briefe und Tagebücher bürgerlicher Individuen, in denen wiederum persönliche Beziehungen aus der Teilnehmerperspektive thematisiert werden. In einer kombinierten Praktiken- und Diskursanalyse wird damit in der Verstreutheit der Handlungen und Texte, der unterschiedlichen Dokumente schrittweise eine kulturelle Ordnung sichtbar, zentrale kulturelle Unterscheidungen – etwa ein Konzept von Liebe und von Ehe, von zu moderierendem Gefühl, von Liebesehe versus Konventionsehe –, die einer historisch spezifischen Wissensordnung und einer eigentümlichen Praxis-/ Diskursformation ihre Form geben. Das heißt nun aber keineswegs, dass sich ein einheitlicher, widerspruchsfreier historischer »Block« einer Praxis-/Diskursformation »bürgerliche Privatsphäre« identifizieren ließe. Die Konkurrenz zwischen Praxis- und Diskurs-

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theorien hat eine riskante Einseitigkeit, die beide miteinander teilen, häufig unsichtbar gemacht: die Neigung zu Homogenisierungen und Reproduktionsmodellen. Trotz anders lautender Tendenzen – etwa der Betonung der situativen Variabilität und Störungsanfälligkeit von Praktiken bei Garfinkel oder der offenen Prozessualität diskursiver »Serien« in Programmtexten – enthalten Praxis- und Diskurstheorien gemeinsam deutliche Tendenzen, Kultur auf Systematik und Wiederholung festzulegen.16 In der Diskurstheorie ist diese Neigung in der Anlehnung an strukturalistische langue/parole-Modelle begründet, welche historische Wissensordnungen als Episteme nach Art einer kulturellen Grammatik begründen, in der Praxistheorie in der Vorstellung einer Routinisiertheit der Praktiken und der Sedimentierung des Wissens, welche Beharrung begünstigen. Statt dass das Konzept der Praxis-/Diskursformationen diese Tendenz aufnimmt oder sogar verdoppelt, scheint hier eine poststrukturalistisch-dekonstruktive Injektion in die Praxistheorie und die Diskurstheorie gleichermaßen heuristisch fruchtbar: diese kann für die kulturellen Instabilitäten innerhalb von kulturellen Formationen, aber auch im Verhältnis zwischen ihnen sensibilisieren. Die zentralen kulturellen Differenzen sind dann nicht jene zwischen Praxis und Diskurs, sondern innerhalb von und zwischen Praxis-/Diskursformationen. Im genannten Falle stellt sich die Wissensordnung der bürgerlichen Privatsphäre selbst als von Brüchen und Uneindeutigkeiten durchzogen heraus: etwa die Spannung zwischen einer empfindsamen Förderung von Emotionalität und zugleich einer Skepsis gegenüber der exzessiven Emotion. Die Praktiken und Diskurse der bürgerlichen Privatsphäre enthalten nicht einen einzigen widerspruchsfreien Code, sondern eine Überlagerung mehrerer, aneinander gekoppelter Sinnmuster, die teilweise im Spannungsverhältnis zueinander stehen – die Spannung zwischen Freundschafts- und Familienmodell, zwischen Intimisierung und Ökonomisierung, zwischen Neutralisierung der Geschlechter und Geschlechterdualismus.17 Diese instabilen kulturellen Formierungen tauchen sowohl auf der Diskursebene – etwa im literarischen Diskurs – als auch auf der Praxisseite – im bürgerlichen Eheleben, so wie es sich anhand von Egodokumenten rekonstruieren lässt – gleichermaßen auf. Zum zweiten lassen sich Differenzen zu anderen Praxis-/Diskursformationen der Intimität ausmachen. Die eigentliche Konkurrenz zum bürgerlichen Intimitätsdiskurs ist nicht die bürgerliche Intimitätspraxis, sondern der nicht-bürgerliche Diskurs des Intimen (und zugleich dessen Praxis). In diesem Fall handelt es sich insbesondere um den aristokratischen Diskurs bezüglich der Intimität (der sich allerdings im 18. Jahrhundert abschwächt) und die aristokratische Praxis, in der persönliche Beziehungen 16 | Vgl. Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984; Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1974. 17 | Vgl. A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 146ff.

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in anderer Weise codiert und geformt werden (zum Beispiel familiäre Beziehungen als Politikum, Legitimität sexueller Beziehungen neben der Ehe etc.). Statt Diskurse und Praktiken gegeneinander auszuspielen, scheint diese Suche nach den immanenten Widersprüchen innerhalb von Praxis-/Diskursformationen einerseits, die Rekonstruktion des möglichen Antagonismus zwischen unterschiedlichen Praxis-/Diskursformationen des gleichen sozialen Feldes andererseits eine heuristisch fruchtbare sozial- und kulturwissenschaftliche Strategie zu liefern. Insgesamt lässt die konzeptuelle wie methodologische Reflexion des Verhältnisses zwischen Praktiken und Diskursen die Opposition zwischen beiden Begriffen zunehmend obsolet werden. Die eigentlichen Probleme einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Analytik weisen über diesen Gegensatz hinaus: sie betreffen eine umfassende gesellschaftstheoretische und modernetheoretische Einbettung der Konzepte der Praktiken wie der Diskurse, welche die antagonistische kulturelle Dynamik, an denen Praktiken wie Diskurse partizipieren, reflektiert und den historisch variablen Stellenwert von Diskursen gegenüber Praktiken innerhalb historischer Praxis-/Diskursformationen unter die Lupe nimmt.

Doing subjects Die praxeologische Analyse von Subjektivierungsformen

Nikolas Rose beginnt seinen Aufsatz Identity, genealogy, history (1996) mit der Frage »how shall we do the history of the person?«1 Genau diese Frage will ich mir stellen. Was kann es bedeuten, sozialwissenschaftlich und zugleich historisch Subjektanalyse zu betreiben? Was sind die heuristischen Möglichkeiten einer solchen Perspektive und wie lässt sie sich in den Sozial- und Kulturwissenschaften umsetzen? Der Ausgangspunkt, den ich favorisiere, ist dabei der Begriff des Subjekts in jener poststrukturalistisch inspirierten Form, wie man ihn bei Michel Foucault findet. Zugleich soll dem Subjektbegriff jedoch eine praxeologische Wende gegeben werden: Die Analyse von Subjektformen stellt sich als Bestandteil einer allgemeinen Praxeologie des Sozialen dar. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem doing subjects, danach wie Subjekte im Zuge bestimmter sozialer Praktiken »fabriziert« werden und sich zugleich selbst fabrizieren. Der Begriff des Subjekts ist nun theoriehistorisch belastet, aber ich will ihn trotzdem jenen der Identität, der Person oder des Individuums vorziehen und letztere in den allgemeineren Kontext der Subjektivierungsanalyse einbetten.2 Dabei gilt es, die Grundintuition, die sich in Roses Frage findet, aufzunehmen: Es kann nicht um eine allgemeine Theorie des Subjekts, der Identität oder des Selbst gehen, sondern um eine an materialer Forschung orientierte Analytik, eine Heuristik. Worauf lenkt die Subjektanalyse den Blick, worauf kann sie 1 | Nikolas Rose: »Identity, Genealogy, History«, in: Stuart Hall/Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London 1996, S. 128-150. 2 | Der Begriff des Selbst scheint mir theoretisch uneindeutiger. Es liegt nahe, »Selbst« mit »Identität« gleichzusetzen, insofern letztere die Selbstdeutungen von Subjekten bezeichnet. Häufig wird der Begriff des Selbst jedoch in einer Weise verwendet, die letztlich in die Richtung dessen weist, was ich hier als Subjekt verstehe, vgl. etwa die Verwendungsweise in Dror Wahrman: The Making of the Modern Self. Identity and Culture in 18th Century England, New Haven 2004.

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ihn lenken? Ich will in zwei Schritten vorgehen: Ich werde zunächst die Blickverschiebung konturieren, die sich von der klassischen Subjektphilosophie zur Kulturtheorie der Subjektivierung ergeben hat. Anschließend will ich vor diesem Hintergrund mehrere Postulate aufstellen, die mir für eine praxeologische Subjektanalyse zentral scheinen: den Zusammenhang von Praktiken und Subjektformen, den Zusammenhang zwischen Subjekt- und Objektkulturen, den Nexus zwischen Subjektivität und Affektivität sowie die Instabilität von Subjektivierungsprozessen.

1. V on der S ubjek tphilosophie zur S ubjek tivierungsanalyse »Subjekt« ist ein traditionsreiches Konzept der neuzeitlichen Philosophie. Diese beginnt im 17. und 18. Jahrhundert bekanntlich als eine Subjektphilosophie, deren Grundannahmen eine breite Wirkung im Feld der modernen Humanwissenschaften, des politischen Denkens und des individualistischen Common-Sense-Wissens entfalten.3 Das philosophische Denken der Moderne ist zunächst zentriert auf das Subjekt als eine autonome, sich selbst begründende Instanz, die zugleich zur Schlüsselfigur der modernen politischen, ökonomischen, ästhetischen und religiösen Emanzipationsbewegungen avanciert. Der philosophische Diskurs des Subjekts setzt sich aus drei Segmenten zusammen: Die Philosophie des Bewusstseins in Frankreich und Deutschland ist sowohl erkenntnistheoretisch als auch moralphilosophisch ausgerichtet und reicht von René Descartes bis zum Deutschen Idealismus von Kant, Fichte und Schelling. Hier wird das Subjekt als cogito und damit als transzendentale Instanz eines Selbstbewusstseins und der Selbstreflexion eingeführt. Ein zweites Segment modernen subjektphilosophischen Denkens findet sich in der individualistischen und kontraktualistischen Sozialphilosophie, insbesondere in Großbritannien. Es umfasst die Vertragstheorien von Hobbes und Locke ebenso wie die Schottische Moralphilosophie um Smith und Hume oder den Liberalismus J. S. Mills. Kennzeichnend ist hier die Voraussetzung des autonomen, eigeninteressierten oder mit einem moralischen Sinn ausgestatteten einzelnen Akteurs als irreduziblem Ausgangspunkt einer Theorie der Gesellschaft. Einen dritten subjektphilosophischen Strang liefern die ästhetischen Diskurse im Kontext der Romantik: Hier wird das Subjekt als Ort der 3 | Ich fasse in den folgenden Absätzen Kernaussagen aus Andreas Reckwitz: Subjekt, Bielefeld 2008, S. 5-22 sowie aus Andreas Reckwitz: »Subjekt/Identität: Die Produktion und Subversion des Individuums«, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 75-92 zusammen.

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Expression eines »Innen« im »Außen«, als eine individuelle Ausdrucksinstanz vorausgesetzt, die bereits bei Rousseau immer auch ihre Selbstentfremdung in der Konfrontation mit gesellschaftlichen Einflüssen riskiert. Die klassische Subjektphilosophie erzielt nun in den Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts als gesunkenes Kulturgut von der soziologischen Phänomenologie über die ökonomischen Theorien rationaler Wahl bis zu den Kritischen Theorien der Entfremdung ihre Wirkungen. Sie hat also bis zur Gegenwart keineswegs an Einfluss verloren und basiert damit insgesamt auf Semantiken einer sich selbst begründenden, ihrer selbst transparenten Subjektivität. Diese wird als ein Ensemble von Eigenschaften des Mentalen und des individuellen Handelns gedacht, und den Merkmalen werden regelmäßig Allgemeingültigkeit und das Potential zur Rationalität zugeschrieben.4 Für das Feld der Kulturtheorien ist seit den 1970er Jahren das Subjekt ein zentraler Gegenstand, insbesondere bei poststrukturalistischen Autoren. Zugleich wird ein deutlicher Bruch mit dem traditionellen Diskurs des Subjekts markiert. Dies betrifft insbesondere Michel Foucaults Programm der Analyse von Subjektivierungsweisen in der Geschichte der Moderne, Jacques Lacans kulturtheoretische Psychoanalyse des Subjekts, Ernesto Laclaus Theorie hegemonialer Identitäten und Judith Butlers Modell der Reproduktion und Subversion des Subjekts in seiner Performativität, daneben auch postkoloniale Analysen bezüglich Differenz und Identität.5 Die zentrale Bedeutung der Analyse von Subjektformen im kulturtheoretischen Kontext widerspricht nur auf den ersten Blick der poststrukturalistischen Proklamation des »Todes des Subjekts«, wie man sie bei Michel Foucault und Roland Barthes findet. Die kulturtheoretischen Analytiken gehen auf Distanz zum Konzept des Subjekts im klassischen subjektphilosophischen Sinne einer allgemeingültigen, selbsttransparenten, reflexiven, mentalen Instanz und betreiben eine Dezentrierung des Subjekts. Sie lösen den Begriff der Subjektivität jedoch nicht auf, sondern geben ihm eine veränderte Bedeutung, so dass Subjektivität innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften als ein Produkt historisch spezifischer kul4 | Vgl. Christoph Riedel: Subjekt und Individuum. Zur Geschichte des philosophischen Ich-Begriffs, Darmstadt 1989; Walter Schulz: Ich und Welt. Philosophie der Subjektivität, Pfullingen 1979. 5 | Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1991; ders.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Band 1, Frankfurt a.M. 1983; ders.: »Subjekt und Macht«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Band 4, Frankfurt a.M. 2005; Jacques Lacan: Schriften I, Weinheim/Berlin 1986; Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000; Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991; dies.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001; Stuart Hall (Hg.): Representations. Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997.

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tureller (und psychischer) Subjektivierungsformen rekonstruierbar wird. Das Subjekt präsentiert sich nun als die Doppelstruktur eines subiectum: Indem sich der Einzelne bestimmten kulturellen Ordnungen unterwirft, die ihm körperlich und psychisch die Merkmale akzeptabler Subjekthaftigkeit »einschreiben«, kann er erst jene Kompetenzen von Selbstregierung, Expressivität, rationaler Wahl etc. ausbilden, die ein Subjekt ausmachen sollen. Zugleich löst sich der Identitätsbegriff von seiner Kopplung an eine normative Theorie, an Konstanzannahmen und die Fixierung an die Primärsozialisation. Er wird im Rahmen des Ferdinand de Saussure entlehnten Konzepts der Differenzen reformuliert. Die symbolische (Selbst-)Markierung von Identität wird damit als Produkt spezifischer kultureller Unterscheidungssysteme – einschließlich ihrer möglicherweise asymmetrisch aufgebauten binären Codierungen – rekonstruierbar. Die kulturtheoretischen Perspektiven auf das Subjekt, wie sie unterschiedliche Autoren vorlegen, teilen mehrere Grundannahmen, von denen ich sieben auflisten möchte. 1. Kulturalisierung: Gegen Annahmen einer allgemeingültigen, kulturindifferenten Subjekthaftigkeit oder eines ausgezeichneten Pfades gelungener Identitätsbildung wird die Abhängigkeit der jeweiligen Subjektivierungsweise von historisch und lokal spezifischen Repräsentationssystemen betont. Die sozialwissenschaftliche und historische Analyse richtet sich entsprechend auf die Art und Weise, in denen solche Wissensordnungen Subjektivität definieren, produzieren und instituieren. Subjekt-Rationalitäten sind dann immer relativ zur jeweiligen Wissensordnung zu verstehen. 2. Historisierung: Mit der Verkulturwissenschaftlichung geht eine dezidierte Historisierung des Subjektivitätsproblems einher. Entsprechend richtet sich das Interesse auf die Zeitpunkte, an denen bestimmte Subjektordnungen, die später alternativlos erscheinen, in hochspezifischen geschichtlichen Konstellationen entstehen. Foucaults Archäologie und Genealogie lassen sich entsprechend auf Subjektformen beziehen. 3. Technisierung: Das Subjekt ist keine rein »ideelle« Größe und mehr als seine eigene Selbstinterpretation, vielmehr als Resultat alltäglicher »Techniken«, von praktischen Verfahrensweisen der Selbstproduktion zu verstehen. Diese performativen Praktiken bringen den Effekt eines fixen Subjekts hervor, und es scheint nur so, dass das »fertige« Subjekt seinen Techniken vorausgegangen wäre. In dieser Perspektive interessieren etwa körperliche Techniken des gender management als Produktionsorte einer Geschlechtsidentität oder die Technologien des Selbst des Tagebuchschreibens oder Lesens als Produktionsorte einer bestimmten Form subjektiver Erinnerung und Reflexion. 4. Körper und Psyche: Gegen die Situierung des Subjekts auf der Ebene des Mentalen werden zum einen die körperliche Verankerung und Regulierungsweise von Subjektivität, zum anderen häufig auch die unbewusste psychische

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Dimension des Subjekts hervorgehoben. Dies gilt insbesondere für die psychoanalytisch beeinflusste Subjekttheorie. Wenn in der Praxis die kulturellen Kriterien akzeptabler Subjekthaftigkeit in der Regel implizit bleiben, erscheint es konsequent, dass diese primär nicht durch die Reflexivität des Mentalen, sondern durch die Motorik – einschließlich der Affektivität – des Körpers wirken und sie sich auf diesem Wege im Übrigen auch eine dementsprechende »Mentalität« heranzüchten. So wie der körperliche entzieht sich auch der psychische Teil des Subjekts – etwa auf der Ebene unbewussten Begehrens – weitgehend der subjektiven Kontrolle. 5. Identität als sekundärer Begriff: Das Subjekt im kulturtheoretisch informierten Sinne stellt sich als das Ensemble dieser körperlich-psychischen Subjektivierung dar, während die Identität eine Teilkomponente dieses Subjekts bildet: die Identifizierung der einzelnen Person als Wesen mit bestimmten Eigenschaften in Differenz zu anderen im Rahmen der kulturellen Subjektordnung. Im Rahmen einer komplexen differenziellen Ordnung enthält eine bestimmte Subjektform damit auch eine ihr zugehörige Form der identifizierenden Selbstinterpretation. Anders als in hermeneutischen Identitätstheorien stellt sich Identität damit nicht als eine isolierbare reflexive Selbstrepräsentation dar, sondern ist innerhalb einer umfassenderen körperlich-psychischen, letztlich vorreflexiven Subjektivierungsweise wie auch innerhalb von kulturellen Differenzensystemen zu situieren. Der Identität kommt dabei häufig eine narrative Struktur zu, das heißt, die Selbstrepräsentation des Subjekts folgt Erzählmustern (Aufstiegsgeschichten, Kampfgeschichten, defätistischen Geschichten etc.), die für die jeweilige Subjektkultur charakteristisch sind. 6. Hegemonie und Ausschluss: Mit den Poststrukturalisten kann man betonen, dass die Wissensordnungen, welche Subjektivität und Identität definieren und instituieren, sich nicht außerhalb von Macht und Herrschaft bewegen, vielmehr das Subjekt, das sich selbst am Ende möglicherweise autonom und selbstkontrolliert vorkommt, zu einem solchen nur in Unterwerfung unter die akzeptablen Formen von Subjekthaftigkeit zu werden vermag. Subjektordnungen enthalten damit immer einen – häufig gar nicht unmittelbar bewussten – »Ausschluss« nichtakzeptabler Subjektivität und sie kommen häufig im Rahmen von Hegemonien vor, von kulturellen Dominanzformen, die sowohl die Alternativlosigkeit des einzig Denkbaren als auch die Attraktivität des von allen scheinbar natürlicherweise Gewollten und Erstrebenswerten vermitteln, Hegemonien, die sich bei näherer Betrachtung allerdings als kulturell umkämpft herausstellen.

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2. S chwerpunk te pr a xeologischer S ubjek tanalyse Die kulturtheoretische Subjektivierungsanalyse liefert damit heuristische Leitlinien, die in materialen empirischen Untersuchungen vielseitig genutzt werden können. Vor dem Hintergrund dieser sehr allgemeinen Postulate kann eine praxeologisch orientierte Analyse von Subjektformen jedoch eine spezifische Ausrichtung erhalten. Ich will vor allem folgende Aspekte hervorheben: die Untrennbarkeit des Nexus von Praktiken und Subjektformen; der Zusammenhang von Subjekt- und Objektkulturen sowie von Subjekt- und Affektkulturen, schließlich die Sensibilität für Stabilisierungen und Destabilisierungen von Subjektformen, die auch einen neuen Blick auf das alte Problem des »Individuums« erlaubt: a) Alle sozialen Praktiken, welche die gesellschaftliche und kulturelle Realität ausmachen, lassen sich unter dem Aspekt betrachten, welche Formen des Subjekts sich in ihnen bilden. Subjektanalyse als eine sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsstrategie richtet sich daher in einem ersten Zugriff auf die – ökonomischen, politischen, sexuellen, erzieherischen, medialen, künstlerischen etc. – sozialen Praktiken und umfassenden Komplexe von Praktiken, die sich ihre jeweilige Subjektform produzieren: Praktiken des Arbeitens, des Konsumierens, des privaten Austauschs, des Lesens und Computerspielens, der verbalen Kommunikation, des politischen Engagements etc. Eine Praktik lässt sich als »a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« verstehen.6 Sie ist eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte oder gewohnheitsmäßige Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens) und umfasst darin Formen des impliziten Wissens, des know how, des Interpretierens, der Motivation und der Emotion.7 Praktiken unter dem Subjektaspekt zu betrachten, bedeutet zu fragen, in welcher Richtung sie »subjektivieren«, das heißt, welche Dispositionen eines zugehörigen Subjekts sie nahe legen und über welche Wege ihnen diese Modellierung eines entsprechenden Körpers, eines Wissens und einer Psyche gelingt. Man kann intersubjektive, interobjektive und selbstreferentielle Aspekte von Praktiken unterscheiden, das heißt, Praktiken im Umgang zwischen Personen (zum Beispiel mündliche Kommunikation, Sexualität), im 6 | Theodore R. Schatzki: Social Practices: A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, New York 1996, hier S. 89. 7 | Zur Praxistheorie vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis (auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft), Frankfurt a.M. 1979; T. R. Schatzki: Social Practices; T. R. Schatzki/Karin Knorr Cetina/Eike von Savigny (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001; Andreas Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie, 32 (2003), S. 282-301.

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Umgang mit Objekten (zum Beispiel Handwerk, Haushalt) und im Umgang des Subjekts mit sich selbst (»Technologien des Selbst«). Nicht nur letztere, auch erstere lassen sich unter ihrem Subjektivationsaspekt rekonstruieren. Zentral für eine sozialwissenschaftliche und historische Subjektanalyse ist damit, gerade nicht bei den Subjekten zu beginnen, sondern bei einer Rekonstruktion sozialer Praktiken und Praktikenkomplexe. In diesen wird ein doing subject betrieben. Sie setzen ihnen entsprechende Subjektformen voraus, adressieren sie und bringen sie – jedenfalls im Idealfall der kompletten Passung und reibungslosen Reproduktion – hervor. Generell scheint es dabei heuristisch nicht sinnvoll, von einem Dualismus zwischen nichtdiskursiven Praktiken und Diskursen, das heißt diskursiven Praktiken, auszugehen. Diskursive Praktiken sind als Praktiken der Repräsentation zu verstehen, die textuell oder visuell Darstellungen von Entitäten liefern, unter anderem auch von Subjekten. Sie können einen deskriptiven, normativen oder imaginären Charakter haben. Statt Praktiken und Diskurse gegeneinander auszuspielen, sollte man die Frage stellen, welche Praxis-/Diskursformationen, welche Netzwerke miteinander verflochtener (aber natürlich möglicherweise in sich heterogener und widersprüchlicher) Praktiken und Diskurse in einem sozialen Feld bestimmte Subjektformen befördern. Dies gilt etwa für den Nexus von Arbeitspraktiken und Arbeits- wie Managementdiskursen oder zwischen Praktiken der Erziehung und Erziehungsratgebern oder Darstellungen von Bildungsprozessen in der Belletristik und den Erziehungspraktiken in einer bestimmten historischen Phase. Diskurse befinden sich hier weder »oberhalb« noch »unterhalb« der anderen Praktiken, sondern auf der gleichen »flachen« Ebene von subjektivierenden Aktivitäten. Als »Subjektkulturen« kann man Ensembles von Praktiken und Diskursen verstehen, die eine bestimmte Subjektform oder ein ganzes Tableau miteinander verbundener Subjektformen voraussetzen und produzieren. Die Subjektform ist dann die kulturelle Form, in die das Individuum, das heißt, die körperlich-psychischen Entitäten gebracht werden soll. »Identitäten« lassen sich damit als integraler Bestandteil dieser Subjektformen begreifen: als die Modi der self-interpretation, die in die Subjektform eingebaut sind und mit entsprechenden Differenzmarkierungen gegen andere Subjektformen verknüpft sind. Der heuristische Begriff »Subjektkulturen« lässt sich flexibel einsetzen; vor allem auf zwei Ebenen kann man ihn anwenden: auf der von spezialisierten sozialen Feldern und der von Lebensformen. Zum einen können Subjektformen auf der Ebene von sozialen Feldern, das heißt, von mehr oder minder differenzierten und institutionalisierten Komplexen von Aktivitäten analysiert werden. Das Feld der Ökonomie – in seiner historischen Variabilität und seinen uneindeutigen Außengrenzen – lässt sich beispielsweise dann unter dem Aspekt rekonstruieren, in welcher Weise es bestimmte ökonomische Subjektpositionen definiert und produziert, als Arbeiter, als Angestellter, als Unter-

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nehmer (seiner selbst) oder als generalisierter Homo oeconomicus. Darüber hinaus erscheinen die Positionen eines Konsumsubjekts ebenso wie scheinbar prekäre Andere wie der Spekulant oder der Arbeitslose von Relevanz. Soziale Felder bilden jedoch nicht die einzige Ebene, auf der sich Subjektformen rekonstruieren lassen. Vertikal dazu kann man sie auf der Ebene von Milieus, Klassen, Lebensformen und -stilen sowie Subkulturen ausmachen. Die Frage lautet hier, in welcher Weise eine milieu- oder klassenspezifische Lebensform eine ihr entsprechende Subjektform heranzieht, etwa ein aristokratisches, ein bürgerliches oder ein proletarisches Subjekt mit entsprechenden Dispositionen, Affektmustern und Identitäts-/Differenzmarkierungen. Die sozial häufig als natürliche Eigenschaften behandelten Merkmalsbündel von Geschlecht und Ethnizität liefern schließlich zwei weitere Kriterien von Subjektivität und Identität, die unabhängig von Feld und Klasse variieren können und in ihrer Kreuzung mit Feldern und Klassen im Sinne einer Intersektionalität von Subjektkulturen zu analysieren sind. b) Im Rahmen einer praxeologischen Subjektanalyse tritt ein Zusammenhang zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses: der Nexus zwischen Subjekt- und Objektkulturen. Hier geht es um das Verhältnis von Materialität und Subjektivität, das heißt, die Art und Weise, in der bestimmte materiale Arrangements von Artefakten im Rahmen eines Netzwerks sozialer Praktiken zu einer bestimmten Subjektivierungsform beitragen. Unter den kulturtheoretischen Klassikern hat am ehesten Foucault in seiner Dispositivanalyse diesen Zusammenhang miteinbezogen, vor allem hinsichtlich der Frage, wie sich bestimmte räumliche Strukturierungen (Gefängnisse, Schulen etc.) auf die Subjektivität auswirken.8 Weitergeführt wurde dieser Problemkomplex bislang vor allem in den Medientheorien und ihrer Thematisierung der Subjektivierungseffekte bestimmter medialer Artefakte und zumindest angedeutet im Zusammenhang mit der neueren Diskussion um Theorien des Raums und um die Konsequenzen eines möglichen spatial turn in den Sozialwissenschaften: Dadurch, dass sämtliche soziale Praktiken von den ökonomischen bis zu den intimen sich als spatializing betrachten lassen und den Raum und dessen Artefakte auf bestimmte Weise organisieren, ist mit der Frage der Subjektivationseffekte dieser Artefaktkonstellationen und Räumlichkeiten ein weiteres umfangreiches Feld für die Subjektanalyse gewonnen.9 Ganz generell befinden sich soziale Praktiken nicht nur in einem Nexus mit ihren körperlichen und kulturell subjektivierten Trägern, sondern auch mit dem, was man in Anlehnung an Bruno Latour Artefakte nennen kann: mit Dingen und Objekten verschiedenster Provenienz, die gewissermaßen 8 | Vgl. M. Foucault: Überwachen und Strafen. 9 | Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995; Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001.

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material und kulturell zugleich strukturiert sind. Soziale Praktiken können nur existieren, indem entsprechende Artefakte in sie integriert sind, seien es Werkzeuge, Gebäude, Verkehrstechnologien, Nahrungsmittel und Kleidung oder die bearbeitete Natur.10 Es existieren damit nicht nur historisch spezifische Subjektkulturen, sondern auch historisch spezifische Objektkulturen. Praktiken der Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts etwa sind ebenso auf eine entsprechende Objektkultur von Tagebüchern, Handelsschiffen, Landhäusern, Korsetts und Manufakturen angewiesen wie die Praktiken der Kreativökonomie auf Mobiltelefone, computer aided design oder Großraumbüros. Die Analyse von Subjektkulturen setzt die Untersuchung des Umgangs mit diesen Objekten und deren subjektivierender Wirkung voraus. Die Verzahnung der Analyse von Subjektkulturen und von Objektkulturen ist möglicherweise eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen Untersuchungen zur Geschichte und Gegenwart des »Selbst«. Unter subjektivierungsanalytischem Aspekt interessieren vor allem vier Artefaktkomplexe, die sich heuristisch voneinander unterscheiden lassen: I) Dingkomplexe im engeren Sinne; II) Medientechnologien; III) Körperartefakte; IV) Architektur und Raumensembles. I. Mit Dingkomplexen im engeren Sinne sind mehr oder minder einfache Artefakte gemeint, mit denen im Rahmen sozialer Praktiken hantiert wird. Sie sind für diese Praktiken eine notwendige Voraussetzung und der regelmäßige Umgang mit ihnen wirkt langfristig auf eine bestimmte Weise subjektivierend. Praktiken des Schreibens beispielsweise setzen Schreibwerkzeuge oder Schreiborte (Tische, Stühle, Lampen, Zimmer) voraus, die die Form des »Schreibsubjekts« beeinflussen. Der Umgang mit handwerklichen Werkzeugen oder industriellen Maschinen wiederum wirkt sich auf die Kompetenzen und Sensibilitäten eines Arbeitssubjekts aus. Dinge können sich dabei zu ganzen technologischen Systemen verdichten, die sich nicht nur in der Industrie finden, sondern auch im Militär oder im Staatswesen. II. Medientechnologien umfassen besondere Dingkomplexe: es handelt sich um Artefakte, welche die Produktion, Zirkulation und Rezeption von Zeichen regulieren – von der Schrift und dem gemalten Bild über Medien visueller und auditiver Reproduktion (Fotografie, Film, Telefon, Fernsehen etc.) bis zu den digitalen Technologien (Computer, World Wide Web, iPod, Smartphone etc.). Diese Medientechnologien strukturieren historischspezifische mediale Praktiken. Diese sind jedoch nicht nur als Kommunikationspraktiken zu verstehen, sondern auch als Technologien des Selbst, 10 | Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995.

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die in besonderer Weise Subjekte strukturieren: ihre Formen der Erinnerung und Entscheidung, der Reflexion, Aufmerksamkeit, sinnlichen Erregung etc. III. Mit Körperartefakten ist eine weitere Klasse von Artefakten umschrieben: jene, die unmittelbar am Körper anheften oder in ihm wirken. Die Subjektanalyse muss aus naheliegenden Gründen ein besonderes Interesse an diesen »Accessoires« des Körpers pflegen, da sie sowohl für die öffentliche Performativität der Subjekte als auch für ihre körperliche Reproduktionsweise fundamental sind. Dies umfasst die Bekleidung, aber auch die Manipulation des Aussehens bis hin zur Schönheitschirurgie, die medizinische Versorgung, den Umgang mit Nahrungsmitteln, Drogen etc. IV. Wenn die Körperartefakte damit bis ins Innere des Körpers eingreifen, dann bilden die Architektur und die räumlichen Arrangements umgekehrt großflächige Artefaktkomplexe, »in« denen sich die Subjekte bewegen. Soziale Praktiken wirken unweigerlich im Sinne eines spacing, indem in der Handlungspraxis ein jeweiliger sozialer Raum – bereits im Arrangement der Subjekte – geschaffen wird. Durch den Einbezug von Artefakten erlangt dieser soziale Raum eine Stabilität und Faktizität, die sich auf alle künftigen Interaktionen auswirkt. Die Innenarchitektur und Raumgestaltung von Büros, Läden und Wohnungen, die Gestaltung von öffentlichen Räumen und Verkehrsräumen, die Struktur ganzer Stadtviertel und Städte sowie schließlich die Stadt/Land-Differenzierung und jene zwischen bewohntem und unbewohntem Raum bilden allesamt räumlich-bauliche Arrangements, die Subjektformen einschränken und ermöglichen.11 Insbesondere die kulturelle Struktur der Sinne und der Affekte bildet sich im Umgang mit diesen räumlichen Umgebungen aus. Gernot Böhme umschreibt diesen Zusammenhang in seinem Begriff der »Atmosphären« im Sinne von sinnlich-emotionalen Stimmungsräumen. Aus subjektivierungsanalytischer Perspektive interessieren diese Atmosphären vor allem als Ermöglichungsräume für die langfristige Ausbildung sinnlich-emotionaler Habitus, wie sie sich zum Beispiel durch ein bestimmtes Bürodesign, durch die Struktur der suburbia oder Interaktionsverdichtung im Stadtzentrum herausbilden. c) Damit ist bereits ein weiterer Schwerpunkt der praxeologischen Analyse des Selbst angesprochen: die emotional-affektive Strukturierung des Subjekts, dessen »emotionaler Habitus«. Das Selbst ist keine rein kognitive Instanz und kein bloßer Ort von Kompetenzen und Deutungsschemata, es erfährt notwendigerweise in jedem Praxiskomplex eine emotionale Subjektivierung, das heißt, eine kulturelle Modellierung jener körperlichen »Erregungszustände« 11 | Vgl. Heike Delitz: Architektursoziologie, Bielefeld 2011.

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(Massumi), die mannigfache, subjektiv negativ oder positiv erlebbare Formen von Lust-, Angst- und Aggressionszuständen annehmen kann. Analog den Objektkulturen sind Emotionskulturen auf ihre Weise materiell und kulturell zugleich: Körperliche Erregungszustände haben eine Faktizität, die ihre Reduktion auf Sinnphänomene verunmöglicht. Zugleich sind die Entstehung und die Verarbeitung dieser affektiven Reaktionen jedoch kulturell codiert. Gegen die Vorstellung, emotionale Zustände seien gewissermaßen Sonderfälle gegenüber einem rationalen Normalfall, ist hier der Impuls des affective turn aufzunehmen, dem zufolge jede soziale Praxis auf ihre Weise Emotionen strukturiert – und sei es in der Heranzüchtung eines Reizschutzes oder affektiver Sparsamkeit. Anstelle einer einfachen quantitativen Gegenüberstellung von Praktiken und Diskursen, die ein »Mehr« oder »Weniger« an Affekten/ Emotionen enthalten und diese fördern oder hemmen, ist hier eine qualitative Unterscheidung verschieden orientierter Affektkulturen sinnvoll, in denen sich positive Affekte an unterschiedliche Subjektzustände – religiöses Heil, Erfolg, Lustbefriedigung, Ordnungsfreude etc. heften – und andere Phänomenkomplexe negative Affekte hervorrufen (Scheitern, Frustration, Aggression etc.). Emotional subjektivierend wirken dabei nicht nur Subjekt-Subjekt-Konstellationen, sondern auch Subjekt-Objekt-Konstellationen, in denen sich Emotionen regelmäßig an Dinge (zum Beispiel Konsumgegenstände oder Kunstobjekte) heften. Emotionen/Affekte sind aus subjektivierungstheoretischer Perspektive sowohl auf der Mikro- als auch der Makroebene von Interesse: Einzelne Praktiken, in denen Subjekte eingebunden sind, enthalten typischerweise eine bestimmte Qualität und Quantität von Emotionalität (Praktiken des Tanzens, des Internetsurfens, des beruflichen Wettbewerbs etc.). Zugleich sind ganze Praxis- und Subjektordnungen als umfassende Systeme von diversen, miteinander verknüpften Praktiken auf die Hervorbringung bestimmter emotionaler Zustände ausgerichtet und geben vor, was den Subjekten in ihrer Lebensordnung Befriedigung bereitet und in ihnen Abneigung erzeugt (zum Beispiel die Selbständigkeits- und Moralorientierung der bürgerlichen Lebensform, die hedonistische Orientierung subkultureller Lebensformen etc.). d) Ganz generell ist für die kulturtheoretische und praxeologische Subjektanalyse die heuristische Leitlinie grundlegend, dass Subjektkulturen – seien es solche einzelner sozialer Felder, von übergreifenden Hegemonien, von Milieus und Klassen, von Geschlechtern und Ethnien oder von solchen, die mit bestimmten Artefakt- und Raumkonstellationen verknüpft sind – nicht von einer selbstverständlichen Homogenität und Widerspruchsfreiheit geprägt sein müssen, sondern man eine besondere Sensibilität für ihre immanenten Instabilitäten entwickeln sollte. Tatsächlich besteht eine gewisse Gefahr, in strukturalistischem Fahrwasser Subjektivierungen und Subjektkulturen als homogene Gebilde vorauszusetzen. Diesem Risiko drohen insbesondere manche der von Foucault inspirierten Analysen von diskursiven Ordnungen und

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Dispositiven zu erliegen. Es genügt allerdings sicherlich nicht, gegen diese Gefahr der Homogenisierung kurzerhand das autonome Individuum mit seiner agency zu reaktivieren. Es sind vielmehr mehrere strukturelle Konstellationen zu nennen, die zur Destabilisierung von Subjektkulturen beitragen und die es in der Forschungspraxis im Auge zu behalten gilt: I. Die Überschneidung unterschiedlicher Wissensordnungen in der Definition und Produktion gesellschaftlicher Subjektpositionen: Innerhalb von Praktiken und Diskursen und damit letztlich auch in der Subjektform können sich hybride Interferenzen unterschiedlicher kultureller Codes ergeben. Dies gilt beispielhaft für die Subjektposition des kreativen Unternehmers in der Spätmoderne, die marktförmige und ästhetisch-expressive Codes miteinander kombiniert und damit das Potential für eine immanente Widerspruchsstruktur enthält. II. Das Präsenthalten eines irritierenden, mehrdeutigen konstitutiven Außen: Der Begriff des konstitutiven Außens von Derrida, Laclau und Butler verweist auf die paradoxe Konstellation, dass Subjektkulturen regelmäßig die Verwerfung eines kulturellen Anderen enthalten, dass mit der Repräsentation dieses Außens jedoch kulturelle Alternativen präsent gehalten werden, die in ihrer Mehrdeutigkeit zum Gegenstand einer destabilisierenden Faszination werden können. Dies gilt beispielsweise für den Exotismus als Kehrseite des Kolonialdiskurses. III. Ungewollte psychisch-affektive Effekte, die durch eine Subjektivierung hervorgerufen werden: Judith Butler weist in Psychic Life of Power (1997) darauf hin, dass solche unintendierten psychischen Effekte, die sich aus einer Subjektordnung ergeben und diese zugleich konterkarieren (etwa homosexuelle Melancholie im Rahmen der heterosexuellen Matrix) nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich auftreten können. Zu denken ist hier etwa auch an kulturspezifische Krankheitsbilder von der Anorexia nervosa bis zur Depression. Subjektordnungen können dann durch ihre eigenen unintendierten Konsequenzen irritiert oder sogar unterminiert werden. IV. Mangelnde Passungsverhältnisse zwischen Artefakten und zugehörigen Praktiken und Subjektkompetenzen, die entsprechende Handlungskrisen und Neuschöpfungen initiieren: Gerade das Aufkommen neuartiger Artefakte – man denke etwa an die Medien- und Verkehrsrevolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts – kann bisherige Praktiken und Subjektformen destabilisieren. An neue Artefakte können sich bisher undenkbare Praktiken heften – etwa der Filmbetrachtung oder des Umgangs mit den Social Media –, die in Widerspruch zu bisher etablierten Handlungsweisen geraten.

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e) Es stellt sich eine abschließende Frage: Lässt eine praxeologische Perspektive auf Subjektivierungsformen noch Raum für das Individuum? Löst die Geschichte des Selbst dieses restlos in seine kulturellen Formen auf? Um diese Frage zu beantworten ist zunächst der kulturelle Code der Individualität von der Idiosynkrasie des einzelnen Subjekts zu unterscheiden. »Individualität« stellt sich aus kulturtheoretischer Perspektive zunächst selbst als Fluchtpunkt eines historisch und lokal sehr besonderen Subjektmodells dar. Georg Simmel weist in seinem Konzept des qualitativen Individualismus darauf hin, dass dieses Modell in der Kulturgeschichte der Moderne in der Romantik seine erste Form erhält: das Individuum als eine expressive Instanz, die in sich natürliche, der Entfaltung harrende Potentiale birgt. Nach der Romantik sind historisch weitere Versionen einer solchen an Individualität orientierten Subjektkultur entstanden. Diese stützen sich auf Praktiken der Individualität, beispielsweise solche der Beurteilung der Qualität einer Person nach ihren »nicht-konventionellen« Anteilen oder der Multiplizität ihrer Aktivitäten. Individualität als kultureller Code produziert damit paradoxerweise im Sinne einer Norm der Abweichung Besonderheiten des Einzelnen als kollektives Muster. Die Verschiebung des Blicks, in der »das Individuum« damit selbst als Subjektform erscheint, lässt sich am besten an einem Beispiel verdeutlichen: dem Stellenwert dessen, was man die »Reflexivität« des Akteurs nennt. Zieht man Arbeiten aus dem Kontext der soziologischen Theorien reflexiver Modernisierung und der Individualisierungstheorien – prominent etwa bei Ulrich Beck und Anthony Giddens – zu Rate, dann ist es für die spätmoderne westliche Gesellschaft kennzeichnend, dass soziale, normative Vorgaben, etwa der Klasse oder Berufsgruppe, erodieren.12 Auf der Seite des Individuums bedeutet dies, dass »Reflexivität« – etwa eine Selbstbefragung biografischer Lebensziele, der Partnerschafts- und Berufsideale – zum Einsatz kommt. Aus der Perspektive der Subjektanalyse würde die Frage jedoch eher lauten: Welches hochspezifische Training muss ein Individuum durchlaufen, um jene besonderen kulturell prämierten Eigenschaften der Reflexivität (Selbstbefragung, Abwägung von Optionen, Kontingentsetzung von Zielen, Definition von Situationen als »Entscheidung«) zu erwerben? In welchen sozialen Praktiken und Technologien des Selbst zieht der Einzelne einen »reflexiven Habitus« in sich heran (z.B. Routinen der beruflichen oder partnerschaftlichen Selbstbefragung)? Was ist der kulturelle »Andere« des reflexiven Subjekts, von dem implizit oder explizit eine Differenzmarkierung stattfindet (z.B. eine Person, die mit Handlungsunfähigkeit oder Inflexibilität, mit Entscheidungsschwäche oder Gedankenlosig-

12 | Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986; Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge 1991.

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keit ausgestattet ist)? Statt das reflexive Subjekt vorauszusetzen, wird es dann als Produkt hochspezifischer kultureller Subjektivierungsweisen sichtbar. Von einer Analyse dieser gesellschaftlichen Individualisierungstechniken zu unterscheiden ist jedoch ein anderes Phänomen: jenes »Individuum«, das sich als Ensemble der Idiosynkrasien des subjektivierten Einzelnen umschreiben lässt. Im soziologischen Verständnis ist der einzelne, durch die Grenze seines Organismus identifizierbare Körper niemals anders denn als Subjekt, d.h. als eine sozial-kulturell modellierte Instanz denkbar. Aber diese sozial-kulturell geformte Instanz enthält Idiosynkrasien. Diese sind nicht als Kennzeichen einer »Freiheit« misszuverstehen, die sich nach Art eines existenzialistischen Aktes gegen die sozialkulturellen Formen der Wahl positioniert. Vielmehr bilden sich die Idiosynkrasien im Innern der subjektiven Aneignung und Reproduktion dieser Formen selbst, vor allem in dreierlei Mechanismen: Zum einen können auch innerhalb einer gegebenen Subjektform nicht sämtliche praktizierbare Akte im Detail vorherbestimmt sein. Als geregelte lassen Subjektkulturen Spielräume möglichen Verhaltens, Raum für Nuancierungen, Hinzufügungen und kontingente Ausfüllungen. Die Ausnutzung dieser Spielräume verändert jedoch die Subjektform zunächst nicht, sondern reproduziert sie letztlich. Zweitens gilt, dass einerseits soziale Praktiken mit spezifischen Subjektformen verknüpft sind, dass andererseits das einzelne Subjekt sich jedoch als ein Träger einer Vielzahl von Praktiken mit einer potentiellen Vielzahl von Subjektformen begreifen lässt. Dieses für die Soziologie klassische Phänomen, das Simmel als »Kreuzung sozialer Kreise« umschreibt, führt dazu, dass sich Idiosynkrasien des Einzelnen infolge einer bestimmten Kombination von Praktiken mit ihren Codes und Subjektformen in ihm ergeben, die sich in ihrer Struktur und Erwerbsgeschichte jeweils von anderen Subjekten unterscheidet. Diese Idiosynkrasien qua Kreuzung können unberechenbare Konsequenzen der Amalgamierung verschiedener kultureller Elemente mit sich bringen. Drittens enthält selbst die scheinbare Reproduktion kultureller Subjektformen in den leiblich-mentalen Akten des Einzelnen das beständige Potential des unintendierten Misslingens und jener Neuinterpretationen, Neukombinationen und unintendierten Nuancierungen, die bereits als Abweichungen von der Form interpretiert werden können: Subjektformen müssen vom einzelnen Subjekt in jedem Moment seiner Existenz erneut hervorgebracht werden, was ein Moment der Unberechenbarkeit einschließt. Jedes Subjekt hat seine eigene Subjektgeschichte, d.h. seine eigene Körper-/Geist-Geschichte, seine »einmalige« Erwerbsgeschichte von Subjektkompetenzen, deren Konsequenzen für die biografische (Re-)Produktion unabsehbar sind. Indem das Subjekt keine fixe, überzeitliche Struktur bildet, sondern sich aus einer Sequenz von Akten zusammensetzt, können sich dann in jedem Moment relative Verfehlungen und formabweichende Interpretationen ereignen: »Die Anweisung, eine gegebene

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…(I)dentität zu sein, produziert zwangsläufig Verfehlungen, eine Vielzahl inkohärenter Konfigurationen, die in ihrer Mannigfaltigkeit die Anweisung, die sie erzeugt hat, überschreiten und anfechten.«13 Diese Abweichungen sind selbst ein Ort nicht nur von kulturell nicht vorgesehenen psychisch-emotionalen Reaktionen, sondern auch von narrativen Selbstbeschreibungen, wie sie die soziologische Biografieforschung im Detail rekonstruiert. Auch wenn sich die Selbstnarrationen wiederum der kulturellen Muster bedienen, die gesellschaftlich zur Verfügung gestellt werden: gerade diese narrative Gestaltung der Biografie kann sich als ein Ort idiosynkratischer Sinnstrukturierung erweisen. Wenn sich die soziologische und historische Analyse des Selbst und seiner Subjektivierungsweisen auf typische kulturelle Formen konzentrieren muss, werden damit doch zumindest am Rande der dominanten Perspektive jene idiosynkratischen Besonderheiten sichtbar, für deren Details sich in der Moderne in erster Linie andere kommunikative Genres als die Wissenschaft interessieren, insbesondere die persönlichen Beziehungen und die Kunst.

13 | Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 213.

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Theorieentwicklungen in den Humanwissenschaften lassen sich nur mit Mühe im laufenden Prozess abschätzen. Zu einfach können kurzfristige Akzentverschiebungen als grundsätzliche Transformationen verklärt, zu leicht können umgekehrt elementare und fruchtbare Blickverschiebungen als kurzatmige Moden abgetan werden. Es ist ein Allgemeinplatz, dass es ex post sehr viel leichter fällt, Paradigmenwechsel auszumachen. Trotz dieser Vorsichtshaltung gegenüber der Diagnose langfristiger konzeptueller Entwicklungen will ich eine solche Diagnose versuchen. Meine Kernthese lautet, dass die kulturtheoretischen Begriffssysteme, deren Verbreitung wir seit den 1970er Jahren in den Sozial- und Geisteswissenschaften international erleben, sich seit einiger Zeit grundsätzlich neu positionieren: Es findet zunehmend eine Materialisierung des Kulturellen statt. Auf verschiedensten und zunächst scheinbar kaum miteinander zusammenhängenden Ebenen sind die Sozial- und Geisteswissenschaften dabei, Materialitäten zu entdecken und deren notwendige Verquickung und Vernetzung mit jenem Sinnhaften und Symbolischen unter die Lupe zu nehmen, das klassischerweise als die Sphäre des Kulturellen wahrgenommen wurde. Ein aktueller Theoretiker, der diese Materialisierung prominent gefördert und gefordert hat, ist Bruno Latour mit seiner AkteurNetzwerk-Theorie.1 Die Materialisierungsbewegungen gehen aber weit über diese spezielle Schule hinaus. Es handelt sich dabei auch nicht um ein weiteres, gewissermaßen »zusätzliches« Themengebiet der Sozial- und Geisteswissenschaften, das hier erschlossen würde, sondern um eine grundsätzliche Rekonfiguration der theoretischen Perspektive, deren Auswirkungen auf die Forschungspraxis enorm sind. Zugleich erscheint diese Rekonfiguration paradox: Hatten sich Kulturtheorien nicht gerade in Opposition zu materialistischen Ansätzen gebildet? Riskiert eine solche Wendung einen Rückfall in den theoretischen Materialismus?

1 | Vgl. Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995.

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Ich würde dagegen die These vertreten, dass es sich bei den gegenwärtigen Materialisierungen des Kulturellen größtenteils um tastende Versuche handelt, den Dualismus zwischen Kulturalismus und Materialismus zu überwinden und damit gerade nicht die Analyseperspektiven der Sozial- und Geisteswissenschaften zu verengen, sondern sie zu erweitern. Dieser Weg scheint momentan jedoch in vielerlei Hinsicht noch unbefestigt. Ich will in mehreren Schritten vorgehen, um diese Transformation des theoretischen Feldes zu sondieren. Zu Anfang rekapituliere ich die klassische Version des cultural turn als Ausgangsposition und zeige, wie er implizit auf der alten Struktur-KulturDifferenz aufbaut. Anschließend gehe ich auf mehrere aktuelle Theorieentwicklungen ein, die ich allesamt als Beiträge zur Materialisierung des Kulturellen interpretiere: zunächst die Medientheorien, dann die Artefakttheorien, den spatial turn und den affective turn. Schließlich eruiere ich allgemeiner, in welche Richtung ein dritter Weg zwischen Kulturalismus und Materialismus gehen könnte und schlage dabei Leitkonzepte vor, deren Besonderheit darin besteht, dass sie sich von vornherein auf das Geflecht von sinnhaften und nichtsinnhaften Elementen gleichermaßen beziehen, ohne dass zwischen diesen kausale Relationen vorausgesetzt würden. Der cultural turn in den Sozial- und Geisteswissenschaften ist selbst bereits ein Ereignis der Wissenschaftsgeschichte, auch wenn wir uns gegenwärtig weiterhin in vieler Hinsicht in seinem Horizont bewegen.2 Natürlich gibt es nicht den cultural turn, sondern es handelt sich bei der Diagnose einer solchen Wende um ein dramatisierendes Narrativ der Wissenschaftsentwicklung. Der cultural turn seit den 1970er Jahren hat unterschiedliche humanwissenschaftliche Disziplinen je nach Ausgangsposition und Vorgeschichte in verschiedener Weise berührt. In der Soziologie etwa bedeutet er nicht das Gleiche wie in der Geschichtswissenschaft, in den Literaturwissenschaften, in der Ethnologie oder der Kulturanthropologie. Zentral sind hier jeweils die Antipoden: Die kulturtheoretisch beeinflussten Soziologien wenden sich gegen den Strukturbias der Mainstream-Soziologie, gegen die linearen Modelle der Modernisierungstheorien, gegen die Dominanz quantitativer Methoden; die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft gegen die Zentrierung auf die Immanenz von Texten als isolierten Einheiten, gegen deren Enthistorisierung und Formalisierung, gegen die Fixierung des Literarischen; die kulturwissenschaftliche Geschichtswissenschaft positioniert sich gegen die Sozialgeschichte – ähnliche Antagonismen ließen sich für alle Disziplinen herausarbeiten. In ihnen 2 | Vgl. Andreas Reckwitz: »Die Kontingenzperspektive der ›Kultur‹. Kulturbegriffe, Kulturtheorien und das kulturwissenschaftliche Forschungsprogramm«, in: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 15-45; Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006.

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allen kann der cultural turn auf disziplinenspezifische Vorläufer zurückgreifen – etwa in der Kulturgeschichte oder Kultursoziologie –, er teilt jedoch auch disziplinenübergreifend bestimmte gemeinsame Referenzautoren. Von besonderer Relevanz scheinen hier Autoren, die den Strukturalismus und die Semiotik weiterentwickelt haben: Michel Foucault und Pierre Bourdieu spielen hier für das gesamte Feld der Sozial- und Geisteswissenschaften eine besondere Rolle. Wenn man den cultural turn auf einen Kerngedanken festlegen will, dann ist es der einer sinnhaften, symbolischen oder semiotisch-differenziellen Konstitution der Wirklichkeit.3 Kultur bezeichnet in diesem Kontext dann nicht mehr wie im Rahmen des normativen Kulturbegriffs eine normativ herausgehobene Lebensweise, nicht mehr wie im differenzierungstheoretischen Kulturbegriff einen Teilbereich der Gesellschaft, der sich auf das Kulturelle spezialisiert hat, und auch nicht wie im Falle eines holistischen Kulturverständnisses das Insgesamt von Lebensformen als Komplexe von Verhaltensweisen. Im Rahmen eines bedeutungsorientierten Kulturbegriffs verweist Kultur vielmehr auf jene Ebene der Unterscheidungen, der Klassifikationssysteme, vor deren Hintergrund den Dingen auf spezifische Weise Bedeutungen zugeschrieben und Verhaltensweisen sowie Formen des Sozialen erst realisiert werden, so dass ihnen für die Akteure erst eine Intelligibilität und Selbstverständlichkeit zukommt. Der cultural turn entwickelt damit eine grundsätzliche Kontingenzperspektive auf menschliches Verhalten und dessen Produkte: Diese könnten immer auch anders sein, sind aber so, wie sie sind, vor dem Hintergrund der jeweiligen impliziten Wissensordnungen, deren Struktur und praktische Anwendung damit im Zentrum des kulturtheoretischen Interesses stehen. Theoriehistorisch ist diese kulturtheoretische Perspektive keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, sondern sie verarbeitet letztlich ein kantianisches Erbe. Die Idee der Konstitution der menschlichen Welt durch Kategorien des Bewusstseins, wie sie Kant theoretisiert, wird jedoch in den Kulturtheorien in zweierlei Hinsicht umakzentuiert: Im Kern wird der Gedanke der Konstitution der Wirklichkeit durch menschliche Kategoriensysteme von der geistig-kognitiven Ebene des Mentalen und der Mentalitäten gelöst und auf die Prozesse der praktischen Verwendung, Bildung und Umbildung der Klassifikationen und Repräsentationen im Handeln bezogen, auf das, was Stuart Hall die signifying practices nennt – seien es diskursive Praktiken im engeren Sinne, seien es nicht-diskursive Praktiken, die gleichwohl von impliziten Wissensordnungen abhängen. Zugleich und damit zusammenhängend tendieren die Kulturtheorien im Unterschied zum Kantianismus zu einer mehr oder minder radikalen Entuniversalisierung der kulturellen Klassifikationssysteme, die auf der Zeitebene historisiert und auf der Raumebene lokalisiert werden. 3 | Vgl. Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000.

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Wogegen sich diese Wende zur Kulturtheorie richtet, wird im Kontext der Soziologie besonders deutlich: Der eigentliche Gegner ist die klassische Basis-Überbau-Unterscheidung, die in der abstrakteren Version der Struktur-Kultur-Unterscheidung in seiner Wirksamkeit weit über das Marx’sche Erbe hinausgeht. In der klassischen Basis-Überbau- wie in der abstrakteren Struktur-Kultur-Unterscheidung wurden und werden jene kulturellen Klassifikations- und Unterscheidungssysteme, von denen der cultural turn ausgeht, regelmäßig auf ein Explanandum reduziert, auf eine Einheit, deren immanente Ordnung und Entstehung ihrerseits einer Erklärung bedarf.4 Dieses Erklärungsschema greift dann auf der Suche nach einem geeigneten Explanans auf die gesellschaftliche »Basis« und deren »Strukturen« zurück. Der entscheidende Unterschied zwischen Basis und Überbau bzw. Struktur und Kultur soll dieser klassischen Unterscheidung zufolge in der immanenten Sinnhaftigkeit letzterer zu suchen sein: Auch Kultur erscheint hier strukturiert, aber so, dass sie – mit Max Weber gesprochen – einen »Sinnzusammenhang« bildet. Die gesellschaftlichen Basisstrukturen bieten hingegen für die sozialen Teilnehmer keinen Sinnzusammenhang, ihnen kommt vielmehr die Eigenschaft einer objektiven und in dieser Objektivität wirkungsmächtigen Ordnung zu, die als notwendige (oder sogar als hinreichende) Bedingung für die Entstehung und die immanente Struktur von kulturellen Formationen interpretiert werden kann. Das Struktur-Kultur-Erklärungsmuster, das bis in die Gegenwart hinein in der Soziologie von Einfluss ist, gibt sich so lange nicht zufrieden, wie es kulturelle Formationen nicht auf eine objektiv geordnete Konstellation »zurückgeführt« hat. Die klassische Form dieser Struktur-Kultur-Erklärung findet sich nicht nur in Marx’ Historischem Materialismus, sondern auch – und für die Sozialwissenschaften noch einflussreicher – in Durkheims Theorie sozialer Differenzierung. Wenn man näher fragt, welcher Art diese kulturbedingende Basis oder Struktur denn sein soll, erhält man – den beiden Traditionen folgend – regelmäßig zwei Antworten: Entweder die Kultur wird zurückgeführt auf ein bestimmtes gesellschaftliches Teilsystem, nämlich die Ökonomie (einschließlich ihrer technologischen Voraussetzungen), oder aber es sind letztlich soziale Differenzierungsformen – funktionaler oder stratifikatorischer Art –, die die Basis des Überbaus bilden sollen. Kulturtheoretische Argumentationen haben nun dieses Struktur-KulturSchema einer grundsätzlichen und im Kern berechtigten Kritik unterzogen. Es ist jedoch zentral zu erkennen, dass sie diese Struktur-Kultur-Unterscheidung meistens weniger aufgelöst als umgekehrt haben. Nun sind es die kulturellen Klassifikationssysteme, die über Diskurse und Praktiken erst definieren und 4 | Vgl. auch Andreas Reckwitz: »Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten«, in: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 131-156.

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regulieren, welche menschlichen Verhaltensweisen – inklusive ökonomischer oder Differenzierungsformen – überhaupt möglich sind, welche Gestalt auch scheinbar vorkulturelle Entitäten wie Natur, Rasse oder Geschlecht innerhalb der sozialen Praxis annehmen können. Der frühere Überbau verwandelt sich nun in die eigentliche Basis, die bisherige Basis findet sich als Überbau wieder, der »kulturell konstruiert« ist. Diese kulturtheoretische Umkehrung der Struktur-Kultur-Unterscheidung hat es ermöglicht, die Voraussetzung vorkultureller Strukturen und ihrer kausalen Wirkung überzeugend zu kritisieren. Sie hat auch ein weites, heuristisch fruchtbares Feld der Analyse der kulturellen Konstitution sämtlicher sozialer Bereiche – inklusive des menschlichen Umgangs mit der Natur, der Technik oder dem eigenen Körper – erschlossen. Trotzdem ist die Theorieentwicklung damit nicht an ein Ende geraten. In den letzten Jahren haben sich in den Humanwissenschaften vielmehr mehrere Tendenzen herauskristallisiert, die sich aus dem Unbehagen ergeben, sich auf die Analyse der immanenten Formen von Wissensordnungen zu beschränken. Diese Tendenzen haben das Verhältnis zwischen dem Kulturellen und dem Materiellen erneut auf die Agenda gesetzt – und zwar nicht nur als ein Theorieproblem, sondern auch und gerade als ein Problem der empirischen, materialen Analyse. Hier wird eine Materialisierung des Kulturellen betrieben, ohne dass diese zwangsläufig ein erneutes Umkippen der Basis-Überbau-Unterscheidung zugunsten der vorgeblich nicht-sinnhaften strukturellen Basis bedeuten würde. Ich will exemplarisch vier Forschungsrichtungen, die auf den ersten Blick kaum Gemeinsamkeiten miteinander zu haben scheinen, als solche Tendenzen interpretieren, die letztlich eine Materialisierung des Kulturellen forcieren. Als erstes sind hier die Medientheorien zu nennen. Die Analyse von Medien – Texte im Medium der Schriftlichkeit, die ganze historische Diskursräume bilden, Produkte der visuellen Medien, die sich semiotisch, diskursanalytisch oder interpretativ-rezeptionsanalytisch rekonstruieren lassen – macht disziplinenübergreifend ein zentrales Segment kulturwissenschaftlicher Analytik aus und das nicht ohne Grund: Seit der Entstehung der Hochkulturen bilden über die alltägliche mündliche Kommunikation und die stummen Praktiken hinaus die Verbreitungs- und Kommunikationsmedien einen gesellschaftlichen Knotenpunkt für die Produktion, Zirkulation und Rezeption von Klassifikations- und Unterscheidungssystemen. Aber die Medientheorien, im neueren Sinne als Theorien der Medientechnologien verstanden, haben eine grundsätzlich verschobene Perspektive auf die Medien eröffnet, für die in der deutschen Diskussion der 1980 von Friedrich Kittler herausgegebene Band zur Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften die Initialzündung liefert.5 Diese 5 | Friedrich Kittler (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn u.a. 1980; vgl. auch Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995.

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Theorien der Medientechnologien haben mannigfache Vorläufer von Walter Benjamin bis Marshall McLuhan.6 Auch die Analysen zu den Unterschieden von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie die Arbeiten zu den Folgen der technischen Reproduktion von Visualität und den Auswirkungen der digitalen Apparaturen sind in diesen Zusammenhang einzuordnen.7 Das zentrale Argument der Medientechnologieanalysen lautet, dass Medien nicht auf Diskurse oder Zeichensysteme zu reduzieren sind, sondern dass sie in ihrer Eigenschaft als technische Apparaturen beeinflussen, welche Form der Kommunikation bzw. der Wahrnehmung jenseits spezifischer Inhalte im Rahmen eines bestimmten Mediums überhaupt möglich ist. Die klassische kulturwissenschaftliche Analyse der Medien sei – selbst wenn sie strukturalistisch orientiert war – auf die Inhaltsebene (die Fernsehsendungen, Textgenres etc.) fixiert geblieben, während es nun auch darum gehen muss, wie die jeweilige mediale Apparatur im Rahmen spezifischer medialer Praktiken Perzeptions- und Kommunikationsformen limitiert und induziert. Es geht also um eine Analyse des Arrangements der Artefakte, die die Medien – seien es die Schriftzeichen, die bewegten Bilder oder die digital produzierten Items im Internet – jeweils hervorbringen und um die Frage, welche signifying practices sich an diese Artefaktkonstellationen koppeln. Hier finden sich Parallelen zu einem zweiten materialistischen Impuls innerhalb der Sozialwissenschaften: den science and technology studies, aus denen heraus die Akteur-Netzwerk-Theorie entstanden ist. Es ist die Akteur-NetzwerkTheorie, die die Materialisierung des Kulturellen am offensivsten vertritt. Die science and technology studies der späten 1970er Jahre, die mit dem sogenannten strong programme der Edinburgh School der Wissenssoziologie eng verbunden waren, lassen sich zunächst als Speerspitze des Sozialkonstruktivismus verstehen.8 Sie radikalisieren die kulturtheoretische Grundidee der sinnhaften Konstitution des Sozialen dadurch, dass sie diese konsequent auf die Produktion wissenschaftlichen Wissens in den Naturwissenschaften übertragen. Mit Autoren wie Bruno Latour, John Law, Michel Callon und anderen hat sich die 6 | Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1977; Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn u.a. 1995; ders.: Understanding Media. The Extensions of Man, Cambridge/London 1994. 7 | Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London 2000; Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a.M. 2002; Lev Manovich: The Language of New Media, Cambridge (Mass.) 2001. 8 | Vgl. Barry Barnes/David Bloor: »Relativism, Rationalism and the Sociology of Knowledge«, in: Martin Hollis/Steven Lukes (Hg.), Rationality and Relativism, Cambridge (Mass.) 1982, S. 21-47; Bruno Latour/Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, New Jersey/Chichester 1979.

Kultur und Materialität

Stoßrichtung der Argumentation jedoch grundsätzlich verändert und wendet sich nun gegen den Sozialkonstruktivismus selbst.9 Latour folgend, erscheint es gerade als ein zentrales, überwindungsbedürftiges Problem, natürliche Entitäten oder technische Artefakte auf ihre symbolische Repräsentation zu reduzieren. Im Rahmen einer »symmetrischen Anthropologie« müsse die kategoriale Separierung zwischen einer sinnhaften, kulturellen Welt und einer vorsinnhaften, natürlich-technischen Welt vielmehr überwunden werden. Damit gilt die Kritik beiden Versionen des Basis-Überbau-Erklärungsschemas, sowohl der kausalen Ableitung der Kultur aus der Struktur – der Natur, Technologie, sozialen Formen etc. – als auch der Reduktion der Materialität auf deren diskursive Repräsentation. Latours eigenes Alternativvokabular zur Überwindung des Dualismus ist selbst sehr zurückhaltend und um das Konzept variabler »Aktanten« zentriert, die in den Netzwerken des Sozialen gegenseitig aufeinander Einfluss nehmen. Elementar ist in diesem Zusammenhang auch der Begriff des »Hybriden«, des »Quasi-Objekts« im Sinne von Michel Serres, das als materiell und kulturell zugleich gedacht werden muss. Auch wenn das Vokabular Latours in mancher Hinsicht unausgearbeitet bleibt, scheint das heuristische Potential der Akteur-Netzwerk-Theorie enorm, wenn man neuere Studien aus derart diversen Bereichen wie der Architektursoziologie, der Organisations- und der Kunstsoziologie zu Rate zieht, die damit weit über die science and technology studies im engeren Sinne hinausgehen.10 Die Sozialwissenschaften »entdecken« hier für alle möglichen sozialen Felder die Artefakte, die Ding-Konstellationen, die in semiotische Netzwerke eingebunden sind und notwendige Voraussetzungen für soziale Praktiken liefern, an denen sie partizipieren. Die ANT-Perspektive schließt somit in mancher Hinsicht an die sogenannten material culture studies in der Kulturanthropologie an, radikalisiert diese jedoch, indem die Dingwelt nicht nur als Sphäre von Gebrauchsobjekten 9 | Bruno Latour: Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers through Society, Cambridge (Mass.) 1987; ders.: Wir sind nie modern gewesen; John Law/Rob J. Williams: »Putting Facts Together. A Study of Scientific Persuasion«, in: Social Studies of Science 12 (1982), S. 535-558; Michel Callon: »Struggles and Negotiations to Define What is Problematic and What is Not. The Socio-logic of Translation«, in: Karin D. Knorr/Roger Krohn/Richard Whitley (Hg.), The Social Process of Scientific Investigation. Sociology of the Sciences Yearbook, Bd. 4, Dordrecht 1980, S. 197-221. 10 | Vgl. Bruno Latour/Albena Yaneva: »Give me a Gun and I will Make All Buildings Move. An ANT’s View of Architecture«, in: Reto Geiser (Hg.), Explorations in Architecture. Teaching, Design, Research, Basel u.a. 2008, S. 80-89; John Michael Roberts: »Poststructuralism Against Poststructuralism. Actor-Network Theory, Organizations and Economic Markets«, in: European Journal of Social Theory 15 (2012), S. 35-53; Thomas Hensel: »Akteur-Netzwerk-Theorie und Kunst«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (ZÄK), 57 (Heft 2012): Schwerpunktthema »Akteur-Netzwerk-Theorie«.

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sichtbar wird, sondern auch als konstitutive Voraussetzung für soziale Praktiken.11 Die Akteur-Netzwerk-Theorie betreibt die Materialisierung des Kulturellen am offensivsten und am systematischsten. Ich würde jedoch auch zwei auf den ersten Blick ganz anders orientierte neuere, fächerübergreifende Analyseprogramme in den Sozial- und Geisteswissenschaften als Bestandteile dieser Tendenz interpretieren: den sogenannten spatial turn und den sogenannten affective turn. Die Wende zum Raum in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat sich mittlerweile etabliert und motiviert eine Fülle empirischer Analysen in der Geschichtswissenschaft, der Soziologie oder der Ethnologie.12 Die Raumtheorien, die hier verarbeitet werden, sind zwar heterogen, aber sie teilen eine doppelte Kritik an einem subjektivistischen wie an einem objektivistischen Raumverständnis. Als dritter Weg wird beiden das, was man eine praxeologische Raumanalyse nennen kann, entgegengesetzt, die vor allem an Henri Lefèbvre anknüpft.13 Der objektivistische und der subjektivistische Raumbegriff lassen sich als die beiden antagonistischen Versionen einer raumtheoretischen Version der Struktur-Kultur-Differenz deuten: Für den objektivistischen Raumbegriff, das Container-Verständnis des Raums, ist Räumlichkeit eine quasi- natürliche Voraussetzung, die notwendige Rahmung jeglichen Handelns, die etwa in Form naturräumlicher Gegebenheiten ausgemacht wird. Der subjektivistische Raumbegriff antwortet darauf mit einer radikalen Kulturalisierung, so dass der Raum von kulturell spezifischen Raumklassifikationssystemen abhängt. Die neueren, praxeologischen Raumanalysen gehen hingegen regelmäßig von einem Raumverständnis aus, dem zufolge der Raum über ein spezifisches soziales Arrangement von menschlichen Körpern und Artefakten (zum Beispiel Architektur, Verkehrswege, die Verarbeitung von Naturräumen) produziert, also ein spacing betrieben wird.14 Die einmal produzierten Raumarrangements haben damit zugleich einen einschränkenden und ermöglichenden Charakter für die soziale Praxis, in der sie angeeignet werden. Für die Analysen im Rahmen des spatial turn hat der Raum als Arrangement von Artefakten und Körpern damit gewissermaßen eine »materiellere« Form 11 | Vgl. Dan Hicks: »The Material-Cultural Turn. Event and Effect«, in: ders./Mary C. Beaudry (Hg.), The Oxford Handbook of Material Culture Studies, Oxford 2010, S. 25-98. 12 | Vgl. Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006; Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001; Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M. 2006; Sigrid Weigel: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2 (2002), S. 151-165. 13 | Henri Lefèbvre: The Production of Space, Oxford 1991. 14 | Vgl. M. Löw: Raumsoziologie, S. 158-172.

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als dies für bloße Raumsemantiken der Fall ist, ohne dass es sich um den Rückfall in eine deterministische Politische Geographie handeln würde. Der sogenannte affective turn schließlich, die Entdeckung der Emotionen und Affekte in den neueren Sozial- und Geisteswissenschaften, erschließt auf den ersten Blick ein ganz anderes Feld. Auch hier geht es jedoch um die Refokussierung eines Phänomens, dessen Faktizität sich nicht auf seine symbolische Repräsentation engführen lässt und das durch die Brille eines radikalen Kulturalismus nicht wirklich zu erfassen ist. Im Rahmen des affective turn, der entscheidende Impulse sowohl aus der psychoanalytischen Kulturtheorie als auch durch post-deleuzianische Ansätze erhält und in Form der Emotionsgeschichte auch in der aktuellen Kulturgeschichte verbreitet ist,15 werden Emotionen und Affekte in ihrer Doppelstruktur als eigendynamische körperliche Erregungszustände begriffen, deren Entstehung von kulturellen Emotionsschemata abhängt, die aber – wenn sie einmal entstanden sind – als Aggressivität, Fasziniertheit, Trauer etc. eine Faktizität in den Psychen und Körpern entfalten, welche über ihre symbolische Repräsentanz hinausgehen. Die Subjekte und sozialen Formen werden mit diesen Erregungszuständen konfrontiert und müssen mit ihnen umgehen, ob sie wollen oder nicht. Auch der affective turn geht damit auf Distanz zu einem radikalen Sozialkonstruktivismus, der Emotionen allein auf der Ebene der kulturellen Definition des Emotionalen ausmacht. Die Emotionen und Affekte erscheinen demgegenüber nun – einmal in die Welt gesetzt – »materieller« und effektiver als im Sozialkonstruktivismus, ohne dass dies umgekehrt mit einem »Emotionsnaturalismus« verbunden sein muss, d.h. einer Präjudizierung vermeintlich vorkultureller Emotionsstrukturen. Theorien der Medientechnologien, Artefakttheorien, Raumtheorien und Affekttheorien erschließen den aktuellen Sozial- und Geisteswissenschaften neue, zusätzliche empirische Analysefelder, aber sie haben allesamt einen grundsätzlicheren Anspruch: darauf hinzuweisen, dass die sozial-kulturelle Welt »immer schon« durch mediale Technologien, durch Artefaktkonstellationen, durch räumliche Arrangements sowie durch Affiziertheiten und Affizierungen strukturiert ist und nur so ihre Form erhält. Das Argument, das sie alle zusammenhält, ist das eines material turn: Die sinnhafte Welt der Mentalitäten, Codes, Wissensformen und Repräsentationen ist in der sozialen Praxis notwendig verkettet mit Entitäten, die immer auch interpretiert werden, deren Entstehung zweifellos immer von kulturellen Schemata abhängt, die aber, einmal in die Welt gesetzt, eine Faktizität erlangen, welche sich strukturierend auf 15 | Vgl. Luc Ciompi: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, Göttingen 1997; Brian Massumi: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham (NC) 2002; Nigel Thrift: Non-Representational Theory. Space, Politics, Affect, London 2007.

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die soziale Praxis auswirkt. Natürlich kommt alles darauf an, wie dieser Nexus zwischen dem Kulturellen und dem Materiellen konzeptualisiert wird. Es ist offensichtlich, dass alle vier genannten Theoriestränge durchaus Probleme haben, hier zu befriedigenden Lösungen zu kommen. Diese Schwierigkeiten erwachsen vor allem aus der weiterhin prägenden Kraft der Basis-Überbau- bzw. der Struktur-Kultur-Unterscheidung und ihrer kategorialen Trennung von Materialität und Kulturalität. Die Opposition gegen den radikalen Kulturalismus und Sozialkonstruktivismus mit ihrer Reduktion der fraglichen Phänomene auf mediale Repräsentationen, Dingsymbole, Raumsemantiken und Emotionsdiskurse kann an manchen Stellen in einen neuen radikalen Materialismus umschlagen, so dass dann teilweise Friedrich Kittler zu einem Medien-Technikdeterminismus oder William Reddy zu einem Emotionsdeterminismus neigen.16 Die eigentlich konstruktive und auf ihre Weise radikale Theorieentwicklung bestünde gerade nicht in einer solchen Ablösung der Kulturtheorien durch den Materialismus, wie er sich zum Beispiel in den Neurowissenschaften findet. Dies würde lediglich die alte Basis-Überbau-Unterscheidung in neuem Gewand wieder aufleben lassen. Es geht vielmehr darum, die Annahme einer Kausalität zwischen Materialität und Kultur, die in der Basis-ÜberbauUnterscheidung enthalten ist, hinter sich zu lassen. Die Frage der eindimensionalen Verursachung – der zufolge die Kultur durch die Struktur oder die Struktur durch die Kultur »bedingt« ist – sollte als fruchtlos ad acta gelegt und durch die Frage ersetzt werden, in welchen Arrangements sich Kulturelemente und Materialitäten aneinander ketten und somit Einheiten bilden, die sich aus sinnhaften und nicht-sinnhaften, damit aus unterschiedlichen Elementen zusammensetzen. Es lohnt sich, einen Blick auf verschiedene Theorieangebote zu werfen, welche die Frage nach den einseitigen Kausalitäten und Konstitutionsverhältnissen durch jene nach den Verkettungen ersetzt haben. Was die Thematisierung des Zusammenhangs zwischen Kulturalitäten und Materialitäten jenseits der Annahme einer einseitigen Determinierung angeht, können Judith Butlers Begriff der Materialisierung und Bruno Latours Begriff der affordance (Angebot) nützlich sein. Als Brückenkonzepte zur Umschreibung von Verkettungen zwischen Kulturellem und Materiellem kommen die Leitbegriffe Praktiken, Dispositive, Gefüge und Sozialitäten in Frage. Judith Butler entwickelt im Rahmen ihrer Subjekttheorie in Körper von Gewicht den Begriff der Materialisierung.17 In interessanter Weise geht es bei ihr um eine doppelte Wirkungsrichtung: Zum einen geht sie davon aus, dass kulturelle Klassifikationssysteme sich in die Materialität des Körpers »einschrei16 | Vgl. Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986; William M. Reddy: »Against Constructionism. The Historical Ethnography of Emotions«, in: Current Anthropology 38 (1997), S. 327-351. 17 | Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Gender Studies, Frankfurt a.M. 1997.

