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German Pages 434 Year 2014
Lars Bluma, Karsten Uhl (Hg.) Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper?
Histoire | Band 27
Lars Bluma, Karsten Uhl (Hg.)
Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Arbeit – Körper – Rationalisierung. Neue Perspektiven auf den historischen Wandel industrieller Arbeitsplätze Karsten Uhl/Lars Bluma | 9
S UBJEKTIVIERUNG UND DISZIPLINIERUNG Der Körper des Bergmanns in der Industrialisierung. Biopolitik im Ruhrkohlenbergbau 1890-1980 Lars Bluma | 35 „Die schaffende Menschenkraft bewirtschaften“. Zur Schulung und Erziehung von Arbeiter- und Werkskörpern im Ruhrbergbau der 1920er Jahre Dagmar Kift | 73 Arbeiten in der „Konsumgesellschaft“. Arbeit und Freizeit als Identitätsangebote um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Peter-Paul Bänziger | 107
RISIKOREGULIERUNG UND GESUNDHEIT Workers Against Lead Paint. How Local Practices Go Against the Prevailing Union Strategy. France at the th Beginning of the 20 Century Judith Rainhorn | 137
Risikoregulierung am Arbeitsplatz – Zwischen Rationalisierung und Gesundheitsschutz. Ein Problemaufriss zur Geschichte des Arbeitsschutzes am Beispiel der Eisen- und Stahlindustrie zum Ende des 20. Jahrhunderts Nina Kleinöder | 163 Strahlenschutz im Uranbergbau. DDR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich Manuel Schramm | 195 Grenzwertpolitik am Arbeitsplatz: Der Arbeiterkörper im „Mensch-Maschine-Umwelt-System“ zwischen individueller Prävention und Sterberate der Population (1955-1980) Beat Bächi | 219
ARBEITSORGANISATION UND INDUSTRIELLE ORDNUNG Kanalisierte Dynamik, angeordnete Körper. Bewegungsmetaphern, Gesellschaftsordnung und der Industriebetrieb (1920-1960) Timo Luks | 251 Engineers and the Organisation of Work in Belgian Mines (1791-1865) Willemijne Linssen | 283 Das Schreibtischproblem. Amerikanische Büroorganisation um 1920 Christine Schnaithmann | 323
RATIONALISIERUNG ABSEITS DER P RODUKTION: DIE BETRIEBSKANTINE „Schafft Lebensraum in der Fabrik!“: Betriebliche Kantinen und Speiseräume im deutschen Rationalisierungsdiskurs 1880-1945 Karsten Uhl | 361 „Fort mit der Stullenwirtschaft!“: Food and Industrial Discipline in Nazi Germany Mark B. Cole | 397 Autorinnen und Autoren | 425 Dank | 431
Arbeit – Körper – Rationalisierung Neue Perspektiven auf den historischen Wandel industrieller Arbeitsplätze K ARSTEN U HL /L ARS B LUMA
Wo liegen heute die Perspektiven einer Geschichte der Industriearbeit? Über einige Jahre hinweg ging von diesem Themengebiet wenig Reiz aus: Gewiss gab es einige wichtige Detailstudien, aber große methodische Neuerungen blieben weitgehend aus. Letztlich kann dieser Befund nicht verblüffen, da gerade die 1970er und 1980er Jahre ein – damals in diesen Ausmaßen neues – Interesse an der Arbeiter- und Industriegeschichte hervorgebracht hatten, das gleichzeitig von methodischer Innovation mit Strahlkraft auf die gesamte Geschichtswissenschaft geprägt gewesen ist. In Deutschland konnte sich überhaupt erst im Zuge dieser Entwicklung die Sozialgeschichte etablieren. Die Forschungen dieser Jahre bilden die Grundlage dafür, dass an dieser Stelle über neue Perspektiven der Geschichte der Industriearbeit nachgedacht werden kann. So verdanken wir Jürgen Kocka und anderen profunde Kenntnisse über die Sozialstruktur der Arbeiter und Angestellten. Alf Lüdtke hat ab den 1980er Jahren dann das Augenmerk seiner Sozialgeschichte von den Strukturen auf den Alltag verschoben und damit – durchaus nicht ohne Widerstände – in beachtlichem und internationalem Ausmaß die Forschung bis heute befruchtet. David Noble wiederum – um nur einen amerikanischen Sozialhistoriker zu nennen – kann als ein Beispiel der pragmatisch ausgerichteten Sozialgeschichte anglo-amerikanischer Tradition gelten: Machtstrukturen werden am Beispiel des Zusammenhangs zwischen der Einführung neuer Technologien und ausgeweiteter
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Kontrolle des Arbeitsprozesses durch das Management untersucht, aber gleichzeitig an die Alltagsverhältnisse in den Fabriken zurückgebunden.1 Die Notwendigkeit, die Geschichte der Arbeit in diesem Sinne als interdisziplinäres Projekt weiterzuführen und methodisch zu forcieren, wird inzwischen auch von maßgeblichen Vertretern der deutschen Sozialgeschichtsschreibung anerkannt. Jürgen Kocka hat in einem jüngst veröffentlichten Sammelband Beiträge herausgegeben, die die Relevanz einer neuen Sozial- und Kulturgeschichte der Arbeit belegen.2 Die Integration geschlechterhistorischer Fragestellungen in die Geschichte der Arbeit wird ebenso diskutiert wie die Objektivierung der Arbeit in den Diskursen der Sozialwissenschaften und der Anthropologie im 19. Jahrhundert, die visionären Arbeitskonzepte der deutsche Arbeiterbewegung sowie die Bedeutung der Kategorie Vertrauen für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen. Insbesondere weist Kocka auf die tiefgreifenden strukturellen Veränderungen der Arbeit im Laufe der Industrialisierung hin. Dazu zählen die im Laufe des 19. Jahrhunderts stattfindende Separation von Arbeitssphäre und dem Lebensbereich von Haushalt, Familie und Freizeit, ebenso die Differenzierung der Arbeit nach Geschlechtszugehörigkeit und die Entstehung von neuen kollektiven Identitäten. Ganz allgemein macht Kocka auch die zunehmende juristische und staatliche Regulierung der Arbeitssphäre als besonderes Charakteristikum der Industrialisierung aus. So sehr die einzelnen Themen und Aufsätze dieses Sammelbandes auch die aktuellen Debatten innerhalb der Geschichtswissenschaften widerspiegeln, eine konzeptionelle Klammer, die die einzelnen Beiträge verbinden, finden die Leser/-innen nicht. Wir wissen also inzwischen vieles über die Sozialstruktur der Arbeiterschaft, vieles über den Alltag im industriellen Betrieb und inzwischen sogar einiges über die Geschlechterverhältnisse bei der Arbeit – um nur die größte Unterlassungssünde der frühen Arbeitergeschichte zu benennen.3 Selbst-
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An dieser Stelle soll nur auf jeweils eine zentrale Publikation der drei genannten Autoren verwiesen werden, vgl. Kocka: Arbeitsverhältnisse, 1990. Lüdtke: Eigen-Sinn, 1993. Noble: Forces, 1984.
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Kocka: Work, 2010.
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Trotz Stefan Bajohrs früher Studie zur Sozialgeschichte der Arbeiterinnen in Deutschland und kulturhistorischer Innovationen in diesem Bereich seit den 1990er Jahren, wie z.B. durch Kathleen Canning, gilt grundsätzlich immer noch
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redend bestehen in allen Bereichen weiterhin Forschungsdesiderate. Hier soll es aber im Folgenden vor allem um die Möglichkeit – und wie wir meinen: die Notwendigkeit – gehen, die Fragestellung zu verschieben bzw. zu erweitern. Neben wichtigen Erträgen kennzeichnet die klassische Arbeiter- und Industriegeschichte auch die – letztlich unvermeidliche – Neigung zu einigen blinden Flecken. Die genannte Vernachlässigung der Geschlechtergeschichte mag die augenfälligste Leerstelle gewesen sein, damit einher ging der Mangel an dem gesamten Themenbereich, dem sich heute die Körpergeschichte widmet. Insbesondere die von den Autoren und Autorinnen unseres Bandes diskutierten Themenfelder der Raumordnung industrieller Arbeitsplätze, der Disziplinierungs- und Subjektivierungsmechanismen in den Arbeitsverhältnissen sowie der Regulierungen der Arbeiterkörper erweisen sich als fruchtbar, um der etablierten Sozial- und Kulturgeschichte neue Perspektiven hinzuzufügen. Allerdings gibt es auch weniger offensichtliche Kritikpunkte, auf die wir vor allem die Aufmerksamkeit lenken wollen. So möchten wir die These aufstellen, dass es durchaus große Erträge verspricht, sich erneut dem Thema der Rationalisierung zu stellen. Das ist vielleicht ein wenig überraschend: Die Rationalisierung stand oft im Zentrum der klassischen Industrie- und Arbeitergeschichte; zunächst vor allem – etwas enthoben von der sozialen Realität – in Form der Rationalisierungsdebatte der Zwanziger Jahre, dann aber auch in der Umsetzung von Rationalisierungsmaßnahmen, die sich in der Betriebspraxis letztlich seit Beginn der Industrialisierung feststellen lassen.4
Eric Weitz’ Befund, dass die deutsche Arbeitergeschichte dazu neigt, die Kategorie Gender zu vernachlässigen, Bajohr: Hälfte, 1979. Canning: Languages, 1996. Weitz: Trains, 2003. Vielfältige Anregungen dazu, wie sich eine Geschlechtergeschichte der Arbeit schreiben lässt, gibt seit Jahrzehnten Alice Kessler-Harris. Kessler-Harris: Labor History, 2007. 4
Aus der Vielzahl der Literatur zur Rationalisierungsdebatte sei nur auf Charles Maiers auch 40 Jahre nach seiner Erstpublikation immer noch anregenden Aufsatz und auf Mary Nolans Monographie zur Amerikanisierungsdebatte im Deutschland der Zwischenkriegszeit hingewiesen. Maier: Taylorism, 1970. Nolan: Visions, 1994. Die Praxis der Rationalisierung haben Kleinschmidt, am Beispiel einer regionalen Branche, und Homburg, am Beispiel des Unternehmens Siemens, überzeugend dargestellt. Kleinschmidt: Rationalisierung, 1993. Homburg: Rationalisierung, 1991.
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Die entscheidende Frage ist, ob das den meisten Studien zugrunde liegende Konzept von Rationalisierung nicht eine gewisse Engführung des Blickes mit sich bringt. Harry Braverman und der Schule der Labor Process Theory ist – trotz einiger historischer Ungenauigkeiten – das große Verdienst zuzuschreiben, das Verständnis von der Rationalisierung in einem ersten Schritt vertieft zu haben.5 Im Gegensatz zur Selbstdarstellung und -wahrnehmung der Rationalisierungsprotagonisten wie Frederick Taylor, die ihre Konzepte als Teil eines Programms zur Effizienzsteigerung der industriellen Arbeit verstanden hatten, rückte Braverman die soziale Funktion von Taylors Scientific Management ins Zentrum seiner Untersuchung. Die bestand nach Braverman in erster Linie darin, die Kontrolle über den Arbeitsprozess zu gewinnen: Während bis ins 20. Jahrhundert hinein auch die Fabrikarbeit von mehr oder weniger autonom arbeitenden HandwerkerFacharbeitern geprägt gewesen sei, hätte das Scientific Management einen großen Umbruch eingeleitet, indem die Planung der Arbeit von der Werkbank entfernt worden sei. Nun hätten die Ingenieure in den Arbeitsvorbereitungsbüros die Kontrolle über den Arbeitsprozess übernommen, während ihre Vorgänger eine Generation zuvor noch von den Fachkenntnissen der Facharbeiter und Meister abhängig gewesen seien. Die häufig gefallene Kritik an Bravermans Ansatz, er idealisiere unzutreffend die Arbeitsverhältnisse in den frühen Fabriken, sei hier nur kurz erwähnt. Wichtiger scheint uns für unser Vorhaben einer Neukonzeptionalisierung der Geschichte des industriellen Arbeitsplatzes der Befund, dass Braverman das Vokabular der Rationalisierungsgeschichte zwar um den Begriff der Kontrolle erweitert hat, dass nun allerdings häufig Effizienz auf der einen Seite und Kontrolle auf der anderen Seite die gesamte Brandbreite der Rationalisierung auszumachen scheinen. Hier setzt unsere Kritik an: Implizit bestimmt zumeist das Paradigma der Sozialdisziplinierung den Blick auf das historische Phänomen der Rationalisierung. Dabei ist es fraglich, ob der Ansatz der Sozialdisziplinierung, der nicht ohne Grund in der Forschung zur Frühen Neuzeit entstanden ist, überhaupt die zentrale Form der Macht im 19. und 20. Jahrhundert ausmachte. Wir plädieren in der Folge für einen Begriff von Rationalisierung, der die Blickbegrenzung auf Kontrolle und Disziplinierung überschreitet, und jenseits dieses Bereiches andere Machtformen ins Zentrum rückt. In
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Vgl. Braverman: Arbeit, 1977.
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diesem Zusammenhang gilt es die – vereinzelt bereits angesprochene – Frage genauer zu untersuchen, inwiefern die Rationalisierung und die sogenannte Humanisierung der Arbeit nicht im Gegensatz zueinander standen (ein solcher wird in der Forschung zumeist einfach vorausgesetzt). Ein geeigneter Ansatz zu diesem Unterfangen stellt Michel Foucaults Begriff der Regierung (gouvernementalité) dar. Gemeinsam ist den Studien zur gouvernementalité, dass sich die Analyse der Macht-Wissen-Komplexe sowohl auf das politische Handeln als auch auf die Produktion sozialer Realität durch Diskurse stützt.6 Diese methodische Perspektive lässt eine Verknüpfung politischen Handelns und der Ausbildung von Institutionen mit den spezifischen Ausformungen diskursiver Formationen zu, indem sie das Netz von Kräfteverhältnissen, Interessen und Strategien der Akteure in die konstruktive Macht der Diskurse einbettet. Gouvernementalité/Regierung beschreibt die Art und Weise, auf welche die Lenkung der Individuen durch andere mit ihrer Selbstführung verbunden wird.7 Es geht also um die „Macht, Subjekte zu einem bestimmten Handeln zu bewegen“.8 Keineswegs wird damit unterstellt, dass Disziplin und Kontrolle keine Rolle mehr im industriellen Betrieb gespielt hätten. Vielmehr geht es darum, jeweils dem Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Formen der Macht nachzugehen und nicht die Dominanz einer Form a priori vorauszusetzen. Mit diesem methodischen Konzept ist auch eine historische Rekonstruktion der industriellen Körperpraktiken und -identitäten möglich, die diese als eine Form politischer Technologie beschreibt, in der ökonomische Handlungsprogramme, moralische Normen und Disziplinierungsmechanismen der Individuen entwickelt sowie medizinische Handlungsfelder besetzt wurden, um im Zeichen von Fürsorge und Kontrolle den Körper des Industriearbeiters im Hinblick auf seine Produktivität zu definieren und zu modellieren. Das Wissen um den arbeitenden Körper und die diskursiven Zuschreibungen der Akteure waren also verknüpft mit sozialen und institutionellen Techniken der Regulierung, Kontrolle und Disziplinierung, die in
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Zur gouvernementalité siehe: Lemke: Gouvernementalität, 2007. Bröckling/ Krasmann/Lemke: Gouvernementalität, 2000. Lemke: Neoliberalismus, 2000. Krasmann/Volkmer: Gouvernementalität, 2007.
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Vgl. Foucault: Sicherheit, 2006. Foucault: Biopolitik, 2006.
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Bröckling/Krasmann/Lemke: Gouvernementalität, 2000, S. 29.
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ihrer Gesamtheit ein biopolitisches Dispositiv bilden. Biopolitik meint also „eine Technik der Macht, die durch Förderung, Steigerung und Unterstützung des Lebens dasselbe regiert.“9 Die Manifestationen der Diskurse sind nicht nur in Texten zu suchen, sondern auch in den Raumordnungen, die sich ebenso in der Architektur ausdrückten, wie in der gesamten Organisation der Räume durch Regularien, Verhaltensvorschriften sowie der Anordnung von Menschen und Maschinen.10 In Räumen werden die Machtstrukturen sichtbar, da sie den Subjekten einen wohldefinierten Platz zuweisen. Daraus ergibt sich die besondere Bedeutung der Gestaltung des industriellen Arbeitsplatzes als ein inhaltlicher Schwerpunkt, der in den Einzelbeiträgen besondere Beachtung findet.11 Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, dieser Band betrete völliges Neuland. Einerseits stößt er in Lücken der Forschung, andererseits kann er aber auch an Ansätze der letzten fünfzehn Jahre anschließen. So haben etwa Thomas Welskopp und Karl Lauschke bereits in ihren Überlegungen zu einer Untersuchung der „Mikropolitik im Unternehmen“ festgehalten, dass der Produktionsprozess „nicht nur auf Zwang und Kontrolle beruht“, sondern ergänzend auch auf die selbstverantwortliche Tätigkeit der Arbeiter/ -innen und einen Konsens zwischen Management und Belegschaft setzen muss.12 Die mikropolitischen Ansätze der Unternehmensgeschichte haben dabei explizit zum Ziel, die Arbeiterschaft nicht mehr nur als abstrakte „Personenaggregate“ zu verstehen, sondern diese wieder in ihrem betrieblichen Handlungskontext zu stellen und die Handlungen der betrieblichen Sozialgruppen selbst als einen „integralen Bestandteil interaktiver Praxis“ ernst zu nehmen.13 Ein solches Vorgehen beinhaltet die Notwendigkeit, die Arbeiter/-innen nicht als reine Objekte strategischen Managementhandelns,
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Muhle: Genealogie, 2008, S. 10.
10 Foucault: Überwachen, 1976. 11 Eine Pionierstudie zur Geschichte des Fabrikraums hat Lindy Biggs vor 15 Jahren veröffentlicht; sie konzentriert sich dabei allerdings in erster Linie auf das Konzept der „rationellen Fabrik“ und seinen Einfluss auf Ford. Biggs: Factory, 1996. 12 Lauscke/Welskopp: Einführung, 1994, S. 12. 13 Ebd., S. 8. Welskopp: Betrieb, 1996, S. 124f.
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sondern als Akteure und Akteurinnen aufzufassen.14 Das Unternehmen, verstanden als Kontext und soziale Realität eines „komplexen Interaktionsund Beziehungssystems“,15 könnte somit eine zentrale Analyseebene sein, die eine synthetisierende Industriegeschichte ermöglicht. Allerdings bleibt in diesem mikropolitischen Konzept, das explizit einfordert, das Spannungsverhältnis zwischen Struktur und Handlungsfähigkeit in den Blick zu nehmen,16 weiterhin offen, wie kontingent verstandene Handlungen im jeweils konkreten Kontext eines Betriebes auf eine übergeordnete Rationalität verweisen. Diesem Spannungsverhältnis gehen auch die Beiträge dieses Bandes nach. Insbesondere die Beziehungen zwischen Diskurs und Praxis sollen dabei aufgespürt werden. Wichtige methodische Anregungen für dieses Feld können Richard Biernackis Ansatz einer neuen Kulturgeschichte der Arbeit entnommen werden. Kultur meint dabei ein Praxissystem mit einer ihm innewohnenden symbolischen Logik.17 Das Innovative an Biernackis Vorgehen, das von der deutschen Geschichtsschreibung kaum gewürdigt wurde, ist die Frage, inwieweit Vorstellungen von dem Wesen der Arbeit in der Fabrik selbst entstanden sind. Während in Deutschland eine Definition von Arbeit vorgeherrscht habe, die in starker Anlehnung an feudale Traditionen Arbeit als Arbeitskraft oder Dienstleistung verstanden habe, wurde Arbeit in Großbritannien stets von seinem Ertrag, dem Produkt, her definiert. Diese unterschiedlichen Denksysteme resultierten nicht nur aus den Fabrikpraktiken, sondern führten auch wiederum zu weiteren konkreten Unterschieden wie verschiedenen Lohnsystemen, Überwachungspraktiken oder Sanktionssystemen. In diesem Sinne ist es Ziel des Bandes, nicht die Wirkungen eines Diskurses auf die Betriebspraxis (oder vice versa) zu untersuchen, sondern die gegenseitige und gleichzeitige Konstituierung von Diskurs und Praxis in den Blick zu nehmen. Dabei kann auf den Überlegungen des Historikers Alf Lüdtkes zum „eigen-sinnigen“ Verhalten der Arbeiter/-innen aufgebaut werden. Dieser „Eigen-Sinn“ sei weder vom „Übergang zur Mehrmaschinenbedienung […] noch durch Zeitkontrollen am Fabriktor oder am Arbeitsplatz, aber auch
14 Ebd., S. 121. 15 Plumpe: Stichworte, 1992, S. 10. 16 Welskopp: Arbeitergeschichte, 2000, S. 17. 17 Vgl. Biernacki: Fabrication, 1995, S. 475.
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nicht durch politischen Terror im Faschismus ausgeschaltet“ worden: „Eigensinn blieb ein Element des Arbeiterverhaltens.“18 Auch von Rationalisierungsmaßnahmen seien diese „Alltagspraktiken“, wie etwa „Herumgehen, Sprechen, momentanes ‚Abtauchen‘ oder Tagträumen“ sowie „Neckereien“, weitgehend unbetroffen geblieben.19 Sowohl angelernte wie auch qualifizierte Arbeiter/-innen hätten dadurch Eigen-Sinn gezeigt, als sie „an den Arbeitsplätzen immer wieder physischen wie sozialen Raum für sich selbst“ besetzt hätten. 20 In Anschluss an das Regierungskonzept Foucaults lässt sich wiederum das Konzept des proletarischen Eigen-Sinns modifizieren. Es ist zu vermuten, dass es im 19. und 20. Jahrhundert in erster Linie nicht um die Disziplinierung von Eigen-Sinn ging, sondern vielmehr um die Gestaltung konvergenten Eigen-Sinns. Die Handlungsfähigkeit der Arbeiter/-innen war einerseits keineswegs vom Diskurs determiniert, andererseits konnte aber auch eigen-sinniges Verhalten durchaus vom Diskurs vereinnahmt werden. Untersucht werden sollten also stets die Versuche einerseits des Managements, die Handlungsspielräume der Arbeiter/-innen zu gestalten und andererseits der Arbeiter/-innen, eigenen sozialen Raum zu beanspruchen. Eine zu enge Vorstellung von einer Dichotomie von Disziplinierung/Repression auf der einen Seite und Widerstand auf der anderen Seite gilt es zu vermeiden: Das Management schaffte durchaus gezielt Freiräume für selbstständiges Handeln der Arbeiter/-innen, sofern dies den Produktionszielen entgegen zu kommen schien. Eigen-sinniges Verhalten der Arbeiter/-innen wiederum musste keinesfalls diesen Zielen entgegenstehen. Damit einhergehend soll – wie bereits angesprochen – auch die vermeintliche Dichotomie von Rationalisierung und Humanisierung in Frage gestellt werden. So hat etwa Bruce Kaufman in seiner Geschichte des Personalmanagements darauf hingewiesen, dass das Ziel einer Humanisierung der Arbeit von Beginn an gleichzeitig auf eine Effizienzsteigerung zielte, die dadurch erreicht werden sollte, dass individuelle Potentiale der Arbeiter freigelegt werden würden.21 Besonders wichtig erscheint uns der Hinweis Kaufmans, dass Führungsstile sich nicht in einer kontinuierlichen Linie –
18 Lüdtke: Eigen-Sinn, 1993, S. 257. 19 Ebd., S. 378. 20 Ebd., S. 377. 21 Vgl. Kaufman: Managing, 2008, S. 25.
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weg von Disziplin, hin zu mehr Selbstverantwortung der Arbeiter/-innen – verschoben haben. Vielmehr ist eine wechselhafte Entwicklung zu beobachten, die stark von der Wirtschaftslage abhing, was sich besonders deutlich in der Weltwirtschaftskrise zeigte, als erneut die zwischenzeitlich deutlich eingeschränkte Disziplinarmacht der Vorarbeiter gestärkt wurde.22 Grundsätzlich unterscheidet Kaufman zwei Managementstrategien: Einerseits wurden Arbeiter/-innen als Tagelöhner (hired hands) betrachtet. In kurzfristiger Perspektive ging es darum, bei möglichst geringen Lohnkosten einen möglichst hohen Ertrag zu erzielen. Es gab keine Personalabteilungen, die Aufgabe der Personalführung wurde den Vorarbeitern und ihrem Disziplinarsystem überlassen. Am anderen Ende des Spektrums stand eine Personalführung, die die Arbeiter/-innen als Humankapital (human resources) ansah. Im Hinblick auf ein grundsätzlich langfristig angelegtes Beschäftigungsverhältnis erschien es den Unternehmen lohnenswert, das Potential der Arbeitskräfte auszubauen; die Fähigkeiten und die Motivation der Arbeiter/-innen gerieten stärker in den Blick, spezielle Personalabteilungen wurden eingerichtet.23 Es lässt sich vermuten, dass mit Wahl der Personalmanagementstrategie – Mischformen waren nicht selten – eine Dominanz unterschiedlicher Machttypen im Betrieb einherging: Tagelöhner erforderten zumeist Disziplinierung und Kontrolle, während Arbeiter/innen als Humankapital vorwiegend als ‚nützliche Individuen‘ zum Ziel der gouvernementalen Macht wurden. Ein wesentliches Merkmal der in diesem Band versammelten Studien zur Geschichte der Industriearbeit ist ein Zugang, der Ansätze der historischen Teildisziplinen miteinander verbindet: Es gilt Fragestellungen der Arbeitergeschichte mit denjenigen der Unternehmensgeschichte zu verbinden, die vermeintliche Kluft zwischen Sozial- und Kulturgeschichte zu überbrücken und Anregungen aus der Geschlechter-, Körper- und Technikgeschichte zu integrieren. Eine historische Analyse von „Dispositiven der Arbeit“, in denen sich die Verknüpfung von Wissen und Macht in der Transformation von Regeln, Traditionen, Institutionen, Behörden und Akteuren sowie der Gestaltung der Lebens- und Arbeitsumwelt manifestierte, könnte einen wichtigen Beitrag für eine methodische Klammer trotz aller Multiperspektivität der oben genannten historischen Disziplinen liefern.