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ben«, etwa in Form von bestimmten Affektstrukturen. Der Körper ist also keine gegebene Materialität, vielmehr gilt, dass sich dort kulturelle Schemata prozesshaft »materialisieren«, so dass sie in eine materielle Form »übersetzt« werden. Umgekehrt gewinnen diese Materialisierungen jedoch Butler zufolge unter Umständen eine Eigendynamik und einen Eigensinn, beispielsweise in dem, was sie den »psychischen Rest« nennt.18 Damit sind beispielsweise bestimmte Affektmuster gemeint, die unter dem Einfluss kultureller Schemata unintendiert entstanden sind und dann ebenso unbeabsichtigt eine irritierende Faktizität in Form von Erregungszuständen ausüben, beispielsweise in Form einer melancholischen Identifizierung. Mit dieser psychisch-physischen Faktizität müssen sich die Subjekte auseinandersetzen – gleich ob ihnen dies lieb ist oder nicht. In etwas anderer, ebenso interessanter Weise wird die Wechselwirkung zwischen Kulturalität und Materialität in Bruno Latours – James J. Gibson entlehntem – Begriff der affordance thematisiert, den man als »Angebot« nur unvollständig übersetzen kann.19 Wenn man Artefakte vom einzelnen Werkzeug bis zur Architektur als derartige affordances interpretiert, erscheinen sie als Angebotsstrukturen für eine Verwendungsweise, die gleichzeitig variabel und nicht-arbiträr ist: Artefakte legen durch ihre immanente Struktur einen bestimmen Umgang nahe, aber sie lassen unterschiedliche Möglichkeiten der Nutzung offen. Um welche Möglichkeiten es sich dabei handelt, ist jedoch immer nur ex post bestimmbar. Diese affordances sind nicht-arbiträr, bestimmte Nutzungsbedingungen sind ausgeschlossen – was wiederum aber nicht ex ante festgestellt werden kann. Wenn die heuristischen Begriffe der Materialisierung und der affordance damit das wechselseitige und unberechenbare Verhältnis zwischen kulturellen und materiellen Elementen thematisieren, so scheinen darüber hinaus jene heuristischen Konzepte besonders instruktiv, die von vornherein den Dualismus zwischen Kulturalität und Materialität hinter sich lassen und sich auf Strukturen und Vernetzungen beziehen, die von Anfang an beides enthalten. Die eigentliche Relationierungsleistung des Sozial- und Geisteswissenschaftlers bestünde dann nicht darin, Kultur und Materialität zueinander in Beziehung zu setzen, sondern darin unterschiedliche »Kulturalitäts-/Materialitätskomplexe« zu begreifen. Ein in dieser Hinsicht attraktiver Begriff ist Michel Foucaults »Dispositiv«, das nicht ohne Grund dabei ist, dem Diskursbegriff in seiner heuristischen Kraft den Rang abzulaufen: Ein Dispositiv ist in Foucaults empirischen Analysen ein Arrangement von Wissensordnungen, Sub18 | Vgl. Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001. 19 | Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007, S. 124.

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jektivierungsformen, Praktiken und Artefaktsystemen, die lose aufeinander abgestimmt einen umfassenden sozialen Komplex bilden.20 Das Straf- und das Sexualitätsdispositiv bilden dann etwa gerade nicht allein Straf- und Sexualitätsdiskurse (die sie freilich mitumfassen), sondern enthalten als notwendige Bestandteile auch bestimmte Artefaktsysteme, die zum Beispiel räumliche Arrangements bilden – Foucault erwähnt selbst bekanntlich die Gefängnis- bzw. die Internatsarchitektur. Das Dispositiv bezeichnet bei Foucault zugleich eine spezifische Konstellation, die sich nicht ohne Weiteres verallgemeinern lässt: Gemeint sind historische, strategische Komplexe, die einen eindeutig subjektivierenden Fokus haben. Allgemeiner orientiert scheint hier Gilles Deleuzes und Felix Guattaris Konzept des Gefüges (engl. assemblage, frz. agencement), das bei aller Vagheit dadurch heuristische Kraft entfaltet, dass hier von vornherein semiotische, materielle und soziale Elemente als aneinander gekoppelt wahrgenommen werden.21 Die nomadische Kriegsmaschine wird als Beispiel für ein solches Gefüge präsentiert, das dann etwa Waffen ebenso wie eine bestimmte Raumaneignung oder Mensch-Tier-Verhältnisse umfasst. Neben Dispositiv und Gefüge eignen sich jedoch auch zwei traditionsreichere und auf den ersten Blick enger scheinende Begriffe heuristisch gut, den analytischen Blick auf Kultur-/Materialitäts-Kombinationen zu richten: der Begriff der Praktiken und der des Sozialen/der Sozialität. Praktiken könnten dabei die kleinste Einheit von Kultur-/Materialitätskopplungen bezeichnen und Sozialitäten die größte, umfassendste Einheit. Der Begriff der Praktiken ist in einer post-wittgensteinianischen Sozialtheorie profiliert und auch in der Theorie der Praxis Pierre Bourdieus verwendet worden.22 Er spielt auch bei Foucault eine wichtige Rolle; als signifying pratices ist er ein Kernbegriff der Cultural Studies. Das eigentliche Potential des Begriffs – darauf weist etwa auch Theodore Schatzki hin – besteht jedoch darin, den traditionsreichen Handlungsbegriff ebenso zu kulturalisieren wie zu materialisieren: Eine Praktik bezeichnet dann eine Verhaltensroutine, die von einem impliziten Wissen abhängt, die aber zugleich material in Körpern wie in Artefakten und in deren spezifischen Ar20 | Vgl. Michel Foucault: »Das Spiel des Michel Foucault« (Gespräch mit D. Colas, A. Grosrichard et al.), in: ders./Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Dits et Ecrits. Schriften. Bd. III., Frankfurt a.M. 2003, S. 391-429; Andrea D. Bührmann/Werner Schneider: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008. 21 | Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie Bd. II, Berlin 1997, S. 124. 22 | Vgl. Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, New York 1996; Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1979; Andreas Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301.

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rangements verankert ist. Eine Praktik – wie etwa die Praktik des Schreibens – bezieht sich dann auf eine Mikroeinheit, eine Alltags- und Kulturtechnik, die aber notwendigerweise – im Beispielfall etwa im spezifisch trainierten Schreibkörper, in den Schreibwerkzeugen, Schreiborten etc. – durch materiale Einheiten getragen wird, die die Praktik ebenso ermöglichen wie einschränken. Wenn die Praktik eine einzelne Mikroaktivität bezeichnet, dann das Soziale oder die »Sozialität«, den umfassendsten Komplex solcher Strukturierungen von Kulturellem und Materiellem. Ohne Zweifel hat die Soziologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer deutlichen Engführung des Begriffs des Sozialen tendiert, der ihn auf sozio-kulturelle Formationen der Intersubjektivität, der Regel- und Normhaftigkeit oder der Kommunikation beschränkt hat. Ich würde hier Bruno Latours Vorschlag einer Öffnung des Sozialitätsbegriffs folgen, der in vieler Hinsicht eine Wieder-Öffnung darstellt, wie man sie etwa schon bei Gabriel Tarde findet.23 Diese knüpft an die Anfangsintuition des Sozialen als socius, als das Gemeinsame an, als das, was Elemente diverser Art miteinander verbindet. Es müssen dann ausdrücklich nicht allein menschliche Akteure und Sinnelemente wie etwa Zeichen sein, die an diesem Sozialitätsgeflecht partizipieren. Nicht-Menschliche Aktanten kommen vielmehr ebenso als Teilelemente des Sozialen in Frage: Architektur, Tiere, Maschinen, Pflanzen und klimatische Bedingungen, Medien- und Verkehrstechnologien, Kleidung, Kunstwerke etc. Vergleicht man unterschiedliche Sozialitätsformen wie etwa Gemeinschaften, Märkte, Netzwerke oder Hierarchien miteinander, sind diese somit immer als Kultur-Materialitäts-Kopplungen zu analysieren. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht interessieren solche Sozialitäten nur insofern, als dass zumindest auch menschliche Akteure und Sinnzusammenhänge an ihnen partizipieren. Aber nichtsdestotrotz richtet sich die Rekonstruktion von Sozialitäten nicht exklusiv auf diese Sinnzusammenhänge, sondern jenseits von Struktur-Kultur-Dualismen auf den Nexus der Sinnzusammenhänge mit den Materialitäten. Der Begriff des Kulturellen wäre dann gegenüber dem Begriff des Sozialen der engere und spezifischere und sinnvollerweise in dessen breiteren Kontext einzuordnen. Es würde sich als eine begriffshistorische Ironie, aber zugleich eine heuristisch vielversprechende Entwicklung erweisen, wenn die Materialisierung des Kulturellen am Ende dazu führte, dass der Begriff des Sozialen und der Sozialität zum neuen Brückenbegriff avancieren könnte, der den Humanwissenschaften materielle und kulturelle Elemente der Welt gleichermaßen der Analyse zugänglich macht.

23 | Vgl. B. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 30-38.

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Praktiken und ihre Affekte Zur Affektivität des Sozialen

Die Praxistheorien haben den Anspruch, einen anderen Blickwinkel auf das Soziale wie auf das menschliche Handeln zu werfen. Das intensive Interesse, das praxeologische Ansätze in den letzten zehn Jahren in den Sozialwissenschaften international auf sich gezogen haben, ist in einer weit verbreiteten Wahrnehmung des Ungenügens überkommener sozialtheoretischer Vokabulare begründet, welche die gegenwärtige empirische Forschung offenbar nur mangelhaft zu inspirieren vermögen.1 Dieses Ungenügen betrifft vor allem den Dualismus zwischen individualistischen Ansätzen, die am nutzenkalkulierenden Handlungsakt ansetzen, und holistischen Ansätzen, die von Normsystemen oder übersubjektiven Kommunikationsprozessen ausgehen. Es betrifft ebenso den Dualismus zwischen einem radikalen Kulturalismus der Diskurse und Zeichensysteme und einem Materialismus biologischer Prozesse. Bei aller Unterschiedlichkeit im Detail markiert die praxeologische Theoriefamilie in beiden Hinsichten eine Gegenposition. Zentral ist, dass der Ort des Sozialen nun in Praktiken gesucht wird, das heißt in körperlich verankerten und von einem kollektiven impliziten Wissen getragenen Verhaltensroutinen. Praktiken bezeichnen damit eine genuin soziale, »überindividuelle« Ebene und sind gleichzeitig notwendig in den Körpern von Individuen verankert und wirken durch diese hindurch. Dadurch, dass sie von impliziten Wissens1 | Vgl. nur Theodore R. Schatzki/Karin Knorr-Cetina/Eike von Savigny (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001; ders.: The Site of the Social: A Philosophical Account of the Constitution of Social Life and Change, University Park, PA 2002; Robert Schmidt: Soziologie der Praktiken: Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin 2012; Elizabeth Shove/Mika Pantzar/Matt Watson: The Dynamics of Social Practice. Everyday Life and How it Changes, Los Angelos u.a. 2012; Davide Nicolini: Practice Theory, Work, and Organization: An Introduction, Oxford 2013; Frank Hillebrandt: Soziologische Praxistheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2014; Hilmar Schäfer (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld 2016.

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schemata abhängen, sind die sozialen Praktiken immer kulturelle Praktiken. Aufgrund ihrer Verankerung in den Körpern und in den Artefakten – die im Zusammenhang der Praktik mit den Körpern auf bestimmte Weise verbunden sind – sind sie zugleich immer materielle Praktiken. Die soziale Welt setzt sich aus den ergebnisoffenen Prozessen des doings von Praktiken zusammen, die gleichzeitig durch eine mehr oder minder starke Repetitivität gekennzeichnet sind.2 Dies ist zunächst einmal natürlich eine sehr allgemeine Bestimmung. Obwohl in den letzten Jahren einige begriffliche Arbeit in die Entwicklung eines systematischeren Theorierahmens der Praxistheorie gesteckt worden ist – insbesondere die Texte von Theodore Schatzki sind hier zu nennen –, bleibt noch einiges an Begriffsarbeit zu tun, um das heuristische Potential der Praxistheorien ausschöpfen zu können.3 Wohlgemerkt: Es geht dabei nicht um ein neues »Theoriesystem Praxistheorie« als Selbstzweck, um ein Konkurrenzunternehmen zu den Theoriearchitekturen à la Parsons oder Luhmann, sondern um eine die Empirie anregende Heuristik, die bestimmte Phänomene und Zusammenhänge zuallererst sichtbar macht und ihre empirische Erforschung anregt. Ich will mich an dieser Stelle im Rahmen einer praxeologischen Perspektive mit einer speziellen Fragestellung aktueller Sozialtheorie beschäftigen, die von grundlegender Bedeutung ist: dem Ort, dem Emotionen, Gefühle und Affekte in der sozialwissenschaftlichen Analytik zukommen können. Emotionen und Affekten haben in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit der Jahrtausendwende ein besonderes Interesse auf sich gezogen: Einer gefühls- und affektvergessenen Soziologie, Geschichtswissenschaft oder Ethnologie gegenüber wird eingefordert, die konstitutive Bedeutung von Affektivität für Sozialität und Kultur zu erkennen und systematisch in die empirische Analyse einzubauen.4 Diese »Wende zu den Emotionen« lässt sich aus meiner Sicht jedoch als ein besonderes Element einer allgemeineren theoretischen Entwicklung 2 | Vgl. Andreas Reckwitz: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008. 3 | Vgl. Theodore R. Schatzki: Social Practices: A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, New York 1996; ders.: The Site of the Social; ders.: The Timespace of Human Activity: On Performance, Society, and History as Indeterminate Teleological Events, Lexington 2012. 4 | Vgl. dazu nur Monica Greco/Paul Stenner (Hg.): Emotions: A Social Science Reader, London 2008; Jennifer Harding/Deirdre Pribram (Hg.): Emotions. A Cultural Studies Reader, London 2009; in Deutschland Helena Flam: Soziologie der Emotionen. Eine Einführung, Konstanz 2002; Christian von Scheve: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt a.M./New York 2009; Ute Frevert et al.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M./New York 2011.

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der letzten fünfzehn Jahre einordnen, in der von verschiedenen Seiten die Berücksichtigung bestimmter, bisher vernachlässigter Entitäten als konstitutive Bestandteile des Sozialen eingefordert worden ist. Dies gilt für die konstitutive Bedeutung von Raum und Räumlichkeit für das Soziale, von Artefakten und Dingen, für die zentrale Bedeutung von Körpern und Körperlichkeit, schließlich für die Wiederentdeckung der Sinne und der sinnlichen Wahrnehmung.5 Diese Forderungen nach einer grundsätzlichen Blickverschiebung bezüglich des Sozialen sind nur auf den ersten Blick disparat. Was sie alle gemeinsam haben, ist, dass sie eine Refokussierung von Strukturelementen des Sozialen einfordern, die die Grenze zwischen Kulturalität und Materialität, zwischen Symbolizität und Dinglichkeit (bzw. Lebendigkeit) überschreiten. Der radikale Kulturalismus hatte – völlig zu Recht – auf der basalen sinnhaften Konstituiertheit von Räumen, Dingen, Körpern, Sinnen und Affekten bestanden, der »kulturellen Repräsentation von Räumen, Affekten etc.« und diese damit einer entsprechenden kultursoziologischen, -anthropologischen, -historischen oder literaturwissenschaftlichen Analyse erschlossen. Aber den neuen turns geht dies nicht weit genug: Anstelle einer einseitigen Kulturalisierung dieser Elemente geht es um ihre analytische Anerkennung als Struktureigenschaften des Sozialen, die materiell und kulturell zugleich sind. Angestrebt wird eine Perspektive, die den Dualismus von Kulturalismus und Materialismus sprengt.6 In diesen Zusammenhang ist die Forderung nach einem affective turn und einer Refokussierung von Affekten einzuordnen: Affekte sind materiell und kulturell zugleich – als Erregungszustände menschlicher Körper kommt ihnen eine Faktizität und Persistenz zu, gleichzeitig sind sie jedoch nur auf der Grundlage bestimmter historisch kultureller Schemata in ihrer Entstehung, Wirkung und sozialen Intelligibilität nachvollziehbar. Dieser Doppelcharakter der Affekte macht ihren Ort im Sozialen aus. Es wird an dieser Stelle deutlich, inwiefern die Integration der sozialwissenschaftlichen Affektanalyse in den Rahmen der Praxistheorie naheliegt und besonders vielversprechend erscheint: Wenn es dem affective turn um eine Überwindung des Dualismus zwischen Kulturalismus und Materialismus im Verständnis von Gefühlen geht und die Praxistheorie durch ihr spezifisches Theoriedesign sich allgemein um eine Überwindung des Kulturalismus/Materialismus-Dualismus bemüht, dann drängt sich eine praxeologische Perspektive auf Affekte auf. Mit wenigen Ausnahmen ist eine solche Verknüpfung von

5 | Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001; Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995; Chris Shilling: The Body and Social Theory, London 2003; Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. 6 | Vgl. dazu auch meinen Aufsatz »Kultur und Materialität« in diesem Band.

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Praxis- und Affektanalyse jedoch noch nicht versucht worden.7 Die Klassiker der Praxistheorie wie Bourdieu, Giddens oder de Certeau sind recht einsilbig, wenn es um Affekte geht. Der Grund hierfür scheint darin zu liegen, dass die erste Generation der Praxistheoretiker der 1970er und 80er Jahre in Anlehnung an Wittgenstein in erster Linie mit einer Überwindung des Dualismus von Individualismus und Holismus in der Sozialtheorie beschäftigt war. Das Problem der Überwindung des zweiten Dualismus, jenes zwischen Materialismus und Kulturalismus, hat sich jedoch erst seit 2000 in den Vordergrund geschoben.8 Er wird damit erst für die zweite Generation der Praxistheoretiker relevant. Dabei geht es nicht um einen weiteren turn in der Sozialtheorie, sondern um die Überführung der meisten der in den letzten Jahren angemahnten turns (beispielsweise des spatial turn, des iconic turn, des body turn) in die übergreifende Rekonfiguration der Sozialtheorie jenseits des Dualismus von Materialismus und Kulturalismus, wie sie die Theorie sozialer Praktiken betreiben kann und künftig betreiben sollte. Wie sieht nun jedoch ein genuin praxeologisches Verständnis von Affekten aus? Meine Grundposition lautet: Es kann nicht um eine bloße »Berücksichtigung« von Affekten in der Sozialtheorie gehen, sondern um die Einsicht, dass jede soziale Ordnung als Konfiguration von Praktiken zugleich und notwendig eine spezifische, affektuelle Ordnung darstellt, deren jeweilige Affektualität zu analysieren ist, will man verstehen, wie die jeweilige Praktik oder der Praktikenkomplex strukturiert ist. Es kann somit keine nicht-affektuelle soziale Ordnung geben, wohl aber ganz unterschiedliche Orientierungen und Grade der Affektualität. Was heißt dies nun genau? Ich will zunächst kurz der Frage nachgehen, aus welchen Gründen die klassische Sozialtheorie dazu neigte, diese konstitutive Bedeutung von Emotionen und Affekten für das Soziale zu marginalisieren. Anschließend geht es um eine heuristische Skizze des Verhältnisses von Praktiken und Affekten und abschließend um den besonderen Ort, den dabei Artefakte als Affektgeneratoren annehmen.

7 | Vgl. Ian Burkitt: Bodies of Thought: Embodiment, Identity, Modernity, London 1999; auch J. Harding/D. Pribram (Hg.): Emotions, S. 1-23. 8 | Für diese veränderte Problemstellung spielt sicherlich der »Latour-Effekt«, also der Schub in Richtung Artefakttheorie, den Bruno Latour international seit 2000 bewirkt hat, eine wichtige Rolle. Die Verschiebung der Problemwahrnehmung vom ersten zum zweiten Dualismus kann man im übrigen auch bei Theodore Schatzki und in der Akzentverschiebung zwischen seinen beiden Hauptwerken »Social Practices« und »Sites of the Social« beobachten.

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1. D er blinde F leck der A ffek te Was hat die Sozialtheorie so lange an der Einsicht in die grundlegende Relevanz emotionaler und affektiver Phänomene für das Soziale gehindert?9 Die Vertreter des affective oder emotional turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften gehen von der Prämisse aus, dass sich unsere Perspektive auf das Soziale grundlegend verändern muss.10 Die allgemeine Rede von den turns bedeutet dabei – hier wie in anderen Fällen – natürlich eine strategische Dramatisierung und Vereinfachung. Selbstverständlich existiert kein kohärenter Komplex der »klassischen Sozialtheorie«, den es zu überwinden gelte, sondern vielmehr ein heterogenes Konglomerat an Texten aus der Zeit vor und nach 1900, die später zum Gegenstand einer spezifischen Lesart innerhalb der MainstreamSoziologie geworden sind. Es ist offenkundig, dass gewisse Autoren der Jahrhundertwende, wie der erst kürzlich wieder in den Fokus geratene Gabriel Tarde mit seiner Soziologie der Nachahmung oder – natürlich – Sigmund Freud mit der Psychoanalyse sehr wohl Ansätze vorgelegt haben, die grundlegend die Affektivität des Sozialen anerkannten.11 Die dominante Rezeption von Weber und Durkheim über Parsons und die Modernisierungstheorie bis hin zu solch unterschiedlichen Autoren wie Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, aber auch Michel Foucault und Pierre Bourdieu ist jedoch durch ihre systematisch antiaffektive Haltung gekennzeichnet. Zur Erklärung dieser Tendenz lassen sich zwei miteinander verbundene Ursachen ausmachen: Ein Grund liegt in der weit verbreiteten, die Soziologie prägenden Identifikation des Sozialen mit normativen Ordnungen bzw. Wissensordnungen, die ein Verständnis von Affekten als ein nichtsoziales, nichtkulturelles Phänomen zur Folge hatte, das im Wesentlichen in den Körpern von Individuen zu situieren ist. Eine weitere Ursache besteht darin, dass die Moderne mit formaler Rationalität und einer entsprechenden Überwindung von Affekten gleichgesetzt worden ist. Der erste Grund für die antiaffektive Haltung großer Teile klassischer und zeitgenössischer Sozialtheorie ist in der gängigen Identifikation des Sozialen mit der intersubjektiven Gültigkeit und Kraft normativer Regeln begründet. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist die Sozialtheorie fundamental von einem 9 | Vgl. dazu auch Andreas Reckwitz: »Affektive Räume: Eine praxeologische Perspektive«, in: Elisabeth Mixa/Patrick Vogl (Hg.), E-motions. Transformationsprozesse in der Gegenwartskultur, Wien/Berlin 2012, S. 23-44. 10 | Vgl. Patricia Ticineto Clough/Jean Halley (Hg.): The Affective Turn: Theorizing the Social, Durham, NC 2007. 11 | Vgl. Christian Borch/Urs Stäheli (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens: Materialien zu Gabriel Tarde, Frankfurt a.M. 2009; Anthony Elliott: Social Theory and Psychoanalysis in Transition: Self and Society from Freud to Kristeva, Oxford 1992.

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Dualismus zwischen dem Sozialen und dem Individuum bzw. dem Sozialen und dem Natürlichen/Biologischen geprägt.12 Diese beiden Dichotomien finden sich gewöhnlich in Kombination mit einem dritten, noch abstrakteren Dualismus, der die Unterscheidung zwischen Rationalität und Irrationalität betrifft. So haben die klassischen Sozialwissenschaften zwar Phänomene wie Emotionen oder Affekte nicht vollständig übersehen, aber sie haben diese am jeweils zweiten Pol der drei Differenzen lokalisiert, mit dem stets auch eine geringere Wertigkeit verbunden war. Dadurch wurden Emotionen als Eigenschaften des Individuums, die von soziologischer Generalisierung ausgeschlossen sind, und/oder als natürliche, biologische Strukturen und Triebe und damit als Eigenschaften vorsozialer Körper aufgefasst. In beiden Fällen erscheinen sie als das Andere der Rationalität, der Regelmäßigkeit und Kalkulierbarkeit, mit der die normative Ordnung der Sozialität identifiziert worden ist. Selbstverständlich blieb diese Perspektive nicht unwidersprochen. Die Identifikation der klassischen Sozialtheorie mit einer Theorie normativer Ordnungen geht auf die einflussreiche Interpretation und Systematisierung durch Talcott Parsons zurück.13 Es existierten jedoch bereits von Beginn an gegenläufige Tendenzen; die späten Arbeiten Émile Durkheims, die in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt worden sind, sind hier besonders hervorzuheben. In Die elementaren Formen des religiösen Lebens arbeitet er im Verweis auf Mechanismen innerhalb kleiner Religionsgemeinschaften heraus, dass emotionale Bindungen nicht außerhalb des Sozialen stehen, sondern vielmehr einen stabilisierenden Effekt auf soziale Integration haben.14 Durkheim ist dabei jedoch skeptisch, ob sich diese emotionalen Aspekte sozialer Bindungen in modernen Gesellschaften reproduzieren lassen.15 Bemerkenswerterweise hat die umfassende paradigmatische Verschiebung innerhalb der Sozialwissenschaften seit den 1970er Jahren, die als cultural, interpretative oder textual turn bezeichnet worden ist, zunächst nicht zu einer Veränderung der antiaffektiven Haltung geführt. Strukturalismus, Poststrukturalismus und Sozialkonstruktivismus haben das Verständnis des Sozialen transformiert, indem sie an die prominente Stelle normativer Ordnungen semiotische und diskursive Strukturen sowie Wissensregime gerückt haben. Das Paradigma des Sozialen bildet nun nicht mehr die Religion oder das Recht, sondern die Sprache: Das Soziale muss analog zur Sprache begriffen 12 | Vgl. Steven Lukes: Emile Durkheim: His Life and Work. A Historical and Critical Study, London 1988. 13 | Vgl. Talcott Parsons: The Structure of Social Action, New York 1968. 14 | Vgl. Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981. 15 | Vgl. Chris Shilling: »The Two Traditions in the Sociology of Emotion«, in: John Barbalet (Hg.), Emotions and Sociology, Oxford 2002, S. 10-32.

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werden. Dabei scheinen nun aber Affekte als körperliche Erregungszustände außerhalb des sprachlich gefassten Sozialen zu stehen. Daher werden bei kulturtheoretischen Klassikern wie Foucault oder Bourdieu Emotionen nurmehr am Rande sichtbar. Wenn Emotionen in kulturalistischen Ansätzen überhaupt Berücksichtigung finden, dann als Gegenstände spezifischer Diskurse, als sprachlich konstruierte Phänomene. Diese Diskursivierung von Emotionen, wie sie etwa vom Sozialkonstruktivismus der 1980er Jahre vertreten wird, hat damit die sozialkulturelle Repräsentation von Emotionen der sozialwissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht, bleibt jedoch innerhalb des Dualismus von Kulturalismus und Materialismus gefangen.16 Die zweite Ursache, die dazu geführt hat, dass sich die Sozialtheorien lange Zeit in einer Marginalisierung von Affekten und Emotionen eingerichtet haben, ist in der soziologisch dominierenden Perspektive auf die Moderne zu suchen. Derart unterschiedliche Autoren wie Marx, Weber, Adorno, Parsons, Foucault oder Bourdieu teilen letztendlich – sei es affirmativ oder kritisch – die Position, dass die moderne Gesellschaft im Kern durch formale Rationalisierung gekennzeichnet ist. Die Rationalisierung des Handelns und der sozialen Sphären verdränge nun jedoch in der Moderne zunehmend sämtliche affektiven Aspekte des Handelns. Diese scheinen dagegen vormoderne oder traditionale Gesellschaften zu kennzeichnen, die eher dem Naturpol zugerechnet werden. Auf diese Weise wird mit dem Dualismus zwischen modernen und traditionalen Gesellschaften auch ein Gegensatz zwischen der vorgeblichen Abwesenheit bzw. der Intensität von Affekten in unterschiedlichen Stadien der Gesellschaftsentwicklung behauptet. Norbert Elias’ einschlägige Theorie des Zivilisationsprozesses ist in ihrer Beschreibung der modernen Gesellschaftsentwicklung als einer zunehmenden Affektkontrolle für diese Interpretation paradigmatisch.17 Die klassische Sozialtheorie geht somit von der Prämisse aus, dass moderne Sozialität durch »Affektneutralität« charakterisiert ist (so der Begriff in Parsons’ Modernisierungstheorie): Emotionen seien in den differenzierten Handlungssphären der Moderne größtenteils neutralisiert. Bei vielen Autoren von Weber bis Habermas ist diese vorgebliche Affektneutralität der modernen Gesellschaft grundsätzlich mit einer positiven Wertung verknüpft: Einer rationalistischen Gegenüberstellung von aufgeklärtem Verstand und bloßem Gefühl folgend (die sich natürlich vor dem Hintergrund der Lehre der Geschlechtercharaktere des 19. Jahrhunderts auch auf der Ebene der beiden »gender«-Formen abbilden lässt), erscheint die Verdrängung der riskanten Emotionen fortschrittlich. Das negative Abziehbild dieser Emotionsskepsis bildet eine latente 16 | Vgl. Rom Harré (Hg.): The Social Construction of Emotions, Oxford 1986. 17 | Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1976.

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oder manifeste Affektzelebrierung – etwa im Umkreis des Collège de Sociologie der Zwischenkriegszeit –, die der Moderne gerade ihre vorgebliche Emotionsverdrängung vorrechnet und post-rousseauistisch auf eine Wiederkehr der individuellen und kollektiven Gefühle (der Sinne, des Körpers etc.) hofft.18 Der fundamentale Dualismus zwischen dem Sozialen und dem Biologischen bzw. Individuellen sowie die These, dass die Moderne durch – wohlwollende oder problematische – Affektneutralität gekennzeichnet ist, bilden damit den doppelten Grund für die konzeptuelle Leerstelle, die Affekte und Emotionen aus der sozialtheoretischen Perspektive ausschließt. Das Affektive wird vielmehr in den Bereichen des Individuellen, Biologisch-Körperlichen oder der vormodernen Gesellschaften lokalisiert. Es scheint das konstitutive Außen der affektneutralen modernen Sozialität zu bilden.

2. P r a xeologie der A ffek te Einer praxeologischen Perspektive auf das Affektive geht es weder um eine Kritik an den Affekten noch um eine Zelebrierung der Affekte. Die Affekte lassen sich gesellschaftlich nicht verdrängen. Sie sind – ob bedrohlich oder »gutmütig« –​schlichtweg ein konstitutiver Bestandteil des Sozialen und werden in der Sozialität fortwährend produziert. Die Diagnose einer affektneutralen Sozialität in der Moderne ist damit einer fundamentalen Fehleinschätzung aufgesessen: Die Affekte mögen in manchen institutionellen Komplexen der Moderne anders modelliert worden sein, sie sind aber nicht verschwunden. Die praxeologische Grundposition jenseits von Kulturalismus und Materialismus lautet: Jede soziale Ordnung im Sinne eines Arrangements von Praktiken ist auf ihre Weise eine affektuelle Ordnung, jede soziale Praktik ist auf ihre Weise affektuell gestimmt und hat insofern eine affektive Dimension in sich eingebaut.19 Was ist damit das Besondere der praxeologischen Perspektive auf Affekte? Ich will das praxeologische Verständnis von Affekten in drei Grundsätzen umreißen: Affekte sind nicht subjektiv, sondern sozial. Sie sind keine Eigenschaft, sondern eine Aktivität. Sie bezeichnen körperliche Lust-Unlust-Erregungen, die auf Bestimmtes (Subjekte, Objekte, Vorstellungen) gerichtet sind. Zentral für das praxeologische Verständnis ist ein Perspektivenwechsel: Affekte werden nun nicht – wie es klassischerweise die Begriffe der »Emotion« oder des »Gefühls« suggerieren – einem Individuum gewissermaßen als eine innere Eigenschaft zugeschrieben, die nur der Introspektion zugänglich ist. 18 | Vgl. Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge: Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), Konstanz 2006. 19 | Vgl. auch Robert Seyfert: Das Leben der Institutionen: Zu einer Allgemeinen Theorie der Institutionalisierung, Weilerswist 2011.

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Sie müssen vielmehr den sozialen Praktiken selbst zugerechnet werden. Es ist die jeweilige soziale Praktik, zu der eine spezifische affektuelle »Gestimmtheit« gehört.20 Sobald das Individuum kompetent eine solche Praktik trägt und es sich von ihr tragen lässt, inkorporiert und realisiert es auch deren Gestimmtheit: nicht die Individuen haben Gefühle, sondern die Praktiken sind affektiv strukturiert. Die individualistische Alltagssprache verunklart diesen Zusammenhang. Wenn sich beispielsweise ein Individuum zu Beginn des 21. Jahrhunderts in ein anderes verliebt, so handelt es sich nur scheinbar um ein individuelles Gefühl (oder gar um eine anthropologische Grundkonstante), sondern darum, dass es sich in den Praktikenkomplex der Liebe einordnet und von ihm formen lässt, so wie er sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der westlichen Kultur ausgebildet hat. »Liebe« ist ein Set von Verhaltensroutinen, das von hochspezifischen kulturellen Schemata (Einzigartigkeit des Anderen, Faszination durch dessen scheinbar banale Eigenschaften etc.) abhängt und in das ein eigentümliches Set von Affekten eingesetzt ist: das Begehren nach dem Körper des Anderen, die Sehnsucht nach dem Anderen, falls er nicht anwesend ist, der existenzielle Schmerz, wenn die Liebe nicht (mehr) erwidert wird etc. Es versteht sich, dass diese Verhaltensroutinen eng mit diskursiven Praktiken und Diskursfeldern verknüpft sind – etwa der Lektüre bestimmter Romane oder das Betrachten bestimmter Spielfilme –, in denen die Codes und Affekte des Liebens öffentlich und zur Nachahmung repräsentiert werden. Es wird so deutlich, inwiefern die affektive Praktik des sich Verliebens kulturell und materiell zugleich ist: Kulturell ist sie, indem sie von den genannten historisch-lokal hochspezifischen Wissensschemata abhängt, vor deren Hintergrund die Individuen im Rahmen dieser Praktik auf eine bestimmte Weise denken, fühlen, sich erinnern etc. Der Affekt muss kulturell sein, denn er ist schließlich an bestimmten Entitäten in der Welt ausgerichtet, Elemente, die erst im Rahmen eines bestimmten Interpretationssystems zu solchen begehrenswerten oder abstoßenden Elementen werden. Materiell ist die Praktik wiederum, indem die Affekte innerhalb der Praktik, sobald sie hervorgebracht worden sind, eine Realität als Erregungszustand in den Körpern erlangen, eine Realität, die sich beispielsweise in bestimmten sogar messbaren körperlichen Reaktionen manifestiert oder in der subjektiven Faktizität eines leiblichen Fühlens, über die sich der Einzelne nicht ohne besondere Anstrengung hinwegsetzen kann. Das Sich-Verlieben ist, wenn es einmal stattgefunden hat, dergestalt ein körperliches »Faktum«, dem man seine kulturelle Genese nicht mehr ansieht. Die affektive Struktur einer Praktik sprengt damit auch jeden Innen-Außen-Dualismus21, die Affekte sind gewissermaßen innen und außen 20 | Hier lässt sich ein Bezug zu Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986 herstellen. 21 | Vgl. auch I. Burkitt: Bodies of Thought.

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zugleich: »außen« im Sinne sozial intelligibler Emotionszeichen, »innen« im Sinne eines subjektiven Erregungszustandes des Körpers.22 Nun ist die Affektivität des Praktikenkomplexes »Liebe« offensichtlich. Bei genauerer Betrachtung stellen sich jedoch alle Praktiken als auf eine bestimmte Weise affektiv gestimmt heraus – auch die vermeintlich affektneutralen. Wissenschaftliche Praktiken im Rahmen des modernen Feldes der Natur- oder Geisteswissenschaften beispielsweise sind bei näherer Analyse nicht ohne eine Affektstruktur der Neugierde und des zugewandten Interesses am Zusammenhang der Dinge zu denken. In ökonomische Praktiken im Rahmen der modernen Marktvergesellschaftung gehen affektive Orientierungen wie die am »Sieg« innerhalb eines Wettbewerbs oder der »Schaffensfreude« kreativer Arbeit ein. Die Frage stellt sich, warum diese Affektivität in den sozialen Praktiken nicht nur in Sonderfällen, sondern allgemein prägend wirkt. Hier sind vor allem zwei Struktureigenschaften von Praktiken zu nennen, die die Anwesenheit von Affekten erfordern: die Motiviertheit zu der Praktik und die Lenkung der Aufmerksamkeit. Soziale Praktiken »interpellieren« das Subjekt auf eine bestimmte Weise. Aber aus welchem Grund lässt sich dieses überhaupt »anrufen« und partizipiert an der Praktik?23 Die Antwort lautet: die Praktik muss in sich eine spezifische Motivation enthalten, sie zu vollziehen. Wiederum tritt nicht das Individuum mit seiner eigenen Motivation an die Praktik heran, vielmehr ist die Motivation integraler Bestandteil der Praktik selbst. Der Begriff der Motivation ist also zu entpsychologisieren und zu praxeologisieren. Genau hier kommen Affekte ins Spiel: Es muss ein affektiver Reiz existieren, an der Praktik teilzunehmen. Die Praktik muss eine solche Struktur des affektiven Reizes in sich eingebaut haben. Dabei kann es sich um einen offensiven Lustreiz oder aber um einen defensiven Unlustvermeidungsreiz handeln, möglicherweise auch um beide miteinander kombiniert: Intrinsische Kreativarbeit in der Spätmoderne hantiert charakteristischerweise mit einer eingebauten Motivation zur lustvollen Kreation. Die Arbeit von Leibeigenen wird eher von der Motivation einer Angst vor körperlicher Züchtigung im Falle des Zuwiderhandelns angetrieben sein: diese Angst läuft beständig in der Aktivität mit. So wie jede Praktik eine spezifische motivationale Struktur in sich eingebaut haben muss, so muss sie auch die Aufmerksamkeit der sinnlichen 22 | Anders als bei Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1994 ist Liebe also mehr als eine bestimmte Kommunikationsform (die sie freilich auch ist). Systemtheoretisch gesprochen: sie ist eine bestimmte Kopplung von sozialen, psychischen und organischen Systemen. Und nur in dieser Kopplung kann auch die Bedeutung der Affekte – über Affektdiskurse hinaus – deutlich werden. 23 | Vgl. hierzu – etwas anders formuliert – auch Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M. 2001.

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Wahrnehmung auf eine bestimmte Weise organisieren. Die prinzipiell fluide Aufmerksamkeit der menschlichen Wahrnehmungsapparatur wird in einer Praktik auf bestimmte Phänomene gelenkt, die für sie relevant sind, und von anderen abgelenkt, die irrelevant erscheinen und gar nicht bemerkt werden. Jede Praktik strukturiert die sinnlich-perzeptive Wahrnehmung in bestimmter Weise, sowohl die Art und Weise wie wahrgenommen wird, als auch das, was wahrgenommen wird, das heißt, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet. Diese Aufmerksamkeitsfokussierung ist jedoch keine rein kognitive, affektneutrale Angelegenheit, sie ist mit Affekten verwoben und hängt von Affekten ab: In wissenschaftlichen Praktiken mag es das neugierige Interesse für Zusammenhänge sein, das die Aufmerksamkeit leitet, in bestimmten Körperpraktiken kann die Scham im Verhältnis zur eigenen »Unreinheit« den Blick der Aufmerksamkeit lenken.24 Verallgemeinert kann man feststellen: In den Fokus der Aufmerksamkeit gerät das, was mit starken positiven oder negativen Affekten verbunden ist, während Elemente von schwacher affektiver Validität nach Art eines »weißen Rauschens« jenseits der perzeptiven Aufmerksamkeit verbleiben. Die affektive Struktur einer Praktik wird somit nicht nur motivational, sondern auch aufmerksamkeitslenkend. Es wird deutlich, dass in einem praxeologischen Verständnis Affekte nicht als feste Eigenschaft eines Individuums oder als Besitz verstanden werden können (»ein Gefühl haben«), sondern eine dynamische Aktivität darstellen: In einer Praktik lassen sich Subjekte von anderen Subjekten, Dingen oder Vorstellungen in bestimmter Weise »affizieren«. Affektivität bezeichnet damit immer eine Relation zwischen verschiedenen Einheiten. Genau dies ist auch der Grund, warum ich den Begriff des Affektes dem der Emotion vorziehe. Auch wenn der Affektbegriff seine Nachteile haben mag – »Affekt« könnte eine spontane, vorkulturelle Kraft suggerieren –, so erscheint der Emotionsbegriff noch nachteiliger, indem er suggeriert, das Individuum »habe« eine Emotion. Dem Affektbegriff hingegen entspricht ein Verb, das einen Prozess beschreibt: eben den des Affizierens und Affiziertwerdens.25 Damit muss die Frage immer lauten: Wer wird hier durch wen oder was affiziert? Die Affektivität einer Praktik umfasst spezifische Lust- oder Unlusterregungen in den beteiligten Körpern, die sich im Zusammenhang mit der Wahrnehmung oder Vorstellung ergeben, die sich an bestimmte Subjekte oder Objekte heftet. Diese Entitäten werden innerhalb der Praktik typischerweise auf eine bestimmte Art und Weise interpretiert und können damit zu »Auslösern« für Lust- oder Unlustempfindun24 | Vgl. Luc Ciompi: Die emotionalen Grundlagen des Denkens: Entwurf einer fraktalen Affektlogik, Göttingen 1997. 25 | Vgl. auch Michaela Ott: Affizierung. Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur, München 2010, im Hintergrund Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin 1997.

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gen werden. Ein Affekt ist also immer sinnhaft gerichtet, im phänomenologischen Sinne »intentional«, indem er bestimmte Elemente als begehrenswert, ekelhaft etc. deutet. Für Individuen außerhalb der fraglichen Praktik sind die entsprechenden Objekte hingegen Auslöser von ganz anderen Erregungszuständen oder erscheinen irrelevant. Eine basale Fähigkeit zu Lust- und Unlustreaktion wird man als grundsätzliche Eigenschaft des menschlichen Körpers nach der Geburt sicherlich voraussetzen müssen. Aber in welche Richtungen diese Lust oder Unlust tendiert, wie sie sich spezifisch ausformt, ist eine Frage der sozialen Praktiken und ihrer impliziten Wissensordnung. Luc Ciompi schlägt vor, von fünf Basisgefühlen – Lust/Freude, Neugier/Interesse, Angst, Wut, Trauer und Ekel – auszugehen.26 Statt diese als anthropologische Grundkonstanten vorauszusetzen, sollte man sie eher als einen heuristischen Katalog der Praktiken- und Affektanalyse verstehen: Die Praktiken und ihre Affekte können in verschiedenen Formen und Färbungen Lust und Freude befeuern, Neugier und Interesse erregen, Gefühle von Angst, Verzweiflung und Panik hervorrufen, Niedergeschlagenheit bewirken oder Ekel erregen – und häufig unterschiedliche solcher Elemente miteinander verschränken. In der neueren Debatte haben insbesondere post-deleuzianische Autoren wie Brian Massumi den Begriff des Affektes dem der Emotion vorgezogen, da man den Affekten eine disruptive Kraft zuschreiben kann, die kulturelle Routinisierungen durchbricht.27 Wo bleibt nun innerhalb des praxeologischen Analyserahmens dieses disruptive Element? Die Theorie sozialer Praktiken geht zunächst einmal genau vom Gegenteil aus: davon, dass Praktiken soziale Ordnungen konstituieren und insofern von einer Struktur der sozialen Reproduktion und Wiederholung getragen werden. Allerdings enthalten sie gleichzeitig immer auch das Potential von Neuartigem, Überraschendem und Experimentellem das im Einzelfall durchaus noch in die jeweilige Praktik »hineinpasst« oder diese bereits hinter sich lässt. Affekte sind also im praxeologischen Verständnis zunächst einmal keineswegs notwendig anarchisch und disruptiv, sondern zu großen Teilen Bestandteile von routinisierten, kulturell standardisierten Praktikenkomplexen. Aber: Immer ist es möglich, dass aus sozialen Praktiken heraus und vor ihrem Hintergrund sich neue und andersartige Affizierungen ergeben, die die Normalität der Praktik sprengen. Tatsächlich sind diese nicht-routinisierten Affizierungen keine seltenen Sonderfälle, sondern unabweisbarer Bestandteil von Sozialität. Eine solche nichtroutinisierte Affizierung kann sich auf der Ebene des Individuums ergeben – so dass etwa eine Idiosynkrasie entsteht, die von außen in manchen Fällen auch als Psychopathologie erscheinen kann (etwa eine sehr individuelle Phobie oder ein individuel26 | Vgl. L. Ciompi: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. 27 | Vgl. Brian Massumi: Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation, Durham, NC 2002.

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ler Fetischismus) – oder aber auf der Ebene von Kollektiven, in deren Rahmen spontane Erregungen (zum Beispiel lustvoller oder panischer Art) stattfinden können. Immer stellt sich die Frage, ob die singuläre Affizierung, die nicht in die bisherige soziale Ordnung passt, langfristig selbst strukturbildend wirkt oder aber nach einmaligem »Auf blitzen« sofort wieder verschwindet. In einer praxeologischen Perspektive auf Affekte kann auch den Affektdiskursen der ihnen gebührende Platz eingeräumt werden. Im Rahmen des sozial- und kulturwissenschaftlichen Interesses an den Emotionen, vor allem auch der Kulturgeschichte der Emotionen, ist die diskursive Thematisierung von Gefühlen seit den 1970er Jahren intensiv behandelt worden: Gefühle erscheinen hier gewissermaßen »kulturell konstruiert«.28 Wie bereits ausgeführt, muss ein solcher diskurstheoretischer Reduktionismus jedoch zu kurz greifen: Er tendiert dazu, Gefühle mit der Semantik der Gefühle in eins zu setzen und somit die körperliche Faktizität der Affekte zu negieren. Die praxeologische Perspektive schließt nun eine Diskursanalyse von Emotionen und Affekten keineswegs aus, hebt sie aber im umfassenderen Rahmen einer Analyse von Praxis-/Diskursformationen auf: Wenn man die Wirkung von Affekten, die in historisch spezifischen Diskursen geformt werden, nachzeichnen will, genügt es nicht, diese Diskurse isoliert zu betrachten, vielmehr muss es analytisch um den Nexus von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken gehen.29 Insbesondere in der Moderne ist es zweifellos häufig der Fall, dass Affekte nicht unbedingt implizit und tradiert in sozialen Praktiken vorhanden sind, sondern dass diese Affekte in diskursiven Praktiken über eine entsprechende Thematisierung oder Problematisierung verstärkt oder abgeschwächt, diskriminiert oder erst »in die Welt gesetzt werden«. Diese diskursiven Praktiken existieren jedoch von vornherein vernetzt mit nicht-diskursiven Praktiken, so dass die Affekte zwischen beiden Komponenten der Praxis oszillieren und so auch von den Körpern interiorisiert werden und dort ihre Faktizität entfalten. Diskursive Praktiken lassen sich in diesem Zusammenhang als Praktiken der Repräsentation verstehen, in denen – medientechnologisch gestützt – Gegenstände der Welt dargestellt, imaginiert und bewertet werden. Diese Praktiken der Repräsentation sind – je nach Kontext – an bestimmte andere Praktiken gekoppelt, ihre Inhalte werden dorthin »übersetzt« (im Sinne Latours), zum Beispiel der Diskurs der Psychologie in eine therapeutische Praxis. Der bereits genannte moderne Liebesdiskurs – in der Belletristik, im Film, aber auch in der populären wie wissenschaftlichen psychologischen Literatur – und seine Kopplung an bestimmte mating-and-dating-, Sexualitäts- und Partnerschafts-

28 | Vgl. R. Harré (Hg.): The Social Construction of Emotions. 29 | Vgl. zum Thema der Praxis-/Diskursformationen insgesamt auch meinen Beitrag »Praktiken und Diskurse. Zur Logik von Praxis-/Diskursformationen« in diesem Band.

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praktiken ist vielleicht das beste Beispiel für die Relevanz eines Affektdiskurses im Rahmen einer ganzen affektiven Praxis-/Diskursformation. Die affektiven Orientierungen, die in sozialen Praktiken – und in ganzen Praxis-/Diskursformationen – institutiert werden, können sich sinnhaft auf unterschiedliche Entitäten richten, wobei sich im Wesentlichen drei verschiedene Typen von Affektobjekten differenzieren lassen: Subjekte, Dinge und Vorstellungen. In jenen Fällen, in denen die Soziologie sich näher empirisch mit Emotionen beschäftigt hat – etwa in den interaktionssoziologischen Arbeiten von Erving Goffman oder Arlie Hochschild –,30 hat sie sich auf intersubjektive Emotionen konzentriert, d.h. auf Emotionen, die an andere Subjekte adressiert sind: Neid, Zuneigung, Hass etc. Sicherlich sind affektive Orientierungen, die sich auf – anwesende oder als anwesend vorgestellte – Subjekte richten, für viele soziale Praktiken kennzeichnend. Anstelle von einzelnen Subjekten kann sich der Affekt auch auf eine ganze – anwesende oder als anwesend vorgestellte – Gruppe richten, eine Arbeitsbelegschaft, eine Menge im Fußballstadium, eine ethnische Gemeinschaft. Allerdings können sich affektive Orientierungen statt an Subjekte auch an »reine« Vorstellungen heften, z.B. an transzendente Entitäten, etwa im Falle religiöser Praktiken, oder an abstrakte Einheiten (die Abneigung gegenüber »dem System«, das Vertrauen in »den Markt«). Vor allem aber haben die Relationen zwischen Subjekten und nichtmenschlichen dinglichen Objekten eine enorme und im Rahmen eines soziologischen Intersubjektivismus regelmäßig unterschätzte Bedeutung für die soziale Praxis und ihre affektiven Orientierungen.31 In eine Praktik eingebaute Objekte sind häufig nicht affektneutral, sondern hochgradig negativ oder – in der Moderne mehr noch – positiv aufgeladen: die Sorgfalt im Umgang mit einem Werkzeug, die glamouröse Faszination, die von einem Kleidungsstück ausgeht, die Furcht oder die Begeisterung, die sich bei der Bewegung innerhalb einer Metropole einstellt. Es erscheint zentral für einen angemessenen Bezugsrahmen zur Analyse von Affekten, gegen einen soziologisch immer noch prominenten Intersubjektivismus diese »interobjektive« Dimension des sozialen Affiziertwerdens im Blick zu behalten. Innerhalb der Sphäre der Artefakte lassen sich nun zwei besondere Konstellationen hervorheben, die vor allem im Rahmen der Moderne als ausgeprägte Affektgeneratoren wirken: räumliche Atmosphären und reflexive symbolisch-imaginäre Artefakte.

30 | Vgl. Erving Goffman: Relations in Public: Microstudies of the Public Order, New York 1971; Arlie Russell Hochschild: The Managed Heart: Commercialization of Human Feeling, Berkeley 1983. 31 | Vgl. dazu auch Karin Knorr-Cetina: »Objectual Practice«, in: Theodore R. Schatzki/ Karin Knorr-Cetina/Eike von Savigny (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, London 2001, S. 175-88.

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3. A rtefak te als A ffek tgener atoren Im Prinzip kann jedes Artefakt in seiner Verwendung im Rahmen einer Praktik zu einem Träger von positiven oder negativen Affekten werden. Die historisch ältesten Praktiken sind in dieser Hinsicht der Umgang mit Waffen bei Jägern und Sammlern und der bäuerliche Umgang mit Feldwerkzeugen nach der neolithischen Revolution sowie jener der Handwerker mit ihren Werkzeugen. Abstrahiert kann man hier von einem »Werkzeug-Paradigma« der Artefakte sprechen – das selbst bei Bruno Latour und seinen ANT-spezifischen Fallbeispielen der Türöffner und Sicherheitsgurte spürbar ist –, das heißt einer Verwendung von Dingen in einem praktischen Kontext, in dem sie zweckrational zu etwas dienen und dabei auch mit bestimmten Affekten verbunden sein können.32 Neben dieses Werkzeug-Paradigma der Dinge tritt jedoch in der kulturhistorischen Entwicklung zunehmend, und in der Moderne im besonderen Maße, eine andere Affektstruktur der Dinge: die der Dinge als primäre Affektgeneratoren, zu denen sie innerhalb von anders strukturierten, häufig ästhetisch orientierten Praktiken werden.33 In dieser Konstellation sind die Dinge zu dem Zwecke hergestellt, dass sie die Subjekte affizieren sollen, so dass sie in ihrer Benutzung durch die Subjekte als solche Affektgeneratoren wirken (sei es entsprechend der Intentionen der Produzenten oder nicht). Man kann hier von einem »Kult-Paradigma« der Dinge sprechen: Wie in einem archaischen Kult kommt es nicht so sehr darauf an, mit den Dingen praktisch zu hantieren, sondern sich von ihnen faszinieren oder abstoßen zu lassen.34 In der Moderne – aber auch schon in früheren Hochkulturen – sind für diesen Charakter von Artefakten als Affektgeneratoren vor allem zwei Konstellationen wirkungsmächtig: räumliche Atmosphären und semiotisch-imaginäre Artefakte. Im Falle räumlicher Atmosphären ist nicht das einzelne Ding von Bedeutung, sondern die dreidimensionale Situierung von Dingen, die auf diese Weise relational einen Raum bilden.35 Dieser Raum wiederum wird von den Subjekten nicht lediglich »benutzt«, sondern man tritt in ihn ein und erfährt ihn auf eine bestimmte Weise. Selbstverständlich sind auch Räume für bestimmte Zwecke gestaltet (Wohnungen, Büros etc.), aber ihr holistisch-dreidimensio32 | Vgl. Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996. 33 | Vgl. dazu auch Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012. 34 | Vgl. ähnlich auch Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur: Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006. 35 | Vgl. zu diesem Zusammenhang auch meinen Aufsatz »Affective Spaces. A Praxeological Outlook«, in: Rethinking History 16 (2012), S. 241-258.

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naler Charakter befähigt sie in besonderer Weise dazu, das zu produzieren, was Gernot Böhme in Anlehnung an den Phänomenologen Hermann Schmitz »Atmosphären« nennt.36 Das Subjekt wird affiziert durch diese Atmosphäre, die sich aus der relationalen Situierung von Artefakten – im übrigen auch von anderen Subjekten, Gruppen oder auch Praktiken – ergibt. Auch die Erfahrung der Atmosphäre ist freilich eine Praktik, die der Inkorporierung entsprechender kultureller Schemata und ihrer sinnlichen Sensibilitäten auf Seiten des Subjekts bedarf: Artefakte können erst im Rahmen von Praktiken und den in ihnen zum Einsatz kommenden kulturellen Schemata zu Affektgeneratoren werden. Für hochkulturelle und moderne Gesellschaften ist die Architektur, d.h. der gebaute Raum im weitesten Sinne, der nicht nur Gebäude, sondern auch Innenarchitektur, Verkehrswege, gestaltete Natur oder öffentliche Plätze umfasst, ein herausgehobener Ort für die Gestaltung von Atmosphären und damit für die Produktion und Rezeption von Affekten im Rahmen sozialer Praktiken.37 In der Architektur tritt die Rolle von Artefakten als Affektgeneratoren in den Vordergrund: Als Atmosphärenstifter wirkt die Architektur affizierend in der Weise, dass sie etwa Ehrfurcht und Bewunderung, ein Gefühl der Erholung oder der Anregung etc. induziert. Dies gilt für Kathedralen wie für Paläste, für Gartenanlagen wie für Einkaufspassagen, für Kreativbüros wie für Erlebnisparks, für Privathäuser wie für Museen, für öffentliche Plätze wie für Bibliotheken. Wenn die moderne, insbesondere die spätmoderne Gesellschaft gerade keine sich affektneutral rationalisierende Gesellschaft ist, sondern im Gegenteil massiv die Affekte anregt, dann kommt in ihr der Atmosphärengestaltung, insbesondere des gebauten Raums, eine Schlüsselbedeutung zu.38 Hier liegt eine Klasse von Praktiken vor, die man »reflexiv affektiv« nennen kann: Die Praktik geht mit Artefakten um, die von vornherein für einen primär affektiven Gebrauch produziert wurden. Diese Rezeptionspraktiken sind daher mit entsprechenden Produktionspraktiken verbunden, in denen Artefakte, hier: Räume mit dem Ziel produziert und gestaltet werden, dass sie auf bestimmte Weise affizierend wirken. Die zweite Klasse von Artefakten, die reflexiv affektiv strukturiert und die für die affektive Dichte der modernen Gesellschaft in hohem Grade verantwortlich ist, umfasst die semiotisch-imaginären Artefakte. Auch ein einfaches Artefakt nach Art des Werkzeug-Paradigmas ist selbstverständlich ein Träger 36 | Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M. 2000; vgl. Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2009. 37 | Vgl. Heike Delitz: Architektursoziologie, Bielefeld 2011; Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, München 2013. 38 | Vgl. auch Nigel Thrift: Non-Representational Theory: Space, Politics, Affect, London 2007.

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von Zeichen und möglicherweise von Imaginationen und kann auf diese Weise affizierend wirken. Aber die semiotisch-imaginären Artefakte im engeren Sinne sind Dinge, die primär dazu produziert wurden, Zeichen und Imaginationen zu transportieren und darin affizierend zu wirken. In Frage kommen dabei in der Moderne in erster Linie schriftliche Texte, Bilder und akustische Signale wie die der Musik sowie Kombinationen dieser drei. Darüber hinaus können aber etwa auch Körperaccessoires wie die der Bekleidungsmode den Charakter semiotisch-imaginärer Artefakte erlangen.39 Natürlich gilt auch hier wie im Falle der Architektur: Texte, Bilder, akustische Signale oder andere Artefakte können auch eine primär zweckrationale Rolle spielen, indem sie etwa als Träger von Informationen fungieren und als Affekt in die zweite Reihe treten. Aber für das Verständnis der Affektivität der Moderne ist es zentral, dass diese Formate in beträchtlichem Ausmaß als Affektgeneratoren eingesetzt wurden und werden. Texte werden hier verfertigt, um in den Lesern entsprechende Affekte hervorzurufen – dies gilt für belletristische Literatur wie für politische Texte, ja auch für manche philosophische oder (populär-)wissenschaftliche Texte, die Identifikation oder Lebensveränderung bewirken wollen.40 Noch eindeutiger gilt dies für Bilder, in Form von Gemälden, Fotografien oder Filmen – gleich ob es um Affekte der Faszination für bestimmte Subjektformen, um Mitleid für diskriminierte soziale Gruppen oder um das Training in einer bestimmten Gefühlspraktik wie die der Liebe geht.41 Tonsequenzen der Musik bilden schließlich ein Affekt-Artefakt par excellence: Hier ist die Informationsfunktion in der Regel minimal und es geht ganz um die Produktion von Stimmungen beim Hörer oder auch Tänzer.42 Auch im Falle semiotisch-imaginärer Artefakte sind wiederum Rezeptionsund Produktionspraktiken aufeinander verwiesen: In den Produktionspraktiken geht es darum, die Texte, Bilder und akustischen Signale so zu gestalten, dass sie affizierend zu wirken vermögen, in den Rezeptionspraktiken darum, sich von ihnen affizieren zu lassen. An dieser Stelle lassen sich in interessanter Weise affektrelevante Praxis-/ Diskursformationen und symbolisch-imaginäre Affektgeneratoren zueinander in Beziehung setzen. Als symbolisch-imaginäre Affektgeneratoren sind Arte39 | Vgl. dazu Bonnie English: A Cultural History of Fashion in the Twentieth Century. From the Catwalk to the Sidewalk, Oxford/New York 2007. 40 | Vgl. exemplarisch Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, München 2003. 41 | Vgl. Stuart Hall: »The Spectacle of the ›Other‹«, in: ders. (Hg.), Representations. Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, S. 223-279; Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a.M. 2002; Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture, London u.a. 1999. 42 | Vgl. Jonathan Sterne (Hg.): The Sound Studies Reader, London/New York 2012.

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fakte wie Bilder, Texte, Musik (oder auch die Bekleidungsmode etc.) zunächst einmal keine Diskurse, sondern in nicht-diskursive Praktiken eingelassen, in deren Rahmen sie entsprechende Affekte hervorrufen. Diese Affektgeneratoren auf der Bild- oder Textebene können aber gleichzeitig in komplexe diskursive Zusammenhänge eingebunden sein – auch solche die historisch weit zurückreichen –, in denen, bestimmten »Formationsregeln« folgend, Affekte auf bestimmte Weise repräsentiert werden. Vereinfacht gesagt: Als Artefaktgenerator fungiert ein Bild, wenn es in einer bestimmten Praxis affektiv »wirkt«, als Teil eines Bilddiskurses hingegen »repräsentiert« es primär bestimmte Affekte. Der Film Gone with the Wind ist im Verhältnis zu seinem Publikum ein massiver Affektgenerator der Sentimentalität und partizipiert zugleich an einem komplexen sentimentalischen Hollywoodfilm-Bilddiskurs.43 Der besondere Stellenwert, den man den räumlichen Atmosphären der Architektur und den semiotisch-imaginären Artefakten für eine Analyse der Affektivität von Praktiken zuschreiben kann, ist sozialtheoretisch und gesellschaftstheoretisch gleichermaßen begründet: Sozialtheoretisch lassen sich Praktiken im Allgemeinen und ihre affektive Dimension im Besonderen nur informativ analysieren, wenn man sie als Praktiken mit Dingen begreift. Jenseits dieser allgemeinen Aussage muss die praxeologische Soziologie jedoch ein differenzierteres Verständnis von Dingen über das »Werkzeug-Paradigma« hinaus entwickeln. Gesellschaftstheoretisch ist die Struktur der Affektivität jener Komplexe von Praktiken, die die moderne Gesellschaft, zumal die spätmoderne Gesellschaft bilden, nur erfassbar, wenn man hier einen weitreichenden Prozess der Ästhetisierung am Werk sieht.44 Im Rahmen dieses modernen Ästhetisierungsprozesses wird der besondere Stellenwert von architektonischen Atmosphären und semiotisch-imaginären Artefakten sichtbar. Eine praxeologisch informierte Affektkartografie der Moderne wird sich damit in erheblichem Maße diesen beiden Komplexen widmen.

43 | Zugleich müssen affektrelevante Diskurse selbst keinesfalls zwangsläufig Affektgeneratoren sein. Fachpsychologische Texte beispielsweise thematisieren Affekte auf äußerst einflussreiche Weise, ohne dass der psychologische Text den Leser spezifisch »affizieren« müsste. 44 | Vgl. dazu auch meinen Text »Ästhetik und Gesellschaft. Ein analytischer Bezugsrahmen« in diesem Band.

Zukunftspraktiken Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft

Die Faszination für die Zukunft, für eine innerweltliche Zukunft, markiert in der Moderne selbst eine kurze, außergewöhnliche Episode. 1793, kurz nach der Französischen Revolution, präsentiert Condorcet in seinem Esquisse d’un tableau historique des progres de l’esprit humain die Zukunft der Menschheit als einen weiteren Schritt zu ihrer Vervollkommnung, als kommende Etappe eines Marsches, dessen bisherige Schritte das markieren, was man nun als »Geschichte« versteht.1 Der Zukunft entspricht eine andere Gesellschaft, eine »Zukunftsgesellschaft«, wie sie einige Jahrzehnte später Saint-Simon als industrielle Gesellschaft und Charles Fourier als sozialistische Gesellschaft, eine Gesellschaft von neu gegründeten Genossenschaftsgemeinschaften, scharf ins Visier nehmen.2 Die Verquickung von Zukunftsimagination und Fortschrittssemantik wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Allgemeinplatz, nicht zuletzt in der sozialdemokratischen Bewegung. Populär wird sie auch durch fiktionale Bearbeitungen, so in Edward Bellamys Weltbestseller Looking Backward 2000-1887 von 1888.3 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts – das schon in seinem Namen die Hoffnung auf einen weiteren entscheidenden Schritt in der humanen Entwicklung enthält – wird die Imagination einer Zukunftsgesellschaft immer mehr technologisch ausstaffiert. Die technische Revolution liefert ihr Grundskelett, eine 1 | Marie Jean Antoine de Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progres de l’esprit humain, Paris 1988 [1793]; vgl. auch Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979; zu diesem Thema insgesamt Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999. 2 | Vgl. Francois Dagognet: Trois philosophies revisitées: Saint-Simon, Proudhon, Fourier, Hildesheim/Zürich 1997. 3 | Edward Bellamy: Looking Backward: 2000-1887, Cambridge 1967; vgl. etwa auch Eugen Richter: Sozialdemokratische Zukunftsbilder. Frei nach Bebel, Berlin 1891.

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Technizität, die scheinbar gegenüber der Form des Gesellschaftssystems neutral ist und deren Technikoptimismus sich in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg noch bis in die Futurologien und ihre Szenarien einer scheinbar unbegrenzten Steigerung des Lebensstandards hinein verlängert.4 Allerdings: Schon Ende des 19. Jahrhunderts konkurriert die Hoffnung auf die Zukunftsgesellschaft mit katastrophischen Szenarien, exemplarisch in H.G. Wells Roman The Time Machine oder später in Fritz Langs Film Metropolis.5 Und für den soziologischen Diskurs des 20. Jahrhunderts sind die das Erbe der Geschichtsphilosophie aufnehmenden Modernisierungstheorien genauso kennzeichnend wie die Krisendiagnosen der Moderne seit Durkheim und Weber. Wenn man sich ganz grundsätzlich mit der Frage beschäftigen will, welche Rolle die Zukunft für eine Theorie der modernen Gesellschaft und – noch allgemeiner – für eine sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse des Sozialen insgesamt, auch in Gesellschaftstypen vor der Moderne, spielt, stellt sich diese enge Verquickung von Zukunft mit Assoziationen einer Zukunftsgesellschaft und ihre Kopplung an die Fortschrittssemantik als in hohem Maße hinderlich, weil extrem verengend dar. Sie verstellt den Blick für die heterogenen sozialen und kulturellen Umgangsweisen mit dem Zukünftigen. Die Frage nach der Rolle des Zukünftigen in der Sozialwelt lässt sich nur in einem größeren Rahmen stellen: nämlich dem nach der Zeitstruktur von Sozialität. Diese Frage nach der Zeitlichkeit – die das Problem des Zukünftigen von vornherein enthält – ist allerdings seit Aristoteles’ Behandlung dieses Themas in seinen Vorlesungen über die Physik ein durchgängiges Thema der westlichen Philosophie,6 das von dort aus auch sehr viel später seine Wirkungen auf die Begriffsbildung in den Sozial- und Kulturwissenschaften der Moderne ausgeübt hat. Ich will im Folgenden an der Diskussion von Zeitlichkeit im sozialwissenschaftlichen und dem eng benachbarten sozialphilosophischen Kontext ansetzen und von der Frage ausgehen: Was hat die Sozialwissenschaften lange Zeit daran gehindert, ein angemessenes Verständnis der Zeitlichkeit des Sozialen insgesamt und der Zeitlichkeit der Moderne im Besonderen zu entfalten? Es ist der problematische Dualismus zwischen einem Objektivismus und einem Subjektivismus der Zeit, der hier den Blick verstellt hat. Es muss also um ein alternatives sozialtheoretisches Vokabular von Zeitlichkeit gehen, das anschließend zum Thema werden soll. Mein Vorschlag geht in die Richtung eines praxeologischen Verständnisses von Zeit, das mit der heuristischen Dreier-Unterscheidung zwischen der Zeitlichkeit als Grundbedingung von sozialer Praxis 4 | Vgl. Ossip Kurt Flechtheim: Futurologie. Der Kampf um die Zukunft, Köln 1970. 5 | H.G. Wells: The Time Maschine, New York 2009 [1895]; Fritz Lang, Metropolis, 1927. 6 | Dazu auch Gernot Böhme: Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt a.M. 1974.

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insgesamt, der Zeitlichkeit einzelner sozialer Praktiken und Zeitpraktiken im engeren Sinne arbeitet. Vor diesem Hintergrund kann ich von der Sozialtheorie zur Gesellschaftstheorie übergehen und auf die problematische Fixierung der Zeitsoziologie der Moderne auf die Rationalisierung der Zeit und ihre Identifizierung von Zukunftsbearbeitung mit Zukunftsplanung eingehen, die letztlich noch im objektivistischen Zeitverständnis verankert ist. Gerade in der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft lassen sich vielmehr alternative Zeitregime ausmachen, die über dieses Planungsmodell der Zukunftsbearbeitung hinausgehen.

1. D er O bjek tivismus und der S ubjek tivismus der Z eit In welchem theoretischen Rahmen wurden in den Sozial- und Humanwissenschaften Zeit und Zeitlichkeit und in diesem Kontext auch die Frage nach der Zukunft bisher behandelt? Inwiefern führte diese Entwicklung zu problematischen Ergebnissen, und wie hat man versucht, diese hinter sich zu lassen? Die zentrale Schwierigkeit der Sozialwissenschaften im Umgang mit der Zeit ist darin zu suchen, dass die wichtigsten Sozialtheorien Zeit im Sinne eines neutralen Rahmens für jegliche soziale Aktivitäten schlichtweg als objektiv gegeben vorausgesetzt haben. Die Zeit im Sinne der Kalenderzeit scheint den unbeweglichen Hintergrund für menschliches Handeln zu bilden, eine zunächst natürlich gegebene und in einem zweiten Schritt über bestimmte gesellschaftliche Konventionen wie die Zählung von Jahren im christlichen Kalender gliederbare Struktur, mit deren Hilfe sich der Anfangs- und Endpunkt sozialer Entwicklungen markieren lässt. Man kann hier von einem objektivistischen Zeitverständnis sprechen und eine bezeichnende Parallele zum gängigen Verständnis eines anderen, gleichsam benachbarten Phänomens ausmachen, nämlich dem des Raums. In der neueren raumtheoretischen Diskussion ist häufig bemerkt worden, dass das moderne Denken lange Zeit zu einem objektivistischen Raumverständnis neigte, das man plastisch als ein »Containermodell des Raumes« umschreiben kann: Menschliche Handlungen spielen sich demnach im Raum ab, aber der Raum bildet eine Art vorsozialen neutralen Behälter für dieses Handeln.7 Wendet man die Metapher auf das objektivistische Zeitverständnis an, dann kann man von der Zeit nach Art eines beweglichen Containers sprechen, der den neutralen Hintergrund für das in ihm ablaufende Geschehen zu bilden scheint. Die entscheidende Weichenstellung zugunsten dieses objektivistischen Zeitbegriffs lässt sich beim gleichen Autor ausmachen, der auch den objektivistischen Raumbegriff auf den Weg gebracht hat: bei Isaac Newton, der nicht 7 | Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001.

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nur das naturwissenschaftliche Denken, sondern auch das moderne CommonSense-Verständnis von Zeit maßgeblich beeinflusst hat. Newton hat in seinen Principia von 1687 weniger ein ontologisches als ein methodologisches Interesse:8 Zeit wird von ihm als ein Maß eingeführt, das dazu dient, die Bewegungen von Körpern nachprüfbar zu registrieren und diese damit vergleichen zu können. Zeit existiert hier also als eine Quantität, als etwas, was sich messen und zählen lässt. Sie lässt sich in Ziffern ausdrücken, sie ist nicht relativ, sondern fixiert und kann gewissermaßen in räumliche Strecken – Sekunden, Minuten, Tage, Jahre – aufgeteilt werden. Dieses objektivistische, ursprünglich naturwissenschaftliche Zeitverständnis liefert auch für die moderne Historiografie einen scheinbar selbstverständlichen Hintergrund. Und für die Sozialwissenschaften, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ausbilden, hat es zur Folge, dass Zeit erst dann wirklich relevant wird, wenn sie mit sozialem Wandel identifiziert wird, mit der Transformation von Strukturen in der Zeit – die Stabilität von Strukturen scheint dann gewissermaßen zeitlos, der Zeit enthoben zu sein.9 Sicherlich lässt sich auch vor dem Hintergrund des objektivistischen Zeitverständnisses, das in der Moderne Teil der sozialen Realität mit ihren ubiquitären Zeitmessungen selbst geworden ist, eine bestimmte Form sozialwissenschaftlicher Zeitanalyse betreiben. So werden in der sogenannten »Zeitbudgetforschung« die Aktivitäten unterschieden, die von den Akteuren oder sozialen Gruppen in bestimmten objektiven Zeitabschnitten vollzogen werden – etwa der Anteil von Arbeit und Freizeit – und man kann auch Beschleunigungsprozesse messen, das heißt eine quantitative Zunahme von Ereignissen in einem bestimmten Zeitraum.10 Aber das objektivistische Zeitverständnis vermag es nicht, den sozialen und kulturellen Charakter von Zeitlichkeit selbst zu begreifen. Es gibt eine diametral entgegengesetzte Alternative zum objektivistischen oder absolutistischen Zeitverständnis, das für die Sozial- und Kulturwissenschaftler wesentlich interessanter ist: ein Subjektivismus der Zeit, wie er bahnbrechend von Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft formuliert wurde und dabei auf philosophische Vorgänger wie Aristoteles und Augustinus zurückgreifen kann.11 Zeit bezeichnet hier keinen objektiven Rahmen, der in der Welt vorhanden ist, sondern eine Kategorie des Bewusstseins, eine reine Form der Anschauung. Zeit hängt ab von einem hier im transzenden8 | Vgl. Barbara Adam: Time and Social Theory, Cambridge 1990, S. 48ff. 9 | Vgl. Anthony Giddens: Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, London 1979. 10 | Vgl. zur Zeitbudgetforschung Manfred Garhammer: Wie Europäer ihre Zeit nutzen. Zeitstrukturen und Zeitkulturen im Zeichen der Globalisierung, Berlin 1999; John Robinson/Geoffrey Godbey: Time for Life. The Surprising Ways Americans Use Their Time, University Park 1999. 11 | Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1989.

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talen Subjekt verankerten subjektiven Zeitbewusstsein. Nun ist Zeit bei Kant eine universale Formalstruktur, aber sein Grundgedanke lässt sich leicht soziologisieren. Diese Soziologisierung findet sich in einflussreicher Weise beim Kantianer Emile Durkheim:12 Zeit in ihren jeweiligen Formen ist dann eine soziale Kategorie, das heißt ein kognitives Schema der Zeit, das von einer bestimmten sozialen Gruppe geteilt wird – so wie andere soziale Gruppen, etwa andere Gesellschaften, andere Zeitschemata entwickeln. Hier kann nun auch die Zukunft ins Spiel kommen: Soziale Gruppen können im Rahmen ihres Zeitverständnisses auch eine bestimmte Vorstellung von Zukunft entwickeln, eine spezifische Zukunftssemantik gewissermaßen. Das subjektivistische mündet dann in ein kulturalistisches Zeitverständnis, in dem es jenseits der Verengungen der Bewusstseinsphilosophie um kulturelle Repräsentationssysteme der Zeit geht, wie sie sich in Diskursen diverser Art finden. Ganz ohne Zweifel bietet das subjektivistische und kulturalistische Zeitverständnis der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung einen dankbaren Ausgangspunkt für eine Analyse dessen, was man Zeitwahrnehmung nennen kann. Aber auch der Subjektivismus der Zeit allein bleibt letztlich unbefriedigend. Denn die sozialen Vorstellungen von der Zeit erreichen immer noch nicht die Sozialität der Zeit selbst und damit auch nicht die Formen der Zukünftigkeit, die in diese Sozialität eingebaut sind. Theoriehistorisch hat sich jedoch aus der subjektivistischen Zeitphilosophie selbst im Laufe des 20. Jahrhunderts ein dritter Weg zwischen Subjektivismus und Objektivismus herausgeschält. Hier kann man einen Pfad in Richtung eines praxeologischen Zeitbegriffs rekonstruieren, wie ich ihn vertreten will. Husserl, Bergson, Whitehead, Mead und Heidegger sind die wichtigsten Theoretiker, die Schritt für Schritt diesen Weg der Entsubjektivierung des Subjektivismus gegangen sind. Der erste Schritt dieser Entwicklung lautet, dass Zeit nicht nur durch das Bewusstsein, also als Kategorie des Bewusstseins existiert, sondern dass das Bewusstsein selbst zeitlich ist: Das Bewusstsein ist keine Struktur (die dann etwa Kategorien des Zeitlichen, Räumlichen und so weiter in sich versammelt), sondern ein Prozess; es hat seine eigene Zeitstruktur oder besser: im Strom des Bewusstseins strukturiert sich jeweils Zeit in einer bestimmten Weise. Diese radikale Temporalisierung des Bewusstseins betreibt Edmund Husserl, für den das Bewusstsein ein Erlebnisstrom ist, eine Sequenz von intentionalen, auf die Welt gerichteten Erlebnissen.13 Diese Erlebnisse in ihrem jeweiligen Jetzt enthalten dabei in Husserls Darstellung immer 12 | Vgl. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981. 13 | Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Husserliana IV, Den Haag 1952.