22 Vgl. ebd., S. 273f. 23 Vgl. Kaufman: Hired Hands, 2010, S. 12ff.
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Demnach war die Industrialisierung geprägt von einer tiefgreifenden Transformation der Arbeitspraxis, die vor allem von der Regulierung, Mechanisierung und Rationalisierung der Arbeitsprozesse gekennzeichnet war. Die industrielle Arbeitspraxis schuf ein neues Regime der Arbeit, das durch permanente technische und organisatorische Rekonfigurationen des Arbeitsplatzes den Arbeiter/-innen entsprechende Anpassungsleistungen abverlangte. Die Beiträge dieses Sammelbandes setzen einen inhaltlichen Schwerpunkt auf die historische Analyse des industriellen Arbeitsplatzes als komplexes Ensemble von Körpern, Maschinen und Arbeitsprozessen, welches neue Körper-, Raum- und Wissensordnungen produzierte. Insbesondere wird in den Einzelbeiträgen diskutiert, wie innerhalb des industriellen Arbeitsregimes die soziale Kontrolle der Arbeiter und ihrer Körper organisiert und verwirklicht wurde, bzw. welche Subjektivierungsmechanismen tätig wurden. Anschließend an Michel Foucault kann der industrielle Arbeitsplatz also als ein spezifisches Macht-Wissen-Gefüge interpretiert werden, welches sich in der sozialen Praxis der Arbeit manifestierte. Die Subjektivierungs- und Objektivierungsprozesse, die sich in der sozialen Praxis industrieller Arbeit als spezifische Verknüpfung von Körperkonzepten und -identitäten, Institutionen, Infrastrukturen sowie sozialen, medizinischen und ökonomischen Praktiken und Diskursen manifestierten, stehen im Mittelpunkt der ersten drei Beiträge dieses Sammelbandes. Lars Bluma plädiert, anschließend an Michel Foucaults Konzept der Biopolitik, für eine Körpergeschichte der Arbeit, die er exemplarisch für den Ruhrbergbau zwischen 1890 und 1980 skizziert. Er untersucht in seiner Längsschnittanalyse insbesondere die dynamischen Wechselwirkungen von bergmännischer Arbeitsplatzgestaltung als Etablierung sozialer Arbeitspraktiken mit den körperbasierten Selbstwahrnehmungen, Zuschreibungen und Mentalitäten der Bergmänner. Seine These ist, dass sich in der Hochindustrialisierung ein grundsätzlicher Wandel feststellen lässt, der eine neues biopolitisches Ordnungsgefüge entstehen ließ, das heterogene Akteure, wie Bergbehörden, Unternehmer, Bergleute, Knappschaften, Mediziner usw., umfasste und die Regulierung bzw. Regierung des bergmännischen Körpers zum Ziel hatte. In diesem Akteurnetzwerk wurde der bergmännische Körper und dessen Arbeitsumwelt insbesondere im Hinblick auf seine Produktivität, Gesundheit, Effizienz und Widerständigkeit bzw. seines Eigen-Sinns problematisiert.
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Die Problematisierung einer „optimalen Wirtschaftlichkeit“ im Bergbau wurde im Rahmen der Rationalisierungsdebatten nach dem Ersten Weltkrieg von den Akteuren intensiviert. Wie Dagmar Kift in ihrem Beitrag zeigt, ging es in dieser Debatte nicht nur um Fragen der Mechanisierung und rationalen Organisation des Bergbaus, sondern auch um die „Bewirtschaftung der schaffenden Menschenkraft“. Am Beispiel des ganzheitlichen Reformprogrammes Carl Arnholds, der die industrielle Berufserziehung als Kernelement der Rationalisierung konzipierte, zeigt Kift die Versuche der Bergbauindustrie, den Arbeiter und dessen Körper als Teil einer organischen Werksgemeinschaft zu definieren. Die Ausbildung und Erziehung des Bergarbeiternachwuchses sollte dabei nicht begrenzt sein auf dessen bergmännische Berufskompetenzen im engeren Sinne, sondern umfasste ebenso Charakterformung, Körperbeherrschung und Freizeitgestaltung bis hin zur Integration der gesamten Familie in das Ausbildungskonzept. Arnholds Industriepädagogik verband sowohl disziplinierende, wie z.B. militärischen Drill, als auch subjektivierende Elemente, die auf eine möglichst starke Identität des Arbeiters mit dem „Werkskörper“ als organische Gemeinschaft zielte. Dieses harmonisierende Sozialkonzept von Industriearbeit beschreibt Kift als ein neues Dispositiv der Arbeit, welches jedoch am Widerspruch scheitern sollte, einerseits den Arbeiter als Subjekt ansprechen zu wollen, aber andererseits mit Leistungsdruck, militärischen Umgangston und körperlichen Drill diesen wieder in die Rolle eines passiven Objektes zu drängen. Auch hier zeigt sich, dass den disziplinierenden Effekten industrieller Ordnungskonzepte und deren vielfältige Praktiken der Machtausübung trotz aller Zustimmung der Arbeiter zu bestimmten Maßnahmen, wie Unfallverhütung, betrieblicher Sozialpolitik und Freizeitgestaltung, durch widerspenstige und widerständige soziale Praktiken Grenzen gesetzt wurden. Ohne Zweifel bestimmte die Arbeit als soziale Praxis und ideologisches Leitbild in der Industrialisierung die Selbstwahrnehmung und Identität der einzelnen Subjekte als Teil einer sich als produktiv verstehenden Gesellschaft. Die Durchbrechung dieses Produktivitätsparadigmas wird in der Sozialgeschichte gemeinhin mit dem Übergang von der Industriegesellschaft hin zur Freizeit- und Konsumgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verortet. Arbeit, so z.B. Andreas Wirsching, verlor in diesem Prozess zunehmend ihre identitätsstiftende und subjektkonstituierende Funktion zu
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Gunsten von konsumistischen Leitbildern und Identitäten.24 Peter-Paul Bänziger setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit dieser These auseinander indem er sogenannte Egodokumente junger Arbeiter/-innen und Angestellter zwischen 1910 und 1970 analysiert. Aus den ihm vorliegenden Briefen, Tagebüchern und Berufsschulaufsätzen kann er die unterschiedlichen Subjektivierungs- und Identitätsfaktoren rekonstruieren. Bänziger stellt fest, dass die Annahme eines strikten Dualismus zwischen Industrie- und Konsumgesellschaft mit ihren je eigenen Identitätsangeboten zu differenzieren und zu revidieren sei. Insbesondere die herangezogenen Berufsschulaufsätze aus den 1950er Jahren zeigen, dass die konkreten Arbeitsplatzbedingungen der Arbeiter und Angestellten weiterhin als zentrale Erfahrungen der Subjektkonstitution zu gelten haben. Von einem paradigmatischen Bruch zwischen Konsum- und Industriegesellschaft kann also keine Rede sein. Vielmehr ergänzen Konsum aber auch Familien- und Intimbeziehungen je nach biographischer Disposition die produktivitäts- und arbeitsorientierten Identitätsangebote. Daran anschließend ergibt sich die Frage, ob der Wandel der industriellen Arbeitsstrukturen und insgesamt der gesellschaftliche Transformationsprozess der Nachkriegsjahre nicht besser als ein Wandel der Menschenführung, oder, wie Foucault es ausdrücken würde, der Regierung beschrieben werden kann, in dem repressive Disziplinierungen als vorherrschende Form der Machtausübung am Arbeitsplatz abgelöst werden durch weichere, indirekte Modi der Führung, die auf die Einsicht der Subjekte und deren Selbstführung bauen. Allerdings lassen sich Vorformen dieser Selbstführung durchaus in der Ära der Hochindustrialisierung finden. Von einer solchen Personalpraktik, die darauf setzte das Selbstmanagement der Arbeiter zu aktivieren, zeugt das Foto auf dem Umschlag dieses Sammelbandes: Über einer Abteilung des Kölner Maschinenbauunternehmens Humboldt-Deutz hing ein Schild mit der Aufschrift „Wir prüfen u. kalkulieren selbst!“. Die Fotografie entstand ca. 1938, aber bereits seit Ende der 1920er Jahre wurden, zunächst in der Motorenfabrik Oberursel, einzelne Arbeiter zu „Selbstkontrolleuren“ ernannt. Es handelte sich um Facharbeiter, die als zuverlässig eingeschätzt und von der Kontrolle ihrer Arbeit befreit wurden. Ab 1935 war es für diese Männer zusätzlich möglich, zu „Selbstkalkulatoren“ ernannt zu werden. Dann wurden sie von der Vorkalkulation ihrer Arbeit befreit und konnten ihre Akkorde selbst festlegen.
24 Wirsching: Work, 2011.
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Keinesfalls handelte es sich hier um eine vollständige Übertragung der Verantwortung: Nur ausgewählte Facharbeiter bekamen dieses Privileg, gelegentliche Kontrollen blieben zudem bestehen. Darüber hinaus drohte ihnen bei Fehlverhalten der Verlust des Status des Selbstkontrolleurs bzw. -kalkulators.
Abbildung 1: „Wir prüfen u. kalkulieren selbst!“ Arbeiter im Werk Deutz, ca. 1938 (Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Sign. 107-19-1, Nr. 3). Dennoch zeigt sich hier das Ziel der Betriebsleitung, neue Wege des Personalmanagements einzuschlagen, um das Problem zu beseitigen, dass die Arbeiter den Akkord in der Regel nicht als gerecht ansahen: Die Akkordfestsetzungen eines Kollegen versprach hier eine gewisse Abhilfe. Externe Kontrollen und Überwachungsmaßnahmen waren, so hielt die Betriebsleitung explizit fest, kein hinreichendes Mittel der Personalführung. Die neuen Methoden hingegen gingen über das Ziel einer Internalisierung der Disziplin hinaus und versprachen eine Steigerung der Motivation und eine Freile-
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gung subjektiver Potentiale.25 Es lassen sich also historische Vorgänger finden für die vermeintlich spezifisch postfordistische Form des Arbeitskraftunternehmers, die die Soziologen Pongratz und Voss herausgearbeitet haben.26 In diesem Sinne gilt es zu fragen, was genau das Wesen des „fordistischen Jahrhunderts“ ausmachte und wann es endete. 27 Ähnliche Ergebnisse bezüglich des Wandels der Regierungstechnologie hin zur Selbstregierung der Subjekte finden sich in den Beiträgen von Bluma, der im medizinischen Präventionsgedanken der Nachkriegsjahre das selbstverantwortliche Subjekt ebenso verankert sieht, wie Bächi in der Grenzwertdiskussion der 1970er Jahre, anknüpfend an Jürgen Link, den Übergang von einem fixen, stabilen Protonormalismus zu einem dynamischen, flexiblen Normalismus ausmacht.28 Eine Körpergeschichte der Industriearbeit hat ihr Thema verfehlt, wenn sie sich ausschließlich mit dem produktiven Körper auseinandersetzen würde. Gerade für die Industrialisierung als historische Epoche zeigt sich gleichsam die Kehrseite des Produktionsparadigmas, nämlich die Pathologisierung des Arbeiterkörpers. Es ist erstaunlich, dass trotz der in den letzten Jahren feststellbaren Zunahme an Veröffentlichungen zur Geschichte der Berufskrankheiten und Unfällen die Thematik der „industriellen Pathologie“ kaum in der Sozialgeschichte der Arbeit oder der Arbeiterbewegung integriert worden ist. Noch immer wird die Arbeiterschaft vor allem als soziale Klasse über soziökonomische Merkmale, wie Beruf, Einkommen, Lebenshaltung usw. definiert. Selbst in Abhandlungen zum Arbeitsalltag bzw. zur Arbeiterkultur fehlen Hinweise auf Krankheitsdispositionen der Arbeiterschaft und deren Auswirkungen auf die Entstehung von Selbstwahrnehmungen und Identitäten. Zumindest Fragen der Arbeitssicherheit und Unfallentwicklung haben (im geringen Maße) Eingang gefun-
25 Genauer zu diesen Entwicklungen bei Humboldt-Deutz: Uhl: Scientific Management, 2011. 26 Vgl. Voß/Pongratz: Arbeitskraftunternehmer, 1998. 27 Hachtmann/von Saldern: Jahrhundert, 2009. 28 Link: Normalismus, 2009. Anschließend daran wäre zu überlegen, ob Gilles Deleuzes These, dass sich nach dem zweiten Weltkrieg die Disziplinargesellschaften in Kontrollgesellschaften mit metastabilen und koexistierenden Zuständen verwandelt haben, für die Transformation der Industriearbeit nach dem zweiten Weltkrieg Anwendung finden kann. Deleuze: Postskriptum, 1993.
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den in die Geschichte der Arbeit.29 Dieses Defizit hat Klaus Weinhauer schon 1994 benannt,30 allerdings ist seitdem anders als z.B. in der englischsprachigen Sozialgeschichtsschreibung dieses Thema weiterhin nur sporadisch aufgegriffen worden.31 Es kann hier nur spekuliert werden, ob eventuell die in Deutschland fest etablierten disziplinären Grenzen zwischen Sozial-, Arbeiter-, Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte auf der einen Seite und der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte auf der anderen Seite dieses Forschungsdefizit begünstigt haben. Insbesondere die Sozialgeschichte mit ihrem interdisziplinären Selbstverständnis steht hier in der Pflicht, stärker als bisher Ergebnisse der Wissenschafts- und Medizingeschichte zu rezipieren und zu integrieren. Insbesondere sei hier auf die Schriften Philipp Sarasins und Jakob Tanners verwiesen, die sich mit den vielfältigen Beziehungen von Körper und Medizin mit den sozioökonomischen und kulturellen Phänomenen der Industrialisierung auseinandergesetzt haben.32 In dem vorliegenden Sammelband beschäftigen sich vier Beiträge mit dem Problem der Risikoregulierung und Gesundheit in der industriellen Arbeitswelt. Die Studien behandeln Fragen des Arbeitsschutzes in verschiedenen Branchen zu unterschiedlichen Phasen des 20. Jahrhunderts. Zum einen wird in den Abhandlungen gezeigt, welche unternehmerischen Motivationen jeweils dem Arbeitsschutz zugrunde lagen und welche Konzepte vom arbeitenden Körper damit einhergingen. Zum anderen gerät die Perspektive der Arbeiter/-innen in den Blick: Die Arbeitspraxis entsprach – kaum überraschend – nicht unbedingt den Arbeitsschutzvorschriften. Judith Rainhorn weist am Beispiel der französischen Farbenindustrie auf, dass – zumindest in Frankreich – erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts die historischen Bedingungen für umfassende Arbeitsschutzregelungen gegeben waren. Zuvor hatte die syndikalistisch geprägte französische Gewerkschaftsbewegung keinerlei Bemühungen unternommen, die kapitalistischen Arbeitsbedingungen zu reformieren: Das kapitalistische System an
29 Überblicksartig: Weber: Arbeitssicherheit, 1988. 30 Weinhauer: Unfallentwicklung, 1994. 31 Exemplarische für die englische Sozialgeschichtsschreibung: Mills: Regulating Health, 2010. McIvor/Johnston: Miners’ Lung, 2007. Beier: Own Good, 2008. 32 Exemplarisch: Sarasin: Reizbare Maschinen, 2001. Sarasin/Tanner: Physiologie, 1998.
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sich sollte überwunden werden, gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen galten als sekundäre Aspekte der Ausbeutung. Die besonderen Gefährdungen, die mit der Herstellung und Anwendung des Bleianstrichs einhergingen, führten zu einem Bewusstseinswandel innerhalb der Spezialgewerkschaft, die in der Folge zu einer neuen Bewertung des Arbeitsschutzes in der Arbeiterbewegung an sich führte. Unterstützung erfuhr die Bewegung zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse dabei auch von einigen progressiven Unternehmern; der Arbeitsschutz wurde über die gewerkschaftlichen Interessen hinausgehend zu einem humanistischen Anliegen. Die Verbindung von Rationalisierung und „Humanisierung“ der Arbeit nimmt ebenfalls Nina Kleinöder in den Blick. In ihrer Studie zum Gesundheitsschutz in der bundesdeutschen Eisen- und Stahlindustrie kann Kleinöder einerseits Kontinuitäten zum frühen 20. Jahrhundert aufzeigen, zum anderen gewisse Verschiebungen sichtbar machen. Auf der intentionalen Ebene wurden beispielsweise Sicherheitsaspekte in der Tradition der frühen Rationalisierungsbewegung bereits bei der Planung von Arbeitsplätzen berücksichtigt. Weiterhin führte auch rein funktional die Automatisierung, wie andere technische Rationalisierungsmaßnahmen zuvor, quasi nebenbei zu einer Verringerung von Gefahrenquellen. Andererseits entstanden im Zusammenhang mit der Automatisierung neue körperliche und psychische Belastungen, die mit der Verschiebung der primären Aufgaben auf Überwachungs- und Steuerungsprozesse zusammenhingen. In diesem Sinne wandelte sich die Arbeitsbelastung mit dem geänderten Verhältnis von Mensch zu Maschine: Die Arbeiter/-innen waren nur noch von abnehmender Bedeutung für das Gelingen der Arbeitsroutine – ihre Hauptaufgabe lag nun auf dem Störfall; damit gingen neue Gesundheitsrisiken einher. Manuel Schramms vergleichende Untersuchung zum Strahlenschutz im Uranbergbau der beiden deutschen Nachkriegsstaaten gibt ein klares Bild davon, inwieweit das Verhalten der Arbeiter/-innen unter verschiedenen politischen Bedingungen gleichermaßen einen großen Einfluss auf die Gestaltung von Arbeitsschutzregelungen haben konnte. Der Eigen-Sinn der Arbeiter schwächte beispielsweise ein zentrales Mittel zum Strahlenschutz, die Wetterdisziplin, weil der Lärm der Belüftungsanlagen von den Arbeitern als störend empfunden wurde. An sich entzogen sich die Bergmänner einer Technisierung ihrer Körper; hier trafen sich ihre Interessen mit denen der Bergämter und Strahlenschützer: Auch sie bevorzugten in der DDR wie in der Bundesrepublik Maßnahmen, die die Arbeiter möglichst wenig ein-
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schränkten: So wurde eine Ortsdosismessung einer Personendosismessung vorgezogen. Die Gefährdungen der Arbeiter/-innen am Arbeitsplatz durch gefährliche Stoffe werden seit den 1950er Jahren durch die Einführung eines „Grenzwertregimes“ reguliert, in dem die Konzentration von Gefahrstoffen einer permanenten Kontrolle unterliegt. Beat Bächi zeigt in seinem Beitrag, dass die in der Bundesrepublik seit 1955 erarbeiteten Maximalen-Arbeitsplatz-Konzentrationen (MAK) auf eine bestimmten Definition der Arbeiter/-innen als homme moyen basierten, die diesen als Teil eines industriellen Mensch-Maschine-Umweltsystems bestimmte. Bächi macht in den 1970er Jahren in der Grenzwertpolitik einen Übergang von protonormalistischen zu selbstregulierenden, flexiblen Regierungsweisen am industriellen Arbeitsplatz aus. Dieser Übergang zeigt sich in der Ausdifferenzierung der Grenzwertfestsetzung für Gefahrstoffe in statistisch-kybernetisch orientierten Verfahren auf der einen Seite, die nach Maßgabe eines „Durchschnittsmenschen“ konzipiert waren und insbesondere die Luftkonzentration von gefährlichen Stoffen definierten, und andererseits in den sogenannten BATGrenzwerten, die Gefahrstoffkonzentrationen in den Körperflüssigkeiten des einzelnen Individuums kontrollierten und regulierten. Grenzwertregime, so ließe sich festhalten, können also als biopolitische Regierungstechnologien angesehen werden, die eng verbunden sind mit den jeweils hegemonialen gesellschaftlichen Objektivierungs- und Subjektivierungstechnologien, die den Körper definieren und modulieren. Auch im nächsten Abschnitt dieses Bandes lässt sich an einem anderen Komplex, der Frage der Arbeitsorganisation und der dahinter liegenden Konzepte von industrieller Ordnung, die grundsätzliche Verschiebung von der Disziplinierung zur Subjektivierung aufzeigen. Timo Luks gelingt es in seinem Beitrag, die Verbindungslinien zwischen dem betrieblichen und dem gesellschaftlichen Ordnungsdenken in Großbritannien und Deutschland in der Mitte des 20. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Luks steht für einen Ansatz, der zwar von den Überlegungen Bravermans zur Labor Process Theory profitiert, dabei aber eine wichtige Verschiebung vornimmt: Luks setzt nicht einfach voraus, dass Kontrolle das Hauptziel des Managements gewesen sei, um dann zu fragen, wie sie ausgeübt wurde. Vielmehr geht es ihm darum, zunächst zeitgenössische Vorstellungen von Kontrolle zu analysieren, die sich als bemerkenswert vielfältig erwiesen. Innerhalb des Ordnungsdenkens war vor allem eine Idee von zentraler Bedeutung,
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diejenige des Flusses. Die Leitidee des reibungslosen Flusses wiederum wirkte kontrollierend in verschiedene Richtungen: Maschinen wurden technisch angepasst, Produktionsabläufe entsprechend entworfen und der „menschliche Faktor“ so manipuliert, dass er in den Produktionsfluss passte. Einem für die Entwicklung und Umsetzung von Konzepten zur rationellen Arbeitsorganisation wichtigen historischen Akteur, dem Ingenieur, wurde zwar in der historischen Forschung durchaus schon Aufmerksamkeit gewidmet.33 Allerdings wissen wir nur wenig über die Rolle dieser Berufsgruppe für die biopolitischen Strategien, die in der Industrialisierung wirksam wurden, und den damit verknüpften Konstruktionen und Zuschreibungen des arbeitenden Körpers. Willemijne Linssen zeichnet die Bedeutung sowohl der staatlichen als auch nicht-staatlichen Ingenieure für die Vermittlungsprozesse zwischen Staat und Unternehmen sowie zwischen Unternehmen und Arbeitern für den belgischen Bergbau zwischen 1791 und 1865 nach. Insbesondere legt sie dar, dass die Ingenieure die Organisation des bergbaulichen Arbeitsplatzes unter Aspekten der Geschlechterverhältnisse, vor allem der Frauenarbeit unter Tage, und der Gesundheitsverhältnisse betrachteten. Dies geschah jedoch weniger im Rahmen humanistischer Überlegung sondern in Form von Kosten-Nutzen-Analysen, so dass der Arbeiterkörper von den Ingenieuren als eine „Maschine aus Fleisch und Blut“ betrachtet wurde. Allerdings wurden die Vorschläge der Ingenieure zur Verbesserung der Arbeitssicherheit und -gesundheit von den Unternehmen zunächst nicht aufgegriffen. Erst in den 1890er Jahren wurde die Gesundheit der Arbeiter/-innen als ein wichtiges Element der Arbeitsorganisation und als strategisches Problemfeld des Unternehmensmanagements im belgischen Bergbau ernst genommen. Verantwortlich für diesen biopolitischen Sinneswandel waren allerdings weniger die Diskussionen der Bergbauingenieure als die Arbeiterproteste in diesem Jahrzehnt. Das Ideal des Ingenieurs konnte auch auf andere Berufsgruppen angelegt werden. Das gilt insbesondere für die verstärkten Rationalisierungsdebatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die unter dem Einfluss von Taylors Scientific Management geführt wurden. Wie Christine Schnaithmann in ihrem Beitrag über die amerikanische Büroorganisation um 1920 aufzeigt, wurde auch von den Angestellten verlangt, sie sollten zum Ingenieur ihrer
33 Exemplarisch: Dienel: Optimismus, 1998.
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selbst werden. Die Büroarbeit stand unter keinem geringeren Rationalisierungsdruck als die Industriearbeit, die Ansätze Taylors und Gilbreths wurden vielfältig aufgegriffen; Effizienz, Ordnung und Kontrolle waren omnipräsente Begriffe. In diesem Sinne wurde das Büro als „Dispositiv der Disziplin“ gestaltet: Die Macht der Büromanager entfaltete sich in der Kontrolle des Arbeitsraums, letztlich war aber die Erzeugung einer Selbstdisziplinierung der Angestellten das Ziel. Schnaithmann kann nachweisen, dass die Disziplinierung auch in diesem Fall nicht vollständig aufging; gewisse Freiräume der Angestellten waren für die Arbeitsprozesse notwendig und konnten folglich nicht beseitigt werden. Zudem spricht Schnaithmann ein Kernthema dieses Bandes an, das Verhältnis von Rationalisierung und Humanisierung. Sie kann die Wechselseitigkeit der Beziehung herausarbeiten; die Sorge um die Angestellten und ihr Wohlbefinden bei der Arbeit ging mit dem Ziel einer effizienten Arbeitsorganisation einher. Der letzte Abschnitt dieses Sammelbandes, der sich mit der Ernährung im industriellen Betrieb beschäftigt, nähert sich dem Verhältnis zwischen Rationalisierung und Humanisierung von der anderen Seite und richtet den Blick auf Vorgänge in der Fabrik abseits des Produktionsprozesses: So wie einerseits die Rationalisierungsbewegung eine „humane“ Gestaltung der Arbeitsprozesse in die eigenen Konzepte integrierte, wurde andererseits bei Planung und Betrieb der Sozialräume das Konzept einer „rationellen Fabrik“ aufgegriffen. Kantinen und Speiseräume wurden im 19. Jahrhundert zu den betrieblichen „Wohlfahrtseinrichtungen“ gezählt, gleichwohl lässt sich aufzeigen, inwieweit auch solche Einrichtungen von Rationalisierungsabsichten durchzogen wurden. Karsten Uhl konzentriert sich auf die Geschichte dieser Räume vom späten 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und bettet sie in die Debatte um die Trennung von Arbeitsraum und Lebensraum ein. Insbesondere von einer angemessenen Einrichtung von Sozialräumen wie den Kantinen versprachen sich Arbeitsexperten, -expertinnen und Manager die Möglichkeit, der Fabrik die verlorene Qualität des „Lebensraums“ zumindest partiell zurückzugeben. Im Umgang mit diesen Räumen zeigte sich eine Vielfalt der Praktiken der Machtausübung: Sie waren Teil der Disziplinarordnung und sollten die Selbstdisziplinierung der Arbeitenden fördern. Darüber hinaus boten sie aber auch gezielt Freiräume zur Aktivierung subjektiver Potentiale der Arbeiter/-innen, die wiederum – und hier überschneiden sich erneut Humanisierungs- und
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Rationalisierungsdiskurs – in den Arbeitsprozess eingebracht werden sollten. Der zweite Aufsatz zu diesem Themenkomplex beschäftigt sich mit einer praktischen Folge der Trennung von Arbeitsraum und Lebensraum: der Notwendigkeit in der Fabrik zu essen. Mark Cole untersucht die nationalsozialistischen Versuche, das warme Essen in der Kantine zur Norm zu machen. Für die Erreichung dieses Ziels mussten zum einen die Unternehmen dazu gebracht werden, überhaupt erst einmal Betriebskantinen einzurichten, zum anderen die Arbeiter/-innen dazu, dieses Angebot anzunehmen. Die Maßnahmen des Amtes Schönheit der Arbeit der Deutschen Arbeitsfront (DAF) orientierten sich dabei an dem Rationalisierungsideal, produktive, gesunde und arbeitsfreudige Arbeiter/-innen hervorzubringen. Die nationalsozialistische Politik schloss somit direkt an den ernährungswissenschaftlichen Diskurs der Weimarer Republik an, der bereits die Nähe zum Scientific Management gesucht hatte. Cole betont dieses Ergebnis seiner Forschungen: Gewiss ging das Vorhaben der Nationalsozialisten, Konzepte der Ernährungslehre an Versuche zur Ausweitung der industriellen Disziplinierung zu koppeln, nicht vollständig auf. Dass dieser Versuch unternommen wurde, sagt allerdings bereits vieles über die Struktur der betrieblichen Machtausübung aus. Trotz aller seit den 1990er Jahren feststellbaren inhaltlichen und institutionellen Marginalisierung und einsetzenden Diskussionen über „the end of labour history“,34 belegen die hier vorgestellten Beiträge, dass die Geschichte der Arbeit keineswegs an ihr Ende gelangt ist, sondern weiterhin ein vitales, interdisziplinäres Forschungsfeld darstellt, welches inhaltliche und methodische Impulse für die Sozial- und Kulturgeschichte geben kann. Dazu muss die Geschichte der Arbeit als historische Subdisziplin aber selbst die Bereitschaft aufbringen, sich von mancher kanonischer Gewissheit und methodischer Orthodoxie zu lösen.
34 Exemplarisch: Linden: Labour History, 1993.
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Subjektivierung und Disziplinierung
Der Körper des Bergmanns in der Industrialisierung Biopolitik im Ruhrkohlenbergbau 1890-19801 L ARS B LUMA
Der vorliegende Beitrag versteht sich als programmatische Schrift, die insbesondere eine neue Zugangsweise für die historische Erforschung industrieller Arbeitsplätze am Beispiel des Ruhrbergbaus vorschlägt, die sich anlehnt an das von Michel Foucault formulierte Konzept der Biopolitik. Die konzeptionelle und methodische Ausarbeitung einer Körpergeschichte des Bergbaus als eine Geschichte der Biopolitik steht also im Vordergrund der Darstellung. Sie beabsichtigt einerseits, Anschlussmöglichkeiten vorhandener sozialhistorischer Arbeiten zur Geschichte des Ruhrbergbaus aufzuzeigen und andererseits eine neue methodische Perspektive zu entwickeln, die den Körper des Bergmanns in das Zentrum der historischen Analyse stellt. In einem zweiten Schritt wird überblicksartig ein Phasenmodell vorgestellt, welches die grundlegenden Wandlungen der Biopolitik im Ruhrkohlenbergbau zwischen 1890 und 1980 zeitlich strukturiert und exemplarisch diskutiert. Stefan Przigoda hat die noch vorhandenen Forschungslücken und Perspektiven der Wirtschafts- und Technikgeschichte des Ruhrbergbaus unlängst benannt, wobei er vor allem die Analyse der Mechanisierungs- und 1
Dieser Artikel ist im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes „Der Körper des Bergmanns in der Industrialisierung. Biopolitik im Ruhrkohlenbergbau 18901980“ entstanden.
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Rationalisierungsschübe nach 1933 als dringende Desiderate ausmacht.2 Explizit hebt er hervor, dass nicht nur die Folgen des technischen Wandels für die bergmännische Arbeit und die Selbstwahrnehmung der Bergleute für die Zeit nach 1945 weitgehend nicht bearbeitet sind, sondern dass bis heute eine historische Längsschnittanalyse bergbaulicher Arbeitsplätze und Berufe fehlt. Der vorliegende Beitrag schlägt vor, eine solche Längsschnittanalyse nicht alleine im Rahmen einer Geschichte der Rationalisierung und Mechanisierung vorzunehmen, sondern den Wandel der Mentalitäten, Selbstwahrnehmungen und Deutungen der Bergarbeiter im Hinblick auf die Wechselwirkungen vom bergmännischen Körper und dessen Arbeits- und Alltagsumwelt in einer langfristigen historischen Analyse in den Mittelpunkt zu stellen. Die Arbeit des Bergmanns war vor allem im Untertageabbau lange Zeit geprägt durch harte körperliche Anstrengung und spezifische Umweltbedingungen (Dunkelheit, Schmutz, Enge, Feuchtigkeit usw.), die eine lang andauernde berufsbezogene Identitätsbildung der Bergleute begünstigte. Diese war durch eine männlichkeits- und produktionsorientierte Risikokultur gekennzeichnet. Am Beispiel des Ruhrbergbaus werden Entstehung und Wandel der daraus abgeleiteten soziokulturellen Konstruktionen des bergmännischen Körpers ebenso untersucht, wie deren Einbettung in die sozialen Praktiken der bergmännischen Arbeit sowie des medizinischen Wissens und Handelns. Ziel ist es, die Bedeutung des bergmännischen Körpers als identitätsstiftendes Moment und als gemeinsamen Fixpunkt für die Herausbildung und den Wandel gruppenspezifischer Mentalitäten, Deutungsmuster und Selbstwahrnehmungen sowie der damit verknüpften Handlungsund Entscheidungsdispositionen der Akteure zu untersuchen. Grundlegende These ist, dass der Körper des Bergmanns seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das politische Handeln der Akteure im Ruhrbergbau strukturierte und in ein biopolitisches Ordnungsgefüge eingebunden wurde. Der Untersuchungszeitraum umfasst dabei grundlegende Wandlungen sowohl der Arbeitsprozesse im Ruhrbergbau (von der Hochindustrialisierung bis zur „Vollmechanisierung“) als auch der bergmännischen Körperidentitäten und Subjektivierungsprozesse. Dieser Beitrag wird sich mittels eines körperzentrierten methodischen Ansatzes mit der Biopolitik des Ruhrbergbaus von 1890 bis 1980 beschäf-
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Prizgoda: Forschungen, 2004.
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tigen. Es wird sowohl nach dem Wandel von Objektivierungs- und Subjektivierungsprozessen, soweit diese auf den Körper des Bergmanns bezogen sind, gefragt, als auch nach der Formierung biopolitischer Dispositive, die sich in spezifischen Verknüpfungen von Körperkonzepten, Institutionen, Infrastrukturen sowie sozialen, medizinischen und ökonomischen Praktiken im Ruhrkohlenbergbau manifestierten. Der Körper des Bergmanns wird als eine Schnittstelle ökonomischer, politischer und medizinischer Interventionen und Zuschreibungen interpretiert, die ein biopolitisches Beziehungsgeflecht zwischen Machtprozessen, Wissenspraktiken und Subjektivierungsformen sichtbar macht. Der Dynamik innerhalb des Körperdispositivs im Ruhrbergbau wird dabei insbesondere in drei Hinsichten Rechnung zu tragen sein: 1. im Hinblick auf die Praktiken der Regulierung des bergmännischen Körpers durch Arbeitsplatzgestaltung, hygienische Vorschriften, medizinische Infrastrukturen usw., die direkt im Bergbaubetrieb ihre Wirkung entfalteten und anderseits auch im Hinblick auf diejenigen biopolitischen Praktiken, die jenseits der Zechentore für die Bergleute bedeutsam waren (z.B. Arbeitersport, Wohnverhältnisse und allgemeine hygienische und medizinische Infrastrukturen im Ruhrgebiet). 2. im Hinblick auf die Netzwerkstruktur der Akteure: Hier ist nach den Durchsetzungsmöglichkeiten der Interessen der jeweiligen Akteure zu fragen und die innerorganisatorische Beziehungsstruktur zu analysieren. Insbesondere interessieren die Mentalitäten der Akteure (Unternehmer, Mediziner, staatliche Akteure, Bergmänner usw.) insofern sie sich auf die Biopolitik im Bergbau beziehen, wobei ein Hauptaugenmerk auf die Bergleute gerichtet wird. 3. im Hinblick auf die Entstehung eines Wissens über den bergmännischen Körper und dessen Interaktion mit seiner Umwelt: Die medizinischen Experten objektivierten seit dem Kaiserreich im verstärkten Maße den bergmännischen Körper, oder zugespitzter ausgedrückt: es setzte ein tiefgreifender Prozess der Medikalisierung und Pathologisierung des bergmännischen Körpers ein, der diesen als einen gefährdeten und gefährlichen konstruierte. Gleichzeitig wurde das produzierte Wissen von anwendungsorientierten Disziplinen, z.B. Hygiene und Arbeitsmedizin, für Interventionen am bergmännischen Körper genutzt. Darüber hinaus wirkten die Interventionen der wissenschaftlichen Experten bis in die bergmännische Arbeitspraxis und alltägliche Lebensumwelt hinein.
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1. V ON DER S OZIALGESCHICHTE DES BERGMÄNNISCHEN ARBEITSPLATZES ... Die hier vorgeschlagene Historisierung von Körperkonzepten, die eng verbunden waren mit den konkreten Bedingungen des bergmännischen Arbeitsplatzes, kann auf sozial- und medizinhistorische Forschungsstränge zur Geschichte des Ruhrbergbaus zurückgreifen und an deren Ergebnisse und Erklärungsansätze anknüpfen bzw. sich mit diesen kritisch auseinandersetzen. Insbesondere sind diejenigen Arbeiten von besonderer Bedeutung, die den Wandel des bergmännischen Arbeitsplatzes und Alltags sowie den Werte- und Normenwandel der Bergleute beschreiben. Vor allem für die Phase der Hochindustrialisierung sind dazu umfassende Werke veröffentlich worden, die sowohl die Arbeitsbedingungen im Bergbau aber auch den Alltag der Bergleute zum Thema haben. Die Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte des Ruhrbergbaus ist gründlich erforscht, sodass dieser Beitrag auf eine dichte Forschungsliteratur zum Alltagsleben, den Arbeitsbedingungen und den politischen Organisationen der Bergmänner zurückgreifen kann. Klaus Tenfeldes Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft hat als Strukturgeschichte schon 1977 eine Synthese vollzogen, die die Gesamtheit gruppen- und verhaltenskonstitutiver Merkmale der Bergarbeiterschaft umfasst.3 Dazu zählt Tenfelde durchaus auch Strukturmerkmale, die für eine Körpergeschichte der Bergleute relevant sind, wie z.B. der Arbeitsplatz und seine Organisation, die betrieblichen Herrschafts- und Disziplinierungsbeziehungen, die Arbeitsplatzhygiene und die sozialen Sicherungssysteme im Falle von Krankheit und Unfall sowie die Familien- und Wohnstruktur.4 Allerdings sind dies für ihn keine Elemente, die den sozialen Wandel, verstanden als Dynamisierung der Strukturelemente, vorantrieben. Die Regulierung und Disziplinierung des bergmännischen Körpers und dessen diskursive Zuschreibungen können in dieser Perspektive allenfalls als abgeleitete Effekte und nicht als konstitutive Faktoren der sozialen Dynamisierung während der Industrialisierung interpretiert werden. Thomas Welskopp hat angemahnt, dass eine moderne Arbeitergeschichte den engen Rahmen einer Dialektik von Klassen- und Berufsbewusstsein
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Hier verwendet die 2. Aufl.: Tenfelde: Sozialgeschichte, 1981.
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Ebd., S. 23-24.
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verlassen und die Typenvielfalt und Komplexität der Beziehungsgeflechte zwischen verschiedenen Arbeitergruppen und Organisationsformen ernst nehmen muss.5 Hinzuzufügen wäre, dass nicht nur die Beziehungen zwischen verschiedenen Arbeitergruppen zu betrachten sind, sondern das gesamte Netz der relevanten Akteure analysiert werden muss. Das hieße auch, sich endgültig von einer Geschichte der Arbeit zu verabschieden, die ihren Untersuchungsgegenstand einzig in der Frontstellung von Arbeit und Kapital sieht. Der Alltagsdimension industrieller Arbeit widmete sich schon 1978 ein Sammelband von Jürgen Reulecke und Wolfhard Weber, der Beiträge zum Ruhrbergbau und allgemein zum Wandel des Ruhrgebiets während der Industrialisierung enthält.6 Allerdings werden hier Arbeitswelt und Alltag überwiegend als zwei voneinander getrennte Kategorien betrachtet. Weber macht in seinem Beitrag deutlich, dass die Organisation des Arbeitsplatzes im Bergbau nicht nur von langfristigen ökonomischen und sozialen Bedingungen, sondern auch von Mentalitäten abhängig war, ohne diesen Punkt jedoch detailliert auszuführen.7 Klaus Tenfelde hat an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass der Arbeitsplatz als ein „Orientierungspool im Denken, Handeln und Verhalten des arbeitenden Menschen“ zu gelten und speziell im Bergbau ein „jahrhundertealtes brauchtümliches Berufsbewußtsein“ geprägt hat.8 Damit wird schon Ende der 70er Jahre in der Geschichte des Bergbaus eine Verbindung zwischen spezifischen Arbeitsbedingungen und der Identität von Berufsständen gezogen, ohne auf den Begriff des Klassenbewusstseins zurückzugreifen. Franz J. Brüggemeier und Lutz Niethammer weisen in ihrem Beitrag des genannten Sammelbandes auf eine interessante Koinzidenz hin: Die Homogenität, die im bergmännischen Produktionsbereich aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen am Arbeitsplatz und eines Gefühls des Aufeinanderangewiesenseins entstand, findet sich entsprechend in den Wohnverhältnissen der Bergleute wieder, die gerne unter sich blieben und auch in der Freizeit in vielerlei Hinsicht eine kollektive Erfahrungsgemeinschaft
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Welskopp: Arbeiter, 1991, S. 469.
6
Reulecke/Weber: Fabrik, 1978.
7
Weber: Arbeitsplatz, 1978, S. 91.
8
Tenfelde: Arbeitsplatz, 1979, S. 285 u. 287.
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bildeten.9 Hier wird deutlich, dass sich eine Körpergeschichte des Bergmanns nicht alleine auf die Arbeit als produktive Tätigkeit beschränken kann, sondern ebenso Formen körperlicher Betätigung und Erfahrung in der Freizeit und im Alltag einbeziehen muss. Die Rolle körperlicher Identitäten wird zumindest in Beiträgen von Volker Schmidtchen und Siegfried Gehrmann, die sich mit dem Arbeitersport bzw. dem Fußball im Ruhrgebiet beschäftigen, kurz diskutiert.10 Franz-Josef Brüggemeier hat die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bergleute an der Ruhr von 1889 bis 1919 konziliant beschrieben und dabei das Ineinanderwirken von formellen Strukturen und informellen Solidarstrukturen, die auch die Erfahrungen der Bergleute von Selbständigkeit und Unabhängigkeit in den Arbeitsbeziehungen und der bergmännischen Arbeitspraxis umfassen, betont.11 Den informellen Solidarstrukturen im Ruhrbergbau hat sich Karin Hartewig speziell für die Zeit von 1914 bis 1924 zugewandt.12 Auch wenn Tod und Krankheit, Geschlechtsverhältnis und Altersstruktur sowie Wohn- und Arbeitsbedingungen Themen ihrer Arbeit sind, die auch für eine Körpergeschichte des Ruhrbergbaus von besonderer Bedeutung sind, fehlen weitgehend Aussagen über die identitätsprägenden Wirkungen dieser Strukturmerkmale. Sie macht für ihre Analyse der Sozialstrukturen des Ruhrbergbaus drei aufeinander bezogene Ebenen aus: „die Ebene der sozialpolitischen Steuerung, die Ebene der Normen und öffentlichen Kontrolle, die Ebene von politischen und wirtschaftlichen Gruppeninteressen.“13 Ihr methodischer Zugriff kann jedoch nicht die sozialen Strukturmerkmale und die sozialen Praktiken, die als wichtige Analyseebenen zu ergänzen wären, mit der Entstehung gruppenspezifischer Mentalitäten und Identitäten verbinden. Evelyn und Werner Kroker haben deutlich gemacht, dass die Organisation in Solidargemeinschaften (Knappenvereinen, Knappschaften, Gewerkschaften) als institutionalisierte Form eines stark ausgeprägten bergmännischen Standesbewusstseins ihren Ursprung in den Arbeitsbedingungen und vor allem in den risikobehafteten, „naturgegebenen Bedingungen bergmän-
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Brüggemeier/Niethammer: Schlafgänger, 1978, S. 155.
10 Schmidtchen: Arbeitersport, 1978. Gehrmann: Fußball, 1978. 11 Brüggemeier: Leben, 1984. 12 Hartewig: Jahrzehnt, 1993. 13 Ebd., S. 12.
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nischer Untertagearbeit“ haben.14 Damit ergibt sich ein weiterer interessanter Aspekt einer Körpergeschichte des Bergbaus, nämlich der Wandel der Körper-Umwelt-Interaktionen. Die Umweltgeschichte hat sich durchaus schon sehr intensiv mit den einschneidenden Folgen des Bergbaus als ein wichtiges Beispiel der intensiven Ausbeutung und Nutzung der betroffenen Landschaften während der Industrialisierung auseinandergesetzt.15 Ebenso sind die umwelthistorischen Aspekte und Probleme schnell wachsender industrieller Ballungsgebiete, wie z.B. mangelnde städtische Hygiene, Versorgung mit Trinkwasser, Entsorgung von Abwasser und Abfall sowie erhebliche umweltbelastende Emissionen auch für das Ruhrgebiet in Einzelstudien gut erforscht.16 Der bergmännische Arbeitsplatz wurde traditionellerweise als ein rein artifizieller Ort der fortschreitenden Technisierung angesehen, als ein Ort, in dem sich eine spezifische Produktionsrationalität manifestierte, die dem Bergarbeiter und seinem Körper kaum noch eigenständige Handlungsmacht zuwies. Zu nennen sind in diesem Kontext Veröffentlichungen zum Unfallrisiko und zur Arbeitssicherheit im Bergbau17 sowie die historischen Darstellungen zur fortschreitenden Technisierung und Mechanisierung des bergmännischen Arbeitsplatzes im Rahmen der Entfaltung einer spezifischen technischen Produktionsrationalität,18 die letztendlich, wenn auch implizit, eine einseitige Anpassung des arbeitenden Körpers an das technisch-materielle System des industriellen bergmännischen Arbeitsplatzes annehmen. Begreift man jedoch den bergmännischen Arbeitsplatz als wichtigen Teil eines als „organic machine“ anzusehenden Produktionsregimes, also als ein System, in dem die Transformation von Natur in eine für den Menschen nützliche Ressource und Produktionsmaschinerie stattfindet,19 und
14 Kroker/Kroker: Solidarität, 1988, S. 11. 15 Lackner: Bestimmung, 2001. Uekötter: Umweltgeschichte, 2007, S. 62-68. 16 Vonde: Revier, 1989. Brüggemeier/Rommelspacher: Umwelt, 1990. Brüggemeier/Rommelspacher: Blauer Himmel, 1992. Gilhaus: Schmerzenskinder, 1995. 17 Völkening: Unfallentwicklung, 1980. Trischler: Arbeitsunfälle, 1988. Farrenkopf: Schlagwetter, 2003. Farrenkopf: Zugepackt, 2010. 18 Weber: Industrialisierung, 1982. Burghardt: Mechanisierung, 1995. 19 White: Organic Machine, 1996.
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als ein techno-naturales Produktionsdispositiv, in dem technisch-materielle Produktionsfaktoren mit biologischen verknüpft sind, ist es naheliegend, die Kompetenzen der Umweltgeschichte für eine Körpergeschichte des Bergbaus zu aktivieren. Die permanente Rekonfiguration des bergmännischen Arbeitsplatzes und die fortwährenden technischen Eingriffe unter Tage wären somit einerseits als eine technische Optimierung im Hinblick auf das spezifische Produktionsregime des Steinkohlenbergbaus zu verstehen, andererseits aber auch als Ausgestaltung eines menschlichen Arbeitsund Lebensraumes und damit als Biopolitik zu interpretieren. Der Vorteil einer solchen biopolitischen Perspektive läge in der Überwindung einer „neotechnokratischen“ Interpretation industrieller Arbeitsplätze, die einzig in der Technisierung den Antrieb für historische Veränderungen der Produktionssphäre sieht. Eine Kollaboration von Umweltgeschichte und Geschichte der Arbeit, wie sie noch vor kurzem von Gunther Peck eingefordert wurde,20 wäre also insbesondere dann erfolgsversprechend, wenn es darum ginge, die wechselseitigen Anpassungen von Arbeiterkörpern und ihrer konkreten Bio- und Technosphäre zu analysieren. Allerdings ist diese Geschichte keine der Entfremdung oder der Degradation, die allzu oft als Leitmotive einer Umweltgeschichte als Niedergangsgeschichte auftauchen,21 sondern eine, die die Mobilisierung von Akteuren und Ressourcen in den Vordergrund stellt und damit die produktiven Effekte des techno-naturalen Systems betont. Anders als die Sozial- und Umweltgeschichte hat sich die Medizingeschichte nicht nur implizit mit dem Körper des Bergmanns beschäftigt, sondern diesen explizit zum Thema gemacht. Elmar Menzel verfolgt das Gesundheitswesen des Bergbaus von der Antike bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und widmet sich dabei auch den klassischen Bergarbeiterkrankheiten des Industriezeitalters, wie sie auch im Ruhrgebiet anzutreffen waren, so z.B. das Augenzittern der Bergleute (Nystagmus), der Hakenwurmbefall (Ankylostomiasis) und die vielfältigen Erkrankungen der Lunge (Anthrakose, Silikose, Bronchitis, Asthma usw.).22 Speziell mit dem Arbeiterschutz und der Arbeitsmedizin im Ruhrbergbau zwischen 1865 und
20 Peck: Nature, 2006. 21 Radkau: Natur, 2002, S. 11. 22 Menzel: Bergbau-Medizin, 1989.
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1914 hat sich Michael Martin in seiner Dissertation auseinandergesetzt.23 Einzelne Berufskrankheiten im Ruhrbergbau sind ebenfalls in medizinhistorischen Dissertationen aufgegriffen worden.24 Allen genannten Arbeiten gemeinsam ist, dass sie die massiven Gesundheitsbelastungen des Bergbaus in den Vordergrund rücken und entlang dieser „pathologischen Perspektive“ die Formierung eines neuen medizinischen Wissens, die damit zusammenhängende Etablierung medizinischer Disziplinen (insbesondere Arbeits- und Sozialmedizin, Epidemiologie, Hygiene) und die Entstehung spezifischer Institutionen und Organisationen zur Risikominderung bzw. Risikokompensation beschreiben. Allerdings fehlt ihnen durchweg der Blick auf die Subjektivierungseffekte der berufsspezifischen Krankheiten und deren Auswirkungen auf die Mentalität und Identität der Patienten, also der Bergleute. Die Knappschaftsvereine, die mit einer weit ins Mittelalter reichenden Tradition für die Versicherung der Bergleute bei Krankheit, Invalidität und Unfall zuständig waren,25 sind wichtige Institutionen, die im Hinblick auf die zunehmende Medikalisierung des Bergbaus in der Industrialisierung zu berücksichtigen sind. Erst 1885 gab es im Rahmen der Bismarckschen Versicherungsgesetzgebung eine organisatorische Trennung von knappschaftlicher Unfallversicherung (Knappschafts-Berufsgenossenschaft) und der weiterhin institutionell unter einem Dach angesiedelten knappschaftlichen Renten-, Invaliden- und Krankenversicherung. Bisherige historische Arbeiten dazu verfolgen eine traditionelle Institutionengeschichte, die sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklung der inneren Verwaltung und der Finanzierung der Knappschaften bzw. der Knappschafts-Berufsgenossenschaft beschäftigt sowie mit den Wechselwirkungen zwischen sozialen Sicherungssystemen und jeweiliger Sozialpolitik.26 Im Rahmen einer biopolitischen Betrachtung des Ruhrbergbaus ist die Analyse medizinischer Infrastrukturen, und damit sind vor allem Knappschaftskrankenhäuser aber auch das knappschaftliche Ärztesystem gemeint, unverzichtbar, waren dies doch diejenigen Institutionen und Strukturen, die dem Körper des Bergmanns besondere Aufmerksamkeit widmeten und die-
23 Martin: Arbeiterschutz, 2000. 24 Langenfeld: Ankylostomiasis, 1981. Wild: Nystagmus, 1992. 25 Lauf: Knappschaftsvereine, 2006. 26 Geyer: Reichsknappschaft, 1987. Boyer: Unfallversicherung, 1995.