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Retentionen des Vergangenen und Protentionen des Zukünftigen. Das jeweilige gegenwärtige Erleben konstituiert sich also immer in der Relationierung zum Vergangenen und zum Zukünftigen. Protentionen begreift Husserl hier als Erwartungsintentionen. Wenn wir von der Temporalisierung des Bewusstseins ausgehen, gehen wir damit, Husserl folgend, immer schon von der Aktivität des Inbeziehungsetzens von Gegenwärtigem, Vergangenem und Zukünftigem aus. Husserls klassisches Beispiel ist hier das Musikhören, bei dem man die Melodie eben erst dann hört, wenn man nicht nur den einzelnen Ton fokussiert, sondern diesen immer im Lichte der Retentionen und Protentionen wahrnimmt. Henri Bergsons Lebensphilosophie befindet sich in der Nachbarschaft zu Husserls Phänomenologie der subjektiven Zeit, indem er diese als eine qualitative Dauer des Bewusstseinsstroms bestimmt.14 Zeit wird bei Husserl und Bergson also als eine Operation begriffen, als eine strukturierte Prozessualität. Die Einheit, die dort prozessual gedacht wird, ist allerdings weiterhin das Bewusstsein. Dies ändert sich jedoch bei Whitehead, Mead und Heidegger: Für Whitehead haben auch natürliche Einheiten wie Organismen ihre jeweilige, eigene Temporalität.15 George Herbert Mead, der in mancher Hinsicht von Whitehead beeinflusst ist, deutet in The Philosophy of the Present ein handlungstheoretisches Verständnis von Zeitlichkeit an, indem Handlungen, die emergierend aneinander in der Interaktion zwischen mehreren Subjekten anschließen, ihre eigene zeitliche Struktur bilden.16 Es ist hier nicht erst das Bewusstsein der Subjekte, sondern die Handlungssequenz selbst, die ihre eigene Zeitstruktur hat, inklusive ihrer spezifischen Vergangenheiten und Zukünfte. Heidegger schließlich baut in Sein und Zeit eine ganze Ontologie und Existenzphilosophie auf der Zeitlichkeit des Daseins auf:17 Dieses Dasein ist nicht mehr das bloße Bewusstsein, sondern die Handlungspraxis des Subjekts, die in der menschlichen Existenz unweigerlich Beginn und Ende hat. Die Zeitlichkeit des Daseins ist nach Heidegger nicht nur in dem spezifischen Dasein des Menschen als ein Sein zum Tode fundiert. Auch die alltägliche »Sorge«, das heißt die mundane Aktivität, ist insofern immer zeitlich, dass sie eine »sich-vorweg« Struktur hat, das heißt sich in die Zukunft hinein entwirft, und zugleich durch ein »schon-sein-in« charakterisiert ist, das heißt, unweigerlich einen Bezug auf das vergangene Dasein hat, aus dem heraus sie entsteht. Bei Mead und Heidegger wird die Zeitlichkeit und Zukünftigkeit damit zumindest in gewisser Weise auf die Praxis bezogen, auf die soziale bzw. 14 | Vgl. Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Frankfurt a.M. 1989. 15 | Vgl. Alfred N. Whitehead: Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a.M. 1987. 16 | George Herbert Mead: Philosophy of the Present, Chicago 1980. 17 | Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1986.

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mundane Praxis. Der letzte Schritt einer endgültigen Soziologisierung der Zeitlichkeit findet sich dann bei Niklas Luhmann und Anthony Giddens. Für Luhmann ist Kommunikation – für ihn ja der Ort des Sozialen – nur temporalisiert, als Sequenz kommunikativer Ereignisse, die aneinander anschließen, denkbar.18 Und bei Giddens sind es die sozialen Praktiken, deren Kernstruktur die der zeitlichen Reproduktion und Wiederholung darstellen, die aber zugleich – man denke an Derridas différance19 – immer auch das Potential zu neuen und überraschenden Handlungspraktiken enthalten.20 Ich verzichte an dieser Stelle, näher auf Luhmann, Derrida und Giddens einzugehen, sondern will stattdessen skizzieren, wie – in mancher Hinsicht im Anschluss an diese drei Autoren – aus meiner Sicht eine praxistheoretische oder praxeologische Theorie des Sozialen ein spezifisches Bild von Zeitlichkeit und Zukünftigkeit zu entwickeln vermag, das für die empirische Forschung Anschlussmöglichkeiten bietet.

2. E ine pr a xeologische P erspek tive auf die Z eit : Z eitlichkeit der P r a xis – Z eitlichkeit von P r ak tiken – Z eitpr ak tiken Theorien sozialer Praktiken oder Praxistheorien haben sich in den Sozialwissenschaften der letzten zehn Jahre als eine heuristisch fruchtbare Alternative zu klassischen Handlungs- und Systemtheorien entwickelt. Wittgenstein ist ein wichtiger philosophischer Referenzautor, Pierre Bourdieu und Anthony Giddens haben sie am systematischsten sozialtheoretisch entwickelt, Theodore Schatzki sozialphilosophisch. Es existieren auch Verbindungen zu einer Theorie der Performativität und zu Latours Artefakttheorie.21 Es ergibt sich hier bisher weniger ein striktes Theoriesystem als ein lose gewebtes Theorienetzwerk, das für die empirische Forschung in verschiedenen sozial- und kul18 | Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984. 19 | Vgl. Jacques Derrida: »Die différance«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S. 31-56. 20 | Vgl. A. Giddens: Central Problems in Social Theory. 21 | Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1979; Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt a.M./New York 1988; Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996; Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007.

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turwissenschaftlichen Disziplinen vielfältige Anschlussmöglichkeiten bereithält.22 Der Ausgangspunkt der Praxeologie besteht zunächst darin, weder an intentionalen Handlungsakten noch an sozialen Strukturen und Regeln anzusetzen, sondern als kleinste Einheit der Sozialtheorie etwas anzunehmen, was von vornherein strukturierte Aktivität und damit Handeln und Struktur zugleich ist: die soziale Praxis bzw. die sozialen Praktiken. Die Sozialwelt besteht aus einem Netzwerk heterogener, miteinander enger oder loser verbundener Praktiken. Eine Praktik lässt sich als ein Typus von Aktivitäten verstehen: Praktiken des Sprechens und des Handwerkens, des Ackerbaus und des Reflektierens, des Fernsehens, der Aktenablage oder des Erinnerns. Eine Praktik bildet mit Schatzki einen »nexus of doings and sayings«. Praktiken, in diesem Sinne verstanden, haben zwei zentrale Kennzeichen: zum einen werden sie zusammengehalten und »organisiert« durch ein bestimmtes implizites Wissen, zum anderen haben sie materiale Träger, nämlich menschliche Akteure als körperlich-mentale Einheiten und Artefakte, die an den Praktiken partizipieren. Eine Praktik wird zu einer solchen dadurch, dass sie eine bestimmte mehr oder weniger komplexe Wissensordnung enthält, ein Know-how-Wissen, bestimmte interpretative Schemata, auch typisierte Wünsche und Emotionen und einen bestimmten Einsatz der sinnlichen Wahrnehmung. Praktiken werden notwendig von menschlichen Akteuren getragen, aber Akteure nicht im Sinne intentionaler Subjekte, sondern als körperlich-mentale Einheiten, die das fragliche implizite Wissen mit Bourdieu gesprochen »inkorporiert« und interiorisiert haben. Zugleich bilden Artefakte notwendige Bestandteile der jeweiligen Praktik. Praktiken sind in diesem Verständnis immer kulturelle Praktiken, indem sie spezifische kulturelle Ordnungen des Wissens enthalten. Sie sind immer materiale Praktiken, indem sie in zwei Sorten von Materialität, menschlichen Körpern und Dingen, verankert sind. Und sie sind immer soziale Praktiken, insofern sie über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg, das heißt an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten, getragen von diversen Individuen immer wieder in ähnlicher Form hervorgebracht werden. Die praxeologische Perspektive setzt damit nicht an den handelnden Subjekten an, sie betreibt vielmehr ihre eigene Version einer Dezentrierung des Subjekts: Die sozialen Praktiken bedienen sich gewissermaßen der Subjekte, ihres Körpers und ihres Geistes, die auf eine bestimmte Weise mit Foucault gesprochen »subjektiviert« werden. Natürlich existieren in einer Gesellschaft einzelne Praktiken nicht unverbunden nebeneinander, sondern bilden jene Makroeinheiten, die man aus 22 | Vgl. auch Andreas Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282-301.

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der soziologischen Grundbegrifflichkeit kennt: Institutionen, Lebensformen, Funktionssysteme, Subkulturen etc. Entscheidend ist, dass diese Makroentitäten praxeologisch reformuliert werden: Eine Institution wird dann beispielsweise nicht mehr primär als ein System formaler Regeln interpretiert, sondern als ein Komplex spezifischer, miteinander verbundener und aufeinander verweisender Praktiken, inklusive ihrer Formen impliziten Wissens, ihrer Subjektivierungen der Körper und ihrer partizipierenden Artefakte. Diese sind bei der Institutionenanalyse zu rekonstruieren: das doing institution. Genau diese Wende zum doing, zu der beständigen Produktion der jeweiligen Einheit – doing gender, doing race, doing class und so weiter – ist es, die die Praxeologie charakterisiert. Inwiefern ergibt sich in einem solchen praxeologischen Theorierahmen nun ein spezifisches Verständnis von Zeitlichkeit und auch der Zukünftigkeit des Sozialen? Aus praxeologischer Perspektive lässt sich die Zeitlichkeit des Sozialen auf drei Ebenen ausmachen: auf der der Zeitlichkeit sozialer Praxis generell, auf jener der Zeitlichkeit der einzelnen sozialen Praktik bzw. der Komplexe von Praktiken und schließlich auf jener der »Zeitpraktiken« im engeren Sinne. Die erste Ebene ist gewissermaßen eine sozialontologische, wie man sie bei Heidegger findet und sich von dort aus sozialtheoretisch weiterentwickeln lässt: Die soziale Praxis – verstanden hier als das Insgesamt der Praktiken – ist selbst ganz generell immer schon zeitlich. Auch wenn das Soziale suggeriert, es existiere in Form von Regeln oder Strukturen quasi-zeitenthoben, lässt es sich nur begreifen als eine Sequenz von Ereignissen, als eine Sequenz von körperlichen Akten, die mit bestimmten Interpretations- und Wahrnehmungsakten verbunden sind und auch die Mobilisierung dinglicher Artefakte einschließen können. Eine sogenannte soziale Ordnung lässt sich dann letztlich dechiffrieren als den Prozess einer sozialen Reproduktion oder Wiederholung, das heißt als Versuch, bereits vergangene Akte zu imitieren. Soziale Ordnung bildet sich in einer Sequenz einander imitierender Ereignisse. Die Routinisiertheit der sozialen Praxis lässt sich als eine solche Wiederholungssequenz denken, in der »immer wieder« auf bestimmte Weise agiert wird. Dieses »immer wieder« ist zugleich jedoch ein »immer wieder neu«, in dem Sinne, dass der Akt einmalig ist und nie eine vollständige Kopie des Vergangenen bilden kann, sondern mal mehr, mal weniger bedeutsame Abweichungen, Irritationen und Innovationen enthält. Die Zeitlichkeit der sozialen Praxis ist somit analog zu dem zu denken, was Husserl und Heidegger unter Zeitlichkeit des Bewusstseins bzw. des Daseins verstanden: Im Jetzt des Akts in diesem Moment wird immer auf vergangene Akte rückverwiesen, sie werden gewissermaßen in der Praxis »erinnert« (was keineswegs Erinnerungsrepräsentation im Bewusstsein der Akteure voraussetzt), zugleich wird immer auf Künftiges vorverwiesen, auf die zwangsläufige Fortsetzung der Praxis im nächsten Mo-

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ment oder in eine weitere Zukunft. Es gibt insofern nie einen isolierten, gegenwärtigen Akt körperlich-mentaler-artefaktförmiger Aktivität, dieser markiert vielmehr zwangsläufig immer einen zurück- und vorverweisenden Punkt in der Sequenz des beständigen Flusses sozialer Praxis. Diese ganz grundsätzliche Zeitlichkeit sozialer Praxis ermöglicht es, Ordnung und Wandel des Sozialen nicht mehr als diametrale Gegensätze zu begreifen, sondern als Pole innerhalb eines Kontinuums der beständigen »immer wieder«-Reproduktion und der »immer neu«-Innovation der sozialen Praxis. Es ist vor diesem allgemeinen Hintergrund der Zeitlichkeit sozialer Praxis insgesamt, dass die spezifischere Zeitlichkeit der einzelnen sozialen Praktik und ihrer Komplexe sichtbar wird und zum Gegenstand detaillierter sozial- und kulturwissenschaftlicher Analysen werden kann. Jede einzelne soziale Praktik enthält ihre eigene hochspezifische temporale Strukturierung und damit auch ihre hochspezifische Verweisstruktur zwischen Gegenwärtigem, Vergangenem und Zukünftigem. Diese Zeitlichkeit einer sozialen Praktik kann sehr unterschiedlich ausfallen und ist nur in der empirischen Analyse zugänglich. Nehmen wir beispielsweise Praktiken des Kochens, dann wird deutlich, dass diese ihren ganz spezifischen zeitlichen Rhythmus haben, in dem zum Beispiel Zutaten vorbereitet werden, diese roh bleiben oder gekocht oder gebraten werden, was seinerseits Zeit braucht; verschiedene Gänge müssen möglicherweise synchronisiert werden, bis am Ende alles zu einem bestimmten sozialen Anlass serviert werden kann. Die Zeitstruktur des Kochens ist in jedem Moment der Nahrungszubereitung präsent – es wird auf vergangene Schritte zurückgegriffen, auf das Schneiden der Lebensmittel, auf ihren Einkauf etc., zugleich werden kommende Schritte antizipiert. Insofern hat die Praktik der Nahrungszubereitung ihren jeweils eigenen Zukunftshorizont – der Punkt, an dem etwas gar ist, der Punkt, wenn etwas warm oder kalt wird, der Punkt, wenn die Gäste ankommen etc. Nehmen wir als zweite Praktik die des Schreibens eines Buches. Auch diese Praktik organisiert ihre eigene Zeitlichkeit. Auch hier lässt sich ein eigener Rhythmus und ein eigener Bezug auf Vergangenes und Zukünftiges ausmachen: ein Prozess der Materialsuche in der Bibliothek und der Verarbeitung des Materials, der Ideensammlung »nebenbei« und der Ausarbeitung eines Arguments folgt ein Prozess des Schreibens am Computer, der mehrmaligen Überarbeitung des Manuskripts etc. Ein Unterschied zum Kochen besteht hier etwa darin, dass die einzelnen Schritte durchaus reversibel sind: Ist das Fleisch angebrannt, ist es nicht mehr zu gebrauchen – das Manuskript hingegen kann in der Zukunft überarbeitet werden, was es eher verbessern wird. Es ist mir wichtig zu betonen, dass es wirklich die soziale Praktik ist, die ihre Zeit strukturiert: Diese Strukturierung lässt sich nicht auf das Zeitbewusstsein von Individuen zurückführen und auch nicht auf bestimmte kulturelle Zeitkategorien reduzieren, sondern allein auf der emergenten Ebene der Praktik lokalisieren.

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Nun hat nicht nur eine einzelne soziale Praktik ihre jeweils eigene Zeitstruktur und ihren spezifischen Zukunftshorizont. Auch ganze Komplexe von aufeinander abgestimmten Praktiken entwickeln unweigerlich eine solche eigene Zeit- und Zukunftsstruktur. Hier ist es sinnvoll, zwei verschiedene Typen solcher makrosozialen Komplexe von Praktiken voneinander zu unterscheiden: zum einen das, was man soziale Felder nennen kann, zum anderen kollektive Lebensformen. Mit sozialen Feldern meine ich spezialisierte institutionelle Komplexe, deren Praktiken der Sache nach aufeinander abgestimmt sind. Mit Lebensformen sind demgegenüber jene Praktiken gemeint, die miteinander sinnhaft koordiniert jeweils die gesamte Alltags- und Lebenszeit von Subjekten füllen. Vom Subjekt her betrachtet ist dieses in der Regel Trägerin von Praktiken unterschiedlichster sozialer Felder, aber zugleich nur einer einzigen Lebensform. Soziale Felder sind in der Gesellschaft in der Regel funktional differenziert, Lebensformen hingegen stratifikatorisch oder segmentär differenziert. Soziale Felder und ihre Subfelder als Praktikenkomplexe entwickeln nun ihre jeweils eigene Zeitlichkeit: Die Produktion und der Verkauf einer Ware in einem kapitalistischen Betrieb und im Rahmen einer globalen Marktwirtschaft insgesamt, die Verabschiedung und Durchsetzung von Gesetzen in einer parlamentarischen Demokratie und ein solches politisches System insgesamt strukturieren sich so nach ihrem je eigenen Rhythmus. Auch die Zukunftsorientierung von Praktiken, die auf die Erzielung eines monetären Gewinns durch nachgefragte Güter ausgerichtet sind, unterscheidet sich von jener, die auf die Realisierung eines politischen Programms und den Erfolg bei Wahlen ausgerichtet ist. Für die Zeitstruktur, in die sich eine Lebensform gliedert, ist hingegen charakteristisch, dass Praktiken ganz unterschiedlicher Art miteinander nicht nur sinnhaft, sondern auch temporal koordiniert werden, zum Beispiel Arbeitspraktiken, familiäre Praktiken und Freizeitpraktiken. Darüber hinaus betreiben Lebensformen auch eine spezifische Organisation des Lebenslaufs und der Biografie ihrer Träger: etwa die der modernen »Normalbiografie«, die das Ergreifen eines Berufs und die Gründung einer Familie in der Postadoleszenz als irreversible »Entscheidungen fürs Leben« erwartet. Auch hier ergeben sich damit charakteristische Zukunftshorizonte der Lebensform selbst, die nicht auf das Bewusstsein subjektiver Lebenszeit der Mitglieder reduzierbar sind und die im Übrigen auch künftige Generationen in einer Familiengenealogie einschließen können. Allerdings gibt es natürlich einen Nexus zwischen Praktiken und Subjekten: Die Zeitlichkeit von Praktikenkomplexen ist eng mit korrespondierenden Subjektvierungsformen verbunden, die das Individuum in einem entsprechenden »Zeitsinn« trainieren, etwa einen bestimmten Sinn für biografische Risiken, für die Auswahl des »richtigen Moments« etc., die etwa im Bürgertum ganz anders orientiert sein können als in einem traditionellen agrarischen Milieu.

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Jede Praktik und jeder Praktikenkomplex organisiert damit ihre und seine eigene Zeitlichkeit und damit auch Zukünftigkeit, die sozial- und kulturwissenschaftlich auf diese Weise in den Blick geraten und rekonstruiert werden kann. Jede Praktik enthält also ihre spezifische Zeitlichkeit. Es macht jedoch Sinn, einen Spezialfall zu unterscheiden: Die Zeitpraktiken im engeren Sinne. Mit Zeitpraktiken im engeren Sinne meine ich Praktiken, die über die jede Praktik eigene Organisation von Zeitlichkeit hinaus darauf fokussiert und spezialisiert sind, die Zeit zu organisieren. Eine einfache Zeitpraktik wäre etwa das Führen eines Terminkalenders oder in anderer Weise das Schreiben eines Tagebuches. Komplexe Zeitpraktiken sind typischerweise entweder auf die Vergangenheit oder die Zukunft hin ausgerichtet: Vergangenheitspraktiken sind etwa biografisches Erzählen, die Auswertung von Archiven oder das Feiern von Jahrestagen. Zukunftspraktiken sind Praktiken, in denen es um die Imagination, Kalkulation oder Planung von Zukunft geht, ob nun in Praktiken des Wahrsagens, der Kalkulation von Risiken bestimmter Entscheidungen, die wissenschaftliche Vorhersage bestimmter Entwicklungen, das biografische Tagträumen oder die Entwicklung alternativer Szenarien. Für Zukunftspraktiken gilt wie für alle Praktiken, dass sie entsprechende Artefakte enthalten: Hier können etwa Orakel, Computerprogramme oder Messinstrumente zum Einsatz kommen. Eine Analyse dieser Zeitpraktiken kommt daher nicht ohne eine Rekonstruktion der partizipierenden Artefaktsysteme aus. Um eine Unterscheidung von Theodore Schatzki aufzunehmen, können Zeit- und darin auch Zukunftspraktiken dabei entweder den Charakter von dispersed practices oder von integrated practices haben:23 Als verstreute Praktiken kommen Zeitpraktiken in der gesamten Gesellschaft in verschiedensten Praktikenkomplexen vor, wie es etwa für den Gebrauch eines Taschenkalenders oder einer entsprechenden Smartphone-App gilt. Es handelt sich hier um einfache, aber über den Weg dieser weiten Verbreitung tiefgreifend wirksame Praktiken. Integrated practices sind demgegenüber hochspezialisierte Praktiken, die nur in einem bestimmten Praxisfeld vorkommen, dies gilt etwa für bestimmte Formen der Prognostik, wie sie die Finanzökonomie prägen. Innerhalb der Zeitpraktiken ist schließlich noch eine spezielle, aber besonders interessante Einheit hervorzuheben: die Zeitdiskurse. Es sollte nicht überraschen, dass auch in einem praxeologischen Analyserahmen Diskurse als eigene Einheit vorkommen. Aber aus praxeologischer Sicht sind Diskurse bildlich gesprochen weder »oberhalb« noch »unterhalb« der anderen Praktiken angesiedelt. Als diskursive Praktiken bewegen sie sich auf der gleichen »flachen« Ebene von Praktiken insgesamt. Als diskursive Praktiken sind Praktiken der Repräsentation zu verstehen, in denen Zeichensysteme, Argumentationen, Narrationen und Visualitäten hergestellt werden und zirkulieren. 23 | Vgl. T. R. Schatzki: Social Practices, S. 91ff.

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Sie sind an diverse mediale Träger gebunden, sei es die Schrift und der Buchdruck, audiovisuelle oder digitale Medien. Betrachtet man solche diskursiven Praktiken als »Diskurse«, bedeutet dies, dass man sich für die Binnenkomplexität dieser Texte oder Bilder und ihre immanenten »Formationsregeln« interessiert. Zukunftsdiskurse sind nun eine spezifische Sorte von gesellschaftlich zirkulierenden Zeitdiskursen. Zukunftsdiskurse umfassen die am Anfang erwähnten fiktionalen Zukunftsthematisierungen in schriftlichen oder audiovisuellen Science Fictions ebenso wie in Geschichtsphilosophien, politischen Pamphleten, sozialwissenschaftlichen Prognosen oder populärwissenschaftlichen Futurologien. Eine praxeologische Analyse schließt solche Zukunftsdiskurse keineswegs aus, aber versteht sie als Teil bestimmter Praxis-/Diskurskomplexe, in denen diskursive und nicht-diskursive Praktiken miteinander verwoben sind. So können wissenschaftliche Prognosen zum Konsumentenverhalten im Rahmen der Strategieplanung von Unternehmen eingesetzt werden oder die Lektüre bestimmter optimistischer oder apokalyptischer Zukunftsszenarien kann ihren festen Ort im Rahmen einer bestimmten kulturellen Lebensform erhalten, ob zur Festigung bestimmter Lebensziele oder kompensatorisch. Zentral ist, dass solche Diskurse nicht als lediglich kommentierende Semantiken des Sozialen begriffen werden, sondern als ein Bestandteil der spezifischen praktischen Logik von sozialen Feldern und Lebensformen, gewissermaßen als ein Raum expliziten und thematisierten Wissens, das andere Praktiken und auch deren implizites Wissen beeinflusst.

3. D ie R ationalisierung der Z ukunf t und ihre A lternativen Die praxeologische Perspektive auf Zeitlichkeit lässt sich als Heuristik auf verschiedenste Gesellschaften bezogen anwenden, auf moderne ebenso wie auf traditional-hochkulturelle und vorschriftlich-archaische. Dies gilt ebenso für das Element des Zukünftigen: Es wäre absurd, vormodernen Gesellschaften das Element des Zukünftigen als konstitutiver Bestandteil ihrer sozialen Praxis abzusprechen. Was lässt sich nun jedoch aus einer Anwendung der praxeologischen Perspektive der Zeitlichkeit auf die Moderne, den bevorzugten Gegenstand der Soziologie, und deren Zeit- und Zukunftsstruktur lernen? Ganz generell würde ich auf der Ebene der Gesellschaftstheorie eine ähnliche Diagnose vertreten, wie ich es auf der Ebene der Sozialtheorie ausgeführt habe: die Diagnose einer problematischen Verengung des Blicks innerhalb der lange herrschenden Version der Zeitsoziologie. Die Verengungen auf der Ebene der Sozial- und der Gesellschaftstheorie sind miteinander verknüpft: Wenn das sozialtheoretische Problem im objektivistischen Zeitverständnis bestand,

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das Zeit als eine objektiv vorhandene leere Leinwand begriff, dann besteht das Problem der Zeitsoziologie auf gesellschaftstheoretischer Ebene darin, moderne Zeitlichkeit mit einer Rationalisierung der Zeit und in diesem Kontext die Zukunftsorientierung mit Zukunftsplanung vor dem Hintergrund eines Fortschrittsbegriffs zu identifizieren. Die Rationalisierung der Zeit und der objektivistische Zeitbegriff hängen nun jedoch miteinander zusammen: Die gesellschaftliche Rationalisierung der Zeit seit dem Hochmittelalter hat ein objektivistisches Zeitverständnis als eine Art ex post-Voraussetzung ihrer eigenen Praxis hervorgebracht. Allerdings muss eine Kritik an der Theorie der Rationalisierung der Zeit in der Moderne einen anderen Stellenwert haben, als es für die Kritik am objektivistischen Zeitbegriff nötig war. Denn der objektivistische Zeitbegriff verunmöglicht für die Sozial- und Kulturwissenschaften ganz generell eine angemessene Analyse der Zeitlichkeit des Sozialen. Die Theorie der Rationalisierung der Zeit hat hingegen durchaus ihren angemessenen Kern, sie bildet korrekt eine Tendenz moderner Zeitregime ab. Das Problem ergibt sich jedoch in dem Moment, in dem man moderne Zeitverhältnisse ausschließlich als Exemplare temporaler Rationalisierung begreift und damit alternative Zeitstrukturen übersieht, die nicht in das Rationalisierungsraster passen. Insbesondere in den spätmodernen Gegenwartsgesellschaften lassen sich Zeitkulturen entdecken, die dem Modell der temporalen Rationalisierung und ihrem Verständnis von Zukunftsplanung nicht mehr entsprechen. Wenn ich hier von der master-Erzählung einer Rationalisierung der Zeit in der Moderne spreche, verstehe ich Rationalisierung im Sinne formaler Rationalisierung bei Max Weber: formale Rationalisierung als eine Diffusion von Praktikenkomplexen, in denen Verhalten so standardisiert und reguliert wird, dass es als Mittel zur Erreichung bestimmter institutioneller und lebenspraktischer Ziele eingesetzt wird. Eine solche formale Rationalisierung sowohl sozialer Felder – wie der kapitalistischen Ökonomie, des Staates, der Wissenschaft etc. – als auch von Lebensformen etwa des Bürgertums ist nun in der Moderne notwendig mit einer Rationalisierung der Zeit verknüpft. Diese Rationalisierung der Zeit enthält vor allem vier Komponenten:24 die sozial-temporale Kontrolle, die Kommodifizierung, die Kolonialisierung und die Kompression der Zeit. Mit der flächendeckenden Etablierung des Instruments der »Uhrzeit«, das sich seit 1884 zudem am Maßstab einer einheitlichen globalen Weltzeit ausrichtet, wird in der Moderne eine lebenspraktische und institutionelle Temporalkontrolle üblich, die den pünktlichen Beginn und das pünktliche Ende bestimmter Prozesse und Ereignisse, die möglichst effiziente Ausnutzung solcher Zeitspannen und schließlich die intersubjektive punktgenaue Synchro-

24 | Vgl. Barbara Adam: Time, Cambridge 2004, S. 123ff.

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nisierung von Prozessen und Ereignissen ermöglicht und dekretiert.25 Die Effizienzsteigerung im Ökonomischen, Staatlichen, Wissenschaftlichen und in der methodischen Lebensführung beruht darauf, dass immer mehr soziale Praktiken in diesem Sinne einer zeitlichen Kontrolle unterworfen werden. Die Kombination aus Kontrolle und Effizienzsteigerung und der Einsatz weiterer Artefaktsysteme wie Verkehrs- und Medientechnologien ermöglicht zweitens eine für die Moderne typische Kompression der Zeit, das heißt eine Temposteigerung oder Beschleunigung verschiedenster Prozesse, zum Beispiel Warenproduktion oder Personenbeförderung, und der Zirkulation von Ereignissen, zum Beispiel Kommunikationsofferten.26 Im ökonomischen Bereich findet drittens parallel zur Zeitkontrolle eine Kommodifizierung der Zeit statt: Zeit ist ein knappes Gut, das im Rahmen des Kapitalismus Kosten verursacht – sei es in der Vernutzung von Maschinen oder von Arbeitskraft. Zeit wird – wie E.P. Thompson es dargestellt hat –27 damit auch zu einem Kampffeld zwischen Kapital und Arbeit um die expansive Ausschöpfung von Zeit. Schließlich – und das ist für unseren Zusammenhang besonders interessant – ermöglicht die temporale Kontrolle in der Moderne eine Kolonialisierung der Zeit in die Zukunft hinein:28 Zukunft erscheint nun im Prinzip als kontingent, also abhängig von der Entscheidung in der Gegenwart, und sie soll sich im Rahmen eines formal-rationalistischen Modells planen lassen. Zukunft wird also im Rahmen einer Rationalisierung der Zeit interessant nur als eine leere Fläche, auf die sich Ziele projizieren lassen – ökonomische Effizienzoder Profitziele, staatliche Wohlfahrts- oder Reformziele, lebenspraktische Erfolgsziele, die mit Hilfe geeigneter Mittel erreicht werden sollen. Die Zukunft kann hier wahlweise gegenüber der Gegenwart lediglich quantitativ unterschiedlich im Sinne eines Mehr an Effizienz oder aber qualitativ different – eine neue Gesellschaft, die grundlegende Reformen voraussetzt – vorgestellt werden, entscheidend ist, dass sie grundsätzlich zu einem Gegenstand der Planung wird. Dieses formal-rationale Modell der Planung erreicht seinen 25 | Vgl. Klaus Heinemann/Peter Ludes: »Zeitbewusstsein und Kontrolle der Zeit«, in: Kurt Hammerich/Michael Klein (Hg.), Materialien zur Soziologie des Alltags, Opladen 1978, S. 200-243. 26 | Vgl. David Harvey: Condition of Postmodernity: An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford 1989, 201ff. Harvey spricht hier von einer »time-space-compression«. Vgl. zur Beschleunigung auch Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005. 27 | Vgl. Edward P. Thompson: »Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism«, in: Past & Present 38 (1967), S. 56-97. 28 | Vgl. Torsten Hägerstrand: »Time and Culture«, in: Guy Kirsch/Peter Nijkamp/ Klaus Zimmerman (Hg.), Time Preferences: An Interdisciplinary Theoretical and Empirical Approach, Berlin 1985, S. 1-15.

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realgesellschaftlichen Höhepunkt in jener Phase, die ich »organisierte Moderne« nennen würde, also jene Phase der Moderne, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts exakt mit der Intensivierung von Zukunftsplanungsprozessen in den ökonomischen Korporationen und Versuchen einer gesamtgesellschaftlichen Planung von Seiten des Staates einsetzt und bis in die 1970er Jahre hinein andauert.29 Zwar reicht die Idee eines gesamtgesellschaftlichen Fortschritts bis Condorcet zurück, aber die institutionellen Bedingungen, die nötig sind, um Planungs- und Steuerungsprozesse so zu implementieren, dass dieser gesellschaftliche Fortschritt großflächig realisierbar wird, greifen erst im 20. Jahrhundert, im westlichen Wohlfahrtsstaat und den realsozialistischen Gesellschaften. Die Zukunftsplanung, die hier versucht wird, kann man systemtheoretisch größtenteils als Versuch einer Steuerung 1. Ordnung einordnen: eine Steuerung von Prozessen, die nicht eigendynamisch sind, sondern sich widerstandslos von außen steuern lassen.30 Die Kolonialisierung der Zukunft durch die Institutionen der organisierten Moderne und ihres Steuerungsregimes bildet den Höhepunkt des Versuchs der Zukunftsplanung im Rahmen des Projekts der Moderne – aber zugleich ihren Wendepunkt. Auch wenn der in den 1980er Jahren kursierende Begriff der Postmoderne zur Beschreibung einer neuen gesellschaftlichen Formation und zugleich eines verschobenen Blicks auf die Moderne insgesamt mittlerweile nurmehr mit Vorsicht verwendet werden sollte – die postmoderne Kritik am Modell der Zukunftsplanung und die entsprechenden spätmodernen Alternativen zu einer Rationalisierung der Zeit werden in Umrissen deutlich. Vor allem vier alternative Zeit- und Zukunftsregime lassen sich hier unterscheiden: Erstens hat die Praxis einer Zukunftsplanung im Sinne einer Steuerung 1. Ordnung sowohl auf der Ebene von Organisationen – vor allem von Wirtschaftsorganisationen auf dem kapitalistischen Markt –, der des Staates wie auch der Ebene individueller Biografien durchgängig zu Erwartungsenttäuschungen geführt. Entsprechend sind Formen einer indirekten, einer Steuerung 2. Ordnung entstanden, die das Muster einer Risikokalkulation und einer Prävention annehmen. Zukunft wird hier nicht mehr als ein zu kolonialisierender Horizont, sondern als ein Raum von Ungewissheiten angenommen, so dass es nicht mehr um die Erreichung eines positiven Zustandes, sondern um die Vermeidung möglicher negativer Zustände geht. Es hat sich ein geschärftes Bewusstsein dafür ausgebildet, dass die klassische Zukunftskolonialisie29 | Vgl. Dirk van Laak: »Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft«, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 305-326; Peter Wagner: A Sociology of Modernity. Liberty and Discipline, London 1994, S. 73ff. 30 | Vgl. Helmut Willke: Systemtheorie II: Interventionstheorie. Einführung in die Intervention in komplexe Sozialsysteme, Stuttgart 1994.

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rung durch Planung immer wieder unintendierte Handlungsfolgen hervorgebracht hat, die die Zielerreichung dieser Planungsprozesse verunmöglichen.31 Die Zukunftspraktiken sowohl von ökonomischen Organisationen als auch des Staates haben sich daher seit den 1980er Jahren dahingehend verändert, dass die Zukunft hier nicht mehr als leerer, zu füllender Raum vorausgesetzt wird, sondern als ein Raum von unberechenbaren Prozessen, die sich aus der Perspektive der Gegenwart nicht mit völliger Sicherheit vorhersagen lassen. Dass hier die Semantik des Risikos und der Prävention Einzug gehalten hat, ist nur konsequent:32 Zukunftsplanung erweist sich im spätmodernen Kontext als eine riskante Praktik, insofern sie mit unvorhersehbaren Ereignissen in der überkomplexen Umwelt wie auch mit unerwünschten Folgen der eigenen Planung rechnen muss, etwa mit Veränderungen des Konsumentenverhaltens im ökonomischen Feld, mit der Transformation des Arbeitsmarktes für die biografische Planung oder mit globalen Megaereignissen wie Finanz- oder Ökokatastrophen oder Migrationsbewegungen im politischen Feld. Eine solche veränderte Zukunftsplanung folgt insofern einer Steuerung zweiter Ordnung, als sie von einem eigendynamischen und unberechenbaren Gegenstand der Steuerung ausgeht, der sich nicht vollständig kontrollieren, sondern allein indirekt beeinflussen lässt. Am Ende kann dann die positive Zielerreichung ersetzt werden durch skeptische Risikovermeidung als zentrale Strategie. Während in diesem ersten Fall also weiterhin eine Praxis der Zukunftsplanung versucht wird, aber diese gewissermaßen defensiver angelegt ist und auf Prävention des Schlimmsten umschaltet, kann man zweitens die These vertreten, dass in der Gegenwartsgesellschaft die Zukunftsorientierung sozialer Praktiken generell zugunsten einer intensivierten Gegenwartsorientierung zurückgegangen ist. Helga Nowotny diagnostiziert den Vormarsch einer solchen »erweiterten Gegenwart« und John Urry spricht von einem postmodernen Muster von »instantaneous time«.33 Die entscheidende Bedingung für eine solche Verschiebung des Schwerpunktes der Zeitlichkeit vieler sozialer Praktiken von der Zukunft in die Gegenwart ist die exponentielle Zunahme der Menge von gleichzeitigen Ereignissen, die in der Gegenwart existieren und mit 31 | Vgl. zur Soziologie des Risikos Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986; Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin/New York 2003; Wolfgang Bonß: Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne, Hamburg 1995. 32 | Zur Prävention siehe Ulrich Bröckling: »Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention«, in: Behemot. A Journal on Civilization 1 (2008), S. 38-48; und klassisch: François Ewald: Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993. 33 | Helga Nowotny: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 1989; John Urry: Sociology beyond Societies. Mobilities for the Twenty-first Century, London/New York 2000.

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denen das Individuum konfrontiert wird. In solchen Praktiken, man denke an den Umgang mit den digitalen Kommunikationsmedien, existiert Zukünftigkeit höchstens als »nahe Zukunft«, die als Teil des gegenwärtigen Prozesses wahrgenommen und insofern »gerade noch« beeinflussbar erscheint. Der Horizont einer weiteren Zukunft, die zum Gegenstand von Planung und Fortschrittshoffnung werden könnte, schrumpft im Rahmen dieser instantaneous time hingegen drastisch. Eine solche Expansion eines Zeitregimes der instantaneous time lässt sich auch im weiten Feld der Konsum- und Erlebnisfreizeit ausmachen, deren Praktiken um die Ästhetisierung des jeweiligen Moments in der Gegenwart zentriert sind. Eine solche Zukunftsvergessenheit kennt man in der Genealogie der Kultur der Moderne aus den ästhetischen Gegenbewegungen seit der Romantik,34 sie erhalten nun jedoch durch gegenwartsorientierte Konsumofferten nach dem Paradigma des »Events« und durch gegenwartsorientierte Medientechnologien eine machtvolle institutionelle Stütze.35 Während in der Konstellation der erweiterten Gegenwart also die Zukunftsorientierung moderner Praxis ganz generell rückgebaut wird, lassen sich drittens Tendenzen zu alternativen Zukunftspraktiken beobachten, die die defensiv-rationalen Muster der Risikokalkulation und Prävention hinter sich lassen. Anstelle von Praktiken der Zukunftsplanung kann man hier eher von spätmodernen Praktiken der Zukunftsexploration sprechen. Mit Zukunftsexploration meine ich hier eine zeitliche Orientierung von Praktiken, in denen die Zukunft gar nicht geplant werden soll, sondern als ein offener Möglichkeitsraum erscheint, so dass spielerisch mit verschiedenen denkbaren Szenarien hantiert wird. Eine genuine Praktik der Zukunftsexploration waren Anfang der 1970er Jahre die von Robert Jungk initiierten »Zukunftswerkstätten«, in denen in Gruppen mit brainstorming-artigen Techniken gemeinsam unterschiedliche Szenarien der Zukunftsgestaltung, zum Beispiel im Bereich des Wohnungsbaus oder der Verkehrsentwicklung im lokalen Kontext, durchgespielt wurden.36 Auch im Bereich der spätmodernen Techniken der Psychotherapie und des psychologischen Coachings finden sich solche Praktiken, in denen es um die Imagination alternativer Zukünfte für die Biografie eines Probanden geht. Generell ist das »Planspiel« eine Praktik, die eine solche Exploration von Szenarien erprobt.37 Karl Hörning hat schließlich auf die Entstehung 34 | Vgl. auch Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1987. 35 | Vgl. Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer (Hg.): Events. Eine Soziologie des Außergewöhnlichen, Opladen 2000. 36 | Vgl. Robert Jungk/Hans Josef Mundt (Hg.): Der Griff nach der Zukunft. Planen und Freiheit, München 1964. 37 | Zu Planspielen und Szenariotechniken als spezifische Praxis der Zukunftsvergegenwärtigung vgl. für einen ersten Überblick Sven Opitz/Ute Tellmann: »Katastropha-

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der spätmodernen Subjektform des »zeitjonglierenden Spielers« hingewiesen, dessen Lebensform einen Zukunftshorizont enthält, in dem gewissermaßen dem »Zufall eine Chance« gegeben und verschiedene Pfade nach Art eines trial and error-Verfahrens ausprobiert werden.38 Die Zeit erscheint hier reversibel, so dass ein »immer wieder von Neuem Anfangen« in gewissem Umfang möglich ist. Wird Zukunftsplanung durch Zukunftsexploration ersetzt, kann auch die Vorstellung des Fortschritts revidiert werden, ohne verabschiedet werden zu müssen. Der erfolgreiche Umgang mit Zufällen kann hier gewissermaßen perfektioniert werden. Im Rahmen einer vierten und letzten Neumodellierung von Zukunftsorientierung in der Spätmoderne wird ein übergreifender Fortschrittsmaßstab generell obsolet. Gemeint ist eine Konstellation der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher sozialer Eigenzeiten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, in der Zeitlichkeit und auch Zukünftigkeit sich jeder Synchronisierung entziehen, so dass ein Fortschritt in der einen sozialen Sphäre mit einem Rückschritt in einer anderen Sphäre zusammenfallen kann. Vor systemtheoretischem Hintergrund kann man darauf hinweisen, dass eine solche Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Temporalstrukturen in den verschiedenen Funktionssystemen der modernen Gesellschaft grundsätzlich die Einheitsfiktion einer Vorstellung gesellschaftlichen Fortschritts und gesamtgesellschaftlicher Planung obsolet werden lässt.39 Auch Helga Nowotny bezieht ihren Begriff der Eigenzeiten nicht allein auf Individuen, sondern ebenso auf die zeitliche Strukturierung sozialer Praktiken in institutionellen Kontexten.40 »Zukünfte« sind dann immer relativ zu dieser jeweiligen institutionellen Eigenzeit zuzurechnen, eine gesamtgesellschaftliche Zukunft gibt es nicht. Man kann diesen Grundgedanken der parallel existierenden Eigenzeiten mit ihren eigenen Zukünften nun aber nicht nur auf Funktionssysteme, sondern auch auf Lebensformen und Klassen sowie auf unterschiedliche räumliche Kontexte unter den Bedingungen der Globalisierung beziehen. Auch hier wird in der Spätmoderne eine bezeichnende Differenz im Verhältnis zur klassischen, organisierten Moderne deutlich. Die organisierte Moderne von 1945 bis 1990 suggerierte, durch eine Koordination von Planungsprozessen sei letztlich ein Fortschritt in der Zukunft für die Gesamtgesellschaft und für die globale Staatengemeinle Szenarien – Gegenwärtige Zukunft in Recht und Ökonomie«, in: Leviathan, Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sichtbarkeit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Sonderheft 25 (2010), S. 27-52. 38 | Vgl. Karl H. Hörning/Anette Gerhard/Matthias Michailow (Hg.): Zeitpioniere. Flexible Arbeitszeit – neuer Lebensstil, Frankfurt a.M. 1991. 39 | Vgl. Armin Nassehi: Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit, Wiesbaden 2008, S. 237ff. 40 | Vgl. H. Nowotny: Eigenzeit.

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schaft möglich. In Bezug auf die Nationalgesellschaften des Westens wie des Ostens erschien das Ziel einer Steigerung des Lebensstandards für alle als realistisches Ziel sowohl in der »nivellierten Mittelschichtsgesellschaft« mit abnehmenden Ungleichheiten in Westeuropa und Nordamerika als auch in den »klassenlosen Gesellschaften« Osteuropas, wobei beide Gesellschaftsformen soziale Aufstiegshoffnungen der unteren Klassen institutionalisierten. Die »Dritte Welt« der entkolonialisierten Nationen schließlich schien dem kapitalistischen oder sozialistischen Modernisierungspfad und seinem Fortschrittsziel zu folgen. Die spätmoderne Konstellation fällt mit dem Rückbau des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats im Westen, der Implosion des Staatssozialismus im Osten und einer Diversifizierung der »Dritten Welt« zwischen prosperierenden Aufstiegsgesellschaften und failed states zusammen. Gegen den »Gleichschritt« des nationalen und globalen Fortschritts in der organisierten Moderne institutionalisiert sie eine »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«41, auch was die Zukünfte und ihre Gestaltung angeht. Dies gilt zum einen innerhalb der Nationalgesellschaften für die unterschiedlichen Eigenzeiten zwischen den deutlich auseinander strebenden Klassen: Die Oberklasse, die von ihrem Vermögen leben kann, die Mittelklasse zwischen Stabilitätshoffnung und Abstiegsangst sowie die von der Fortschrittshoffnung entkoppelte Unterklasse prekär Beschäftigter existieren in ihren milieuspezifischen Eigenzeiten nebeneinander, ohne dass sie länger durch ein politisches, gesamtgesellschaftliches Planungsszenario zusammengehalten würden. Dies gilt auch für die sehr verschiedenartigen Eigenzeiten unterschiedlicher Weltregionen, was insbesondere im globalen Süden deutlich wird: Hier stehen Gesellschaften wie China und Brasilien, denen eine nachholende Modernisierung gelingt und die dabei auf Fortschrittsmuster zurückgreifen, die in den Industriegesellschaften fünfzig oder einhundert Jahre zuvor charakteristisch waren, jenen failed states, etwa im Nahen Osten, gegenüber, die zukunftslos erscheinen. Völlig differente Eigenzeiten zwischen verschiedenen räumlichen Kontexten ergeben sich in der Spätmoderne jedoch auch innerhalb der Nationalgesellschaften, etwa zwischen Boomtowns und »sterbenden Städten« in den Vereinigten Staaten oder in Deutschland, die nebeneinander existieren und konträre Zukunftspraktiken bieten. Natürlich: Die Rationalisierung der Zeit, die mit sozialer Kontrolle, Kompression, Kommodifizierung und nicht zuletzt einer planerischen Kolonialisierung der Zukunft hantiert, ist nicht außer Kraft gesetzt. Zweifellos beruht die Zeitstruktur der modernen Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein in erheblichem Maße auf temporaler Rationalisierung und damit auch auf einer progressiven Zukunftsplanung. Aber man muss gerade in der Spätmoderne 41 | Vgl. Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt a.M. 1985.

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erkennen, dass dieses Muster der Zukunftsplanung nicht alternativlos ist und mit anders gelagerten Post-Planungs-Zeitkulturen konfrontiert wird. Die Zeitkultur der Moderne ist kein monolithischer Block und das Modell der progressiven Zukunftsplanung darin ein alles andere als unumstrittenes Teilelement.

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2. Auf dem Weg zu einer Theorie des Kreativitätsdispositivs

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D ie M oderne als soziologisch - aufkl ärerisches P rojek t Die Soziologie versteht sich seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert als eine Wissenschaft der Moderne. Am einflussreichsten stellen sich seitdem drei soziologische »große Erzählungen« der modernen Gesellschaft dar: die Beschreibung der Moderne als Kapitalisierung, das heißt als eine dynamische Struktur von Kapitalakkumulation, technologischer Entwicklung und Klassenkampf (Marx); die Charakterisierung der Moderne als Rationalisierung, als Ausbreitung von Institutionen, die auf Prinzipien der formalen Zweck-MittelRationalität basieren (Weber); schließlich ihre Identifikation mit einem Prozess der funktionalen Differenzierung, das heißt einer Etablierung spezialisierter gesellschaftlicher Sphären, die jeweils einer relativen Eigenlogik folgen (Durkheim, Simmel).1 Die klassischen soziologischen Theorien der Moderne sind damit Theorien der »Modernisierung«, die von einer Ausbreitung und Steigerung der als modern anerkannten gesellschaftlichen Strukturprinzipien in Raum und Zeit ausgehen. Sie setzen sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den insbesondere US-amerikanischen, strukturfunktionalistischen modernization theories, in anderer Weise auch in neomarxistischen Theorien fort und beeinflussen am Ende des 20. Jahrhunderts auch Theorien der Hochmoderne wie die einer »reflexiven Modernisierung«, welche von einer weiteren Steigerbarkeit moderner Prinzipien in der Gegenwartsgesellschaft ausgehen.2 1 | Vgl. zu diesen klassischen Grundannahmen nur Anthony Giddens: Capitalism and Modern Social Theory. An analysis of the writings of Marx, Durkheim and Max Weber, Cambridge 1992; Peter Wagner: Theorizing Modernity. Inescapability and attainability in social theory, London 2001. 2 | Vgl. kritisch zur Modernisierungstheorie Wolfgang Knöbl: Das Ende der Eindeutigkeit. Die Spielräume der Modernisierung, Weilerswist 2001, zur Theorie reflexiver Modernisierung vgl. Ulrich Beck u.a.: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996.

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Trotz aller Unterschiede zwischen den Kapitalismus-, Rationalisierungsund Differenzierungstheorien stimmen diese großen Erzählungen der Moderne idealtypisch in bestimmten Grundmustern überein: 1. Der klassische soziologische Diskurs der Moderne beruht zu großen Teilen auf einer Differenz von Struktur und Kultur und schreibt bestimmten Strukturmerkmalen das Primat zur Bestimmung der Moderne zu, die im Extrem kulturell neutral zu sein scheinen:3 Industrialisierung, Technisierung, Arbeitsteilung, Urbanisierung, Zweck-Mittel-Prozeduren, Sphärendifferenzierung etc. Kulturelle Phänomene werden im Rahmen dieser Darstellungen regelmäßig an strukturelle Muster gekoppelt (Individualisierung wird etwa als Produkt von Differenzierung oder Verdinglichung als Produkt von Kapitalisierung interpretiert). Demgegenüber wird gängigerweise den nichtmodernen Gesellschaften ein Primat der Kultur zugeschrieben (zum Beispiel auf der Ebene von Kollektivbewusstsein, Religion, Ritualisierungen etc.), die sich unter modernen Bedingungen zu verflüssigen scheint. 2. Generell vorausgesetzt wird in den Modernisierungstheorien ein Dualismus von traditionalen und modernen Gesellschaften. Die Blaupause dieser Differenzmarkierung ist letztlich jene Unterscheidung, die Ferdinand Tönnies zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft zieht. Diese Unterscheidung hat sowohl eine zeitliche (Vergangenheit – Gegenwart/Zukunft) als auch eine räumliche (Westen – Nicht-Westen) Konnotation und in beiden Hinsichten wird eine Expansion von Modernität auf Kosten von Traditionalität angenommen.4 3. Die Kehrseite der Differenz zwischen Traditionalität und Moderne ist die Annahme einer trotz gewisser historischer oder regionaler Differenzen existierenden »Einheit«, einer Homogenität der Moderne in ihrem Kern, die sich auf der Ebene der jeweiligen Strukturmerkmale – des Kapitalismus, des Rationalismus und der Differenzierung – ausmachen lässt. Häufig ist die Figur der Einheit an die Figur der Steigerung gekoppelt. Die historische Entwicklung innerhalb der Moderne scheint dann trotz gelegentlicher Sackgassen einem linearen Muster zu folgen, so dass sich ein quantitatives oder qualitatives »Mehr« der gegebenen Strukturmerkmale registrieren lässt (etwa eine noch intensivere Kapitalisierung aller Lebensverhältnisse oder eine noch stärkere Auflösung von Großgruppen). 4. Der klassische soziologische Diskurs der Moderne neigt dazu, implizit oder explizit den Strukturmerkmalen der Moderne »Rationalität« zuzuschreiben. Dies schließt durchaus eine Kritik an Irrationalitäten innerhalb moderner Gesellschaften ein, die letztlich aber die Geltung eines Rationalitätsnarrativs 3 | Vgl. zu diesem Aspekt kritisch Shmuel Noah Eisenstadt: Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt a.M. 1979. 4 | Vgl. zu dieser Dichotomisierung Robert Redfield: The Primitive World and its Transformation, Harmondsworth 1953.

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im weitesten Sinne voraussetzt. Was hier unter Rationalität verstanden wird, ist zwischen unterschiedlichen klassischen Gesellschaftstheorien umstritten. Es gibt aber eine Reihe von Merkmalen, die immer wieder genannt werden: zum einen der Übergang von partikularen zu universalen sozialen Mustern, das heißt von Mustern lokal beschränkter Reichweite zu solchen allgemeiner Geltung (im Bereich des Rechts, des Wirtschaftens, der Logik); zum anderen der Übergang von diffusen sozialen Grenzziehungen zu strikten, »der Sache nach« differenzierten Grenzziehungen, die eine effiziente Arbeitsteilung ermöglichen sollen; schließlich ein Übergang von der Naturbeherrschtheit zur Naturbeherrschung, das heißt zur Etablierung eines Regimes, das die Natur kontrolliert und ausnutzt.5 Die Verarbeitung dieser vier basalen Merkmale des modernisierungstheoretischen Narrativs ist im klassischen soziologischen Diskurs der Moderne durchaus nicht widerspruchsfrei. An bestimmten Orten wird die modernisierungstheoretische Struktur in seinen Texten vielmehr selber unterlaufen und irritiert. Die »Entdeckung« religiöser oder aristokratischer kultureller Voraussetzungen als konstitutiv für die Etablierung der Moderne, wie sie sich bei Weber und Sombart findet, oder die Annahme des Fortbestands ursprünglich archaischer Ritualisierungen auch in der Moderne, wie sie den späten Durkheim kennzeichnet, liefern nur die auffälligsten Beispiele für diese Bruchstellen innerhalb des klassischen Denkens.6 In ihrer Grundstruktur jedoch läuft die modernisierungstheoretische Version des soziologischen Diskurses in allen vier Elementen – Struktur/Kultur-Differenz, Traditionalität/Moderne-Differenz, Einheit/Linearität der Moderne, Rationalität moderner Muster – darauf hinaus, der Moderne eine geschlossene, sich selbst reproduzierende Struktur zuzuschreiben. Diese geschlossene Struktur stabilisiert sich nicht zuletzt über strikte Grenzziehungen, Grenzziehungen zwischen verschiedenen differenzierten Sphären und Regelkomplexen innerhalb der modernen Gesellschaft, vor allem aber zwischen dem modernen »Innen« und einem nichtmodernen »Außen«, das etwa durch Irrationalität oder Traditionalität gekennzeichnet scheint. Die spezifische Struktur des klassischen soziologischen Diskurses der Modernisierung, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzt, reproduziert basale Elemente des älteren philosophischen und humanwissenschaftlichen Diskurses der Moderne, wie er sich seit der zweiten Hälfte des 5 | Vgl. auch Hans van der Loo/Willem van Reijen: Modernisierung, Projekt und Paradox, München 1992. 6 | Vgl. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1988; Werner Sombart: Luxus und Kapitalismus, München 1922; Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981.

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17. Jahrhunderts ausbildet – prominent in der »Querelle des Anciens et des Modernes«, in Ansätzen auch bei Bacon und Descartes – und sich im weiteren Kontext der Aufklärungsphilosophie und ihrer Geschichtsphilosophie (Locke, Turgot, Condorcet, Kant, Hegel) im gesamten 18. Jahrhundert entfaltet. Dort wiederum werden einerseits rhetorische Muster der christlichen Heilsgeschichte mit ihren Figuren des »Bruchs« und des »Fortschritts« verarbeitet, zugleich wird eine Alternative zu jener Abwertung der Gegenwart zugunsten des Überzeitlichen oder des Klassischen formuliert, wie sie der christliche Diskurs bzw. der Diskurs der Renaissance betreiben: Es findet eine Säkularisierung des Fortschrittsnarrativs statt.7 Die aufklärerische Perspektive auf die Moderne bleibt damit normativ grundiert und impliziert ein »Projekt der Moderne«.8 Der soziologische Diskurs der Moderne steht auf den Schultern dieses im weitesten Sinne aufklärerischen Diskurses und verarbeitet dessen Modell gesellschaftlicher Entwicklung.9 Vor allem auf vier Ebenen zunehmender Komplexität verortet der Aufklärungsdiskurs den Fortschritt der Moderne und alle vier Ebenen prägen als zentrale Kategorien den klassischen soziologischen Diskurs bis zur Gegenwart: 1. Die aufklärerische Perspektive macht in der Moderne auf der ersten und einfachsten Ebene eine Kombination von technischem und wissenschaftlichem Fortschritt, Naturbeherrschung, Arbeitsteilung und Wohlstandsvermehrung aus. Diese steht im Gegensatz zur Primitivität, zur Naturbeherrschtheit und zum Mangelzustand der Nichtmoderne. 2. Die Aufklärung lokalisiert in der Moderne die Grundmuster der sozialen Inklusion und des Leistungsprinzips, die mit dem Prinzip der auf Herkunft beruhenden Hierarchien der Nichtmoderne kontrastieren. 3. Die aufklärerische macht wie die soziologische Perspektive in der Moderne eine Berechenbarkeit und Transparenz des Verhaltens aus, die insbesondere in einer Berechenbarkeit und Regelhaftigkeit von Institutionen wurzelt. Dies ist eng mit einer Herrschaft des Kognitiven über das Affektive und Sinnliche sowie des Allgemeinen über das Besondere verknüpft und ermöglicht zugleich eine gesellschaftliche Pazifizierung. Das Andere der Moderne ist dann 7 | Vgl. zum modernen Zeitbewusstsein Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1992; Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a.M. 1992. 8 | Jürgen Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt?«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 177-92. 9 | Zum Zusammenhang von Aufklärungsphilosophie und Moderne vgl. Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 1998; Peter Gay: The Enlightenment. An Interpretation, New York 1977.

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auf der Ebene von Unberechenbarkeit, Intransparenz und Willkürherrschaft zu suchen. 4. Schließlich verortet der aufklärerische Diskurs auf seiner abstraktesten Ebene in der Moderne die Chance zu einer Emanzipation des Subjekts (wie auch zur Emanzipation eines ganzen Kollektivs), zur Selbstreflexion, Selbstbestimmung und Autonomie des Menschen. Dem steht die vorgebliche Abhängigkeit und Unfreiheit des nichtmodernen Subjekts gegenüber. Der klassische soziologische Diskurs der Moderne übernimmt in der Regel die aufklärungsphilosophische Diagnose nicht unmittelbar, er greift vielmehr regelmäßig auf die aufklärungsphilosophischen Kategorien zurück, um die Moderne zu perspektivieren. Die auf klärungsphilosophisch imprägnierten Beobachtungsschemata erlauben dem soziologischen Diskurs damit auch eine Kritik der Moderne im Namen des »Projekts der Moderne«: Die Kriterien des Wohlstands und der Inklusion ermöglichen eine Kritik an Verelendung, Anomie, Ungleichheit und Exklusion, das Kriterium der Berechenbarkeit und Pazifizierung eine Kritik an der Intransparenz des Marktes und an »struktureller Gewalt«, das Kriterium des emanzipierten Subjekts schließlich eine Kritik an Entindividualisierung und »Entfremdung«.

D ie poststruk tur alistische D estabilisierung der M oderne Die poststrukturalistische Bewegung, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit den späten 1960er Jahren zu beobachten ist, hat an keiner Stelle versucht, eine vollständig andere, dem klassischen soziologischen Diskurs der Moderne kurzerhand entgegengesetzte Perspektive zu entwickeln. Eher wird jene Strategie verfolgt, die Jean-François Lyotard im Zusammenhang mit der Postmoderne-Diskussion die Bemühung genannt hat, »die Moderne zu redigieren«.10 Vertraute empirische Details gängiger Moderneerzählungen sind 10 | Jean-François Lyotard: »Die Moderne redigieren«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 204-214. Das Verhältnis von Postmoderne und Poststrukturalismus ist zweideutig, je nachdem, welchem der beiden Begriffe der Postmoderne man folgt: Entweder die Postmoderne bezeichnet – wie bei Lyotard – eine intellektuelle Bewegung, die einen veränderten, nichtmodernisierungstheoretischen Blick auf die Moderne versucht; dann ist sie eng mit dem Poststrukturalismus verbunden, auch wenn viele der Poststrukturalisten den Postmodernebegriff scheuen. Oder aber Postmoderne bezeichnet eine spezifische gesellschaftlich-kulturelle Phase, die mit bestimmten ökonomischen, kulturellen, politischen Eigenschaften ausgestattet ist und die in der Regel nach etwa 1980

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damit bei den Poststrukturalisten häufig Ausgangspunkt der Analyse – etwa bei Foucault die Rationalisierung und Individualisierung oder bei Deleuze der Kapitalismus –, sie werden aber anders zusammengesetzt und neuinterpretiert, so dass sich gegenüber dem klassischen aufklärerisch-soziologischen Fortschrittsnarrativ eine alternative Beschreibungsform ergibt. Der aufklärerisch-soziologische Diskurs wird damit entlang der eigenen Fissuren »von innen heraus« aufgebrochen. In gewisser Hinsicht bleibt der poststrukturalistisch inspirierte Diskurs der Moderne damit immer parasitär; er gewinnt seine Originalität aus dieser rhetorischen Strategie des Auf brechens eines gängigen Vokabulars. Trotz der erheblichen Differenzen zwischen den Perspektiven auf die Moderne verschiedener poststrukturalistischer Autoren teilen sie einige Gemeinsamkeiten. Ihr Ausgangspunkt lautet, dort, wo der klassische Diskurs die Geschlossenheit einer sich selbst reproduzierenden Moderne als Gefüge bestimmter Strukturen annahm, nun stattdessen die Moderne als ein Ensemble von Praktiken, Diskursen und Materialitäten wahrzunehmen, in denen Stabilisierungen immer wieder durch basale Destabilisierungen unterlaufen werden. Wenn der anfängliche sprachtheoretische Impuls des Poststrukturalismus lautete, die im Strukturalismus angenommene Stabilität, Eindeutigkeit, Widerspruchsfreiheit und Reproduktivität von Zeichensystemen tatsächlich als durch chronische Instabilitäten, Uneindeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Sinnverschiebungen von Zeichen desavouiert zu erkennen, dann wendet der Poststrukturalismus genau diese Perspektive auf die Moderne an: Der klassische Diskurs der Moderne erscheint dann als ein strukturalistischer, der zudem den Strukturalismus an ein normatives Projekt der »Autonomie durch Berechenbarkeit« koppelt.11 Aus poststrukturalistischer Perspektive erweist sich die Moderne stattdessen als ein Komplex, der auf eine historisch außergewöhnliche und radikale Weise eine Schließung von Strukturen, damit eine Schließung von Kontingenz betreibt (diese Schließungen selber dabei als Fortschrittsprozess repräsentiert) und der zugleich auf eine ebenso historisch außergewöhnliche Weise diese Schließungen immer wieder auf bricht, diese damit subvertiert und destabilisiert. Es ergeben sich damit Mechanismen des Schließens und des Auf brechens von Kontingenz, welche die poststrukturalistischen Autoren unter die Lupe nehmen wollen. In diesem doppelten Prozess spielen die Markierungen von Differenzen als Grenzen eine entscheidende festgemacht wird. Eine solche gesellschaftlich-kulturelle Postmoderne (Hochmoderne, Spätmoderne) kann unter einem nichtmodernisierungstheoretischen, poststrukturalistischen Blickwinkel betrachtet werden, dies ist jedoch nicht zwingend. 11 | Der ersten Generation der französischen Poststrukturalisten in den 1960er und 70er Jahren ist dieser klassische Diskurs der Moderne meist in der Form des Marxismus präsent.

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Rolle: Wenn in der klassischen, »strukturalistischen« Perspektive auf die Moderne diese sich durch eindeutige Grenzziehungen (zwischen Systemen, zwischen Modernität und Traditionalität, zwischen Rationalität und Irrationalität) auszeichnet, dann lenkt die poststrukturalistische Perspektive den Blick darauf, wie die Differenzen dort systematisch destabilisiert, uneindeutig gemacht und die Grenzen überschritten wie unterlaufen werden. In diesem allgemeinen Rahmen sind für eine poststrukturalistische Perspektive auf die Moderne vor allem vier Aspekte heuristisch entscheidend, die sich als Antwort auf die vier genannten Grundsätze des klassisch soziologischen und aufklärerisch imprägnierten Diskurses der Moderne verstehen lassen: 1. Die poststrukturalistische Perspektive widerspricht der klassischen Struktur-Kultur-Differenz und der primären Verortung der Moderne auf der Ebene fixierter, kulturell neutralisierter Strukturmerkmale. Umgekehrt fordert sie dazu auf, die kulturelle Konstitution des Sozialen (auch) in der Moderne zu rekonstruieren, die Eingebundenheit dieser »Strukturen« in Ensembles von sinnhaft regulierten Praktiken und Diskursen, in deren Kontext sie – etwa die moderne Ökonomie, die Technik, die Natur- und Humanwissenschaft, die Geschlechter und Rassen – erst ihre scheinbar allgemeingültige Form erhalten können. Die poststrukturalistische Perspektive auf die Moderne ist in diesem Sinne eine kulturtheoretische, eine historistisch-kontextualisierende, allerdings in einem spezifischen Sinne: Es geht ihr nicht darum, hermeneutisch-phänomenologisch bestimmte »Sinnfundamente« der modernen Gesellschaften freizulegen, die dann ihrerseits stabil wären, sondern darum, diese diskursive Konstitution der Moderne selber als einen Ort von ergebnisoffenen Kämpfen, Widersprüchen, Fissuren und Diskontinuitäten bezüglich gesellschaftlicher Wissensordnungen zu analysieren. 2. Vor diesem Hintergrund stellt sich aus der poststrukturalistischen Perspektive der strikte Dualismus zwischen moderner und traditionaler Gesellschaft – sei es zwischen Moderne und Vormoderne oder zwischen Westen und Nicht-Westen – als eine simplifizierende Selbstbeschreibung heraus, welche eine Grenze stabilisiert, die faktisch immer unterlaufen worden ist und unterlaufen wird. Poststrukturalistische Autoren gehen vielmehr von komplexen Intertextualitäten und Spuren zwischen vorgeblich modernen und vormodernen oder auch zwischen klassisch-modernen und postmodernen Sozialitäten und Subjektivitäten aus, so wie sich auch die Grenzen zwischen westlichen und nichtwestlichen Praktiken regelmäßig als hybride Muster rekonstruieren lassen, die strikte räumliche Grenzziehungen unterlaufen. Das »Fremde« und »Andere« kann sich dann als einflussreich und grundlegend für die Moderne selber herausstellen. 3. Auch das Narrativ der homogenen Einheit und der Steigerungslogik stellt sich aus poststrukturalistischer Sicht als eine Domestizierungsstrategie

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des klassischen Diskurses dar. Stattdessen wird nun der Blick auf die Heterogenität und Agonalität der Moderne gelenkt. Diese präsentiert sich als ein offener Konflikt- und Kampfraum unterschiedlicher Praxis-/Diskurskomplexe im Hinblick darauf, was »Modernität« ausmacht. »Die Moderne« kommt dann historisch und global in unterschiedlichen Versionen vor, welche sich im Widerstreit miteinander befinden und die selber wiederum nicht homogen sein müssen, sondern sich regelmäßig hybride überlagern. 4. Die »Rationalität« der sozial-kulturellen Muster der Moderne wird aus poststrukturalistischer Perspektive unter dem Blickwinkel der kulturellen Produktion von Rationalität betrachtet. Charakteristisch für die Moderne erscheinen dann diverse Rationalisierungsstrategien, die zugleich immer Universalisierungsstrategien sind. Der anderen Seite dieser heterogenen Rationalisierungsstrategien, dem »Nichtrationalen«, gilt das besondere poststrukturalistische Interesse. Zum einen wird auf die modernen Abgrenzungsstrategien hingewiesen, die kulturelle Produktion eines Außens, das dann doch auf verwickelte Weise in das Innen eindringt (oder immer schon dort gewesen ist – zum Beispiel im Verhältnis zwischen Westen und Nichtwesten). Zum anderen siedelt der Poststrukturalismus bestimmte reale Phänomene, welche die rationale Kultur in ihrem Außen plaziert, im Zentrum der Moderne und ihrer Analyse an. Dies gilt etwa für die Ebene der Affekte und der körperlichen Sinnlichkeit, aber auch für die Dingwelt der Artefakte: Das nichtrationale, abgeschobene Außen stellt sich als immer schon konstitutiv im modernen Innern heraus (etwa auch in der Religion, der Gewalt oder der Geschlechtlichkeit).

F oucault, D eleuze , L acl au Unterschiedliche Autoren aus dem Feld des Poststrukturalismus akzentuieren verschiedene dieser Aspekte einer nicht-modernisierungstheoretischen Perspektive. Sie schließen zugleich an bestimmte klassische Diagnosen und Themen des Modernediskurses an und geben diesen eine spezifische Wendung. Von besonderem Interesse sind hier Foucault, Deleuze und Laclau: Michel Foucaults historische Kulturanalysen beziehen sich – mit der bezeichnenden Ausnahme seiner späten Arbeiten zu den Technologien des Selbst in der Antike – zeitlich durchgängig auf die Moderne. Er konzentriert sich dabei auf die Konstitutionsphase von Modernität an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Foucaults Periodisierung ist durchaus konventionell, und er fokussiert ein Thema des klassischen soziologischen Diskurses: die Rationalisierungseffekte moderner Institutionen sowie die dadurch betriebene Rationalisierung wie Individualisierung des Subjekts. Aufgrund der kombinierten Perspektive von Archäologie und Genealogie, die in den Kontext einer »Ge-

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schichte der Gegenwart« eingebettet ist, ergibt sich jedoch ein Verfremdungseffekt, der dem aufklärerischen Fortschritts- und Emanzipationsnarrativ mit Skepsis entgegensteht: Die Archäologie arbeitet die Abhängigkeit der sich selber generalisierenden (früh-)modernen Institutionen von historisch und lokal spezifischen Repräsentationssystemen heraus, die Sinn regulieren und mit Ausschlussmechanismen arbeiten. Die Genealogie rekonstruiert, wie diese Diskurse in ihren Sinnfixierungen sowie die mit ihnen verknüpften Praktiken an bestimmten historischen Punkten einander konflikthaft gegenüberstehen und in ergebnisoffene Kampfkonstellationen geraten.12 Foucault analysiert die frühe Moderne des 18. Jahrhunderts in diesem Rahmen als ein Ensemble von sich als Humanisierungen präsentierenden Disziplinierungen und Normalisierungen. Die Moderne nach 1800 stellt sich demgegenüber als eine komplexere Struktur von liberaler »Gouvernementalität« heraus. Entscheidend ist, dass »Subjekte«, »das Soziale«, »die Natur« etc. in diesem historischen Kontext nun als sich selbst steuernde Entitäten wahrgenommen werden, die ihrerseits zum Gegenstand institutioneller Steuerungsbemühungen avancieren: eine »Regierung der Selbstregierung«. Foucault deutet an, dass diesem modernen Subjektivierungsmodus als historische Alternative eine »Ethik der Ästhetik« gegenübersteht, die er vor allem in der Antike ausmacht. Gilles Deleuze entwickelt insbesondere in den beiden gemeinsam mit Félix Guattari verfaßten Bänden von Kapitalismus und Schizophrenie 13 eine facettenreiche Analytik zur historischen Rekonstruktion jener »Gefüge« und »Verkettungen«, in denen gesellschaftlich-kulturelle, psychische sowie materiale und artefaktförmige Strukturen und Prozesse aneinander gekoppelt sind und sich gemeinsam transformieren. Kennzeichnend für den Ansatz von Deleuze und Guattari ist, dass die klassische Unterscheidung zwischen Kultur und Natur, zwischen Sozialität und Materialität wie auch jene zwischen Gesellschaft und Psyche von vornherein unterlaufen wird. Die Transformationsgeschichte von sogenannten Gesellschaften ist dann immer zugleich als eine von Affektformen und Formen des gesellschaftlichen Unbewussten zu betreiben, vor allem aber als eine Geschichte sich transformierender Materialitäten – der Technologien, der Strukturierungen des Raums bis hin zu allen Formen des »Lebens«, der organischen und anorganischen Strukturen.

12 | Vgl. Michel Foucault: »Nietzsche, die Genalogie, die Historie«, in: ders. Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1974, S. 69- 90; vgl. auch Martin Saar: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a.M./New York 2007. 13 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M. 1974; dies., Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992.

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Der Leitgedanke von Deleuze und Guattari stellt sich als ein antistrukturalistischer dar: Gesellschaft, Kultur, Psyche und Materialität bestehen nicht aus stabilen Regularitäten, sondern sind in ihrer gegenseitigen Verkettung als Prozesse dynamischer »Ströme« zu rekonstruieren. Kennzeichnend für die Menschheitsgeschichte insgesamt ist dann das Ineinanderübergehen von »Deterritorialisierungen« und »Reterritorialisierungen«, von »Fluchtlinien« und »Integrationslinien«. In Deterritorialisierungen findet eine mikropolitische und rhizomatische Freisetzung sozialer und semiotischer Formen statt, welche zugleich eine Aktivierung von psychisch-kulturellen »Wunschmaschinen« und eine Verbreitung von Affekten und Intensitäten bedeutet. Innerhalb dieser Deterritorialisierungen finden immer wieder Reterritorialisierungen statt, etwa Fixierungen von Codes und Subjektivierungsprozesse, die niemals von Dauer sind. Damit ergibt sich eine Perspektive auf die Moderne, welche diese als einen Raum von radikalisierten Strömen und von Totalisierungen zugleich wahrnimmt: Der Kapitalismus (der für Deleuze auch in der Vormoderne vorhanden ist) stellt sich als Deterritorialisierungsmaschine par excellence dar, er wirkt »decodierend« auf traditionale Fixierungen, indem er alles durch seine Axiomatik des Geldes schleust. Gleichzeitig finden in der bürgerlichen Gesellschaft jedoch Reterritorialisierungen und damit auch Affektregulierungen und Wunschkontrollen eigener Art statt: in der staatlichen Bürokratie oder dem bürgerlichen Familialismus, aber schließlich auch in der geldorientierten Axiomatik selber. Ernesto Laclau schlägt vor, die Moderne als einen Konfliktraum kultureller Hegemonialisierungen zu analysieren.14 Hegemonien setzen in seinem Verständnis voraus, dass »etwas zu hegemonialisieren ist«. Dies ist genau die Konstellation der Moderne, in der sich unterschiedliche Diskursformationen gegenüberstehen, welche Gesellschaftlichkeit und Identität in inkommensurabler Weise hervorzubringen versuchen. Hier setzen Hegemonialisierungsprojekte an, welche versuchen, Sinn – zum Beispiel mit Blick auf Subjektpositionen – zu fixieren. Diese Sinnfixierung verläuft über die Etablierung eines »universalen Horizonts«, das heißt über die Repräsentation historisch spezifischer Merkmale als allgemeingültig und alternativlos sowie über die Bildung von Antagonismen zu einem verworfenen Außen. Dieses Außen ist als konstitutives Außen jedoch Gegenstand von seinerseits mehrdeutigen Sinnzuschreibungen, welche auch das Innen zu destabilisieren vermögen. Laclau fordert dazu auf, die Kultur der Moderne als eine Konstellation wahrzunehmen, in der die Sedimentierungen des Sozialen immer wieder durch jene Momente des Politischen aufgebrochen werden, in denen die Kontingenz der Sinnfixierungen sichtbar und genutzt wird. Laclau setzt sich auch kritisch mit der Theorie 14 | Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a radical democratic politics, London/New York 2001.

Die Moderne jenseits der Modernisierungstheorien

funktionaler Differenzierung auseinander: Er lenkt den Blick darauf, wie die Differenzierung scheinbar separierter sozialer Sphären in der Moderne regelmäßig von kulturellen Hegemonien unterlaufen wird, die über die Sinngrenzen hinweg dominante kulturelle Codes – der Rationalität, der Moralität etc. – installieren. Auf eine spezifische Weise verarbeitet Laclau damit Elemente aus den Arbeiten von Jacques Derrida. Derrida liefert keine explizite Theorie der Moderne, aber letztlich bezeichnet die Relation zwischen der Metaphysik der Präsenz einerseits, der diese unterminierenden Wirkung der »Spur« und des »gefährlichen Supplements« andererseits jenes permanente Ineinanderumschlagen von kultureller Hegemonialisierung und Destabilisierung, welche Laclau gesellschaftstheoretisch nutzbar macht.15

F orschungsperspek tiven einer A rchäologie /G ene alogie der M oderne Die poststrukturalistischen Analyseprogramme der Moderne laufen auf die spezifische Version einer Kritischen Theorie der Moderne hinaus. Dieses Programm einer Kritischen Theorie enthält partielle, untergründige Gemeinsamkeiten mit der klassischen Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und widerspricht dieser zugleich.16 Die klassische Version einer kritischen Gesellschaftstheorie, wie man sie bei Adorno und Horkheimer, aber auch bei Marcuse oder Benjamin und in anderer Weise schließlich bei Habermas findet und die bis zu Marx zurückreicht, beruht letztlich auf zwei Prämissen: einerseits der These, dass gegen die liberale Fortschrittserzählung die Moderne nicht das ist, was sie zu sein beansprucht. Sie ist nicht mit einem Emanzipationsprozess zu identifizieren, sondern stellt sich als ein mehr oder minder versteckter Herrschaftszusammenhang der Zweck-Mittel-Rationalität dar: des Kapitalismus, der verdinglichten, verwalteten Welt, der manipulierenden Konsumgesellschaft, der kolonialisierenden »Systeme«. Zugleich sucht die klassische Kritische Theorie – dies ist ihre zweite Prämisse – innerhalb der Moderne nach einem kritischen Gegenort, der sich diesem Herrschaftsanspruch widersetzt. Dieser Gegenort erscheint hier als einer von Vernunft und Autonomie – dem Doppelhorizont der Aufklärung – und er wird im Sozialismus, in der modernistischen Kunst, im ästhetisierten Lustprinzip oder im diskursiven Potential der Kommunikation ausgemacht. 15 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. [1967] 1983. 16 | Vgl. zu dieser Tradition Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München 1991. Zum Folgenden auch Andreas Reckwitz »Poststrukturalismus und Kritische Theorie«, in: ders. Unscharfe Grenzen. Studien zur Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 283- 299.