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sen nicht nur diskursiv als gesund und krank konstruierten, sondern auch medizinische Interventionen am Patienten durchführten. Ulrich Lauf hat einen Überblick über die Geschichte der Knappschaftskrankenhäuser verfasst.27 Die Geschichte des Bergmannsheils als ein Krankenhaus in Trägerschaft der Bergbau-Berufsgenossenschaft hat Michael Martin exemplarisch untersucht.28 Daneben gibt es zu einzelnen Knappschaftskrankenhäusern im Ruhrgebiet methodisch anspruchslose Festschriften. Martin Weyer-von Schoultz hat dagegen mit seiner Untersuchung zur kommunalen Gesundheitspolitik am Beispiel Gelsenkirchens eine Pionierstudie zum Verhältnis von Industrialisierung und kommunaler Gesundheitspolitik vorgelegt, die z.B. wichtige Hinweise zum Prozess der Hygienisierung im Ruhrgebiet enthält.29 Eine historische Gesamtdarstellung der medizinischen Infrastruktur des Ruhrgebietes steht allerdings immer noch aus. Diese Ausweitung auf außerbetriebliche medizinische Maßnahmen ist auch deshalb nötig, weil die zumindest in der klassischen Arbeitergeschichte angenommene Problematik der sozialen Anpassung an den technisch induzierten Wandel des Arbeitsplatzes als bevorzugtes Thema zumindest für die deutsche Industrialisierung schon in den 1980er Jahren in Frage gestellt wurde.30 Insgesamt kann zumindest für die Hochindustrialisierung eine forcierte Pathologisierung und Hygienisierung der Industriearbeit beobachtet werden, die die medizinische Kontrolle und Disziplinierung des bergmännischen Körpers als anerkannte soziale Praktiken des Bergbaus bewirkten. Und dies gilt sowohl für die von außen wirkenden Disziplinierungsmechanismen (z.B. Bergpolizeiverordnungen betreffend der Hygiene unter Tage) als auch für die notwendige Internalisierung dieser Verhaltensvorschriften durch den Bergmann. Eine Körpergeschichte des Bergbaus hat somit eine Vielzahl von Akteuren einzubeziehen. Helmuth Trischler hat für den Arbeitsschutz das Kräftespiel der unterschiedlichen Akteure überblicksartig für die Zeit von 1851 bis 1945 dargestellt und ganz prinzipiell festgestellt, dass zumindest auf der Ebene der soziopolitischen Entwicklung der Ar-
27 Lauf: Krankenhäuser, 2005. 28 Martin: Medizintechnik, 2004. 29 Weyer-von Schoultz: Stadt, 1994. 30 Steinisch/Tenfelde: Technischer Wandel, 1988.
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beitsschutz und die Arbeitsmedizin Ergebnisse sozialer Auseinandersetzungen von Bergleuten, Bergbehörden und Unternehmern sind.31 In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von Alf Lüdtke zu erwähnen, die sich mit dem Fabrikalltag in der Industrialisierung auseinandersetzen.32 Diese sind besonders deshalb maßgeblich, weil sie körperliches Handeln und Erfahren als wichtige Kategorien zur Analyse der Machtverhältnisse in der Fabrik einführen. Lüdtke interpretiert körperliche Handlungen, wie z.B. zielloses Herumgehen, Tagträumen, körperliche Neckereien usw., zwar hauptsächlich als Ausdruck eines „Eigen-Sinns“ der Fabrikarbeiter, er betont aber ebenso die systemstabilisierenden Effekte der eigen-sinnigen Körperlichkeit. Aus der methodischen Perspektive einer Körpergeschichte der Arbeit können diese „eigen-sinnigen“ Handlungen als integrale Bestandteile eines biopolitischen Ordnungsgefüges der Fabrik und des Arbeitsplatzes interpretiert werden. D.h. sowohl die disziplinierenden Effekte von organisatorischen, medizinisch-hygienischen und technischen Ordnungsregimen am Arbeitsplatz als auch die widerspenstigen, „eigensinnigen“ Handlungen der Akteure bilden, wenn sie auf den Körper des Arbeiters bezogen sind, ein biopolitisches Dispositiv. Michael Farrenkopf hat den Wandel der bergmännischen Risikowahrnehmung im Ruhrbergbau durch die auf Explosionen unter Tage zurückzuführenden Massenunglücke beschrieben und auch für das Hüttenwesen liegt eine Studie zur Risikoperzeption im Industrialisierungszeitalter vor.33 Eine Übertragung dieser Erkenntnisse auf die Risikoperzeption der Bergleute von berufsspezifischen, teilweise dauerhaft schädigenden Krankheiten war bisher jedoch noch nicht Gegenstand einer historischen Studie. Welche Folgen hatte das Krankwerden oder die dauerhafte Invalidität für die produktions- und leistungsorientierte bergmännische Identität? Welche Formen der Risikowahrnehmungen gab es bei den unterschiedlichen Akteuren und wie wandelten sich die damit zusammenhängenden körperzentrierten Deutungsmuster? Zudem fehlen detaillierte Untersuchungen zu den Umbrüchen im Gesundheitswesen und der Arbeitsplatzgestaltung im Ruhrbergbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Werner Abelshauser klammert zumindest diese
31 Trischler: Arbeitsunfälle, 1988. 32 Lüdtke: Eigen-Sinn, 1993. 33 Farrenkopf: Schlagwetter, 2003. Andersen/Ott: Risikoperzeption, 1988.
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Aspekte in seiner wirtschaftshistorischen Arbeit zur Geschichte des deutschen Bergbaus nach 1945 aus.34 Ebenso fehlen Untersuchungen zur Körperidentität, die die soziale Binnendifferenzierung der Bergarbeiterschaft im Ruhrbergbau berücksichtigen. Dies gilt insbesondere auch für die Rolle der Immigranten, Gast- und Fremdarbeiter für die Wahrnehmung und Konstruktion des bergmännischen Körpers und der biopolitischen Praktiken. In Abhandlungen zur Zwangsarbeit wird die biopolitische Regulierung im Ersten und Zweiten Weltkrieg durchaus problematisiert,35 allerdings werden auch hier die identitätsformierenden Effekte dieser Praxis ausgeblendet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Arbeitsplatzbedingungen, das Alltagsleben und auch die gesundheitlichen Risiken des Ruhrbergbaus zumindest bis 1933 als jeweils separate Themen gut erforscht sind. Eine körperhistorische Analyse zur Biopolitik des Bergbaus, die die Selbstund Fremdwahrnehmungen und die sozialen Praktiken der Körperregulierung als Langzeitstudie bis in die 1980er Jahre darstellt und dazu die bisherigen Ergebnisse der oben diskutierten Studien in einer Synthese zusammenführt, steht noch aus.
2. ... ZUR G ESCHICHTE DER B IOPOLITIK IM R UHRKOHLENBERGBAU Eine methodische Klammer, um die oben angesprochenen unterschiedlichen Ebenen von Objektivierung, Subjektivierung, Körperregulierungen und Machttechniken in eine kohärente Untersuchung zusammenzuführen, bietet das Konzept der Biopolitik, das von Michel Foucault formuliert worden ist.36 Der Körper des Bergmanns ist, so die hier vertretene These, ein von den Akteuren konstruiertes Objekt des Wissens und der Politik bzw. Macht, das heißt er wird sozial wahrgenommen und erfährt spezifische Zuschreibungen durch die maßgeblichen Akteure. Diese Zuschreibungen, die
34 Abelshauser: Ruhrkohlenbergbau, 1984. 35 Urban: Überleben, 2002. Rawe: Ausländerbeschäftigung, 2005. Tenfelde/Seidel: Zwangsarbeit, 2005, dort insbesondere Seidel: Ausländereinsatz, 2005. Seidel: Ruhrbergbau, 2010, S. 266-283. 36 Zum Begriff der Biopolitik, Foucault: Wille, 1977, S. 159-190.
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um die Gesundheit, Effizienz, Produktivität und Widerständigkeit des Bergmanns kreisen, werden von sozialen Netzwerken produziert, in denen Akteure miteinander interagieren, kommunizieren und Ressourcen austauschen. Die gesellschaftliche Konstruktion des bergmännischen Körpers ist dabei abhängig von den jeweiligen Machtbeziehungen innerhalb des Akteurnetzwerkes, und diese bestimmen, welche Wissens- und Deutungsformen akzeptiert werden. Die Objektivierungs- und Subjektivierungsprozesse stehen somit in einem sich ständig aufeinander beziehenden, sich modifizierenden Verhältnis.37 Foucault hat die These aufgestellt, dass empirisches Wissen zu einer gegebenen Zeit bestimmten Regelmäßigkeiten gehorcht, die strukturiert werden durch ein „Unbewußtes des Wissens“,38 welches sich in den symbolischen Ordnungen und Codes, die die Subjekte zur gemeinsamen Kommunikation und Handeln benutzen, ausdrücken. Dass Körperkonzepte und -wahrnehmungen historisch wandelbare Konstrukte sind und im Rahmen von veränderten allgemeinen Geschlechterkonzeptionen sowie von Theorien und Praktiken der Medizin, Biologie usw. zu analysieren sind, haben in zahlreichen Studien die Geschlechterforschung und die Körpergeschichte gezeigt.39 Die Geschlechterforschung widmete sich dabei vor allem der Rolle von symbolischen und diskursiven Zuschreibungen für die Entstehung und Stabilisierung von Identitäten. Dieser Zugang erweist sich allerdings als problematisch, da er Geschlechts- und Körperidentitäten nur als Diskurskategorien zulässt und Identitätsbildungen nicht im Rahmen sozialer Praktiken und Erfahrungen untersucht. Einen methodischen Weg, sowohl die diskursiven Zuschreibungen des Körpers als auch die sozialen Praktiken, in denen dieser agiert, als identitätsstiftende Kategorien miteinander zu verbinden, weisen die Arbeiten Michel Foucaults zur Biopolitik und allgemeiner zur Entstehung von Macht- und Wissensdispositiven.40 Für die Geschichte des Körpers hat Sarasin die Verschränkung von Diskursen,
37 Bluma u.a.: Vergangenheit, 2009. 38 Foucault: Ordnung, 1971, S. 11. 39 Überblicksartig: Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit, 2000. Gugutzer: Soziologie, 2004. 40 Foucault: Wille, 1977. Foucault: Dispositive, 1978. Foucault: Sicherheit, 2006. Foucault: Biopolitik, 2006.
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Praktiken und Institutionen aufgegriffen und in einer wegweisenden Studie zur Genealogie des Hygienediskurses methodisch weitergeführt.41 Von besonderer Bedeutung sind dabei die Objektivierungsformen des bergmännischen Körpers z.B. durch die Medizin und die Arbeitswissenschaft sowie deren Rückkopplungen mit der praktischen Gestaltung des bergmännischen Arbeitsplatzes. Diesen Wandlungen inhärent sind die historisch sich verändernden Machtbeziehungen der Akteure, die die Biopolitik des Bergbaus bestimmten. Dementsprechend gilt es zu untersuchen, wie die unterschiedlichen Akteure (zu nennen wären hier Unternehmer, Bergbehörden und andere staatliche Institutionen, Mediziner, Bergleute in all ihren berufsständischen Differenzierungen, Vertreter der Knappschaftsversicherung usw.) den Körper des Bergmanns zum Objekt ihrer Kommunikation und zum Gegenstand ihrer Interventionen in der sozialen Praxis machten und dabei akteursspezifische Mentalitäten produzierten. Der Wandel bergmännischer Praktiken und ökonomischer Strukturen ist aufs engste mit der Institutionalisierung neuer gesellschaftlicher Wahrheitssysteme verknüpft, welche den bergmännischen Körper als zentrales Element eines sich formierenden Macht-Wissens-Gefüges positionierten. Dem Expertenwissen der Mediziner und den biopolitischen Versicherungsinstitutionen Knappschaft und Bergbau-Berufsgenossenschaft muss hierbei eine besondere Rolle bei der Analyse der Körperobjektivierungen zugewiesen werden.42 Leitthema einer solchen biopolitischen Geschichte des Bergbaus ist die Verknüpfung von Wissen und Macht in einem Dispositiv und dessen historische Dynamik, die sich in Veränderungen der bergmännischen Körperwahrnehmung und den damit verknüpften Transformationen von Regeln, Traditionen, Institutionen, Behörden, Akteuren und der Gestaltung der Lebens- und Arbeitsumwelt manifestierten.43 Für den Bergmann änderten sich z.B. durch die Einführung von hochgradig mechanisierten und technisierten Produktionsverfahren in den 1920er Jahren eben nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch der symbolische Wert, den der Bergmann seiner
41 Sarasin: Reizbare Maschinen, 2001. Sarasin: Physiologie, 1998. Sarasin: Geschichtswissenschaft, 2003. 42 Bluma: Knappschaftsärztesystem, 2010. 43 Zum Dispositivbegriff siehe Foucault: Dispositive, 1978. Kammler: FoucaultHandbuch, 2008, S. 237-242. Bührmann/Schneider: Dispositiv, 2008.
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eigenen körperlichen Arbeit als seinem sozialen Kapital zumaß. Hier ist also zu fragen, wie sich die Körperidentitäten durch den Einsatz neuer Produktionstechniken und -verfahren wandelten und, vice versa, welchen Einfluss bestehende Objektivierungen des bergmännischen Körpers auf die Durchsetzung bestimmter Technologien und Organisationsformen im Bergbau nahmen. Es soll hier unterstrichen werden, dass es gerade die Wechselwirkungen heterogener Elemente, wie Institutionen, Technologien, Subjekte, Wissen, Regularien usw., sind, die die Biopolitik des Bergbaus bestimmten. Keineswegs kann die Ausformung von Körperidentitäten in einer Meistererzählung, die je nach Mainstream von Klassenkämpfen, Nationenbildung oder dem technisch-zivilisatorischen Fortschritt handelt, adäquat abgebildet werden.44 Die Rückführung komplexer historischer Transformationen innerhalb eines Dispositivs entzieht sich grundsätzlich vereinfachenden Geschichtskonzepten, die auf einen exklusiven „prime mover“ setzen. Im Hinblick auf die räumliche Organisation des bergmännischen Arbeitsplatzes ermöglicht die biopolitische Perspektive, diesen als einen Raum zu interpretieren, dessen historisch sich verändernde konkrete Ausgestaltung als Produkt von Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen des bergmännischen Körpers mit den jeweils bestimmenden Diskursen über die räumliche Ordnung des bergmännischen Arbeitsplatzes beschreibbar ist. Sowohl die historischen Quellen zur Wahrnehmung des bergmännischen Körpers als auch zur Regulierung des bergmännischen Arbeitsplatzes sowie der Lebenswelt über Tage sind im Hinblick auf die Ausformung und den Wandel dieses biopolitischen Dispositivs im Ruhrbergbau zu interpretieren. Ein besonderer Fokus verdient die bergmännische Arbeit unter Tage, die ein spezifisches Merkmal des Produktionsprozesses des Kohlenbergbaus an der Ruhr war (z.B. in Abgrenzung zur Fabrikarbeit) und in besonderem Maße die zeitgenössische Diskussion um den bergmännischen Körper prägte. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Biopolitik des Bergbaus nicht an den Zechentoren Halt machte. Dass „die Anpassung an städtisches Leben und an die wirtschaftlichen Wechsellagen konjunktureller Auf- und Abschwünge für die Arbeiterschaft möglicherweise größere Probleme aufwarf“, haben Irmgard Steinisch und Klaus Tenfelde als Hypothese formu-
44 Zum Begriff der Meistererzählung siehe Jarausch/Sabrow: Meistererzählung, 2002.
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liert.45 Diese Hypothese gilt es auch im Hinblick auf den Wandel von Körperwahrnehmungen und -praktiken im Ruhrbergbau nachzugehen. Die Biopolitik im Ruhrbergbau erstreckte sich zumindest während der Hochindustrialisierung über alle Lebensbereiche des Bergmanns als identitätsformende Regulierung. Dazu zählen ebenso die Wohnungsbaupolitik in ihrer spezifischen Ausformung als Zechenkolonien,46 wie der immer wieder angeprangerte Alkoholmissbrauch, seine Bekämpfung und dessen Moralisierung,47 die körperlichen Erfahrungen im Arbeitersport,48 die „fürsorglichen“ kommunalen und regionalen Infrastrukturmaßnahmen im Bereich der Hygiene49 sowie die berufsbedingten Krankheiten des Bergmanns und deren Bekämpfung aber auch die Produktivität seines Körpers am Arbeitsplatz und dessen dortige Disziplinierung als eine spezifische bergmännische Erfahrung. Die Problematik von Männlichkeit und Gesundheit hat unlängst ein von Martin Dinges herausgegebener Sammelband aufgegriffen,50 in dem Martin Lengwiler z.B. das männliche Risikoverhalten im schweizerischen Bergbau untersucht hat. Er kommt zu dem Schluss, dass sich die sozialstaatliche Risiko- bzw. Unfallpolitik der Schweiz an der Risikoexposition männerdominierter Branchen orientierte und dementsprechend verknüpft war mit der Risikowahrnehmung der männlichen Arbeiter.51 Biopolitik wäre in diesem Fall also eng verbunden mit den Männlichkeitsvorstellungen der unterschiedlichen Akteure in der industrialisierten Arbeitswelt. Bis heute gilt, dass im deutschen Bergbau die Arbeit unter Tage Männern vorbehalten ist. Nur während des Ersten Weltkrieges gab es in Deutschland eine nennenswerte Anzahl an Frauen, die im Bergbau arbeiteten; dann aber ausschließlich über Tage, meistens im Bergbaunebengewerbe, wie z.B. in Kokereien, Kohlesortieranlagen usw. Was bedeutet dieses Arbeitsmonopol von Männern im Hinblick auf die Biopolitik des Bergbaus im Allgemeinen? Eine naheliegende These ist, dass vermittels der gesell-
45 Steinisch/Tenfelde: Technischer Wandel, 1988, S. 73. Tenfelde: Mühsal, 1989. 46 Brüggemeier: Leben, 1984, S. 25-74. Zimmermann: Schachtanlage, 1987. 47 Brüggemeier: Leben, 1984, S. 142-161. 48 Gehrmann: Fußball, 1978. Gehrmann: Fußball, 1988. Hering: Derbys, 2002. 49 Wisotzky/Zimmermann: Selbstverständlichkeiten, 1997. Krabbe: Kommunalpolitik, 1985. Hoffacker: Raumplanung, 1989. 50 Dinges: Männlichkeit, 2007. 51 Lengwiler: Risikoverhalten, 2007, S. 273-274.
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schaftlichen Konstruktion des bergmännischen Körpers auch Männlichkeitskonzepte verhandelt wurden. Die enge Verknüpfung von Körper- und Geschlechterkonstruktionen macht es notwendig, die spezifisch männlichen Identitäten im Bergbau zu analysieren und hervorzuheben. In besonderem Maße interessiert in diesem Zusammenhang, inwiefern bergmännische Körper- und Männlichkeitskonzepte mit nationalsozialistischen Arbeitsund Körperideologien kompatibel waren.52 Krankheit und körperliche Schwäche galten in der männlichen, körperzentrierten „Machokultur“ der Bergleute, wie sie sich z.B. auch im Arbeitersport manifestierte, als besondere Makel, stellten sie doch gleichsam das einzige Kapital des Bergmanns, seine Arbeitskraft, infrage, und damit seine berufliche und gesellschaftliche Rolle, z.B. als Ernährer einer Familie. Gearbeitet wurde nicht selten trotz Krankheit und durchaus unter bewusster Missachtung von Sicherheitsbestimmungen, um das vorgeschriebene Gedinge, also die leistungsbezogene, akkordähnliche Lohnvereinbarung, zu erreichen. Der nationalsozialistische Körperkult war mit diesem bergmännischen Verhalten durchaus kompatibel. Die Grenzen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung hinsichtlich der körperlichen Identität des Bergmanns erweisen sich als fließend. Auch hier gilt es, bergmännische Körperkonstruktionen und -identitäten zusammen mit den Veränderungen im Arbeitsprozess unter Tage zu untersuchen. So dienten die Eingriffe nationalsozialistischer Politik in die betriebliche und Versicherungspraxis vor allem der erhöhten Leistungssteigerung der Belegschaft.53 Das führte im medizinischen Bereich der knappschaftlichen Krankenversicherung z.B. zu einer drastischen Uminterpretation von bergmännischer Arbeitsfähigkeit und -unfähigkeit, die sich nicht nur in der Expansion institutioneller Kontrollmechanismen (vertrauensmedizinischer Dienst) zeigt, sondern vor allem in der alltäglichen Praxis des Krankschreibens und im repressiven Umgang mit krankfeiernden Bergleuten.54 Daran anschließend ist einerseits zu fragen, inwiefern sich die risikofreudige, produktionsorientierte „Machokultur“ der Bergarbeiter, wie sie in der Hochindustrialisierung anzutreffen ist, im Zuge der Rationalisierung
52 Rabinbach: Aesthetics, 1979. Friemert: Produktionsästhetik, 1980. Wildmann: Begehrte Körper, 1998. Diehl: Körper, 2006. 53 Gilingham: Ruhrbergleute, 1979. Höfler-Waag: Leistungsmedizin, 1994. 54 Süß: Volkskörper, 2003. Bluma u.a.: Prinzipal-Agenten-Probleme, 2010.
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und Mechanisierung des bergmännischen Arbeitsplatzes in den 1920er Jahren bis hin zur „Vollmechanisierung“ Ende der 1960er Jahre wandelte. Führten die Mechanisierung der bergmännischen Arbeit und die ökonomische Krise des Bergbaus in der BRD auch zu einer Krise der Körper- und Männlichkeitsidentitäten, oder haben wir es mit einem synchronen Prozess der Anpassung zu tun? Im letzteren Fall wäre zu klären, welche Legitimationsstrategien die Akteure entwickelten, um weiterhin das Monopol der Männerarbeit unter Tage zu rechtfertigen. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass im Kaiserreich internalisierte spezifisch männliche Identitäten und Körperzuschreibungen im Ruhrkohlenbergbau bis in die 1970er Jahre fortdauerten, also eine insgesamt bemerkenswerte Kontinuität aufweisen, die sich der gängigen Periodisierung des Untersuchungszeitraums 1880-1980 entziehen. Zumindest im Falle der Männlichkeitsidentitäten hat das weiter unten formulierte Phasenmodell einer Körpergeschichte des Ruhrbergbaus nur eingeschränkte Gültigkeit. Die Frage inwiefern der festgestellte Identitätenwandel der 1970er Jahre überhaupt auf Veränderungen des Arbeitsplatzes beruht oder eher als ein Phänomen eines allgemeinen, tiefgreifenden soziokulturellen Wandels der BRD anzusehen ist, muss hier noch unbeantwortet bleiben.55 Die auch als „rough manhood“ zu beschreibende bergmännische „Machokultur“ basierte insbesondere aber nicht ausschließlich auf die spezifischen Arbeitsbedingungen unter Tage.56 Hervorzuheben als prägende Faktoren sind die berufliche Konkurrenz der Bergleute untereinander bei gleichzeitiger teamorientierter Arbeit, die hohe Risikoaffinität, die sich z.B. im absichtlichen Umgehen der Sicherheitsvorschriften äußerte, sowie die immer wieder feststellbare Resistenz der Bergmänner gegenüber externen Kontrollversuchen und Disziplinierungsmaßnahmen. Die für England in einer historischen Studie zur Lungenerkrankung der Bergleute aufgezeigten „widerständigen“ und „renitenten“ Handlungsweisen lassen sich umstandslos für den Bergbau an der Ruhr in den Quellen nachweisen.57 McIvor und Johnston können überzeugend zeigen, dass die produktions- und lohnorientierte Ideologie von Gewerkschaften und Staat in Großbritannien durchaus von den Betroffenen selbst, den Bergleuten, geteilt wurde. Die „Machokul-
55 Zum Strukturwandel der 1970er Jahre siehe Jarausch: Zuversicht, 2008. 56 Zur rough manhood: Meyer: Rough Manhood, 2002. 57 McIvor/Johnston: Miners’ Lung, 2007.
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tur“ unter Tage und die maskulin orientierte Konkurrenzkultur der Bergleute untereinander beförderte den nachlässigen Umgang mit gesundheitlichen Risiken. Technische Maßnahmen zur Staubbekämpfung wurden von den Bergarbeitern umgangen und aktiv unterlaufen bis hin zur Sabotage. Die Studie richtet ihr Augenmerk zudem auf die Erkrankten und Invaliden des Bergbaus, deren männlich orientierte Handlungsmuster durch die Staublungenerkrankung untergraben wurden. In dieser eigentümlichen und durchaus auch widersprüchlichen Verschränkung von bergmännischen Produktions- und Arbeitsethos mit männlichen Subjektivierungsweisen erschließt sich in der historischen Analyse ein Großteil des biopolitischen Konfliktpotenzials im Ruhrkohlenbergbau. Methodisch kann für diesen Themenbereich an das Konzept hegemonialer Männlichkeit von Robert W. Connell angeknüpft werden, der vor allem die Geschlechterkonfigurationen als eine dynamische Praxis versteht.58 Ob sich in der Langlebigkeit einer industriellen „rough manhood“ aber tatsächlich eine hegemoniale Männlichkeit ausdrückt, und zwar im Sinne Connells eine Praxis, die die Dominanz der Männer und die Unterdrückung der Frauen gewährleisten sollte, kann bezweifelt werden.59 Insgesamt kann festgestellt werden, dass es nur wenige Fallstudien zum Zusammenhang von Männlichkeit und Arbeit gibt,60 während geschlechterhistorische Studien zu Frauen und Industriearbeit, die auch gesundheitliche Aspekte einbeziehen, durchaus vorliegen.61 Wie sehr die körperliche Arbeit und deren öffentliche Inszenierung die Identität einer ganzen Region geprägt hat, zeigt z.B. Edward Slavishak am Beispiel der Industriestadt Pittsburgh.62 Ähnliche Ergebnisse für das Ruhrgebiet lassen sich in Arbeiten zur Geschichte der Ikonographie ausmachen, die sich den bildlichen Repräsentationen widmen,63 dabei allerdings den besonderen Stellenwert der öffentlichen Visualisierung des Bergbaus und
58 Connell: Mann, 1999. 59 Zur Kritik an Connells Konzept siehe Dinges: Hegemoniale Männlichkeit, 2005. 60 Eine Übersicht dazu findet sich in Martschukat/Stieglitz: Männlichkeiten, 2008, S. 103-111. Für den Bergbau insbesondere Kift: Männerwelt, 2011. 61 Exemplarisch: Ellerkamp: Industriearbeit, 1991. 62 Slavishak: Bodies, 2008. 63 Günter: Ikonographie, 1996. Schneider: Schwarzweiß, 2000. Osietzki: Bildgeschichten, 2004.
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der bergmännischen Arbeit für die soziale Konstruktion und Identität der Industrieregion nicht gesondert betrachten. Dies macht es notwendig, neben schriftlichen Quellen bildliche Repräsentationen des bergmännischen Körpers zu analysieren. Dazu zählen sowohl Fotografien vom Körper des Bergmanns und seines Arbeitsplatzes64 als auch die Inskriptionen medizinischer Experimentalsysteme, wie z.B. die Kurvenlandschaften, die die Aufzeichnungen des Augenzitterns der Bergleute hinterließen, bis hin zu statistischen Repräsentationen der bergmännischen Krankheiten, die die knappschaftliche Krankenversicherung produzierte und den bergmännischen Körper in einen verwalteten überführten.65 In diesem Sinne sind die Körper-Repräsentationen Teil einer Biopolitik des Sehens und Zeigens. Die bildlichen Repräsentationen vom bergmännischen Körper stellen somit verbindliche Vorstellungen von Subjekt und Gesellschaft dar und werden als strategische Elemente der Akteure im biopolitischen Dispositiv des Ruhrbergbaus interpretiert.
3. P HASENMODELL R UHRBERGBAU
ZUR
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IM
Bewegte sich dieser Beitrag bisher im Rahmen konzeptioneller Überlegungen zu einer neuen Geschichte der Arbeit als körperzentrierte Geschichte der Biopolitik, sollen diese nun, allerdings nur kursorisch, konkretisiert werden. Es wird ein Phasenmodell vorgeschlagen, welches die Geschichte der Biopolitik im Ruhrbergbau in vier Abschnitte strukturiert: 1) 2) 3)
1880-1920: Hygienisierung des Ruhrbergbaus 1920-1937: Rationalisierung von Arbeit und Körper 1937-1945: Nationalsozialistische Leistungsideologie als biopolitische Leitidee
64 Siehe insbesondere Unverfehrt/Kroker: Arbeitsplatz, 1981. Kroker: Arbeitsplatz, 1986. 65 Zu Statistiken als Regierungstechnologie der Gesundheitspolitik siehe Gottweis: Verwaltete Körper, 2004, S. 67-69. Zur Problematik der wissenschaftlichen Inskriptionen siehe Rheinberger: Räume, 1997.
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1945-1970er: Vorsorge und Fürsorge im Bergbau, Vollmechanisierung als „Humanisierung der Arbeitswelt“
Zu 1) 1880-1920: Hygienisierung des Ruhrbergbaus Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich im deutschen Bergbau eine Problematisierung und Objektivierung der Arbeit durch, die den Körper des Bergmanns im Rahmen einer sich formierenden „industriellen Risikogesellschaft“ transformierte. Die Verabschiedung des Krankenversicherungsgesetzes im Deutschen Reich am 29. Mai 1883 markierte auch für den Bergbau eine einschneidende Wende, obwohl mit der Knappschaftsversicherung schon weit vor diesem Gesetz, nämlich seit dem Mittelalter, die Bergleute Versicherungsschutz gegen Krankheit und Invalidität genossen hatten. Mit der Einführung der Bismarck’schen Versicherungen definierte sich nun aber der Staat explizit als Wohlfahrts- und Vorsorgestaat, der die sozialen Beziehungen durch das Versicherungswesen neu regulierte.66 Die Transformation individueller Gefahren und Verantwortlichkeiten in kollektive Sicherungssysteme erforderte eine Rationalität, die sich auf MachtWissens-Beziehungen stützte, die nicht mehr das freie Subjekt als Ausgangspunkt nahmen, sondern die Totalität der Subjekte, also die Gesellschaft. Als soziales Subjekt war der Bergmann und im Rahmen der knappschaftlichen Krankenversicherung vor allem sein Körper als Teil einer gefährdeten und gefährlichen Risikogruppe zu einem Politikum geworden. Der Körper des Bergmanns wurde durch diese staatliche Biopolitik aus der Sphäre der individuellen Verantwortung im Sinne einer Selbstsorge und Selbstverantwortung überführt in die kollektive Verantwortung des Staates, der von ihm gesetzlich verankerten Versicherungsgesellschaften und der dort vertretenen Akteure. Es ist kein historischer Zufall, dass die Entstehung des Vorsorgestaates einherging mit neuen medizinischen Diskursen und Praktiken. Gerade die Hygienebewegung und die Arbeitsmedizin sowie die gewerbliche Unfallforschung entfalteten sich in enger Rückkopplung mit der Transformation der sozialen Beziehungen und ließen neue biopolitische Praktiken entstehen, die nur im Kontext des Vorsorgestaates wirksam werden konnten. Aus der Risikopolitik, der gleichsam nachgelagerten Kompensation von Ar-
66 Zur Entstehung des modernen Vorsorgestaates, Ewald: Vorsorgestaat, 1993.
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beitsrisiken, wurde nun Zug um Zug eine Biopolitik, und das meint vor allem, dass die Knappschaft nicht nur dem Paradigma der Risikoregulierung folgte, sondern vor allem die Produktivität des bergmännischen Körpers in Beziehung zu seiner Umwelt, dem Arbeitsplatz, thematisierte. Für das Kaiserreich bestimmte das wissenschaftliche Leitbild der Hygiene sowohl den öffentlichen als auch den Expertendiskurs über die Gesundheit der Arbeiter.67 Im Rahmen dieses hygienischen Leitbildes wurde die Beziehung des Bergarbeiters zu seinem Arbeitsplatz, seiner Umwelt, zum ersten Mal systematisch und wissenschaftlich analysiert. Doch das hygienische Leitbild stoppte nicht an den Werkstoren der Zechen und Fabriken, vielmehr geriet das städtische Leben als Ganzes nun in den Fokus von Medizinern, Ingenieuren und Politikern.68 Allenthalben kann für das Ruhrgebiet trotz aller defizienten Urbanisierung festgestellt werden, dass im Zuge der Hygienisierung wichtige kommunale Infrastrukturprojekte in Angriff genommen wurden, die, wie z.B. die zentrale Versorgung mit sauberen Wasser, eine effiziente Abwasserentsorgung, die Gründung von Schlachthäusern usw., direkten Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung besaßen.69 Auch die schlechten Wohnverhältnisse der Arbeiter an der Ruhr, insbesondere aber der Bergarbeiter, wurden im Rahmen hygienischer Diskurse abgehandelt. Schon die „Hygiene des Bergmanns“ im engeren Sinne, d.h. in Bezug auf den bergmännischen Arbeitsplatz, umfasste ganz unterschiedliche Bereiche wie die Erste Hilfe, Berufskrankheiten und Unfallschutz.70 Im Ruhrgebiet waren es die Knappschaft und die Bergbau-Berufsgenossenschaft, die mit ihren medizinischen Experten die Hygienisierung des Bergbaus vorantrieben. Die Knappschaft baute nicht nur ihr seit dem Ende des 18. Jahrhundert bestehendes Knappschaftsärztesystem aus, sondern gründete 1903 und 1905 eigene Knappschaftskrankenhäuser in Gelsenkirchen und Reck-
67 Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 100. 68 Anne Hardy hat auf die Widersprüche hygienischer und medizinischer Theorien und den Hygienemaßnahmen in der Praxis hingewiesen, ohne allerdings das Ruhrgebiet als „industrielles Laboratorium“ für die Hygienisierung der Arbeiterschaft näher zu betrachten. Hardy: Ärzte, 2005. 69 Vonde: Revier, 1989. 70 Goldmann: Hygiene, 1903.
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linghausen, um den vermeintlichen Mangel an medizinischer Infrastruktur im Ruhrgebiet für die versicherten Bergleute zu beheben.71 Aber auch neue medizinisch-hygienische Institutionen, wie das aus Anlass einer Typhusepidemie auf Anraten von Robert Koch 1901 gegründete überkommunal agierende Gelsenkirchener Hygieneinstitut, wurden zu bedeutsamen Akteuren der Biopolitik des Ruhrbergbaus. Einfallstor für die Hygieniker, Gewerbemediziner und Knappschaftsärzte über die Wohnverhältnisse der Bergleute ebenso nachzudenken wie über die zweckmäßige Einrichtung von Waschkauen, die richtige Aufbewahrungsart der Arbeitskleidung und den Luftverhältnissen unter Tage war die Hakenwurmepidemie an der Ruhr, die Ende des 19. Jahrhunderts ausbrach.72 Der aus den Tropen eingeschleppte Parasit, der in den feuchten, warmen und mit Kot verunreinigten Kohleminen des Ruhrgebiets ideale Lebensbedingungen vorfand, infizierte, so zeitgenössische Schätzungen, zwischen 1900 und 1903 ca. 10 % der Zechenbelegschaft an der Ruhr. Diese existenzielle Bedrohung des Bergbaus führte nicht nur zu Anhörungen vor dem Reichstag und zur Gründung verschiedener Expertenkommissionen, sondern mündete in ein hygienisch-bakteriologisches Regime, welches nicht nur die Totaldurchmusterung des bergmännischen Kots nach Hakenwürmern umfasste, sondern auch die tiefgreifende Umgestaltung des bergmännischen Arbeitsplatzes nach damaligen hygienischen Standards (erwähnt sei hier nur die Einrichtung eines „Kübelregimes“, also die Organisation der regelmäßigen Abortleerung und -säuberung unter Tage). Der Arbeitsplatz des Bergbaus wurde so zu einem Experimentierfeld der neuen aufstrebenden Disziplin Hygiene. Da die konsequente Durchsetzung von hygienischen Normen und Handlungsmustern (Benutze die Aborte unter Tage!) Voraussetzung für die erfolgreiche Bekämpfung des Hakenwurms war, konnte sich auch im Ruhrbergbau die für die Hygienebewegung des Kaiserreichs typische Verbindung von medizinischer und moralischer Intervention etablieren.73 Der Bergmann galt den bürgerlichen Medizinern, wie alle Proletarier, als ein hygienisches Mängelwesen, dem es eben auch an moralischer Einsicht fehlte und der mit seiner unsauberen Lebensführung seine Umgebung gefährdete. Die These, dass für die Hochindustrialisierung eine forcierte Pathologi-
71 Lauf: Knappschaftskrankenhäuser, 2009. Bluma: Heterotope Orte, 2010. 72 Bluma: Hakenwurm, 2009. 73 Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 96.
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sierung und Hygienisierung der Industriearbeit beobachtet werden kann, die die medizinische Kontrolle und Disziplinierung des bergmännischen Körpers als anerkannte soziale Praktiken des Bergbaus bewirkten, konnte bestätigt werden. Mit der Durchsetzung der Hygiene Ende des 19. Jahrhunderts als eine spezifische Form der Objektivierung der Mensch-Umweltbeziehungen änderte sich somit das gesamte Beziehungsgeflecht des bergmännischen Körperdispositivs.74 Der Körper des Bergmanns wurde so zu einem zentralen Objekt des hygienischen Wissens und der Institutionen normativer Macht transformiert. Er ist Teil einer Biopolitik geworden, die das Verhältnis der Akteure zum bergmännischen Körper neu regulierte. Zu 2) 1920-1937: Rationalisierung von Arbeit und Körper Ähnlich wie die industrielle Fabrikarbeit geriet auch der Kohlenbergbau in der Zwischenkriegszeit in den Blick der Rationalisierungsvertreter und der Anhänger des sogenannten „social engineering“, die ein spezifisch modernes Ordnungsdenken etablierten, welches nicht nur die Effizienz des Betriebes steigern sollte, sondern sich auf die Industriegesellschafts als Ganzes bezog.75 Entsprechend diesem Ordnungsdenken wurde der Bergbau an der Ruhr sowohl im Hinblick auf die technischen Rationalisierungsmöglichkeiten als auch im Hinblick auf die Leistungssteigerung der Arbeitsleistung des Bergmanns untersucht. Zum ersten Punkt sind grundlegende historische Arbeiten entstanden, die die Technisierung des bergmännischen Arbeitsplatzes zum Gegenstand haben.76 Der schon im Kaiserreich punktuell eingesetzte Schüttelrutschbetrieb gilt als eine exemplarische technische Umsetzung des Rationalisierungsgedankens, der nicht nur die Effizienzsteigerung zum Ziel hatte, sondern auch die Kontrollierbarkeit der Arbeitsabläufe und damit der einzelnen Arbeitsgruppen unter Tage forcierte.77 Damit hatte die Schüttelrutsche in Verbindung mit der Intensivierung anderer bergmännischer Techniken, wie z.B. der vermehrte Einsatz von Bohrhämmern, sowohl für die körperliche Arbeitsbelastung als auch für den Ar-
74 Bluma: Hakenwurm, 2009. 75 Luks: Betrieb, 2010. 76 Hartewig: Jahrzehnt, 1993, S. 82-119. Burghardt: Mechanisierung, 1995. 77 Hartewig: Jahrzehnt, 1993, S. 84-87.
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beitsplatz als sozialen Ort einschneidende Konsequenzen. An Körperbelastungen sind vor allem die Zunahme an Staub und Lärm zu nennen, aber auch die Zunahme von Gelenk- und Muskelentzündungen. Die gesundheitliche Problematik des technisierten Bergbaus wurde in den 1920er Jahren überführt in eine Diskussion um die langfristigen Folgen der Industriearbeit, mithin also in den Diskurs der Berufskrankheiten als anerkannte, erstattungspflichtige körperliche Schäden.78 Diese gleichsam dritte Säule neben der klassischen Versicherung von Unfall- und allgemeinen Krankheitsrisiken, war tatsächlich ein neues Leitbild in der Biopolitik des Ruhrkohlenbergbaus, weil nun auch langfristig wirksame berufsspezifische Risiken einer Regulation unterworfen werden mussten. Der medizinische Vorsorgegedanke, der zunächst im Rahmen der Unfallverhütung eine prominente Rolle gespielt hatte, konnte damit auf alle biopolitischen Felder des Bergbaus ausgeweitet werden, was jedoch mit allen Konsequenzen erst nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen sollte. Was die oben erwähnte Steigerung der bergmännischen Arbeitsleistung angeht, sind die Versuche zu erwähnen, alle körperlichen, sozialen und psychischen leistungsbezogenen Faktoren zu objektivieren und zu optimieren. Die im Rahmen des Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungsund Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft vorgenommene Studie zu den Arbeitsverhältnissen im Steinkohlenbergbau kann als ein relevanter Beitrag zu dieser spezifischen Form der Objektivierung im Rahmen des rationalistischen Ordnungsdenkens gelten.79 War es die eigentliche Aufgabe des sogenannten „IV. Unterausschusses“, die Arbeitsleistung im Steinkohlenbergbau in Abhängigkeit von Arbeitszeit und Arbeitslohn zu untersuchen, so stellt der genannte Bericht letztendlich einen Versuch dar, alle möglichen Faktoren, die die Arbeitsleistung beeinflussen können, zu systematisieren und zu objektivieren. Es finden sich also auch Kapitel zum Einfluss politischer und wirtschaftlicher Ereignisse, geologischer und meteorologischer Verhältnisse, der maschinellen Einrichtungen, der Arbeiterqualifikation und Belegschaftsstruktur, der Wohnverhältnisse, der Freizeitbeschäftigung sowie der Krankheiten und Unfälle auf die bergmännische Leistung. Auch wenn durchaus betont wird, dass die „zentrale Stellung des
78 Schürmann: Regulierung, 2011, S. 41-63. Boyer: Unfallversicherung, 1995, S. 129-136. 79 Unterausschuß für Arbeitsleistung: Verhandlungen, 1928.
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Arbeitszeit- und des Lohnproblems in der Problemstellung des Arbeitsleistungsausschusses“ nicht aufgegeben worden ist, zeigt der Bericht sehr deutlich erste Züge zu einer Erfassung aller derjenigen Faktoren, die wir heute unter dem Begriff des Human Ressource Managements fassen würden,80 und dazu zählen auch genuin biopolitische Faktoren wie Gesundheit, Alter, Geschlecht, Ernährungszustand usw. Die Rationalisierungsdebatte ist hier schon an einem Punkt angekommen, der nicht nur das Biologische und die Körperlichkeit als eine spezifische Form der Produktivkraft anerkennt, sondern darüber hinausgehend auch alle Formen der sozialen Reproduktion wieder in die Ordnung der Produktion und Arbeitsleistung eingliedert. Zu 3) 1937-1945: Nationalsozialistische Leistungsideologie als biopolitische Leitidee Die Berichte von anhaltender geringer Arbeitsmoral im Bergbau 1937, die sich an hoher unentschuldigter Abwesenheit und Krankfeiern ablesen ließ, versuchten die Knappschaftsverwaltung und die Bergbehörden nicht durch die Bekämpfung der Ursachen (Leistungsverdichtung, damit einhergehende gesundheitliche Beeinträchtigungen, ungenügende materielle Anreize, Erhöhung der Arbeitszeit usw.), sondern durch weiteren Druck auf die Bergleute einzudämmen.81 Die Dringlichkeit schneller Maßnahmen ergab sich aus dem finanziellen Fehlbetrag der Knappschaftsversicherungen, die den gesteigerten Ausgaben für die Krankengeldzahlungen geschuldet war und auch bei der Ruhr-Knappschaft zu einem Defizit in der knappschaftlichen Krankenkasse führte.82 Da die betrieblichen Verhältnisse und Arbeitsbedingungen von den Knappschafts-Krankenkassen nicht zu beeinflussen waren, blieben ihnen nur die altbewährten Mittel der Moralisierung, der Leistungsbegrenzung und der Patientenkontrolle als Handlungsmöglichkeiten über. Allerdings sollte sich in den Folgejahren zeigen, dass allein die verschärfte Kontrolle der Versicherten zu realisieren war. So hatte es die Knappschaftsverwaltung um 1940 aufgegeben, durch Appelle an die Arbeitsmoral, den Kran-
80 Zur frühen Geschichte des Human Resource Managements, Kaufman: Human Factor, 2008. Kaufman: Hired Hands, 2010. 81 Höfler-Waag: Leistungsmedizin, 1994, S. 53-54. 82 Thielmann: Krankenversicherung, 1939, S. 415-416.
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kenstand zu senken. Die Internalisierung von erwünschten bergmännischen Verhaltensnormen galt somit als gescheitert.83 Anstatt auf den Bergmann konzentrierten sich die Knappschaften nun auf die Ärzteschaft als Zielscheibe weiterer Moralisierungspropaganda. Die Tätigkeit des Knappschaftsarztes als praktischer Arzt oder Gutachter für die Sozialversicherung in der Rüstungsindustrie und im Ruhrbergbau wurde als kriegsentscheidend aufgewertet, um eine als notwendig angesehene Verhaltensänderung bei den Krankschreibungen durch die Ärzte herbeizuführen. Es ist wohl eine der vielen Widersprüchlichkeiten im nationalsozialistischen System, dass die Knappschaftsverwaltung eine rigide Strategie bei Krankschreibung und Invalidität vertrat, was den Vorgaben nationalsozialistischer Sozialpolitik geschuldet war,84 andererseits aber die Gesundheitsfürsorge erweiterte, allerdings strikt im Sinne einer Aufrechterhaltung der „Arbeitskraft“ und „Arbeitsfähigkeit“ der Belegschaft. Mithin galt Gesundheit nur noch als ein schützenswertes Gut in Bezug auf die Erhaltung, Optimierung und Wiederherstellung der Arbeitsleistung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie der „Erhaltung und Stärkung der Volkskraft.“ Wobei allerdings der grundsätzliche Gedanke, dass neben der nachgelagerten Risikoabsicherung der Arbeitsunfähigkeit als Fürsorgeprinzip die vorsorgliche Vermeidung von Krankheit ein wesentlicher Teil der Krankenversicherung sein sollte, schon in der Weimarer Republik weitgehend akzeptiert war. Allerdings wurden durch die nationalsozialistischen Akteure sowohl die diskursiven Zuschreibungen des bergmännischen Körpers als auch die knappschaftliche Praxis des Medizinalwesens erheblich umgestaltet. Dem Körper des Bergmanns wurde nun das Arbeitsethos und die Leistungsideologie der neuen nationalsozialistischen Akteure im Sinne einer Menschenökonomie, die die „letzten Reserven an Arbeitskräften“ mobilisieren wollte, „einverleibt“.85 Und das nicht ohne Erfolg, wie die steigenden Produktionszahlen im Ruhrbergbau während des Zweiten Weltkriegs zeigen. Der bergmännische Körper wehrte sich auf seine eigene Weise gegen diese Fremdund teilweise auch Selbstzumutungen, nämlich durch Erschöpfung.
83 Geyer: Reichsknappschaft, 1987, S. 340-344. 84 Schmidt: Sozialpolitik, 2005, S. 67. 85 Reiter: Arbeitshygiene, 1939, S. 246.