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Kreativität und soziale Praxis

Die poststrukturalistische Perspektive auf die Moderne erhebt zunächst in analoger Weise den Anspruch, gegen die liberale Selbstbeschreibung der Moderne deren Schließungen offenzulegen (so dass sich dann etwa die scheinbare spätmoderne »Individualisierung« als ein gesellschaftlicher Kriterienkatalog »unternehmerischer Selbste« dechiffrieren lässt).17 Die dezidiert kulturtheoretische Herangehensweise des Poststrukturalismus zielt jedoch anders als die Frankfurter Schule darauf ab, die Abhängigkeit dieser Schließungen von historisch spezifischen kulturellen Kontexten und ihren Sinnregulierungen herauszuarbeiten. Auch der Poststrukturalismus sucht dann gewissermaßen nach Gegenorten zu den Schließungsmechanismen, er findet sie jedoch im Innern der Sinnregulierungen selber, in deren Selbstsubversionen, immanenten Paradoxien, Deterritorialisierungen und agonalen Konstellationen. Hier ergeben sich jene Räume des Unkontrollierbaren, deren Rekonstruktion in der poststrukturalistischen Perspektive implizit auch normativ motiviert ist. Wenn die klassische Kritische Theorie in der Moderne nach Orten von Vernunft und Autonomie sucht, dann sucht der Poststrukturalismus nach Orten des Unkontrollierten und Unkontrollierbaren, damit nach Freiheitsräumen im Innern von sozial-kulturellen modernen Strukturen und jenseits einer auf das Subjekt fixierten Vorstellung von Autonomie. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Prämissen lassen sich einige makrosoziologische Forschungsfelder identifizieren, die für eine poststrukturalistisch inspirierte Sozial- und Kulturanalyse moderner Gesellschaften von besonderem Interesse sind: 1. Rationalitätsregime: Moderne Institutionen erheben sowohl in ihren Praktiken als auch in ihren Diskursen implizit oder explizit Anspruch auf spezifische Formen von Rationalität. Damit stellt sich die Frage, in welchen Alltagstechniken, in welchen Universalisierungs- und Purifizierungsstrategien sowie Differenzmechanismen solche Rationalitätsregime in bestimmten zeitlichen und räumlichen Kontexten versuchen, sich zu institutieren. Dies gilt für ökonomische Rationalitäten wie für politische, wissenschaftliche, pädagogische Rationalitäten. Rationalität ist hier als ein Ensemble von Praktiken zu dechiffrieren, die eine kulturelle, spezifische Form des als rational Anerkannten hervorbringen und demonstrieren, sowie von Diskursen, die diese rhetorisch unterfüttern. Auch die Möglichkeit miteinander konkurrierender oder einander überschneidender sowie immanent heterogener und sich selbst torpedierender Rationalitätsregimes wird somit virulent. Die klassische Frage nach der Rationalisierung moderner Institutionen lässt sich damit in die Frage nach der historischen und räumlichen Diversität und Konflikthaftigkeit kulturel-

17 | Vgl. Nikolas Rose: »Identity, genealogy, history«, in: Stuart Hall/Paul du Gay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London, S. 128- 150, hier: S. 144ff.

Die Moderne jenseits der Modernisierungstheorien

ler Rationalitätsregime überführen, die zugleich Regime korrespondierender Subjektivierungsformen und Akteur-Artefaktkonstellationen sind.18 2. Kulturelle Grenzüberschreitungen (sachlich, zeitlich, räumlich): Ein besonderes Interesse kann jenen Praktiken, Diskursen, Codes und Subjektivitäten gelten, in denen die Sinngrenzen zwischen gesellschaftlich-kulturellen Formationen überschritten und gekreuzt werden und damit die innere »Reinheit« einer sozialen Einheit kontaminiert wird.19 Dies betrifft vor allem drei Konstellationen: die Relationen zwischen differenzierten sozialen Feldern; zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften; schließlich zwischen westlichen und nichtwestlichen Gesellschaften. Jenseits einer reinen Logik inkommensurabler binärer Funktionscodes existieren zwischen differenzierten sozialen Feldern – etwa Ökonomie und Politik oder Kunst und Ökonomie – Sinnstrukturen, welche nach Art transversaler Semantiken die Grenzen zwischen ihnen unterlaufen und insofern in Richtung einer sozialen Entdifferenzierung wirken.20 Hier können sich auch entdifferenzierende diskursive Hegemonien herausstellen, etwa des Wettbewerbs, der Moral, der Expressivität etc., welche sich auf »der Sache nach« separierte Praktikenkomplexe erstrecken. Eine zweite Ebene kultureller Destabilisierungen von Sinngrenzen findet sich auf der zeitlich-historischen Ebene: Im Verhältnis zwischen modernen und vermeintlich vormodernen Gesellschaften kann sich der Blick auf jene historischen Intertextualitäten und ›Spuren‹ richten, die sich aus der Aneignung früherer in späteren Praktiken ergeben (etwa der Rückgriff auf aristokratische Sinnelemente in der bürgerlich-modernen Kultur oder der Transfer bürgerlicher Elemente in der postmodernen Kultur). Analoges gilt für räumliche Grenzüberschreitungen: Im Verhältnis zwischen dem Westen und dem Nicht-Westen interessieren jene hybriden Zonen, Praktiken und Diskurse, in denen die Separierung zwi-

18 | Vgl. hierzu bisher vor allem die Gouvernementalitätsstudien zur ökonomischen und zur politischen Rationalität, etwa Yehonda Shenhav: Manufacturing Rationality. The Engineering Foundations of the Managerial Revolution, Oxford 1999; Peter Miller/Ted O’Leary: »Hierachies and American ideals, 1900- 1940«, in: Academy of Management Review, 1989, S. 250- 265. Hier lässt sich ein Bezug zu Boltanskis und Thévenots Analyse von »Rechtfertigungsformen« herstellen, vgl. Luc Boltanski/Laurent Thévenot: De la justification. Les Economies de la grandeur, Paris 1991 sowie zu den mikrosoziologischen Analysen des ›accounting‹ sozialer Praktiken von Seiten der Ethnomethodologie, beispielsweise in der Wirtschafts- oder Wissenschaftssoziologie. 19 | Zu diesem Aspekt vgl. ausführlicher Andreas Reckwitz: »Grenzdestabilisierungen – Kultursoziologie und Poststrukturalismus«, in: ders: Unscharfe Grenzen, S. 301- 320. 20 | Zur Frage der Entdifferenzierung vgl. auch Werner Rammert: Technik, Handeln, Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie, Wiesbaden 2007, S. 191ff.

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schen dem »Eigenen« und dem »Fremden« unterlaufen wird und sich komplexe Kombinationen und Synkretismen ergeben.21 3. Körper-Artefakt-Wissens-Arrangements: Die moderne Gesellschaft und Kultur lassen sich nicht auf institutionelle Regelkomplexe und Sinnhorizonte reduzieren. Vielmehr kann jedes soziale Arrangement, das für die moderne Kultur relevant ist – seien es produktive oder konsumtorische, private oder juridische Praktiken etc. –, unter dem Aspekt analysiert werden, dass hier Wissensordnungen an die spezifische Regulierung von Körpern und an spezifische Artefakte gekoppelt sind. Tatsächlich setzt die Moderne in besonderem Maße auf eine Mobilisierung der Körper wie der Artefakte. Die exakte Form der Hervorbringung einer jeweiligen Körperlichkeit/Leiblichkeit – von der Hexis über die Formung der sinnlichen Wahrnehmung bis zur Strukturierung der Affekte –, wie sie in einem bestimmten ökonomischen, politischen, künstlerischen, intimen, aber auch einem milieuförmigen oder subkulturellen Kontext stattfindet, insgesamt das Projekt der Genealogie der Moderne als Genealogie ihrer Körper bleibt eine zentrale Fragestellung einer poststrukturalistisch informierten Perspektive.22 Analoges gilt für die Blickverschiebung von den Intersubjektivitäten zu den Interobjektivitäten:23 In einer generalisierten Techniksoziologie sind sämtliche sozialen Praktikenkomplexe von der Mediennutzung über private Beziehungen bis hin zu staatlichen Bürokratien und ökonomischen Produktions-, Distributions- und Konsumtionskomplexen als hochspezifische Subjekt-Objekt-Konstellationen rekonstruierbar, die bestimmte Artefakte sowohl zum Einsatz bringen als auch sich in Möglichkeitsspielräumen bewegen, die von den Artefakten abgesteckt werden. 4. Sozial-kulturelle Formen des Affektiven und Ästhetischen: Die Kehrseite der Rationalitätsregime markieren jene Elemente innerhalb der Moderne, die klassischerweise als nichtrationale Residuen gelten, als Reste des Vormodernen oder moderne Marginalien, die nun jedoch aus einer poststrukturalistisch inspirierten Perspektive in ihrer konstitutiven Relevanz für die moderne Praxis sichtbar werden können. Dies gilt zum einen für jene teilweise regulierte, teilweise sich der Regulierung entziehende Ebene von Affekten und »Intensitäten« (Deleuze), nicht nur auf der Ebene der Subjektivation, sondern der Praktiken selbst – die Affektivität der Ansammlungen von sozialen Massen wie auch der Dyade, aber auch die Affektivität bestimmter Subjekt-Objekt-Kon21 | Vgl. zu diesen Hybridisierungen Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural dimensions of globalization, Minneapolis 2000. 22 | Vgl. dazu nur Bryan S. Turner: The Body and Society. Explorations in social theory, London 1996; Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 17651914, Frankfurt a.M. 2001. 23 | Vgl. etwa Karin Knorr-Cetina/Urs Bruegger: »Traders’ engagement with markets. A post-social relationship«, in: Theory, Culture & Society, 2002, H. 5/6, S. 161- 185.

Die Moderne jenseits der Modernisierungstheorien

stellationen und ihrer »epistemischen Objekte«24. Dies gilt auch für die Ebene des Ästhetischen, das heißt die Formen sinnlicher Wahrnehmung – Visualität, Auditivität, Taktilität –, die nicht auf den Bereich der Kunst eingeschränkt ist, sondern jegliche soziale Praktiken begleitet.25 Entsprechend ist die Moderne nicht auf Affektkontrolle und Entsinnlichung zu reduzieren, sondern auch als ein Ort systematischer wie unsystematischer Produktion von Affekt- und Wahrnehmungsformen unter die Lupe zu nehmen. 5. Hegemoniekämpfe um Modernität: Schließlich können statt des Modernisierungsprozesses die kulturellen und sozialen Kämpfe um Modernität, die Definitions- und Instituierungskonflikte um das eigentlich Moderne, ins Zentrum der Analyse der Moderne rücken. In diesem Interesse trifft sich eine Reihe von Alternativansätzen gegenüber der Modernisierungstheorie, etwa auch bei Eisenstadt und Arnason.26 Diese kulturellen Konflikte und Auseinandersetzungen um die Hegemonie des Modernen treten konzentriert an bestimmten historischen Zeitpunkten und in bestimmten Feldern auf. Wegweisend sind hier der kulturelle Konflikt zwischen aristokratischer und bürgerlicher Modernität im 18. Jahrhundert, zwischen bürgerlicher Moderne, proletarischsozialistischen Modernitätsentwürfen und ästhetischem Modernismus am Ende des 19. Jahrhunderts, zwischen amerikanistischer, sozialistischer und faschistischer Moderne während des 20. Jahrhunderts, zwischen organisierter Moderne und Postmoderne am Ende des 20. Jahrhunderts, schließlich jene zwischen den globalisierten »multiplen Modernen« der Gegenwart.

24 | Vgl. zu einer solchen Affektanalyse Brian Massumi: Parables for the Virtual. Movement, Affect, Sensation, Durham 2002, Nigel Thrift: Non-representational Theory. Space, Politics, Affect, London 2007. 25 | Vgl. zu einem solchen erweiterten Untersuchungsprogramm des Ästhetischen Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006, vgl. auch die kulturanthropologischen ›Sense studies‹, etwa David Howes: Empire of the Senses. The sensual culture reader, Oxford, New York 2005. 26 | Vgl. S.N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000, Johan P. Arnason: Axial Civilizations and World History, Leiden 2002.

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Die Selbstkulturalisierung der Stadt Zur Transformation moderner Urbanität in der »creative city«

Das Schlagwort der creative city ist allgegenwärtig. Wenn seit den 1990er Jahren von einer Renaissance der Städte die Rede ist, dann wird diese an der Schnittstelle von politischen, medialen und sozialwissenschaftlichen Debatten regelmäßig mit dem Begriff der »kreativen Stadt« verknüpft. Von der breit diskutierten Revitalisierung von Berlins Neuer Mitte oder Hamburgs Hafenviertel über das ausgeprägte Interesse an den westeuropäischen Mittelstädten wie Barcelona, Amsterdam und Kopenhagen mit ihren neuen Stadtvierteln, ihren Schwerpunkten der Kulturindustrie und des Stadttourismus, die verstärkte Aufmerksamkeit, die insbesondere in Europa die Ästhetisierung der städtischen Architektur (Bilbaos Museumsviertel, Oslos Opernhaus etc.) auf sich zieht, und die kulturell-ökonomische Wiedergeburt New Yorks nach 2001 bis hin zum medial breit inszenierten Phänomen des Ausbaus Dubais zu einer Kulturstadt in der Wüste – überall scheint die im Zeichen der Suburbanisierung totgesagte Urbanität europäischer Prägung sich neu zu etablieren und überall scheint »Kreativität« und »Kultur« dabei eine Leitfunktion zuzukommen.1 Natürlich regt sich aus soziologischer und kritischer Perspektive sogleich ein Verdacht: nämlich dass es sich hier um ein Phänomen medialer Inszenierung und vermeintlich neoliberaler politischer Ideologie handelt, ein kultureller Überbau, eine Fassade, »hinter« der ganz andere, wohlvertraute Strukturen der Ungleichheit und Ökonomisierung lauern. Wenn man Mike Davies, dem populären Autor der facettenreichen Los Angeles-Chronik City of Quartz

1 | Vgl. nur Christiane Harriehausen: »Startbahn frei für moderne Stadtkonzepte«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14.09.2008, S. V15; Gerald Traufetter: »Coole Boomtowns«, in: SPIEGEL special 4/2008, S. 66; Alex Rühle: »New York. Kreative Stadt der Zukunft«, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.06.2008; Jörg Buber: »Berlin. Kaputt, dreckig und voller Ideen«, in: DIE ZEIT vom 22.01.2004.

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Kreativität und soziale Praxis

folgt,2 dann ergibt sich eine charakteristische Doppelstruktur postmoderner Urbanität von Oberfläche und Tiefenstruktur: An der sichtbaren Oberfläche findet sich die urbane Zelebrierung der ästhetischen Zeichen und Symbole, in der Tiefenstruktur hingegen jener Kapitalismus, der sich in der Postmoderne der Dimension symbolischer Waren bedient, der tatsächlich aber eine massive stadträumliche Segregation unterschiedlicher Klassen fördert. Tatsächlich liefern ja die längst jeglicher politischer Steuerung entzogenen, monströs verslumten megacities der Dritten Welt, die »schrumpfenden Städte« Mittel- und Osteuropas wie die ehemaligen industriellen Zentren Westeuropas und Nordamerikas sowie die – häufig von Migranten geprägten – Ghettobildungen am Rande der im Zentrum florierenden Kulturstädte vertraute Phänomene, die gemeinsam mit den creative cities insgesamt ein irritierendes Ensemble globaler Stadtentwicklung und spätmoderner Gesellschaft ergeben, das sich bisher kaum zu einem übergreifenden Muster zu fügen scheint. Was hat es nun mit den creative cities auf sich? Ich gehe im Folgenden davon aus, dass das Konzept der creative cities und die Phänomene, die der Begriff andeutet, auf die sehr reale Transformation westlicher und globaler Stadtstrukturen seit den 1990er Jahren – und in gewissem Maße schon seit den 1970er Jahren – hinweisen. Aber was diese Transformation in ihrer Heterogenität genau ausmacht, vermag das Konzept eher schemenhaft zu erfassen. Dieser grundsätzliche Wandel lässt sich vielmehr als eine Selbstkulturalisierung der Stadt umschreiben. Die Städte – und das heißt, ihre dominanten Bewohnermilieus, ihre politischen Instanzen, ihre ökonomischen Organisationen und ihre medialen Inszenatoren – verstehen sich zunehmend selbst in terms von »Kultur«, als ein Phänomen des Kulturellen. »Kultur« ist hier nicht nur eine Beobachterkategorie der sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse im Zeichen des cultural turn, d.h. der Fremdkulturalisierung – was sie zweifellos auch ist –, sondern ein Schema, dass die soziale Realität, hier die Realität der Stadt, in ihren unterschiedlichen Akteursgruppen auf sich selbst anwendet.3 Diese Selbstkulturalisierung bleibt nicht auf ein vermeintlich folgenloses (oder gar 2 | Vgl. Mike Davies: City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles und neuere Aufsätze, Berlin u.a. 1994. 3 | Die Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbstkulturalisierung ist heuristisch orientiert, innerhalb der Gegenwartsgesellschaft überschneiden sich beide regelmäßig: So werden kulturalistische Kategorien aus sozialwissenschaftlichen Diskursen in politischen oder medialen Diskursen rezipiert und transformiert (und möglicherweise umgekehrt). Zu dieser Dynamik der beständigen Übersetzungen zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Semantiken vgl. auch Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt a.M./New York 1984, S. 405ff. Die generelle Bedeutung von »Kulturalisierungen« für Gegenwartsgesellschaften seit den 1980er Jahren – von der Kulturalisierung sozialer Bewegungen und Ethnien bis zur Kulturalisierung von Organi-

Die Selbstkulturalisierung der Stadt

verschleierndes) Diskursphänomen beschränkt, sondern strukturiert massiv jene sozialen Praktiken und Materialitäten – des Städtebaus, der Architektur etc. –, welche die Stadt ausmachen. Die Selbstkulturalisierung hat damit paradoxerweise selber einen materialen Charakter, sie betrifft die sich verändernde Materialität des Städtischen, ihre Verkehrswege, Wohn- und Konsumviertel und Betriebsansiedlungen. Die mediale Debatte um creative cities muss die Dimensionen dieser Selbstkulturalisierung nun sowohl fokussieren als auch verfehlen. Denn es handelt sich in der Diskussion um creative cities im Wesentlichen um einen emphatischen wie empathischen Teilnehmerdiskurs jener politisch-wissenschaftlichen Instanzen, welche diese Selbstkulturalisierung vehement betreiben und als erstrebenswertes normatives Ziel voraussetzen. Um die Struktur der gegenwärtigen creative cities als sich selbst kulturalisierende Städte nachzuvollziehen, gehe ich in mehreren Schritten vor. Ich beginne mit einer Rekonstruktion dessen, was in der aktuellen Debatte ihre beiden wichtigsten Vertreter, Richard Florida und Charles Landry, unter einer creative city verstehen. Es stellt sich heraus, dass es sich hier um ein Programm »kulturorientierter Gouvernementalität« handelt (1). Anschließend stellt sich die Frage, von welchen begrifflichen und historischen Voraussetzungen eine Analyse der kulturorientierten Städte der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft ausgehen kann. Gegen die klassische stadtsoziologische Reduktion der Stadt auf eine Sphäre der sozialen Integration und Segregation sollen Städte hier als komplexe Ensembles von den Raum strukturierenden Materialitäten, Praktiken und Diskursen verstanden werden (2). Um die Transformation der Stadt in der Moderne nachzuvollziehen, wird die Unterscheidung zwischen bürgerlicher Stadt, funktionaler Stadt und spätmoderner Stadt vorgeschlagen. Die Besonderheiten der kulturorientierten Stadt werden dann vor dem Hintergrund der beiden klassischen Stadtmodelle der Moderne, der bürgerlichen und der funktionalen Stadt, und deren historischen Delegitimierung deutlich (3). Es lassen sich sechs Merkmale der Selbstkulturalisierung der Gegenwartsstädte ausmachen (Etablierung der Kunstszene, creative industries, Konsumentenkultur, Redefinition der Hochkultur, ästhetisierte Stadtviertel, Solitärarchitektur). In ihnen kreuzen sich Kulturalisierungsstrategien der postmaterialistischen Mittelschichten, der ästhetisierten Subkulturen, der politischen und der ökonomischen Instanzen (4). Die nicht-kulturellen Städte bilden das konstitutive Außen dieser Kulturalisierungen (5).

sationen und Konsumtion und schließlich ganzer »Kulturkreise« –, die dabei andere Semantiken, etwa die des Sozialen, verdrängt, bedürfte einer genaueren Analyse.

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Kreativität und soziale Praxis

1. D as M odell der creative cit y : D ie kulturorientierte G ouvernementalität der S tadt Die Diagnose der creative cities findet sich seit der Mitte der 1990er Jahre zunächst in einem britischen und US-amerikanischen Kontext. Die Arbeiten von Charles Landry und von Richard Florida initiieren diesen Diskurs. Von vornherein geht es dabei nicht um eine bloße Beschreibung, sondern immer auch um die normative Forderung nach einer Entwicklung und Ausbreitung von creative cities, und damit um eine entsprechende Neuorientierung der Stadtpolitik: Die kreative Stadt ist das Ziel, die nicht-kreative Stadt das zu Vermeidende und Überholte. Sowohl Landry als auch Florida wirken auf der nationalen wie lokalen Ebene entsprechend politikberatend. Beide partizipieren an der Profilierung eines umfassenderen semantischen Feldes um den gesellschaftlichen und kulturellen Leitbegriff der »Kreativität«, welcher von den creative industries bis zur creative class reicht. Kreativität als die Fähigkeit, Neues zu schaffen und die Stabilität des Tradierten hinter sich zu lassen, eine Fähigkeit, die insbesondere eine Experimentalisierung der Wahrnehmung wie auch einen virtuosen kombinatorischen Umgang mit den Versatzstücken des Alten voraussetzt, wird als subjektives und kollektives Ziel in einem vielgliedrigen, im weitesten Sinne humanwissenschaftlichen, aber teilweise auch politischen und ökonomischen Diskurs seit dem Beginn der 1990er Jahre profiliert.4 Er umfasst die Pädagogik (Erziehung zur Kreativität) ebenso wie die Psychologie (Kreativtechniken, Kreativität als Lebensziel), die Organisationsberatung (kreatives Unternehmen), die Repräsentation von Berufsbildern und Lebensstiloptionen (der Kreative, die Kreativberufe), die Stadtplanung oder die Entwicklung persönlicher Beziehungen. Die Semantik der Kreativität ist damit Gegenstand einer Veralltäglichung und sozialen Normalisierung. Als sie zu Beginn der Kultur der Moderne, namentlich im Kontext der Romantik, entsteht, war sie im Wesentlichen noch auf das Feld des Ästhetischen und der Kunst beschränkt: Der Künstler scheint als Heldenfigur subjektiver Kreativität, der Einbildungskraft und Imagination, des Experimentalismus der Perzeptionen und des Schaffensdrangs einer expressiven, einzigartigen Individualität.5 Das Künstlersubjekt als Träger kreativer Potentiale ist hier selbst außeralltäglich. Es wird zwar normativ heroisiert und zum Faszinosum stilisiert (»der Bürger, der Künstler sein will«). Aber als 4 | Vgl. nur Robert J. Sternberg (Hg.): Handbook of Creativity, Cambridge u.a. 1999; Peter Spillmann/Marion von Osten (Hg.): Be Creative! – Der kreative Imperativ, Zürich 2002. 5 | Vgl. Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1998.

Die Selbstkulturalisierung der Stadt

unerreichbares Genie, als sozial marginalisierte Gestalt jenseits von bürgerlichem Beruf und Familie wie auch als psychisch und moralisch gefährdetes Subjekt am Rande der Normalität entzieht es sich der kulturellen Verallgemeinerbarkeit. Ebenso erscheint es kulturell riskant und avanciert somit zum Gegenstand bürgerlicher wie post-bürgerlicher Ressentiments, die sich gegen die Romantiker, die Bohème, die Avantgarde oder die Counter Culture richten.6 Die Normalisierung der Kreativität als ein allgemein erstrebenswertes Ziel für jeden und in jedem Bereich – und schließlich auch für kollektive Instanzen wie ganze Städte, Betriebe, Schulen etc. –, ja die Voraussetzung, dass eine solche Kreativität in jedem als Potential quasi natürlich vorhanden ist und Nicht-Kreativität selbst eine eigentliche Pathologie darstellt, kehrt somit diese Außeralltäglichkeit des Kreativen in die Alltäglichkeit um und macht sie zum Zielpunkt eines normativen Programms.7 Aber was ist dann die »kreative Stadt«? Richard Florida entwickelt das Konzept im Zusammenhang seiner sozialstrukturellen Diagnose der Entstehung und kulturellen Dominanz einer creative class.8 Es geht damit nicht um Kreativität als subjektive Kompetenz, sondern in erster Linie um einen beruflichen Anforderungskatalog, der zudem einen ganzen Lebensstil prägt und sich konzentriert in einem bestimmten sozialen Milieu findet. Seiner Argumentation zufolge, die Daniel Bells These zur »postindustriellen Gesellschaft« gewissermaßen auf den neuesten Stand bringt, läuft der sozialstrukturelle, der ökonomische und der kulturelle Wandel der Gegenwartsgesellschaft auf die Entstehung einer kulturell hegemonialen »neuen Klasse« hinaus, die sich aus jenen Berufen zusammensetzt, die Robert Reich die symbol analysts nennt9: Berufe, in denen es nicht bloß um Dienstleistungen oder Wissen geht, vielmehr um einen kreativen Umgang mit Symbolisierungen und die Schaffung von »Neuem« – in der Werbebranche und im Design, in Forschung und Entwicklung und im Finance-Sektor, in der Beratung und in der Softwareindustrie, zudem in den klassischen Tätigkeiten der Kunst und der Kulturindustrie. Das Fundament der creative class ist damit ein ökonomisch-berufliches, ihr Lebensstil geht jedoch weit darüber hinaus. Ihr »kreativer Ethos« bezieht sich auch auf ihre Ansprüche in der Freizeit, im Familienleben, selbst in der Politik: »open6 | Vgl. Eckhard Neumann: Künstlermythen. Eine psycho-historische Studie über Kreativität, Frankfurt a.M./New York 1986. 7 | Vgl. Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. 8 | Richard Florida: The Rise of the Creative Class and How It’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York 2002; ders.: Cities and the Creative Class, New York u.a. 2005. 9 | Vgl. Robert B. Reich: Work of Nations. Preparing Ourselves for 21st-century Capitalism, New York 1991.

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ness to diversity of all kinds« und »high-quality experiences«10 sind hier zentrale Ziele. Floridas sozialstatistisches Material zum Wandel der Berufssegmente und ihrer kulturellen Einstellungen ist exakt, seine Definition des kreativen Ethos und der kreativen Berufe bleibt allerdings vage. Als zentral stellen sich jedoch die stadträumlichen Konsequenzen heraus, die er zieht. Die Teilnehmer der creative class treten nicht regional gleichmäßig auf, sondern konzentriert in einer Auswahl bestimmter Städte: jener creative cities, die in den USA etwa San Francisco, Seattle oder Boston umfassen. Diese Städte bieten das Potential relevanter Arbeitskräfte für die Kreativberufe und sie erweisen sich umgekehrt in ihrer Lebensqualität für die Interessenten an den Kreativberufen als attraktiv. Sie halten – so Florida in der unnachahmlichen Plastizität des Politikberaters – »die drei Ts« bereit: technology, talent, tolerance, d.h. einerseits die für die avancierten Kulturökonomien nötigen Technologien, andererseits und unabhängig davon aber auch für Kreativberufe kompetente Arbeitnehmer (talent), schließlich eine liberale Toleranz und Vielseitigkeit, welche diese Gruppe in die Städte zieht. Florida wechselt dabei beständig von einem deskriptiven in ein normativ-beratendes Register: Wenn eine Stadt zur creative city werden will, dann muss sie entsprechende Angebote kultureller Vielseitigkeit, des gehobenen Erlebniskonsums usw. bereithalten. Dreh- und Angelpunkt ist dabei eine ökonomische Überlegung: Eine Stadt oder ganze Volkswirtschaft kann unter gegenwärtigen Bedingungen im Westen nur dann erfolgreich sein, wenn sie zu einem Träger der Kreativökonomie wird. Charles Landrys Ausgangpunkt ist zunächst ähnlich, allerdings noch spezifischer auf die Entwicklung der Städte und zunächst auf den Fall Großbritannien bezogen. In seiner Studie zum Fallbeispiel Glasgow taucht der Begriff der creative city 1990 erstmals auf, in The Creative City. A Toolkit For Urban Innovators (2000) spitzt er seine stadtpolitische Konzeption zu.11 Die policyStrategie der britischen Labour-Regierung, die seit 1997 eine Förderung der sogenannten creative industries anvisierte, ist von diesen Arbeiten beeinflusst. Landry möchte die creative cities jedoch nicht auf einen Ort für die creative industries allein reduziert wissen. Das eigentliche Spezifikum dieses neuen Stadtmodells besteht vielmehr in dem, was er cultural planning und die systematische wie erfinderische Ausschöpfung ihrer cultural ressources nennt, die wiederum diverse creative milieux voraussetzen. Was mit cultural planning gemeint ist, wird bei Landry nie systematisch entwickelt, aber anhand einer Fülle von Beispielen aus der Beratungspraxis exemplifiziert. Immer geht es darum, dass eine Stadt beginnt, ihre Eigenarten, ihre »local distinctiveness«12 zu de10 | R. Florida: Cities and the Creative Class. 11 | Charles Landry: The Creative City: A Toolkit For Urban Innovators, London 2000. 12 | Ebd., S. 43.

Die Selbstkulturalisierung der Stadt

finieren und zu entwickeln. Dies setzt eine Selbstbeobachtung der Stadt als ein kulturelles Gebilde, d.h. als Trägerin spezifischer Symbole, Zeichen und Praktiken voraus, und zwar in Differenz zu anderen Städten. In dieser Selbstbeobachtung kann nun alles kulturell relevant werden, einschließlich bisher banal oder sogar problematisch erscheinender Phänomene oder das, was für selbstverständlich gehalten wurde: naturräumliche Gegebenheiten, Industriedenkmäler, lokale Bräuche, ehemalige Stadtbewohner durchaus zweifelhafter Berühmtheit etc. Es ist möglich und erwünscht, dass diese Selbstbeobachtung der »kulturellen Ressourcen« in eine gezielte weitere Entwicklung dieser städtischen Besonderheiten übergeht.13 Die kulturellen Einsätze werden so wiederum in ökonomische Vorteile – auf der Ebene von Unternehmensansiedlungen sowie Tourismusförderung – verwandelt, aber auch die kulturelle Identität und Lebensqualität der Stadt selbst kann gefördert werden. Florida und Landry liefern damit die beiden herausragenden Beispiele für die Programmatik dessen, was ich eine kulturorientierte, kulturelle Gouvernementalität der Stadt nennen will. Die creative city wird hier im Wesentlichen aus der Top-Down-Perspektive der politischen Steuerungsinstanzen betrachtet, sie ist ein diskursives Leitbild der Planung. Wenn Gouvernementalität im Sinne Foucaults als eine spezifische Form der Steuerung zu verstehen ist, eine »Regierung der Selbstregierung«,14 dann folgt die kulturorientierte Stadtplanung im Sinne von Florida und Landry letztlich dem gouvernementalen Muster. Dieses ist abzugrenzen von einer klassischen, vor-gouvernementalen Form der Stadtplanung, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts – etwa in Hausmanns Paris oder in der Vision von Howards garden city – einsetzt, in den 1920er Jahren in den planerischen Visionen von Le Corbusier und Wright gipfelt und sich seitdem bis in die 1970er Jahre im Westlichen wie staatssozialistischen Städtebau manifestiert. Dort handelte es sich um ein Planungsregime, das die Stadt »von Grund auf« neu auf bauen will, das ihre Gebäude, ihre Infrastruktur, ihre Stadtviertel und schließlich, so die Vorstellung, auch ihre Nutzung, die Praxis ihrer Bewohner plant. In diesem klassischen Planungsregime liegt 13 | Landry nennt als suggestives Beispiel seine Beratungsarbeit für die Stadt Helsinki: Die Tatsache, dass aufgrund der geografischen Besonderheiten Skandinaviens der Umgang mit Dunkelheit und Licht für die Stadt eine besondere Rolle spielt, erkennt Landry gewissermaßen als ein kulturelles Alleinstellungsmerkmal und führt ihn zu der Strategie, Helsinki als »city of light« zu gestalten und zu bewerben (etwa mit der Entwicklung eines entsprechenden Licht-Festivals, einer Förderung des Leuchten-Designs, der Licht-Kunst etc.). 14 | Vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a.M. 2004; ders: Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978-1979, Frankfurt a.M. 2004.

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gewissermaßen eine Steuerung erster Ordnung vor, in der das zu Planende einen rein passiven Objektstatus besitzt.15 Die kulturorientierte Planung der Stadt nach Art der creative city folgt dagegen jenem Muster einer Steuerung zweiter Ordnung, wie Foucault sie unter dem Begriff der Gouvernementalität zusammenfasst und als charakteristisch für avancierte liberale Regierungsformen ansieht. An die Stelle der mechanistischen Vision einer Neuplanung in einen leeren Raum hinein tritt die Vorstellung, dass das zu Planende bereits irreduzibel vorhanden ist und über eine beträchtliche Eigendynamik verfügt, dass es sich bereits auf unberechenbare Weise selbst steuert. Die externe Steuerung sitzt dann immer auf einer schon vorhandenen Selbststeuerung auf und nimmt die Form von »Anreizen« und »Abschreckungen«, von Regulierungen des Gegebenen anstelle von Input-Output-Prozessen an. Dieses »Gegebene«, das zum Gegenstand der gouvernementalen Planung und Steuerung wird, lässt sich nun jedoch in Abhängigkeit von historischspezifischen Diskursen im Prinzip ganz unterschiedlich beobachten und entsprechend formen: als Individuen mit Interessen, als Prozesse der Natur im mechanistischen oder organizistischen Sinn, als ökonomischer Markt, als Milieus des Sozialen – oder eben als »Kultur« im Sinne eines Ensembles von Praktiken, Symbolen und Subjektformen. Charakteristisch für die Gouvernementalitätsform der creative city ist genau diese Beobachtung in terms von Kultur: Die Stadt ist selbst schon »kulturell« und entwickelt sich auf dieser Ebene eigendynamisch – bei Florida im Sinne einer Ansammlung von subjektiven, kreativen talents und den Praktiken und Symbolen urbaner tolerance, bei Landry als Ort von cultural heritage und cultural ressources. Eine bewusste Gestaltung, eine Steigerung und Hemmung dieser ohnehin schon vorhandenen kulturellen Prozesse (die sich ihrer eigenen Kulturalität aber nicht unbedingt bewusst sind) ist das Ziel der kulturorientierten Gouvernementalität der Stadt. Diese kulturelle Gouvernementalität deckt sich damit nicht vollständig mit jener »neoliberalen« Gouvernementalität, welche die governmentality studies im Anschluss an Foucault bisher besonders interessiert haben (wenn sich beide auch überlagern).16 Wenn dort der Gegenstand der Planung in terms von eigeninteressierten Individuen und Konstellationen des Marktes als ein Wettbewerb um knappe Güter gedacht wird (und diese Konstellation auch dort zu implantieren ist, wo sie – noch – gar nicht existiert), dann wird er hier als ein im Kern

15 | Vgl. zu diesem steuerungstheoretischen Konzept und der Unterscheidung zwischen Steuerung erster und zweiter Ordnung, einer Steuerung von »Trivialmaschinen« und von komplexen Systemen, Helmut Willke: Systemtheorie II: Interventionstheorie. Grundzüge einer Theorie der Intervention in komplexen Systeme, Stuttgart 1999. 16 | Vgl. Ulrich Bröckling/Susanne Krassmann/Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000.

Die Selbstkulturalisierung der Stadt

kulturelles Ensemble von Zeichen, Praktiken und subjektiven Kompetenzen begriffen, das immer wieder als ein solches hervorgebracht wird.

2. D ie R e alität der S tadt : M aterialitäten , P r ak tiken , D iskurse Wie lässt sich die kulturorientierte Gouvernementalität der Stadt, die man seit den 1990er Jahren beobachten kann, einordnen in die generelle Strukturtransformation, die die westlichen Städte bereits seit den 1970er Jahren erleben und die eine neue Phase innerhalb der Stadtentwicklung der Moderne ausmachen? Inwiefern unterscheidet sich die sich selbst kulturalisierende Stadt, die an der Wende zum 21. Jahrhundert maßgeblich wird, von den vorhergehenden Typen moderner Urbanität? Das Problem der Perspektiven, die Florida und Landry weisen, besteht darin, dass sie als Träger des normativen Diskurses der creative city Teilnehmer jener kulturorientierten Gouvernementalität darstellen, die selbst nur ein Element jener komplexeren Transformation der räumlichen Materialität, der sozialen Praktiken und der Diskurse ausmacht, welche die kulturorientierte Stadt bildet. Die Stadt ist als sozial-kulturell-räumliches Gefüge mehr als ihre eigene Planung, ja sie entzieht sich gerade auch dieser Planung. Was ist überhaupt eine Stadt? Was sind die Eigenschaften, die in den Blick geraten, wenn man Städte beschreibt und untersucht? Im Kontext der für das soziologische Verständnis der Stadt zentralen Chicago School der 1920er und 30er Jahre definiert Louis Wirth sie über drei formale Merkmale:17 über die Größe ihrer Bevölkerung, die soziale Dichte und die soziale Heterogenität. In der Stadt versammeln sich auf engstem Raum verschiedenste Milieus mit einer hohen Zahl von Teilnehmern. Dichte und Heterogenität haben Auswirkungen auf die Interaktionsform des Urbanen und ihre urban personality: In der Stadt herrschen im Unterschied zum Land Anonymität und Indifferenz, in deren Rahmen sich die Individuen in der Regel entemotionalisiert und im zivilen Umgang sozialer Rollen begegnen, eine Konstellation, die Individualisierung und Anomie zugleich vorantreibt. Für die im engeren Sinne soziologische Perspektive auf die Stadt, die mit der Chicago School ansetzt, ist charakteristisch, dass sie sich im Besonderen für das Phänomen der sozialen Heterogenität, und zwar vor allem in Form sozialer Segregation interessiert, für die räumliche Separierung von sozialen, auch von ethnischen Milieus. Die Stadtsoziologie stellt sich dann im Kern als eine Verlängerung der sozialen Ungleichheitsforschung

17 | Vgl. Louis Wirth: »Urbanism as a Way of Life«, in: American Journal of Sociology 44 (1938), S. 1-24.

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dar: Die Stadt erscheint im Kern als ein Wohngebiet von Menschen, und zwar als eines mit ungleichen Lebensbedingungen.18 Mit ihrer Orientierung an sozialer Segregation liefert diese klassische Stadtsoziologie allerdings nur einen sehr selektiven Blick auf die sozial-kulturellen Strukturen des Städtischen. Eine alternative Sichtweise ergibt sich, wenn man fünf Perspektiven miteinander kombiniert, die in der neueren sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion um Stadt, Urbanität und Raum angedeutet worden sind: 1. In raumanalytischer Perspektive lassen sich Städte als eine spezifische Form der räumlichen Strukturierung von Materialität, d.h. des räumlichen Arrangements von Artefakten verschiedenster Art – Gebäuden, Verkehrswegen, Grünanlagen etc. – betrachten. Damit ergibt sich ein Anschluss an den spatial turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften ebenso wie an die neueren Analysen der sozialen Relevanz von Artefakten und Objekten.19 2. In kultursoziologischer Perspektive können Städte als ein Produkt jener sozialen Praktiken rekonstruiert werden, in denen sich die Teilnehmer ihre Stadt in alltäglichen Routinen »schaffen«. Zudem stellen sie sich als Produkte jener Diskurse und Repräsentationssysteme dar, in denen Urbanität interpretiert und imaginiert wird. 3. In gesellschaftstheoretischer Perspektive erweisen sich Städte innerhalb der Moderne als besondere Knotenpunkte unterschiedlichster spezialisierter Praktiken, nicht nur des Wohnens (wie es die Segregationssoziologen interessiert), sondern auch der Produktion und Konsumtion, der Hoch- und Populärkultur mit ihrer Distribution von Zeichen und Bildern, der Politik etc., damit von Praktiken und Institutionen, deren Relevanz und Wirkung über die Stadt selbst hinausreichen. 4. In globalisierungstheoretischer Perspektive kann die einzelne Stadt nicht isoliert erscheinen, sondern tritt als Verdichtungspunkt innerhalb überregionaler, globaler Ströme von Objekten, Subjekten und Zeichen in den Blick. Diese Sichtweise hat etwa Saskia Sassen mit ihrem besonderen Interesse an global cities stark gemacht.20 5. In archäologisch-genealogischer Perspektive ist anstelle einer statischen Momentaufnahme oder der Voraussetzung eines linearen Modernisierungsprozesses (etwa der »Surbanisierung«) die historische Transformation der Städte als eine diskontinuierliche Folge von räumlich-kulturellen Realitäten zu 18 | Vgl. zu dieser Forschungsrichtung etwa Hartmut Häußermann/Walter Siebel: Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2004. 19 | Vgl. Jörg Dünne: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2006; Andréa Belliger: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006. 20 | Saskia Sassen: The Global City. New York, London, Tokyo, Princeton 1999.

Die Selbstkulturalisierung der Stadt

verstehen. Sie stellt sich zugleich als ein Konfliktfeld verschiedener sozialer Kräfte und diskursiver Entwürfe in ihrer Formung des Urbanen dar. Die Prozesse politischer Planung, die in der neueren Diskussion von creative cities-Autoren wie Florida und Landry fokussiert werden, und die soziale Segregation von Milieus, wie sie die klassische Stadtsoziologie besonders interessiert(e), bilden damit nur zwei Elemente innerhalb eines umfassenden Komplexes von Praktiken, räumlich verteilten Materialitäten und Diskursen, welche die Realität der Städte ausmachen. Generell kann man der klassischen Stadtsoziologie und urban geography vorwerfen, zu stark auf soziale Segregation einerseits, auf politische Planung andererseits fixiert gewesen zu sein und dabei die grundlegende Materialität wie Kulturalität städtischer Räume übersprungen zu haben. Die Struktur und Transformation der Städte in der Moderne (und historisch dahinter zurückgehend) lässt sich damit vor allem auf drei analytisch voneinander zu unterscheidenden und real miteinander verwobenen Ebenen untersuchen: a) als räumlich angeordnete Materialitäten: Auf einer ersten Ebene sind Städte nicht nur Ansammlungen von Bewohnern, sondern spezifische Gefüge von materialen Artefakten, die nicht nur »im Raum« existieren, sondern spezifische Raumstrukturen bilden und immer wieder neu formieren: Gebäude in ihrer äußeren und inneren Architektur, Verkehrswege, gestaltete »Natur« (Grünanlagen etc.), Energieinfrastruktur (Wasser und Entwässerung, Elektrizität etc.). Dass Städte »soziale« Gegebenheiten mit »sozialer« Dichte sind, heißt dann, dass sie in einer erweiterten Bedeutung von Sozialität, wie sie etwa von Latour vertreten wird, aus Subjekten ebenso wie aus Objekten, aus komplexen Arrangements von Menschen und Dingen bestehen, die im Detail zu untersuchen sind. Dass Städte als spezifische räumliche Phänomene zu rekonstruieren sind, bedeutet dabei nicht im Sinne eines Containermodells des Raums, dass sie einen leeren, präexistenten Raum füllen, sondern dass sie selbst durch das spezifische Arrangement von materialen Dingen und Menschen Räumlichkeiten produzieren.21 b) als soziale Praktiken: Die städtischen Materialitäten und ihre räumliche Struktur beeinflussen, welche Praktiken in ihnen möglich sind, aber sie werden zugleich durch solche Praktiken der Benutzer und Bewohner produziert und gestaltet. Der scheinbaren Banalität des alltäglichen Verhaltens »in der Stadt« hat Michel de Certeau in seinem Text Gehen in der Stadt sozialwissenschaftliche Weihen gegeben, die es bereits bei Simmel und Benjamin besaß.22 21 | Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001. 22 | Michel de Certeau: »Gehen in der Stadt«, in: ders., Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 179-208; Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Georg Kramme (Hg.), Gesamtausgabe Bd. 7, Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Frank-

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Generell besteht die Stadt aus ihrer Nutzung, aus den spezifischen Routinen des Umgangs mit ihr, die im Sinne eines spacing wiederum den Raum strukturieren und markieren. Die Nutzer – oder besser: bestimmte Nutzergruppen – »machen« sich ihre Stadt in routinisierter wie veränderlicher Weise. Dies betrifft nicht nur den öffentlichen Raum der Straßen und Plätze, sondern auch den halböffentlichen der Einkaufspassagen und der Kaufhäuser, der Büros und Fabriken, der Orte der Hochkultur wie der Clubs und Szenen, schließlich den privaten der städtischen Wohnungen. Diese Praktiken des Umgangs mit der Stadt haben einen materialen wie kulturellen Charakter zugleich: Es handelt sich einerseits um »handfeste«, beobachtbare Bewegungen von menschlichen Körpern im und mit dem Raum. Zugleich aber hängen sie eng zusammen mit einem impliziten Wissen dieser Nutzer dessen, wie mit der Stadt umzugehen ist, welche Orte wie konnotiert sind, was wo zu erreichen ist etc. c) als Diskurse und Repräsentationssysteme: Die Praktiken, in denen Städte ihre Existenz erhalten, verarbeiten damit jene spezifischen Zeichen, cognitive maps, Bilder und Diskurse des Urbanen, in denen die Stadt erst eine spezifische Bedeutung erhält. Dies reicht von der alltäglichen Semiosis der Stadt – wie sie Roland Barthes in Semiotik und Urbanismus (1967) und Kevin Lynch in The Image of the City (1960) thematisieren –,23 in der bestimmte Milieus sich ihre spezifische symbolische Geografie der Stadt aneignen, bis hin zu den intellektuell-künstlerischen, den medialen, den architektonischen, schließlich den politisch-planerischen Stadtdiskursen, die Visionen gelungener Urbanität wie die Abgrenzung von der Riskanz des Molochs Metropole.

3. D ie Tr ansformation der modernen S tadt : B ürgerliche S tadt, funk tionale S tadt, spätmoderne S tadt Städte sind damit nicht nur Orte von sozialer Segregation und politischer Planung, sondern als Gefüge von stabilen wie sich destabilisierenden Materialitäten, Praktiken und Repräsentationsformen zu verstehen. Dies gilt auch für die creative cities, die kulturorientierten Städte der Gegenwart. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Transformation der Stadt in der Moderne als eine historische Sequenz dreier einander ablösender material-kultureller Formationen nachzeichnen, die – wie sich aus heutiger Perspektive zeigt – nicht dem einfurt a.M. 1995, S. 116-131; Walter Benjamin: »Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, in: ders., Illuminationen, Frankfurt a.M. 1969, S. 185-200. 23 | Vgl. Roland Barthes: »Semiotik und Urbanismus«, in: Alessandro Carlini (Hg.), Die Stadt als Text, Tübingen 1976, S. 33-42; Kevin Lynch: The Image of the City, Cambridge (Mass.) 1970.

Die Selbstkulturalisierung der Stadt

fachen Muster einer »Modernisierung« folgen, sondern in einer Diskontinuität zueinander stehen: die klassische bürgerliche Stadt; die funktionale Stadt der organisierten Moderne, schließlich eine komplexe globale Konstellation des Städtischen in der Spätmoderne, in der sich die kulturorientierte Stadt als neuer Knotenpunkt darstellt. Die späteren Formationen des Städtischen stellen sich in ihrer Anfangsphase als Reaktionen auf die Krise der jeweils vorhergehenden dar. So gerät die bürgerliche Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine grundlegende Legitimationskrise, und die funktionale Stadt bietet darauf eine Antwort. Analoges gilt für die Krise der funktionalen Stadt in den 1960er bis 80er Jahren und die Antwortfunktion der spätmodernen Kulturstadt. Tatsächlich handelt es sich weniger um die historische Aufeinanderfolge dreier Stadtkonstellationen als um deren jeweiligen Aufstiegs- und Abstiegskampf. Die bürgerliche Stadt, die funktionale Stadt und die kulturorientierte Stadt sind dabei nicht nur materiale Realitäten, sondern verkörpern jeweils auch im zeitgenössischen Kontext ein normatives Modell idealer Urbanität. Die drei Stadttypen stellen sich damit als Praxiszentren der drei übergreifenden Formen genuin moderner Gesellschaftlichkeit, der bürgerlichen Moderne, der organisierten Moderne und der Spät-, Post- oder Hochmoderne dar.24 Allerdings ist das Verhältnis zwischen ihnen nicht als das einer einfachen Ablösung zu denken: Elemente der älteren Stadtformen bleiben in den späteren erhalten und werden teilweise auch aktiv angeeignet (so die Zitation der bürgerlichen Stadt in der spätmodernen Kulturstadt). Die kulturorientierte Stadt der Spätmoderne wird nur verständlich durch ihren spezifischen historischen Stellenwert als Antwort auf die Krise der funktionalen Stadt und in ihren Ort innerhalb der gesamten Transformationssequenz des Urbanen. In welchem Maße die bürgerliche Moderne, die Moderne des Bürgertums und der bürgerlichen Gesellschaft, in ihrer langsamen Entstehung seit der Frühen Neuzeit auf die Stadt im Sinne des klassischen Typus der »europäischen Stadt« angewiesen ist und dort ihren ersten Manifestationsort findet, hat Max Weber in seiner Studie Die Stadt herausgearbeitet.25 Diese europäische Bürgerstadt entsteht nicht aus dem Nichts, sondern verarbeitet sowohl in ihrer Bausubstanz als auch in ihrem normativen Modell Elemente der spätmittelalterlichen Handelsstädte wie auch der höfischen Residenzstädte. Für 24 | Zu dieser Unterscheidung vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 25 | Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Kapitel V: Die Stadt, Tübingen 2000. Vgl. auch Peter Schöber: »Frühbürgerliche Gesellschaft und Stadtgemeinde im souveränen Macht- und Handelsstaat – die frühbürgerliche Stadt«, in: ders., Wirtschaft, Stadt und Staat. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Köln u.a. 2000, S 124-150; Hartmut Boockmann: Die Stadt im späten Mittelalter, München 1986.

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die bürgerlich-europäische Stadt des 17. bis 19. Jahrhunderts ist der strikte Dualismus zwischen Stadt und Land ebenso grundlegend wie die Differenzierung zwischen öffentlichem und privatem Raum als zwei komplementäre Sphären bürgerlichen Lebens, schließlich ihre ökonomische Basis im Handelskapitalismus, in deren Kontext die Stadt weniger Produktionsort denn Warenumschlagspunkt ist. Die Materialität der bürgerlichen Stadt wird geprägt von einer Konzentration der zentralen Funktionsorte bürgerlichen Lebens in ihrem geographischen Zentrum, eine Konzentration der politischen (Rathaus, Stadtverwaltung), ökonomischen (Kontore, Handelshäuser) und kulturellen (Theater, Oper, Universität) Funktionsorte. Dieses städtische Zentrum präsentiert sich zugleich als ein Raum öffentlicher Bewegungen, einer öffentlichen Aneignung und Begegnung.26 Der normative bürgerliche Stadtdiskurs nimmt die Stadt als Ort der genuin modernen Verkehrsformen wahr: des Handels, der Aufklärung und Bildung von Individuen, der politischen Selbstbestimmung des »Bürgers«, der zugleich »Bürgerlicher« ist. Die Migration in die Stadt erscheint als emanzipatorischer Prozess des Individuums wie des ganzen Landes. Entsprechend gilt die Abgrenzung der kulturellen und ökonomischen Inferiorität des Landlebens, das noch am ehesten zur Versorgung durch Rohstoffe und zur Erholung des Bürgers taugt. Die bürgerliche Stadt wird in einer sehr spezifischen Interpretation im Rahmen der »Renaissance des Urbanen« der spätmodern-kulturorientierten Stadt am Ende des 20. Jahrhunderts einen neuen Vorbildcharakter gewinnen,27 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerät sie jedoch aus guten Gründen – dies wird im Angesicht ihrer aktuellen Renaissance gerne vergessen – massiv in die Defensive. Die Hauptursache für diese graduelle Unterminierung der Realität und des Modells bürgerlich-europäischer Urbanität ist zum einen in den ungeplanten Konsequenzen der Industrialisierung und Landflucht zu suchen: Die europäischen und nordamerikanischen Städte werden zu Orten eines expandierenden Proletariats, das in der Regel segregierte Stadtviertel bewohnt und in keiner Weise an der bürgerlichen Öffentlichkeit zu partizipieren vermag, eine Verelendung, die Friedrich Engels in Die Lage der arbeitenden

26 | Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M. 1998. 27 | Vgl. dazu Wolfgang Kaschuba: »Urbane Identität: Einheit der Widersprüche?«, in: Vittorio Magnago Lampugnani (Hg.), Urbanität und Identität zeitgenössischer europäischer Städte, Zürich 2005, S. 8-28; Boris Romahn: »Renaissance der public sphere? ›Öffentlichkeit‹ als Ziel und Mittel neuerer marktkritischer Bewegungen«, in: Wolfgang R. Langenbucher/Michael Latzer (Hg.), Europäische Öffentlichkeit und medialer Wandel. Eine transdisziplinäre Perspektive, Wiesbaden 2006, S. 352-377.

Die Selbstkulturalisierung der Stadt

Klasse in England in Bezug auf Manchester suggestiv beschreibt.28 Entsprechend avanciert die Stadt zum Objekt der Sozialkritik und der Sozialreformer. Zum anderen gerät die bürgerliche Stadt infolge ihrer faktischen Transformation von der Handels- und Verwaltungsstadt zur »Metropole« am Ende des 19. Jahrhunderts auch auf der Ebene der kulturellen Repräsentation in die Defensive. Die ästhetischen Avantgardebewegungen betreiben eine neue Glorifizierung des Urbanen, aber dieses Urbane ist nicht mehr das der bürgerlichen Öffentlichkeit – die sich, wie Sennett gezeigt hat, im Laufe des 19. Jahrhunderts zugunsten bürgerlicher Privatisierung zunehmend auflöst –,29 sondern bezieht sich auf eine Urbanität ästhetisierter Räume. Die Öffentlichkeit der Stadt ist hier keine des zivil-kommunikativen Umgangs, sondern jene des öffentlich Sichtbaren, der ästhetisch erlebbaren Visualität.30 Das Tempo des Großstadtverkehrs, die spätbürgerlichen Konsumpaläste, das Spektakel der beginnenden populären Unterhaltungsformen, die Sichtbarkeit der Massen, die Präsenz unberechenbarer und zweifelhafter Stadtviertel – dies alles trägt aus der Avantgardesicht (etwa bei den Surrealisten oder in Baudelaires und Benjamins Konzept des Flaneurs31) zum ästhetischen Reiz der Metropole bei. In Paris, London, Berlin und New York findet sie beispielhaft ihren Ausdruck. Im doppelten, ungeplanten Überlagerungsprozess der bürgerlichen Stadt durch die »Metropole« und die proletarische Industriestadt avanciert die Stadt damit zum Objekt einer dreifachen Umdeutung, in der ihr zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre spezifisch bürgerliche Legitimation abhanden kommt: In der sozialkritischen Deutung wird die Stadt zum Ort unkontrollierter Verelendung; in der konträren avantgardistischen Deutung der Metropole erscheint sie als Ort spektakulärer ästhetischer Reize; drittens und zusätzlich schließlich wird die Stadt in der konservativen, kulturkritischen Deutung gerade in Bezug auf jene Merkmale, die den Avantgarden anziehend erscheinen, in anti-urbanistischer Stoßrichtung verdammt: Urbanität erscheint als Ort des moralischen Verfalls und der Sprengung sozialer Ordnungen.

28 | Vgl. Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, Stuttgart 1892 [1845]. 29 | Vgl. R. Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. 30 | Vgl. John Jervis: »Street People. The City as Experience, Dream and Nightmare«, in: ders., Exploring the Modern. Patterns of Western Culture and Civilization, Oxford u.a. 1998, S. 65-90; Raymond Williams: »When Was Modernism? Metropolitan Perceptions and The Emergence of Modernism«, in: ders., The Politics of Modernism, London 1989, S. 37-48. Ein spätes Echo dieses emphatischen Metropolendiskurses findet sich in Lewis Mumford: »What is a City?« [1937], in: Richard T. LeGates/Frederic Stout (Hg.), The City Reader, London/New York 2003, S. 85-89. 31 | Vgl. W. Benjamin: Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, S. 185-200.

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Die Antwort auf die Realität und das Modell der bürgerlichen Stadt ist die »funktionale Stadt«, die ab den 1920er Jahren bis in die 1970er Jahre hinein nicht nur den stadtplanerischen Diskurs im Westen wie in den neuen sozialistischen Gesellschaften beherrscht, sondern großflächig in eine neue städtische Realität umgesetzt wird.32 Die funktionale Stadt liefert das räumlich-materiale Pendant zur »organisierten Moderne«, einer Moderne der technisch-sozialen Organisation von Produktionsprozessen in großen Korporationen und des Massenkonsums der neuen Mittelschichten von Angestellten und Arbeitern.33 Ökonomisch ist die funktionale Stadt keine des Handelskapitalismus, sondern Industrie- und Verwaltungsstadt. Das elementare Problem, auf das die funktionale Stadt sich als radikal moderne Antwort versteht, betrifft die Organisation des Arbeitens und Wohnens für große Menschenmassen, damit die neue Schaffung städtischer Ordnung, zu der die bürgerliche Stadt am Ende nicht mehr in der Lage schien. Das zentrale Prinzip der funktionalen Stadt ist die Separierung der Sphären des Arbeitens und des Wohnens, letzteres in der Regel in der Peripherie, ersteres entweder im Zentrum oder auch in der Peripherie. Lebensstandard und Lebensqualität für die Massen – das heißt hier erträgliche oder komfortable Wohnbedingungen – erfordern in dieser Vorstellung eine strikte räumliche Auslagerung des Wohnens und Lebens – einschließlich der Freizeitaktivitäten – aus der inneren Stadt. Damit wird aber die Regulierung des Verkehrs – als öffentlicher Verkehr oder aber als automobiler Individualverkehr – zum zentralen Gestaltungsproblem der funktionalen Stadt. Das funktionalistische, städtebauliche Ideal ist das der »Serie«, d.h. der Reproduktion eines Prototyps, sei es im Wohnblock, sei es im Einfamilienhaus und ihr ästhetisches Prinzip das eines anti-ornamentalen Purismus, der sich bis in die Gestaltung der Innenarchitektur der »Wohnmaschinen« fortsetzt. Die funktionale Stadt kommt dabei in zwei verschiedenen Versionen vor: der europäischen der Bevölkerungskonzentration in Mehrfamilienwohnblöcken mit eigenen Stadtvierteln und der US-amerikanischen des Suburbanismus. Im städteplanerischen Modell repräsentieren Le Corbusier und Frank Lloyd Wright diese beiden Versionen: Le Corbusiers Vision einer Contemporary City of Three Million Inhabitants (1922) mit geometrisch abgezirkelten hochverdichteten neuen Stadtteilen und Wrights Vision Broadacre City: A New Community Plan, die aus suburbanen Einfamilienhäusern besteht und in denen ameri-

32 | Vgl. Thilo Hilpert: Die funktionelle Stadt. Le Corbusiers Stadtvision – Bedingungen, Motive, Hintergründe, Braunschweig 1978, S. 14-20, 39-57. 33 | Vgl. zur organisierten Moderne Peter Wagner: A Sociology of Modernity. Liberty and Discipline, London 1994.

Die Selbstkulturalisierung der Stadt

kanischer Individualismus und modernste Technik eine Symbiose eingehen sollen.34 Die materiale Realität der funktionalen Stadt ist in den westlichen Städten der Gegenwart noch ebenso präsent wie die der bürgerlichen Stadt. So wie die bürgerliche Stadt am Ende des 19. Jahrhunderts gerät allerdings auch die funktionale Stadt in den 1970er Jahren in eine Legitimationskrise. Wiederum kreuzen sich hier zwei voneinander unabhängige Faktoren: Eine unintendierte Folge der Etablierung von Wohn-Vorstädten, vor allem in Form der US-amerikanischen Suburbanisierung, ist der Niedergang der Innenstädte, in der eine neue – häufig auch ethnisch strukturierte – Ghettobildung stattfindet, ein Niedergang, der nun genau das aufkommen lässt, was die funktionale Stadt überwinden und vermeiden wollte: soziale Desintegration.35 Diese soziale Desintegration findet sich auch in den kollektiven »Wohnmaschinen« europäischer Prägung, deren soziale Praxis sich nicht in jener Weise steuern ließ, wie es die funktionalistische Stadtplanung anvisierte. Die zweite Linie der Delegitimation ergibt sich aus einem kritischen Stadtdiskurs und einer gegenkulturellen Okkupation der Innenstädte, die in den 1960er und 70er Jahren auch im Zusammenhang der Studentenbewegung und der Counter Culture einsetzen und interessanterweise Elemente des emphatischen Urbanitätsdiskurs der Avantgarden der Jahrhundertwende aufnehmen. In einem kritischen Stadtdiskurs, der von Alexander Mitscherlich bis Jane Jacobs reicht, erscheint die funktionale Stadt als unwirtliche, kreativitätstötende Kontrollmaschine und »wahre« lebendige Urbanität als eine innerstädtische Praxis der Vermischung von Leben und Arbeiten, ein Raum, der sich sozialer Kontrolle ebenso entzieht, wie er neue kollektive neighbourhoods stiftet. Sehr praktisch wird dieser kritische Urbanismus in der Bewegung des homesteading und der Hausbesetzungen in den 1970er Jahren von Brooklyn bis Zürich umgesetzt.36 Die kulturorientierte creative city, wie sie seit den 1980er Jahren Gestalt gewinnt, stellt sich in vieler Hinsicht als Antwort auf die Legitimationskrise der funktionalen Stadt dar. Sie ist dabei auch Ergebnis einer Unterminierung von deren ökonomischen und sozial-kulturellen Grundlagen: Die funktionale 34 | Vgl. Le Corbusier: »A Contemporary City«, in: Le Corbusier, The City of Tomorrow and its Planning, London 1987 (1929), S. 163ff.; Frank Lloyd Wright: »Broadacre City: A New Community Plan«, in: Architectural Record 4 (1935), S. 243-254. 35 | Vgl. zur Suburbanisierung Kenneth Jackson: The Crabgrass Frontier. The Suburbanization of the United States, New York 1985; Robert Fishman: Bourgeois Utopias. Rise and Fall of Suburbia, New York 1987. 36 | Vgl. Manuel Castells: The City and the Grassroots: A Cross-Cultural Theory of Urban Social Movements, Berkeley 1983; Jane Jacobs: Death and Life of Great American Cities, New York 1961; Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit der Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a.M. 1965.

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Stadt mit ihrer Separierung von Arbeiten und Leben und ihrer Vision eines Bauens in »Serie« war aufs engste mit einem industriegesellschaftlichen Fordismus und einer Dominanz einer Mittelschicht und verkleinbürgerlichten Arbeiterschaft mit standardisierten Freizeit- und Konsumgewohnheiten verknüpft. Seit den 1970er Jahren lässt sich jedoch gerade in vielen urbanen Zentren – jedenfalls insofern sie den ökonomischen Umbau erfolgreich bewältigen – eine Transformation von einer industriegesellschaftlichen zu einer post-industriellen Basis beobachten, in denen Dienstleistungen, Wissensarbeit und kulturelle Symbolproduktion ein neuer Stellenwert zukommt, eine Entwicklung, die die Sozialwissenschaften mit Hilfe verschiedener Konzepte – flexible Spezialisierung, Postfordismus, Dienstleistungsgesellschaft etc. – beschrieben haben.37 Dabei haben die jeweiligen soziologischen Studien sich in der Regel jedoch nicht sonderlich um die räumlichen Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Transformationen gekümmert und sind teilweise sogar explizit von einem Bedeutungsverlust räumlicher Kategorien in postindustriellen Gesellschaften insgesamt ausgegangen.38 Viele der spätmodernen Arbeitsformen finden allerdings nicht mehr in Großkorporationen statt und sind daher entweder auf räumliche Vernetzung vor Ort oder face-to-face-Kundenkontakt angewiesen – und damit auf eine räumliche Konzentration, die alles andere als ortsindifferent ist. Hinzu kommt, dass die Ansprüche der neuen akademischen, »postmaterialistischen« Mittelschichten an die Wohn- und Lebensumwelt und deren »Lebensqualität« die Suburbanisierung häufig inadäquat und die wiederhergestellten Innenstädte attraktiv erscheinen lassen.39 Die alltagsästhetischen Reize der Urbanität sind für diese Gruppen ebenso von Relevanz wie die erleichterte Organisation eines in starkem Maße auf haushaltsnahe Dienstleistungen angewiesenen Alltags, wie sie für Lebensformen jenseits der klassisch suburbanen Hausfrauenehe, das heißt für Doppelverdiener mit und ohne Familie sowie für Singles, wichtig wird. Während Realität und Modell der funktionalen Stadt urbane Verdichtung im Zentrum als Risiko wahrnahmen – als Auslöser sozialer Anomie und metropolitaner Unberechenbarkeit – und entsprechend auf die räumliche Auslagerung von Wohnfunktionen setzte, verlegt sich die kulturorientierte Stadt umgekehrt auf die Verdichtung des räumlichen Zentrums. Dabei fließen ökonomische Gründe – der Notwendigkeit räumlicher Vernetzung der creative industries in creative clusters 37 | Vgl. Micheal J. Piore/Charles F. Sabel: The Second Industrial Divide. Possibilities for Prosperity, New York 1984; Scott Lash/John Urry: The End of Organized Capitalism, Madison 1987. 38 | Vgl. klassisch Melvin M. Webber: »The Post-City Age«, in: Daedalus 97 (1968), S. 1091-1110. 39 | Zum kulturellen und sozioökonomischen Format dieser Mittelschichten vgl. Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism, London 1991.

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– mit dem neuen kulturellen Bedürfnis nach »authentischer« Urbanität zusammen. Paradigmatisch für die hier vertretene Vision eines »neuen Urbanismus« ist 1987 die städtebauliche Programmschrift Toward an Urban Design Manifesto von Jacobs und Appleyard. Urbanität wird hier als urban experience verstanden und diese emphatisch umschrieben: »This phenomenological view of the city was espoused by Rasmussen, Kepes, and ultimately Kevin Lynch and Jane Jacobs. It identified a whole new vocabulary of urban form – one that depended on the sights, sounds, feels, and smells of the city, its materials and textures, floor surfaces, facades, style, signs, lights, seating, trees, sun, and shade all potential amenities for the attentive observer and user. This has permanently humanized the vocabulary of urban design, and we enthusiastically subscribe to most of its tenets.« 40

4. S echs E lemente der kulturorientierten S tadt Die kulturorientierte Stadt ist ein komplexes Gebilde, das sich nicht auf ein einziges Schlagwort – Ästhetisierung, Gentrifizierung, Renaissance der Innenstädte etc. – reduzieren lässt, sondern mehrere Elemente und Phänomene miteinander kombiniert, zwischen denen sich teilweise ein Spannungsverhältnis ergibt. Entscheidend ist dabei, dass an jedem dieser Phänomene unterschiedliche Instanzen – Akteursgruppen oder Institutionen – beteiligt sind, die allesamt die Kulturalisierung forcieren und die sich zugleich in einem Definitionskonflikt darüber befinden, was die Kulturalisierung genau bedeuten soll und in welche Praxis sie sich umsetzt. Hier handelt es sich vor allem um vier Instanzen: das ökonomische Interesse auf der Produktions- wie auf der Konsumtionsseite an der Entwicklung einer funktionsfähigen und profitablen symbolic economy; das bereits genannte politisch-staatliche Interesse einer kulturellen Gouvernementalität; schließlich das Interesse der neuen akademischen Mittelschichten sowie der ästhetischen Subkulturen – die beide noch einmal voneinander zu unterscheiden sind – an einer Kulturalisierung des städtischen Raumes. Zentral ist, dass sich die Kulturalisierung der Stadt nicht auf die Aktivitäten einer einzigen dieser Instanzen reduzieren lässt, dass sie nicht allein bottom up von den Mittelschichten oder den Subkulturen oder top down von der postfordistischen Ökonomie oder von der staatlichen kulturellen Gouvernementalität ausgeht. Vielmehr konnte die Kulturalisierung der Stadt dadurch eine derartige Dominanz erlangen, dass sie übereinstimmend vom Viereck dieser unterschiedlichen Instanzen zugleich forciert wird. Vor allem 40 | Jane Jacobs/Donald Appleyard: »Toward an Urban Design Manifesto«, in: Richard T. LeGates/Frederic Stout (Hg.), The City Reader, S. 456-466, hier: S. 458.

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sechs Phänomene stellen sich als Bestandteile der kulturorientierten Städte dar, wie sie sich seit den 1980/90er Jahren beobachten lassen: a) Etablierung der Kunstszene: Auch die bürgerliche Stadt war ein Ort der Kunstproduktion, und zwar für ein bürgerliches Publikum wie auch für aristokratische Abnehmer, daneben zumindest teilweise – klassisch das Paris des 19. Jahrhunderts – auch der Ort einer kunstorientierten Gegenkultur, der Bohème. In der funktionalen Stadt hatten diese Kunstszenen ihren Ort verloren und waren eher ein Untergrundphänomen. Für die kulturorientierten Städte erweisen sich nun künstlerische Szenen, d.h. räumlich fokussierte Lebens- und Arbeitsformen vor allem in den Bereichen Bildender Kunst und Musik, aber auch in einem breiteren Feld von Aktivitäten, die sich zwischen Kunst und Kunsthandwerk/Design sowie Kunst und Eventkultur bewegen, als grundlegend.41 Die künstlerischen Aktivitäten der Teilnehmer der postmodernen Kunstszene sind damit wesentlich breiter angelegt, als dies für die klassische bürgerliche Kunst galt, und sie gehen auch über Adornos Kulturindustrie hinaus. Sie sind zudem deutlich stärker auf die Kreation sichtbarer oder erlebbarer Produkte ausgerichtet, die einen »performativen« Charakter öffentlicher Darstellung haben. Die Teilnehmer der Kunstszenen bilden eine Art »Neobohème«, die auf Distanz zu den Mittelschichten geht und in den kulturorientierten Städten »eigene« Stadtviertel erschließt, die eine Vernetzung in Lebensstil und Arbeit ermöglicht. Bereits klassisch wurde diese von Sharon Zukin in Bezug auf die New Yorker Loft-Wohnungen im Soho der 1970er Jahre, jüngst von Richard Lloyd in Bezug auf Chicagos Wicker Park herausgearbeitet, der in diesem Zusammengang auch den Begriff der neo-bohemia einführt.42 Dass solche innenstadtnahen, häufig ehemals sozial belasteten oder verwahrlosten und nun wieder hergerichteten – dabei auch bestimmten Konjunkturen unterliegenden – Stadtviertel zum Lebens- und Arbeitsraum einer Kunstszene avancieren, stellt sich anders als in der bürgerlichen Stadt nicht als eine Marginalie, sondern als ein elementares Merkmal der kulturorientierten Stadt dar. Die künstlerische Neobohème hat allerdings nichts Anti-Hegemoniales mehr an sich, sondern wird sowohl ökonomisch gestützt als auch politisch gefördert, sie ist also trotz aller gegen den vorgeblichen Mainstream gerichteten Distinktionsansprüche vollständig integriert. Die postmoderne Kunstszene mit ihren fließenden Grenzen zu Design und Eventkultur findet in den kulturorientierten Städten Publikum und Klientel, in erster Linie in den postmaterialistischen akademischen Mittelschichten sowie der neuen kunstaffinen 41 | Vgl. ausführlicher Bastian Lange: Die Räume der Kreativszenen. Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin, Bielefeld 2007. 42 | Vgl. Sharon Zukin: Loft Living: Culture and Capital in Urban Change, New Brunswick 1989; Richard D. Lloyd: Neo-Bohemia. Art and Commerce in the Postindustrial City, London/New York 2005.

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Oberklasse, die beide in ihrem Lebensstil nicht selten offen oder insgeheim einem »Künstlerideal« (Boltanski) des Kreativen folgen.43 Den Teilnehmern der Kunstszenen bietet sich im Rahmen ihrer lokalen Netzwerke ein geeignetes Umfeld, um zum culturepreneur zu werden, so dass die Kunstszene sich ökonomisch in den urbanen Markt symbolischer Güter einfügt, auf dem die Grenzen zwischen Kunstprodukten und allgemeinem Konsum fließend werden.44 Zugleich sind die »neobohèmen« Kunstszenen regelmäßig einer politisch-staatlichen Förderung (und damit zugleich Regulierung) ausgesetzt, sei es über die unmittelbare städtische Kulturförderung, sei es über die indirekte Förderung etwa durch die Restaurierung von Innenstadtvierteln und die Identifikation der Künstlerviertel als willkommenes Mittel eines überregionalen place branding. b) Creative industries: Die kulturorientierte Stadt ist der primäre Standort jener expandierenden Berufszweige und Unternehmen, die im Wesentlichen Symbolproduktion betreiben, der creative industries.45 Dieses Feld umfasst alte und neue Medien, Beratung, Werbung, Forschung und Entwicklung, Tourismus, Design, Mode und die höheren Segmente der Gastronomie. Die symbolproduzierende Ökonomie liefert die wirtschaftliche Basis der kulturalisierten Stadt. Im Unterschied zum Modell der Großkorporation der organisierten Moderne umfasst die symbolproduzierende Ökonomie auch stärker nicht-hierarchische Organisationsformen, nicht zuletzt auch projektorientierte Arbeitsformen und neue Selbständige.46 Es handelt sich nicht um künstlerische Berufe im engeren Sinne, wiewohl an den Rändern – etwa im Design und der Eventkultur – die Grenzen fließend sind. Das Verhältnis zwischen den kommerziellen creative industries und den Kunstszenen bleibt dabei nicht ohne Spannungen, für beide ist jedoch in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen eine Kombination von Ästhetisierung und Vermarktlichung der Arbeitsformen grundlegend. Die creative industries sind das primäre Berufsfeld der neuen, akademischen Mittelschichten, und die Heranlockung der creative industries in 43 | Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. 44 | Vgl. zu diesem Begriff B. Lange: Die Räume der Kreativszenen. Zur Ökonomisierung künstlerischer Berufe vgl. auch Angela McRobbie: »›Jeder ist kreativ‹. Künstler als Pioniere der New Economy?«, in: Jörg Huber (Hg.), Singularitäten – Allianzen. Interventionen II, Wien/New York 2002, S. 37-59. 45 | Vgl. Sharon Zukin: Cultures of Cities, Cambridge u.a. 1997; Scott Lash/John Urry: Economies of Signs and Space, London u.a. 1994; Jeremy Rifkin: The Age of Access: The New Culture of Hypercapitalism, Where all of Life is a Paid-For Experience, New York 2000; Thomas Frank: The Conquest of Cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism, Chicago 1997; Hans J. Pongratz/G. Günter Voß: Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003. 46 | Vgl. L. Boltanski/È. Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus.

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die Stadt ist – wie es Florida treffend beschreibt wie betreibt – ein zentrales Ziel der städtischen kulturellen Gouvernementalität. Der britischen Labour-Regierung nach 1997 kam hier eine Pionierrolle zu.47 Die räumliche Verankerung der creative industries innerhalb der Stadt kann sich als sehr unterschiedlich darstellen: Häufig sind es wiederum die wiederhergerichteten innenstadtnahen Stadtviertel, in denen sich – gemeinsam mit den Kunstszenen oder in einem Verdrängungswettkampf mit ihnen – die creative industries konzentrieren. Wie es Martina Heßler in Bezug auf München zeigt, können gerade jene Zweige der creative industries, die man als technisch orientierte Wissensökonomie zusammenfassen kann, jedoch auch in den Vorstädten angesiedelt werden.48 Generell scheinen die creative industries jedoch trotz aller Möglichkeiten kommunikativ-digitaler Vernetzung auf ihre räumliche Konzentration in der kulturalisierten Stadt angewiesen. Sie sind nicht an beliebigen Orten ansiedelbar – so wie es durchaus für die Großkorporationen der organisierten Moderne galt, die nötigenfalls in komplett neugegründete Städte wie Wolfsburg oder Eisenhüttenstadt implantiert werden konnten –, sondern profitieren in ihrer Ideen- und Symbolproduktion von den face-to-face-Kontakten zwischen den Branchen, zu den Klienten sowie zu den vielfältigen Lebensstilen der kulturorientierten Stadt. c) Konsumentenkultur: Dass die nach-funktionale Stadt sich durch eine Ausdifferenzierung und Ästhetisierung von Konsumangeboten auszeichnet, ist bereits zu Beginn der 1980er Jahre im Zusammenhang mit der soziologischen Postmoderne-Debatte herausgestellt worden.49 Die Tatsache, dass Städte sich als primäre Präsentations- und Erwerbsorte der »ungeheuren Warensammlung« der kapitalistischen Ökonomie darstellen, gilt nun bereits für die bürgerliche wie für die funktionale Stadt. Kennzeichnend für die kulturorientierte Stadt der Spätmoderne ist jedoch die offensive Umformung der Stadtzentren zu Schaustellen konsumtorischer Opulenz – paradigmatisch in den Shopping Malls –, in denen der Akt des Warenkaufs und die Präsentation der Waren als Träger bestimmter ästhetischer Stile zum Bestandteil einer experience economy und das shopping selber zu einer charakteristisch urbanen, öffentlichen Freizeitaktivität werden.50 Dabei findet in mancher Hinsicht ein Rückgriff auf die spätbürgerliche Form spektakulären urbanen Konsums – 47 | Vgl. A. McRobbie: »Jeder ist kreativ«. 48 | Vgl. Martina Heßler: Die kreative Stadt. Zur Neuerfindung eines Topos, Bielefeld 2007. 49 | Vgl. M. Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism; darin besonders: »City Cultures and Postmodern Lifestyles«, S. 95-111. 50 | Vgl. Joseph Pine/James Gilmore: The Experience Economy. Work is Theatre and Every Business a Stage, Cambridge (Mass.) 1999; Rob Shields: Lifestyle Shopping. The Subject of Consumption, London/New York 1992.

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etwa in Form der Arkaden – statt. Im Unterschied zu jenem vergleichsweise standardisierten Massenkonsum, wie er in der funktionalen Stadt seinen Ort hatte, ist die spätmoderne experience economy, welche die Innenstädte prägt, jedoch in relativ starkem Maße von spezialisiertem Nischenkonsum wie von »glamourösem« Luxuskonsum geprägt. Dominant werden Spezialgeschäfte, die Waren mit unterschiedlichem Symbolgehalt und für eine Vielzahl unterschiedlicher Publika anbieten, während das Allzweck-Warenhaus (sofern es nicht an die Tradition des spätbürgerlichen Luxuskonsumpalastes anknüpft) in die Defensive gerät. In der experience economy der kulturorientierten Stadt kombiniert sich dabei die Präsentation von materialen Gütern mit erlebnisorientierten Dienstleistungen wie der Gastronomie und kulturellen »Events«. Das konsumtorische Angebot der kulturorientierten Stadt wird darüber hinaus zu einem Anreizfaktor des in der Spätmoderne expandierenden Städtetourismus. d) Musealisierung/Eventifizierung der Hochkultur: Im Zentrum der bürgerlichen Stadt befanden sich die Orte der bürgerlichen Hochkultur (Theater, Oper, Museen). Die spätmoderne kulturorientierte Stadt greift nun in einer auf den ersten Blick verblüffenden Weise auf die bürgerliche Hochkultur zurück, die im Zuge der massengesellschaftlichen »Kulturindustrien« im Laufe des 20. Jahrhunderts irreversibel in die Defensive geraten schien, transformiert diese dabei aber in eine spezifische Richtung. Fester Bestandteil der neuen Kulturorientierung ist eine Expansion auch der »klassischen« Kulturereignisse der Hochkultur, des Theaters, des Tanztheaters, des Konzerts, der Literaturlesung und nicht zuletzt des Museums. Der Prozess der Musealisierung ist dabei besonders aussagekräftig.51 In den 1980er Jahren setzt auf breiter Front ein Musealisierungsboom ein, der schwerpunktmäßig in den Städten neue Museen für Bildende Kunst, aber darüber hinaus eine Fülle von Museen für und um lokale Besonderheiten schafft – Industrie- und Technikmuseen, historische Museen, Museen in Bezug auf prominente Personen, vor allem Künstler, Museen mit Blick auf bestimmte, »interessant« erscheinende kulturelle Gruppen, Design- und Kunsthandwerkmuseen. Hier findet eine Kulturalisierung in jenem Sinne statt, dass die Sphäre des Museumswürdigen und das heißt dessen, was bedeutsam genug erscheint, um in seiner symbolischen Qualität über sich selbst hinauszuwirken und zum Anschauungsobjekt zu werden, massiv ausgedehnt wird. Für sämtliche Kulturangebote ist es kennzeichnend, dass sie – im Unterschied zur Beständigkeit der klassischen bürgerlichen Hochkultur mit ihren 51 | Vgl. dazu Michael Müller: »Die ausgestellte Stadt«, in: Reiner Matzker/Michael Müller (Hg.), Medienwissenschaft – Kommunikation, Kunst und Kultur, Bern/Berlin, 2002, S. 165-176; Gerda Breuer (Hg.): Neue Stadträume zwischen Musealisierung, Medialisierung und Gestaltlosigkeit, Frankfurt a.M. 1998.

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ständigen Sammlungen, Repertoiretheatern etc. – nun häufig in Form von temporären, wechselnden Veranstaltungen, etwa von Festivals oder Sonderausstellungen stattfinden, die einen ständigen Wechsel von Reizen und eine immer neue Aufmerksamkeit sichern.52 Die Kulturangebote der expandierten Hochkultur richten sich dabei an Stadttouristen ebenso wie an ihre Bewohner, die ihrer eigenen Stadt gegenüber einen touristischen Blick pflegen. Wiederum sind alle vier relevanten Akteure an der Ausbildung dieser Kulturalisierung der Stadt im engeren Sinne beteiligt: die akademischen Mittelschichten als Publikum, die Subkulturen als Produzenten zumindest der experimentell ausgerichteten Versionen der Kulturangebote, die Stadtpolitik, für die Kulturpolitik i.e.S. zum place branding beiträgt; schließlich stellen sich die expansiven Kulturangebote als Bestandteil einer ausgreifenden Kulturökonomie dar. e) Ästhetisierte Stadtviertel: Die Renaissance der Innenstädte der creative cities umfasst nicht nur die sich dort ansiedelnden creative industries, die Orte der alten und neuen Kulturvermittlung sowie die Kunstszenen, sondern auch und gerade die innenstadtnahen Stadtviertel als ästhetisiert aufgearbeitete Wohnviertel für die akademischen Mittelschichten und ihre Suche nach urbaner Authentizität. Bereits Mitte der 1960er Jahre lässt sich dieser Prozess in Teilen von London und von New York beobachten, und er wird früh unter dem suggestiven Begriff der gentrification zusammengefasst.53 Dieser bezeichnet eine mehrphasige Transformation, deren ersterer Schritt eine partielle Besiedelung bisher verwahrloster innenstadtnaher Stadtviertel – häufig mit hoher Altbausubstanz – durch »alternative« – künstlerische, studentische, subkulturelle, jungakademische – Bewohner darstellt, die zugleich die Bausubstanz renovieren. Am Ende der gentrification steht ein kompletter Bevölkerungsaustausch, so dass wohlhabende (höhere) Mittelschichten und die Oberklasse die Viertel bewohnen und dort häufig Wohneigentum erwerben. Dieser Prozess widerspricht jenem scheinbar ehernen stadtsoziologischen Gesetz, das 1925 Ernest Burgess in The Growth of the City aufstellte und das sich nun lediglich für die historische Phase der »funktionalen Stadt« einschließlich ihrer suburbanistischen Variante als haltbar erweist: dem Gesetz, dem zufolge die innen52 | Vgl. dazu Regina Bittner (Hg.): Die Stadt als Event. Zur Konstruktion urbaner Erlebnisräume, Frankfurt a.M. 2002; Gabriele Klein: »Marathon, Parade und Olympiade. Zur Festivalisierung und Eventisierung der postindustriellen Stadt«, in: Sport und Gesellschaft 3 (2004), S. 269-280. 53 | Vgl. Loretta Lees/Tom Slater/Elvin Wyly: Gentrification, London 2007. Der Begriff gentrification wird 1964 erstmals von Ruth Glass in Bezug auf London verwendet. Vgl. als aktuelle ausführliche Fallbeispiele Jon Caulfield: City Form and Everyday Life: Toronto’s Gentrification and Critical Social Practice, Toronto 1994; Tim Butler/Garry Robson: London Calling: The Middle Classes and the Re-Making of Inner London, Oxford/New York 2003.

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stadtnahen Zonen dazu verdammt sind, sozial und material zu verwahrlosen, während die Mittelschichten in die Vorstädte fliehen.54 Das Konzept der gentrification bleibt allerdings sehr selektiv, da es – in der Tradition der an sozialer Integration und Segregation interessierten klassischen Stadtsoziologie – das Element des Bevölkerungsaustausches und des sozialen Prestigegewinns in den Vordergrund rückt. Von Bedeutung ist aber auch hier die Transformation der Materialität der entsprechenden Stadtviertel, ihres symbolischen Gehalts und ihrer Nutzungspraktiken über das Wohnverhalten hinaus. Die Restaurierung von Altbauten – einschließlich jener Industriebauten, die Zukin in ihrem Klassiker Loft Living als bevorzugten Ort der Kunstszene in New York-Soho in den 1970er Jahren im Detail analysiert 55 – ist nur vor dem Hintergrund eines Wandels der ästhetischen Sensibilität vom funktionalistischen Modernismus zu einer postmodernistischen Alltagsästhetik zu verstehen. Jameson umschrieb diese immer noch treffend mit den Begriffen des nostalgischen mode rétro und des historisierenden pastiche.56 Historisierende Architektur und modernistische Innenarchitektur müssen in diesem Zusammenhang keinen Widerspruch darstellen. Die gentrifizierten Stadtviertel sind insofern in einem Maße für ihre Nutzer ästhetisierte, sinnlich und affektiv reizvolle Stadtviertel mit Authentizitätsanspruch, wie es für die funktionale, semiotisch vergleichsweise »dünne« und ausdrücklich »anti-ornamentale« Stadtlandschaft nicht denkbar war. Zentral für die ästhetisierten innenstadtnahen Viertel ist damit zudem gerade, dass sie keine reinen Wohnviertel bilden, sondern gleichzeitig expandierende Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten und teilweise auch Arbeitsorte der Kunstszenen und der creative industries bieten. Insofern stehen sie im Sinne einer Entdifferenzierung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit in deutlichem Widerspruch zur Separierung von Wohnen und Arbeiten in der funktionalen Stadt. f) Solitärarchitektur: Die Architektur der bürgerlichen Stadt war primär Repräsentationsarchitektur der öffentlichen bürgerlichen Institutionen und daneben der privaten bürgerlichen Wohnhäuser, in der Regel in einem einheitlichen klassizistischen Stil errichtet. Im Zentrum der Architektur der 54 | Ernest W. Burgess: »The Growth of the City: An Introduction to a Research Project«, in: Robert E. Park/Ernest W. Burgess/Roderick D. McKenzie (Hg.), The City. Suggestions for Investigation of Human Behavior in the Urban Environment, Chicago 1967, S. 47-62. 55 | Vgl. S. Zukin: Loft Living. 56 | Fredric Jameson: Postmodernism or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991. Zur gentrification aesthetic vgl. auch Michael Jager: »Class Definition and the Aesthetics of Gentrification: Victoriana in Melbourne«, in: Neil Smith/Peter Williams (Hg.), Gentrification of the City, Boston 1986, S. 78-91. Diskurshistorisch kann die Ästhetisierung auf Camillo Sitte (Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889) zurückgreifen.

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funktionalen Stadt standen die extrem verdichteten Wohnviertel, daneben die Verkehrstechnologien, wiederum in der Regel in einheitlichem, nun modernistischem Stil. Für die kulturorientierte Stadt ist demgegenüber kennzeichnend, dass sie seit den 1990er Jahren auf spektakuläre Einzelbauwerke setzt, die jeweils einem individuellen, darin möglichst »unverwechselbaren« Stil folgen, gewissermaßen auf Solitärarchitektur,57 die häufig auch mit einem entsprechenden Design der Innenarchitektur verknüpft ist. Die sog. »postmodernistische« Architektur der 1970er Jahre mit ihrem Hauptkennzeichen der Kombinierbarkeit diverser historischer und geografischer Architekturversatzstücke ist hier keineswegs an ein Ende gekommen,58 sondern liefert eigentlich erst seit den 1990er Jahren auf breiter Front den Hintergrund für eine enorme Variationsbreite städtischer Solitärarchitektur. Die Funktionen der Häuser sind dabei sekundär, Opernhäuser oder Bibliotheken werden genauso zum Gegenstand der Solitärarchitekten wie Einzelhandelsgeschäfte oder Wohnhäuser. Die Solitärarchitektur wird sowohl von der Stadtpolitik als auch von privaten Trägern gefördert und zielt wiederum auf eine Steigerung der Nichtaustauschbarkeit der Wahrnehmung der einzelnen Stadt bzw. des einzelnen Gebäudes ab. Solitärarchitektur ist dann (wie auch der Erhalt der Bestände bürgerlicher Architektur, die mit der weitgehenden Diskreditierung der funktionalistischen Architektur kontrastiert) eine »kulturelle Ressource« der Stadt, die wiederum auf eine gesteigerte ästhetische Sensibilität des Mittelschichtspublikums trifft.

5. D ie K ultur alisierung des U rbanen und ihr A ussen Die sechs genannten Prozesse kombinieren sich und tragen gemeinsam zur urbanen Selbstkulturalisierung bei. Wenn sich Kultur in diesem Zusammenhang als ein Ensemble von Bedeutungen, von Zeichen und Symbolen darstellt, dann stimmen die genannten Prozesse darin überein, dass sie die einzelne Stadt als einen spezifischen Raum der Produktion, Zirkulation und Rezeption von Bedeutungen, Symbolen und Zeichen etablieren:59 als einen Ort der Produktion jener im weitesten Sinne ästhetischen Zeichen, welche von den Kunstszenen ausgehen und von der Hochkultur in die Welt gesetzt werden; als einen Ort jener profaneren Bedeutungen und symbolischen Produkte, welche 57 | Vgl. als Beispiele Philip Jodidio (Hg.): Architecture Now! Bd. I-V Köln u.a. 20012007; Larry R. Ford: »Word Cities and Global Change. Observations on Monumentality in Urban Design«, in: Eurasian Geography and Economics 3 (2008), S. 237-262. 58 | Vgl. Charles Jencks: Was ist Postmoderne?, Zürich u.a. 1990. 59 | Vgl. zu diesem Kulturbegriff Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000.

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die creative industries hervorbringen und die in der ubiquitären consumer culture rezipiert werden; schließlich als einen Ort jener Zeichen und Symbole, als deren Träger sich die ästhetisierten Stadtviertel und die Solitärarchitektur darstellen. Auf diese Weise kann die einzelne Stadt – und auch das einzelne Stadtviertel, ja das einzelne Gebäude, schließlich die einzelne Wohnung in ihrer Inneneinrichtung – selbst als nicht-austauschbares Zeichen, als Fixpunkt eines bestimmten Symbolgehalts wahrgenommen werden. Und diese Sinnzuschreibung gegenüber dem städtischen Raum kann zum Ziel der kulturellen Gouvernementalität und ihres place branding ebenso wie zum Ziel privatwirtschaftlicher Werbestrategien werden.60 Hier lässt sich eine bezeichnende Differenzorientierung der kulturellen Gouvernementalität (die mit einer entsprechenden Differenzorientierung spätmoderner Selbsttechnologien übereinstimmt61), ein Interesse an der Produktion von »Individualität« qua Unterscheidung beobachten, die mit der an kollektiven, homogenen und seriellen Mustern orientierten Planung der funktionalen Stadt scharf kontrastiert. Die Stadt arbeitet daran, unterscheidbar zu sein und zu werden, sich als Ort von anderen Orten deutlich und sichtbar zu unterscheiden, Besonderheiten ihr Eigen zu nennen, die andere Städte nicht teilen. Diese Differenzorientierung richtet sich ebenso sinnstiftend nach innen, an die Bewohner (und wird von diesen selbst, etwa in der Repräsentation der einzelnen Stadtviertel als »gute« oder »schlechte«, »coole« oder »spießige« Viertel weitergeführt) wie auch nach 60 | Diese kulturelle Gouvernementalität muss sich nicht auf einzelne Städte und Regionen beschränken, sondern kann zu einem Ziel nationaler Politik werden (welches dann auch mit einer entsprechenden nationalen Außendarstellung verknüpft ist). Das beste Beispiel ist hier sicherlich die umfassende Strategie kultureller Gouvernementalität der britischen Labour-Regierung seit 1997, in der sich die gezielte Förderung von creative industries, eine Bildungspolitik, die auf »kulturelle Kompetenzen« ausgerichtet ist und eine nationale Selbstinszenierungsstrategie, die kurzfristig mit der »Marke« Cool Britannia verknüpft war, miteinander kombinieren. Vgl. dazu kritisch auch Kate Oakley: »Not so cool Britannia: The Role of the Creative Industries in Economic Development«, in: International Journal of Cultural Studies 1 (2004), S. 67-77. 61 | Diese Differenzorientierung des spätmodernen Selbst lässt sich im Imperativ der »obligation to dissent« zusammenfassen: Die spätmoderne Subjektivierungsform, wie sie sich seit den 1980er Jahren in verschiedensten kulturellen Formationen (Arbeitsmarkt, individualitätsorientierter Konsum, body politics, massenmediale Formate der Selbststilisierung) herauskristallisiert, prämiert nicht Konformität, sondern individuelle Differenz, »Einzigartigkeit«, zumindest sozial gebilligte Einzigartigkeiten. In Bezug auf die Stadt wie auf das Selbst mündet die Individualitäts- und Differenzorientierung paradoxerweise jedoch wieder in vertraute, sich wiederholende kulturelle Muster, die nach individualistischer Überbietung verlangen: »Stadt am Wasser«, »Designmetropole«, »Museumsstadt« etc.

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außen, an potentielle Zuzügler, an Stadttouristen, an mobile Unternehmen, an potentielle Konsumenten stadtspezifischer Güter. Die sich selbst kulturalisierende Stadt ist jedoch im Verständnis dieser Kulturalisierung alles andere als eindeutig. Zwar treiben die symbolic economy, die kulturelle Gouvernementalität des Staates, die akademischen Mittelschichten (als Bewohner, Besucher und Arbeitnehmer) sowie die gegenkulturellen Szenen die Stadt übereinstimmend in diese Richtung, aber ihre Definitionen und Teleologien gelungener Kulturalisierung differieren im Viereck zwischen den Vermarktungsinteressen von Zeichen und Erlebnissen in der symbolic economy, den Interessen am Erhalt der ökonomischen und sozialen Substanz der Stadt von Seiten der staatlichen Steuerung, den Wohn-, Freizeit- und Lebensqualitätsinteressen der neuen Mittelschichten sowie den Interessen am Erhalt distinkter Szenen von Seiten der künstlerischen Milieus. Was ist nun aber das Außen, das konstitutive Außen der sich selbst kulturalisierenden Stadt?62 Gibt es jenseits der subtilen Differenzen, der feinen Unterschiede zwischen den einzelnen sich kulturalisierenden Städten, zwischen Kopenhagen und Stockholm, zwischen Frankfurt und Stuttgart, zwischen Seattle und San Francisco sowie der Definitionsdifferenzen zwischen den unterschiedlichen Kulturalisierungsinstanzen eine grundsätzliche Abgrenzung, die die kulturorientierten Städte insgesamt charakterisiert? Dieses Andere ist offensichtlich das Nicht-Kulturelle, d.h. das, was sich selbst nicht als kulturell versteht oder einer Kulturalisierung (zunächst) nicht zugänglich ist. Denn tatsächlich sind unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht alle Städte kulturorientierte Städte und nicht alle Stadtviertel in ihnen sind es. Der globale Raum der Städte der Gegenwart ist zwar einerseits an den kulturorientieren Städten als seinen Zentren, seinen ökonomischen und kulturellen Kraftfeldern ausgerichtet – darunter bilden jene Städte, die Saskia Sassen global cities nennt, eine Untergruppe von herausgehobener wirtschaftlicher Potenz. Wo es Zentren gibt, gibt es freilich auch Peripherien. Anders als im Falle der bürgerlichen und der funktionalen Stadt, in denen die zentrale Differenz jene zum Ländlichen war,63 erweist sich für den spätmodernen Raum nun jedoch die 62 | Zum Konzept des konstitutiven Außens vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000. 63 | Seit den 1920er Jahren ist auch der ländliche Bereich insofern zunehmend urbanisiert, als sich die ländlichen von den städtischen Lebensformen nur noch graduell, aber nicht grundsätzlich unterscheiden. Hinzu kommt, dass die kulturelle Gouvernementalität auch in vielen ländlichen Bereichen, d.h. in Kleinstädten, Dörfern und ganzen Regionen, angewandt wird und dort gut funktioniert, – in den Ländern des Westens, aber auch etwa in Asien oder Lateinamerika –, und zwar im Zeichen einer kulturorientierten Form der Touristifizierung: in der Produktion neuer »Sehenswürdigkeiten« (Musealisierung, Festivals der Hochkultur im ländlichen Raum), aber vor allem in einer Kulturalisierung

Die Selbstkulturalisierung der Stadt

Differenz zu den – quantitativ erheblichen – nicht-kulturellen Städten und Stadtvierteln als grundlegend. Hier handelt es sich vor allem um zwei Gruppen: In den westlichen Gesellschaften betrifft dies vor allem Industriestädte aus der Phase der späten bürgerlichen oder der organisierten Moderne, denen keine erfolgreiche kulturelle Gouvernementalität gelungen ist, Städte im Nordwesten der USA, im Norden Englands, in Wallonien, in Ostdeutschland etc., die häufig aufgrund ihres Bevölkerungsrückgangs auch als shrinking cities etikettiert werden.64 Außerhalb des Westens handelt es sich um jene megacities Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas, die nie funktionale oder bürgerliche Städte waren, denen die vier genannten Trägerinstanzen der Kulturalisierung der Stadt fehlen und die vielmehr ein ungeplantes Wachstum erleben, das sich der Stadtplanung entzieht.65 Vertreter des cultural planning wie Florida und Landry propagieren, dass potentiell jede Stadt zu einer creative city werden kann, dass sie lernen muss, ihre cultural ressources auszuschöpfen Man kann aber eher die These vertreten, dass die Wirksamkeit der creative cities nicht nur darauf beruht, dass sie sich untereinander abgrenzen, sondern noch grundsätzlicher, dass sie sich gegen einen breiten Hintergrund von Städten abheben, die keine creative cities sind.66 Wahrscheinlich ist die Konstellation der Städte hier ähnlich zu verstehen, wie sie sich für einen scheinbar ganz anderen Bereich, den der spätmodernen Gouvernementalität des Selbst darstellt: Auch dieses ist zu einer Selbstkulturalisierung angehalten, die es häufig zudem aktiv anstrebt, eine Selbstkulturalisierung als Kreativsubjekt, das sich als individueller Träger bestimmter persönlicher Eigenschaften und eines persönlichen Stils versteht und versucht, diesen aktiv voranzutreiben, um sich als nicht-austauschbares Individuum zu formen und nach außen als ein solches darzustellen. Wenn sich der Imperativ, »besonders zu sein«, auch an alle richtet und suggeriert, die zentralen Differenzen zwischen den Subjekten bestünden in ihrer jeweiligen individuellen Form der Stilisierung, so stellt sich die eigentliche Differenz jedoch als jene heraus, die zwischen den sich – divers – als Individuum stilisierenden Subjekten einerseits und andererseits jenen verläuft, denen eine stimmige Stilisierung der Natur, d.h. in deren Stilisierung als Raum des Erlebens einer individuellen »natürlichen Landschaft«. 64 | Vgl. Philipp Oswalt (Hg.): Schrumpfende Städte, Band 1: Internationale Untersuchung, Ostfildern-Ruit 2004, darin insbesondere Klaus Müller: »Globale Geografie«, S. 34-41; Walter Prigge: »Schrumpfungspfade«, S. 42-49. 65 | Vgl. Aseem Inam: Planning for the Unplanned: Recovering from Crises in Megacities, New York 2005. 66 | Analoges gilt etwa für den spätmodernen Mobilitätsimperativ an das Subjekt: Mobilität ist nur dann praktikabel, wenn viele nicht mobil bleiben, vgl. L. Boltanski/È. Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 379ff.

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misslingt, die keine Besonderheit entwickeln und demonstrieren, zumindest keine, die sozial geschätzt wird. Die Situation der spätmodernen Stadtlandschaft scheint hier analog: Die eigentliche Differenz im globalen Raum des Urbanen besteht zwischen den kulturorientierten Städten mit ihrer erfolgreichen kulturorientierten Gouvernementalität und jenen, für die diese Selbstkulturalisierung außerhalb ihrer Möglichkeiten ist: die urbanen Brachen, die schrumpfenden Städte, die Industrieruinen und ihre Bewohner, die im amerikanischen Jargon als white trash firmieren; schließlich die unsichtbaren Städte des Südens, vor allem in Afrika und Teilen Asiens, die kaum je auf dem medialen Bildschirm der creative cities Europas, Amerikas oder Ostasiens erscheinen. Das Modell der sich selbst kulturalisierenden Stadt erhebt einen Anspruch auf gesellschaftliche Verallgemeinerbarkeit, den es kaum je einzulösen vermag. Das gesellschaftliche Telos, zur creative city zu werden, wird diese drohende Vergeblichkeit kaum hemmen.67

67 | Einzelne Passagen aus diesem Text sind in das Kapitel 7 »Creative Cities: Die Kulturalisierung der Stadt« meines Buches »Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung« eingegangen.

Der Kreative als Sozialfigur der Spätmoderne

Michelangelo Antonionis Spielfilm »Blow-up« ist 1966 entstanden.1 Im Mittelpunkt stehen der Modefotograf Thomas – dargestellt von David Hemmings – und das zeitgenössische London. Thomas hat einen Sinn für Motive, für Objekte, für ihre Stilisierung und ihre Manipulation. Er fotografiert im Obdachlosenasyl und benutzt seine weiblichen Models, die unter seinen Händen zu spektakulären Bildern ihrer selbst werden. Die Gentrifizierung seines Londoner Stadtteils verfolgt er sehr genau. Er stöbert dort in den Antiquitätenläden und lässt bei einem chaotisch verlaufenden Konzert der »Yardbirds« einen abgebrochenen Gitarrenhals als Trophäe mitgehen (um ihn kurz darauf wieder wegzuwerfen). Eines Tages fotografiert er im Park zufällig etwas, was sich im Nachhinein in der technischen Vergrößerung als eine Leiche herausstellt. Das Reale scheint in das Universum semiotischer und imaginärer Zirkulation einzubrechen und Thomas zu elektrisieren. Das Rätsel bleibt jedoch ungelöst. Die Leiche war möglicherweise nur Einbildung. Ganz am Ende wird Thomas mit einem pantomimischen Happening konfrontiert: Eine Gruppe von jugendlichen Kulturaktivisten gibt vor, ganz ohne Ball und Schläger Tennis zu spielen. Plötzlich hören Thomas und der Zuschauer gegen alle Wahrscheinlichkeit das Aufschlagen eines Tennisballs. Die Darstellung von Thomas in »Blow-up« befindet sich in der Subjektgeschichte der westlichen Kultur an einem Umschlagpunkt: an jenem vom alteuropäischen Künstler zum spätmodernen Kreativen. »Blow-up« dramatisiert als einer der ersten Spielfilme die Identifikationsfigur des Kreativsubjekts inmitten seiner urbanen Szene. Zugleich trägt dieses in Antonionis Perspektive noch deutliche Züge des klassischen Typus des Künstlers. Der Kreative bricht sich im Künstler. Thomas ist als Werbe- und Magazinfotograf einer der Trendsetter jenes kreativen Milieus zwischen Kulturökonomie und Counter Culture, das sich Mitte der Sechzigerjahre namentlich in London und New York her1 | Vgl. dazu nun auch den reichhaltigen Band Walter Moser/Klaus Albrecht Schröder (Hg.): Blow up – Antonionis Filmklassiker und die Fotografie, Ostfildern 2014 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Albertina Wien).

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auskristallisiert. Thomas Frank hat diese Inkubationsphase der spätmodernen Kreativszene in der amerikanischen und britischen Werbewirtschaft und Modeindustrie dieses Jahrzehnts in The Conquest of Cool exakt beschrieben: Es ist die Kombination zwischen einer bereits seit den 1920ern etablierten Konsumindustrie einerseits und der experimentellen Ästhetisierung der Gegenkulturen andererseits, welche das Milieu der Kreativen als erfolgreiche und attraktive, als avantgardistische und avanciert kapitalistische Lebensform im Laufe der Sechzigerjahre entstehen lässt.2 Antonionis Thomas stellt sich als einer ihrer Adepten dar. Neuartig und charakteristisch für den Kreativen ist seine Fähigkeit, beliebige Gegenstände seiner urbanen Umwelt als semiotische und imaginäre Oberflächen zu entdecken und zu gestalten – die quietschbunten Kleider der Models ebenso wie die abgerissenen Gestalten im Asyl. Dies geschieht nun nicht zufällig im Medium der technisch reproduzierbaren und manipulierbaren Visualität, der Fotografie. Dabei ist Thomas zugleich erfolgreich im Rahmen der Aufmerksamkeitsökonomie des kreativen Marktes: Als Modefotograf hat er selbst Starqualitäten, die er nicht zuletzt gegenüber seinen weiblichen Groupies ausnutzt. David Hemmings als Thomas ist eine »coole« Figur: souverän in allen Situationen, ein Kreator/Manipulator semiotisch-imaginärer Oberflächen. Aber gleichzeitig ist die Darstellung in »Blow-up« gebrochen. Antonionis Thomas enthält deutliche Züge des alten, klassisch modernen Künstlertypen, der sich nicht in die Postmodernität des Kreativen fügt. Als ein solcher stellt Thomas sich als eine melancholische Figur dar: einsam, introvertiert, auf Distanz zur Welt. Nicht alles ist hier semiotisch-imaginäre Oberfläche: Der Einbruch des Realen irritiert ihn. Thomas und den Zuschauer treibt das moderne Repräsentationsproblem um: die Frage nach dem Realen – sei es der Leiche oder des Tennisspiels –, auf das die Zeichen verweisen, die Frage nach dem Konstruktcharakter der eigenen signifying practices. Schon vor seiner gesellschaftlichen Zirkulation setzt Antonionis »Blow-up« den Kreativen über den Weg seiner Brechung in der Figur des Künstlers damit einer zweifelnden Selbstreflexion aus.

* Der »Kreative« bildet seit den Achtzigerjahren eine hegemoniale Subjektform spätmoderner Kultur. Ein Kreativer ist in einem ersten Zugriff ein Mensch, dem jene Eigenschaft zukommt, die am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts alle haben sollten und wie selbstverständlich erstrebenswert finden, aber am Ende nur wenige erreichen können: »kreativ« zu sein, sein Potential von »Kreativität« zu entfalten. Kreativität bezeichnet das Eigenschaftsbündel einer erstrebenswerten und zugleich allgemein erwarteten Subjektivität, 2 | Thomas Frank: The Conquest of Cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism, Chicago 1997.

Der Kreative als Sozialfigur der Spätmoderne

die in der Lage ist, Neues zu schaffen und dabei sich selbst immer wieder auf überraschende Weise zu erneuern. Potentiell könnte sich eine solche Kreativität auf alle möglichen Bereiche menschlicher Existenz erstrecken und dort zu höchst diversen Ergebnissen führen. Im Sozialtypus des Kreativen konkretisiert sich dieses Eigenschaftsbündel jedoch in einer sehr spezifischen, in der Semiotik des Alltags zurechenbaren Form: Der Kreative ist zunächst Träger eines bestimmten Berufsbildes und einer bestimmten Arbeitsweise »kreativer Berufe«, einer Tätigkeit in den creative industries. Zugleich ist der Kreative Träger eines eng mit diesem professionellen Profil verbundenen, aber darüber hinausgehenden Lebensstils, einer Lebens- und Selbststilisierung. Wenn Kreativität bedeutet, auf unberechenbare Weise Neues zu schaffen, dann folgt der Kreative als Sozialtyp paradoxerweise einem sehr berechenbaren und damit an der Jahrtausendwende soziokulturell problemlos identifizierbaren Muster: dem eines ästhetischen Aktivismus. Kulturhistorisch kreuzen sich im Körper, in der Psyche und in der Performanz des Kreativen die semiotische Sensibilität und der experimentelle Hedonismus der Avantgarden und Gegenkulturen mit der souveränen Selbstregierung und dem unternehmerischen Gespür der kapitalistischen Bürgerlichkeit. Im Kreativen wird der alteuropäische Künstler und Bohemien in die postfordistische Ökonomie injiziert: ein ästhetisch-ökonomisches Hybridprodukt von zeitgenössisch extremer kultureller Attraktivität. Im Rahmen einer Kulturgeschichte der Moderne verweist der Kreative zunächst zurück auf den Künstler. Zentrale Merkmale, die in der Renaissance, der Romantik und den Avantgarden der moderne Künstler als eine ebenso marginale wie heroische Figur entwickelt und die ihm zugeschrieben werden, generalisieren und transformieren sich in der Figur des Kreativen. In dieser archäologischen Perspektive wird die historische Unwahrscheinlichkeit der seit den 1980er Jahren beobachtbaren kulturellen Hegemonie des Kreativen deutlich. Denn der Künstler war innerhalb der Praxis und Repräsentation der klassisch modernen Gesellschaft vom 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht hegemonialisierbar, vielmehr eine kulturelle Nischenfigur. Die Subjektform des Künstlers im modernen Sinne ist ein Produkt der Bildenden Kunst der Renaissance, vor allem aber um 1800 der Romantik. Anstelle einer klassizistischen Ästhetik der Imitation und Perfektion folgt sie einer Ästhetik des Schöpferischen und Überraschenden. Der romantische Kontext liefert eine individualistische Ästhetik der Expression, welche postuliert, dass der Künstler sein idiosynkratisches »Innen« im Außen, in seinen Werken ausdrückt. Diese künstlerische Kreation als praktischer Schaffensprozess setzt neben oder gar anstelle klassischer Kunstfertigkeit vor allem eine Sensibilisierung, Freisetzung und Experimentalisierung der sinnlichen Wahrnehmung (aisthesis) voraus. Der Künstler ist damit kreativ, indem er ein Werk schafft, aber in einem folgenreichen Prozess, der sich während des 19. Jahrhunderts beobach-

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ten lässt, bedeutet modernes Künstlertum noch etwas zweites: sich selbst in seinem gesamten Lebensstil als Künstler zu präsentieren und als solcher identifiziert zu werden, so dass das Leben »wie ein Kunstwerk« realisiert wird. Dies kann ganz unabhängig von etwaigen künstlerischen Werken geschehen und der soziokulturelle Ort dieses Künstlertums ist die Bohème, vor allem in Paris. Das Künstlersubjekt wird als Bohemien zum Träger eines gewollt unbürgerlichen, eines anti-konformistischen Lebensstils, der sich von bürgerlicher Moral, Arbeit und Familie abgrenzt. Innerhalb der bürgerlichen Kultur ist der Künstler damit eine marginale, nischenhafte, aber zugleich äußerst interessante, in einem widersprüchlichen Sinne affektiv besetzte Subjektfigur: als Objekt der Heroisierung wie der Pathologisierung. Heroisiert werden kann die Künstlerfigur, indem sie Eigenschaften enthält, die eine Steigerung der Werte bürgerlicher Kultur bedeuten, die innerhalb der bürgerlichen, klassisch modernen Gesellschaft jedoch zugleich nicht verallgemeinerbar erscheinen. Im Künstler finden der bürgerliche Individualismus und Produktivismus ihr geheimes Idol. Der Bürger sehnt sich nach dem Künstler, der er selbst nicht zu werden vermag. Denn die bürgerliche Moderne kann in ihren Kernpraktiken der Arbeit und der Familie nicht auf ästhetischen Experimentalismus setzen, sondern formt sich über Zweckrationalität und Regelförmigkeit. Der Künstler avanciert im bürgerlichen Kontext damit zum Objekt der auratischen Bewunderung – und zugleich der heftigen Verwerfung, einer Verwerfung, die sich im Kulturkampf von Bürgertum und Bohème manifestiert. Der Bohème-Künstler macht die rationalen und moralischen Fundamente der Moderne lächerlich und muss aus deren Sicht als Ärgernis, Risiko und Bedrohung wahrgenommen werden. Die Pathologisierung des Künstlers als psychisch defiziente, degenerierte Figur (bis hin zu Nordaus »Entartung«) spricht diesem letztlich seine Existenzberechtigung ab. Vor dem Hintergrund dieses hoffnungslos minoritären wie als höchst ambivalent wahrgenommenen Status des Künstlersubjekts wird die Außergewöhnlichkeit des subjekthistorischen Prozesses deutlich, in dem der Künstler in den Kreativen umkippt. Mehrere Faktoren machen diese Verschiebung möglich und ihr wichtigster ist zunächst die Transformation der kapitalistischen Ökonomie vom Industrialismus und Fordismus zum Postfordismus. Dieser nimmt die Form einer Ökonomie der Zeichen, der semiotischen Innovationen an, und er erfordert einen ökonomischen Subjekttypus, der für eine solche Zeicheninnovation kompetent ist. Wenn der Industrialismus des 19. Jahrhunderts eine Ökonomie der Schwerindustrie mit ihren Subjekttypen des Arbeiters und des Unternehmers war und der Fordismus von 1900 bis 1970 eine Ökonomie der Massenproduktion darstellte, der den Typus des Angestellten in der Großorganisation hervorbringt, dann setzt die postfordistische Ökonomie auf eine spezialisiertere Produktion von Konsumgütern (materiellen ebenso wie imma-

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teriellen), welche sich primär als variable Zeichenträger für Lebensstilgruppen darstellen. Die postfordistische Ökonomie stützt sich auf einen ästhetisierten Konsum, der in den Konsumobjekten disparate und variable Identifikationsangebote und Erlebnischancen wittert. Kapitalistische Ökonomien haben immer und notwendigerweise auf die Produktion neuartiger Waren gesetzt, aber im postfordistischen Kontext ist das »Neue« weniger das technisch Neue als das symbolisch und erlebnishaft Neue. Das zentrale Existenzproblem der post-industriellen Organisation lautet damit, neuartige Zeichenkreationen zu verfertigen: Erlebnisreisen und finanzielle Sicherheitspakete, Attraktivitätsgüter und Exklusivitätsmobiliar, Jugendlichkeitsoutfits und Gesundheitsnahrung. Dazu bedarf es im Kern und an der Spitze dieser Organisationen einer Subjektform mit entsprechen Kompetenzen: des Kreativen. Er findet sich in der Werbung wie im Design (von Mode, Einrichtung, Alltagsgegenständen, Automobilen etc.), in der Architektur und der Beratung, in den Medien, im Tourismus und im neuen Kulturbetrieb, somit in Feldern, die weit über das hinausgehen, was Adorno die Kulturindustrie nannte und die mittlerweile schlagwortartig unter dem Stichwort der creative industries gebündelt werden. In der Zuspitzung Richard Floridas handelt es sich um den beruflichen Kern einer creative class, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts knapp ein Fünftel der Beschäftigten in den westlichen Gesellschaften ausmacht.3 Sie ballt sich in den wissens- und kulturorientierten Großstädten zwischen Stockholm und Barcelona, zwischen Seattle und Boston, in den creative cities, die spezifische Stadtviertel zur Verfügung stellen, in denen sich creative industries, Kunstszene, staatlicher Kulturbetrieb und ästhetisierter Konsum konzentrieren. Die Organisationsform dieser Kreativindustrien kann sich nicht mehr mit der hierarchischen und funktional differenzierteren Korporation des Fordismus zufrieden geben. An deren Stelle treten Organisationen mit post-bürokratischer Ausrichtung: Arbeit ist hier vermehrt in Form von »Projekten« organisiert, d.h. von Aufgaben, denen ein zeitlich begrenzter Charakter zukommt und die die ganze Arbeitskraft eines »Teams« (oder auch einer einzelnen, selbständigen Person, des culturepreneur) erfordern. Am Ende des Projekts steht das innovative Produkt, das Produkt der kollektiven (oder individuellen) Kreation. Die Dispositionen des Kreativen sind damit zunächst weit vom klassischen organization man der effizienten Maschinerie der Großkorporation entfernt. Sein Tätigkeitsprofil läuft vielmehr im Kern auf das hinaus, was Robert Reich einen symbol analyst nennt.4 Die Beobachtung, Sammlung, Kombination und Kreation von Zeichen und Ideen ist seine zentrale Aufgabe. 3 | Vgl. Richard Florida: The Rise of the Creative Class, New York 2002. 4 | Vgl. Robert B. Reich: The Work of Nations. Preparing Ourselves for 21st-century Capitalism, New York 1991.

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Die technologischen Möglichkeiten der digitalen Kultur, welche eine solche Sammlung und Kombination erleichtern, liefern ebenso wie die routinisierte räumliche Mobilität auf globaler Ebene, vor allem den Flugverkehr, materiale Voraussetzungen der Kreativarbeit. Dieses projektorientierte, kreative Arbeiten setzt zugleich emotionale, affektive Potentiale in ihrer Trägergruppe voraus und frei: Anders als im Falle des organization man ist beim Kreativen keine emotionslose Rationalisierung des Selbst, sondern ein permanenter Enthusiasmus des Suchens, Kooperierens und (Er-)Findens gefragt. Auch die Trennung zwischen Beruflichem und Privatem, zwischen Arbeitszeit und Freizeit wird damit fragil. Auf einer ersten Ebene findet im Kreativen damit eine Generalisierung von Kompetenzen des modernen Künstlers statt, vor allem dessen Ablösung des zweckrationalen und regelorientierten Handlungstypus durch einen expressiven und symbolinnovativen Typ des Handelns. Aber natürlich liefert der spätmoderne Kreative nichts weniger als eine Kopie des romantischen Künstlers. Kennzeichnend ist vielmehr, dass er auf zwei Klaviaturen zugleich spielt: der ästhetisch-expressiven der Kreation und der ökonomischen des Marktes. Was zählt, ist nicht die Kreation von Neuem tout court, nicht das individuelle »Werk« in seiner Sperrigkeit (ein romantischer Mythos, den auch der Künstler des 19. Jahrhunderts sich nur im Ausnahmefall erlauben konnte), sondern ein neuartiges Produkt, das einer Nachfrage auf dem Produkt- und Aufmerksamkeitsmarkt entspricht. Der Kreative folgt damit in seiner Arbeit und seinem individuellen Fähigkeitsprofil einer obligation to dissent (McKinsey) spezifischer Form, er betreibt eine Markierung von Differenz zu anderen Produkten und zu anderen Kreativen, eine Arbeit an seiner individuellen Unverwechselbarkeit bzw. an einer entsprechenden »Marke«. Die Differenz, die er selbst und seine Produkte markieren, muss dabei eine nachgefragte Differenz sein, auf die sich eine positive Aufmerksamkeit und ein Konsumwunsch richten. Vor diesem Hintergrund besteht eine zentrale Aufgabe des Kreativen in der beständigen Beobachtung der Organisationsumwelt, der kulturellen Trends und Bedürfnisverschiebungen, der ästhetischen Nischen und Moden, auch über standardisierte Mittel wie die der Marktforschung. Der Kreative, der auf den ersten Blick das Muster des modernen Künstlers in generalisierter Form in sich hineinkopiert, ist damit zugleich Prototyp dessen, was Nikolas Rose als enterprising self umschreibt: Er handelt unternehmerisch in Bezug auf seine Produkte – von der Werbestrategie über die Fernsehsendung bis zum Designerstuhl –, d.h., er sucht nach dem nachgefragten Neuen, und er handelt zugleich unternehmerisch in Bezug auf seine eigene Person.5 Diese gilt es zu positionieren und zu entwickeln, so dass sie selbst ein nachgefragtes Produkt auf dem Arbeitsmarkt 5 | Vgl. Nikolas Rose: Governing the Soul. The Shaping of the Private Self, London 1990.

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kreativer Berufe und am Ende auf dem Aufmerksamkeitsmarkt begehrenswerter Subjekte wird. Innerhalb der größeren Menge von Kreativen aller Branchen kristallisiert sich damit eine kleinere Gruppe von Super-Kreativen heraus, die über die einzelne Kreativorganisation – die einzelne Beratungsagentur, Fernsehproduktionsfirma etc. – hinaus Sichtbarkeit erlangen. Hier verdrängen die Persönlichkeit und ihr Stil zunehmend das Werk und kreative Produkt. An die Stelle der im engeren Sinne künstlerischen »Marke« Picasso (wahrscheinlich der erste Künstler des 20. Jahrhunderts, der sowohl Avantgarde als auch höchst erfolgreicher Unternehmer seiner selbst sein konnte) sind damit die kreativen Marken Philippe Starck, Harald Schmidt, Tom Peters oder Sarah Wiener oder auf kollektiver Ebene Scholz & Friends, TASCHEN oder Body Shop getreten. Jene Kreativen an der Spitze der Aufmerksamkeitsökonomie, die damit nicht mehr in einer Kreativorganisation arbeiten, sondern diese selber initiieren oder aber vollständig Selbstunternehmer sind, erhalten »Star«-Qualitäten im Rahmen einer spezialisierten oder breiteren Öffentlichkeit, so dass sich die Aufmerksamkeit von den kreativen Produkten mehr und mehr zu den alltäglich-außeralltäglichen Eigenschaften der kreativen Individuen selbst verschiebt – ein Phänomen, wie es wiederum aus den Künstlerbiografien seit der Renaissance vertraut ist. Der Sozialtypus des Kreativen ist damit mehr als ein allein beruflich-ökonomisches Phänomen, mehr als ein Import bestimmter Künstlerkompetenzen in die postfordistischen creative industries, in denen sich unternehmerische Selbste mit Symbolkreatoren kreuzen. Der Typus des Kreativen erstreckt sich über den Beruf hinaus auf eine gesamte Lebensform, d.h. auf ein Ensemble von beruflichen ebenso wie konsumtorischen, persönlich-privaten, freizeit- und körperorientierten Praktiken. Auf der Ebene seiner körperlich-psychischen Subjektivierung, in seiner Selbstrepräsentation wie auch der Fremdrepräsentation durch andere Milieus, Massenmedien oder Marktforschungsinstitute ist der Kreative Träger einer Lebensform, die sich selbst emphatisch als »Lebensstil« begreift. Verschiedene Etiketten sind von Kommentatoren verwendet worden, um die Lebensform des Kreativen zu umschreiben: David Brooks spricht von Bobos (Bohemian Bourgeois), Richard Florida von der creative class und Mike Featherstone vom postmodern lifestyle.6 Insbesondere die Form der Konsumtion des Kreativen ist sehr präsent. Auffällig ist hier eine spezifische Verwendungsweise von Konsumobjekten – Kleidung, Mobiliar etc. –, um diese in der Kombination mit anderen Objekten zu 6 | Vgl. David Brooks: Bobos in Paradise. The New Upper Class and How They Got There, New York 2000; Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism, London 1991.

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einem individuellen Stil zu arrangieren, der als »authentisch« und von anderen als »unverwechselbar« perzipiert wird. Magazine wie »Wallpaper« liefern Vorbilder für diese Kombinationslogik der Konsumtion, die Fredric Jameson in ihrem Charakter des pastiche und des mode rétro als charakteristisch für eine postmoderne Alltagsästhetik umschrieben hat.7 Der Kreative kann damit sowohl im Stuckaltbau wie im Bauhaus-Bungalow wohnen, er kann Sportjacke oder Anzug tragen – die Objekte sind variabel, entscheidend ist ihr gekonntes Arrangement als Zeichen eines ästhetisch gesättigten, virtuosen Stils, der auf Distanz zu jedem Standardisierten geht. Die Differenzmarkierung des kreativen Habitus mit ihrem aufs Äußerste sensibilisierten alltagsästhetischen Sinn gilt einer als konformistisch und darin als stillos wahrgenommenen Lebensform, in der lediglich vorgegebene Muster repliziert werden. Voraussetzung für das gekonnte Konsumspiel des Kreativen ist damit eine ausgeprägte alltagssemiotische Kompetenz, die den beruflichen Dispositionen des symbol analyst entspricht, ein praktisches Wissen im Umgang mit alltäglichen Objekten diverser Form, aus der Hoch- wie der Populärkultur. Auch den persönlichen Beziehungen kommt im Milieu der Kreativen eine charakteristische Form zu: Kennzeichnend sind hier überregional ausgreifende Freundschafts- und Bekanntschaftsnetzwerke variabler Intensität (wobei die Grenzen zu den beruflichen »Netzwerken« fließend sind), in deren Rahmen die aktuellen Partnerschaften Knotenpunkte bilden. Diese ähneln wiederum jener Erlebnisgemeinschaft zu zweien, wie sie Anthony Giddens als Beziehungsideal der pure relationship beschrieben hat, und sie lassen sich auch zur Familie mit quality time erweitern. Schließlich passt zum Lebensstil des Kreativen ein Freizeitverhalten, das individuell diverse Erlebnisformen miteinander kombiniert, von der Fernreise (wahlweise kultur- oder naturorientiert) bis zum Aktivsport, und dabei lebensweltliche Aktivität demonstriert. In allen seinen Alltagspraktiken zwischen Beruf, Konsum, persönlichen Beziehungen und Freizeit kristallisiert sich damit eine spezifische Funktionsweise und innere Dynamik des Subjekttypus »Kreativer« heraus, die sich in der Triangel von drei Orientierungen ergeben: Der Kreative betrachtet erstens seine Umwelt in der Perspektive einer experimentellen Alltagssemiotik. Er lässt sich und seine Wünsche zweitens von einer Semantik des self growth, der individuellen Selbstexpression konstruieren. Schließlich ist er drittens auf Anerkennung im Rahmen eines ökonomischen und sozialen Marktes um knappe Aufmerksamkeit aus. Die ersten beiden bilden im verallgemeinerten Sinne ästhetische Orientierungen, die letzte eine verallgemeinerte ökonomische Orientierung. Der Kreative vermag beruflich und privat virtuos mit der Zeichenhaftigkeit der Objekte und Subjekte umzugehen, um diese als Mittel zum Ausdruck 7 | Vgl. Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991.

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seines Ichs, jenes Selbstexperimentalismus und Selbstwachstums zu verwenden, wie sie die self growth psychology seit den Sechzigerjahren als natürliches Ziel einer authentischen Persönlichkeit dekretiert hat. Wenn die Weltsicht des Kreativen damit alles als ein Spielfeld semiotischer und expressiver Optionen und ihrer Kombinierbarkeit wahrnimmt, so ist er zugleich scheinbar perfekt in die Konstellation eines ökonomischen und sozialen Marktes eingefügt, dessen knappstes Gut (positive) Aufmerksamkeit darstellt, um die konkurriert wird: Kreation und Selbstkreation finden hier vor einem Publikum statt, das die gelungenen Innovationen zertifizieren soll. Die Unbegrenztheit des expressiven Experimentalismus des Selbst, das sich ständig verändern will, und die Unberechenbarkeit der ökonomischen und sozialen Nachfrage nach »tatsächlich« kreativen Objekten und Subjekten verleihen damit der Form des Kreativsubjekts eine doppelte Instabilität und Dynamik. Die kulturelle Hegemonie des Kreativen als attraktives, erstrebenswertes Subjekt in der Kultur der Jahrtausendwende (von der populären Gesellschaftsprognostik auch in die Zukunft der creative class hineinverlängert),8 die sich als scheinbar alternativlos präsentiert, begründet sich aus der Perspektive einer Kulturarchäologie der Moderne in einer verblüffenden Doppellegitimation aus Bohème und Bourgeoisie: Aus der Tradition des lange Zeit minoritären Künstlersubjekts entlehnt der Kreative die kulturellen Muster einer expressiven und zugleich experimentellen Tätigkeit und Existenz, den Anti-Konformismus und Hedonismus der ästhetischen Subkulturen. Aus der Tradition kapitalistischer wie post-aristokratischer Bürgerlichkeit entnimmt er zugleich das Muster einer souveränen Regierung des Selbst, das Ideal einer disziplinierten wie unternehmerischen Selbständigkeit, des erfolgreichen Agierens auf dem ökonomischen wie sozialen Markt. Nicht überraschend steht an der Spitze des spätmodernen Modells des Kreativen doch wieder der Künstler – allerdings in seiner sehr spezifischen Version des »global erfolgreichen Künstlers«, wie er sich um die Jahrtausendwende vor allem in den Bereichen der Bildenden Kunst, des Designs und der Architektur findet. Scheinbar mühelos scheint dieser sich im ästhetischen Register der Expression und im ökonomischen Register des Marktes zugleich zu bewegen.

* Robert Pulcinis Film »American Splendor«, im Jahr 2003 entstanden, handelt von dem in der amerikanischen Independent-Szene prominenten, knapp sechzigjährigen Comiczeichner Harvey Pekar. Der Film ist größtenteils ein Spielfilm, in dem Pekar teilweise von Paul Giamatti, teilweise von ihm selbst dargestellt wird, es gehen aber auch Elemente des Trickfilms ein, und zwar im Stil 8 | Vgl. Matthias Horx: Wie wir leben werden. Unsere Zukunft beginnt jetzt, München/Zürich 2005.

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von Pekars eigenen Comics. »American Splendor« stellt die Biografie und den Alltag Pekars dar, die dieser selbst in seinen Comics bevorzugt thematisiert. Pekar verdient seinen Lebensunterhalt seit seinem Studium mit einer ziemlich stupiden administrativen Tätigkeit in einem ziemlich unerfreulichen staatlichen Krankenhaus in Cleveland (Ohio). Er stellt sich als ein in vieler Hinsicht schwieriger, schnell auf brausender, knorriger, ungeselliger, unzufriedener Typ dar, dessen Arbeitskollegen liebenswerte Freaks sind. Sein Bekleidungsstil und seine Wohnungseinrichtung scheinen denkbar fern allen Kriterien der Stilratgeber. Lange lebt Pekar unfreiwillig allein, bevor er seine spätere Ehefrau Joyce Brabner, eine gänzlich unspektakuläre Buchhändlerin kennenlernt. Pekars Auftritt in der Talkshow David Lettermans – Zeichen seiner Prominenz – gerät zum Desaster. Später erkrankt Pekar an Krebs (den er besiegt). Harvey Pekar ist offenkundig ein Kreativer, der nicht in den Sozialtypus des Kreativen hineinpasst. Ihm fehlt jede Coolness, die David Hemmings in »Blow-up« demonstriert und erst recht jene des globalen erfolgreichen Künstlers. Ein Bündel von Idiosynkrasien – aus denen ein eigenständiges künstlerisches Werk erwächst –, mangelt es ihm offenkundig an Bereitschaft und Fähigkeit, sich als »Kreativer« subjektivieren zu lassen. Zugleich jedoch vermag er in »American Splendor« zur underground-Kultfigur zu werden. Damit gelingen ihm paradoxerweise individuelle Expressivität wie Erfolg auf dem Aufmerksamkeitsmarkt und damit beide Kriterien des kreativen Sozialtypus. Harvey Pekar ist ein kreativer Nicht-Kreativer, ein nicht-kreativer Kreativer, eine Figur, in der die Grenzen spätmoderner Hegemonie ausgetestet werden.

Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativitätsdispositivs

Hans Namuths Kurzfilm »Jackson Pollock« aus dem Jahr 1951 markiert ebenso wie die Reihe von Schwarzweiß-Fotografien, die Namuth im gleichen Jahr von Pollock bei der Arbeit anfertigt, einen doppeldeutigen Moment in der Thematisierung von künstlerischer Kreativität. Zugleich handelt es sich um ein bezeichnendes Dokument in der Genealogie der Repräsentation des modernen Künstlersubjekts. Jackson Pollock (1912-1956) ist zu dieser Zeit bereits ein in der Fachöffentlichkeit wie für das allgemeine, kulturell interessierte Publikum in den USA bekannter, ja prominenter Maler und gilt als Hauptvertreter des sogenannten Abstrakten Expressionismus. Die Werke dieses Abstrakten Expressionismus werden von der zeitgenössischen Kunstkritik, insbesondere von Clement Greenberg und Harold Rosenberg, als Produkte einer genuin amerikanischen Avantgarde verstanden: als Profilierung einer selbstreferentiellen, autonomen Kunst gegen den Mainstream des amerikanischen Realismus und zugleich als Staffettenübernahme von der europäischen, insbesondere französischen, zur amerikanischen Avantgarde.1 Nachdem in der Publikumszeitschrift Life 1949 ein reich bebildeter Artikel über Pollock erschienen ist, wird dieser auch einem breiteren Publikum als künstlerische Heldenfigur bekannt, in der sich Gegenkultur und Anerkennung durch das Establishment miteinander verzahnen. Zu diesem Zeitpunkt erscheinen nun 1951 Namuths Fotoreihe und sein Kurzfilm.2 Die Fotoserie findet zunächst kaum Beachtung. Der Kurator der Fotografieabteilung am New Yorker Museum of Modern Art, Edward Steichen, tut sie als inadäquat ab: »You know, Namuth, this is not the way to photograph 1 | Vgl. Leonhard Emmerling: Jackson Pollock, Köln u.a. 2003. 2 | Vgl. dazu Hans Namuth/Barbara Rose: Pollock painting, New York 1980.

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an artist«.3 Die Komplexität der Künstlerpersönlichkeit erscheint Steichen in der Abbildung des Akts des Malens banalisiert. Der Film, der aus der Fotosequenz erwächst, zieht jedoch große Aufmerksamkeit auf sich: 1951 wird er im MOMA und auf dem Kunstfilmfestival in Woodstock gezeigt, danach verbreitet er sich rasch. Zu einem der ersten Male wird das Medium des Films genutzt, um einen bildenden Künstler in seinem künstlerischen Produktionsprozess in actu zu zeigen, gewissermaßen – so der Anspruch – das Mysterium der künstlerischen Kreativität der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Neuartigkeit dieser Perspektive wird auch deutlich, wenn man vergleicht, wie die in der Zeitschrift Art News um 1950 erschienenen Künstlerporträts, die unter dem Titel »So and so paints a picture« publiziert werden, ansonsten aufgebaut sind: Nie lässt sich einer der anderen Künstler im Akt ertappen, es werden lediglich die einzelnen Komplettierungsgrade eines Bildes im Laufe seines Entstehungsprozesses gegenübergestellt. Warum sind nun Namuths filmische und fotografische Repräsentationen des malenden Pollock von Interesse? Inwiefern markieren sie einen doppeldeutigen Moment in der Genealogie der Repräsentation von Künstler und Kreativität? Ich will die These aufstellen, dass in Namuths Darstellung Pollocks ein kultureller Höhepunkt markiert wird, der zugleich einen Umschlagpunkt darstellt: eine Mythologisierung und zugleich eine Entmythologisierung des Künstlers als kreatives Subjekt.4 Einerseits reproduziert und zitiert die Darstellung das, was man den alteuropäischen, in diesem Sinne klassisch-modernen Künstlerdiskurs, der zugleich einen Kreativitätsmythos enthält, nennen kann: die Fremd- und Selbstdarstellung des Künstlers seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als expressives Selbst, ein Originalgenie, das zugleich einen Zustand gesellschaftlicher Entfremdung demonstriert. Zugleich jedoch manifestiert sich in bestimmten Elementen der Darstellung eine Dekonstruktion der klassischen Formen von Künstler und Kreativität. Sie findet in der künstlerischen Praxis und den Kunstdiskursen verstärkt seit den 1950er Jahren – in mancher Hinsicht schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts – statt. Zugleich kann man jedoch eine »postmoderne« Rekonstruktion und Modifikation kreativer Praxis beobachten:5 Kreativität und künstlerisches Selbst werden hierin 3 | Nach H. Namuth/B. Rose: Pollock painting. 4 | Die Begriffe der Mythologisierung und Entmythologisierung werden hier in Anlehnung an Roland Barthes’ Mythosbegriff verwendet, dem zufolge dieser »Geschichte als Natur« präsentiert, damit das kulturell Gemachte als gegeben präsentiert. Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964. 5 | Vgl. zur »postmodernen« Dekonstruktion des Künstlermythos insgesamt PeterKlaus Schuster/Eugen Blume (Hg.): »Ich kann mir nicht jeden Tag ein Ohr abschneiden.« Dekonstruktionen des Künstlermythos, Ausst. Magazin Museum für Gegenwart 14, Berlin 2008; Martin Hellmold et al. (Hg.): Was ist ein Künstler?, München 2003.

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nicht kurzerhand »aufgelöst« (auch wenn die postmoderne Kunsttheorie als Selbstbeschreibungsdiskurs teilweise eine solche Dramatisierung bietet), sondern in ihrer Form transformiert. Es findet eine Normalisierung der kreativen Praxis und des kreativen Selbst statt, die zugleich im Weber’schen Sinne eine »Entzauberung« darstellt:6 Eine bisherige Ausnahmekonstellation von Subjektivität und Praxis wird zum Gegenstand einer methodisch-systematischen Gestaltung, die sie im Prinzip nicht nur für jeden zugänglich, sondern am Ende auch von jedem erwartbar macht, so dass nun umgekehrt das Andere, das Nicht-Kreative, als defizitär und letztlich anormal erscheint. Diese Normalisierung von Künstler und Kreativität, wie sie das Kunstfeld selbst betreibt, trägt im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zur kulturellen Generalisierung und Hegemonialisierung kreativer Praxis sowie des Künstlersubjekts insgesamt und über das Kunstfeld hinaus bei: in der Arbeitsökonomie, in der Psychologie, in den Massenmedien und im avancierten postmodernen Lebensstil.7 Es findet eine Entautonomisierung und Entdifferenzierung von kreativer Praxis und Künstler statt, welche die Grenzen des »Funktionssystems« Kunst sprengt und zur Ausbildung eines gesellschaftlich wirkungsmächtigen Kreativitätsdispositivs beiträgt.8 Diese Entautonomisierung nimmt nun zu großen Teilen jedoch nicht die Form einer Popularisierung der künstlerischen Werke an. Ganz im Gegenteil präsentiert sich die zeitgenössische Kunst seit den 1950er Jahren in vieler Hinsicht als enigmatisch und als deutlich weniger »populär« als es für jene galt, um die herum sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts der elitäre Künstlermythos bildete. In ganz anderer Weise macht die zeitgenössische Kunst jedoch durch ihre Praktiken – ihre Formen der Produktion und der Rezeption – trotzdem jene Universalisierung des ubiquitären »Kreativen« möglich, wie man sie seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts im spätmodernen Kreativitätsdispositiv beobachten kann.

6 | Dieses Verständnis lehnt sich lose an Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M. 1977, S. 236ff. an. 7 | Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012; auch Marion von Osten (Hg.): Be creative! Der kreative Imperativ, Zürich 2002. 8 | Zur Analyse von Kunst als Funktionssystem vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995.

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1. N amuths P ollock : Z wischen M y thologisierung und E ntmy thologisierung Inwiefern kann die Darstellung der künstlerischen Praxis in Namuths Fotos und in seinem Kurzfilm einen derart ambivalenten Effekt erzielen, dass sie sich als Höhepunkt und zugleich als Wendepunkt in der Darstellung des Künstlersubjekts an der Schnittstelle von klassischer Moderne und Spätmoderne darstellt? Die Fotografien – Namuth hat über fünfhundert fabriziert – bestehen aus zwei Gruppen:9 einerseits Stillleben und Porträts von Pollocks Atelierhaus sowie von ihm selbst; andererseits die Fotos von Pollock bei der Arbeit, das heißt im Vollzug seines Drip-Painting im Atelier. Auf den Fotos der ersten Gruppe sieht man ein einfaches Landhaus, ein Holzhaus in der Natur, Pollock als lonely man, an der Fensterbank gelehnt, auf der Wiese sitzend, in seinem Oldtimer hockend, auf der Wiese ausgestreckt, immer mit Zigarette, dunkler Hose oder Jeans und hellem offenem Hemd oder mit Jeansjacke oder mit schwarzem T-Shirt, lässig wirkend und zugleich kontemplativ, nach unten schauend oder mit schmerzhaft verzerrtem Blick in die Kamera. In der zweiten Fotogruppe betrachtet man Pollock »bei der Arbeit«. Die Leinwand befindet sich auf dem Boden, und in gebückter Haltung mit schwingenden Bewegungen – durch deren Schnelligkeit die Abbildungen häufig verschwommen werden – praktiziert er das Drip-Painting. Die Darstellung der Beinbewegungen steht im Zentrum des fotografischen Interesses und erweckt den Eindruck einer tänzerischen Choreografie. Namuths Farbfilm nimmt Motive dieser zweiten Gruppe von Fotos auf, dramatisiert sie und unterlegt sie zum einen mit einem von Pollock gesprochenen Kommentar sowie einer atonalen musikalischen Untermalung von Morton Feldman, einem Zeitgenossen von John Cage. Zunächst beobachtet man Pollock beim Anziehen seiner derben, mit Farbe beschmutzten Arbeitsschuhe. Diese Schuhe – man mag hier an den kulturellen Verweisungszusammenhang zu van Goghs Bauernschuhen und deren kunsttheoretischer Thematisierung bei Heidegger denken10 – werden im Verlauf des Films immer wieder fixiert. Pollock – in schwarzer Jeansjacke, mit der Zigarette im Mundwinkel – ist beim Umgießen und Umrühren der Farbe zu sehen und schließlich in langen Sequenzen bei den tänzerischen Bewegungen des Drip-Painting auf der am Boden liegenden Leinwand. Auf diesen ersten Teil des Films folgt ein Ortswechsel in einem kurzen zweiten Teil, der Pollock in einer Galerie zeigt: Er hängt dort seine Bilder auf, und man erkennt von hinten eine Besucherin (tatsächlich wohl seine Ehefrau), die konzentriert eines der charakteristisch Pollock’schen 9 | Vgl. H. Namuth/B. Rose: Pollock painting. 10 | Vgl. dazu Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991.

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Gemälde betrachtet. Insgesamt scheint die Gewichtung innerhalb des Films jedoch eindeutig: Die Szenerie in der Galerie mit ihrer förmlichen Atmosphäre und ihrer entrückten Besucherin ist dem ausführlich dargestellten, dramatisierten Produktionsprozess des Bildes untergeordnet. Noch deutlicher wird dies im dritten Teil des Films, seinem dramaturgischen Höhepunkt: Pollock bemalt in der Drip-Technik eine auf dem Boden arrangierte Glasscheibe, drappiert darauf Kieselsteine, Knöpfe und andere kleinere Objekte und wird dabei von unterhalb der Scheibe gefilmt. Neben der Musik wird alles von Pollocks sonorer, alles andere als publikumswirksamer Kommentarstimme begleitet, die über die Kunst reflektiert. In mehrerer Hinsicht zitiert Namuths Darstellung Pollocks 1951 Versatzstücke aus dem Arsenal des Künstlermythos der klassischen Moderne:11 Der Künstler stellt sich als eine einsame, monologische Figur dar – eine solitäre Position, die noch durch das anti-urbane Setting des Holzhauses in der freien Natur unterstrichen wird. Während Alexander Liberman in seinem Bildband The Artist in His Studio wenig später die Maler durchgängig im Businessanzug nach Art von urbanen Industrial Designern porträtiert,12 präsentieren dieses ländliche Setting wie auch die informelle Kleidung, die jener der Beatniks ähnelt, Pollock als anti-bürgerlichen Hipster. Pollock exemplifiziert dabei das Modell des künstlerischen als expressives Subjekt: Es wird suggeriert, dass es in seiner Arbeit sein Innerstes nach Außen kehrt. Die künstlerische Arbeit erscheint dann auch weniger überlegt als trancehaft und eigendynamisch, als unbändiger Ausdruck einer inneren Welt. Dem entspricht eine Synthese von Introversion und Extroversion: Die Darstellung des nachdenklich in sich versunkenen Künstlers ist gekoppelt an die konsequente, wie getrieben erscheinende Aktivität des Malprozesses. Pollocks Selbstkommentare verdeutlichen diesen Anspruch der Expressivität im Sinne eines Passungsverhältnisses zwischen Innen und Außen: Er wischt einen Entwurf von der Glasscheibe mit den Worten »I lost contact with my last painting«. Dem entspricht auch das aus den klassischen Künstlerbiografien vertraute und von Pollock in seinem Selbstkommentar verwendete narrative Element des vergangenen Kampfes gegen seinen eigenen Lehrer als Signum eines künstlerischen Emanzipationsprozesses. Dies ist jedoch nur die eine Seite. Gleichzeitig wird in Namuths Darstellung eine sich grundsätzlich verändernde Form von künstlerischer Produktion 11 | Der Begriff »klassische Moderne« ist hier nicht im Sinne eines Kunststils verwendet und bezeichnet daher nicht die künstlerische »Moderne« an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, vielmehr ist jene »lange« Phase von der Renaissance über die Romantik bis zum Modernismus gemeint, die den Künstler emphatisch als expressives Individuum modelliert. 12 | Vgl. Alexander Liberman: The Artist in the Studio, New York 1960.

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deutlich, in der sich wie in einem Brennglas der Prozess der Normalisierung der Kreativität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abzeichnet. Entscheidend ist dabei zunächst, dass der künstlerische Produktionsprozess in seiner Pollock’schen Form des Drip-Painting auf eine Art und Weise veralltäglicht wird, dass er manchem zeitgenössischem Betrachter bereits als Banalisierung erscheint. Als Drip-Painting erweist sich der »kreative Prozess« als nichts anderes denn eine Bewegung des Künstler-Körpers im Raum, in dem scheinbar oder anscheinend zufällig, fast automatisch Farbe auf der Leinwand verteilt wird. Der Malakt ist kein überlegter Prozess eines reflexiven oder gar genialen Selbst, sondern scheint sich ohne bewusstes Zutun dieses Subjekts zu vollziehen.13 In der Drapierung der Objekte auf der Glasfläche erscheint Pollock zudem besonders deutlich weniger als »Kreator«, als klassischer Schöpfer von Neuem denn vielmehr als »Arrangeur« gegebener Gegenstände. In der Darstellung des Drip-Painting und des Objektarrangements findet damit eine Blickverschiebung nicht nur vom Künstler zur Technologie des kreativen Prozesses statt, sondern eine ebenso interessante Neufokussierung vom Künstler zum Material: Der Künstler ist ein Arbeiter mit dem Material, er wird zum Mittel, durch den sich das Material arrangiert. In Namuths Versuchsanordnung erscheint damit der klassische, im Wesentlichen kontemplative, subjektzentrierte Akt des Malens vor und auf einer Leinwand ersetzt durch ein quasi-Latour’sches Arrangement von Raum, Körperbewegungen und Artefakten. Ohne dass dies von Pollock selbst wohl intendiert wäre, gerät damit – zweitens – der Produktionsprozess zu einer performance: zu einer körperlichen Aufführung vor einem Publikum. Es ist nicht verwunderlich, dass Harold Rosenberg offenbar gerade auf der Grundlage dieses Films die Stilrichtung, für die Pollock steht, nicht als Abstrakten Expressionismus etikettiert (diese Bezeichnung Greenbergs bezieht sich ja auf die Form des auf den Gemälden Dargestellten), sondern action painting nennt.14 Der Fokus verschiebt sich vom fertigen Werk zum Prozess der Herstellung, der zugleich Aufführung ist, eine Aufführung, die am Ende in der performance art zur eigentlichen Kunst avanciert. Es setzt sich im Betrachter der Eindruck fest: Die eigentliche Kunst, die eigentliche Kreativität sind nicht mehr in den vollendeten, objektförmigen Werken im Museum, der klassischen Bildergalerie zu verorten, sondern in der art in action. Obwohl Namuth einerseits eine Perspektive fördert, die den Künstler als Träger eines Produktionsprozesses erscheinen lässt, kippt die Dar13 | Pollock ist kein Erfinder des Drip-Painting, vielmehr wurden ähnliche Verfahren vor allem im Umkreis des Surrealismus verwendet, etwa bei André Masson oder Max Ernst. Wie die écriture automatique erscheint sie bereits hier als eine Kreativitätstechnik für jedermann, die sich nicht auf ein künstlerisches Genie reduzieren lässt. 14 | Vgl. Harold Rosenberg: The American Action Painters, in: ARTnews 51 (1952), S. 22-23; 48-50.

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stellung damit zugleich in die Dramatisierung eines Aufführungsprozesses im doppelten Sinne: einer performance der Kunst (performance-Kunst, art in action) und eine performance des Künstlersubjekts, gewissermaßen eine performance seiner selbst. Es findet damit in Namuths visueller Dramatisierung – drittens – eine Verschiebung des Modells des Künstlers statt, die sich aus der medialen, visuellen Versuchsordnung ergibt. Gerade Namuths Film trägt dazu bei, Pollock in der amerikanischen Kunstszene und einer breiteren Öffentlichkeit als »Star« zu installieren.15 Aus den Werken allein – die als sperrig und unzugänglich gelten – hätte diese Starfigur kaum entstehen können. Indem der Künstler vor einem breiten Publikum die Intimität seiner Kunstpraxis enthüllt, er seinen Körper visuell zur Verfügung stellt, er direkt zum Publikum spricht und damit als »ganze Persönlichkeit« sichtbar wird, kann er erst in seiner scheinbaren Exzentrik zu einer wahrnehmbaren, öffentlich interessanten und affektiv besetzten Figur werden. Die Performativität des künstlerischen Akts, die im Film deutlich wird, lässt sich zugleich als eine Performativität des künstlerischen Selbst lesen, das nicht »vorgegeben« und privat im verborgenen Atelier für sich existiert, sondern das erst durch das Publikum als ein solches zertifiziert wird. Es ist durchaus eine tragische Ironie, dass Pollock selbst – so will es die biografische Legende – an dieser medialen Inszenierung letztlich zerbrochen ist. Ganz der klassische Künstler, der in seinem Werk lebt und für das Publikum unsichtbar bleiben will, soll ihn Namuths Film befremdet und von seinem eigentlichen Künstler-Ich entfremdet haben. Es sei ihm vorgekommen, als ob seine ernsthafte Kreation eine Art Theaterstück sei – und nach dem Film soll er dem Drip-Painting abgeschworen haben und zugleich in den Alkoholismus abgedriftet sein. Hans Namuths Darstellung von Jackson Pollock lässt sich damit als eine Repräsentation entziffern, in der widerstreitende Modelle von Künstler und Kreativität einander überlagern und sich der Umschlag vom klassisch-modernen Künstlermythos zu einer spätmodernen Normalisierung von kreativen Techniken und Kreativsubjekten manifestiert. Dieser kulturelle Prozess lässt sich – unabhängig vom Beispiel Namuth/Pollock – allgemeiner auf den Begriff bringen. Es stellt sich dabei heraus, dass die dualistische Unterscheidung, die ich bisher gewählt habe, zu einfach ist: Sowohl der klassisch-moderne Künstlermythos als auch die spätmoderne Normalisierung der Kreativität setzen sich aus heterogenen Elementen zusammen (die im übrigen in Namuths Darstellung nicht alle gleichermaßen präsent sind). Die klassisch-moderne Künstlerfigur, die sich im Wesentlichen seit der Renaissance ausbildet, sich 15 | Zum soziologischen Konzept des Stars vgl. David P. Marshall: Celebrity and Power, Minneapolis u.a. 1997; Leo Braudy: The Frenzy of Renown. Fame and Its History, New York 1986.

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mit dem Sturm und Drang und der Romantik weiterentwickelt und bis 1900 in verschiedenen Versionen immer neu reaktiviert wird, enthält nämlich von vornherein zwei gegenläufige Tendenzen: zum einen die Fixierung des schöpferischen Künstlers als Exklusivfigur, die sich jeder psychologischen, kulturellen oder sozialen Generalisierung entzieht, zugleich jedoch seit etwa 1800 Generalisierungstendenzen des Modells des Künstlers, die vor allem mit der Utopie einer ästhetischen Moderne, aber auch mit der Vermarktlichung des Kunstpublikums verknüpft sind.

2. D er K ünstlermy thos z wischen E xklusivfigur und G ener alisierungstendenzen Das klassisch-moderne künstlerische Kreativitätsregime, das bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gültig ist, setzt sich aus fünf unterschiedlichen Elementen zusammen, die sich teilweise im Spannungszustand zueinander befinden.16 Das Narrativ der »Geburt« des modernen Künstlers ist häufig erzählt worden. Es ist als Genealogie eines spezifisch modernen Kunstfeldes zu rekonstruieren, in deren Rahmen das Künstlersubjekt zwischen Exklusivfigur und Generalisierungstendenzen schwankt: 1. Der Künstler als Schöpfer des Einzigartigen: Das Künstlermodell, wie es von der Renaissance und dann von der Romantik forciert wird, legt den Künstler auf Individualität, Originalität und Expressivität, am Ende auch auf Genialität und Authentizität fest.17 Die Abgrenzung gilt hier einer traditionellen Nachahmungsästhetik, die künstlerische Akte mit der Reproduktion eines anerkannten Regelkanons identifizierte. Wenn insbesondere am Ende des 18. Jahrhunderts eine emphatische Semantik der Individualität entsteht, dann erscheint der Künstler als ihre paradigmatische Figur. Diese klassische Künstlerfigur enthält in unterschiedlichem Mischungsverhältnis ein produktivistisches und ein ästhetisches Element: Der Künstler trainiert sich – durchaus mit religiösen Konnotationen – als »Schöpfer«, d.h. als Produzent einzigartiger Werke. Die16 | Vgl. allgemein Verena Krieger: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit, Köln u.a. 2006; Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler, Frankfurt a.M. 1998; Michael Wetzel: »Autor/Künstler«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 480-544. 17 | Vgl. Peter Burke: Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien, München 1998; Edgar Zilsel: Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal mit einer historischen Begründung, Frankfurt a.M. 1990; Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, Darmstadt 1988; Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende vom Künstler, Frankfurt a.M. 1995.