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Zu 4) 1945-1970er: Vorsorge und Fürsorge im Bergbau, Vollmechanisierung als „Humanisierung der Arbeitswelt“ Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Akteurskonstellation im Bergbau tiefgreifend. Durch die gesetzliche Verankerung der Montanmitbestimmung 1951 war die Dominanz der Unternehmer auch in der betrieblichen Biopolitik beendet. Die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten der Montanunternehmen hatten nun weitgehende Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen soweit sich diese im Rahmen der gesetzlichen Arbeitsschutzregelungen bewegten. Allerdings ist auch für die Nachkriegszeit und insbesondere für die Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders in den 1950er Jahren festzustellen, dass die praktische Umsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen und Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge durchaus hinter einer „tonnenorientierten“ Produktionsmentalität, die sowohl von Arbeitgebern als auch Arbeitnehmern geteilt wurde, zurückstehen musste. Auch für diesen Zeitraum lassen sich zahlreiche absichtliche Verstöße der Bergleute gegen entsprechende Maßnahmen nachweisen. Eine Auswertung der Zeitschrift „Der Kompass“ für die Nachkriegsjahre hat ergeben, dass neben dem seit 1925 gesetzlich verankerten Widerertüchtigungs- und Rehabilitationsprinzip nun die Gesundheitsvorsorge eine immer größere Rolle spielte. Zielte die Rehabilitation auf die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, sollte die Gesundheitsvorsorge schon vorzeitig die Gefahr einer Erwerbsunfähigkeit bannen. Demgegenüber besaß der Kompensationsgedanke, wie er in den sozialen Sicherungssystemen des Kaiserreichs als dominierende Leitidee zu finden ist, nur noch eine untergeordnete Rolle. Für das Medizinalsystem der Knappschaft an der Ruhr hieß dies z.B. die Etablierung einer neuen medizinischen Infrastruktur, nämlich die Gründung von Vorsorgeheimen 1957 (in Hundseck, Schönberg und Borkum). Bemerkenswert ist hierbei, dass die seit dem Kaiserreich beobachtbare langfristige Verschiebung und Umorientierung innerhalb des medizinischen Dispositivs im Bergbau durch die Vorsorgeheime ihren sinnfälligen Ausdruck findet. Schon durch die Hygienisierung des bergmännischen Körpers wurden in der Biopolitik des Ruhrbergbaus Maßnahmen integriert, die auf die gesamte Lebenswelt des Bergmanns zielten, also z.B. auf Wohnverhältnisse, Ernährung usw. Die Vorsorgeidee der BRD umfasste ebenfalls biopolitische Maßnahmen, die weit über die Arbeitsplatzgestal-
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tung hinausgingen. Auf Grund der zunehmenden Bedeutung von Herz- und Kreislauferkrankungen, die sich in den 1960er Jahren an die Spitze der Todes- und Invalidisierungsursachen setzten, geriet einmal mehr das Verhalten der Bergmänner in ihrer Freizeit in den Blickpunkt der Mediziner. Als Ursachen für das veränderte Krankheitsbild wurden Bewegungsmangel, Fehlernährung, Übergewicht, Genussmittelmissbrauch und seelische Beeinträchtigungen genannt, die mithin sowohl den tiefgreifend gewandelten Arbeitsanforderungen als auch den schnellen Veränderungen der Lebensbedingungen in einer technisierten Industriegesellschaft geschuldet waren.86 Vorsorge hieß nun, dem Bergmann in 4-wöchigen Fitness- und Fortbildungskursen die Grundlagen einer gesunden Lebensweise beizubringen. Mithin wurde mit dem Motto „Selbst aktiv werden“ an das selbstverantwortliche Subjekt appelliert. Neben diesem Vorsorgegedanken entwickelte sich die Bekämpfung der Silikose als eines der wichtigsten Betätigungsfelder der Biopolitik im Ruhrkohlenbergbau der Nachkriegszeit. Als eine konsequente Folge der hier seit dem Kaiserreich verfolgten biopolitischen Stränge kann die Vollmechanisierung des Bergbaus seit den 1970er Jahren angesehen werden, die von allen relevanten Akteuren vorangetrieben wurde und heute im Schildausbau technisch realisiert ist. Der „lange Abschied vom Malocher“ kann als Kulminationspunkt einer hundertjährigen Biopolitik aufgefasst werden, die letztendlich die Körperlichkeit von Arbeit und die damit einhergehenden Risikoregulierungen und Kompensationen zu negieren versuchte.87 Anstelle der körperlichen Arbeitsleistung wurde nun die technisch vermittelte Beherrschung der bergmännischen Arbeit gesetzt und zwar nun nicht mehr ausschließlich als effizientes Mittel der Produktionsrationalisierung und Arbeiterkontrolle, sondern als ein Projekt zur „Humanisierung des Arbeitslebens“, wie es Hans Matthöfer als Bundesminister für Forschung und Technologie formulierte.88
86 Mörchen: Gesundheitsvorsorge, 1966. Schauwecker: Vorsorgekuren, 1967. 87 Hindrichs: Abschied, 2000. 88 Matthöfer: Humanisierung, 1978. Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 205-209. Bieneck: Humanisierung, 2009. Sauer: Humanisierung, 2011.
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„Die schaffende Menschenkraft bewirtschaften“ Zur Schulung und Erziehung von Arbeiter- und Werkskörpern im Ruhrbergbau der 1920er Jahre D AGMAR K IFT
1. E INLEITUNG In den 1920er Jahren nahmen die Bergwerksleitungen die durch den Ersten Weltkrieg unterbrochene Mechanisierung der Arbeit unter Tage wieder auf. Beim Transport der Kohle unter Tage kamen immer mehr Haspel, Schüttelrutschen und Schrämmaschinen zum Einsatz, bei ihrer Gewinnung ersetzten pressluftbetriebene Abbauhämmer bis 1930 die Handwerkzeuge Schlägel, Eisen und Spitzhacke fast vollständig: 1930 wurden über 90 % der Kohlen per Abbauhammer gewonnen.1 Parallel zur Mechanisierung erfolgte eine Runderneuerung der Anlagen und die Herrichtung neuer Lagerstätten, beides ermöglicht durch die in der Inflation der Nachkriegszeit billigen Kredite sowie den Förderstreik während der Ruhrbesetzung.2 Schließlich wurden in den 1920er Jahren untertägige Betriebspunkte zu größeren, übersichtlicheren und effizienter zu bewirtschaftenden Produktionseinheiten zusammengefasst („positive Rationalisierung“) und unrentable Schachtanla1
1914 hatte man nur 2,5 % der Kohle per Abbauhammer gewonnen. Zu dieser Zeit waren ungefähr 200 Abbauhämmer im Einsatz gewesen; 1930 zählte man etwa 78.500. Vgl. dazu Burghardt: Mechanisierung, 1995, S. 392.
2
Ebd., S. 239.
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gen stillgelegt („negative Rationalisierung“). Immer mehr Zechen schlossen sich zu größeren Einheiten zusammen, bis im Oktober 1926 mit den Vereinigten Stahlwerken der bis 1945 größte europäische Montankonzern entstand. Ein halbes Jahr vor seiner Gründung hielt Oberingenieur Carl Arnhold vor den Mitgliedern des Vereins für die bergbaulichen Interessen einen Vortrag, den er anschließend unter dem Titel „Die Heranbildung eines hochwertigen Bergarbeiter-Nachwuchses“ in der Zeitschrift „Glückauf“ veröffentlichte.3 Die Zeitschrift stellte Arnhold als Leiter des Ausbildungswesens bei der Gelsenkirchener Bergwerks-A.G. (GBAG), Abteilung Schalke vor; gemeint war das bis zur Fusion mit der GBAG 1907 „Schalker Verein“ genannte Hüttenwerk. Arnhold, der sich auf die berufliche Ausbildung spezialisiert hatte, leitete dort seit 1921 die Werksschulbetriebe. Durch eine rege Vortrags- und Veröffentlichungstätigkeit erarbeitete er sich nicht nur im Ruhrgebiet einen Ruf als innovativer Industriepädagoge, dessen fachliche Leistungen auch von seinen politischen Gegnern anerkannt wurden.4 Den Vertretern des Bergbaus legte er 1926 nahe, nun ebenfalls eine systematische Ausbildung der jugendlichen Berufsanfänger einzuführen,
3 4
Arnhold: Heranbildung, 1926. Robert Carl Arnhold (1884-1970) wurde in Elberfeld geboren, wo er nach Abschluss der Realschule eine Ausbildung an der Königlichen Höheren Maschinenbauschule absolvierte. 1904 begann er sein Berufsleben bei den Eisenwerken G. & J. Jaeger in Elberfeld und stieg dort innerhalb von drei Jahren vom Konstrukteur zum Betriebsingenieur auf. Gefördert wurde er dort vor allem von Ing. Dr. Siegfried Werner, dem Arnhold vermutlich auch erste Kenntnisse des USamerikanischen „scientific management“ verdankte: Werner war zuvor einige Zeit als Angestellter der United Steel Corp. tätig gewesen und hatte anschließend versucht, die Methoden des „scientific management“ in Elberfeld auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. 1909 wandte Arnhold sich der Berufsausbildung zu und unterrichte nicht nur die Lehrlinge bei Jaeger, sondern auf Anregung von Werner auch an der gewerblichen Fortbildungsschule der Stadt Elberfeld. Gleichzeitig bildete er sich weiter und belegte bis 1913 einerseits Ingenieurkurse an den Technischen Hochschulen in Aachen und Braunschweig, andererseits Fachkurse für Gewerbelehrer. Vgl. dazu Gesellschaft für Arbeitspädagogik: Leben, 1964, S. 8. Fiedler: Arnhold, 1999, S. 318-320 u. S. 323.
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wie sie in der „Hütten- und Maschinenindustrie“ bereits praktiziert wurde.5 Eine optimale Wirtschaftlichkeit, so seine Begründung, könne nämlich nicht allein durch Mechanisierung, also den Ersatz von Muskelkraft durch Maschinenarbeit, und eine effiziente(re) Organisation der Betriebe erreicht werden, sondern nur, wenn man sich auch eines dritten und letztlich entscheidenden Aspekts annähme: dem „Problem der Menschenökonomie“.6 Um die im personalintensiven Bergbau besonders hohen Personalkosten zu senken, gelte es, wie Arnhold an anderer Stelle konkretisierte, „den entscheidendsten Faktor jeden Leistungsprozesses, die schaffende Menschenkraft, [besser; DK] zu bewirtschaften“.7 Dies könne nur im Rahmen einer planmäßigen Ausbildung geschehen, zu der eine Praxis und Theorie verbindende Arbeitsschulung in separaten Lehrwerkstätten genauso gehöre wie eine umfassende Arbeitserziehung während der Arbeit und in der Freizeit. Außerdem seien die Eltern unterstützend einzubeziehen und die Schwestern flankierend (um)zuerziehen. Arnhold nahm hier und mit Blick auf die Arbeitsorganisation im Bergbau den keineswegs nur physischen „Körper“ des Bergmanns erstmals umfassend in den Blick: „Industrielle Berufserziehung [...] ist [...] eine planvolle Ausbildung und Erziehung des ganzen Menschen und nicht nur der Arbeitsdrill eines begrenzten Teils von ihm“, erläuterte er 1930 auf einer Tagung.8 In ähnlicher Weise wandte er sich im Sinne einer (anzustrebenden) „organischen Betriebsgestaltung“ dem gesamten „Werkskörper“ zu: Der Arbeiter sollte nicht isoliert betrachtet werden, sondern als Teil einer größeren Gemeinschaft: der Werksgemeinschaft.9 Arnholds Vortrag von 1926 ist ein Schlüsseltext nicht nur für die Ausbildungsreform, sondern für die gesamte Rationalisierung im Bergbau während der 1920er Jahre.10
5
Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 357.
6
Ebd., S. 357.
7
Arnhold: Menschenorganisation, 1925, S. 1.
8
Zitiert in Gesellschaft für Arbeitspädagogik: Leben, 1964, S. 13.
9
Den Begriff der „organischen Betriebsgestaltung“ ersetzt Arnhold nach dem Zweiten Weltkrieg durch „Unternehmensberatung“; vgl. dazu ebd., S. 52.
10 Mit einer effizienteren Organisation der Arbeit (und des Arbeiters) befassten sich außerdem der „Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung“ (REFA), das „Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit in Industrie und Handwerk“, zahlreiche Universitätsinstitute sowie das 1913 gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für
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Des Themas Rationalisierung will sich der Band „Kontrollierte Arbeit – Disziplinierte Körper?“ in besonderem Maße annehmen und es mit dem Ziel einer Fortschreibung der Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit unter neuen Fragestellungen analysieren. Referenzpunkt ist dabei der Foucault’sche Begriff der Regierung, da dieser, wie die Herausgeber in der Einleitung ausführen, einen umfassenden Blick auf die komplexe Produktion sozialer Realitäten durch Diskurse und Aktionen, durch Objektivierungs- und Subjektivierungsmechanismen gestatte.11 Damit könne gleichzeitig das Themenspektrum über die bislang im Vordergrund stehenden Aspekte der Rationalisierung wie Effizienzsteigerung oder soziale Kontrolle hinaus erweitert und Anregungen aus der Arbeiter- wie der Unternehmergeschichte sowie der Kultur- und Geschlechtergeschichte aufgegriffen und interdisziplinär verknüpft werden. Die hier genannten Gesichtspunkte strukturieren und kontextualisieren die folgende Analyse des Vortrags von Carl Arnhold, in dem es im Wesentlichen um eine Anpassung des Arbeiter(und Werks-)„körpers“ an die Anforderungen der Rationalisierung ging. Diese Anpassung sollte nicht nur mittels Disziplinierung erfolgen, sondern gleichzeitig mit Hilfe von Subjektivierungsmechanismen, die auf Überzeugung und Zustimmung abzielten. In seinem Vortrag umriss Arnhold ein ganzheitliches Reformprogramm, das er – mit Blick auf die Adressaten – zwar mit den Aspekten Effizienzsteigerung durch Qualifizierung einleitete. Danach schnitt er jedoch Themen wie soziale Disziplinierung und Kontrolle genauso an wie Fürsorge und Unfallverhütung. Vor allem aber bettete er seine Vorstellungen zur
Arbeitsphysiologie. Die Zielsetzungen waren dabei durchaus unterschiedlich. So legte das in den 1920er Jahren auch von den Gewerkschaften unterstützte Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie seinen Schwerpunkt darauf, die Arbeitsprozesse so zu gestalten, dass mit einem „Minimum von Energieaufwand Maximalleistungen erzielt“ werden können, wie es in einer Denkschrift über die Neuorganisierung des Instituts aus dem Jahr 1926 hieß, also nicht durch eine Intensivierung der Arbeit, sondern unter anderem durch die Vermeidung von Ermüdungserscheinungen. Vgl. dazu demnächst Lauschke: Max-Plack-Institut, im Druck. Hinzu kam dann noch die in Gelsenkirchen angesiedelte „Forschungsstelle für industrielle Schwerarbeit“, in der Arnhold selbst zum Leitungsgremium gehörte; vgl. dazu Fiedler: Arnhold, 1999, S. 333. 11 Vgl. dazu auch Brieler: Foucaults Geschichte, 1998, S. 273.
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Ausbildungsreform in ein Konzept für eine umfassende Neugestaltung der betrieblichen Sozialverhältnisse diesseits und jenseits der Werksmauern ein, das selbst die Definition und Festschreibung von Geschlechteridentitäten einschloss. Arnhold zeigte sich damit als Angehöriger einer Rationalisierungsbewegung, die neben der technischen Modernisierung auch die menschliche Seite der Arbeit in den Blick nahm und in Abgrenzung zu den US-amerikanischen Methoden des Taylorismus und Fordismus einen eigenen deutschen Weg suchte. In späteren Vorträgen und Schriften begründete Arnhold die Notwendigkeit dieses eigenen Weges in erster Linie mit dem besonderen deutschen „Wesen“: Während man in den USA eher zweckgerichtet denke und daraus resultierende Maßnahmen ohne Weiteres akzeptieren könne, in anderen Worten: pragmatisch vorgehe, würde in Deutschland alles erst einmal gefühlsmäßig bedacht und das an sich Vernünftige oder Sinnvolle gelegentlich durchaus abgelehnt. Daher dürfe man die Arbeiterschaft nicht ohne weiteres in ein für sie wesensfremdes System zwängen, sondern müsse sie einbeziehen und mitnehmen.12 Arnholds Weg bestand nun darin, die Arbeiterschaft zwar ebenfalls mit wissenschaftlichen Methoden so zu schulen, dass sie effizienter arbeiten konnte. Durch die Förderung „guter“ Arbeit und die Anerkennung von Leistung, durch Gesundheitsfürsorge und betriebliche Sozialleistungen sollte sie jedoch gleichzeitig so erzogen werden, dass sie das auch selbst wollte. All dies sollte gleichzeitig so etwas wie Werkstreue entstehen lassen und den in der Weimarer Republik gewachsenen Einfluss der Gewerkschaften in den Betrieben zurückdrängen.13 Mit der Gründung der Vereinigten Stahlwerke erfolgte dann die zügige Umsetzung von Arnholds Programm: Der maßgeblich von ihm strukturierte Diskurs wurde in Europas größtem Montankonzern zur sozialen Realität. Wegen seiner grundlegenden theoretischen wie praktischen Bedeutung steht Arnholds Schlüsseltext von 1926 im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Sie beginnen mit einer Vorstellung des Inhalts und einer Einordnung von Arnholds Zielvorstellungen unter biographie-, kultur- und gendergeschichtlichen Aspekten: Was erzählt sein Text über die Regulierung von Arbeiter- und Werkskörpern im Bergbau der 1920er Jahre, über ihre Disziplinierung, Fürsorge und Rekonfiguration zu nützlichen „Produk-
12 Gesellschaft für Arbeitspädagogik: Leben, 1964, S. 19 u. 21. 13 Frese: Betriebspolitik, 1991, S. 12-13.
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tionsfaktoren“ im Zeichen der Rationalisierung? Wie werden diese Körper wahrgenommen und behandelt? Welche persönlichen Erfahrungen und Prägungen sind in Arnholds Reformkonzept eingeflossen? Was sagt sein Text aus über die Ordnung von Sozialverhältnissen und Räumen im Betrieb, über die Konstruktion und Festschreibung von Geschlechteridentitäten, von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ im Bergbau? Danach folgt ein Überblick über die Umsetzung und Rezeption dieses gleichermaßen auf Inklusion (der Betriebsangehörigen) wie Exklusion („werksfremder“ Elemente) ausgelegten Programms: Wie weit reichte betriebliche „Regierung“? Wo wurde sie wirksam, wo nicht? Der Schwerpunkt des zweiten Teils liegt auf dem Versuch, den Diskurs herauszuarbeiten, innerhalb dessen Arnholds Reformprogramm verankert war: Auf welche Debatten nimmt sein Text Bezug? Welche Werte werden in diesen Debatten verhandelt, welche Normen festgeschrieben oder neu definiert? Welche Rückschlüsse lassen sich daraus ziehen im Hinblick auf die inhaltlichen Ziele und die gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen der Rationalisierungstheoretiker und -akteure im Bergbau? Wo wurde der Diskurs Realität, wo nicht?
2. D IE H ERANBILDUNG EINES HOCHWERTIGEN B ERGARBEITER -N ACHWUCHSES Arnhold begann seinen Vortrag mit einer ausführlichen Auflistung der Defizite der „Menschenökonomie“ und stellte diesen unmittelbar die Ziele und Vorzüge seiner Ausbildungsreform gegenüber. In neun langen Absätzen erläuterte er anschließend seine Vorschläge zur Arbeitsschulung und -erziehung, die er mit einem Ausblick auf die Erfolgsaussichten abschloss. Zusammengenommen ist das der mit Abstand längste Teil des Textes. In einer ebenfalls längeren Passage von acht Absätzen setzte Arnhold sich dann mit dem von Bergassessor W. Dill im Januar 1926 auf der Zeche Centrum-Morgensonne (Bochum-Wattenscheid) eingeführten neuen Ausbildungsmodell auseinander. Dill erläuterte dieses 1927 auch noch einmal selbst in der Zeitschrift Glückauf und erklärte dort, dass er versucht habe, sich am Gelsenkirchener Ausbildungsmodell von Arnhold zu orientieren.14 Arnhold dagegen vermisste wesentliche Bausteine seines Konzepts wie et-
14 Dill: Ausbildung, 1927, S. 77-83.
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wa die Unfallverhütung und widmete diesem Thema weitere acht Absätze seines Vortrags. Den Schluss bilden fünf Absätze zum Thema Umsetzung/Menschenführung, in denen sich Arnhold als Leiter des 1925 mit Unterstützung Dr. Albert Vöglers gegründeten Deutschen Instituts für technische Arbeitsschulung (DINTA) zu erkennen gab und auf die Rolle Oswald Spenglers als Impulsgeber hinwies. 2.1 Arbeitsschulung und Arbeitserziehung: Der Körper des Bergmanns Der Beruf des Bergmanns war bis nach dem Ersten Weltkrieg ein Anlernberuf; bezeichnenderweise erhielten die jugendlichen Berufsanfänger bei Arbeitsaufnahme keinen Ausbildungs-, sondern einen Arbeitsvertrag. Sie wurden zunächst zwei Jahre lang überall dort eingesetzt, wo man über Tage gerade Aushilfskräfte benötigte. Unter Tage arbeiten durften sie erst mit Vollendung des 16. Lebensjahres. Dort erlernten sie unter Anleitung erfahrener Hauer oder anderer Arbeiter die für die eigentliche bergmännische Arbeit erforderlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Vom Tages- genau wie vom Untertagebetrieb lernten sie auf diese Weise allerdings häufig nur Ausschnitte kennen.15 In Zeiten zunehmender Mechanisierung war das zu wenig, und daher setzte Arnhold dem Anlern-Modell sein Modell von Arbeitsschulung und Arbeitserziehung entgegen. Unter Arbeitsschulung verstand Arnhold im Wesentlichen Qualifizierung. Man müsse Geschicklichkeit und fachliche Tüchtigkeit vermitteln und zwar als Kompetenz und als Voraussetzung von Freude an der Arbeit, außerdem den Körper der Jugendlichen kräftigen, weil die damalige Generation der Berufsanfänger acht Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eher blass, schwächlich und unbeholfen war und „nur in einem gesunden Körper [...] eine frohe Seele wohnen“ könne.16 Ziel der Arbeitsschulung sei die Heranbildung einer hochwertigen und „wendigen“ Arbeiterschaft. Die Jungen sollten, wie bislang auch, nun aber systematisch – alle Betriebspunkte über Tage durch Mitarbeiten kennenlernen, was sie dem Betrieb als Arbeitskräfte erhielt. Neu war, dass sie die erforderlichen handwerklichen Fertigkeiten und technische Kompetenz sowie das gewissenhafte Arbeiten
15 Dommer/Kift: Keine Herrenjahre, 1998, S. 13-14. 16 Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 358.
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in eigens für sie einzurichtenden Lehrwerkstätten gezielt vermittelt bekommen und einüben sollten, bis – analog zum Gewehrreinigen beim Militär – jeder Handgriff „saß“. Damit die Unternehmer nicht auf die (naheliegende) Idee kämen, dass sie auf diese Weise billige Arbeitskräfte verlören und das Modell deswegen ablehnten, erklärte Arnhold, dass die Jungen in den Lehrwerkstätten vor allem Gebrauchsartikel für den Betrieb herstellen würden und sich diese neue Einrichtungen daher von Anfang an rechneten. Zur Heranführung der Jungen an ihre eigentliche künftige Arbeit seien Lehrstollen über Tage einzurichten sowie Grubenfahrten durchzuführen. Unter Tage solle man die Jungen unter anderem gezielt auf die Gebrauchsartikel hinweisen, die sie in der Lehrwerkstatt angefertigt hatten, damit sie mit eigenen Augen sähen, dass ihre Arbeit sinnvoll sei. Arnhold begegnete damit einer weiteren Befürchtung der Unternehmer, nämlich: dass die Jungen in den Lehrwerkstätten sich als angehende Handwerker verstehen und so ihrer künftigen Arbeit unter Tage entfremdet werden könnten.17 Der Berufsschulunterricht, seit 1920 auch im Bergbau Pflicht, müsse in betriebseigenen Werksschulen stattfinden, die zwar formal unter staatlicher Aufsicht stünden, aber eben keine staatlichen Schulen seien. Arnholds Vorstellungen zur Arbeitsschulung enthielten gleich drei neue Aspekte: die Einführung von Lehrwerkstätten, die Konzipierung der Lehrwerkstatt als produzierender ‚Betrieb im Betrieb‘ und die Minimierung des staatlichen Einflusses auf die im Bergbau noch jungen Berufsschulen; der Staat sollte sich in deren inhaltliche Ausgestaltung gar nicht erst einmischen können. Unter Arbeitserziehung verstand Arnhold im Wesentlichen Charakterformung, was ihm im Bergbau als besonders wichtig schien, weil man die Bergleute unter Tage „nicht ständig unter Augen haben kann“.18 Hier stand die Vermittlung von Einstellungen und Werten im Vordergrund, insbesondere von „Anständigkeit“ und Pflichtbewusstsein, wie das früher beim Militär üblich gewesen sei. Auch das äußere Erscheinungsbild der Jungen sei wichtig: blank geputzte Stiefel, tadelloser Haarschnitt und gute Körperhaltung.19 Der wiederholte Verweis auf die Schulung und Erziehung beim Militär dürfte sich aus Arnholds Biographie erklären: Arnhold trat am Ersten
17 Diesem offensichtlich weit verbreiteten Einwand versuchte auch Dill zu begegnen. Dill: Ausbildung, 1927, S. 77. 18 Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 360. 19 Ebd., S. 359.
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Weltkrieg, bei dessen Beginn er bereits knapp 30 Jahre alt war, „mit einem Teil meiner Schüler als Kriegsfreiwilliger bei den Rheinischen Pionieren ein“.20 An der Westfront stieg er zum Generalstabsoffizier einer Division auf, danach „betätigte sich Karl Arnhold in verschiedenen Freikorps“ im Bergischen Land.21 Kriegs- und Nachkriegszeit legten, so sein Biograph Martin Fiedler, die Grundlage für Arnholds militaristische Grundhaltung, seinen Glauben an Drill, Disziplin und Führung, seine Ablehnung der Weimarer Republik und sein auf Kampf, Treue, Gemeinschaft und Gefolgschaft basierendes Gesellschaftsmodell.22 Begriffe wie Führung und Gefolgschaft, Gemeinschaft und Treue flossen maßgeblich auch in seine Vorstellungen von Arbeitsschulung ein. Diese sollte nicht zuletzt den individuellen Ehrgeiz wecken und die Identifizierung mit dem Arbeitsplatz fördern. Das sah Albert Vögler, ein Förderer von Arnholds Ausbildungsreform und 1926 Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke, ebenfalls als eine der Hauptaufgaben der neuen „Menschenökonomie“: Was nütze es, technisch auf dem neuesten Stand zu sein, wenn die „große Masse unserer Arbeiter und, ich muß hinzufügen, auch unserer Angestellten [...] dem Werk und dem Prozesse im Werk fremd, sogar feindlich gegenüber“ steht?23 Zur (ganzheitlichen) Ausbildung gehörte – und das war neben der Lehrwerkstatt der zweite neue Ausbildungsbaustein – der Sportunterricht, bei dem sich „Schulung“ und „Erziehung“ überschnitten: Ausdauersport sollte den Körper kräftigen, Wettkämpfe die Leistungsbereitschaft fördern und Körperbeherrschung die Unfallgefahren senken. Da 70 % der Unfälle auf menschliches Versagen zurückzuführen seien, müsse man vor allem hier an einer „Verbesserung des Menschenmaterials“ arbeiten.24 Unfallver-
20 Undatierter Entwurf eines Lebenslaufs aus dem Nachlass, vermutlich für Arnholds Bewerbung als Leiter der Bochumer Fachschule für die Stahlwarenindustrie von 1925, Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Bestand N 45, Nr.2. 21 Gesellschaft für Arbeitspädagogik: Leben, 1964, S. 9. 22 Fiedler: Arnhold, 1999, S. 320. In seinem Roman „Auf halbem Wege“ beschrieb der Schriftsteller Edwin Erich Dwinger (1898-1981) 1929 die klassenübergreifende Freikorpsbewegung als Vorläufer der neuen Volksgemeinschaft; vgl. dazu Köhler: Nachkrieg, 2009, S. 144. Arnhold dürfte das ähnlich gesehen haben. 23 Zitiert bei Klass: Vögler, 1957, S. 290. 24 Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 361.
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hütung war ein wichtiger Faktor der „Menschenökonomie“, denn der gut ausgebildete Facharbeiter sollte dem Betrieb schließlich lange in all seiner „Wendigkeit“ erhalten bleiben. Die „Menschenökonomie“ könne allerdings nur funktionieren, erläuterte Arnhold, wenn eine frühzeitige Selektion der Geeigneten nach wissenschaftlichen Kriterien erfolge. Arnhold bezog sich hier vor allem auf die vom Arbeitspsychologen und Rationalisierungswissenschaftler Prof. Dr. Walther Poppelreuter25 entwickelten psychotechnischen Eingangstests und hatte mit Poppelreuter in Gelsenkirchen bereits eine psychologische Begutachtungsstelle geschaffen.26 Der Begutachtung habe die passgenaue Eingruppierung zu folgen (Motto: „der richtige Mann am richtigen Ort“) und gegebenenfalls die Entfernung untauglicher Elemente. Der „Verbesserung des Menschenmaterials“ diente schließlich das betriebliche Freizeitprogramm als dritter neuer Baustein der ganzheitlich konzipierten Ausbildungsreform. Ein abwechslungsreiches und auf die Interessen männlicher Jugendlicher abgestimmtes Freizeitprogramm aus Sport, Radio-Bastelkursen und Unterhaltungsabenden habe in Gelsenkirchen die Jungen bereits erfolgreich nach der Arbeitszeit an den Betrieb gebunden, erklärte Arnhold stolz und brachte hier implizit, an anderer Stelle explizit zum Ausdruck, dass man die Jungen auf diese Weise auch von der Angeboten der Arbeiterbewegung fernhalten könne.27 Andere Reformer wollten sie darüber hinaus von den Angeboten der der Unterhaltungsindustrie fernhal-
25 Im Nationalsozialismus entwickelten Poppelreuter, zu der Zeit Berater des Deutschen Instituts für Nationalsozialistische Technische Arbeitsforschung und -schulung (DINTA), und Prof. Dr.-Ing. Joseph Mathieu, 1953 Direktor des neu gegründeten Forschungsinstituts für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen, sogenannten „Einfachstschulungen“ für ZwangsarbeiterInnen; vgl. dazu Fiedler: Arnhold, 1999, S. 340. Poppelreuter (1886-1939) begann seine Karriere als Nervenarzt und Professor für klinische Psychologie an der Universität Bonn; 1925 wurde er Mitarbeiter am dortigen Institut für Arbeitspsychologie. Drei Jahre später richtete er an der RWTH Aachen ein „Laboratorium für industrielle Psychotechnik“ ein. Vgl. dazu Anonym: 50 Jahre, 2003, S. 4-6. 26 Fiedler: Arnhold, 1999, S. 323. 27 Ebd., S. 323.
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ten.28 Wichtig war Arnhold der Hinweis: „An jedem Abend ist bei uns etwas los.“29 Allerdings nicht zu lange, denn: „Wir schicken sogar die Werkschwester in die Familien, damit sie sich davon überzeugt, daß der junge Mann nicht zu spät ins Bett kommt.“30 Dem sozialdemokratischen ‚von der Wiege bis zur Bahre‘ setzte Arnhold die totale Vereinnahmung des Arbeiters durch den Betrieb entgegen. Der Arbeiter sollte bereits als „Frucht im Mutterleibe“ erfasst und erst wieder freigelassen werden, wenn er „unter den Klängen der Werkskapelle, [...] auf den Schultern der Werksjugend zum Friedhof getragen“ wird.31 Den Eltern der Jungen war im Zuge dieser Vereinnahmung eine auf den ersten Blick eher ambivalente Rolle zugedacht. Einerseits wollte Arnhold sie in das neue Ausbildungs- und Erziehungsprogramm einbinden, damit sie es zu Hause nicht unterliefen. Wie in Gelsenkirchen sollten Elternabende ihnen das Gefühl vermitteln, einbezogen zu sein. Darüber hinaus hatten die Väter die von den Jungen zu führenden Berichtshefte zu kontrollieren, während die Mütter die Unfallverhütungsmaßnahmen unterstützen sollten: sensibilisiert (und alarmiert) würden sie Mann und Sohn schon entsprechend ‚bearbeiten‘: „Unfallgegenpropaganda auf Lohnzetteln usw. läßt auch die Familie des Arbeiters aufmerksam werden. Die Frau wird den Mann fragen: ‚Was ist das nur? Nimm Dich nur ja in Acht!‘“32 Die Idee, die Ehefrauen in die Unfallverhütung einzubeziehen, erwies sich als überaus ausbaufähig und wurde bis weit nach dem Krieg praktiziert. Noch 1961 auferlegte die Dortmunder Bergbau AG in Form eines Briefes des Werksarztes an die „liebe Bergmannsfrau“ dieser (und nicht dem Betrieb) die Hauptverantwortung dafür, dass der Bergmann gesund nach Hause zurück kommt, „weil Unfallverhütung bereits zu Hause beginnt“. Die Ehefrau habe darauf zu achten, dass ihr Mann nicht aus dem seelischen Gleichgewicht kommt,
28 Vgl. dazu Frese: Betriebspolitik, 1991, S. 5. Dommer/Kift: Herrenjahre, 1998, S. 36-37. Teilweise wollte man mit der neuen betrieblichen Sozialpolitik auch das damals gerade aktuelle „Jugendproblem“ angehen, das der früh finanziell unabhängigen und vermeintlich vergnügungssüchtigen Jugendlichen aus der Arbeiterschaft; vgl. dazu Kift: Werksgemeinschaften, 1997, S. 240. 29 Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 359. 30 Ebd., S. 359. 31 Zitiert bei Fiedler: Arnhold, 1999, S. 324. 32 Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 362.
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weil er zu viel oder sogar in der Freizeit noch schuftet, damit sie sich ihre Einkaufswünsche erfüllen kann – oder weil sie ihn nachts nicht genug schlafen lässt.33 An eine stärkere Einbeziehung der Betriebsräte in die Unfallverhütung war offensichtlich nicht gedacht, obwohl das nach dem Ersten Weltkrieg durchaus in deren Kompetenzbereich fiel. Eine derartige Mitwirkung wurde jedoch als Einmischung der Arbeiterbewegung in die inneren Angelegenheiten der Betriebe abgelehnt. Die Arbeiterbewegung hatte hier eher noch weniger zu suchen als der Staat. Andererseits wollte Arnhold die im alten und eher unternehmerkritischen Bergarbeitermilieu sozialisierten jugendlichen Berufsanfänger erst einmal isolieren und dann aus ihnen quasi neue Menschen formen. „Nur auf dem Gelsenkirchener Weg kann der neue deutsche Arbeitertyp kommen, tüchtig, seines Wertes sich bewußt, auf die Besserung seiner Lebensverhältnisse durchaus bedacht, aber zu stolz und innerer Hemmungen zu voll, sich in eine von heimlichem Haß vergiftete Opposition zu seinem Werk treiben zu lassen.“
34
So lobte Paul Osthold, erster Geschäftsführer des DINTA, in seinem Buch „Der Kampf um die Seele unseres Arbeiters“ bereits 1926 Arnholds Ausbildungssystem. Das Ziel der Separierung stand im Übrigen auch hinter dem Plädoyer für die Lehrwerkstätten, die keineswegs nur qualifizieren sollten: „Es würde ein nicht wieder gut zu machender Fehler sein, die jungen Leute sofort in die Betriebe hineinzuschicken. Nur zu bald passen sie sich dort der Art der alten Arbeiter an“ und verlören Arbeitsmotivation und Leistungsbereitschaft, argumentierte Arnhold.35 Der jugendliche Berufsanfänger „brennt geradezu auf die Arbeit. Er möchte lernen. [...] Der alte Arbeiter aber bedeutet ihm nur zu bald: ‚Man sachte, man langsam‘. Dadurch wird aber gerade das ertötet, was man wecken und hegen soll.“36 Vieles von dem, was Arnhold an konkreten Maßnahmen beschrieb, war, anders als sein Vortrag glauben machen will, auf der Zeche CentrumMorgensonne bereits Praxis: die Auswahl der Jungen mithilfe der von Poppelreuter entwickelten psychotechnischen Tests, ihre praktische Ausbildung
33 Anonym: Brief, 1961, S. 106. 34 Osthold: Seele, 1926, S. 18, zitiert bei Fiedler: Arnhold, 1999, S. 322. 35 Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 358. 36 Ebd., S. 358.
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in eigenen, neu geschaffenen Lehrwerkstätten, die Förderung ihrer körperlichen Entwicklung durch Sport, betriebliche Angebote für die Freizeitgestaltung, der Kontakt zum Elternhaus, letzteres allerdings nicht in der Ausführlichkeit, in der Arnhold das vorschwebte und wie er es in Gelsenkirchen praktizierte. Anders als Arnhold behauptete, waren in Dills Ausbildungsplan theoretischer Unterricht und Unfallverhütung durchaus vorgesehen, wenngleich Dill diesen Aspekten nicht die gleiche Bedeutung beimaß wie Arnhold. Die beiden Konzepte unterscheiden sich dennoch grundsätzlich: Dills Konzept war ein pragmatischer Versuch, sich den technischen Herausforderungen der Zeit durch mehr Qualifizierung zu stellen, wofür er sich aus Arnholds Gelsenkirchener Lehrwerkstatt-Modell einzelne Anregungen herauspickte. Das lief auf eine punktuelle Verbesserung der Arbeitsschulung heraus, war aber (noch) keine „Menschenökonomie“. Arnhold dagegen entwickelte ein ganzheitliches Konzept, das es ermöglichen sollte, den Arbeiter und seine Familie umfassend zu „bewirtschaften“ und „von der Wiege bis zur Bahre“ im Griff zu behalten. Kulturgeschichtlich betrachtet machte Arnhold aus der Ausbildung, der Übergangszeit zwischen Schule und Beruf, Kindheit und Erwachsensein, eine Initiationsphase, in der die Jungen in die Welt der Männer eingeführt wurden.37 Ganz klassisch, d.h. an stammesgesellschaftliche Modelle erinnernd, musste diese Initiationsphase unter Männern stattfinden, und glich, wie andere Initiationen, einer Wiedergeburt ohne Mütter, wobei die Jungen allerdings nicht in die Welt der Väter, sondern die des Betriebes hineingeboren werden sollten. Und so ersetzte die Lehrwerkstatt das Männerhaus und die Fachprüfung die Mutprobe (wenngleich die erste Grubenfahrt für viele Jungen durchaus den Charakter einer Mutprobe hatte). Eine vergleichbare Initiationsphase skizzierte Arnhold in seinem Vortrag auch für die Bergarbeitertöchter, wobei für sie die Haushaltungsschulen die Funktion der Lehrwerkstätten zu übernehmen hatten. In diesen Schulen, und damit ebenfalls unter betrieblicher und nicht unter elterlicher oder staatlicher Obhut, sollten die Bergarbeitertöchter auf ihre künftige Rolle als Bergarbeiterfrauen vorbereitet werden und dies genauso planmäßig und zielgerichtet, wie Arnhold das in seiner „Industrieschule“ genannten Haushaltungsschule in Gelsenkirchen bereits praktizieren ließ.
37 Zur Initiation vgl. dazu unter anderem Brunotte: Ritual, 2000.
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Haushaltungsschulen oder hauswirtschaftliche Lehrgänge waren in der Industrie schon lange Usus und 1926 auf vielen Zechen ebenfalls vorhanden. Nun aber wurde das Angebot umfassend und systematisch ausgebaut, wenngleich nicht überall gleichermaßen intensiv. Theoretische Unterrichtsfächer in den Haushaltungsschulen des Bergbaus wurden Deutsch, Rechnen, Gesundheits- und Säuglingspflege, Erziehungslehre und Haushaltungskunde, praktische Unterrichtsfächer Kochen, Einkochen, Waschen, Bügeln sowie – bemerkenswert unzeitgemäß – Spinnen und Weben. Dazu kamen Sport und Gartenarbeit sowie sparsames Wirtschaften.38 „Was nützen schließlich alle Lohnerhöhungen,“ fragte Arnhold, „wenn die Frau nicht zu wirtschaften versteht. Wir müssen deshalb auch die jungen Mädchen schulen, d.h. sie planmäßig zu tüchtigen Hausfrauen ausbilden“.39 Dass die Geschlechterrollen und -trennungen, die das Bürgertum im 19. Jahrhundert für sich definiert hatte,40 in der betrieblichen Sozialpolitik des Bergbaus in den 1920er Jahren für den (Berg-) Arbeiterhaushalt erneut ausformuliert und festgeschrieben wurden, mag auf den ersten Blick nicht überraschen. Weibliche Erwerbsarbeitsplätze waren im Ruhrgebiet rar geworden, seitdem sich die Montanindustrie als Leitindustrie durchgesetzt hatte, was die Bergarbeiterfrauen auf die Rolle von Hausfrauen, Müttern und mithelfenden Familienangehörigen beschränkte und ihren Töchtern fast nur die Option ließ, vor der Heirat als Dienstmädchen zu arbeiten.41 Allerdings hatte der Erste Weltkrieg die Arbeitsverhältnisse selbst im Steinkohlenbergbau durcheinander gewirbelt und im expandierenden Dienstleistungssektor erschlossen sich danach den Frauen selbst im Ruhrgebiet neue Möglichkeiten.42 Dass sie 1920 auf Arbeiterseite am Ruhrkampf gegen die Freikorps teilgenommen hatten, stellte die bürgerliche Vorstellung der Geschlechterordnung dann schon fast grundsätzlich in Frage, und Arnhold dürfte dies 1919/20 bei der Reichswehr als besonders alarmierend wahrgenommen haben. Angesichts dieser Entwicklungen zielte sein Konzept da-
38 So z.B. in der Haushaltungsschule der Zeche Minister Stein; vgl. Landschaftsverband Westfalen-Lippe: Minister Stein, 1993, S. 77. 39 Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 362, Hervorhebung DK. 40 Hausen: Polarisierung, 1976, S. 363-393. 41 Tenfelde: Arbeiterfamilie, 1992, S. 182. 42 Zur Geschichte der Frauen und ihrer Arbeit im Ruhrgebiet, Kift: 19. und 20. Jahrhundert, 2011.
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rauf ab, ein ins Wanken geratenes Rollenverhältnis wieder zu stabilisieren: Während ihre künftigen Männer dazu erzogen wurden, an der Arbeits“front“ ihren Mann zu stehen, sollten die Bergarbeitertöchter (wieder) lernen, als Ehefrauen Familie und Betrieb von innen zusammenzuhalten. Die Ausbildungspläne für Lehrwerkstätten und Haushaltungsschulen entwickelte das DINTA im Rahmen eines umfassenderen sozialpolitischen Gesamtkonzeptes, das nicht nur den Körper des Bergmanns im Visier hatte, sondern den gesamten „Werkskörper“ – als bauliches Ensemble genauso wie als soziales Konstrukt. Die Werksgemeinschaft war die Welt, in die Jungen und Mädchen per Ausbildung eingeführt werden sollten und ihre Eltern ebenfalls ihren Platz hatten bzw. einen neuen Platz zugewiesen bekamen. 2.2 Die Gestaltung des Umfelds: Der Werkskörper Diskurse manifestieren sich nicht nur in Konzepten und Praktiken, sondern realisieren sich auch in Räumen und Raumordnungen. So spiegelt sich in der Disposition von Zechenanlagen und der architektonischen Ausgestaltung ihrer Gebäude nicht nur das Bemühen um Funktionalität wider, die Übersichtlichkeit, Leistungs- und Erweiterungsfähigkeit, störungsfreie Betriebsabläufe sowie einen raschen Fluss von Material und Energie gewährleisten sollte.43 Sondern hier ging es spätestens seit der Jahrhundertwende auch um faktische und symbolische Kontrolle und Disziplinierung. An der Anordnung und Ausgestaltung der Tagesanlage der 1902 entstandenen Zeche Zollern II/IV in Dortmund kann das heute noch nachvollzogen werden: Von Süd nach Nord sind entlang der Gleisanlage alle Gebäude angeordnet, in denen verladefähige Produkte entstanden (Separation, Wäsche, Kokerei) oder zu denen Güter angeliefert wurden (Magazin). Die nächste Achse enthält in der Mitte der Tagesanlage die Maschinenhalle und das Kesselhaus, d.h. das Energiezentrum der Anlage, sowie die Ammoniakfabrik. Am nördlichen Ende standen in einer letzten Achse die Kühltürme und Kamine sowie das Abortgebäude (das ursprünglich gar nicht vorgesehen und erst wegen der damals grassierenden Wurmkrankheit ergänzt wurde); dieser Bereich diente vor allem der Entsorgung.44 Von West nach Ost gruppieren
43 Wolf: Disposition, 1905, S. 27. 44 Gärtner/Kift: Zeche Zollern, 2005, S. 9-12.
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sich im Eingangsbereich um einen begrünten Innenhof alle Gebäude, die der Produktion vor- oder nachgelagert waren (Markenstube, Magazin, Kaue, Lampenstube, Verwaltungsgebäude, Pferdestall/Wagenremise, Werkstätten, Erste-Hilfe-Raum). Zwei Schachtgerüste, dazwischen die Maschinenhalle, markieren den Übergang zum Produktionsbereich. Dass „Übersichtlichkeit“ eng mit „Kontrolle“ zusammenhing, lässt sich aus der Position und architektonischen Ausgestaltung des Verwaltungsgebäudes ablesen, in dem Werksdirektor, Betriebsführer und Steiger ihre Büros und Kauen hatten. Aus den Fenstern des Steigerbüros richtete sich der Blick auf das über dem Förderschacht befindliche Schachtgerüst. Die Fenster der Direktoren- und Betriebsführerbüros öffneten sich zu Innenhof und Eingang; über die Zufahrtsstraße führte eine Sichtachse bis in die Siedlung. Damit konnte der gesamte Verkehr vor und auf der Zeche überwacht werden; alle Beschäftigten sollten das Gefühl haben, sich quasi unter den Augen der Werksleitung zu bewegen – und zwar vor und hinter der Werksmauer. Die Position des Verwaltungsgebäudes und seine architektonische Ausgestaltung unterstreicht symbolisch diese Kontrollfunktion genauso wie die Machtposition seiner Nutzer: Das Gebäude befindet sich in der Mitte der Anlage. Sein Dach ist mit mittelalterlichen Zinnen verziert, der Eingang erinnert an romanische Kirchenportale, im oberen Teil der Vorderwand hängt eine Uhr – in diesem Fall nicht nur Symbol des Industriezeitalters, sondern Hinweis auf die im Bergbau überaus wichtigen Kopfnoten (entscheidend war: „nie gefehlt – immer pünktlich“). Die neue Lehrwerkstatt, betriebsintern Anlernwerkstatt genannt, weil die Gesellschaft zunächst noch keine „Lehrlinge“ ausbilden wollte, sondern nur „Bergjungleute“ anlernen, wurde 1927 in der nach dem Ersten Weltkrieg stillgelegten Ammoniakfabrik eingerichtet. Dazu kamen – im selben Gebäude – eine Turnhalle, in der auch Veranstaltungen wie Weihnachtsfeiern oder Elternabende stattfanden, sowie in Zechennähe ein neuer Sportplatz. 1937 zog die Lehrwerkstatt in das durch einen Neubau funktionslos gewordene Kesselhaus um, das sich direkt gegenüber der ehemaligen Ammoniakfabrik befand. In den alten Räumlichkeiten entstanden ein Aufenthalts- und Frühstücksraum für die Auszubildenden sowie Büroräume für das Ausbildungswesen; die Turnhalle wurde modernisiert und mit neuen
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Geräten versehen.45 Damit belegte die Ausbildung nun einen eigenen und zusammenhängenden Bereich am östlichen Ende des Zechengeländes. Bei der Mädchenausbildung war man auf Zollern etwas zurückhaltender: Hier wurde lediglich der „bisherige Aufgabenkreis der [1923 gegründeten; D.K.] Werksfürsorge […] seit 1928 durch Abhaltung von Nähkursen und Jungmädchenabenden, von Ausflügen, Weihnachtsfeiern, Müttern- und Elternabenden erweitert“.46 Neu gebaut für Ausbildung wurde auf Zollern genauso wenig wie anderswo. Der Schwerpunkt lag, nicht zuletzt aus Kostengründen, auf der Umnutzung funktionslos gewordener Gebäude. Auf Umnutzung und Optimierung statt auf Neubau konzentrierte sich (realistischerweise) auch das DINTA mit seinen baulichen Veränderungsvorschlägen. Zu diesen gehörten unter anderen die Verbesserung der hygienischen Anlagen sowie ein Werksverschönerungsprogramm, das sogar die Anregung einschloss, Blumenkästen vor den Werkstattfenstern anzubringen. Zweck dieser Maßnahmen war, genau wie bei der Arnhold’schen Arbeitserziehung, die Bindung der Beschäftigten an den Betrieb zu stärken – in diesem Fall mit der Botschaft, dass alles getan werde, damit die Beschäftigten sich wohlfühlten. Zur Verbesserung des Betriebsklimas sollten Feiern und Ausflüge beitragen, während man mit dem Ausbau der betrieblichen Sozialeinrichtungen im Allgemeinen und der Werksfürsorge im Besonderen die Familien stärker in den Blick nehmen und den entsprechenden Einrichtungen der Arbeiterbewegung (Unterstützungs- und Freizeitvereinen) betriebliche Alternativen gegenüberstellen wollte.47 Die neu gegründeten Werkszeitschriften sollten ein weiteres Band knüpfen „zwischen Zeche und Zechenangehörigen, zwischen Betrieb und Familie“.48 Den allgemeinpolitischen Mantelteil der neuen Werkszeitschriften gestaltete das DINTA, die „Lokalteile“ entstanden in den Betrieben, wobei Wert darauf gelegt wurde, dass die Beschäftigten mit einzelnen Beiträgen (Lehrlingsaufsätze zum Thema „Meine erste Grubenfahrt“ oder Gedichte) ebenfalls zu Wort kamen. Berichte zu innerbetrieblichen Konflikten oder Lohnauseinandersetzungen waren dagegen nicht vorgesehen.49 Auch hier griff Arnhold auf
45 Dommer/Kift: Herrenjahre, 1998, S. 31 u. S. 53. 46 Vereinigte Stahlwerke AG: Steinkohlenbergwerke, 1931, S. 428. 47 Frese: Betriebspolitik, 1991, S. 18. 48 Gelsenkirchener Bergwerks-A.-G.: Unsere Gemeinschaft, 1953, S. 38. 49 Dommer/Kift: Herrenjahre, 1998, S. 34.