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se Schöpfungskraft steht auch im Zentrum der Genialitätssemantik. Zugleich forme er sich in einer ungewöhnlich sensibilisierten Wahrnehmung, in einer »Einbildungskraft«, die ihm ihrerseits die schöpferische Produktivität ermöglicht.18 Sowohl in ihrem produktivistischen als auch in ihrem ästhetischen Element wird die künstlerisch-kreative Praxis eindeutig auf ein Subjekt zugerechnet, es findet eine Zentrierung auf einen »Autor« der kreativen wie ästhetischen Prozesse statt, der mit einer spezifischen psychischen Innenwelt und einer singulären Biografie ausgestattet ist. Die Figur des Künstlers als einzigartiger Schöpfer des Einzigartigen, die im 19. Jahrhundert in einen regelrechten bürgerlichen Künstlermythos mündet – der gegenwärtigen und mehr noch der historischen, »klassischen« Künstler – vereint damit vorbildliche Eigenschaften, die für die Mehrheit – und zwar nicht nur für die Masse, sondern auch für das bürgerliche Publikum – grundsätzlich unerreichbar bleiben. Der klassisch-moderne Künstler hat in mancher Hinsicht eine auratische Struktur im Sinne Walter Benjamins: er bleibt fern, so nah er dem Publikum auch kommen mag. Künstler und Kreativität sind damit eindeutig dem Kunstfeld zugeschrieben, das die Form eines Komplexes hochspezialisierter, autonomer Praktiken annimmt, das auf Distanz zum (Kunst-)Handwerk, zum Journalismus oder anderer, benachbarter Praktiken geht. Der Künstler wird damit zu einem nicht-verallgemeinerbaren Spezialsubjekt, das aber zugleich für das Symbolische und Imaginäre der westlichen Kultur spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einen Stellenwert weit über eine bloße Funktionsrolle hinaus annimmt. Er erscheint zum einen als Projektionsfläche eines gesteigerten schöpferischen Individualismus, der für das bürgerliche Publikum ebenso libidinös konnotiert wie faktisch unerreichbar ist. Er vergegenwärtigt andererseits die Möglichkeiten menschlicher »Einbildungskraft«, auch jenseits dessen, was kulturell noch akzeptabel erscheint. Insofern ist bereits auf dieser ersten Ebene der Künstlermythos doppeldeutig: er spiegelt ein individualistisches IdealIch, das allerdings nur der faszinierten Betrachtung, nicht der Imitation zugänglich ist. Zugleich stellt er sich als Lieferant kulturell abweichender Ideen und Bilder dar, der die Grenzen des in der bürgerlichen Kultur Darstellbaren und Problematisierbaren imaginativ austestet. 2. Kreativität als Trägerin einer ästhetischen Utopie: Seit 1800 bilden sich in engem Zusammenhang mit dem Modell des Künstlers als individuellem Schöpfer, zugleich aber in bezeichnender Differenz zu ihm der Diskurs einer

18 | Vgl. Jochen Schulte-Sasse: »Einbildungskraft/Imagination«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, S. 88-120.

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»ästhetischen Utopie« aus:19 Das Ästhetisch-Schöpferische erscheint hier als ein kulturelles Gegenprinzip, ein kulturrevolutionäres Prinzip, das zugleich als Vorschein eines versöhnten Zustandes interpretiert wird. Diese Utopie einer schöpferischen und zugleich ästhetisch sensibilisierten Kultur wird bei Rousseau angedeutet, dann in Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen in eine theoretisch ausgearbeitete Form gebracht,20 es findet sich auch in den romantischen Philosophien bei Fichte und Schelling. Andere Versionen werden in Saint-Simons früher Idee der Künstler als Avantgarde und in der Lebensphilosophie bei Nietzsche und Bergson formuliert. Sowohl der Ästhetizismus und sein Konzept der autonomen Kunst als auch die Avantgarden mit ihren jeweils entgegengesetzten Vorstellungen einer Transformation von Kunst in Lebenspraxis stehen in dieser Tradition einer ästhetischen Utopie als Gegenkraft zu einer rationalisierten und darin entfremdeten Moderne. Im Unterschied zum Paradigma des Künstlers als einzigartigem Schöpfer unterzieht die ästhetische Utopie die Figur eines kreativen Subjekts einer resoluten Universalisierung. Gleich welche Semantiken hier verwendet werden – Schöpfung, Einbildungskraft, Wahrnehmung, Leben etc. –, es wird die Vorstellung forciert, dass es sich bei der schöpferisch-spielerischen Lebendigkeit um eine allgemeingültige Realität und zugleich generalisierbare Normativität handelt, die potentiell jedes Subjekt, insofern es sich um ein menschliches Wesen handelt, zu aktualisieren vermag. Auch wenn selbst in diesem Kontext immer wieder Exklusivfiguren auftauchen – etwa in Nietzsches »Übermenschen« – und auch wenn die gesellschaftlichen Grundlagen für eine umfassende Realisierung des Ästhetisch-Kreativen im 19. Jahrhundert fehlen, so lässt sich hier die Tendenz beobachten, ein schöpferisches und ästhetisches Vermögen »des Menschen« als eine universale Grundlage des Menschseins zu proklamieren – eine Universalisierung, deren später Ausläufer sich in den 1970er Jahren in Josef Beuys Wunsch findet, dass »jeder Mensch ein Plastiker« sein sollte.21 Diese ästhetischen Utopien bleiben allerdings bis zum Ende des 19. Jahrhunderts größtenteils ein kulturkritischer Spezialdiskurs, und erst die Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchen, mit dem Anspruch ernst zu machen, jenseits des Kunstfeldes »Kunst in Lebenspraxis« zu transformieren.22

19 | Vgl. Terry Eagleton: Ästhetik: Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart/Weimar 1994. 20 | Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart 1991. 21 | Vgl. Barbara Lange: Joseph Beuys, Richtkräfte einer neuen Gesellschaft: der Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer, Berlin 1999. 22 | Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 2005.

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3. Der Künstler als anti-bürgerliche Gegenfigur: Seit 1800 tritt als weiteres Element innerhalb des klassischen Künstlermythos die Opposition von Künstler und Bürger, von Künstler und Philister auf. In der Pariser Bohème des 19. Jahrhunderts findet sie ihren Ausdruck in einem entsprechenden sozialen Mikrokosmos.23 Der Künstler nimmt sich damit nun als soziale Figur wahr, die einer dominanten Klasse gegenübersteht, und er wird als solche wahrgenommen. Er versteht sich selbst als anti-hegemonial und kann auch nur in der selbstgewählten und selbstbewussten Position sozialer und kultureller Marginalität existieren. Zugleich wird er auch von der bürgerlichen Kultur als ein solches »subversives« Element perzipiert und damit unter Verdacht gestellt. Das Künstlersubjekt setzt hier den Antagonismus zwischen philisterhafter Mehrheitskultur und ästhetischer Minderheitskultur voraus. Auf dieser Ebene handelt es sich damit um keine Universalisierung, sondern im Gegenteil um eine soziale und politische Variante der Exklusivfigur, die nun allerdings nicht psychologisch-geniereligiös, sondern soziologischkulturrevolutionär begründet wird. Im Extrem kann sich der Künstler hier auch als »verkanntes Genie«, als »an der Gesellschaft leidender Künstler« darstellen, der seiner Zeit voraus ist und dem erst posthum Anerkennung zuteil wird.24 Zugleich verschiebt sich mit der Polarität Künstlerbohème – Bourgeoisie der Schwerpunkt dessen, was für den Künstler und am Künstler als essentiell wahrgenommen wird: Es ist weniger das geschaffene Werk, sondern der Lebensstil des Künstlers sowie seine Selbstdarstellung vor einem urbanen Publikum, die hier als das genuin Künstlerische erscheinen, nicht die Produktivität, sondern die »Künstlerexistenz«, in der der Künstler zum Gegenstand seiner kreativen Selbstgestaltung wird. Im Kontext von Bohème und Gegenkultur ist Kunst kein Funktionssystem, sondern eine milieuhafte Lebensform, eine Subkultur. Die signifying practices richten sich entsprechend auf eine ästhetische Strukturierung dieser Alltagspraxis. 4. Die Pathologisierung des Künstlers: Parallel zur emphatischen Mythologisierung des Künstlers als Originalgenie und Bohème bildet sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine entgegengerichtete Pathologisierung heraus, die mit dieser jedoch formal die Festlegung des Kreativsubjekts auf eine Exklusivfigur teilt. Diese Pathologisierung verläuft in einem individualpsychologischen Vokabular: Der kreative, ästhetische sensibilisierte Mensch wird als ein riskantes Subjekt eingeführt, im doppelten Sinne der Riskanz für sich selbst und für die Gesellschaft.25 Hier sind der noch gemäßigte Topos des »leidenden« oder 23 | Vgl. Helmut Kreuzer: Die Bohème. Beitrag zu ihrer Beschreibung, Stuttgart 1968. 24 | Vgl. Franz Roh: Der verkannte Künstler: Studien zur Geschichte und Theorie des kulturellen Mißverstehens, München 1948. 25 | Vgl. Eckhard Neumann: Künstlermythen. Eine psychohistorische Studie über Kreativität, Frankfurt a.M. 1986.

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»depressiven« Künstlers ebenso einzuordnen wie die radikalen Pathologisierungen von Genia e follia bei Lombroso und schließlich die Diffamierung der »Entartung« des Künstlers als psychisch, moralisch und kulturell degenerierte Figur. Die Pathologisierung – die auch an alte, noch antike Motive der künstlerischen und intellektuellen »Melancholie« anknüpft 26 – lässt sich als Reaktion der bürgerlichen Hegemonie auf die Herausforderung durch Künstlermythos und Bohème interpretieren, die zugleich vom Anti-Individualismus des psychologisch-biologischen Szientismus profitiert. Wenn Künstlermythos und Bohème versuchen, zentrale Muster bürgerlicher Mehrheitskultur (Moralität, Arbeit, Ehe, Rationalität etc.) zu delegitimieren, dann arbeitet die moderate bis aggressive Pathologisierung des Künstlers an einer »Delegitimierung der Delegitimierer«, indem sie nun auch das Künstlersubjekt an Standards vorgeblicher psychischer und moralischer Normalität misst. 5. Die Vermarktlichung des Künstlers als Objekt eines Publikums: Voraussetzung für die Entstehung des modernen Künstlersubjekts ist der Strukturwandel des gesamten künstlerischen Feldes von einer aristokratischen und sakralen Mäzenatenkunst zu einem bürgerlichen Kunstmarkt.27 Diese Entwicklung bahnt sich Mitte des 18. Jahrhunderts an und mündet am Ende des 19. Jahrhunderts in jene Differenzierung des Kunstfeldes in eine Kunst für das große, populäre und in eine für das kleine, kritisch-elitäre Publikum, wie Pierre Bourdieu sie in Die Regeln der Kunst (1999) darstellt.28 Das Künstlersubjekt wird damit in eine zwiespältige Konstellation versetzt: Zum einen ermöglicht erst die Unabhängigkeit von einzelnen Auftraggebern das »expressive«, aus der eigenen Individualität geborene Kunstwerk. Zum anderen sieht der Künstler sich jedoch in die Rolle eines Objekts vor einem unberechenbaren, unpersönlichen Publikum gedrängt. Dies gilt für die bildende Kunst ebenso wie für die Literatur oder die Musik. Es ist dann das Publikum, das gewissermaßen zertifiziert, was eine anerkannte kreative Leistung ist, sei es über unmittelbaren Markterfolg, über Provokationserfolg oder über langfristige Klassizität. Diese Herausbildung einer Konstellation von Künstler und Publikum hat nun für die Form der Kreativität wiederum eine tendenziell generalisierende Wirkung, indem der anonyme, medialisierte Aufmerksamkeitsmarkt zur entscheidenden Beobachtungsinstanz avanciert: Kreativ ist, was vor dem Publikum als kreativ zählt, was als kreativ attribuiert wird. Dies eröffnet immer wieder Möglichkeiten für sozial oder kulturell marginale Figuren, als Subjekte »eigentlicher« Kreativität anerkannt zu werden. Im Rahmen eines Regimes des ästhetisch 26 | Vgl. Hanna Hohl: Saturn, Melancholie, Genie, Hamburg/Stuttgart 1992. 27 | Vgl. Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997. 28 | Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999.

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Neuen wird diese Publikums-Konstellation jedoch zugleich immer wieder als problematisch thematisiert, als Risiko der Manipulation künstlerischer Expressivität durch soziale und ökonomische Verführungen. Es bleiben damit im Wesentlichen zwei extreme Optionen: die Massengefälligkeit oder die Verweigerung.29 Diese fünf Elemente, die sich im Regime der Kreativität des Kunstfeldes seit dem Ende des 18. Jahrhunderts miteinander verzahnen, enthalten damit eine kontradiktorische Tendenz zwischen der Etablierung des Künstlers als Exklusivfigur und einer Inklusionsbewegung. Die Etablierung des Künstlers als Exklusivfigur verhindert eine kulturelle Generalisierung von Künstlerschaft und trägt damit zum Kreativitätsmythos als Künstlermythos bei. Dies geschieht in dreierlei Weise: in einer positiven individualpsychologischen, teilweise quasi-religiös überhöhten Begründung (Künstler als Ausnahmeerscheinung des Originalgenies); in einer negativen psychologischen Begründung (Künstler als pathologische Erscheinung); schließlich in einer soziokulturellen Begründung (die anti-hegemoniale Subkultur der künstlerischen Bohème). Obwohl sich diese drei Begründungen teilweise gegenseitig widersprechen, tragen sie doch alle drei zur Festlegung des Künstlers auf eine Exklusivfigur bei. Gleichzeitig jedoch lassen sich im Innern dieser klassischen Künstler- und Kreativitätskultur zwei Einfallstore für Universalisierungs- und Generalisierungsprozesse finden: zum einen die ästhetische Utopie der quasi-natürlichen menschlichen Schöpfungskraft, zum anderen die Konstellation eines Publikums, welches eine Zertifizierung kreativer Akte betreibt. In beiden Hinsichten findet eine Dezentrierung des Status des Künstlers statt, auf der einen Seite in Richtung eines universalisierten ästhetischen Subjekts als normatives Ideal, zum anderen in Richtung des Publikums der Rezipienten, des Aufmerksamkeitsmarktes, von dessen Urteil Kreativität abhängt: Entweder ist jeder ein potentieller Künstler oder aber alle entscheiden darüber, wer ein Künstler ist.

3. P ostmoderne N ormalisierungen der K re ativität Der kulturelle Prozess der Normalisierung kreativer Kompetenzen und Akte in einem Kreativitätsdispositiv, in dessen Verlauf sich diese von einem exzeptionellen Phänomen einer herausgehobenen Minderheit zu einem verbreiteten und am Ende sogar vom Einzelnen sozial erwarteten Phänomen verwandeln, hat seit den 1960er Jahren mehrere Ursachen, die weit über das Kunstfeld hinausreichen. Vor allem die Transformation von einer industriell-fordistischen zu einer postfordistischen Ökonomie mit ihren Erfordernissen einer symbol29 | Vgl. P. Bourdieu: Die Regeln der Kunst.

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orientierten Arbeit, die massenmediale Inszenierung von expressiver Individualität als Ideal-Ich sowie die – nicht zuletzt durch psychologische Diagnose und Therapie geförderte – Etablierung einer »Kultur der Selbstentfaltung« in den westlichen Mittelschichten tragen seit den 1970er Jahren weitgehend synchron zur Etablierung des Kreativitätsdispositivs bei.30 Die Normalisierung der Kreativität im Kunstfeld selbst, die Generalisierung der Figur des Künstlers in Richtung eines Arrangeurs kreativer Akte und Objekte liefert jedoch einen ebenso bedeutenden und besonders bezeichnenden Faktor, der zur Etablierung eines spätmodernen Regimes der Kreativität beigetragen hat. Diese Normalisierung des Kreativen in der Kunst beginnt in mancher Hinsicht zur Jahrhundertwende und in den Avantgardebewegungen, aber erhält erst mit den unterschiedlichen Versionen der »postmodernen« Kunst seit den 1960er Jahren ihren eigentlichen Schub. Vor allem vier miteinander verwobene Elemente kann man hier beobachten, die allesamt eine Umdeklinierung von Kreativität bewirken. Diese Umdeklinierung folgt einem übergreifenden Transformationsmuster, das vom Künstler als persönliche, psychische und soziale Subjekt-Entität zu den Praktiken und Techniken kreativer »Produktion« in einer Umwelt von Objekten und anderen Subjekten führt. Es lassen sich – insbesondere seit den 1960er Jahren – eine Prozeduralisierung, eine Materialisierung, eine Konzeptualisierung und eine Performativitäts-Orientierung kreativer Prozesse beobachten, die in the long run die Eingrenzbarkeit der kreativen Praxis auf das Kunstfeld unterminieren.31 Kreative Praktiken sind dann am Ende keine funktional differenzierten Praktiken, sondern dispersed practices, verstreute Praktiken, die in verschiedensten sozialen Feldern vorkommen und dort gefördert werden.32 Analog avanciert das Kreativsubjekt zu einer affektiv aufgeladenen, wenn auch nun entauratisierten Figur, zu einem Subjektanforderungskatalog über das Kunstfeld hinaus. Diese Normalisierung kreativer Praxis knüpft sowohl an die Generalisierbarkeit des Schöpferischen der ästhetischen Utopien wie an die Publikumskonstellation des Kunstmarktes seit dem 19. Jahrhundert an, aber zugleich geht sie darüber hinaus, indem sie sich den Methoden zuwendet, in denen Kreativität produziert wird:

30 | Vgl. A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. 31 | Ein fünftes Element dieser Normalisierung wird im Folgenden vernachlässigt: die »Industrialisierung« des kreativen Prozesses, d.h. die Kopplung von Kunst und Industriedesign in der Architektur und Innenarchitektur seit den 1920er Jahren, wie sie sich bahnbrechend im Weimarer und Dessauer Bauhaus sowie in Ansätzen auch in der revolutionären Sowjetunion findet. 32 | Vgl. Theodore R. Schatzki: Social Practices. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996.

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1. Die Prozeduralisierung der Kreativität: Seit den Avantgardebewegungen, insbesondere dem Surrealismus, gilt ein besonderes Interesse den Techniken, den Prozeduren des kreativen Prozesses. Diese erscheinen nun im Wesentlichen als solche des »Zufallsmanagements«. Ausdrücklich geht damit eine Abwertung des künstlerischen Schöpfermythos einher, wie namentlich Max Ernst ihn attackiert hat. Nicht das Subjekt erscheint als Ursprungsinstanz eines Schaffensprozesses, sondern dieser Prozess selbst ist es, der in seiner Eigendynamik Neues hervorbringt. Diese Produktion von Neuem kann in bestimmten Techniken gefördert werden, die im surrealistischen Kontext forciert werden.33 Dies gilt etwa für Max Ernst’ Verfahren der »Frottage«, eine Methode des Durchreibens mit Kohlestift von Objekten unter einer Papierlage (Ernst lehnt sich hier an ein Kinderspiel an), oder für André Massons an die écriture automatique angelehnte Malweise, in der mit maximalem Tempo Farbe auf der Leinwand verteilt wird, um jeden ästhetischen Planungsprozess auszuschalten, oder schließlich für die sogenannten Recherches experimentales, die die Surrealistengruppen seit Anfang der 1930er Jahre durchführen: kreativitätsförderliche Gruppenspiele, in denen es um die gemeinsame Entfaltung von Assoziationsketten geht. Durchgängig ist für diese Kreativitätstechniken eine Förderung des Zufalls zentral – ob im Umgang mit dem Material oder in der mentalen Sequenz der Assoziation. Es geht darum, eine Eigendynamik von Prozessen zuzulassen, in denen Neues produziert wird, Prozesse, denen das Subjekt selbst gewissermaßen nur noch zuzuschauen braucht. Dabei spielt immer wieder auch das Kollektiv als intersubjektive Irritationsinstanz eine Rolle. Kreativität ist dann nicht mehr mit einer subjektiven Schöpfungskraft zu identifizieren, sondern läuft auf eine Förderung von Unberechenbarkeiten im Umgang mit Dingen und Ideen hinaus. Es ist nicht verwunderlich, dass namentlich im Kontext des Surrealismus bisher scheinbar inferiore Subjekttypen wie Kinder, psychisch Kranke oder »Primitive« zu Vorbildern werden (paradigmatisch hier die »Prinzhorn-Sammlung«)34: Bei ihnen scheinen die Selbststeuerungsversuche des Bewusstseins von vornherein auf kreativitätsfördernde Weise gelockert. Auffällig ist, dass die künstlerischen Kreativitätstechniken, die im surrealistischen Kontext entwickelt werden, jenen zufallsorientierten verallgemeinerten Kreativitätstechniken ähneln, die die Kreativitätspsychologie seit den 1950er Jahren entwickelt.35 Insgesamt trägt diese Prozeduralisie-

33 | Vgl. Beate Bender: Freisetzung von Kreativität durch psychische Automatismen, Frankfurt a.M. 1989; Ralf Convents: Surrealistische Spiele, Frankfurt a.M. 1996; Bernhard Holeczek/Lida von Mengden: Zufall als Prinzip, Heidelberg 1992. 34 | Vgl. Bettina Brand-Claussen (Hg.): Wahnsinnige Schönheit. Prinzhorn-Sammlung, Ausstellungskatalog Kulturhistorisches Museum Osnabrück, Heidelberg 1997. 35 | Vgl. Gisela Ulman (Hg.): Kreativitätsforschung, Köln 1973.

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rung der Kreativität im Sinne zufallsinduzierender kreativer Techniken entscheidend zu ihrer Normalisierung bei. 2. Die Materialisierung der Kreativität: Eine zweite Tendenz, die sich insbesondere in der Bildenden Kunst beobachten lässt, betrifft eine Neustrukturierung des künstlerischen Prozesses, in der die Produktion eines neuen Objekts (klassischerweise eines Gemäldes) ersetzt wird durch ein Arrangement von gegebenen Materialien. Ausgangspunkt ist hier die reale Objektewelt – seien es Alltagsgegenstände, mediale Artefakte wie Fotos oder Zeitungsausschnitte, industriell gefertigte Gegenstände oder am Ende wie in der Land Art die Natur, teilweise auch der menschliche Körper, vor allem der Künstlerkörper. Dieser Umschlag von der »Produktionskunst« zur »Kunst des Arrangements« findet sich in ganz unterschiedlichen Kontexten: Bereits nach 1910, aber erst in den 1940er Jahren breiter wahrgenommen, sind hier Duchamps Readymades zu nennen – fertig vorliegende Alltagsgegenstände wie Fahrrad-Räder oder Flaschenreiniger –, seit den 1960er Jahren die Verwendung massenmedialer Fotografien bei Andy Warhol, dann der Rückgriff auf industrielle Produkte in der minimal art, schließlich die minimale Modifikation von Fotografien in der appropriation art.36 Ein gutes Beispiel liefern hier auch die Fotografien von Cindy Sherman – im Zusammenhang mit der Ästhetik der Postmoderne häufig thematisiert –, in denen die Künstlerin vor der Kamera in der Haltung bestimmter Filmstars posiert und damit Zitationen von Originalen liefert, ohne dass es sich dabei um identische Kopien handelt.37 Die genannten Kunstrichtungen mögen sich in vielerlei Hinsicht deutlich voneinander unterscheiden und haben sich teilweise in Opposition zueinander verstanden. Ihr Kreativitätsregime folgt jedoch einem übereinstimmenden Muster: Durchgängig tritt an die Stelle der Produktion von »Originalen« ein Arrangement und eine Modifikation von »gegebenen« Objekten. Dieses Arrangement stellt an das künstlerische Subjekt andere Anforderungen: die der Selektion und der Kombinatorik. Es geht immer darum, aus der Fülle der gegebenen Objekte jene auszuwählen, die als geeignet für eine ästhetische Aussage oder einen ästhetischen Effekt erscheinen. Kreativität ist dann eine Selektionskompetenz. Der zweite Schritt besteht in einer Kombination unterschiedlicher Elemente oder aber in einer Resignifikation durch eine leichte Abweichung, eine Modifikation oder einen Austausch einzelner Elemente: etwa dadurch, dass Warhol die Monroe-Bilder im Siebdruckverfahren farbig gestaltet oder dass Sherman sich an die Stelle einer Film Noir-Darstellerin setzt. An die Stelle einer klassischen Kunstfertigkeit tritt als zentrale 36 | Vgl. Daniel Marzona: Minimal Art, Köln 2004; Romana Rebbelmund: Appropriation Art, Frankfurt a.M. u.a. 1999. 37 | Vgl. Fritz Franz Vogel: The Cindy Shermans: Inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005, Köln/Weimar 2006.

Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse

Voraussetzung für diese Materialorientierung eine Kenntnis des »kulturellen Archivs«, auch des populärkulturellen, aus denen heraus sinnvoll ausgewählt und kombiniert werden kann. Das Künstlersubjekt transformiert sich damit in eine »Organisatorin« ästhetischer Effekte. Dieser Strukturwandel des kreativen Prozesses zum Materialarrangement ist in künstlerischen Selbstdarstellungen wiederholt thematisiert worden: Victor Burgin spricht vom postmodernen Künstler als einem »Koordinator existierender Formen« und Hal Foster vom Künstler als »Zeichenmanipulator«.38 3. Die Konzeptualisierung der Kreativität: Ein dritter Normalisierungsmechanismus ist der Materialisierung scheinbar entgegengesetzt – mit »Konzeptualisierung« ist hier jene Tendenz gemeint, die sich äußerst einflussreich bei Duchamp und in der Conceptual Art findet.39 Hier geht es gerade nicht darum, das Material als Startpunkt zu nehmen, vielmehr liefert eine bestimmte Idee, ein Konzept, ein verstörender Gedanke den Ausgangspunkt, für den eine Versuchsanordnung zu finden und so beim Rezipienten ein entsprechender Effekt zu erzielen ist. Sol LeWitt hat dies in Paragraphs on Conceptual Art (1967) programmatisch entsprechend formuliert.40 Auch hier werden Alltagsobjekte unterschiedlichster Art verwendet – häufig in die Form einer Installation mündend –, aber sie sind nicht der Ausgangspunkt des künstlerischen Prozesses, sondern lediglich ein Durchgangsstadium, ein Mittel zum Zweck in der Kommunikationsrelation zwischen der künstlerischen Idee und dem Rezipienten. Diesem kommt letztlich die Hauptaufgabe zu, die Dechiffrierung des Objekts in einer semiotischen oder intellektuellen Operation. Auf den ersten Blick könnte man hier an eine Reaktivierung der Genieästhetik denken, ähnlich dem Maler Conti in Lessings Emilia Galotti, für den ein Kunstwerk auch im Kopf des Künstlers verbleiben kann, ohne darin an Originalität zu verlieren.41 Tatsächlich bedeutet die postmoderne Konzeptualisierung jedoch genau umgekehrt eine Umstülpung des kreativen Prozess, der nun nicht vom Autor, sondern vom Rezipienten her gedacht ist: Der eigentliche Schöpfer ist der Rezipient als Interpret, und die Aufgabe des Künstlersubjekts besteht darin, durch eine möglichst geschickte Versuchsanordnung einen Reflexionsprozess beim Rezipienten in Gang zu setzen. Die künstlerische Versuchsanordnung muss dann letztlich lediglich funktional sein und bleibt aus38 | Vgl. Victor Burgin: »Situational Aesthetics«, in: Studio International 178 (1969), S. 118-121; Hal Foster: »Subversive Signs«, in: Art in America 70 (November 1982), S. 88- 92. 39 | Vgl. Dieter Daniels: Duchamp und die anderen, Köln 1992; Daniel Marzona: Conceptual Art, Köln 2005. 40 | Vgl. Sol LeWitt: »Paragraphs on Conceptual Art«, in: Artforum 5 (1967), S. 79-83. 41 | Vgl. dazu Niels Werber: »Paradoxien der Kunst der Moderne«, in: Martin Hellmold et al. (Hg.), Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, S. 149-162.

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tauschbar (wenn man nicht gar ganz auf sie verzichtet). Der Produktivismus des schöpferischen Subjekts wird damit auf ein Minimum reduziert. An dessen Stelle tritt die Herstellung einer kommunikativen Relation zwischen Idee und Rezipient. In diesem Kontext wird auch der Funktionswandel der Subjektposition des Künstlers in Richtung eines Kurators wie eines Kunsttheoretikers seiner eigenen Arbeiten sichtbar: Immer geht es um die geschickte oder auch gezielt verrätselnde Kommunikation mit dem Rezipienten. 4. Die Performativitäts-Orientierung der Kreativität: Während die Prozeduralisierung, die Materialisierung und auch die Konzeptualisierung der Kreativität eine Dezentrierung vom Künstlersubjekt zum kreativen Prozess, zu den Materialien und zum Rezipienten forcieren und damit die Subjektposition entauratisieren und entmythologisieren, weist ein letzter Aspekt scheinbar in die genau entgegengesetzte Richtung. Was man insbesondere seit der Mitte des 20. Jahrhunderts beobachten kann – schon im Falle von Künstlern wie Pollock oder bei Warhol, massiert dann aber seit den 1980er Jahren –, ist eine Rezentrierung des Kunstfeldes auf das Künstlersubjekt, und zwar als öffentliche Figur.42 Diese Zentrierung auf den Künstler als öffentliches Spektakel hat ihre Vorläufer im Künstlermythos des 19. Jahrhunderts, aber sie nimmt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bezeichnende Wendung: Die Performativität des Künstlersubjekts bildet nun ein Teilelement eines umfassenden, vielgliedrigen massenmedialen »Starsystems«, das eine Vielzahl von Feldern vom Film über die Musik bis zum Sport umfasst.43 Die Inszenierung des Künstlersubjekts als Kunst-Star markiert damit keinen Widerspruch zur Normalisierung der Kreativität, sondern trägt letztlich genau zu dieser Normalisierung bei, die sich nun auch auf die routinisierte und methodisch versierte Produktion von herausgehobenen Künstler-Individuen bezieht. Die Kreativität, um die es hier geht, ist nicht mehr im Werk zu suchen, sondern in der performance des Künstlersubjekts selber. Sie richtet sich auf die Gestaltung einer Künstlerpersönlichkeit als gegenüber einem Publikum nicht nur sichtbare, sondern vor allem unterscheidbare Oberfläche. In gewisser Hinsicht bereitet die sogenannte performance-Kunst im engeren Sinne diese Entwicklung vor, indem sie den Körper des Künstlers selbst zum Objekt künstlerischer Gestaltung macht.44 Das Starsystem Kunst rezentriert dann in allgemeinerer Form die Aufmerksamkeit auf den Künstler als ein sich selbst in seiner Darstellung konstituierendes Subjekt, dessen »Kreativi42 | Vgl. Isabelle Graw: Der große Preis, Köln 2008; Stefan Römer: »Natürlich wollen wir alle reich, schön und berühmt sein«; in: Martin Hellmold et al. (Hg.), Was ist ein Künstler?, München 2003, S. 243-272; speziell zu Warhol Nina Tessa Zahner: Die neuen Regeln der Kunst, Frankfurt a.M. 2006. 43 | Vgl. dazu D.P. Marshall: Celebrity and Power. 44 | Vgl. Roselee Goldberg: Performance: Live Art since the 60s, New York 2004.

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tät« sich auf die Produktion individueller Unterscheidbarkeit auf der Ebene des Körpers, der Biografie, des Privatlebens, des Images etc. richtet. Wie Sabine Kampmann in ihrer Analyse von zeitgenössischen Künstler-Stars am Beispiel von Christian Boltanski, Pippilotti Rist und Markus Lüpertz erläutert, können die einzelnen Strategien dieser Produktion eines kreativen Subjekts vor einem Publikum sehr unterschiedlich sein – das Spiel mit der Verbergung einer wahren Identität bei Boltanski, die Inszenierung als Pop-Feministin bei Rist oder die Reaktivierung des Modells des Maler-Fürsten bei Lüpertz.45 Entscheidend ist jedoch, dass die öffentliche performance des Künstlersubjekts und die Sicherung ihrer Unterscheidbarkeit zum Gegenstand einer methodisch kontrollierten Gestaltung werden, die konsequenterweise zu unterschiedlichen Ergebnissen führen muss, will sie effektiv sein. Es wird damit deutlich, inwiefern die Transformation von Kreativitätspraktiken und -diskursen im Feld der Kunst zur spätmodernen Generalisierung von kreativen Praktiken und Kreativsubjekt beigetragen haben: Die Exklusivfigur des Künstlers – ob psychologisch oder sozial begründet – sieht sich seit den 1950er Jahren verdrängt durch die Tendenzen der Prozeduralisierung, Materialisierung, Konzeptualisierung und Performativitäts-Orientierung, die alle zu einer Normalisierung kreativer Prozesse beitragen und sie aus dem klassischmodernen Künstlermythos herauslösen. Es handelt sich dabei zum großen Teil nicht um von außen erzwungene Rationalisierungsprozesse der Kunst, sondern um selbstkritische Dekonstruktionen und Modifikationen innerhalb des Kunstfeldes selbst. Die künstlerischen Praktiken folgen in ihrer Transformation durchaus einer künstlerischen Eigenlogik. Aber ein Ergebnis dieser Eigenlogik ist paradoxerweise eine Entautonomisierung und Entdifferenzierung der künstlerischen Praxis, eine Produktion von kulturellen Formaten, die auch jenseits der Kunst zum Einsatz kommen. Mögen die Objekte, welche die zeitgenössische Kunst produzieren – etwa ihre Installationen im Bereich der Conceptual Art –, auch ein ungewöhnliches Maß an wenig populärer Enigmatik erreicht haben – die allgemeinen Verfahren, durch die sie entstehen, erweisen sich in hohem Maße als sozial verallgemeinerbar. Diese Normalisierung des Künstlersubjekts ist mit seiner Entdramatisierung verknüpft. Der klassische Künstlermythos formt seine Träger als Agenten von Kämpfen: von Aufstiegskämpfen des »wahren Künstlers« und Kämpfen zwischen Bohème und Bourgeoisie, nicht zuletzt von innerpsychischen Kämpfen des Künstlers mit sich selbst. Die Normalisierung des Kreativen löst die Kampfkonstellationen ab durch eine Logik der Methoden – der Prozeduren, Kompetenzen und 45 | Vgl. Sabine Kampmann: Künstler sein. Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft: Christian Boltanski, Eva & Adele, Pipilotti Rist, Markus Lüpertz, München 2006.

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Selbststilisierungen –, die gerade in ihrer Förderung des Zufälligen und Individuellen Systematik walten lassen.46

46 | Einzelne Passagen dieses Textes sind in das Kapitel 3 »Zentrifugale Kunst: Die Entgrenzung der Kunstpraktiken« meines Buches »Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung« (Berlin 2012) eingegangen.

Ästhetik und Gesellschaft Ein analytischer Bezugsrahmen

Auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Ästhetischem und der Gesellschaft erhält man im sozialwissenschaftlichen Diskurs zwei konträre Antworten: Das Ästhetische scheint unter den Bedingungen moderner Gesellschaftlichkeit marginal oder es scheint ubiquitär. Folgt man einer in der Soziologie lange Zeit dominanten Position, ist für den Bestand moderner, westlicher Gesellschaften kaum etwas derart entbehrlich wie das Ästhetische.1 Die Moderne als ein Sachzusammenhang formaler Rationalität, als eine arbeitsteilige und funktional differenzierte Gesellschaft, als eine kapitalistische und technisierte Industriegesellschaft ist aus dieser Perspektive für ihre soziale Reproduktion auf die Existenz ästhetischer Praktiken nicht angewiesen. Versteht man ästhetische Praktiken allgemein als Aktivitäten, in denen Sinne, Affekte und Interpretationen selbstreferenziell werden und sich von der Unterordnung unter zweckrationales oder normatives Handeln lösen, scheinen sie auf den ersten Blick eine lediglich marginale Existenz in Form sozialer Nischen – wie bestimmten Subkulturen oder den Kunstinstitutionen – an den Rändern der formal-rationalisierten Moderne zu fristen. Es ist daher konsequent, dass der größte Teil der modernisierungstheoretischen oder marxistischen Gesellschaftstheorie seit dem späten 19. Jahrhundert meint, auf das Ästhetische als Untersuchungsgegenstand weitgehend verzichten zu können oder ihm lediglich eine ideologische Funktion zuschreibt. Wenn überhaupt, dann wird die Analyse ästhetischer Praktiken aus dieser Perspektive an eine Soziologie der Kunst delegiert, die sich mit den Restbeständen bürgerlicher Hochkultur befasst. Entsprechend waren es im Gefüge der Geistes- und Sozialwissenschaften in erster Linie die Kunstwissenschaften im weiteren Sinne – die Literaturwissenschaft, die Kunstgeschichte, 1 | Vgl. Wolfgang Eßbach: »Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie«, in: Andreas Lösch et al. (Hg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg 2001, S. 123-136.

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die Musikwissenschaft –, die lange Zeit zu Sachverwaltern des Ästhetischen der Moderne wurden: des Ästhetischen in Form von Kunstwerken. Dieser Grundannahme der Marginalität ästhetischer Praktiken steht jedoch eine konträre These gegenüber, die im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend Unterstützung gefunden hat: die These, dass die moderne Gesellschaft von Anfang an und in ihrer historischen Entwicklung in verstärktem Maße ästhetische Praktiken fördert und anregt, dass diese sich in verschiedenste soziale Felder und Lebensformen hinein ausdehnen und sich intensivieren. Das Ästhetische ist in der Moderne ubiquitär. Diese Diagnose wird gängigerweise unter dem Begriff der »Ästhetisierung« gefasst.2 Aus dieser Perspektive lässt sich das Ästhetische nicht auf die Künste oder bestimmte Subkulturen einschränken, es erfährt vielmehr in der Moderne eine radikale Entgrenzung und soziale Diffusion: Die Lebensstile, die Ökonomie, ihre Formen der Arbeit und des Konsums, die modernen Medientechnologien, der Städtebau, die persönlichen Beziehungen, die Kultur des Selbst und des Körpers und teilweise auch das Politische und die Wissenschaften werden zum Gegenstand von Prozessen der Ästhetisierung. Eine kunstwissenschaftliche Analyse des Ästhetischen muss daher zu eng bleiben. Es ist vielmehr die Aufgabe der Gesellschaftstheorie und der Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt zu begreifen, welche Strukturen die Ästhetisierung und welche Formen ästhetische Praktiken in der Gesamtgesellschaft annehmen. Neben diesem Widerspruch zwischen den Annahmen vorgeblicher Marginalität und Ubiquität ästhetischer Praktiken wird man rasch mit einem zweiten Antagonismus konfrontiert, der die Bewertung des Verhältnisses zwischen Ästhetik und Gesellschaft prägt. Grundsätzlich gibt es kaum einen Gegenstand der sozialen und kulturellen Realität, dessen Beschreibung derart intensiv evaluativ aufgeladen ist wie das Ästhetische; die Ästhetik ist daher mit Formen der latenten oder manifesten Kulturkritik aufs Engste verwoben. Diese Bewertungen sind jedoch nicht nur hochgradig umstritten, sondern durch eine merkwürdige Polarität gekennzeichnet: Einerseits scheint kaum etwas 2 | Vgl. zu diesem Begriff in der neueren Diskussion: Wolfgang Welsch: »Ästhetisierungsprozesse. Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), S. 7-29; Rüdiger Bubner: »Ästhetisierung der Lebenswelt«, in: ders., Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, S. 143-156; Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992, S. 33-54; Gilles Lipovetsky/Jean Serroy: L’esthétisation du monde. Vivre à l’âge du capitalisme artiste, Paris 2013. In der älteren Diskussion wird der Begriff von Walter Benjamin in einem recht engen und pejorativen Verständnis verwendet, vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], Frankfurt a.M. 2007, S. 42-44. Vgl. zuvor schon ähnlich Carl Schmitt: Politische Romantik, München/ Leipzig 1919, S. 17.

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derart mit Versöhnungs- oder Emanzipationshoffnungen verquickt zu sein wie ästhetische Praktiken und ihre Produkte. Andererseits wird kaum etwas derart kritisch, ja abschätzig beurteilt wie diverse Prozesse der Ästhetisierung oder Phänomene des Ästhetizismus. Während ästhetische Praktiken seit den historischen Bewegungen der Romantik und des Idealismus regelmäßig als Orte einer nichtentfremdeten Existenz – des Spiels, des interesselosen Wohlgefallens, der Lüste und Affekte etc. – oder als Speerspitze einer Kritik an der gesellschaftlichen Hegemonie der Moderne – am Kapitalismus, an der Arbeitsteilung, der Industrialisierung oder Versachlichung – galten,3 geraten sie in jenem Moment, in dem sie in kollektive Lebensstile oder institutionelle Komplexe eingegangen sind und sich dabei transformiert haben, häufig ihrerseits ins Visier einer nicht selten ausgesprochen heftigen Kulturkritik. Eine solche Kritik richtet sich etwa gegen die Kulturindustrie, den Unterhaltungseskapismus, das bloße Repräsentationsstreben oder die Kommerzialisierung der Kultur. Wenn das Ästhetische die Höhen der Kunstwerke verlässt und sich in die Niederungen des Sozialen begibt, scheint es seinen Nimbus einzubüßen: Es droht eine »Verunreinigung« ästhetischer Praktiken durch die Gesellschaft. Dieses doppelte – analytische und normative – Spannungsfeld, in dem sich der Zusammenhang von Ästhetik und Gesellschaft bewegt, verdeutlicht, wie notwendig eine sozial- und gesellschaftstheoretische Klärung ist. Eine solche Klärung betrifft vier Fragen, die ich im Folgenden thematisieren will: 1. Was hat die Soziologie seit ihrer Gründung daran gehindert, ästhetischen Praktiken in der Moderne die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu widmen? 2. Was ist unter ästhetischen Praktiken aus einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive zu verstehen? 3. Wie lässt sich die Genealogie von Prozessen der Ästhetisierung in der Entwicklung der Moderne vom späten 18. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert fassen? 4. Welchen kritischen Maßstab können ästhetische Praktiken für eine kritische Gesellschaftstheorie bieten?

1. D ie » anti - ästhe tische « A usrichtung der S oziologie Aus welchen Gründen hatte der klassische soziologische Diskurs bis zum Ende des 20. Jahrhunderts derartige Schwierigkeiten, die Relevanz ästhetischer Praktiken für die Moderne zu erfassen? Wolfgang Eßbach spricht treffend von einer »anti-ästhetischen Haltung« der Klassiker des soziologischen Diskurses

3 | Vgl. zu dieser kritischen Tradition vom 18. bis zum frühen 20 Jahrhundert Terry Eagleton: Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart/Weimar 1994.

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der Jahrhundertwende, die weit über diese hinaus prägend blieb.4 Erst wenn man nachvollzieht, aus welchem begrifflichen Hintergrund sich diese Anti-Ästhetik speist, kann man abschätzen, welche analytischen Umorientierungen nötig sind, um ästhetische Praktiken und Prozesse der Ästhetisierung soziologisch sichtbar zu machen. Die Soziologie als Disziplin konstituiert sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, indem sie drei grundlegende Perspektiven miteinander kombiniert: Sie geht von der Besonderheit der Strukturmerkmale der modernen Gesellschaft aus; sie versteht die Welt als ein Ensemble des Sozialen; schließlich präsentiert sie sich als eine Disziplin der Kritik am Sozialen und an der Gesellschaft. Dieser dreifache Fragehorizont des soziologischen Diskurses wird zugleich auf eine bestimmte, wirkungsmächtige Art und Weise beantwortet: Die Moderne erscheint im Kern als ein Strukturzusammenhang formal-rationaler Versachlichung. Das Soziale wird entweder als Normsystem oder als Verkettung zweckrationaler Handlungen gedacht. Kritik ist im Kern Sozialkritik. Alle drei grundsätzlichen Entscheidungen führen jedoch dazu, dass in die soziologische Weltsicht in ihrer klassischen Form ein Bias zugunsten einer Entästhetisierung eingebaut ist: Die moderne Gesellschaft erscheint ebenso entästhetisiert wie das Soziale und die Form der Kritik. Die Soziologie hat von Anfang an durchaus unterschiedliche und miteinander konkurrierende Theorien dessen formuliert, welche Strukturmerkmale für die Moderne zentral sind und wie sie sich von denen traditionaler Gesellschaften unterscheiden:5 Die Moderne als formale Rationalisierung (Weber); die Moderne als soziale Differenzierung (Durkheim, Simmel); die Moderne als Naturbeherrschung und Kapitalisierung (Marx) – dies sind die wichtigsten gesellschaftstheoretischen Optionen. Es spricht einiges dafür, dass Max Webers formale Rationalisierung die abstrakteste Grundstruktur bietet, in die sich die anderen Merkmale einfügen lassen.6 In unserem Zusammenhang ist zentral, dass das Verständnis der gesellschaftlichen Moderne als Strukturzusammenhang formaler Rationalisierung diese im Kern mit einem scheinbar grenzenlosen Prozess der Versachlichung identifiziert, der zugleich ein Prozess der 4 | Vgl. W. Eßbach: »Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie«. 5 | Vgl. zum Modernediskurs generell Peter Wagner: Sociology of Modernity, London 1994; zur Modernisierungstheorie Hans van der Loo/Willem van Reijen: Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992. 6 | Vgl. zu Webers Rationalisierungskonzept auch Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979. Aus meiner Sicht sind die post-Luhmann’sche Differenzierungstheorie und die post-Marx’sche Kapitalisierungstheorie in den abstrakteren Rahmen einer Rationalisierungstheorie der Moderne einzubetten.

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Entästhetisierung ist. Die formale Rationalisierung, das heißt die Ausbildung von institutionellen Komplexen und Lebensformen, die sich nach dem Grundsatz der Zweck-Mittel-Rationalität modellieren, wirkt entästhetisierend, indem sie für alle Bereiche des sozialen Handelns der sinnlichen Wahrnehmung und der Interpretation von Zeichen einen instrumentellen Ort zuweist. Die Relevanz von sinnlicher Wahrnehmung und Zeicheninterpretation erschöpft sich in diesem Rahmen darin, Informationen zu liefern, denen ein rein kognitiver Stellenwert im Dienste einer affektneutralen Verhaltenssteuerung zukommt. Wenn die formal-rationale Moderne zudem den Leitprinzipien des Kapitalismus, der Naturbeherrschung und der funktionalen Differenzierung folgt, dann lassen sich auch diese als robuste Motoren der Entästhetisierung begreifen: Die Kapitalisierung wirkt entästhetisierend, indem in ihrem Rahmen Objekte und Subjekte als Waren mit einem Tauschwert betrachtet werden und die Arbeit auf die Produktion von (Mehr-)Wert reduziert wird. Die Naturbeherrschung wirkt entästhetisierend, indem Natur – die äußere wie die innere, leiblich-psychische – nur mehr als Gegenstand der aktiven Weltbearbeitung relevant ist. Die funktionale Differenzierung wiederum wirkt entästhetisierend, indem sie ästhetische Praktiken allein im engen spezialisierten Segment der Kunst als »Subsystem« zulässt. Aus einer Perspektive, die die gesellschaftliche Moderne im Kern als ein Rationalisierungsgeschehen interpretiert, erscheint das Ästhetische somit nurmehr als das Andere der Moderne: ein Anderes, das sich in die traditionalen Gesellschaften der Vergangenheit projizieren lässt, in das europäische Mittelalter oder die Antike, in die nichtwestlichen Kulturen und in die vormodern verwurzelte Sphäre der Religion. Die folgenreiche Entscheidung zugunsten der großen Erzählung der Rationalisierung, deren Hellsichtigkeit den Preis von Einseitigkeit zahlt, ist im soziologischen Diskurs eng verknüpft mit heuristisch ebenso wegweisenden wie blickverengenden Entscheidungen auf der Ebene dessen, was unter dem »Sozialen« verstanden wird. Es spricht einiges dafür, dass auch in den Mainstream der soziologischen Grundbegrifflichkeit von Beginn an ein Bias zuungunsten ästhetischer Dimensionen des Handelns und des Sozialen eingebaut ist, und zwar in zwei Versionen: Der klassische soziologische Diskurs denkt das Soziale entweder ausgehend von normativen Regeln oder von zweckrationalen Handlungsakten. Eine von Émile Durkheim geprägte Tradition verortet das Soziale primär auf der Ebene einer intersubjektiven Koordination des Handelns über den Weg von Normen. Eine Tradition, die sich aus Max Webers Handlungstheorie herleitet, aber bis in die neuzeitlichen Vertragstheorien zurückreicht, macht das Soziale primär in der Koordination oder Aggregation

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zweckrationaler, interessegeleiteter Handlungsakte von Individuen aus. Entweder denkt man das Soziale vom Recht oder vom Markt her.7 Natürlich sind diese Grundmodelle in vielfältiger Weise weiterentwickelt worden, vor allem unter dem Einfluss der begrifflichen Wende vom Handeln zur Sprache und Kommunikation. Ob man nun jedoch vom regelgeleiteten oder vom zweckrationalen Handeln oder von sprach- und kommunikationstheoretischen Fortführungen ausgeht – in allen Fällen wird das Soziale von vornherein als eine entästhetisierte Struktur vorausgesetzt, als eine Sphäre des aktivistischen Eingreifens in die Welt oder der gemeinsamen Befolgung von Sollens-Regeln. Sinnliche Wahrnehmungen, affektive Gestimmtheit, leibliches Erleben, ein offener Umgang mit Interpretationen und ihren Mehrdeutigkeiten – alle Merkmale ästhetischer Praktiken sehen sich entsprechend an den Rand des mit der soziologischen Begrifflichkeit Fassbaren geschoben. Regelmäßig werden diese Phänomene im soziologischen Diskurs nicht dem Sozialen, sondern vielmehr dem Psychischen, dem Körperlichen oder dem Individuellen zugeschrieben. Das Ästhetische ist dann nicht nur das Andere der Moderne, es ist auch das Andere des Sozialen, es bezieht sich vermeintlich »nur« auf das individuelle, psychisch-leibliche Erleben. Die anti-ästhetische Haltung der klassischen Soziologie hat jedoch noch einen dritten Hintergrund: Sie ergibt sich auch aus der spezifischen Form der Kritik, die der soziologische Mainstream voraussetzt. Kritik ist seit Marx und Durkheim im Kern eine Sozialkritik, die sich wahlweise von zwei Maßstäben leiten lässt: dem Kriterium sozialer Gerechtigkeit, das sich gegen die sozialen Ungleichheiten der kapitalistischen Moderne wendet; oder dem Kriterium gelungener sozialer Integration, das die Tendenzen zur desintegrativen Anomie anprangert. Auch hier gilt: diese Kritikform ist für die Moderne in hohem Maße berechtigt, aber sie zahlt einen Preis. Anti-ästhetisch sind beide soziologischen Kritikmodi nämlich in zweierlei Hinsicht: Einerseits bleiben sie auf Distanz zu einer genuin ästhetisch orientierten Kritik an der modernen Kultur, die seit Rousseau und Schiller formuliert wurde.8 Dort handelte es sich um eine Kritik an der modernen Rationalisierung, die deren Entsinnlichung, Entemotionalisierung und »Enthumanisierung« menschlicher Praxis tadelt. Die Sozialkritik präsentiert sich vielmehr als Konkurrenzprojekt zur ästhetischen Kritik. Zugleich geht sie teilweise noch einen Schritt weiter, wenn sie ästhetischen Maßstäben gegenüber nicht nur indifferent ist, sondern diese versucht zu delegitimieren, indem sie auf dem soziologischen Radar lediglich 7 | Vgl. Viktor Vanberg: Die zwei Soziologien. Individualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975. 8 | Vgl. Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. In Marx’ Frühschriften treten Sozial- und Kulturkritik hingegen noch miteinander kombiniert auf.

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als gesellschaftliche Ideologie erscheinen. In Form eines sozialen Ästhetizismus – wie man ihn etwa in der Aristokratie oder hedonistischen Subkulturen, in anderer Weise auch im Bürgertum ausmacht – wird dem Ästhetischen die Beförderung der Desintegration und die ideologische Stützung sozialer Ungleichheit vorgeworfen. Das modernisierungstheoretische Verständnis der Moderne als Prozess der Rationalisierung und Versachlichung, das rationalistische Verständnis des Sozialen als ein Ergebnis regel- oder zweckorientierten Handelns, ein Verständnis der Kritik als Gerechtigkeits- und Desintegrationskritik – sie alle zusammen genommen verankern damit den Mainstream des soziologischen Diskurses als einen anti-ästhetischen. Aber natürlich: damit ist nicht die Gesamtheit des soziologischen Denkens des 20. Jahrhunderts abgebildet, erst recht nicht dessen Ränder, die sich in einem Austauschverhältnis zu den Kulturwissenschaften befinden. Die drei Fragen, die die Soziologie seit ihrer Entstehung aufgeworfen hat – die Frage nach der modernen Gesellschaft, nach dem Sozialen und nach der Kritik – sind weiterhin zukunftsweisend und notwendig. Aber die klassischen Antworten haben sich als zu eindimensional erwiesen. In allen drei Hinsichten lassen sich von Anfang an im soziologischen Diskurs Gegentendenzen ausmachen: Elemente einer gesellschaftlichen Ästhetisierung geraten in Georg Simmels Skizzen zur Urbanität und zur Mode oder in Werner Sombarts Arbeiten zum Hedonismus der Adelskultur ins Blickfeld – beides Antagonisten Max Webers, die zunächst wenig einflussreich blieben.9 Eine Rehabilitierung des sinnlichen, affektiven und leiblichen Erlebens sowie des expressiven Handelns als Grundlage des Sozialen ist an den Rändern des soziologischen Mainstreams in der Phänomenologie, im Pragmatismus und in der Philosophischen Anthropologie angegangen worden.10 Schließlich existieren an der Peripherie soziologischen Denkens Tendenzen einer Kulturkritik der Moderne, die dort, beeinflusst von der Tradition ästhetischer Kritik, Probleme der Entfremdung und Demotivation ausmachen, 9 | Vgl. Georg Simmel: »Soziologische Aesthetik«, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900, Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1992, S. 197-214; Werner Sombart: Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung, Berlin 1983. 10 | Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung [1945], Berlin 1966; John Dewey: Kunst als Erfahrung [1934], Frankfurt a.M. 1980; Helmuth Plessner: »Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes« [1923], in: ders., Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M. 1981, S. 7-315. Auch Tardes Nachahmungstheorie und Bergsons Lebensphilosophie lassen sich als sinnes- und affekttheoretische Alternativen zu Durkheims Soziologismus verstehen, vgl. Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung [1890], Frankfurt a.M. 2003; Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung [1907], Jena 1912.

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insbesondere im Umkreis der frühen Frankfurter Schule und des Collège de Sociologie.11 Um die Relevanz des Ästhetischen aus gesellschaftstheoretischer, sozialtheoretischer und kritischer Perspektive sichtbar zu machen, bedarf es einer Revision des soziologischen Blicks, zu der seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bereits verstreute Versuche vorliegen.

2. E ine S oziologie ästhe tischer P r ak tiken Um Prozesse der Ästhetisierung in den Blick nehmen zu können, ist im Rahmen der soziologischen Grundbegrifflichkeit ein transparenter Begriff des Ästhetischen nötig. Diesem stehen jedoch begriffliche Engführungen im Rahmen der Ästhetischen Theorie entgegen, deren philosophische Grundannahmen tief ins Common-Sense-Wissen eingesickert sind. Hier wird das Ästhetische mit dem Schönen und/oder mit der Kunst identifiziert.12 Tatsächlich kann man argumentieren, dass die Ästhetik des Schönen und die Ästhetik des Kunstwerks die beiden wichtigsten Stränge des klassischen Ästhetikdiskurses bilden, die eine bereits antike Reflexionstradition – von Aristoteles bzw. Platon – weiterführen.13 Ein sozial- und kulturwissenschaftlicher Begriff des Ästhetischen muss jedoch grundsätzlicher ansetzen. Der Ausgangspunkt, der dafür in Frage kommt, findet sich sowohl im Gründungskontext der modernen Ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts, etwa Baumgartens Aesthetica, als auch im kulturwissenschaftlichen Revival des Ästhetischen seit den 1980er Jahren: Es ist der Ausgangspunkt der sinnlichen Wahrnehmung.14 Die Ästhetik ist im Kern 11 | Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970; Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung, Frankfurt a.M. 1969; Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985; Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996. 12 | Die Gleichsetzung des ästhetischen Urteils mit dem Urteil über das Schöne wird in Kants Kritik der Urteilskraft systematisch ausgearbeitet. Dass das Ästhetische seinen Ort in der Kunst habe, wird einflussreich in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik vertreten. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790], Frankfurt a.M. 1977; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I-III [1829], Frankfurt a.M. 1986. 13 | Vgl. zu dieser Tradition Karlheinz Barck: Artikel »Ästhetik/ästhetisch«, in: ders. et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2001, S. 308-383, hier: S. 317-321. 14 | Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica – Ästhetik [1750], 2 Bde., Hamburg 2007; vgl. zur neueren Diskussion insgesamt Karlheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis – Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990 und Wolgang Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996.

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eine Analytik spezifischer sinnlicher Wahrnehmungen. Welcher Ort kommt jedoch sinnlichen Wahrnehmungen im menschlichen Handeln und im Sozialen zu? Und welcher Ort den ästhetischen Wahrnehmungen? Mein Vorschlag lautet, dass sich das Ästhetische soziologisch am besten erfassen lässt, wenn man es praxeologisch auf der Ebene ästhetischer Praktiken ausmacht. Ästhetische Praktiken sind Praktiken, in deren Zentrum die Hervorbringung ästhetischer Wahrnehmungen steht. Ästhetische Praktiken im Feld der Kunst und solche, die sich an der Schönheit orientieren, stellen sich dann lediglich als Sonderfälle dar. Um ästhetische Praktiken erfassen zu können, ist damit ein erster grundbegrifflicher Schritt nötig: Es gilt, die konstitutive Bedeutung sinnlicher Wahrnehmungen für die soziale Praxis insgesamt, es gilt die Sinnlichkeit des Sozialen ganz allgemein zu erkennen. Soziale Ordnungen sind immer auch sinnliche Ordnungen, sie enthalten ihre spezifischen Sinnesregime. Die hinderliche Arbeitsteilung zwischen einer Psychologie »innerer«, mentaler Wahrnehmung und einer Soziologie »äußerer«, in die Welt eingreifender Handlungen ist hierfür zu überwinden. Das gleiche gilt für den Dualismus zwischen einer vermeintlich vorsozialen Körperlichkeit der Sinne(sorgane) und der Sozialität des Handelns.15 Der Ausgangsbegriff der »Praktiken« setzt nun von vornherein jenseits dieser Dualismen von Handeln und Wahrnehmen sowie von Körper und Sozialem an. Wenn soziale Ordnungen sich aus sozialen Praktiken zusammensetzen, dann heißt dies, dass sie aus regulierten Aktivitäten bestehen, die von menschlichen Körpern (und nichtmenschlichen Artefakten) getragen und durch kulturell spezifische implizite Wissensordnungen ermöglicht werden.16 Soziale Praktiken in diesem Sinne – Praktiken des Arbeitens oder des Kommunizierens, der Verwendung von Medien, der Administration oder des Erziehens usw. – enthalten immer schon bestimmte Formen sinnlicher Wahrnehmung, sie mobilisieren die Sinne jeweils auf ihre Weise, und in ihrem Rahmen wird auf eine bestimmte Weise wahrgenommen. Das Wahr15 | Zum grundbegrifflichen Zusammenhang von Praxis, Wahrnehmung und Sozialität vgl. auch Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001; Hannah Göbel/Sophia Prinz (Hg.): Die Sinnlichkeit des Sozialen. Wahrnehmung und materielle Kultur, Bielefeld 2015, darin auch Andreas Reckwitz: »Sinne und Praktiken. Die sinnliche Organisation des Sozialen«, S. 441-456. Generell kann man in diesem Kontext auf Überlegungen aus der Phänomenologie, dem Pragmatismus und der Philosophischen Anthropologie zurückgreifen, aber auch auf Marx’ Frühschriften. 16 | Vgl. Andreas Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken«, in: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2008, S. 97130; Theodore R. Schatzki et al. (Hg.): The Practice Turn in Contemporary Theory, London 1996.

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nehmen – das die Seh-, Hör-, Tast-, Geruchs- und/oder Bewegungssinne mobilisiert und auf spezifische Weise miteinander kombiniert – ist selbst eine soziale und zugleich eine körperliche und mentale Aktivität, auf die jede soziale Praktik in ihrer Weise angewiesen ist. Eine handwerkliche Praktik enthält so beispielsweise ihre Form der sinnlichen Wahrnehmung, eine administrative Praktik eine andere. Das Wahrnehmen umfasst in praxeologischer Sicht dabei eine »was«- und eine »wie«-Komponente. Man kann fragen: Was wird in einer bestimmten sozialen Praktik typischerweise wahrgenommen? Aber auch: Wie wird im Rahmen einer Praktik sinnlich wahrgenommen? Das »Was« weist auf die Verwendung von kulturellen Deutungsmustern (»Wahrnehmungsschemata«) hin, die das als relevant Perzipierte auf bestimmte Weise klassifizieren und bewerten. Das »Wie« bezieht sich darauf, wie die Sinne im und durch den Körper mobilisiert und mit bestimmten weiteren Handlungselementen verwoben werden (so dass sich beispielsweise das beobachtende Sehen in einer Praktik im Labor vom panoramatischen Schauen des Naturerlebens unterscheiden lässt).17 Wenn man damit davon ausgeht, dass das Soziale in Form sozialer Praktiken immer schon spezifische Aktivitäten sinnlicher Wahrnehmungen enthält, dann setzt diese Perspektive ganz grundsätzlich voraus, dass das Soziale weder separiert vom Mentalen noch von der Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit gedacht wird, sondern von vornherein durch den Körper und durch die mentalen Prozesse hindurch wirkt. Die Körper sind nicht nur dadurch soziale Körper, dass sie implizite Wissensformen »inkorporieren«, sondern auch dadurch, dass ihre Mobilisierung der Sinne sozial reguliert wird. Die Wahrnehmungen der Akteure sind zugleich keine bloß individuellen, gleichsam »inneren« Prozesse, sondern Bestandteile der sozialen Praxis und ihres Umgangs mit der Welt. Sie sind soziale Wahrnehmungen nicht nur im Sinne intersubjektiver Orientierung, sondern dadurch, dass dieses Wahrnehmen (Sehen, Hören etc.) erst im Rahmen einer sozialen Praktik seine jeweilige Form erhält. Soziale Praktiken werden nun von menschlichen Körpern ebenso wie von nichtmenschlichen Artefakten getragen. Dies ist für die Analyse sinnlicher Ordnungen ein zentraler Umstand. Sinnliche Wahrnehmungen richten sich im Rahmen sozialer Praktiken nämlich nicht nur auf unterschiedliche, jeweils typische (Wahrnehmungs-)Objekte, es werden innerhalb dieser Praktiken auch jeweils bestimmte Artefakte eingesetzt, die es erst ermöglichen, auf bestimmte Weise wahrzunehmen. Dies ist der Ort der Medienapparaturen des Wahrnehmens, die vom Mikroskop bis zum Smartphone, vom Kinofilm bis zu den bewusstseinsverändernden Drogen reichen. Nur wenn man das So17 | Zum Zusammenhang von Praktiken und visueller Wahrnehmung vgl. Sophia Prinz: Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld 2014.

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ziale in Form sozialer Praktiken als ein Netzwerk von Körpern und Dingen, von Menschen und Artefaktsystemen begreift,18 kann diese »Medialität« sinnlichen Wahrnehmens von vornherein deutlich werden. Die Artefakte lassen sich hier nicht auf bloße Instrumente der Vereinfachung von Wahrnehmung reduzieren. Im Rahmen einer Praktik ermöglichen sie das Wahrnehmen und den Umgang mit den Sinnen vielmehr in spezifischer Weise und schränken ihn zugleich ein. Sinnliche Wahrnehmungen sind somit keine soziologische Marginalie, sondern konstitutiv für jede soziale Praxis. Was sind nun aber ästhetische Wahrnehmungen und ästhetische Praktiken? Wenn der Begriff des Ästhetischen heuristisch für die Gesellschaftsanalyse Sinn machen soll, muss er Wahrnehmen allgemein von ästhetischem Wahrnehmen unterscheiden. Zwischen der Skylla einer extremen Verengung des Ästhetischen auf das Kunstschöne und der Charybdis einer Ausweitung zugunsten der Aisthesis jeglicher sinnlicher Wahrnehmung lassen sich ästhetische Praktiken idealtypisch als eine bestimmte Form sozialer Praktiken mit einer bestimmten Wahrnehmungsweise begreifen. Von gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozessen zu reden, macht nur Sinn, wenn deutlich ist, was die besonderen Strukturmerkmale ästhetischer Praktiken im Unterschied zu primär nichtästhetischen Praktiken sind. Das Wahrnehmen an sich kann es nicht sein: sinnlich wahrgenommen wird schließlich immer, in jeder sozialen Praxis. Dafür, welche besonderen Strukturmerkmale ästhetische Praktiken haben, enthält die Ästhetische Theorie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart eine Fülle von Hinweisen, die über die enge Referenz auf das Schöne und die Kunst hinausgehen. Um das Verständnis ästhetischer Praktiken zu schärfen, bietet es sich an, idealtypische Gegensatzpaare zu bilden und ästhetische den nichtästhetischen Praktiken gegenüberzustellen. Vor diesem Hintergrund sind für ästhetische Praktiken im Kern fünf Merkmale kennzeichnend. 1. Selbstreferenzialität sinnlicher Wahrnehmung vs. instrumentelle Wahrnehmung. Ästhetische Praktiken sind durch eine ganz bestimmte Struktur sinnlichen Wahrnehmens charakterisiert: Es handelt sich um Praktiken, deren basales Ziel das sinnliche Wahrnehmen selbst ist, Praktiken, die um das Wahrnehmen in seiner Eigendynamik und seinem Eigenwert zentriert sind. Diese ästhetische Grundstruktur widerspricht jenem instrumentalistischen Modell des Verhältnisses zwischen Handeln und Wahrnehmen, wie es der soziologische Common Sense voraussetzt und wie es zweifellos auch große Teile historischer und gegenwärtiger Gesellschaften geprägt hat. In solchen nichtästhetischen Praktiken dienen sinnliche Wahrnehmungen primär dem Zweck, nötige Informationen zu gewinnen, damit Handeln kompetent vollzogen wer18 | Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2004.

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den kann. Sinnliches Wahrnehmen wird hier zweckrational in den Dienst der »Wirkwelt« (A. Schütz) der Lebenswelt des Alltags gestellt. Die ästhetischen Praktiken jedoch sind auf das sinnliche Wahrnehmen selbst zentriert: Sie sind darauf aus, die Sinne zu mobilisieren und Wahrnehmungen hervorzulocken – um ihrer selbst willen.19 In einer paradoxen Struktur sind die ästhetischen Praktiken nicht eigentlich zweckfrei, aber der Zweck ist eben nicht das erfolgreiche oder korrekte Handeln, sondern das sinnliche Wahrnehmen sui generis. Man kann hier von einer Selbstbezüglichkeit oder Selbstreferenzialität, einem angenommenen Eigenwert ästhetischen Wahrnehmens sprechen. Ästhetisches Wahrnehmen kann als kurzer unberechenbarer Moment in jeder Praxis, zu allen Zeiten und in allen Räumen auftauchen: ob bei der Landarbeit oder im Labor, selbst in Not- und Zwangslagen können sich sinnliche Wahrnehmungen verselbständigen. Über solche ästhetischen Episoden hinaus sind jedoch jene Konstellationen gesellschaftstheoretisch eigentlich interessant, in denen die Verfertigung ästhetischer Wahrnehmungen in einer sozial regulierten Form, routinisiert oder gewohnheitsmäßig erfolgt: in ästhetischen Praktiken. Als ästhetische Praktiken können dabei sowohl jene Praktiken beschrieben werden, in denen ästhetisches Wahrnehmen stattfindet, als auch jene, die Ereignisse verfertigen, die dem ästhetischen Wahrnehmen dienen sollen. Es wird rasch deutlich, dass ästhetische Praktiken in diesem Sinne eine große Bandbreite von Praktiken umfassen, die weit über die Kunst im modernen Sinne hinausreichen. Der Besuch des Fußballstadions kann als ästhetische Praktik ebenso verstanden werden wie touristisches Reisen, das Streifen durch die Shopping Mall wie das Arbeiten an einer Werbekampagne, einem Musikstück oder einem gastronomischen Erlebnis, die sexuelle Erotik fällt in diesen Bereich so wie die quality time von Paaren und Familien, das Volksfest einer Dorfgemeinschaft oder das Treffen von Furries. Ästhetische Praktiken sind damit zu großen Teilen – erst Recht vor dem Hintergrund der Maßstäbe bürgerlicher Hochkultur – recht profane Angelegenheiten, die aber gleichwohl eine besondere Struktur teilen: Die Selbstreferenzialität des Wahrnehmens führt dazu, dass es sich um Aktivitäten handelt, in deren Zentrum nicht aktivistisches Handeln, sondern – solitäres oder kollektives – Erleben steht.20 Nicht die Weltbearbeitung, sondern die Weltverarbeitung, das psychisch-leibliche Erleben ist ihr Kern.

19 | Vgl. dazu – auf eine lange Tradition zurückgreifend – pointiert Martin Seel: »Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung«, in: ders., Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt a.M. 1996, S. 36-69. 20 | Vgl. zur Tradition des Begriffs des Erlebens Georg Simmel: »Die historische Formung« [1917/18], in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918. Bd. II, Frankfurt a.M. 2000, S. 321-361 und Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Frankfurt a.M. 1989.

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2. »Kreative« Gestaltung vs. regelorientiertes Handeln. Auch wenn ästhetische Praktiken damit im Kern Erlebenspraktiken sind, heißt dies nicht, dass Handeln im Sinne eines äußerlich wahrnehmbaren Tuns für sie lediglich eine notwendige Rahmenbedingung liefern würde. Wenn dieses Handeln im Zentrum ästhetischer Praktiken stehen soll, nimmt es aber eine Form an, die mit klassischen regel- oder zweckorientieren Handlungsbegriffen nicht zu erfassen ist: Das Handeln in ästhetischen Praktiken ist vielmehr entweder Poiesis oder Performance (oder beides zugleich). Im Falle der Poiesis geht es um Handeln, das die Form des kreativen Gestaltens annimmt, einer Verfertigung von neuartigen Artefakten oder Ereignissen.21 Kunst und Kunsthandwerk können als historische Paradigmen dieses poietischen Handelns gelten. Im kreativen Gestalten werden Objekte für ästhetische Wahrnehmungen verfertigt, sie können jedoch auch selbst für die poietischen Subjekte ästhetische Wahrnehmungen enthalten. Eine weitere Ausformung des Handelns im Rahmen ästhetischer Praktiken ist die Performance, das heißt die Aufführung vor einem Publikum, um diesem ästhetische Wahrnehmungen zu bieten.22 Das Theater ist dafür das klassische Paradigma. Hier wird der Subjektkörper – über kommunikative Funktionen hinaus – primär zu einem Gegenstand der sinnlichen Erfahrung in seiner Präsenz. 3. Affiziertheit vs. Affektneutralität. Ästhetische Praktiken sind nicht affektneutral. Während große Teile der nichtästhetischen Praktiken, in denen es um das effiziente Erreichen von Zwecken und um normative Koordination geht, die Affekte wenn nicht völlig neutralisieren, so doch minimieren, ist für ästhetische Praktiken eine ihnen entsprechende affektive Struktur kennzeichnend. Bei allen Unterschieden enthalten ästhetische Praktiken libidinöse Orientierungen.23 In diesen Praktiken sind die Subjekte in ihrem Erleben durch einen Gegenstand, ein anderes Subjekt, eine räumliche oder transzendente Umgebung »affiziert«, eine Affiziertheit, die im subjektiven Empfinden – je nach Praktik – als lustvoll, wohlgefällig, angenehm, rauschhaft, enthusiastisch etc. erlebt werden kann. Die klassische Identifizierung des Ästhetischen mit dem Schönen verweist im Grunde in einer kulturell recht eng gefassten Weise auf diese positive Affiziertheit durch ästhetische Objekte.24 Generell gilt 21 | Vgl. dazu Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1992. 22 | Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M. 2004. 23 | Dieser Aspekt wird zu Recht theoriehistorisch bei T. Eagleton: Ästhetik betont, während er bei kantianisch beeinflussten Autoren regelmäßig vernachlässigt oder verengt wird. Vgl. in der neueren Diskussion dazu auch G. Böhme: Aisthetik, S. 73ff. 24 | Der klassische Gegenbegriff zum Schönen innerhalb der Ästhetischen Theorie, das Erhabene, deutet jedoch zu Recht darauf hin, dass die libidinösen Orientierungen ästhetischer Praktiken vielfältige, auch ambivalente Formen, etwa von Angstlust, annehmen können. Zur Unterscheidung schön-erhaben klassisch Edmund Burke: Philo-

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für die Affektstruktur ästhetischer Praktiken, dass die Affekte wiederum nicht zweckrational-instrumentell eingesetzt werden wie die Warnhinweise und Handlungsmotivationen in der Wirkwelt der Lebenswelt des Alltags, sondern dass die Erregung der Sinne gemeinsam mit der Erregung bestimmter Gefühlsqualitäten hier einen Eigenwert bilden. 4. Interpretationen vs. Informationen. Ästhetische Praktiken adressieren die Sinne und Affekte, aber sie enthalten ebenso eine spezifische Haltung gegenüber den Zeichen, die in ihnen produziert werden und zirkulieren. In nichtästhetischen Praktiken haben Zeichen primär eine Informationsfunktion. Abgesehen von Krisenmomenten, begegnen ihnen die Akteure in einer Haltung des Alltagsrealismus: Die Zeichensequenzen – gesprochene oder geschriebene Sprache, Bilder, Gestik und Mimik etc. – verweisen auf Sachverhalte, sollen etwas Eindeutiges mitteilen, so dass sich Zwecke erfüllen und Handeln reibungslos koordiniert werden kann. In ästhetischen Praktiken werden Zeichensequenzen hingegen nicht als Träger von Informationen, sondern von Interpretationen behandelt: Zeichen werden als Ort der offenen und mehrdeutigen, der nicht natürlichen, sondern »künstlichen« Bedeutungsproduktion begriffen, in denen sich »eigene Welten« bilden, auch imaginierter und fiktiver Art.25 Diese Interpretationsprozesse sind wiederum affektiv-libidinös aufgeladen. Dass die Kunst als das Paradigma ästhetischer Praktiken erscheinen kann, wird auf dieser Ebene besonders deutlich: Die Fiktionalisierung erfolgt klassischerweise in der Literatur über Narrative, im Theater über die dramatische Handlung, in der Bildenden Kunst in ikonografischer Form. Aber auch hier gilt, dass solche fiktionalen, dramatischen und ikonografischen Praktiken über die Künste hinausreichen und die Narrationen, Alltagsmythen und Bildsequenzen insgesamt umfassen, die in einer Kultur existieren. Die Logik der Sinne und die Logik der Interpretationen sind dabei nicht voneinander getrennt, sondern – je nach ästhetischer Praktik – auf spezifische Weise miteinander verzahnt: Gegenstände werden niemals voraussetzungslos sinnlich wahrgenommen, sondern immer (auch) dadurch, dass sie Träger von Interpretationen sind; umgekehrt hat jedes Zeichen einen materiellen Träger (Schrift, Bild, Stimme, Körper etc.), der sich der sinnlichen Wahrnehmung darbietet. 5. Spiel vs. Ordnung. Ästhetische Praktiken zeichnet in ihrem Umgang mit selbstreferenziellen Wahrnehmungen, Affekten und Interpretationen eine spezifische Struktur aus, die in der Tradition der Ästhetischen Theorie häufig mit der Metapher des »Spiels« und des »Spielerischen« umschrieben

sophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen [1757], Hamburg 1989. 25 | Vgl. zu diesem Aspekt Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 1984; Umberto Eco: A Theory of Semiotics, Bloomington 1976, S. 262- 276.

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wird.26 Wenn sinnliche Wahrnehmungen, Affekte und Interpretationen in den Dienst zweckrationalen Handelns und normativer Koordination gestellt werden, dann ist charakteristischerweise Eindeutigkeit und Geordnetheit gefragt. Wahrnehmungen, Affekte und Interpretationen gehorchen hier meist einer Sparsamkeitsregel. Dadurch, dass in ästhetischen Praktiken dieser äußere, instrumentelle Zweck entfällt, ist eine Öffnung für die Modulierbarkeit sinnlicher Wahrnehmungen, die Intensivierbarkeit von Affekten und die Mehrdeutigkeit von Interpretationen möglich oder gar erforderlich. Experimente und Grenzüberschreitungen mit Sinnen, Affekten und Interpretationen sind nun erwünscht, insofern sie dem ästhetischen Erleben dienen. Die experimentelle und grenzüberschreitende Struktur ästhetischer Praktiken bietet den Hintergrund für eine kritisch-selbstreflexive Öffnung für andere Weisen der Weltwahrnehmung, eine Öffnung, die der ästhetischen Praxis einen politischen Charakter verleihen kann.27 Es ist diese Struktur eines Spiels, die manche Autoren dazu motiviert hat, ästhetische Praktiken in die Nähe zum »Außeralltäglichen« zu rücken. Allerdings sind ästhetische Praktiken als Praktiken selbstverständlich weder völlig regellos noch grenzenlos experimentell: Sie sind aber so reguliert, dass der experimentelle oder grenzüberschreitende Umgang mit Sinnen, Affekten und Interpretationen in ihnen ermutigt oder verlangt wird. So wie die Erkenntnis der Sinnlichkeit alles Sozialen voraussetzt, die Körperlichkeit, die Mentalität und den Artefaktcharakter des Sozialen zu begreifen, so setzt auch die Sensibilität für ästhetische Praktiken ganz grundsätzlich eine veränderte Perspektive auf das Soziale voraus: Soziale Praktiken müssen als affektive Ordnungen unterschiedlicher Intensität verstanden werden; Handeln ist nicht auf Regel- und Zweckbefolgung zu reduzieren, sondern schließt an prominenter Stelle kreative Gestaltung von Neuem sowie performatives Handeln vor Publikum ein; schließlich können soziale Praktiken eine nicht mehr nur zufällige, sondern systematische Offenheit für Experimente mit Wahrnehmungen, Interpretationen und Affekten entwickeln. Für eine sozial- und kulturwissenschaftliche Analytik ästhetischer Praktiken ist eine idealtypische Kontrastierung mit nichtästhetischen Praktiken als 26 | Der genius loci ist natürlich Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. In einer Reihe von Briefen [1795], Stuttgart 1991; vgl. später anthropologisch auch Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938/39], Reinbek 1956. 27 | Vgl. zu diesen Aspekten wegweisend Gregory Bateson: »A Theory of Play and Fantasy«, in: Psychiatric Research Reports 2 (1955), S. 39-51; Georges Bataille: »Der Begriff der Verausgabung« [1933], in: ders., Das theoretische Werk I. Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975, S. 9-31; Victor Turner: From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play, New York 1982.

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erster Schritt nützlich. Zugleich handelt es sich in der soziokulturellen Realität nicht um einen strikten Dualismus, sondern um ein Kontinuum. Es existieren auch ästhetisch-zweckrationale Mischtypen, die man ästhetisch imprägnierte Praktiken nennen kann. Erst recht ist mit solchen Mischtypen zu rechnen, wenn größere soziale Einheiten in den Blick genommen werden: Ästhetische oder ästhetisch imprägnierte Praktiken können eine Relevanz für ganze soziale Felder – ob die Ökonomie, die Politik oder die Religion – und darin für bestimmte institutionelle (Unternehmen, Familien) und räumliche Komplexe (Stadtteile) erhalten. Ihnen kann ein mehr oder minder starker Stellenwert im Rahmen der Lebensformen von Milieus, Klassen und Subkulturen zukommen. Weit davon entfernt, auf eine Mikrologik des Alltags reduzierbar zu sein, können ästhetische Praktiken damit eine Prägekraft für soziale Makroentitäten erlangen. Ästhetisierungsprozesse müssen entsprechend als großflächige gesellschaftliche Strukturtransformationen über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg begriffen werden. Auf allen diesen Ebenen sind Komplexe ästhetischer Praktiken mit ästhetischen Diskursen (neben Kunstdiskursen etwa auch Diskurse eines management by design oder der Selbstverwirklichung, aber auch mit visuellen Diskursen) verknüpft. Sie sind an ästhetisch orientierte Subjektivierungsformen (zum Beispiel das expressive Selbst, das Modell des Künstlersubjekts auch jenseits der Kunst) gekoppelt. Schließlich sind sie mit ästhetisch relevanten Artefaktsystemen und Materialitäten (von neuen Stadträumen und Naturlandschaften bis hin zu Fitnessgeräten, iPads oder Sportstadien) verbunden. Ästhetische Praktiken bilden damit auch keine machtfreie Sphäre, sondern ihre Forcierung oder Verhinderung im Rahmen einer Lebensform oder eines institutionellen Komplexes ist unweigerlich ein Gegenstand sozialer Konflikte und dynamischer Kräfteverhältnisse, von Kämpfen um gesellschaftliche Hegemonie, in denen die kulturelle Legitimität der Praktiken, Diskurse und Subjektivierungsformen auf dem Spiel steht.28

3. Ä sthe tisierungsschübe in der G ene alogie der M oderne : E in D reiphasenmodell Sobald die Soziologie ihren Blick für den Phänomenbereich ästhetischer Praktiken schärft, werden diese an verschiedensten Orten zu unterschiedlichsten Zeiten in mannigfachen Ausformungen sichtbar. Jenseits dieser allgemeinen Sensibilisierung für ästhetische Praktiken als soziokulturelles Phänomen 28 | Vgl. zu dieser Grundbegrifflichkeit einer makrosoziologischen Kulturanalyse auch meinen Aufsatz »Die ›neue Kultursoziologie‹ und das praxeologische Quadrat der Kulturanalyse« in diesem Band.

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stellt sich die Frage, wie sich die Transformation ganzer Gesellschaften unter dem Aspekt analysieren lässt, welchen Ort und welche Struktur in ihnen ästhetische Praktiken erhalten. Diese Frage betrifft nicht nur moderne, sondern auch traditional-hochkulturelle und archaisch-schriftlose Gesellschaften, sie interessiert an dieser Stelle aber fokussiert für die westlichen Gesellschaften der Moderne. Tatsächlich kann man argumentieren, dass sich die Transformation der modernen – zunächst westlichen, mittlerweile globalisierten – Gesellschaften vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts als eine Sequenz von gesellschaftlichen Ästhetisierungsformen und Ästhetisierungsschüben rekonstruieren lässt. In Ästhetisierungsprozessen findet generell eine mehr oder minder starke Entgrenzung von ästhetischen Praktiken und schließlich auch eine Entdifferenzierung des Ästhetischen jenseits des Subsystems der Kunst statt. Dabei geht es nicht nur um eine »Ausbreitung« ästhetischer Praktiken, sondern auch um die Transformation ihrer Strukturen und ihre Verzahnung mit Rationalisierungsprozessen. Auch ästhetische Diskurse – ob in der Philosophie oder den Kulturwissenschaften – lassen sich erst im Nexus dieser jeweils zeitgenössischen Ästhetisierungsformen verstehen. Ganz generell sind die Soziologie und Gesellschaftstheorie damit aufgerufen, die Moderne nicht mehr auf einen Prozess der Rationalisierung und Versachlichung zu reduzieren. Zweifellos: die moderne Gesellschaft ist durch solche Prozesse der formalen Rationalisierung, der Optimierung und Effizienzsteigerung – und in diesem Rahmen auch der kapitalistischen Ökonomisierung und der funktionalen Differenzierung – geprägt. Aber zugleich gilt es, die Ästhetisierungsprozesse zu erkennen, die für die Moderne ebenso konstitutiv sind und in deren historischer Entwicklung an Bedeutung zunehmen. Diese Ästhetisierungsschübe reagieren teilweise auf die Krisen der Rationalisierungs- und Kapitalisierungsprozesse, teilweise verzahnen sie sich auf neue Weise mit ihnen. Ohne die Ästhetisierungsprozesse wäre die moderne, zumal die spätmoderne, Gesellschaft – insoweit sie über eine bloße Zwangsapparatur hinausgeht – nicht lebensfähig: Denn erst diese Expansion ästhetischer Praktiken versorgt die Moderne mit kultureller Legitimation und affektiven Motivationsquellen. Idealtypisch lassen sich drei historisch aufeinander folgende moderne Gesellschaftsformationen unterscheiden, die zugleich spezifische, sich schrittweise in ihrer Intensität und Extension steigernde Ästhetisierungsformen bilden.

Formation I: Bürgerliche Gesellschaft/ästhetische Gegenkulturen/E xklusivästhetisierung Die historisch erste Version moderner Gesellschaft kristallisiert sich am Ende des 18. Jahrhunderts aus und entfaltet sich während des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um ein (west-)europäisches Modell: die bürgerliche Moderne.

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Was den Stellenwert des Ästhetischen angeht, ist in dieser Konstellation ein Antagonismus zwischen Rationalismus und Ästhetik kennzeichnend. Auf der einen Seite findet schrittweise eine Ausbreitung jener Prinzipien einer versachlichenden industriegesellschaftlichen Moderne statt, die Autoren wie Marx, Weber, Durkheim und Simmel benannt haben. Die Großstädte als Orte industrieller Produktion und staatlicher Steuerung wirken als räumliche Zentren dieser Versachlichung, die zugleich eine Entästhetisierung ist, die sich am deutlichsten in der Industriearbeit findet. An der Spitze dieser bürgerlichen Gesellschaft steht das Bürgertum, dessen »methodische Lebensführung« den Prototyp einer zweckmäßig und/oder moralisch rationalisierten Lebensform bildet. Zugleich wird jedoch innerhalb dieser bürgerlichen Lebensform eine Spannung zwischen dem Rationalismus und den Ansätzen einer radikalisierten Ästhetik deutlich. Diese konzentrieren sich im Feld der Kunst, das sich Ende des 18. Jahrhunderts ausdifferenziert.29 Die bürgerliche Kunst (Literatur, Musik, Bildende Kunst, Theater) als eigenständiges soziales Feld geht einerseits erstmals mit einem künstlerischen Autonomieanspruch einher, der sich von moralischen Imperativen emanzipiert und auf die Verfertigung exklusiv ästhetischer Wahrnehmungen setzt. Erst in der Kunst als spezialisierter Sphäre ist eine Eigensinnigkeit und Intensivierung ästhetischer Orientierungen auf Dauer möglich. Hier kristallisiert sich auch der moderne Künstler als eine Subjektform aus, die an radikaler Singularität orientiert ist.30 Im Rahmen einer bürgerlichen Moderne, die in anderen Feldern die Versachlichung forciert, nimmt das Feld der Kunst mit seiner strukturellen Orientierung am Regelbruch, am überraschenden Neuen und dem Eigenwert sinnlicher Affektivität damit eine Sonderrolle ein. Andererseits erhebt die moderne Kunst von Anfang an immer wieder den emanzipatorischen und idealistischen Anspruch einer Wirksamkeit jenseits ihrer selbst. Mag man diesen künstlerischen Expansionsanspruch als »ästhetisches Regime der Kunst« (Rancière) oder »ästhetische Ideologie« (Eagleton) umschreiben – die zeitgenössischen philosophischen Diskurse des Ästhetischen von Baumgarten bis Kant, von Schiller bis Nietzsche arbeiten sich an dieser Positionierung des Ästhetischen gegenüber dem Rationalen ab. Die ästhetischen Utopien können dabei die bürgerliche Kunstrezeption als Transmissionsriemen für eine moralische Vervollkommnung des Menschen deuten (das Modell Schiller, das in verwässerter Form das Ideal des homo aes29 | Vgl. dazu nur Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S. 54-89; Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 1999; Siegfried Gohr: Der Kult des Künstlers und der Kunst im 19. Jahrhundert, Köln 1975. 30 | Vgl. Verena Krieger: Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007.

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theticus im 19. Jahrhundert prägt) oder aber umgekehrt das Ästhetische als einen Antipoden gegen die nun zu harmlos erscheinende bürgerliche Kunst stark machen (das Modell Nietzsche).31 Neben dem Kunstfeld finden genuin ästhetische Praktiken im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft einen zweiten Ort: in den ästhetischen Subkulturen, die sozial aus dem Bürgertum hervorgehen und die eng mit jenen ästhetischen Diskursen vernetzt sind, für die das Ästhetische eine antibürgerliche und antirationalistische Gegenkraft darstellt. Um 1800 sind dies die Romantiker, es folgen während des 19. Jahrhunderts die Bohèmekulturen, die sich um 1900 im Ästhetizismus und den Lebensreformbewegungen verdichten. Diese bürgerlich-antibürgerlichen sozialen Nischen versuchen, Lebensformen nach ästhetischen Prinzipien umzuformen, die bürgerlich-rationalistische Hegemonie herauszufordern und ästhetische Utopien subkulturell zu realisieren.32 Gleichwohl finden sich auch innerhalb der dominanten bürgerlichen Kultur über den »Kunstgenuss« hinaus ästhetisch imprägnierte Praktiken, die den Rationalismus des Berufsalltags kompensieren sollen. Man kann hier die romantische Liebe ebenso einordnen wie das Naturerleben, frühe Formen des bürgerlichen Konsums oder den Exotismus bürgerlichen Reisens. Schließlich ragt mit der aristokratischen Kultur und der höfischen Gesellschaft ein sozialer Komplex vormoderner Gesellschaftlichkeit in die bürgerliche Gesellschaft hinein, die ihre eigene Form des Ästhetizismus kultiviert.33 Die Polarität zwischen der flächendeckenden industriegesellschaftlichen Rationalisierung und der Formierung einer ästhetischen Gegensphäre, die ebenso minoritär ist wie mit einem Expansionsanspruch auftritt, mündet so in die Form einer Exklusivästhetisierung. Radikal, aber in winzigen Nischen findet sie sich in den ästhetizistischen Subkulturen, moderat, aber immer noch klassenmäßig gebunden in der Kultur der Bürgerlichkeit. In diese wird damit zugleich der Widerspruch einer Subjektivität von »Bürgern, die Künstler sein wollen« implantiert. Die Modi der Kulturkritik sind in dieser Konstellation komplex: Die Radikalästheten (z.B. Nietzsche oder Oscar Wilde) kritisieren 31 | Vgl. zu diesem Diskurs umfassend und pointiert T. Eagleton: Ästhetik. 32 | Vgl. dazu ausführlicher Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 204-242; 289-335. Zur Romantik Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität, Frankfurt a.M. 1979; zur Bohème vgl. Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 2000. 33 | Vgl. zur bürgerlichen Liebe Peter Gay: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich, München 1997 und zum Reisen nur Paul Fussell: »Bourgeois Travel. Techniques and Artifacts«, in: J. G. Links (Hg.), Bon Voyage. Designs for Travel, New York 1986, S. 55-94.

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die Borniertheit des Bürgertums, die moderaten bürgerlichen Ästheten (z.B. Kierkegaard) die Amoral des Ästhetizismus, beide die »Entsinnlichung« der Industriegesellschaft (z.B. Matthew Arnold). Dabei kann das vorindustrielle Erbe, das am Rande der Industriegesellschaften noch besteht – die ländlichen Volkskulturen oder die Praktiken des Religiösen –, als Quelle einer Reaktivierung ästhetischer Praktiken erscheinen (z.B. in der Arts and Crafts-Bewegung).

Formation II: Massengesellschaft/Medien und Konsum/ Inklusivästhetisierung Seit 1900 setzt in der westlichen Moderne ein zweiter, massiver Ästhetisierungsschub ein. In dessen Verlauf findet eine Umstellung von der Exklusivästhetisierung der Konstellation bürgerliche Kunst/anti-bürgerliche Subkulturen zu einer Inklusivästhetisierung statt, die bis in die 1970er Jahre reicht. Hier wird eine soziale Inklusion qua Ästhetisierung betrieben, die in Form einer Massenkultur über die bisherige bürgerliche Hegemonie hinaus die Mittelschichten und die aufstrebende Arbeiterschaft einbezieht. Die Gesellschaftsformation, die diesen Ästhetisierungsschub forciert, ist nicht mehr die bürgerliche Moderne, sondern die nach-bürgerliche »organisierte Moderne«. Ihr Motor findet sich nicht mehr im Bereich der Kunst, sondern in den Feldern des Konsums und der audiovisuellen Medien. Das Gravitationszentrum ist nicht mehr Europa, sondern sind die Vereinigten Staaten. Für diese Ästhetisierungsform sind zwei technisch-ökonomische Rahmenbedingungen entscheidend: die Umstellung des Kapitalismus in Richtung dessen, was man mit Antonio Gramsci »Fordismus« nennen kann und die Medienrevolution, in deren Zuge die Buch- und Schriftkultur durch eine Kultur der technisch produzierten Bilder und Töne, vor allem durch Radio, Film, Fernsehen und Schallplatte, überlagert wird.34 Das fordistische System ist auf Massenproduktion und -konsumtion ausgerichtet. Sein kulturelles Imaginäres wird vom Lebensstil einer affluent society beherrscht. Der Fordismus ist dabei in sich widersprüchlich strukturiert: Einerseits steigert er den Rationalisierungsprozess der bürgerlichen Moderne in Richtung einer bürokratisch organisierten Moderne, indem er auf Steuerung und Planung setzt, etwa im Rahmen der ökonomischen Großkorporation mit strikter Hierarchie und Arbeitsteilung. Zugleich jedoch forciert er eine tiefgreifende Ästhetisierung der Alltagswelt: Die Mittelschichten ziehen Sinn und Befriedigung in erheblichem Maße aus dem Konsum, der sich nicht mehr primär auf Objekte in ihrem Gebrauchswert, sondern auf den symbolisch-ästhetischen Wert der Dinge richtet. Die Metropolen als opulente Zentren der Darbietung von Waren und die suburbia als Ort der Freizeit in der Familie sind 34 | Vgl. ausführlicher A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 336-440.

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zwei räumliche Kristallisationszentren der fordistischen Konsumgesellschaft. Diese findet mit den neuen audiovisuellen Medien eine zweite Stütze: Die Bilder- und Tonsequenzen, mit denen das Radio, das Kino, die Schallplatte, später das Fernsehen in der Öffentlichkeit und im Privaten die Individuen »beschallen«, liefern keine bloß kognitiv zu verarbeitenden Informationen, sondern bieten sich in erster Linie der ästhetischen Rezeption an. Zugleich präsentieren die Medien massenhaft Subjekte als attraktive Oberflächen von Körpern und Gesichtern, die in erster Linie zum Gegenstand eines sinnlich-libidinösen Interesses werden. Der Filmstar ist seit den 1920er Jahren das schlagendste Beispiel für diese medial betriebene Ästhetisierung der Subjekte.35 Die konsumtorische und mediale Ästhetisierung nach dem Modell des Fordismus liefert in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts allerdings nur eine, nämlich die westliche, im Kern US-amerikanische Version einer Ästhetisierung im Rahmen der nach-bürgerlichen »Massengesellschaft«. Zwei konkurrierende Ästhetisierungsformen finden sich im faschistischen und im sozialistischen Kontext: Während der Faschismus auf eine Ästhetisierung des Politischen setzt, etwa in Form von politischen Massenveranstaltungen und Führeridolen, finden sich im sozialistischen Kontext (in Ost und West) Versuche, im Design der Alltagsobjekte und -räume die Grenze zwischen Gebrauchswert und ästhetischem Wert zugunsten einer kollektiven Gebrauchsästhetik zu durchbrechen, am sichtbarsten in der Architektur wie etwa in der Bewegung des »Bauhauses«.36 Es ist nur konsequent, dass die Veralltäglichung des Ästhetischen im Rahmen des Fordismus (oder auch einer sozialistischen Gebrauchsästhetik) mit einer Veralltäglichung der Gegenstände der Ästhetikdiskurse korrespondiert: Um 1900 bildet sich ein komplexer sinnespsychologischer Diskurs einer »Ästhetik von unten« aus, der das Ästhetische auf die Ebene der Wahrnehmungen ganz generell bezieht, und den exklusiven Bezug auf die Kunst aufgibt. Zugleich werden jedoch auch die bürgerlichen Ästhetikdiskurse fortgesetzt und verschieben ihren Gegenstand der Kritik: An die Stelle der alten Opposition zwischen Ästhetik und gesellschaftlichem Rationalismus tritt nun die Kritik an der populären Passivästhetisierung der »Kulturindustrie«. Dem entgegen stehen post-bürgerliche Ansätze, die in der neuen urbanen Ästhetik

35 | Vgl. zum Konsum in dieser Phase T.J. Jackson Lears: Fables of Abundance. A Cultural History of Advertising in America, New York 1994; zu den Massenmedien John Ellis: Visible Fictions. Cinema, Television, Video, London/New York 1992. 36 | Vgl. zu ersterem Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München 1991 und zu letzterem Magdalena Droste: Bauhaus 1919-1933. Reform und Avantgarde, Köln 2006.

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der »Masse« ein kritisches Potential ausmachen.37 Entsprechend positioniert sich im Rahmen der organisierten Moderne auch das Kunstfeld neu, vor allem mit den Avantgarde-Bewegungen. Von dieser Seite versucht man entweder die Grenze zwischen der Kunst und der Welt des zweckrationalen Gebrauchs zugunsten einer sozialen Gebrauchsästhetik zu unterminieren (wie bei den sowjetischen Konstruktivisten) oder sie in den Dienst der – sozialistischen oder faschistischen – Politik zu stellen. Oder aber man insistiert – wie im westlichen Modernismus, dem high modernism – mit besonderem Nachdruck auf der Autonomie der Kunstwerke, so dass sich die modernistische Kunst als der eigentlichen Antipoden gegen die kritisierte Ästhetisierung der Massenkultur positionieren kann. Auch die ursprünglich anti-bürgerlichen ästhetischen Subkulturen setzen sich in der organisierten Moderne fort und finden in den 1960er Jahren in der Counter Culture einen Kristallisationspunkt. Auch hier verschiebt sich der Gegner der Kritik: an die Stelle des bürgerlichen Philisters tritt der Konformismus des Massenkonsums in der suburbia.38

Formation III: Spätmoderne/kulturelle Produktion/ ästhetische Aktivierung Die gesellschaftliche Formation der organisierten Moderne wird seit den 1970er und 80er Jahren durch eine neue, post-, spät- oder hypermoderne Konstellation ersetzt, in deren Zentrum ein dritter Ästhetisierungsschub steht, der nun fast alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst. Im Unterschied zur bürgerlich-antibürgerlichen Exklusivästhetisierung und zur Inklusiv- und Passivästhetisierung des Fordismus handelt es sich nun um eine Aktiv- und Produktivästhetisierung, um die Vergesellschaftungsform einer ästhetischen Aktivierung.

37 | Vgl. zu diesen drei Tendenzen jeweils Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Aesthetik [1876], Hildesheim, New York 1978 sowie Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1988 und Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1977. Die Veralltäglichung des Ästhetikbegriffs jenseits der Kunst findet sich etwas später auch im amerikanischen Pragmatismus, vgl. dazu John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt a.M. 1980. 38 | Vgl. zu diesen vier Tendenzen jeweils Verena Krieger: Kunst als Neuschöpfung der Wirklichkeit. Die Anti-Ästhetik der russischen Moderne, Köln 2006; Bertolt Brecht: »Das epische Theater« [1936], in: ders., Schriften zum Theater Bd. 3, Frankfurt a.M. 1963, S. 54-59; Clement Greenberg: »Avantgarde und Kitsch« [1939], in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Amsterdam/Dresden 1997, S. 29-55; Pierre Gallissaires u.a. (Hg.): Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, Hamburg 1995.

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Sie geht von Europa und Nordamerika gleichermaßen aus, aber umfasst mehr und mehr eine globale Zirkulation von Zeichen, Subjekten und Artefakten.39 Die beiden wichtigsten strukturellen Bedingungen für diesen erneuten Ästhetisierungsschub in der Spätmoderne lassen sich wiederum auf der Ebene der Ökonomie und der Medientechnologien verorten: der Postfordismus und die digitale Kultur. Während die Ästhetisierung des Fordismus sich auf den Konsum beschränkte und die Sphäre der Produktion, der Arbeit und des Berufs aussparte,40 findet im Zentrum des Postfordismus eine Kulturalisierung und Ästhetisierung der Arbeitsformen, der Organisationsstrukturen und des Arbeitsethos statt. Die postfordistische Produktion ist im Kern kulturelle Produktion, eine Verfertigung von Zeichen, von sinnlichen Wahrnehmungen und von Emotionen für den Nutzer, und die sogenannte Kreativökonomie bildet das Zentrum eines solchen affektiven und ästhetischen Kapitalismus. Dabei ist die kulturelle Produktion nicht auf die creative industries beschränkt, sondern umfasst mehr und mehr auch traditionelle Waren und Dienstleistungen, die ebenfalls zum Gegenstand ästhetischer Wahrnehmungen werden (zum Beispiel im Tourismus), so dass sich die Ökonomie im Kern in eine komplexe kulturelle Ökonomie, einen kulturellen oder ästhetischen Kapitalismus verwandelt. Kennzeichnend für dessen »immaterielle« Arbeitsformen ist nicht nur, dass es um ein Design ästhetischer Objekte und Ereignisse geht, sondern auch, dass es sich um die Verfertigung immer wieder neuer ästhetischer Innovationen, mithin um »kreative« Arbeit handelt, nicht selten in der organisatorischen Form von temporären Projekten. Es entspricht der Logik der kulturellen »Überproduktion« von solchen neuartigen Ereignissen vor einem Publikum mit knappen Aufmerksamkeitsressourcen, dass sie die Expansion von (Aufmerksamkeits-)Märkten vorantreibt. Die ökonomischen Märkte sind damit immer weniger Märkte für standardisiert-industrielle oder kognitive Güter als für kulturelle Waren, Dienste und Ereignisse, denen das Merkmal der »Singularität« zukommt.41 Den postfordistischen Arbeitsformen entspricht eine Transformation des Konsums. Der verhältnismäßig standardisierte Konsum der organisierten Moderne wird seit den 1980er Jahren durch spätmoderne Konsumformen überlagert: Der »aktive« Konsument zielt darauf ab, sich aus Versatzstücken von Dingen und Erlebnissen seinen individuellen Lebensstil zusammenzustellen 39 | Vgl. zum Folgenden ausführlicher A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität; ders.: Das hybride Subjekt, S. 500-630. 40 | Diese Interpretation findet sich bei Daniel Bell: The Cultural Contradictions of Capitalism, New York 1996. 41 | Vgl. dazu nur Scott Lash/John Urry: Economies of Signs and Space, Cambridge 1994; Nigel Thrift: Knowing Capitalism, London 2005; Lucien Karpik: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a.M./New York 2011.

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und überschreitet dabei nach Art eines kulturellen »Allesfressers« (omnivore) auch die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur. Zugleich wird die Dingwelt zu einem Inszenierungsort diverser, globaler und historischer Einflüsse, die sich pastiche-förmig überlagern. Die Entwicklung der Stadtplanung in die Richtung von creative cities trägt zu dieser Ästhetisierung der Materialität bei: Urbane Räume und ihre Architektur interessieren Nutzer und Planer zunehmend als ästhetisch erfahrbare Räume.42 Neben der Kulturalisierung der Ökonomie ist die digitale Medienrevolution eine zweite, entscheidende Bedingung für den Ästhetisierungsschub der Spätmoderne, wobei sich beide miteinander verknüpfen: Die Computer- und Internetrevolution ermöglicht eine von einzelnen analogen Datenträgern entbundene Zirkulation von sprachlichen Zeichen und Gegenständen sinnlicher Wahrnehmung (Bilder, Töne). Im Kontext der digitalen Kultur – erst Recht mit Hilfe transportabler Endgeräte wie dem Smartphone – ist das spätmoderne Subjekt beständig von globalen Zeichen- und Bilderströmen umgeben, die für den zweckrationalen, aber vor allem auch den ästhetischen Gebrauch zur Hand sind. Der Computer- und Internet-User ist dabei ein aktiviertes Subjekt: es kreiert selbst Texte und Bilder, etwa in den social media, und wird so zu einem kulturell-ästhetischen Performer online. Die Möglichkeiten des Computers transformieren zugleich die kreativ-gestaltende Arbeit, auch die Kooperation zwischen Produzenten und Konsumenten. Computerspiele und digitale Fotografie tun ein Übriges, um neue Formen eines ästhetischen Spielsinns auszubilden.43 Postfordismus und digitale Medialität sind freilich noch mit einem dritten, im engeren Sinne kulturellen Impuls verflochten, ohne den die Verbreitung der Aktivästhetisierung in der Spätmoderne nicht denkbar wäre: dem Wertewandel in den westlichen Mittelschichten seit den 1970er Jahren. Das spätmoderne ästhetisch-expressive Subjekt speist sich aus der Generalisierung (und Entradikalisierung) von Subjektidealen, die sich um 1970 in der Counter Culture verdichten, die zuvor bis in die Tradition der Romantik zurückreichten und die später massenmedial und protopsychologisch zirkulieren. Es handelt sich um die Kultur eines Selbst, das im Kern nach Selbstverwirklichung und -entfaltung, nach »Authentizität« in seinem Verhältnis zur Welt trachtet und

42 | Vgl. dazu nur Mike Featherstone: Consumer Culture and Postmodernism, London 1991; Thomas C. Frank: The Conquest of Cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism, Chicago 1997. 43 | Vgl. Jose Van Dijck: The Culture of Connectivity. A Critical History of Social Media, Oxford 2013; Howard Gardner/Katie Davis: The App Generation. How Today’s Youth Navigate Identity, Intimacy, and Imagination in a Digital World, New Haven/London 2014. Vgl. auch das Schwerpunktheft zum Thema »Medienästhetik« der Zeitschrift für Medienwissenschaft, 2013/1.

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das die einzelnen Segmente seines Alltags – persönliche Beziehungen, Freizeit und Konsum, Beruf – in den Dienst dieses Authentizitätsideals stellt.44 Insgesamt ergibt sich damit eine bemerkenswerte Verflüssigung jenes Antagonismus zwischen Rationalismus und Ästhetik, wie er für die bürgerliche Moderne und in anderer Weise auch für die organisierte Moderne prägend war. Auf der einen Seite lässt sich eine tiefgreifende Ästhetisierung des Sozialen in Form eines Kreativitätsdispositivs beobachten, in deren Zentrum sich ein selbstperpetuierendes Regime des ästhetisch Neuen befindet. Der gesellschaftlichen Aktivästhetisierung entspricht die Kultur eines expressiven und performativen Selbst, für das der kreative Ausdruck und das ästhetische Erleben den motivationalen Kern einer »authentischen« Lebensführung bilden. Die Kritik am bürokratischen Rationalismus und jene an der Passivität der Konsumentenkultur aus der Zeit der organisierten Moderne sind in die institutionellen Formen der spätmodernen Ökonomie und Medien damit gewissermaßen bereits eingegangen. Auf der anderen Seite heißt dies jedoch nicht, dass die Ästhetisierung die Rationalisierung ersetzt habe. Vielmehr sind nun Ästhetisierung und Ökonomisierung noch enger und subtiler verzahnt, als dies für den Fordismus galt: Unternehmerische und kreativ-ästhetische Tätigkeiten, die Form des Marktes und die der ästhetischen Produktion vor einem Publikum stützen sich gegenseitig. Die Ästhetisierung kann sich nur dadurch verbreiten, dass sie sich der Mechanismen der Rationalisierung bedient (ob im Bereich der Produktion, der Zirkulation oder der Konsumtion). Umgekehrt ist die formale Rationalisierung, insbesondere die Vermarktlichung, unter spätmodernen Bedingungen vollends auf Ästhetisierungsprozesse angewiesen, um die Subjekte für eine Teilnahme zu motivieren und Legitimität zu mobilisieren. Darüber hinaus produziert die Verzahnung von Ästhetisierungs- und Ökonomisierungsformen in der Spätmoderne systematisch neue Formen sozialer Ungleichheit, so zwischen den professionellen »Symbolarbeitern« und einer globalen service class sowie zwischen den Stars und den Prekären innerhalb der Trägergruppe des kulturellen Kapitalismus.45 In diesem Kontext verändern sich sowohl der Stellenwert der Kunst als auch die ästhetischen Diskurse: Die institutionalisierte Kunst ist seit den 1980er Jahren in ihrem Kern zu einer erfolgreichen globalen creative industry mutiert, die gleichsam die institutionelle Blaupause für den ästhetischen Kapitalismus liefert. Zugleich bemüht sie sich in veränderten Formaten eine neue 44 | Vgl. dazu A. Reckwitz: Das hybride Subjekt, S. 452-499, 588-597; Paul Leinberger/Bruce Tucker: The New Individualists. The Generation after the Organization Man, New York 1991. 45 | Vgl. zu diesen neuen Asymmetrien Allen J. Scott: A World in Emergence. Cities and Regions in the 21st Century, London 2012, S. 79-121 sowie Pierre-Michel Menger: The Economics of Creativity, Harvard 2014.

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Distanz gegenüber dem Ästhetisierungsschub zu gewinnen, etwa durch Repolitisierungen ihrer künstlerischen Interventionen.46 Der Diskurs des Ästhetischen positioniert sich im gleichen Zeitraum zunächst in Distanz zur klassischen Ästhetik des Kunstschönen als eine kulturwissenschaftliche Analytik sinnlicher Wahrnehmungsformen. Zugleich finden sich aktuelle Versuche, das normativ-kritische Potential der Ästhetischen Theorie zu reaktivieren: Hier erprobt man eine Opposition zur populären Ästhetisierung und diskutiert die ethische Relevanz des Ästhetischen.47

4. Ä sthe tische G esellschaf tskritik Was bedeutet die Analytik gesellschaftlicher Ästhetisierungsprozesse für die Kritik? Inwiefern können und müssen die Sozialwissenschaften ihre Kritikmaßstäbe schärfen, indem sie sich auf ästhetische Praktiken beziehen? Luc Boltanski und Ève Chiapello stellen in erhellender Weise die Sozial- und die Künstlerkritik als zwei kritische Traditionen gegenüber, die in der Moderne seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts konkurrierende Bewertungskriterien und utopische Horizonte stark gemacht haben. Die erste Tradition der Kritik weist auf Pathologien des Sozialen hin, die sich als Ergebnis von sozialen Ungleichheiten und sozialer Desintegration herausstellen. Die zweite Tradition ist letztlich weniger eine Sozial- als eine Kulturkritik moderner »Entfremdung«. Die positiven Maßstäbe dieser Entfremdungskritik wurzeln jedoch im Wesentlichen in ästhetischen Diskursen und Praktiken: Authentizität und Kreativität, zweckfreies Genießen, ein spielerisches Verhältnis zu Dingen und Menschen sind ihre Kriterien.48 Wie lassen sich die Maßstäbe einer solchen ästhetischen Gesellschaftskritik präzisieren und systematisieren? Die jüngste Renaissance der Diskussion von Kriterien der Gesellschaftskritik in den Sozialwissenschaften sollte sich über die Sozialkritik im engeren Sinne hinaus auch auf die ästhetische Gesellschaftskritik auswirken.49 Obwohl es in der Soziologie durchaus eine solche 46 | Vgl. Pascal Gielen: The Murmuring of the Artistic Multitude. Global Art, Memory and Post-Fordism, Amsterdam 2010. 47 | Vgl. etwa Juliane Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin 2012; Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2011. 48 | Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. 49 | Zur Renaissance der Kritik vgl. Luc Boltanski: Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008, Berlin 2010; Klaus Dörre/Stephan Lessenich/Hartmut Rosa: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2009.

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Tradition von Entfremdungskritik im Namen ästhetischer Kriterien gibt – vor allem in der frühen Frankfurter Schule und im Umkreis des Collège de Sociologie –, ist diese seit den 1970er Jahren zugunsten der Sozialkritik im engeren Sinne, vor allem in Form von Gerechtigkeits-, Kommunikations- und Anerkennungstheorien, in den Hintergrund getreten. Die Kulturkritik im Sinne der ästhetischen Gesellschaftskritik harrt in den Sozialwissenschaften einer notwendigen Reaktivierung. Nun kann der Gegenstand einer Entfremdungskritik nicht fix sein. Mit den gesellschaftlichen Transformationen der Spätmoderne verändert sich die Zielscheibe der Kritik selbst – die Formen der Rationalisierung modifizieren sich ebenso wie die Formen der Ästhetisierung. Zugleich finden sich in der Tradition ästhetischer Gesellschaftskritik ganz unterschiedliche Begründungsformen, sei es der Rückgriff auf eine vorgebliche menschliche Natur, die Vernunft, das Lustprinzip oder die inhärente Selbstsubversion kultureller Formen. Lässt man diese Differenzen auf der Begründungsebene beiseite, sind zwei Ebenen einer ästhetischen Gesellschaftskritik zu unterscheiden: einerseits eine Kritik an der Rationalisierung der Moderne vor dem Hintergrund mangelhafter Möglichkeiten für ein ästhetisches Weltverhältnis, andererseits eine Kritik an Formen der Ästhetisierung, ausgehend von einem normativen Modell ästhetischer Praxis.50 Die ästhetische Gesellschaftskritik richtet sich zunächst gegen Merkmale und Konsequenzen der formalen Rationalisierung der Moderne. Letztere schließt die Kapitalisierung und die funktionale Differenzierung ein. Anders als aus Sicht der Sozialkritik ist das zentrale Problem der modernen Gesellschaft aus der Perspektive der Kulturkritik im Kern nicht die Ungerechtigkeit, der Mangel an sozialer Anerkennung oder die Desintegration. Das Problem reicht tiefer: Es betrifft eine Struktur moderner Lebensformen, die Merkmale der Entfremdung enthält.51 Und entfremdet sind diese, da sie ein ästhetisches Weltverhältnis behindern, in dem das Subjekt Autonomie und Selbstverwirklichung erlangen kann. Inwiefern verspricht nun jedoch die ästhetische Praxis 50 | Etwas Anderes ist die Kritik an der Ästhetisierung im Namen einer nichtästhetischen Rationalität, die ich hier ausspare. Sie hat eine lange Tradition seit Plato und findet sich philosophisch etwa bei Hegel oder Kierkegaard. Vgl. dazu Christoph Menke: »Ästhetisierung. Zur Einleitung«, in: Ilka Brombach et al. (Hg.), Ästhetisierung. Der Streit um das Ästhetische in Politik, Religion und Erkenntnis, Zürich 2010, S. 11-22. Der Tendenz nach sind in der Soziologie in dieser anti-ästhetischen Richtung Daniel Bell und Christopher Lasch einzuordnen. 51 | Der Begriff der Entfremdung ist nur mit Vorsicht zu verwenden, vgl. dazu auch Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a.M. 2005.

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einen Ausweg aus dem Entfremdungsproblem der Moderne? Um die Struktur ästhetischer Rationalisierungskritik zu begreifen, ist es nötig, hier zwei weitere Ebenen zu unterscheiden: Auf der ersten Ebene enthält die ästhetische Praxis dadurch ein normatives Modell, dass in ihr eine Emanzipation vom zweckrationalen Handeln stattfinden soll; auf der zweiten Ebene ist sie dadurch vorbildlich, dass sie das Potenzial enthält, die Kontingenz herrschender sozial-kultureller Formen zu demonstrieren, diese zu subvertieren und ihre Grenzen zu überschreiten. A) Ästhetische Praxis als Emanzipation vom zweckrationalen Handeln Auf der ersten Ebene einer ästhetischen Gesellschaftskritik besteht das zentrale Problem eines verabsolutierten formalen Rationalismus darin, dass er jedes Handeln und jede Wahrnehmung in das Korsett seiner Zweck-MittelRationalität zwingt: Handeln und Wahrnehmung sind bloße Mittel für einen anderen, späteren Zweck. Nie haben sie für sich selbst Wert und Befriedigung, immer nur unter Verweis auf etwas Anderes, das sie vorbereiten sollen. Das moderne Leben wird so im Modus des permanenten Aufschubs gelebt. Das ästhetische Weltverhältnis hingegen durchbricht diesen Kreislauf: Hier geht es um Wahrnehmen, Empfinden und (gestalterisch-performatives) Handeln um seiner selbst willen. Diese Struktur einer Emanzipation von der Zweck-Mittel-Rationalität enthalten ästhetische Praktiken nun ganz generell, unabhängig von ihrem Raffinement. Sie lässt sich keineswegs nur auf bürgerliche-hochkulturelle Praktiken beziehen, sondern schließt beispielsweise auch populäre ästhetische Vergnügungen wie Sportveranstaltungen und Festivals, erotisch-sexuelle Praktiken, das Verreisen oder handwerkliche Praktiken ein.52 Kritisch sind diese ästhetischen Praktiken nicht dadurch, dass sie an gesellschaftlichen Verhältnissen explizit Kritik üben, sondern dadurch, dass die Praxis selbst eine alternative Struktur gegenüber dem formalen Rationalismus besitzt. Auf das Subjekt bezogen, enthalten ästhetisch imprägnierte Lebensformen die Möglichkeit einer Autonomie, emphatisch gesprochen eine Struktur der »Freiheit«, und zwar einer Freiheit von zweckmittelrationalem Handeln und eine Freiheit für die sinnlich-affektiv-kreative Selbstbezüglichkeit der ästhetischen Praxis. Es wird damit auch deutlich, warum aus der Sicht der ästhetischen Gesellschaftskritik die Sozialkritik im engeren Sinne zwar notwendig ist, aber zu kurz greift. Eine Gesellschaft könnte alle normativen Maßstäbe der Sozialkri52 | Dieser kritische Gehalt auch der populären Ästhetik wird von Seiten pragmatistischer, lebensphilosophischer und phänomenologischer Autoren zu Recht gesehen, vgl. etwa Richard Shusterman: Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, Frankfurt a.M. 1994; Michel Maffesoli: Au creux des apparences. Pour une éthique de l’esthétique, Paris 1990; Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a.M. 1989. In der Frankfurter Schule tendiert Herbert Marcuse zu einer solchen Haltung.

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tik erfüllen und trotzdem grundsätzlich defizitär bleiben. Die Erfüllung sozialmoralischer Kriterien wie Gleichheit und Integration, aber auch Bürgerrechte oder soziale Anerkennung stellen aus der Sicht der ästhetischen Gesellschaftskritik weder mehr noch weniger als notwendige Rahmenbedingungen dar, deren Sinn darin besteht, ästhetisch-selbstzweckhafte Praktiken des Arbeitens, des Konsums, der Partnerschaft, des Umgangs mit der Natur etc. zu ermöglichen. B) Ästhetische Praxis als Subversion herrschender sozial-kultureller Formen Die zweite Ebene der ästhetischen Gesellschaftskritik betrifft nicht sämtliche ästhetischen Praktiken, sondern nur eine spezielle, herausgehobene Untermenge. Das, was die ästhetische Praxis leistet und was in einer formal durchrationalisierten Gesellschaft keinen Raum hat, ist auf dieser Ebene über die Freiheit von der Zweckrationalität hinaus, dass sie die Kontingenz herrschender sozial-kultureller Formen bewusst macht. Indem ästhetische Praktiken den Charakter eines Spiels haben und Raum für Mehrdeutigkeiten und Experimente mit Handlungen, Wahrnehmungen und Affekten bieten, können sie die scheinbare Alternativlosigkeit gesellschaftlicher Ordnungen demontieren. Diese zweite Form der ästhetischen Gesellschaftskritik ist stärker als die erste am Modell der modernen Kunst, insbesondere seit den Avantgarden, orientiert: Ästhetische Praxis erscheint hier als kritisch, indem sie herrschende Wahrnehmungsweisen und Wissensordnungen in Frage stellt.53 Eine solche Kritikform ästhetischer Praxis unterscheidet sich von der eines intellektuellen Diskurses, mit dem sie freilich verflochten sein kann: Letzterer arbeitet mit »sachlichen« Argumenten, die ästhetische Praxis hingegen mit einer Modulierung der Sinne, Interpretationen und Affekte, so dass eine tiefgreifende Verstörung der Subjekte in Form grenzüberschreitender »ästhetischer Erfahrungen« im starken Sinne das Ergebnis sein kann.54 Kritische ästhetische Praktiken dieser Art müssen nicht auf das Kunstfeld beschränkt sein, man kann sie beispielsweise auch im politischen Feld (etwa bei sozial-kulturellen Bewegungen, die mit ästhetischen Praktiken experimentieren), im wissenschaftlichen Feld (etwa mittels blickerweiternder Darstellungsformen oder Semantiken) oder im religiösen Feld (etwa im Falle neuer spiritueller Selbsttechniken) finden.55 Während die erste Ebene ästhetischer Kritik einer nicht-instrumentellen Praxis den Weg bahnt, bewirkt die zweite Ebene eine Form von Herrschafts53 | Vgl. in der neueren Diskussion hier J. Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. Der Hintergrund ist eine Kritische Ästhetik, wie sie sich in Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970 findet. 54 | Vgl. Joachim Küpper/Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2003. 55 | Vgl. dazu die Beiträge in I. Brombach et al. (Hg.): Ästhetisierung.

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kritik. Auch die zweite Kritikebene verweist damit auf eine Struktur der Autonomie oder – emphatisch gesprochen – der Freiheit des Ästhetischen, aber nun auf eine Freiheit anderer Art: Nicht die Freiheit von der instrumentellen Rationalität ist hier gemeint, sondern die Emanzipation von herrschenden sozial-kulturellen Formen, deren Nicht-Notwendigkeit demonstriert wird. Das normative Modell ästhetischer Praxis ist auf dieser zweiten Ebene ästhetischer Gesellschaftskritik enger und voraussetzungsreicher als auf der ersten: Mit dem Merkmal der Kontingenzöffnung richtet es sich auf eine potenzielle Eigenschaft des ästhetischen Weltverhältnisses, die faktisch jedoch nicht in allen ästhetischen Praktiken realisiert ist. Das weite Feld populären oder routinisiertselbstgenügsamen Vergnügens, die auf der ersten Ebene Exemplare einer gelungenen Alltagsästhetik darstellen können, insofern sie die Zweckrationalität durchbrechen, kann auf der zweiten Ebene nicht in jedem Fall als eine entfaltete ästhetische Praxis gelten, insofern es sozial-kulturelle Formen lediglich reproduziert, kompensiert oder ihnen gegenüber schlichtweg indifferent bleibt. Das Verhältnis zwischen den beiden Ebenen ästhetischer Gesellschaftskritik ist damit alles andere als konfliktfrei. Aus der Sicht des zweiten Modus droht der erste in populistisches oder unpolitisches Fahrwasser zu geraten. Aus der Sicht des ersten Modus kann der zweite hingegen intellektualistisch und elitär werden. Aus einer übergreifenden Perspektive gibt es jedoch keinen Grund, beide Kritikmodi gegeneinander auszuspielen. Vielmehr lassen sie sich in einem umfassenden Modell ästhetischer Gesellschaftskritik als zwei Ebenen miteinander kombinieren, indem man einen Routinemodus und einen Subversionsmodus ästhetischer Praxis unterscheidet. Im Routinemodus, das heißt in Form von sozialen Wiederholungen, zeichnen sich alle ästhetischen Praktiken durch sinnlich-affektive Eigenwerthaftigkeit aus. Der Routinemodus kann nun jedoch in den Subversionsmodus umschlagen, in dem herrschende kulturelle Ordnungen einer Kritik unterzogen werden. Die ästhetische Gesellschaftskritik rekonstruiert, in welchem Umfang und in welcher Intensität eine Gesellschaft ästhetische Praktikenkomplexe sowohl im Routine- als auch im Subversionsmodus ermöglicht oder behindert. Allerdings bedeutet ästhetische Gesellschaftskritik nicht nur Kritik im Namen ästhetischer Praktiken, sondern auch eine Kritik an den Formen der Ästhetisierung selbst. Damit verschiebt sich die Problemlage. Das Problem der Ästhetisierungskritik besteht nun nicht darin, dass es »zu wenige« oder nur marginale ästhetische Praktiken gäbe, sondern dass die jeweilige Form der Ästhetisierung problematisch erscheint. In dieser Hinsicht lassen sich mehrere mögliche Angriffspunkte von Ästhetisierungskritiken unterscheiden: 1. Der Mangel an ästhetischer Subversion. Die erste Version einer Ästhetisierungskritik ergibt sich bereits aus der genannten Abstufung der zwei Ebenen ästhetischer Praxis. In einer Gesellschaft können auf breiter Front Ästhetisie-

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rungsprozesse stattfinden, die Formate selbstreferenzieller sinnlich-affektiver und kreativer Aktivität entwickeln – dies betrifft die Ebene 1 –, in denen jedoch das Potential ästhetischer Demonstration von Kontingenz, – auf der Ebene 2 angesiedelt – kaum realisiert ist. Die Kritik an einer bloß auf Unterhaltung oder Zerstreuung ausgerichteten Ästhetisierung oder an einem unpolitischen Ästhetizismus geht in diese Richtung. Die Ästhetisierung scheint hier lediglich zur psychologischen Entlastung von einer gesellschaftlichen Praxis zu dienen, die von einer politisch wirksamen ästhetischen Kritik unberührt bleibt: Das ästhetische »Reich der Freiheit« bildet hier ein Paralleluniversum zu einem durchrationalisierten »Reich der Notwendigkeit«, das sich ungestört perpetuiert. 2. Die Ungleichheit ästhetischer Chancen. Die zweite Version einer Ästhetisierungskritik nimmt ein klassisches Argument der Sozialkritik auf, bezieht es jedoch auf die gesellschaftliche Ästhetik: Der Zugang zu ästhetischen Praktiken, die Chance, in ihren Genuss zu kommen, kann zwischen den Lebensformen einer Gesellschaft höchst ungleich verteilt sein. Dies betrifft sowohl die Chance zu eher rezeptiven ästhetischen Praktiken (zum Beispiel Konsum- und Freizeitchancen) als auch zu eher produktiven ästhetischen Praktiken (etwa zur kreativen Arbeit).56 Insbesondere die Differenzen zwischen sozialen Klassen mit ihren ungleichen Volumina und Strukturen von ökonomischem und kulturellem Kapital, aber auch von sozialem und zeitlichem Kapital können für diese Ungleichheit verantwortlich sein. 3. Kulturelle Hegemonien ästhetischer Praxis. Ästhetische Praktiken bilden keinen machtfreien Raum, sondern ein gesellschaftliches Spielfeld von Legitimierungs- und Delegitimierungsstrategien. Insofern sich kulturelle Hegemonien anerkannter Ästhetik ausbilden, können und müssen auch Ästhetisierungsprozesse ins Visier der Herrschaftskritik geraten. Wenn in einer Gesellschaft nicht allen denkbaren ästhetischen Praktiken die gleiche kulturelle Legitimität zukommt, werden bestimmte institutionell und diskursiv bevorzugt (etwa solche der Hochkultur oder der Populärkultur), während andere institutionell kaum unterstützt oder diskreditiert werden (etwa subkulturelle oder nichtwestliche Ästhetiken).57 Generell arbeiten Hegemonien und Anti-Hegemonien dabei nicht nur mit Zwangsmitteln, sondern auch mit Investitionen in die affektive Anziehungskraft hegemonialer Formen. Sie implementieren ästhetische Erwartungsstrukturen, etwa auch der Attraktivität und der gelungenen Selbstverwirk56 | Ersteres ist die Argumentation von Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1982. Letzteres wird nur angedeutet in Richard Florida: The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York 2002, S. 67- 77. 57 | Klassisch findet sich diese Kritik in den Cultural Studies und im feministischen Diskurs.

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lichung, welche von den Subjekten eine passende ästhetische Selbstformung fordern. 4. Strukturelle Hegemonien ästhetischer Praxis. Die Unterscheidung zwischen kulturellen und strukturellen Hegemonien ist sinnvoll, um zwei unterschiedliche Ebenen von Herrschaftseffekten in Bezug auf ästhetische Praktiken zu differenzieren. Während kulturelle Hegemonien die Codes der ästhetischen Praxis normieren, betreffen strukturelle Hegemonien die abstrakteren Strukturen ästhetischer Praktiken, die durchaus unterschiedlichen Codes Raum bieten können. Während ästhetische Codes auch innerhalb einer Gesellschaft variieren, schälen sich strukturelle Formen eher im historischen Vergleich heraus, da diese innerhalb einer gegebenen Gesellschaft zu einer feldübergreifenden strukturellen Homogenisierung tendieren. Zwei schlagende Beispiele für strukturelle Hegemonien innerhalb des Kreativitätsdispositivs der Spätmoderne sind die Ausrichtung ästhetischer Praktiken an einem Regime des Neuen und an einer Produzenten-Publikums-Relation:58 Ästhetische Praktiken sind hier auf die Produktion immer neuer ästhetischer Ereignisse ausgerichtet, sie fügen sich in ein ästhetisches Innovationsregime ein. Zugleich bewegen sie sich in einem strukturellen Grundriss, in dem es immer darum geht, dass Produzenten im Aufmerksamkeitswettbewerb ästhetische Ereignisse für ein Publikum hervorbringen. In diesen strukturellen Hegemonien werden ästhetische Praktiken, die auf Wiederholung statt auf Novitätsproduktion ausgerichtet oder die solitär oder intersubjektiv statt publikumsorientiert strukturiert sind, marginalisiert. 5. Unterordnung von ästhetischen Praktiken unter Formen der Rationalisierung. Durchgängig finden in der modernen Gesellschaft eine Verzahnung und strukturelle Stützung von Ästhetisierungs- und Rationalisierungsprozessen statt. Damit liegt eine Variante der Ästhetisierungskritik nahe, die sich zugleich als Variante der Rationalisierungskritik darstellt: Ästhetische Praktiken können ihre besondere Struktur zunehmend einbüßen, insofern sie in Programme und Strukturen der Rationalisierung eingefügt werden und sich damit auf neue Weise in ein »Mittel zum Zweck« verwandeln. Dies kann etwa auf der Ebene der Subjekte und Lebensformen der Fall sein, wenn ästhetische Praktiken als Mittel der Selbstoptimierung eingesetzt werden, oder auf institutioneller Ebene, wenn sie als Instrumente im Rahmen politischer Propaganda wirken. Ganz grundsätzlich kann Ästhetisierung in den Dienst von Formen der Ökonomisierung geraten und in diesem Rahmen mehr oder minder radikal »domestiziert« werden.59 58 | Vgl. dazu A. Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität und Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, Frankfurt a.M. 2004. 59 | Der klassische Ort dieser Kritikvariante ist Adornos und Horkheimers Kritik der Kulturindustrie.

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6. Mangelnde Verzahnung von ästhetischer und zweckrationaler Praxis. Diese letzte – und bislang eher spärlich vertretene – Version der Kritik geht in die genau entgegengesetzte Richtung. Aus dieser Sicht besteht das Problem nicht darin, dass Ästhetisierungsprozesse unter die Kuratel der Rationalisierung gestellt werden, sondern dass sich ästhetische und zweckrationale Praktiken zu wenig miteinander verzahnen. Ästhetische Praktiken bleiben damit auf ein mehr oder minder enges Feld begrenzt; es gelingt ihnen kaum, zweckrationale Praktiken umzuformen. Diese Kritiklinie findet sich in unterschiedlichen Versionen etwa im Umkreis der Arts-and Crafts-Bewegung oder des auf Gesellschaftsveränderung ausgerichteten Designs, etwa dem »Bauhaus«.60 Das Ideal der Ästhetisierung erschöpft sich aus dieser Sicht nicht in einem Bedeutungsgewinn ästhetischer auf Kosten rationaler Praktiken. Ausgehend von der Annahme, dass ein gewisses Maß an zweckrationalem Handeln gesellschaftlich unabdingbar ist, muss das Projekt der Ästhetisierung aus dieser Perspektive vielmehr darauf abzielen, ästhetisch imprägnierte Praktiken zu schaffen, in denen praktischer Zweck und sinnlich-affektive Zweckfreiheit miteinander verzahnt sind. Problematisch erscheint dann ein Ästhetisierungsprozess, der die zweckrationale Alltagspraxis unberührt lässt oder diese lediglich an der Oberfläche für den Betrachter »verschönert«, statt eine Ästhetisierung der praktischen Funktionen für den Nutzer zu erreichen. Eine zeitgemäße ästhetische Gesellschaftskritik spielt auf der Klaviatur aller dieser Ebenen. Rationalisierungs- und Ästhetisierungskritik kommen gleichermaßen zum Einsatz und lassen sich auch zur Sozialkritik in Beziehung setzen. Insgesamt lässt sich die Neujustierung des Verständnisses des Sozialen in Richtung sinnlich-affektiver und ästhetischer Praktiken und die Rekonfiguration der Gesellschaftstheorie, die die Prägekraft von Ästhetisierungsprozessen für die Moderne erkennt, nicht von der Neuausrichtung der Kritik im Sinne einer ästhetischen Gesellschaftskritik trennen. Der Stellenwert des Ästhetischen im Rahmen der globalisierten Gegenwartsgesellschaft bleibt ein Kampffeld, an dem auch die Sozial- und Kulturwissenschaften partizipieren.

60 | Für das kritische Design vgl. Beat Schneider: Design – eine Einführung. Entwurf im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext, Basel 2005, S. 27-36; 55-74. Man könnte auch Michel Foucaults Ästhetik der Existenz als den Versuch einer Alternative jenseits des Dualismus von Ästhetik und Zweckrationalität verstehen.

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Jenseits der Innovationsgesellschaft Das Kreativitätsdispositiv und die Transformation der sozialen Regime des Neuen

1. K re ativität aus gesellschaf tstheore tischer P erspek tive Ein soziologisches Verständnis von Kreativität kann zweierlei bedeuten: Entweder begreift man Kreativität als eine Eigenschaft und Voraussetzung menschlichen Handelns oder des Sozialen, die ihnen von vornherein zukommt; oder aber man versteht Kreativität als das Produkt einer sehr spezifischen sozial-kulturellen Konstellation, vor allem der Moderne oder Spätmoderne, eine soziale Konstellation, die Kreativität auf ihre Weise definiert, fördert und verstärkt. In beiden Fällen wird Kreativität aus einem soziologischen Blickwinkel betrachtet, der sich von dem des ubiquitären psychologischen Diskurses deutlich unterscheidet. Die meisten psychologischen Studien zum Thema Kreativität, die seit J.P. Guilfords einflussreichem Vortrag vor der American Psychological Association im Jahre 1950 entstanden sind,1 setzten Kreativität nämlich als eine universale – wenn auch möglicherweise ungleich verteilte – Eigenschaft des menschlichen Geistes (oder Gehirns) und seiner kognitiven Strukturen voraus.2 Sobald Kreativität jedoch in den Fokus der Soziologie gerät, muss diese Reduktion auf das Kognitive zu kurz greifen: Kreativität erscheint nun vielmehr als eine soziale Eigenschaft. Aber dieses Soziale kann sich auf zwei ganz unterschiedliche Konstellationen beziehen. Auf der Ebene einer allgemeinen Sozialtheorie lässt sich Kreativität als ein strukturelles Merkmal des Sozialen generell begreifen: als die inhärente Eigenschaft von Praktiken, Interaktionen, Kommunikation oder sozialen Prozessen, die aus sich selbst heraus immer wieder unberechenbar neuartige Ereignisse hervorbringen. Kreativität erscheint hier gewissermaßen 1 | Vgl. Joy Paul Guilford: »Creativity«, in: American Psychologist 5 (1950), S. 444-454. 2 | Vgl. Mark Runco: Creativity. Theories and Themes: Research, Development, and Practice, Amsterdam 2007.

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als eine Voraussetzung des Sozialen. Die handlungstheoretisch ausgerichteten Arbeiten von Heinrich Popitz und Hans Joas weisen diesen Weg.3 In einer ganz anderen Weise kann man auch die poststrukturalistische, post-vitalistische Theorie rhizomatischer Strukturen von Gilles Deleuze und Félix Guattari als einen solchen Ansatz verstehen, der die kreativen Leistungen des Sozialen hervorhebt (freilich ohne dass der Begriff des Schöpferischen dabei explizit verwendet würde).4 Auch Autoren aus dem Feld der Cultural Studies wie Dick Hebdige oder Paul Willis setzen das experimentelle, ja subversive Potential sozialer Praktiken und damit letztlich deren inhärente Kreativität voraus.5 Trotz aller Unterschiede teilen alle diese Autoren eine mehr oder weniger emphatische normative Identifikation mit dem Kreativen als etwas vorgeblich natürlicherweise Menschliches, eine Eigenschaft des Lebendigen oder eine Quelle des Politischen. Diese sozialtheoretische Perspektive auf das Phänomen der Kreativität hat zweifellos ihre Verdienste und bildet ein notwendiges Gegengewicht gegen explizit oder latent strukturalistische Ansätze, die von der Normalität sozialer Stabilität und Reproduktion ausgehen. Ich will hier aber einen anderen Weg einschlagen. In meinem Verständnis stellt Kreativität keine allgemeingültige Eigenschaft des Humanen oder Sozialen dar, sondern ein hochspezifisches soziales, kulturelles und historisches Produkt. Das Phänomen der Kreativität wandert als Problemstellung damit von der allgemeinen Sozialtheorie in die Gesellschaftstheorie, Historische Soziologie und Kultursoziologie. Aus diesem Blickwinkel ist es entscheidend, das Kreative einer ebenso grundsätzlichen wie akribischen Historisierung auszusetzen, es in jene historisch hochspezifischen sozialen Praktiken und Diskurse einzubetten, die es hervorbringen. Natürlich: es ist völlig richtig, dass wir auf der Ebene der Sozialtheorie ein Vokabular benötigen, das soziale Reproduktion ebenso wie sozialen Wandel, das die Wiederholung des Gleichen und die Entstehung des Neuen gleichermaßen als Strukturierungsformen der sozialen Welt anerkennt. Dabei kommt eine solche Perspektive sehr gut ohne den kulturell aufgeladenen Begriff des Kreativen aus und muss keinesfalls mit einer modernistischen Glorifizierung der Entstehung des Neuen und einer komplementären normativen Abwertung sozialer Wiederholungen verbunden sein.6 Man muss tatsächlich davon aus3 | Vgl. Heinrich Popitz: Wege der Kreativität, Tübingen 1997; Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 1992. 4 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1997. 5 | Vgl. Paul E. Willis: Common Culture. Symbolic Work at Play in the Everyday Cultures of the Young, Boulder 1990. 6 | Aus meiner Sicht ist einer der entscheidenden Vorzüge einer Theorie sozialer Praktiken, dass sie diesen Doppelcharakter von Wiederholung und Normalität der Ab-

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gehen, dass soziale Komplexe von Praktiken immer zwischen Wiederholung und der Entstehung von Novitäten changieren: Eine komplette Reproduktion des Immergleichen ist dann ebenso ein Grenzfall wie ein kompletter Bruch mit der Vergangenheit in einem vollständig neuartigen, singulären Ereignis. Aus der Perspektive der Gesellschaftstheorie wie einer empirisch arbeitenden Soziologie ist jedoch eine andere Frage interessanter: Wie konnte es dazu kommen, dass sich in der Moderne und insbesondere in der Spätmoderne (d.h. der Phase seit den 1970er/80er Jahren) immer mehr eine soziale Konstellation verbreitet, die Kreativität prämiert und systematisch fördert? Wie und warum haben die spätmodernen Subjekte gelernt, sich als »kreativ« zu verstehen und sich entsprechend als ein »kreatives Selbst« zu modellieren? Wie haben sich verschiedenste soziale Felder in der Weise restrukturiert, dass sie einem sozialen Regime des Neuen, insbesondere des ästhetisch Neuen folgen? Die Frage nach der Kreativität ist damit aus meiner Sicht nicht eigentlich eine Frage nach dem Menschen, sondern eine Frage nach der Moderne. Meine Grundannahme lautet: Im Laufe des 20. Jahrhunderts (mit Vorläufern bereits in den Jahrhunderten zuvor) und intensiviert seit den 1970er Jahren ist in den westlichen Gesellschaften ein dynamisches Kreativitätsdispositiv entstanden. Als Dispositiv überschreitet es die Grenzen zwischen funktional differenzierten Systemen, es umfasst die Kunst ebenso wie weite Segmente der Ökonomie, die Massenmedien, die staatliche Stadtplanung oder Teile der psychologischen Beratung: Überall und miteinander vernetzt, stellt sich das Soziale in Richtung einer Erwartungsstruktur des Kreativen um. Meine Perspektive ist damit von jener Michel Foucaults beeinflusst, der sich selbst für das Phänomen der Kreativität allerdings nie interessierte. So wie Foucaults genealogisch-archäologische Analyse des Sexualitätsdispositivs eine entmystifizierende Wirkung hat und etwas scheinbar Natürliches als eine sozial-kulturell-historische Konstellation dechiffriert,7 kann eine davon inspirierte Perspektive auf Kreativität und das Kreativitätsdispositiv einen ähnlichen Effekt zeitigen: Wie und auf welchem Wege haben wir in unseren sozialen Praktiken, Diskursen und Subjektivierungsweisen die Form der kreativen Produktion und Rezeption des Neuen derart verinnerlicht, dass sie mittlerweile wie eine quasi-natürliche alternativlose Ordnung der Dinge erscheint? Eine soziologische Analyse der Genese und gegenwärtigen Strukturen des Kreativitätsdispositivs ist eine komplexe Aufgabe. An dieser Stelle will ich weichung im Kern des Sozialen ausmacht. Vgl. Anthony Giddens: Central Problems in Social Theory. Action, Structure, and Contradiction, Berkeley 1979; Andreas Reckwitz: »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie, 32 (2003), S. 282-301. 7 | Vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M. 1983.

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mich darauf beschränken, einen analytischen Bezugsrahmen zu liefern, der aus vier Grundannahmen besteht: 1. Im Herzen des kreativen Komplexes der Gegenwartsgesellschaft befindet sich eine spezifische Version dessen, was ich die »sozialen Regime des Neuen« in der Moderne nennen will: ein Regime des ästhetisch Neuen. 2. Dies erfordert eine Klärung der Begriffe der ästhetischen Praktiken und der Ästhetisierung, die sich für eine Soziologie der Gegenwart als unabdingbar herausstellen. 3. Das Kreativitätsdispositiv lässt sich als eine spezifische Konstellation der Sozialität begreifen, die sich aus Produzenten, Publikum, Dingen und Aufmerksamkeitsregulierungen zusammensetzt. 4. Das soziale Feld der modernen Kunst erweist sich als struktureller Prototyp des Kreativitätsdispositivs. Vor diesem Hintergrund kann ich abschließend die These umreißen, dass die Kulturalisierung und Ästhetisierung der Gesellschaft, die sich im Kreativitätsdispositiv verdichtet, mittlerweile das Nachfolgeformat zur klassisch industriell-szientistischen »Innovationsgesellschaft« darstellt, das sich nicht von einem Regime des kulturell-ästhetisch Neuen, sondern des technisch Neuen, der technischen Innovation anleiten ließ. Entsprechend lautet die Aufgabe, einen heuristischen Bezugsrahmen zur Analyse von sozialen Regimen des Neuen in den verschiedenen Formen der Moderne zu entwickeln.

2. S oziale R egime des N euen Im Rahmen des Kreativitätsdispositivs erlangt ein vertrautes Kernelement der Struktur und Semantik moderner Gesellschaften einen grundsätzlich veränderten Stellenwert: das Neue.8 Dass die moderne Gesellschaft in ihren Institutionen und Semantiken im Kern nicht auf traditionale Wiederholung, sondern auf dynamische Selbstveränderung ausgerichtet ist, dass sie von Anfang an eine Präferenz für das Neue gegenüber dem Alten eingebaut hat, ist eine klassische Diagnose. Politisch, ökonomisch, wissenschaftlich-technisch und künstlerisch hat die moderne Gesellschaft seit ihrer Entstehung im späten 18. Jahrhundert durchgängig und Schritt für Schritt nahezu sämtliche Bereiche des Sozialen umfassend versucht, das Neue zu fördern – sei es in politischen Revolutionen und Reformen, in der Warenzirkulation, technischen Erfindungen oder künstlerischer Originalität.9 Das Neue ist dabei nicht von vornhe8 | Ich lehne mich in den Teilen 2 bis 5 des Aufsatzes an Passagen aus Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012 an, insbesondere aus dem ersten und zweiten Kapitel. 9 | Auf der Ebene der Semantik dazu klassisch Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979. Obwohl die Diagnose der modernen Orientierung am Neuen vertraut ist, hat es bisher kein umfassendes

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rein mit Fortschrittsorientierung oder dem Denken in »absoluten Brüchen« zu identifizieren. Abstrakt bedeutet eine Orientierung am Neuen zunächst, dass ein Temporalschema entwickelt wird, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als distinkt unterscheidet, und das Neue gegenüber dem Alten präferiert. Ein Regime des Neuen hat jedoch nicht nur eine zeitliche Konnotation, sondern auch eine phänomenale und eine soziale: Auf der Ebene der Phänomene markiert das Neue das Andere im Unterschied zum Gleichen. Sozial verweist das Neue auf das Abweichende im Unterschied zum Normalen und normativ Erwarteten. Ob auf der zeitlichen, der phänomenalen oder der sozialen Ebene – nie ist das Neue kurzerhand objektiv vorhanden, immer hängt es von häufig umstrittenen Beobachtungs- und Wahrnehmungsschemata ab. Soziale Regime des Neuen, wie sie sich für die moderne Gesellschaft als charakteristisch erweisen, sind nun Ensembles von Praktiken, Diskursen, Subjektivierungsweisen und Artefaktsystemen, die nicht allein das Neue beobachten und es positiv präferieren, sondern auch darauf aus sind, es zu fördern und aktiv hervorzubringen, zu steigern und zu intensivieren. Idealtypisch lassen sich drei moderne Strukturierungsformen der Orientierung am Neuen unterscheiden, die grob aufeinander folgen, ohne dass die älteren völlig verschwunden wären: das Regime des Neuen als Stufe (Neues I); das des Neuen als Steigerung und Überbietung (Neues II); und das des Neuen als Reiz (III). Diesen Dynamisierungsregimen entsprechen, plakativ gesprochen, drei Modelle der Moderne: die Moderne der Perfektion; die Moderne des Fortschritts; die ästhetisierte Moderne. Das erste Regime des Neuen strebt nach einer Stufe, in der eine alte durch eine neue, fortschrittlichere und rationalere Konstellation ein für allemal abgelöst wird. Das Neue erscheint als das absolut und eindeutig Neuartige, Revolutionäre. Nach Absolvierung dieser Stufe, nachdem das Neue einmal erreicht ist, bedarf es keines grundsätzlich Neuen mehr, höchstens inkrementaler Verbesserungen. Dieses Modell liegt der Form der politischen Revolution zugrunde. In der Konstellation des Neuen I ist das Neue damit dem Ziel des politischmoralischen Fortschritts untergeordnet und letzterer erscheint endlich. soziologisches Forschungsprogramm zur Analyse von sozialen Regimen des Neuen gegeben, das über den klassischen Forschungsschwerpunkt technologischer Innovationsprozesse in der Technik- und Organisationssoziologie hinausgeht. Die Notwendigkeit eines solchen umfassenden Analyseansatzes hat Werner Rammert deutlich herausgestellt (vgl. Werner Rammert: »Die Innovationen der Gesellschaft«, in: Jürgen Howaldt/ Heike Jakobson (Hg.), Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, Wiesbaden 2010, S. 21-51). Ich würde dem grundsätzlich zustimmen, aber auf dieser allgemeinen Ebene anstelle des technizistischen Begriffs der Innovation den des Regimes des Neuen vorziehen und die Differenz zwischen beiden Konzepten heuristisch ausnutzen (vgl. meinen Abschnitt 5).

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Anders das Regime des Neuen als Steigerung und Überbietung, das Neue II. In dieser Konstellation wird eine permanente Produktion des Neuen in eine unendliche Zukunft hinein angestrebt. Charakteristisch hierfür ist das Muster naturwissenschaftlich-technischer Entwicklung, aber auch die ökonomische Innovation auf dem Markt. Der Begriff der Steigerung enthält hier sowohl ein quantitatives Mehr als auch qualitative Sprünge. In jedem Fall ist für die Konstellation des Neuen II kennzeichnend, dass der einzelne Akt des Neuen den normativen Anspruch der Verbesserung enthält und diese Verbesserungssequenz zugleich endlos ist. Das Regime des Neuen als ästhetischer Reiz (Neues III), wie es sich als zentral für das Kreativitätsdispositiv herausstellt, ist wiederum anders organisiert. Auch hier geht es um die dynamische Produktion einer Sequenz von neuen Akten, die unendlich ist, aber der Wert des Neuen ist weitgehend seiner progressiven Konnotationen entkleidet. Der Wert des Neuen besteht nun nicht in seiner Eingliederung in eine Fortschrittssequenz, sondern in seinem momenthaften ästhetischen Reiz, der immer wieder von einer anderen, nächsten sinnlich-affektiven Qualität abgelöst wird. Es ist nicht der Fortschritt oder die Überbietung, sondern die Bewegung selbst, die Aufeinanderfolge von Reizakten, der das Interesse gilt und die normativ prämiert wird. Das Neue ist hier gewissermaßen nicht Mittel zum Zweck, sondern kultureller Selbstzweck, es bietet einen kulturellen Eigenwert, der von dem Subjekt im Moment des Erlebens des neuen Ereignisses erfahren wird. Das Neue bestimmt sich hier im Wesentlichen über seine Differenz zu vorhergehenden, alten Ereignissen in der Zeitsequenz, über seine Differenz als Anderes zum Identischen und über seine Differenz als willkommene Abweichung vom Üblichen. Das Neue ist dann das relativ Neue als Ereignis, es markiert keinen strukturellen Bruch. Im Rahmen des Regimes des ästhetisch Neuen befindet sich das Neue in einem gemeinsamen semantischen Feld mit dem Interessanten, dem Überraschenden und dem Originellen. Alle drei sind keine Fortschritts- oder Überbietungsbegriffe des Neuen, sondern fortschrittslose Differenzbegriffe mit Affektcharakter. Die Produktion des Neuen folgt hier nicht mehr dem Modell der politischen Revolution oder dem der technischen Erfindung, sondern der Kreation von Objekten oder Atmosphären, die die Sinne und Bedeutungen reizen, mit dem Anspruch eines kulturellen Eigenwertes auftreten und affektiv wirksam sind. Die Kunst im modernen Sinne lässt sich als das historisch erste soziale Feld interpretieren, das sich radikal von einem solchen Regime des ästhetisch Neuen strukturieren ließ.

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3. Ä sthe tisierungsprozesse Wenn sich das Kreativitätsdispositiv im Kern als ein soziales Regime des ästhetisch Neuen im Sinne des Neuen III begreifen lässt, muss auf einen soziologisch anschlussfähigen Begriff des Ästhetischen zurückgegriffen werden. Tatsächlich forciert das Kreativitätsdispositiv einen ebenso radikalen wie spezifischen Prozess der Ästhetisierung. Was ist nun aber das Ästhetische, und was sind Ästhetisierungen? Das Ästhetische bezieht sich in meinem Verständnis auf sinnliche als eigendynamische Prozesse, die sich aus ihrer Einbettung in zweckrationales Handeln gelöst haben. Aisthesis als das Insgesamt aller sinnlichen Wahrnehmung lässt sich dann von »ästhetischen Wahrnehmungen« im Besonderen unterscheiden.10 Das Spezifikum ästhetischer Wahrnehmungen ist ihre Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbezüglichkeit, ihre Orientierung am eigenen Vollzug in diesem Moment. Ihr Spezifikum ist ihre Sinnlichkeit um der Sinnlichkeit, ihre Wahrnehmung um der Wahrnehmung willen. Dieses Ästhetische in einem zeitgemäßen Verständnis ist von den klassischen Kopplungen an den guten Geschmack, die Schönheit, die Kontemplation oder die autonome Sphäre der Kunst zu lösen.11 Entscheidend für ästhetische Wahrnehmungen ist nicht, ob sie schön oder hässlich sind, ob harmonisch oder dissonant, ob introvertiert oder lustvoll-mitgerissen, sondern dass sie sich nicht im Sinne einer bloßen Informationsverarbeitung dem zweckrationalen Handeln unterordnen, vielmehr diesem gegenüber eine relative Eigendynamik und Vollzugsorientierung besitzen. Ästhetische Praktiken findet man damit nicht nur in der Kunst oder im Naturerleben – die klassischen Fälle der bürgerlichen Philosophischen Ästhetik –, sondern auch im Sportstadion oder bei der touristischen Reise, in der Mode und der Inneneinrichtung wie in der Gastronomie, in der Sexualität und Erotik wie in der »kreativen Arbeit«. Ästhetische Wahrnehmungen beziehen dabei noch eine weitere Dimension in spezifischer Weise mit ein: Sie sind nicht reine Sinnesaktivität, sondern enthalten auch ein erhebliches Maß an Affektivität, eine emotionale Involviertheit des Subjekts, 10 | Vgl. Martin Seel: »Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung – mit einem Anhang über den Zeitraum der Landschaft«, in: ders., Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt a.M. 1996, S. 36-69. 11 | Die Engführung des Ästhetischen auf das Schöne wird auch in soziologischen Diagnosen teilweise immer noch vertreten, vgl. etwa Gilles Lipovetsky/Jean Serroy: L’Esthétisation du monde. Vivre à l’âge du capitalisme artiste, Paris 2013. Zugleich will ich mich aber von jenem vollständig abstrahierten Begriff des Ästhetischen distanzieren, wie er etwa von Welsch vertreten wird (vgl. Wolfgang Welsch: »Ästhetisierungsprozesse – Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven«, in: ders., Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, S. 9-61). Er bezieht das Ästhetische auf Kontingenzsituationen allgemein und löst es damit von der Bindung an sinnliche Wahrnehmungen und Affekte.

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die wiederum eigendynamisch und selbstreferenziell ist. Ästhetische Phänomene umfassen immer ein Doppel von »Perzepten und Affekten« (Deleuze). Ästhetische sinnliche Wahrnehmungen schließen eine spezifische Affiziertheit des Subjekts durch einen Gegenstand oder eine Situation ein, eine Befindlichkeit oder Erregung, ein enthusiastisches, betroffenes oder gelassenes Fühlen. Für ein soziologisches Verständnis des Ästhetischen ist ein praxeologischer Blick auf Sinnlichkeit und Affektivität zentral. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Aggregatzustände des Ästhetischen voneinander unterscheiden: ästhetische Episoden und ästhetische Praktiken. In ästhetischen Episoden scheint momenthaft und unberechenbar eine ästhetische Wahrnehmung auf, ein Subjekt lässt sich durch ein Objekt im Rahmen einer Konstellation affizieren und durchbricht damit den Kreislauf der Zweckrationalität – danach verschwindet der Moment. In ästhetischen Praktiken hingegen werden immer wieder ästhetische Wahrnehmungen oder Objekte für eine solche Wahrnehmung routinisiert oder gewohnheitsmäßig hervorgebracht. Ästhetische Praktiken enthalten damit immer auch ein – häufig implizites – ästhetisches Wissen, kulturelle Schemata, die die Produktion und Rezeption ästhetischer Ereignisse anleiten. Ein solches Verständnis des Ästhetischen hebt einen Aspekt sozialer Praxis hervor, der von einer rationalistischen Philosophie und Soziologie lange marginalisiert worden ist. Der Gegenbegriff zum Ästhetischen in dieser auf eigendynamische sinnliche Wahrnehmung und Affektivität bezogenen Bedeutung ist das zweck- und regelgeleitete Handeln, in dem sinnliche Wahrnehmung nur sekundär als kognitive Informationsverarbeitung auftaucht. Auch Affekte erscheinen hier zugunsten der Sachlichkeit oder Normativität des Handlungszusammenhangs untergeordnet, der idealerweise affektneutral ist. Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses des Ästhetischen kann das Phänomen der gesellschaftlichen Ästhetisierung Kontur gewinnen.12 Es handelt sich hier um einen präzise bestimmbaren Strukturwandel. In Prozessen der Ästhetisierung dehnt sich innerhalb der Gesellschaft der Anteil ästhetischer Praktiken als Ganzer auf Kosten primär nicht-ästhetischer, zweckrationaler und normativer Praktiken aus. Die exakte Form und Richtung der Ästhetisierung kann dabei kulturell und historisch äußerst variabel sein. In der Realität bedeutet Ästhetisierung dabei nicht nur eine wachsende Bedeutung »reiner« ästhetischer Praktiken, sondern auch eine Zunahme von hybriden Mischpraktiken: In zweckrationale oder normative Praktiken sind hier mehr und mehr Elemente ästhetischer Praktiken eingebunden (zum Beispiel in den Arbeitsprozess oder die Partnerschaft). Die Besonderheit des 12 | Ein verwandter Ästhetisierungsbegriff findet sich in Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992, der sich allerdings auf den rezeptiv-konsumtorischen Aspekt ästhetischer Praktiken konzentriert.

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Kreativitätsdispositivs besteht nun darin, dass es eine Ästhetisierung forciert, die auf die Produktion und Rezeption von neuen ästhetischen Ereignissen ausgerichtet ist. Wie gesagt: Die moderne Gesellschaft hat seit ihren Anfängen das Neue strukturell vorangetrieben, auch auf politischer und technischer Ebene. Umgekehrt hat es in verschiedensten Gesellschaftstypen immer auch ästhetische Praktiken gegeben, die nicht auf Originalität, sondern auf Wiederholung und Ritualisierung ausgerichtet waren.13 Das Kreativitätsdispositiv richtet nun das Ästhetische am Neuen und das Regime des Neuen am Ästhetischen aus. Es markiert eine Schnittmenge zwischen Ästhetisierungen und den sozialen Regimen des Neuen. Abbildung 1: Regime des Neuen und Ästhetisierung Regime des ästhetisch Neuen (Neues III)

soziale Regime des Neuen

Regime des Neuen I/II

ästhetische Wiederholungspraktiken

ästhetische Praktiken

4. Ä sthe tische S ozialitäten : K re ateure , P ublik a , A ufmerksamkeiten Es wird damit deutlich, dass für das Kreativitätsdispositiv eine spezifische Struktur der Sozialität kennzeichnend ist. Ich gehe generell davon aus, dass »das Soziale« keine fixe, überhistorische Struktur hat, sondern sich in historisch spezifischen und unterschiedlichen Formen »versammelt«. Die Sozialität des Kreativitätsdispositivs hat nun jedoch im Kern keine Struktur einfacher Interaktionen oder Kommunikationen, sie wird auch nicht von einem norma13 | Ein klassischer Ort hierfür ist sicherlich die Ästhetik des alten Japans und Chinas, vgl. dazu François Jullien: Über das Fade. Eine Eloge zu Denken und Ästhetik in China, Berlin 2010; auch Byung-Chul Han: Shanzkai. Dekonstruktion auf Chinesisch, Berlin 2011.

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tiven Regelsystem oder einer Struktur des Tausches zwischen zweckrationalen Akteuren – allesamt »klassische« Formen des Sozialen, die die Soziologie in extenso thematisiert hat – getragen. Im Kern handelt es sich vielmehr um eine Form des Sozialen, die durch eine Relation zwischen ästhetischen Produzenten/Kreateuren, einem Publikum und Objekten gekennzeichnet ist. Im Rahmen dieser spezifischen Sozialität muss es einerseits Praktiken geben, die auf die Produktion von ästhetisch Neuem ausgerichtet sind und die von entsprechenden individuellen oder kollektiven »Kreateuren« getragen werden. Es muss auf der anderen Seite ein Publikum geben, das primär an der ästhetischen Aneignung von Objekten und Ereignissen interessiert ist. Beide sind verknüpft durch materiell-kulturelle Objekte. Die Ästhetisierungsform des Kreativitätsdispositivs ist einerseits an ein Produktionsethos gekoppelt: das des Kreativen. Es setzt voraus, dass das ästhetisch Neue von einem Subjekt oder einer anderen Instanz, etwa einem Kollektiv oder der Praxis selbst, hervorgebracht wird. Ästhetisierungsprozesse im Rahmen des Kreativitätsdispositivs sprengen damit den Rahmen dessen, was Guy Debord unter einer »Gesellschaft des Spektakels« mit passiven Konsumenten verstand.14 Innerhalb des Dispositivs sind Institutionen und Subjekte vielmehr dem Imperativ ausgesetzt (der auf der Ebene der Subjekte einer internalisierten Wunschstruktur entspricht), kreative Potentiale zu mobilisieren und neue ästhetische Objekte und Ereignisse hervorzubringen: Kunstwerke, kulturell-ästhetische Güter, Ereignisse und Dienste, Medienformate und mediale Neuigkeiten, Transformationen des urbanen Raums, schließlich Selbstpräsentationen in sozialen Netzwerken. Die Kreateure sind hier nicht mehr Produzenten im industriegesellschaftlichen Sinne: diese waren Produzenten von Typen, nun jedoch geht es um die produktive Kreation von Singularitäten, von »einzigartigen«, neuartigen Dingen. Die kreativen Produzenten sind jedoch auf das Publikum als eine zweite, komplementäre Instanz angewiesen. Der ästhetische Reiz des Neuen verlangt nach einem Publikum, das die Neuartigkeit des Neuen feststellt und sich davon beeindrucken lässt. »Das Neue« als objektives Faktum gibt es schließlich gar nicht. Es hängt vielmehr ab von einer entsprechenden Aufmerksamkeitsform und Bewertung, die sich einseitig auf das Neue richtet und es vom Alten scheidet. Niklas Luhmann weist zu Recht darauf hin, dass die sozialen Felder der modernen Gesellschaft durchgängig nicht nur Leistungs-, sondern auch Publikumsfunktionen ausbilden.15 Im Falle des Kreativitätsdispositivs erhält das Publikum jedoch eine besondere Form: Es richtet sich auf das, was es beobachtet, empfängt und nutzt, nicht in einer Haltung der Verarbeitung von Informationen, sondern in einer solchen der symbolischen, sinnlichen und 14 | Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996. 15 | Vgl. Niklas Luhmann: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1992.

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emotionalen Anregbarkeit. Das spätmoderne Publikum ist im Kern ein ästhetisch interessiertes. Produzenten vor einem Publikum sind immer Produzenten performativer Akte: Sie »performen« vor einem Publikum. Publikum und Produzenten sind dabei jedoch durch eine dritte Einheit miteinander verknüpft: durch Objekte. Das Interesse des Publikums richtet sich auf die ästhetischen Objekte. Diese haben unweigerlich eine sinnlich wahrnehmbare Materialität, zugleich sind sie kulturelle und ästhetische Bedeutungs- und Affektträger. Ästhetische Objekte können visuell oder taktil erfahrbare Dinge sein (Bilder, Kleidungs- oder Möbelstücke), sie können auditiv (Töne/Musik) oder schmeckend-riechend (Nahrungsmittel) erfahrbar sein, es kann sich um räumlich komplexe ästhetische Umgebungen handeln (z.B. Stadträume), schließlich kann der Körper des Subjekts selbst zu einem ästhetischen Objekt vor dem Publikum werden (Theater, Film etc.). Die Trias von Produzenten, Publikum und Objekten wird schließlich durch einen spezifischen Koordinationsmechanismus zusammengehalten: die Verteilung von Aufmerksamkeit. Das Publikum ist ein Stifter kollektiver Aufmerksamkeit, die sich kurz- oder langfristig auf bestimmte Objekte richtet und anderen entzogen wird. Die Aufmerksamkeit von Akteuren richtet sich in der sozialen Praxis zwangsläufig immer nur auf einen begrenzten Kreis von Phänomenen. Im Rahmen des Kreativitätsdispositivs lenkt nun das Leitkriterium des Neuen die Aufmerksamkeit: Ereignisse, die vom Betrachter als neuartig wahrgenommen werden, erscheinen am ehesten des Interesses wert und haben eine Chance, eine Zeitlang in dessen Lichtstrahl zu verbleiben, um einen ästhetischen Effekt zu produzieren. Das Aufmerksamkeitsmanagement des Publikums stellt sich damit als zentrales Koordinationsproblem des Sozialen dar. Abbildung 2: Sozialität des Kreativitätsdispositivs

Regulierung von Aufmerksamkeit

Kreateure/ kreative Praktiken

ästhetische Objekte

ästhetisches Publikum

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5. D as K unstfeld als e xempl arisches F ormat Ästhetische Praktiken und Ästhetisierung, ein soziales Regime des ästhetisch Neuen und affektiv Faszinierenden, eine Konstellation von Kreateuren, Publikum, Objekten und Aufmerksamkeiten – es ist bemerkenswert, dass für alle diese strukturellen Merkmale des Kreativitätsdispositivs ein soziales Feld eine Blaupause liefert, das von der soziologischen Analyse in der Vergangenheit gerne marginalisiert wurde: das soziale Feld der Kunst.16 Alle diese Merkmale wurden im modernen Kunstfeld zur Zeit seiner Entstehung um 1800 – zunächst in einer recht spezifischen Form – entwickelt: (1) Die moderne Kunst bildet ein soziales Ensemble, das darauf ausgerichtet ist, ästhetisch orientierte Praktiken, das heißt solche der Produktion und Rezeption ästhetischer Ereignisse, in möglichst verabsolutierter Form hervorzubringen: Praktiken der eigendynamischen, von jeder Zweckrationalität entbundenen Sinnlichkeit und Affektivität. Die Praktiken des modernen Kunstfeldes versuchen, die Autonomie der Kunst dadurch herzustellen, dass in diversen Strategien und Methoden das rein Ästhetische vom Moralisch-Normativen und Zweckrationalen, zugleich auch vom »unrein Ästhetischen« (dem Populären, Kitschigen etc.) und vom Handwerklichen abgegrenzt wird. Obwohl diese Versuche einer Autonomisierung der Kunst als eine Sphäre reiner Ästhetik der späteren Verbreitung ästhetischer Praktiken jenseits der Kunst vordergründig entgegenstehen, ist entscheidender, dass hier erstmals der Versuch unternommen wird, ästhetische Erlebnisse radikal von zweckrationalen Handlungen zu scheiden – und damit steigerbar und intensivierbar zu machen. Erst vermittels dieses radikalen Projekts einer »absoluten Ästhetik« im Rahmen einer Ausdifferenzierung des Kunstfeldes können in der Moderne ästhetische Ereignisse ihre verblüffende Anziehungskraft erhalten. (2) Die ästhetischen Praktiken der modernen Kunst sind eingebunden in ein soziales Regime des ästhetisch Neuen, das fortlaufend neuartige ästhetische Ereignisse, das heißt neuartige Kunstwerke als Sinnlichkeits- und Affizierungsofferten mit Überraschungswert hervorbringen will. Dieses Regime des Neuen ist für die moderne (im Unterschied zur vormodernen, etwa auch der klassizistischen) Kunst seit 1780 kennzeichnend und wurde diskursiv durch die Positionierung der Genieästhetik gegen die Regelästhetik vorbereitet. Während die Nachahmungsästhetik die Aufgabe des Künstlers in der Anwendung und perfektionierten Umsetzung der Regeln idealer Kunst, damit in der virtuosen Reproduktion des Alten und Universalen festmachte, erfindet die neue Ästhetik den Künstler als Schöpfer origineller Werke, die sich nicht mehr aus allgemeingültigen Regeln ableiten lassen. 16 | Vgl. dazu auch Pierre-Michel Menger: Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers, Konstanz 2006.

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(3) Das Kunstfeld ist durch eine Form des Sozialen gekennzeichnet, in der ästhetische Produzenten und ein ästhetisches Publikum aufeinander angewiesen sind. Das Kunstfeld modelliert die Figur des Künstlers als einen »kreativen Produzenten«, dem die besondere Kompetenz zukommt, (ästhetisch) Neues in die Welt zu setzen. Zugleich bildet es die gegenüber dem Originalitätsproduzenten komplementäre Rolle eines ästhetisch sensibilisierten Publikums aus. Die Sozialität der Kunst ist damit im Kern weder eine der zweckrationalen Produktion noch der intersubjektiven Interaktion oder des Tausches. In ihrem Zentrum geht es vielmehr um den sozialen Prozess der Verfertigung von sinnlichen, semiotischen und emotionalen Reizen und Werten für ein Publikum. Das Kunstfeld erfindet damit jene beiden Subjektpositionen, die für das Kreativitätsdispositiv zentral werden: das Kreativsubjekt und den ästhetischen Rezipienten. Zugleich bringt das Kunstfeld von Anfang an seine eigenen Regulierungsmechanismen für die Verteilung von Aufmerksamkeiten hervor: Konsekrationsinstanzen wie die Kunst- und Literaturkritik oder akademische Kanonisierungen, aber auch Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Aufmerksamkeitsregulierungsinstanzen (z.B. über Sezessionen).

6. D as K re ativitätsdispositiv und das R egime des I nnovationsneuen Die spätmoderne Gesellschaft ist in großen Teilen ihrer sozialen Praktiken durch die Struktureigenschaften des Kreativitätsdispositivs geprägt: durch ein soziales Regime des ästhetisch Neuen und eine Sozialität von kreativen Produzenten, Publika, Artefakten und Aufmerksamkeiten. Diese Strukturmerkmale lassen sich sowohl auf der Ebene vieler sozialer Felder der Gegenwartsgesellschaft ausmachen, besonders wirkungsmächtig in der Ökonomie und in den Massenmedien. Man kann sie aber auch auf der Ebene von kollektiven Lebensformen verorten: Die hegemoniale spätmoderne Lebensform ist nicht nur »individualisiert«, sie folgt – mit ihrer Hauptträgergruppe der akademischen Mittelschichten – modellhaft dem Alltagsethos einer erfolgreichen kreativen Lebensführung. In welchem Verhältnis steht nun diese Diagnose eines Kreativitätsdispositivs zur verbreiteten Annahme, dass die moderne Gesellschaft eine »Innovationsgesellschaft« sei?17 Natürlich hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, wie man das Verhältnis zwischen »Innovation« und »Kreativität« begrifflich fasst. Prinzipiell gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder man ver17 | Vgl. Michael Hutter et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute: Die reflexive Herstellung des Neuen. Technical University Technology Studies, Working Papers, TU Berlin 2011.

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steht Innovation als den allgemeineren Begriff, der jegliche Orientierung am Neuen in sich enthält. Dann wäre das Regime des ästhetisch Neuen eine spezifische Untermenge dieser allgemeinen Innovationsorientierung. Oder aber man behandelt die Regime der Innovation und der Kreativität als zwei konkurrierende soziale Strukturierungsformen des Neuen. Aus meiner Sicht ist die letztere Annahme informativer und heuristisch vielversprechender, zumal man neben Innovation und Kreativität in meinem Verständnis mit dem »sozialen Regime des Neuen« einen dritten, bereits allgemein und vergleichend angelegten Begriff zur Verfügung hat. Bezieht man alle drei Konzepte aufeinander, kommt man zu einer komplexeren gesellschaftstheoretischen These, was die Transformation des Neuen in der Moderne angeht. Grundsätzlich gilt: Die moderne Gesellschaft stellt sich in verschiedenen sozialen Feldern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts schrittweise auf soziale Regime des Neuen um, die Neuartiges auf Kosten von Traditionalem prämieren und fördern. In der Genealogie menschlicher Gesellschaften ist diese Umstellung auf ein anti-traditionalistisches Novitätsregime ein in hohem Maße ungewöhnlicher Vorgang. Die Form eines solchen Regimes des Neuen unterscheidet sich in der bürgerlichen Moderne, der organisierten Moderne und der Spätmoderne jedoch voneinander.18 Für eine derartige Differenzierung kann man auf die oben eingeführte Unterscheidung zwischen den Regimen des Neuen I, II und III zurückgreifen. In der bürgerlichen Moderne stellt die Ausbreitung der sozialen Regime des Neuen einen sehr unebenen und zunächst eher langsamen Prozess dar, der von einzelnen urbanen Modernisierungsinseln ausgeht und im Laufe des 19. Jahrhunderts an Fahrt gewinnt. Es widerspricht dieser grundsätzlichen progressiv-dynamischen Tendenz nicht, dass in der bürgerlichen Moderne noch großflächige, in der traditionalen Gesellschaft verwurzelte Praktikenkomplexe existieren, die sich einem solchen sozialen Regime des Neuen nicht ohne Weiteres fügen, sondern weiterhin auf eine Logik der Wiederholung setzen, zum Beispiel im agrarischen Raum oder in den christlichen Religionsgemeinschaften, aber auch in der klassischen bürgerlichen Lebensführung. Innerhalb eines solchen Wiederholungsregimes steht das Neue gewissermaßen unter Verdacht. Neuartige, abweichende Elemente werden hier zugunsten der tradierten, »identischen« Strukturen systematisch eliminiert, so dass eine – faktisch natürlich niemals vollständige – gewohnheitsmäßige oder ritualisierte Wiederholung der sozialen Praxis das Ziel ist. Das Neue I, in dem sich das »Neue als Stufe« darbietet, tritt in der bürgerlichen Moderne immer dann auf, wenn politische Revolutionen anstehen, zum Beispiel 1789, 1848 oder 1917. Die Praktiken des Neuen I sind dann im We18 | Vgl. zu dieser Periodisierung Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.

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sentlichen revolutionäre Praktiken, in denen es um die Neuinstituierung einer politischen Ordnung geht. Das Neue I eignet sich allerdings nicht wirklich dazu, ein entsprechendes »Regime« auf Dauer einzurichten, da mit dem Erreichen der gewünschten Stufe das Ziel erreicht ist. Die Praktiken des Neuen I haben also eher einen vorbereitenden Charakter: es geht darum, langfristig oder kurzfristig die Bedingungen zu erreichen, in denen ein Sprung auf die gewünschte Stufe – in der Regel durch einen revolutionären Umsturz – möglich ist.19 Neben diesen revolutionären Praktiken ist das soziale Regime des Neuen in den Modernisierungsinseln der bürgerlichen Moderne zu großen Teilen bereits eines der Steigerung und Überbietung (Neues II). Der technologische Fortschritt im Zuge der Industriellen Revolution und seine Auswirkungen auf die ökonomischen Märkte bilden das Rückgrat dieses frühmodernen Innovationsregimes. Es ist jedoch die organisierte Moderne seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts – soziologisch idealtypisch Industriegesellschaft genannt und postmarxistisch als Fordismus firmierend –, die den eigentlichen historisch-gesellschaftlichen Kontext für eine solche gesellschaftlich durchgreifende Herrschaft der technologischen Selbstüberbietung liefert. Die organisierte Moderne lässt sich als »Innovationsgesellschaft« par excellence verstehen, indem sie weite Teile der Gesellschaft dem Regime des Innovationsneuen unterwirft. Das Regime des Innovationsneuen setzt auf sachliche Neuerungen als zweckrationale Verbesserungen, die dem Modell des technologischen Fortschritts nach Art des Neuen II entsprechen. Im Zentrum eines solchen Gesellschaftstypus steht die industrielle Massenproduktion von Gütern (Investitions- und Konsumgüter), die durch technologische Innovationen sowohl auf der Ebene der Produktionsprozesse als auch jener der Leistungsfähigkeit der Güter ins Unendliche perfektioniert wird.20 Dem widerspricht nicht, dass in der Industriegesellschaft der überwiegende Teil der Arbeitspraktiken – gemäß 19 | Interessant ist in diesem Zusammenhang der Status der sozialistischen Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts. Zunächst scheinen sie lediglich an der Vorbereitung einer revolutionären Situation zu arbeiten (Neues I), dann stellen sie sich (mit Ausnahme Russlands) auf die Arbeit an inkrementalen Reformen im Rahmen der bürgerlichen Demokratien um (Neues II), deren Fluchtpunkt in der organisierten Moderne jedoch häufig weiterhin als Erreichen einer endgültigen Stufe (hier: der Wohlfahrtsstaat mit sozialen Bürgerrechten) imaginiert wird. 20 | Die breite Bewegung klassischer soziologischer Innovationsforschung im Rahmen der Technik- und Organisationssoziologie setzt hier an. Vgl. dazu nur Paul A. David: Technical Choice, Innovation, and Economic Growth. Essays on American and British Experience in the Nineteenth Century, London 1975; Charles Edquist (Hg.): Systems of Innovation. Technologies, Institutions, and Organizations, London 1997; Holger BraunThürmann: Innovation, Bielefeld 2005.

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Effizienzprinzipien – weiterhin repetitiv ist und sich aus Wiederholungspraktiken zusammensetzt, allerdings weniger aus ritualisierten oder gewohnheitsmäßigen denn aus routinisierten Wiederholungspraktiken, die sich aus der Einübung von formalen Regeln ergeben.21 Eine Industriegesellschaft dieser Form, wie sie sich in den westlichen Gesellschaften erst Ende des 19. Jahrhunderts flächendeckend durchsetzt, ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts untrennbar mit dem fordistischen Modell der Massenkonsumtion verknüpft. Der technologische Fortschritt ist kein primär binnenindustrieller, sondern erreicht – über den Weg von Produktivitätssteigerungen wie auch von neuen, funktionalen Konsumgütern – die Masse der Konsumenten. Auch auf der Ebene der Konsumgüter setzt sich damit das Regime des Neuen II durch, so dass sich eine typische Sequenz von technischen Must-haves ergibt, die die Konsumenten nacheinander anstreben (Haus, Automobil, Fernseher, Waschmaschine etc.). Das kulturelle Imaginäre der fordistischen Konsumgesellschaft ist entsprechend von einem kombinierten Ideal von technischem Fortschritt und einer affluent society, d.h. hohem Lebensstandard, beherrscht. Das Regime des Neuen II findet sich in der organisierten Moderne schließlich auch auf der Ebene des Staates, seiner politics und policies wieder: Der Staat der organisierten Moderne ist ein keynesianischer Steuerungsstaat und Wohlfahrtsstaat und strebt nach schrittweisen Verbesserungen, etwa im Sinne des Ausbaus sozialer Rechte. Das Staatshandeln lässt sich in diesem Kontext konsequenterweise als »Sozialtechnologie« umschreiben: Es folgt einem technologischen Verständnis des Neuen.

21 | Den Unterschied zwischen gewohnheitsmäßigen, routinisierten und ritualisierten Wiederholungspraktiken will ich folgendermaßen markieren: Die gewohnheitsmäßige Wiederholung ist eine, die von vornherein auf der Vermittlung von implizitem Wissen, vor allem über Verhaltensimitation beruht. Die routinisierte Wiederholung basiert hingegen auf der Vermittlung formaler Regeln, zum Beispiel Effizienzprinzipien in einer arbeitsteiligen Organisation, die nach einer gewissen Zeit in eine routinisierte Praktik einmünden (vgl. zur Differenzierung zwischen Gewohnheit und Routine in Bezug auf Praktiken Gregor Bongaerts: »Soziale Praxis und Verhalten – Überlegungen zum Practice Turn in Social Theory«, in: Zeitschrift für Soziologie 36 (2007), S. 246-260). Die ritualisierte Wiederholung wiederum ist eine kulturell spezifisch markierte und als für sich genommen wertvoll gerahmte Wiederholung (z.B. eine religiöse Zeremonie, ein jahreszeitliches Fest etc.). In einem modernisierungstheoretischen Narrativ würde man – neben der Ausbreitung der Regime des Neuen – von einem Relevanzgewinn der routinisierten auf Kosten der gewohnheitsmäßigen und ritualisierten Wiederholungspraktiken ausgehen. Gleichwohl existieren natürlich auch letztere weiterhin bis in die Gegenwart hinein. Im Rahmen der spätmodernen Kulturalisierung können sogar ritualisierte Wiederholungen wieder an Relevanz gewinnen, soweit sie mit dem Anspruch singulärer »Events« einhergehen.

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Die organisierte Moderne als Innovationsgesellschaft entspricht damit im Kern dem Muster des sozialen Regimes des Neuen II. Seit den 1970er Jahren stellen sich die sozialen Felder und Milieus der westlichen Gesellschaften jedoch zunehmend auf das soziale Regime des Neuen III um: In der Spätmoderne organisieren sie sich mehr und mehr in Form des Regimes des kulturellästhetisch Neuen. Man könnte plakativ von einer »Kreativ(itäts)gesellschaft« sprechen, aber um die missverständlichen normativen Konnotationen eines solchen Etiketts zu vermeiden, will ich vom Prozess einer Kulturalisierung der Gesellschaft sprechen, in deren Zentrum sich das Kreativitätsdispositiv befindet.22 Unter Kulturalisierung kann man in diesem Zusammenhang einen Strukturwandel verstehen, in dem die spezifischen Muster und Regeln des kulturellen Feldes, im Kern der Künste, in die Gesellschaft insgesamt hinein expandieren. Grundsätzlich unterscheidet sich das Regime des Neuen in der kulturalisierten Gesellschaft, die zugleich eine postfordistische Gesellschaft ist, von jenem in der fordistischen Industriegesellschaft: Dem Muster der sachlich-funktionalen Überbietung und Steigerung von technologischen Lösungen, dem Innovationsneuen, steht das Spiel der Differenzen mit Objekten und Ereignissen, die einen kulturellen Eigenwert und einen ästhetisch-affektiven Reiz versprechen, als neuer zentraler Motor gesellschaftlicher Dynamik gegenüber. Ein Paradigma der technischen »Erfindungen« wird von einem Paradigma der »Singularitäten«, das heißt der einzigartigen Objekte und Ereignisse, abgelöst.23 Die kulturalisierte Gesellschaft ist keine klassische Industriegesellschaft mehr; aber auch die Etiketten der Wissens- oder Dienstleistungsgesellschaft treffen sie nicht wirklich, denn beide Begriffe sind noch der Logik der Industriegesellschaft verhaftet. Im ökonomischen Zentrum der spätmodernen Gesellschaft steht vielmehr die kulturelle Produktion, das heißt die 22 | Mein modernetheoretischer Ansatz unterscheidet sich somit von jenem, der die moderne Gesellschaft inklusive der Spätmoderne in toto als »Innovationsgesellschaft« beschreibt (vgl. M. Hutter et al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute): Während letzterer davon ausgeht, dass das Besondere der Spätmoderne lediglich in der Reflexivwerdung der Innovationsorientierung zu suchen ist, bezeichnet aus meiner Sicht die Umstellung des Regimes des Neuen auf »fortschrittslose« kulturell-ästhetische Einheiten den grundsätzlicheren Strukturwandel. Eine Perspektive auf die Spätmoderne, die an Ulrich Becks Theorie der reflexiven Modernisierung anschließt, muss für diese Entwicklungen blind bleiben, da sie in »kognitivistischem« Fahrwasser der Logik der Industriegesellschaft verhaftet bleibt (so bereits die berechtigte Kritik von Lash an Beck und Giddens in Ulrich Beck/Anthony Giddens/Scott Lash (Hg.): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996). 23 | Eine genauere Bestimmung dessen, was »Kulturalisierung« und was »Singularitäten« bedeuten, kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Sie ist Aufgabe meines Buchprojekts Die Gesellschaft der Singularitäten.

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Herstellung, Verteilung und Konsumtion von semiotisch-ästhetischen Gegenständen und Diensten.24 Während das Regime des Neuen der organisierten Moderne von der Eigendynamik technologischer Entwicklung (und daneben jener politischer Reformbemühungen) angetrieben ist, ist das kulturellästhetische Regime des Neuen der Spätmoderne im Kern von den flottierenden Konsumentenwünschen, der Eigendynamik des Sektors der Konsumgüter und der Massenmedien, nicht zuletzt der digitalen Medien angetrieben. In sehr viel stärkerem Maße als die Massenproduktion der organisierten Moderne beruht die kulturelle Produktion darauf, plurale und volatile Wünsche der Konsumenten vorwegzunehmen. Die spätmoderne Relevanzverschiebung von der Produktion zur Konsumtion, die häufiger konstatiert wurde, betrifft damit nicht zuletzt den Motor des gesellschaftlichen Regimes des Neuen.25 Das Regime des Innovationsneuen und das Regime des kulturell-ästhetischen Neuen sind konträr strukturiert. Es lassen sich eine Reihe von grundsätzlichen Differenzen nennen: Der Affektreduziertheit der »Sachlichkeit« des Innovationsneuen steht die enorme affektive Aufgeladenheit der kulturell-ästhetischen Produktion und Rezeption gegenüber; dem normativen Ideal von technischem Fortschritt und sich steigerndem Lebensstandard jenes von Lebensqualität und Selbstverwirklichung, das um ästhetische (Selbst-)Kreation zentriert ist; der standardisierten Produktion/Konsumtion von Massengütern die pluralisierte Produktion/Konsumtion von Singularitäten; dem Primat des technischen Wissens als Ressource der Produktion des Neuen das Primat des kulturellen (semiotisch-narrativen und ästhetischen) Wissens; dem Subjektmodell des Technikers (mit dem Fluchtpunkt des »Erfinders«) jenes des Kreativen und »Künstlers«. Daneben existieren weitere strukturelle Differenzen: Während das Regime des Innovationsneuen vor allem bürokratische Strukturen fördert, die Max Webers Modell des formalen Rationalismus entsprechen, vor allem im weiten Feld der nach Effizienzmaßstäben organisierten Massenproduktion, ist das Regime des ästhetischen Neuen untrennbar mit einer Ausbreitung von Marktstrukturen mit hoher Wettbewerbsdynamik verbunden. Die Überproduktion von immer wieder neuen kulturellen Ereignissen und Dingen mündet in eine radikale Konkurrenz um die ungewisse Aufmerksamkeit der Konsumenten und Rezipienten.26 Der »Neoliberalismus«, die Expansion marktförmiger 24 | Vgl. zu einer solchen – vornehmlich auf die Ökonomie bezogenen – Kulturalisierungsdiagnose Scott Lash/John Urry: Economies of Signs and Space, London 1994 und P.-M. Menger: Kunst und Brot; auch Michael Hutter: »Experience Goods«, in: Ruth Towse (Hg.), A Handbook of Cultural Economics, Cheltenham 2011, S. 211-215. 25 | Vgl. Zygmunt Bauman: Consuming Life, Cambridge 2007. 26 | Vgl. Pierre-Michel Menger: The Economics of Creativity. Art and Achievement under Uncertainty, Cambridge 2014.

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Strukturen und die Erosion bürokratischer Strukturen, der für die Spätmoderne häufig konstatiert wurde, ist daher ohne den Relevanzgewinn der kulturellen Produktion und Kulturökonomie nicht zu verstehen. Obwohl auch das Regime des Innovationsneuen durchaus Publikumsfunktionen kannte, etwa in der Wissenschaft, war ihm eher eine verhältnismäßig berechenbare Struktur von Versorgern (standardisierter und allgemein als notwendig anerkannter Güter) und Abnehmern/Nutzern eigen, die mit der unberechenbaren Aufmerksamkeitsökonomie von Kreateuren und Rezipienten in der kulturalisierten Gesellschaft kontrastiert. Schließlich korrespondiert in der klassischen Industriegesellschaft die Innovationsorientierung der sozialen Felder mit einer Fortschrittslogik auf der Ebene der Lebensführung, vor allem im Sinne eines sozialen Aufstiegs und einer biografischen Logik aufeinander auf bauender Lebensphasen. Die kulturalisierte Gesellschaft bringt demgegenüber auch auf der Ebene der Lebensführung und Biografien in wesentlich stärkerem Maße Diskontinuitäten und eine Logik biografischer Episoden mit sich, die sich nicht ohne Weiteres in eine Fortschrittssequenz einfügen und die dem Anspruch eines expressiven wie flexiblen Lebensstils entsprechen.27 Tabelle 1: Idealtypen: Innovationsneues – Ästhetisch Neues Regime des Innovationsneuen

Regime des kulturell-ästhetisch Neuen

funktional-technische Neuerungen als Steigerung/Überbietung

kulturell-ästhetische Novitäten als Abwechslung und Eigenwert

Industriegesellschaft

Kulturalisierung der Gesellschaft

technisches Wissen/ industrielle Produktion

kulturelles Wissen/ kulturelle Produktion

Affektneutralität

affektive Intensität

Techniker/»Erfinder«

Kreativer/Künstler

Standardisierung

Singularitäten

technischer Fortschritt/Lebensstan- erfolgreiche Selbstverwirklichungen/ dard Lebensqualität Bürokratie

(Aufmerksamkeits-)Markt

Versorger/Abnehmer

Kreateure/Publikum

27 | Vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt, Kap. 4.2; nun auch Gunter Weidenhaus: Soziale Raumzeit, Berlin 2015.

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Natürlich: Sowohl die industriegesellschaftliche Logik eines Regimes des Innovationsneuen als auch die kulturalisierte Logik eines Regimes des ästhetisch Neuen sind Idealtypen. In der historisch-sozialen Realität ist nicht die eine durch die andere Logik vollständig abgelöst worden. Es herrscht vielmehr immer eine »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, innerhalb derer eine Gewichtsverschiebung stattgefunden hat. Dies bedeutet zweierlei: Zum einen war auch die industriegesellschaftliche Logik zur Zeit der organisierten Moderne niemals total. Abgesehen davon, dass in der organisierten Moderne (wie auch in der Spätmoderne) in verstreuten Feldern und Milieus Restbestände oder Neumobilisierungen des Wiederholungsregimes existieren – Logiken der Bewährung, der zyklischen Bearbeitung, des generationellen Erbes etc. –, lassen sich auch im Fordismus bereits Elemente einer gesellschaftlichen Kulturalisierung und Ästhetisierung und damit Vorläuferformate des Kreativitätsdispositivs beobachten. Dies gilt etwa für die frühen creative industries oder die Ansätze einer Konsumgesellschaft, die die Grenzen eines bloßen nützlichkeitsorientierten Massenkonsums sprengten.28 Zum anderen existieren auch in der Spätmoderne weiterhin machtvolle Komplexe eines Regimes des Innovationsneuen, zum Beispiel in der Investitionsgüterindustrie oder im Gesundheitswesen. Dies gilt auch für die »permanente Innovation« in den Organisationen, die dort zunehmend jene Wiederholungspraktiken unterminiert, die die fordistische Organisation ausmachten. In mancher Hinsicht konkurriert in der spätmodernen Gesellschaft die »neue« Logik des kulturell-ästhetisch Neuen mit der »alten« Logik des Innovationsneuen. Teilweise verbinden sich aber auch beide Logiken in Bereichen wie Ökonomie, Medien, Stadtentwicklung und Lebensführung in unberechenbarer Weise. Das Ziel einer empirischen Forschungsagenda zur Analyse der Regime des Neuen in der Gegenwartsgesellschaft sollte gerade darin bestehen, diese Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten zwischen dem avancierten Regime des kulturell-ästhetisch Neuen, dem für die Moderne »klassischen« Regimes des Innovationsneuen und den weiterhin existierenden oder neu entstandenen Wiederholungsregimen herauszuarbeiten und die Konflikte, aber auch die Hybridisierungen, die sich daraus ergeben, unter die Lupe zu nehmen.29

28 | Vgl. dazu Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt, Kap. 3; ders.: Die Erfindung der Kreativität. 29 | Ein besonderes Interesse muss dabei auch jenen Hybridartefakten gelten, in denen sich Technik und Ästhetik aneinanderkoppeln, wie es für nicht wenige der zeitgenössischen Konsumgüter – etwa für Automobile, Häuser/Wohnungen und Medienapparate – der Fall ist.

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Tabelle 2: Regime des Neuen – historisches Schema dominante Tendenz

Nebentendenzen

bürgerliche Moderne

allmähliche Ausbreitung starkes Wiederholungsdes Innovationsregimes regime; revolutionäre Praktiken

organisierte Moderne

Innovationsregime

Regime des ästhetisch Neuen; Wiederholungsregime

Spätmoderne

Regime des kulturellästhetisch Neuen

Innovationsregime; Wiederholungsregime

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Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten

Michel Foucaults Studie Überwachen und Strafen liefert im Kern die Analyse einer Sichtbarkeitsordnung.1 Dadurch ist sie sowohl aktuell als auch überholt. Aktuell ist das Buch dadurch, dass sich Foucaults Analytik einer spezifischen Ordnung des Sichtbaren, wie er sie für die Disziplinargesellschaft durchgeführt hat, als Inspirationsquelle für die Rekonstruktion von Sichtbarkeitsordnungen der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft nutzbar machen lässt. Zugleich ist eine solche Aktualisierung aber auch dringend nötig: Denn die Gegenwartsgesellschaft folgt nicht mehr – das war Foucault 1975 durchaus schon bewusst –, zumindest nicht im Kern den Mechanismen des disziplinären Blicks. Damit stellt sich die Frage, die ich behandeln will: Wie haben sich die gesellschaftlichen Sichtbarkeitsordnungen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts verändert? Welche Transformation des Sozialen ist damit einhergegangen? Mein Ausgangspunkt lautet, dass im 20. Jahrhundert eine tiefgreifende Transformation der Strukturprinzipien, der kulturellen Legitimationsformen und der affektiven Erregungsstrukturen der Gesellschaft der Moderne als Ganze stattfindet, ein Strukturwandel, dessen Tragweite erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirklich erkennbar wird. Hatte die Moderne vom 18. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts flächendeckend einen Komplex der Rationalisierung verbreitet, so wird dieses seitdem mehr und mehr durch einen Komplex der Kulturalisierung überlagert (einige seiner Bestandteile hatte ich an anderer Stelle etwas enger als ein Kreativititätsdispositiv bezeichnet).2 Der Rationalisierungskomplex beherrschte die industriegesellschaftliche Moderne. Seine Merkmale hat der soziologische Diskurs klassisch in Max Webers 1 | Vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1991. 2 | Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012.

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Theorie der formalen Rationalisierung, mit anderer Akzentsetzung auch in Norbert Elias Theorie der Affektkontrolle beschrieben.3 Als Prozess der Rationalisierung verbreitet die Moderne Mechanismen der Zweck-Mittel-Rationalität, die in der Ökonomie, dem Staat oder der Wissenschaft auf gesellschaftliche Optimierung abzielt. Zentral für den Rationalisierungskomplex ist, dass er mit einer Schematisierung und Standardisierung von Subjekten und Dingen arbeitet: Sie sollen in Form normierter Serien allgemeinen Mustern entsprechen. Der Komplex der Rationalisierung ist selbstverständlich in der Spätmoderne nicht verschwunden. Doch ist die Moderne der Gegenwart längst nicht mehr allein mit diesem begrifflichen Repertoire zu erfassen. Wenn ich die These vertrete, der Komplex der Rationalisierung sei schrittweise von einem solchen der Kulturalisierung überformt worden, meine ich damit, dass wir seit den 1980er Jahren einen Prozess beobachten können, in dem die Logik dessen, was in der klassischen Moderne das schmale und gesellschaftlich marginale kulturelle Feld ausmachte, in die Gesellschaft als Ganze hineinkopiert wird.4 Es dürfte klar sein, dass es sich im Zuge dieses Prozesses notwendig selbst wandelt. So wie ehemals für das kulturelle Feld im engeren Sinne, also das soziale Feld der Künste, ist für den Kulturalisierungskomplex der Spätmoderne kennzeichnend, dass sich im Zentrum des Sozialen nicht mehr die Herstellung und Nutzung von gleichförmigen oder identischen, versachlichten Objekten respektive die Interaktion mit gleichförmigen Subjekten befindet, sondern die Produktion und Rezeption von affektiv aufgeladenen Zeichen, Narrationen, Bildern und Performanzen sowie die Interaktionen mit singulären Subjekten. Drei Merkmale sind für den modernen Kulturalisierungskomplex generell kennzeichnend: die Publikumsorientierung, die enorme intensivierte Affektivität und die Orientierung an Singularitäten. Im Kern dieses Komplexes haben wir es mit einer Konstellation des Sozialen zu tun, in der sich die Subjekte als ein Publikum für sinnhaft und/oder sinnlich eindrucksvolle Objekte oder andere Subjekte versammeln und gleichzeitig in die Position einrücken, Performanzen vor einem solchen Publikum darzubieten. Sowohl Objekte als auch Subjekte werden hier nicht als Replikationen und Wiederholungen des Glei3 | Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980; Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1976. Historisch findet die Rationalisierung ihren Höhepunkt in der »organisierten Moderne« von 1900 bis 1970, vgl. dazu auch Peter Wagner: A Sociology of Modernity. Liberty and Discipline, London 1994. Sie lässt sich auch mit den Etiketten der »Industriegesellschaft« und des »Fordismus« beschreiben. 4 | Zum kulturellen Feld die immer noch luzide Analyse von Pierre Bourdieu: »Der Markt der symbolischen Güter«, in: ders., Kunst und Kultur. Schriften zur Kultursoziologie, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2011, S. 15-96.

Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen

chen geformt wie im Rationalisierungskomplex, sondern als Singularitäten, das heißt als nichtvergleichbare Besondere. Im Gegensatz zur emotional abgekühlten Versachlichung der Rationalisierung werden Objekte und Subjekte als solche Singularitäten in hohem Grade mit positiven Affekten der Faszination aufgeladen. Vor dem Hintergrund dieser zentralen Unterscheidung zweier verschiedenartiger Komplexe lässt sich Foucaults Studie im Wesentlichen als Beitrag zu einer Analyse der klassischen Moderne der Rationalisierung verstehen. In Foucaults Analyse wird deutlich, dass Rationalisierung notwendigerweise mit Disziplinierungen der Subjekte arbeitet, die im Rahmen dessen stattfinden, was man eine disziplinäre Sichtbarkeitsordnung nennen kann. Zunächst will ich kurz und stark systematisierend auf die Merkmale dieser disziplinären Ordnung der Sichtbarkeit sowie auf zeitgenössische Aktualisierungen in Richtung einer post-disziplinären Visibilität eingehen, um sonach ausführlicher die Strukturmerkmale jener, dazu in vieler Hinsicht konträren, Sichtbarkeitsordnung des spätmodernen Kulturalisierungskomplexes herauszuarbeiten, eine – so meine Begrifflichkeit – Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten. Aber auch diese Ordnung ist keineswegs das Ende der Geschichte, vielmehr will ich den Blick am Ende auf eine dritte Visibilitätsstruktur, die Politisierung der Sichtbarkeit, richten, die gerade in der kulturalisierten Spätmoderne als eine Art wiederkehrendes Störmanöver ihrerseits die Ordnung der kompetitiven Singularitäten herausfordert. Die Komplexität unserer gegenwärtigen Konstellation besteht darin, dass sich in ihr Elemente der post-disziplinären Sichtbarkeitsordnung mit der Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten und ebenso mit einer Politisierung der Visibilität überlagern, womit sich alle drei Modi immer wieder und untergründig miteinander verbinden. Was ist unter einer Sichtbarkeitsordnung zu verstehen? Ich will diesen Begriff in einem ganz allgemeinen Sinne verwenden und auf die Organisation von Aufmerksamkeiten beziehen, die sich in einem sozialen Komplex von Praktiken oder in einer Gesellschaft als Ganzer vollzieht.5 Jeder Komplex sozialer Praktiken organisiert Aufmerksamkeiten auf eine bestimmte Art und Weise: Er lässt bestimmte Subjekte, Dinge oder abstrakte Entitäten in den Fokus der Wahrnehmung und der Kommunikation treten, wobei andere solcher Phänomene gleichzeitig abgeblendet werden. In dem von mir gemeinten Sinn bedeutet Sichtbarkeit demnach, dass bestimmte Phänomene zum Gegenstand 5 | Zum Begriff der Sichtbarkeit in diesem weiten Sinne vgl. Andrea Mubi Brighenti: Visibility in Social Theory and Social Research, Basingstoke 2010; Markus Schroer: »Visual Culture and the Fight for Visibility«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 44 (2014), S. 206-228; zum Begriff der Aufmerksamkeit Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a.M. 2004; Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998.

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Kreativität und soziale Praxis

von Wahrnehmung und Kommunikation allgemein werden, auch über den Sehsinn hinaus. Sichtbarkeitsordnungen umfassen also nicht nur die »visuelle Kultur« im engeren Sinne. Folglich stellen sich Sichtbarkeitsordnungen als Arrangements von wahrnehmenden und wahrgenommenen Subjekten, Artefakten, Wissensordnungen, Affekten und ganzen räumlichen Settings dar, in denen die Aufmerksamkeit auf bestimmte Weise gelenkt wird. Während man für die traditionalen Gesellschaften von einer relativ strikten Regulierung der Räume des sozial Sichtbaren und Unsichtbaren ausgehen kann, findet mit dem Einbruch der Moderne nun eine erhebliche Erschütterung derartiger Aufmerksamkeitsanordnungen statt. Die teils schleichende, teils eruptive Rekonfiguration von Sichtbarkeitsordnungen vor allem seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verläuft partiell ungeplant – etwa über den Weg von Medien- und Verkehrstechnologien6 –, während sich Foucault vor allem auf die geplanten Umstrukturierungen von Aufmerksamkeiten durch die Disziplinarinstitutionen und ihren panoptistischen Blick konzentriert hat. Diese disziplinäre Sichtbarkeitsordnung ist charakteristisch für das, was ich am Anfang den Rationalitätskomplex der klassischen Moderne genannt habe. Auf der Grundlage von Foucaults Analyse lassen sich mehrere elementare Merkmale einer solchen disziplinären Sichtbarkeitsordnung herausdestillieren: 1. Der disziplinäre Blick ist asymmetrisch. Er richtet sich eindeutig von Beobachtern auf Beobachtete, wobei die Beobachter in der Regel Träger von Institutionen sind. Kennzeichnend für eine solche Asymmetrie ist, dass erstere möglichst viel von möglichst vielen der Sichtbarkeit aussetzen wollen, während letztere sich der aufgenötigten Sichtbarkeit potentiell entziehen wollen und entziehen würden, wenn sie denn könnten. 2. Die Beobachteten sind menschliche Subjekte, und zwar als Körper, weshalb sich deren Sichtbarmachung auf die Details ihres unmittelbaren körperlichen Verhaltens in bestimmten institutionellen Kontexten richtet. 3. Das Ziel dieses Arrangements ist eine Regulierung und Standardisierung des Verhaltens und seiner Produkte (z.B. Güter oder Schulleistungen), die mit entsprechenden Ge- und Verboten arbeitet. Diese Orientierung am Normalen kann eine Individualisierung in bestimmter Form bedeuten, also: eine normalistische Individualisierung ansteuern, die Abweichungen vom gewünschten Normal- oder Idealfall (z.B. Schulnoten) misst und unter ihre Kontrolle bringt. Hier wird gerade nicht das Besondere des Subjekts prämiert – wie später in einer Kultur der Singularitäten –, sondern entlang einer Skala die Differenzen zwischen den Leistungen der Subjekte abgemessen, für die es einen eindeutigen Maßstab des Besseren und Schlechteren gibt. Die Individualisierung widerspricht also der Standardisierung nicht, sondern bestätigt sie. 6 | Vgl. Jonathan Crary: Suspensions of Perception: Attention, Spectacle and Modern Culture, Cambridge 1999.

Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen

Ergänzen will ich 4. den affektiven Aspekt der Sichtbarkeitsordnung des Rationalisierungskomplexes, der bei Foucault eher am Rande angedeutet bleibt. Idealerweise arbeitet die Disziplinarmacht – ganz anders als etwa das Spektakel der öffentlichen Folter – mit einer Abkühlung der Affekte: der panoptische Blick ist ein »kalter« Blick, aber auch – anders als der voyeuristische – ein erregungsfreier Blick. Auf der Seite des Beobachteten sind jedoch auch im Disziplinarregime Affekte im Spiel. Mit der Angst vor der Bestrafung, dem Gefühl der Schuld angesichts des Versagens und schließlich den physischen Schmerzen im Falle der Sanktion herrschen hier aber negative Affekte. Sie können sich in manchen Fällen zwar in eine Lust am Verbotenen und Heimlichen oder gar in die Lust an der Unterwerfung umkehren, der auf der anderen Seite eine sadistische Lust an der disziplinierenden Beherrschung entspricht – diese Umkehrungen bestätigen jedoch die Regel der negativen Affektivität. Nun ist die Sichtbarkeitsordnung der Disziplinargesellschaft durchaus kein historisches Phänomen, das sich auf die frühe Moderne des 18. Jahrhunderts begrenzen ließe. Im Gegenteil erhält sie um 1900 mit dem Taylorismus und der Managementrevolution in Richtung korporatistischer Großbetriebe einen zweiten, entscheidenden Schub.7 Der Gipfel des Rationalisierungskomplexes wird erst Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem entfalteten organisierten Kapitalismus und dem keynesianischen Wohlfahrtsstaat erreicht. Und auch in der spätmodernen Gesellschaft seit den 1970er und 80er Jahren finden sich Fortführungen des disziplinären Regimes, wie sie die surveillance studies herausgearbeitet haben.8 Besonders hervorzuheben sind hier jedoch jene Weiterentwicklungen des disziplinären Regimes im Zuge der medialen Digitalisierung, die zugleich einen beträchtlichen Strukturwandel in Richtung eines post-disziplinären Blicks mit sich bringen. Das quantified self und Praktiken des data tracking im Internet liefern hier zwei bezeichnende, aktuelle Beispiele. In der Bewegung des quantified self, in der eine permanente Beobachtung und vergleichende Quantifizierung etwa der eigenen Körperfunktionen und Körperwerte zum Zwecke der Gesundheitskontrolle und Fitnesssteigerung erfolgt, wird eine Struktur deutlich, in der einerseits die Reichweite der Verhaltensbeobachtung gewissermaßen ins Innere des Körpers ausgedehnt wird. Zugleich wird die kontrollierende Fremdbeobachtung vollständig durch die Selbstbeobachtung des Subjekts ersetzt, die dem Ziel einer Selbstoptimierung

7 | Vgl. Yehonda Shenhav: Manufacturing Rationality. The Engineering Foundations of the Managerial Revolution, Oxford 1999. 8 | Vgl. Niels Zurawski (Hg.): Surveillance Studies. Perspektiven eines Forschungsfeldes, Opladen 2006.

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folgt. Diese Selbstoptimierung arbeitet affektiv weniger mit Angstmechanismen als mit positiven Affekten der Selbstvervollkommnung.9 Demgegenüber ist das data tracking im Internet, das algorithmisch-anonym etwa durch Firmen geschieht, die Konsumprofile herausfinden wollen, um gezielte Konsumangebote machen zu können (oder Risikoprofile zu erstellen), anders aufgebaut.10 Hier handelt es sich weiterhin um eine anonymmaschinisierte Fremdbeobachtung, die jedoch – das ist entscheidend – nicht auf Verhaltensregulierung abzielt, sondern beobachtend Verhalten konstatiert und aufzeichnet, um gerade die Singularität des einzelnen Profils nachzuvollziehen und darauf adaptiv eingehen zu können. Mit dem Begriff der Singularität anstelle des traditionsreichen Begriffs des Individuellen will ich die offen zu Tage liegende Fabriziertheit des Besonderen umschreiben, die sich zudem auf unterschiedliche Entitäten, auf Objekte wie auf Subjekte beziehen lässt.11 Die Besonderheit wird hier nicht als ein Unteilbares vorausgesetzt, vielmehr setzt sie sich aus der Unzahl einzelner Kaufakte und Besuche einzelner Internetseiten gewissermaßen kompositorisch zusammen. Während die disziplinäre Regulierung die Gleichförmigkeit fordert, konstatiert die post-disziplinäre Sichtbarkeitsordnung die Singularitäten und reagiert auf sie mit singulär angepassten Offerten oder Zurückweisungen. Post-disziplinäre Sichtbarkeitsordnungen sind also auch für die späte Moderne weiterhin von Bedeutung. Im Rahmen des Kulturalisierungs- und Kreativitätskomplexes hat sich jedoch ein ganz anderes, ja konträr ausgerichtetes Sichtbarkeitsregime herauskristallisiert, das sich allerdings an manchen Stellen mit dem post-disziplinären Regime verzahnt. Diese Verschiebung wird am schlagendsten deutlich in der konträren Haltung der Subjekte innerhalb der Ordnung. Wollte man sich dem panoptischen Blick am liebsten entziehen, will das Subjekt nun um nahezu jeden Preis Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sichtbarkeit ist kein Schrecken mehr, sondern eine Verheißung, Unsichtbarkeit kein Sehnsuchtsziel mehr, sondern der soziale Tod. Als Vorgeschichte dieser Entstehung einer Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten lässt sich Leo Braudys detaillierte Studie The Frenzy of Renown lesen.12 Sie prä9 | Vgl. dazu etwa Stefanie Duttweiler (Hg.): Leben nach Zahlen: Self-Tracking als Optimierungsprojekt?, Bielefeld 2016. 10 | Vgl. zu diesem Thema Ramón Reichert (Hg.): Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, Bielefeld 2014. 11 | Vgl. zu diesem Konzept auch Igor Kopytoff: »The Cultural Biography of Things: Commoditization as Process«, in: Arjun Appadurai (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 64-91. 12 | Leo Braudy: The Frenzy of Renown. Fame and Its History, New York 1986; vgl. auch Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S. 239-268.

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sentiert eine Kulturgeschichte jener Strukturen, die von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Berühmtheit bedingt haben. Braudy arbeitet als die eigentliche Zäsur zur Moderne die Entstehung des modernen Künstlers heraus. War öffentliche Berühmtheit zuvor im Wesentlichen an die Träger offizieller staatlicher oder kirchlicher Ämter geknüpft, besteht der dramatische Bruch darin, dass mit dem modernen Künstler – ganz unabhängig von seinem Herkunftsmilieu, nur durch seine vorgeblich genialen künstlerischen Leistungen – der rasche Aufstieg von der Unbekanntheit in die Arena der Sichtbarkeit der interessierten Öffentlichkeit möglich ist. Der Blick des Publikums auf den Künstler ist kein disziplinierender, sondern ein faszinierter von höchster Erregungsintensität. Was am Künstler interessiert, ist gerade seine Besonderheit, sein unvergleichliches Werk. Und der Künstler selbst erstrebt eine solche Sichtbarkeit, da er nur so die Kunstinteressierten erreichen kann. Für das frühmoderne kulturelle Feld ist somit eine neuartige, nicht-disziplinäre Sichtbarkeitsordnung kennzeichnend – freilich ist sie zunächst noch auf ein gesellschaftlich höchst schmales Segment begrenzt. Wie lässt sich die Verbreitung einer daran angelehnten, aber auch noch einmal deutlich allgemeiner orientierten umfassenden Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten im Laufe des 20. Jahrhunderts im Rahmen des Kulturalisierungskomplexes und seines Kreativitätsdispositivs erklären? Zwei Rahmenbedingungen sind hier entscheidend: Die erste ist die medientechnologische, zunächst in den technischen audiovisuellen Medien, anschließend mit der digitalen Kultur des Internet. Medien wie Film, Rundfunk und Fernsehen – verknüpft mit der Massenpresse – ermöglichen seit 1900 technisch eine massenhafte Sichtbarkeit von einzelnen Personen, die weit über das klassische kulturelle Feld hinausgeht. Damit ist der Kontext benannt, in dem sich das moderne System der Stars ausbildet. Die broadcast-Medien sind freilich asymmetrisch strukturiert: Der Masse des Publikums steht die kleine Gruppe der Stars gegenüber. Mit dem Internet wird seit den 1990er Jahren demgegenüber erstmals eine technologische Plattform für Bilder und Texte geschaffen, auf der das Publikum selbst immer auch zum Produzenten werden kann. Eine letztlich quantitativ unbegrenzte Veröffentlichung von Bildern und Texten, auch über Personen, wird möglich. Nun kann potenziell jedes Subjekt eine Sichtbarkeit seiner Person und seiner mehr oder minder elaborierten Werke herzustellen versuchen, vor allem über die social media wie Facebook, Youtube oder Twitter, über Dating- oder Berufsportale, Blogs etc.13 Die zweite Rahmenbedingung für die Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten ist in der Transformation des Kapitalismus zu einer im Kern kulturellen oder ästhetischen Ökonomie zu suchen. Anders als im For13 | Vgl. zu letzterem José van Dijck: The Culture of Connectivity. A Critical History of Social Media, Oxford 2013.

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dismus mit seinen standardisierten Massenprodukten setzt der kulturell-ästhetische Kapitalismus auf eine – wie es der französische Wirtschaftssoziologe Lucien Karpik nennt – »Ökonomie der Singularitäten«: auf Güter und Dienste mit einem primär kulturellen – ästhetischen oder hermeneutischen – Wert, so dass das einzelne Gut – von der Urlaubsreise über die Armbanduhr bis zum Coaching – nicht ohne Weiteres durch ein anderes austauschbar erscheint.14 Die ökonomischen Märkte haben damit mehr und mehr die spezifische Struktur von Märkten für kulturelle Güter. Sie sind hyperkompetitiv und dadurch gekennzeichnet, dass eine Überproduktion kultureller Güter mit jeweils neuartigen und in der Nachfrage höchst unberechenbaren kulturellen Qualitäten stattfindet und diese Güter sich im Aufmerksamkeitswettbewerb um ein notwendig begrenztes Publikum befinden, das seine knappen Aufmerksamkeitsmöglichkeiten in hohem Maße ungleich verteilt. Zwischen den singulären Objekten – und den mit ihnen verbundenen Organisationen oder Individuen – auf den kulturellen Märkten, die die Art von Nobody Knows-Märkten mit extremer Ungewissheit annehmen, herrscht folglich ein ausgesprochen heftiger Kampf um Sichtbarkeit.15 Was sind nun die Strukturmerkmale der Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten im Unterschied zur klassisch-rationalistischen Foucault’schen Sichtbarkeitsordnung der Disziplinierung? Ich fasse sie wiederum thesenartig zusammen: 1. In der neuen Sichtbarkeitsordnung ist das Verhältnis zwischen Beobachtern und Beobachteten prinzipiell nicht mehr asymmetrisch, sondern symmetrisch: Im Prinzip kann jeder Beobachter, kann jeder Publikum sein – und im Prinzip kann jeder auch zum Beobachteten werden. Die beiden Subjektpositionen sind für den Einzelnen daher prinzipiell austauschbar: Abwechselnd kann er/sie zum Subjekt oder Objekt von Aufmerksamkeit avancieren. Der Beobachterstatus kommt hier nicht privilegierten Institutionen zu, sondern ist ein generalisierter innerhalb der mobilen Öffentlichkeit. Die prinzipiell universale Struktur der Beobachtung ist in ihrer faktischen Ausformung jedoch in hohem Maße unberechenbar. De jure existiert eine Symmetrie der Aufmerksamkeit, de facto jedoch eine dynamische Asymmetrie: Kennzeichnend ist die Dynamik eines aufmerksamkeitsökonomischen Wettbewerbs der Beobachteten um die Gunst des Publikums. Er führt zu höchst ungleichen Positionen zwischen den wenigen mit erhöhter und jenen vielen mit verminderter Sichtbarkeit. Diese 14 | Vgl. Lucien Karpik: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a.M./ New York 2011. 15 | Vgl. dazu auch Pierre-Michel Menger: Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers, Konstanz 2006; ders.: The Economics of Creativity. Art and Achievement under Uncertainty, Cambridge 2014; Richard E. Caves: Creative Industries. Contracts between Art and Commerce, Cambridge 2000.

Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen

Aufmerksamkeitsasymmetrien, die Gewinner und Verlierer schaffen, lassen sich auch quantitativ etwa in Form von Rankings abbilden. 2. Der Wettbewerb um überregionale Sichtbarkeit – ob nun in einem begrenzten, professionellen Kontext, einem beruflich-privaten Freundschaftsnetzwerk oder in einer populären nationalen oder gar internationalen Arena – ist das grundsätzlich Neue. Die Subjekte in der Disziplinargesellschaft wurden in jeweils begrenzten Lokalitäten jedes für sich zur Sichtbarkeit gezwungen, im Kulturalisierungskomplex findet hingegen eine aktive, gewollte Konkurrenz um Aufmerksamkeit statt: Das Subjekt begehrt, gesehen zu werden. Dieses Begehren setzt sich entsprechend in einen permanenten Vergleich der Beobachteten untereinander um. Verglichen werden freilich nicht mehr die sachlichen Leistungen vor dem Hintergrund eines fixen Maßstabs des Richtigen, verglichen wird der Erfolg auf dem Aufmerksamkeitsmarkt.16 In einem zweiten Schritt kann dieses Begehren nach Sichtbarkeit sich damit in den sozialen Zwang verwandeln, gefälligst »präsent« zu sein, um nicht soziale Nachteile beruflicher oder privater Art zu riskieren. 3. Das, was sich dem Blick des anderen bewusst und begierig aussetzt, sind nicht mehr die Details körperlichen Verhaltens wie im Disziplinarregime; das Objekt der Sichtbarkeitsordnung ist vielmehr das laufend aktualisierte »Profil« des Subjekts und seine immer wieder neuen kulturellen Produkte, die von der Welt oder von sich selbst handeln: die news auf den Facebook-Accounts, Blogs oder Tweets, Youtube-Videos, aber auch beruflich relevante Texte oder andere Arbeiten, Dokumentationen, soziales Engagement, Links oder Fotos, die für einen wichtig sind oder als wichtig wahrgenommen werden sollen. Was beobachtet wird, ist also nicht nacktes Verhalten, sondern eine Selbstinszenierung, die sich aus kulturellen Artefakten zusammensetzt, die »etwas über das Subjekt aussagen«. 4. Wenn das Ziel des disziplinären Blicks darin bestand, schematisiertes, gleichförmiges Verhalten hervorzubringen, so ist der – subjektive oder institutionelle – Blick der kompetitiven Aufmerksamkeitskultur auf der Suche nach dem Singulären. Interessant ist nur, was singulär ist, das heißt was unvergleichlich, anders, kreativ oder originell scheint: dies gilt für Objekte wie die Artefakte der kulturellen Märkte ebenso wie für die Subjekte, die sich präsentieren. Nur wer in seiner Singularität den Beobachter zu affizieren vermag, hat eine Chance, in den Scheinwerfer der Sichtbarkeit zu geraten. 5. Während die Affektstruktur der Disziplinargesellschaft eine der affektiven Abkühlung und zugleich eine der negativen Affekte der Angst, der Schuld und des erwarteten physischen Schmerzes war, basiert die Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten im Kern auf intensiven positi16 | Vgl. zur Differenz zwischen Leistung und Erfolg Sighard Neckel: Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt a.M. u.a. 2008.

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ven, anziehenden Affekten: Das schauende Subjekt begibt sich auf die Suche nach Reizen und Erlebnissen, das angeschaute Subjekt wird von dem Verlangen nach Anerkennung und Bewunderung angetrieben. Singularitäten in ihrer Performanz sind ein Ort des Enthusiasmus, der vom Star- bis zum Markenkult reicht. Allerdings können die notwendig ungleichen Resultate der Aufmerksamkeitsökonomie zugleich eine komplizierte Struktur negativer Affekte installieren, vor allem von Aggression und Wertlosigkeitsgefühlen angesichts einer als mangelhaft wahrgenommenen eigenen Sichtbarkeit und als maßlos empfundener Aufmerksamkeiten, die wenige andere genießen. Die Eskalation von hate speech in den social media lässt sich nicht zuletzt als eine Reaktion der sichtbarkeitsökonomisch zu kurz Gekommenen gegenüber der sichtbarkeitsökonomischen Prominenz (dem vermeintlichen Establishment der »Meinungselite« beispielsweise) interpretieren. Die Sichtbarkeitsordnung der kompetitiven Singularitäten, die sich in den letzten Jahrzehnten herauskristallisiert, hat damit die panoptistische Sichtbarkeitsordnung zwar nicht vollständig abgelöst, doch bildet sie mittlerweile eine großflächige, eigene Struktur, in der sich die Überlagerung des gesellschaftlichen Rationalisierungskomplexes durch einen Kulturalisierungskomplex manifestiert. Der Unterschied zwischen beiden ist erheblich: Das Subjekt, das in die Sichtbarkeit gezerrt wird, steht jenem gegenüber, das begehrt, gesehen zu werden. Die Standardisierung des Subjekts kontrastiert mit der Arbeit an der Singularität. Der Leistungsmessung steht die Erfolgsökonomie der Aufmerksamkeit gegenüber, der im Kern negativen, abschreckenden die im Kern positive, hervorlockende Affektstruktur. Allerdings sind mit dieser Gegenüberstellung die historisch bisher möglichen Sichtbarkeitsordnungen noch nicht erschöpft. Eine dritte Konstellation will ich abschließend andeuten: die Politisierung der Sichtbarkeit. Politisierungen von Sichtbarkeit bilden keinen machtvollen und großflächigen Komplex, der mit dem Panoptismus oder den kompetitiven Singularitäten wetteifern könnte. Eher handelt es sich um eine temporäre Herausforderung beider genannter Sichtbarkeitsregime, die als eine Art gelegentliches Störfeuer agiert. Wo Sichtbarkeit politisiert wird, werden die Grenzen zwischen bisher Sichtbarem und Unsichtbarem öffentlich thematisiert. Ein Kampf um die Sichtbarkeit von Kollektiven entsteht, gewissermaßen um eine strittige »Aufteilung des Sinnlichen«.17 Wenn das Politische im Gegensatz zur institutionellen Politik bedeutet, dass Kontingenzen geöffnet und das scheinbar Alternativlose zum Gegenstand der Auseinandersetzung wird, dann stellen 17 | Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006; vgl. dazu auch Andrea Mubi Brighenti: Visibility in Social Theory and Social Research, Basingstoke 2010, S. 45-53.

Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen

Sichtbarkeitskämpfe Orte des politischen Konflikts par excellence dar.18 Regelmäßig sind es gesellschaftliche Minderheiten, die diesen Kampf führen, weshalb die amerikanische Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den 1950er und 60er Jahren – die 1952 durch Ralph Ellisons bezeichnend Invisible Man überschriebenen Roman munitioniert wurde – 19 als prominentes historisches Beispiel für eine Sichtbarkeitspolitisierung gelten kann. Interessanterweise hantieren diese Sichtbarkeitspolitisierungen sehr häufig mit dem Medium des Bildes, das heißt auch und gerade der visuellen Sichtbarkeit im engeren Sinne: es geht darum »Gesicht zu zeigen«. Besonders aufschlussreich für die Politisierung der Sichtbarkeit ist die internationale Schwulen- und Lesbenbewegung, die nach den Stonewall Riots 1969 einsetzt. Aufschlussreich ist diese soziale Bewegung deshalb, weil sich in ihr im Laufe des 20. Jahrhunderts eine komplette Umkehrung der Strategien im Umgang mit Aufmerksamkeit beobachten lässt.20 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind männliche Homosexuelle in erheblichem Maße einem disziplinären, in mancher Hinsicht auch biopolitischem Blick ausgesetzt: Sie werden mit dem Ziel der Bestrafung des abweichenden sexuellen Verhaltens – durch staatliche Kontrolle, aber auch in den Massenmedien – in die Sichtbarkeit gezerrt, was sich in einer ganzen Reihe öffentlicher Outing-Skandale in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts manifestiert. Auf den disziplinären Blick reagiert die gesellschaftlich pathologisierte sexuelle Minderheit zunächst größtenteils mit einer Diskretionsstrategie, das heißt mit der Strategie, möglichst unsichtbar zu bleiben und sich auf eine entsprechende Subkultur zu beschränken. Seit den 1970er Jahren wird diese Strategie jedoch komplett umgekehrt. Nun geht es darum, zum Beispiel über öffentliche Demonstrationen, aber auch vermittels der Medien offensiv wahrgenommen zu werden: es geht darum, Gesicht zu zeigen. Dieser Kampf um Sichtbarkeit existiert wiederum in zwei Versionen: eine, die auf Differenz, die andere, die auf Gleichheit setzt. Während in den 1970er Jahren, in der ersten Phase der neuen Schwulenbewegung öffentlich vor allem das Anderssein gegenüber der heteronormativen Ordnung demonstriert wird, geht es vor allem im Rahmen der Bewegung um die Eheöffnung für gleichgeschlechtliche Paare seit den 1990er Jahren international zunehmend darum, offensiv die Gleichheit aller Subjekte – der Mehrheit wie der Minderheit – zu markieren, 18 | Natürlich kann man den Begriff der Politisierung von Sichtbarkeit auch auf andere Bereiche jenseits der Subjekte beziehen, in denen es nicht um die Sichtbarkeit von Kollektiven, sondern um die Sichtbarkeit von Themen und Zusammenhängen geht, die bisher nicht thematisiert wurden. Dort liegt wiederum eine andere Sichtbarkeitsstruktur vor. 19 | Ralph Ellison: Invisible Man, New York 1952. 20 | Vgl. Robert Aldrich: Gay Life and Culture. A World History, London 2006; Sabine Hark: Deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität, Opladen 1996.

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um so Gleichberechtigung zu erlangen – ganz ähnlich der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.21 Die Politisierung der Sichtbarkeit als dritte Sichtbarkeitsordnung hat damit eine eigenständige Struktur, die sich sowohl vom disziplinären Blick als auch von der Ordnung kompetitiver Singularitäten unterscheidet. Der Ausgangspunkt ist nun eine gesellschaftliche Asymmetrie der Aufmerksamkeit, die überwunden werden soll. Da die Unsichtbarkeit einer Gruppe gleichbedeutend mit mangelhafter gesellschaftlicher Anerkennung ist, gilt es mit Hilfe politischer Visibilisierungsstrategien Aufmerksamkeit zu gewinnen. So wie in der Konstellation der kompetitiven Singularitäten ficht auch die Politisierung von Sichtbarkeiten einen Kampf um Aufmerksamkeit aus. Beiden ist im Kontrast zum Disziplinarregime gemeinsam, dass Unsichtbarkeit das Problem und der Wunsch nach Sichtbarkeit die Lösung ist. Es ist deswegen auch kein Zufall, dass sich beide Regime häufig im gleichen massenmedialen Rahmen abspielen. Doch hat der Kampf im Falle der Politisierung eine signifikant andere Struktur: Von Seiten derjenigen, die sich um Sichtbarkeit bemühen, geht es nicht um das Wahrnehmen von spektakulärer Singularität des Einzelnen, sondern um die Anerkennung von Gleichheit. Dabei hat Gleichheit einen doppelten Sinn: Die Gleichheit innerhalb eines Kollektivs – in dem eben alle schwarz oder alle schwul beziehungsweise lesbisch sind – soll ebenso sichtbar werden wie eine extra-minoritäre, geforderte Gleichheit, das heißt die Gleichberechtigung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. Während sich das Individuum in der Ordnung der kompetitiven Singularität als singulär präsentiert, als anders, um in den Genuss der gesuchten Aufmerksamkeit zu kommen, geht es nun darum, als sichtbar werdendes Kollektiv auf eine gemeinsame Lebenssituation aufmerksam zu machen. Sichtbarkeit ist in diesem Kontext kein eigenständiges Kriterium sozialen (Aufmerksamkeits-)Erfolges, sondern Mittel zum (politischen) Zweck. Paradoxerweise zielt die Sichtbarmachung nun nicht darauf ab, sich vom Gleichen durch eine Differenz abzuheben, sondern umgekehrt darauf, das in der Mehrheitskultur als different wahrgenommene als gleichartig und damit der Anerkennung würdig zu demonstrieren. Die Politisierung von Sichtbarkeiten, die gegenwärtig an vielen Orten bedeutsam geworden ist, und bei der es um derart unterschiedliche Gruppen wie Transgender-Personen, Depressive oder behinderte Subjekte gehen kann, nutzt gewissermaßen die gleiche mediale 21 | Natürlich ist der historische Verlauf komplizierter: Die Sichtbarkeitsstrategie nach 1969 wird in Deutschland durch die Sexualreformbewegung der 1920er vorbereitet, die bereits früh die Diskretionsstrategie durchbricht. Dem Gleichberechtigungsstreben seit den 1990ern steht wiederum die Opposition einer radikaleren queer-Bewegung gegenüber, die offensiv auf Differenz gegen Heteronormativität und »Homonormativität« setzt.

Die Transformation der Sichtbarkeitsordnungen

Hardware wie die Ordnung kompetitiver Singularitäten, sie bespielt sie jedoch anders – und teilweise vermischt sie sich auch mit ihr. Denn natürlich: Die politische Sichtbarkeit von bisher unsichtbaren Kollektiven konkurriert mit der Vielzahl der kompetitiven Singularitäten um die gleiche knappe Ressource öffentlicher Aufmerksamkeit. Somit ergibt sich in der Gegenwartsgesellschaft eine komplexe Gemengelage von Sichtbarkeitsordnungen, die weit über das disziplinäre Blickregime hinausgeht, das Foucault für das 18. Jahrhundert im Auge hatte. Die historisch folgenreiche Überlagerung des klassischen Komplexes der Rationalisierung und Disziplinierung durch jenen der Kulturalisierung und Singularisierung hat zur Entstehung einer – medientechnologisch wie ökonomisch gestützten – Sichtbarkeitsordnung kompetitiver Singularitäten geführt, die immer wieder durch eine Politisierung der Sichtbarkeit herausgefordert wird. War Sichtbarkeit zunächst erzwungen, wurde notfalls gegen den Willen der Individuen auch gewaltsam durchgesetzt, so wird sie jetzt von den Individuen begehrt. Zugleich ist sie auf komplizierte Weise und indirekt aber auch wieder erzwungen: Zwar wird man nicht mehr unbedingt in die Sichtbarkeit selbst gedrängt, jedoch zu einer Strategie genötigt, nach Sichtbarkeit zu streben, um als Individuum respektive als Kollektiv sozial existieren zu können. Das alte Ideal, sich dem aufdringlichen, permanenten Blick würdevoll zu entziehen, kann vor diesem Hintergrund in der Spätmoderne nur blankes Unverständnis hervorrufen.

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Kreativität und soziale Praxis

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Sozialtheorie Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften November 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2725-1

Henning Laux (Hg.) Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen« Einführung und Diskussion September 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3125-8

Kolja Möller, Jasmin Siri (Hg.) Systemtheorie und Gesellschaftskritik Perspektiven der Kritischen Systemtheorie August 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3323-8

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Thomas S. Eberle (Hg.) Fotografie und Gesellschaft Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven Juli 2016, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2861-6

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Juli 2016, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Gabriele Klein, Hanna Katharina Göbel (Hg.) Performance und Praxis Praxistheoretische Studien zu szenischer Kunst und Alltag

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Katharina Block Von der Umwelt zur Welt Der Weltbegriff in der Umweltsoziologie Februar 2016, 326 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3321-4

Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur 2015, 464 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2556-1

Florian Süssenguth (Hg.) Die Gesellschaft der Daten Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung 2015, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2764-0

Peter Wehling (Hg.) Vom Nutzen des Nichtwissens Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven 2015, 276 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2629-2

Franka Schäfer, Anna Daniel, Frank Hillebrandt (Hg.) Methoden einer Soziologie der Praxis 2015, 320 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2716-9

Juni 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3287-3

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