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seine Militärerfahrungen zurück, wo er unter anderem eine Divisionszeitung herausgab, die er nach ähnlichen Prinzipien konzipiert hatte, wie er sie später den Werkszeitungen zugrunde legte.50 Als Gesamtpaket sollten diese sozialpolitischen Maßnahmen die vom DINTA entwickelte neue „corporate identity“ voranbringen. Gemeint ist damit die Idee der Werksgemeinschaft, die die Betriebszugehörigkeit aller Beschäftigten und ihrer Angehörigen als Grundlage eines neuen und fast schon familiären Miteinanders in den Vordergrund stellte – und damit gleichzeitig anstrebte, alles „Betriebsfremde“ (wie Parteien oder Gewerkschaften) außen vor zu lassen. Die Werksgemeinschaft hob die grundsätzlichen Gegensätze zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft allerdings genauso wenig auf wie sie die im Bergbau besonders ausgeprägten Binnenhierarchien innerhalb der Gruppe der Beschäftigten abflachte. Eine Schulung der Steiger in „Menschenführung“ fand beispielsweise erst nach dem Zweiten Weltkrieg statt, so dass sich am traditionell militaristischen Umgangston zwischen der Arbeiterschaft und ihren unmittelbaren Vorgesetzten wenig änderte. Der Versuch, die internen Friktionen durch eine Gemeinschaftsideologie und mehr Sozialpolitik zu übertünchen, wirkte daher wenig überzeugend. Theodor Leipart, Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, fasste das wie folgt zusammen: „Nicht durch Blumen an den Fenstern oder Grasflächen zwischen Fabrikgebäuden, nicht durch gemeinsame Schwimmübungen von Betriebsleiter und Arbeiter, nicht auf dem romantischen Wege der Betriebsgemeinschaft bleibt der Arbeiter seiner Fabrik und seiner Arbeit erhalten, sondern nur durch auskömmlichen Lohn für seine leiblichen und genügend Freizeit für seine geistigen Bedürfnisse.“
51
50 Fiedler: Arnhold, 1999, S. 321. 51 Zitiert bei Frese: Betriebsgemeinschaft, 1991, S. 23. Leipart war seit 1923 Mitglied im Senat der Kaiser-Wilhelm-Instituts für Arbeitsphysiologie, die Gewerkschaften in den 1920er Jahren im Verwaltungsrat vertreten, da sich das Institut nach dem Krieg den Vertretern der Tarifparteien öffnet wollte (und auf Unternehmerseite unter anderen Albert Vögler als Unterstützer gewann). Die Gewerkschaften unterstützten das Institut, weil die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft eine neutrale wissenschaftliche Einrichtung war und der Forschungsschwerpunkt des Instituts nicht auf einer Intensivierung der Ausbeutung, sondern auf der Erhaltung der menschlichen Arbeitskraft lag. Angesichts der schwierigen
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Die Arbeiter blieben ihren Organisationen genauso treu wie ihren Freizeitgewohnheiten.52 Diese Ablehnung kann als widerspenstiger Eigen-Sinn (Lüdtke) interpretiert werden.53 Sie richtete sich allerdings vor allem gegen die ideologische Ausrichtung der neuen Werksgemeinschaft und nicht gegen das Gesamtpaket der sozialpolitischen Maßnahmen, die unter ihrem Dach entwickelt wurden. Die Werkszeitschriften etwa erfreuten sich eines schnell waschsenden Leserkreises in den Betrieben.54 Und bei der neuen Ausbildung stieß auf Zustimmung, dass sie einen umfassend qualifizierte und damit in den Stand versetzte, gute Arbeit zu leisten und entsprechend Geld zu verdienen, des weiteren, dass sie die Grundlage dafür schuf, später zum Hauer oder Steiger aufsteigen zu können. Das betonten viele Ehemalige immer wieder, die im Rahmen eines am LWL-Industriemuseum in den 1990er Jahren durchgeführten lebensgeschichtlichen Interview-Projekts zum Thema Ausbildung befragt wurden – ohne dass sie darüber vergessen hätten, dass sie oft wochenlang am Leseband Steine klauben mussten und dort vor allem als billige Arbeitskräfte ausgenutzt wurden. Die Ausbilder hatten sie als autoritär im Gedächtnis, aber auch als umsichtig. Deutlich wird in den Erinnerungen, dass die Ehemaligen vor allem die Sorge um den Unfallschutz und damit um die eigene Unversehrtheit wertschätzten. Die gezielt auf die Interessen von 14 bis 16jährigen Jungen zugeschnittenen Freizeitangebote wie Fußball, Basteln oder Wandern hatten sie gerne angenommen, ohne deshalb jedoch auf Kino, Tanzen oder Gewerkschaftsarbeit zu verzichten.55 In anderen Worten: Arnholds Konzept von Kontrolle und
Wirtschaftslage nach dem Krieg sperrten sich die Gewerkschaften auch weder gegen die Rationalisierung an sich noch gegen Leistungssteigerungen, lieferten diese doch ein gutes Argument für Lohnerhöhungen. Die Idee der Werksgemeinschaften lehnten die Gewerkschaften allerdings ab – und darunter subsumierte man zu Recht auch die Werksverschönerungsprogramme. Vgl. auch dazu Lauschke: Max-Planck-Institut, im Druck. 52 Frese: Betriebspolitik, 1991, S. 449. Welskopp: Betriebliche Sozialpolitik, 1994, S. 370. 53 Lüdtke: Eigen-Sinn, 1993. 54 Fiedler: Arnhold, 1999, S. 324. 55 Vgl. dazu Dommer/Kift: Herrenjahre, 1998, S. 38-41. Die Ergebnisse des Projekts sind auch in die gleichnamige Dauerausstellung am Museumsstandort Zeche Zollern II/IV in Dortmund eingeflossen.
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Fürsorge stieß bei den Belegschaften dort auf Zustimmung, wo es sich mit den eigenen Interessen deckte. Das waren die Werkszeitschriften, die offensichtlich die „richtigen“ Themen ansprachen, und beim neuen Ausbildungsmodell die Aspekte Qualifikation und Fürsorge. Das hat nebenbei sicherlich die Wertschätzung des Betriebes befördert, nicht aber die Vereinnahmung in die Werksgemeinschaft. Bezeichnenderweise spielten die gemeinschaftsfördernden Feiern in den Erinnerungen der ehemaligen Auszubildenden kaum eine Rolle. Die Vorstellung einer Dichotomie von Unternehmer-Vorgaben und Arbeiter-Widerstand greift deshalb zu kurz. Sinnvoller scheint es, stattdessen den Betrieb als soziales Handlungsfeld zu fassen, in dem alle Beteiligte als Subjekte agieren und ihre Interessen verhandeln, wie Welskopp und Lauschke vorgeschlagen haben.56 Welskopp verweist außerdem darauf, dass der Konflikt eher die Ausnahme und nicht der Normalfall ist.57 Dass Gruppeninteressen nicht entlang der Klassenlinie verlaufen, hat unter anderen die englische Forschung zur Geschichte der Arbeiterkultur deutlich gemacht: In der Alkoholfrage beispielsweise zeigte sich die Arbeiterschaft gespalten und die Abstinenzlerbewegung als klassenübergreifende Reformbewegung; Arbeiter, die „respektabel“ werden wollten, taten dies nicht, weil sie den Disziplinierungsversuchen bürgerlicher Sozialreformer erlegen waren, sondern weil sie das selbst so wollten.58 In ähnlicher Weise schloss die Ablehnung des DINTA-Gesamtkonzeptes die Akzeptanz einzelner Bausteine nicht aus, wenn sie den eigenen Interessen entgegen kamen, und Arnholds Reformprogramm enthielt Bausteine, die durchaus konsensfähig waren. Als „Menschenmaterial“ haben sich die jungen Bergleute allerdings nicht verstanden, auch wenn das in der menschenverachtenden Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus nach 1933 und vor allem im Zweiten Weltkrieg „mainstream“ wurde. Die „Werksgemeinschaft“ als sozialpolitisches Konstrukt ging 1933 dagegen vergleichsweise bruchlos in der „Volksgemeinschaft“ auf. Bereits in den 1920er Jahren hatte Arnhold sie als Grundlage einer künftigen Staatsgemeinschaft gesehen – nach dem Motto: „ein Staat, ein Reich, ein
56 Welskopp/Lauschke: Mikropolitik, 1994, S. 9. Welskopp: Betrieb, 1996, S. 139. 57 Ebd., S. 121. 58 Thompson: Social Control, 1981, S. 196.
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Volk, ein Geist“;59 1933 musste man nur noch „ein Führer“ ergänzen. Autoritär, demokratiefeindlich und völkisch, begrüßte Arnhold den Systemwechsel und fügte sich ohne größere Anpassungsprobleme ein, wenngleich er sich nach 1945 wieder zu distanzieren versuchte.60 Er blieb Leiter des 1933 in „Deutsches Institut für nationalsozialistische technische Arbeitsforschung und -schulung“ umbenannten DINTA, das 1935 in das DAF-Amt für Berufserziehung und Betriebsführung (AfBuB) eingegliedert wurde. 1940 wechselte Arnhold als Referent ins Reichswirtschaftsministerium und leitete von dort das Institut noch einmal für einige Monate im Jahr 1942, bis er aus beiden Ämtern entlassen wurde. Der Grund war, dass er in enger Abstimmung mit Vögler, aber hinter dem Rücken von Robert Ley, dem Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF), begonnen hatte, eine von Staat und Partei unabhängige Betriebsführer-Akademie der Industrie zu planen.61 Nach dem Krieg und einer zweijährigen Internierung im Internierungslager Staumühle gründete Arnhold mit einigen seiner früheren Mitarbeiter die Gesellschaft für Arbeitspädagogik (GEFA) und beriet fortan vor allem Mittelstandsfirmen. Seine Karriere im Nationalsozialismus stand späteren Ehrungen nicht im Wege: 1960 erhielt er das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse.62
3. D ISKURSE In Arnholds Reformkonzept sind unverkennbar Erfahrungen aus seiner Zeit bei der Reichswehr – im Krieg und danach – eingeflossen. Sie prägten sein militaristisches Weltbild und seine rückwärtsgewandten Vorstellungen von den Rollen und Aufgaben der Geschlechter genauso, wie sie ihn das „Weimarer System“ und dessen demokratische Strukturen ablehnen ließen, denen er im Rückgriff auf die „Frontgemeinschaft“ ein auf Führung und Gefolgschaft basierendes Gemeinschaftsmodell entgegenstellte, das auch für
59 Zitiert bei Fiedler: Arnhold, 1999, S. 325. 60 Vgl. dazu ebd., S. 318 u. 320. 61 Brief von Arnhold an Assessor Erich Möllhoff vom 28.4.1953, Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Bestand N 45, Nr. 29. vgl. dazu auch Fiedler: Arnhold, 1999, S. 337. 62 Ebd., S. 341-342.
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die neue Betriebsverfassung gelten sollte. Als Anregung für seine Ausbildungsreform benannte Arnhold in seinem Vortrag von 1926 und in späteren Schriften die in den 1920er Jahren bereits bestehenden Ausbildungsprogramme in der Berliner Metallindustrie, bei MAN, Krupp und der Dortmunder Union sowie bei der Staatsbahn, die Lehrpläne und Lehrgänge des Deutschen Ausschusses für Technisches Schulwesen (DATSCH) und arbeitswissenschaftliche Untersuchungen von Psychologen und Soziologen.63 Dass er die Reformpädagogik der Zeit rezipiert hätte, wird nicht ersichtlich und erklärt sich vermutlich dadurch, dass diese mit Arnholds Programm lediglich die ganzheitliche Ausrichtung teilte, ansonsten jedoch eher emanzipatorische als sozialintegrative Erziehungsziele verfolgte. Auf zwei zeitaktuelle Diskurse nimmt Arnhold in seinem Vortrag von 1926 implizit und explizit Bezug. Ein impliziter Hinweis führt zu der Debatte um die „Seele“ des Arbeiters, ein Stichwort, das nicht nur den Titel des bereits erwähnten Buches von Paul Osthold aus dem Jahr 1926 zierte, sondern an anderer Stelle von Arnhold explizit aufgegriffen wurde.64 Dahinter verbarg sich zum einen ein Kampf gegen die Gewerkschaften, die Betriebsverfassung und die Sozialpolitik der Weimarer Republik,65 zum anderen ein Kampf um den Arbeiter, insbesondere den jugendlichen Arbeiter. Bereits 1918 war Heinrich Kautz’ Buch „Um die Seele des Industriekindes“ in erster Auflage erschienen. Auch Kautz identifizierte die Linken als Gegner im Kampf um die Arbeiterseele, erklärte deren Anfälligkeit jedoch vor allem mit den Reizen der modernen Unterhaltungsindustrie: Die „lüsterne Dunkelheit des Sensationskinos, die aufpeitschende Glut der Cafémusik [...] der durchaus dekadente Geist der Industrievolksbühnen“, dazu die billige Schund- und Schmutzliteratur seien die Brandung, in der die Jugendlichen unterzugehen drohten und die den „Anteil der 14, 15, 16 Jährigen am Roten Kriege restlos“ erkläre.66 Da half nur Separierung auf breiter Front, wie Arnhold sie konsequent in Ausbildung und Freizeit anlegte, und weswegen „an jedem Abend etwas los“ sein musste.
63 Gesellschaft für Arbeitspädagogik: Leben, 1964, S. 16. 64 Fiedler: Arnhold, 1999, S. 325. 65 Ebd., S. 323. 66 Kautz: Seele, 1918, S. 56.
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Explizit dagegen wird Oswald Spengler erwähnt, den Arnhold auf Anraten Vöglers mit einer Delegation aufgesucht hatte, um die Frage zu klären, wie man denn zu den „Führernaturen“ käme, die für die neue „industrielle Menschenführung“ benötigt wurden. Spengler habe, so Arnhold, dazu geraten, „eine Führerausbildung und Führerorganisation zu schaffen, wie er sie in seinem bekannten Buch ‚Der Neubau des Deutschen Reiches‘ schildert“.67 Spenglers „Neubau“, 1924 gleich in mehreren Auflagen bei Beck in München erschienen,68 leistete genau das allerdings nicht. Das Buch beginnt mit einem „Der Sumpf“ übertitelten Rundumschlag gegen die politische Kultur der Zeit, in dem Spengler Schule, Presse und insbesondere den Parteien vorwirft, als Volksaufklärer und -erzieher auf ganzer Linie versagt zu haben. Den Anforderungen der Moderne sei kaum noch jemand gewachsen, und in der Politik herrsche eine „Diktatur des Parteiklüngels“, in der man sich gegenseitig die Posten zuschiebe und „Eignung“ keine Rolle spiele.69 Im Parlament sammle sich heute „alles was ohne eigne Begabung in der Nähe von deutschem Bier wächst“.70 In den folgenden Kapiteln, insbesondere in „Staatsdienst und Persönlichkeit“, „Die Erziehung – Zucht oder Bildung?“ sowie „Arbeit und Eigentum“ geht Spengler in seiner Kritik zunächst bis auf Bismarck zurück, weil dieser es in besonderem Maße versäumt habe, fähigen Nachwuchs für Regierung und Verwaltung „heranzuzüchten“. „Männer wie Krupp, Siemens, Borsig, Ballin, Stinnes hat dieser Riesenbetrieb trotz seiner Möglichkeiten nicht erzeugt, oder richtiger gesagt nicht zur Entdeckung kommen lassen.“71 Stattdessen habe sich eine Versorgungsmentalität entwickelt und zähle für den Aufstieg nicht die Leistung, sondern die Parteimitgliedschaft. Anders Moltke, der „im großen Generalstab eine sich selbständig fortentwickelnde Tradition der Heereserziehung [geschaffen hatte; DK], die mit strengster Gewissenhaftigkeit jeden
67 Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 363. 68 Die folgenden Ausführungen basieren auf dem 1998 erschienenen FaksimileNachdruck in der Archiv-Edition im „Verlag für ganzheitliche Forschung“, Viöl/Nordfriesland. 69 Spengler: Neubau, 1998, S. 8. 70 Ebd., S. 6. 71 Ebd., S. 31.
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einzelnen nach Charakter, Lebensauffassung und Leistung bildete“.72 Spengler sprach sich dafür aus, die derzeitige (weltfremde) juristische oder philosophische Schulung der Beamten nach Moltke’schen Vorbild durch eine „frühe persönliche und praktische Kenntnis unserer Schiffahrt, Hüttenwerke, Banken oder des Auslandes“ anders zu gewichten, die persönliche Verantwortung des Einzelnen zu stärken, den Körper durch Sport zu kräftigen und, auch hier wieder: wendig zu halten.73 In ähnlicher Weise plädierte Spengler dafür, bei der gymnasialen Erziehung die eher weltfremden Elemente ebenfalls durch eine Kombination von Theorie, Praxis und Sport zu ersetzen. „Der selige Magister im abgeschabten Rock, den Kopf voller Horazverse, konnte Ehrfurcht einflößen – aber in einer Zeit, als es noch keine Autos und Flugzeuge gab.“74 Der Physik- und Chemieunterricht müsse durch Praktika in der Industrie flankiert werden, Geschichtsunterricht gleichzeitig Politikunterricht sein, klares Schreiben nicht über den Besinnungsaufsatz („Geschwätz über die Charaktere eines Dramas oder eines Moralsatzes“) vermittelt werden, sondern durch Sachtexte über etwas, „das uns geläufig ist.“75 In der Wirtschaft, deren Führerschulung Spengler ausdrücklich lobte, seien Leistungs- und Aufstiegsbereitschaft der Arbeiterschaft (bzw. der schon bestehenden Arbeiteraristokratie) zu fördern. Bedauerlicherweise sei nun aber die Industriearbeiterschaft einer politischen Bewegung erlegen und sähe sich nicht (mehr) „als Glied, sondern als Ziel und Krönung der Wirtschaftsgeschichte“.76 Der Arbeiter könne zwar alle Räder still stehen lassen, nicht aber sie in Gang halten. Noch sei er der einzige, der arbeitet. „Es gibt Führerarbeit und ausführende Arbeit. Beides zusammen erst ist Industrie.“77 Das größte Verbrechen Bebels (bzw. der Arbeiterbewegung) sei gewesen, dass man der deutschen Arbeiterschaft „den Ehrgeiz persönlicher Leistung nahm und den Aufstieg innerhalb der Wirtschaft als Verrat an der Arbeiterschaft brandmarkte“.78 Die industrielle Welt von heute funktioniere arbeitsteilig und böte selbst dem Arbeiter viel-
72 Ebd., S. 30. 73 Ebd., S. 32. 74 Ebd., S. 42. 75 Ebd., S. 47. 76 Ebd., S. 89. 77 Ebd., S. 90. 78 Ebd., S. 91.
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fältige Aufstiegsmöglichkeiten. Dies sei zu fördern, die Arbeiterbewegung, die Parteien und der Staat dagegen aus dem Betrieb herauszuhalten. Als potentiellen Träger eines tatsächlichen „Neubaus“ sah Spengler den Typus des Kriegsfreiwilligen: „Diese ‚fixen Jungen‘ [...] sind unsere Zukunft, als Charakter, als angelegter Typus, als Möglichkeit, wenn jemand versteht, etwas daraus zu machen. Sehr selbständig, Durchgänger, von praktischem Griff, rasch entschlossen, gern mit Verantwortung beladen und allein auf einen Posten gestellt, zu intelligentem Gehorsam bereit, des79
sen Zweck sie mit einem Blick übersehen, zur Zusammenarbeit fähig“.
Das dürfte dem ehemaligen Kriegsfreiwilligen Arnhold besonders gut gefallen haben, genauso wie Spenglers bereits im „Der Untergang des Abendlandes“ ausgesprochene Wertschätzung des Ingenieurs als zentralem Akteur im Produktionsprozess.80 Auffallend sind die zahlreichen Übereinstimmungen zwischen den Spengler’schen Überlegungen aus dem „Neubau“ von 1924 und Arnholds Schlüsseltext zur Ausbildungsreform von 1926: das Plädoyer für eine zeitgemäße Ausbildung, die Theorie, Praxis und Sport verknüpfte, in der die Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten gekoppelt war mit einer Erziehung von Haltung, Charakter und Eigenverantwortung, und die das Ziel hatte, eine qualifizierte, leistungsorientierte und werkstreue Facharbeiterschaft „heranzuzüchten“, schließlich die Ausbildung beim Militär als Vorbild. Arnhold interpretierte das so: „Im Krieg hatten wir unter guter Führung die besten Soldaten der Welt, wir werden unter guter Menschenführung bald auch wieder die besten Arbeiter haben.“81 In der Wortwahl zeigen sich weitere Parallelen, etwa in der Benutzung des Wortes „Menschenmaterial“. Diese Übereinstimmungen lassen sich als theoretischer Überbau interpretieren, der Arnholds Reformprogramm zu einem ganzheitlichen Konzept machte und von Dills eher pragmatischem Maßnahmenkatalog deutlich unterschied. Inwieweit Spengler bei Arnholds Reformmaßnahmen tatsächlich Pate oder Inspiration gewesen ist, lässt sich aus den Quellen allerdings we-
79 Ebd., S. 34. 80 Spengler: Untergang, 1963, S. 1191. 81 Arnhold: Heranbildung, 1926, S. 363.
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der rekonstruieren noch erscheint es wahrscheinlich: Der nach dem Weltkrieg erschienene „Untergang“ enthielt dazu nichts, und als der „Neubau“ erschien, hatte Arnhold auf Schalke die Ausbildung bereits modernisiert und als ganzheitliches und alle Betriebsangehörigen und ihre Familien umfassendes Reformpaket ausgestaltet. Es trug eindeutig Arnholds eigene Handschrift. Nach dem Krieg nahm Arnhold in einer Vortragsskizze noch ein weiteres Mal Bezug auf Spengler und deutete mit den Stichworten „Oswald Spengler: Der Charakter eines Volkes – Ergebnis seiner Schicksale“ sowie „Hohe Weisheit: Bibliothek Alexandrina/Träger: Ordens-Gemeinschaften“ etwas an,82 bei dem Spengler tatsächlich Pate gestanden hat: Die Idee der Ordensgemeinschaft, denn als solche haben sich die Ingenieure des DINTA verstehen sollen und verstanden. Vöglers Biographen Klass zufolge soll Spengler der Delegation Arnholds in München genau das vorgeschlagen haben, um die „Zucht des deutschen Generalstabes“ mit dem „Ethos der katholischen Kirche“ zu verknüpfen.83 Und: „Vögler billigte ausdrücklich den ordensähnlichen Zusammenschluß der DINTA-Ingenieure.“84 Laut Arbeitsund Organisationsplan sollte die „Durchführung von Menschenökonomie in Industrie, Bergbau und Landwirtschaft“ die Hauptaufgaben des DINTA sein.85 Dazu entwickelte es Konzepte für die Ausbildung von Facharbeitern und schulte die Ausbildungsleiter und Ingenieure. Letztere wurden engmaschig kontrolliert, mussten sich regelmäßig treffen und entwickelten einen ausgesprochenen Korpsgeist, den sie mit einem eigenen Abzeichen auch nach außen dokumentierten. Die Gründung dieses Instituts war laut Arnhold Hauptergebnis der Zusammenkunft in München und in der Tat die Antwort auf die Frage, wie eine neue „Führerausbildung und Führerorganisation“ für die Ausbildung aussehen sollte und aufgebaut werden könne. Wenig überraschend hielt Spengler dann auch eine der Festreden bei der Eröffnung.86
82 Vortragsnotizen von 1953, Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Bestand N 45, Nr. 53. 83 Klass: Vögler, 1957, S. 289f. 84 Fiedler: Arnhold, 1999, S. 329. 85 Zitiert bei ebd., S. 325. 86 Als zweiten Paten des Instituts nennt Arnholds Biograph Fiedler den Philosophieprofessor Ernst Horneffer, der – genau wie Spengler und Arnhold – in Fra-
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Angesichts der Tatsache, dass die Einführung einer planmäßigen Ausbildung Geld kostete und die Kooperation mit dem DINTA letztlich einen Eingriff in die Betriebsautonomie bedeutete, war Spengler vor allem strategisch nicht das schlechteste Argument, um die zunächst durchaus skeptischen Führungsspitzen des Bergbaus für eine Umsetzung der Reform zu gewinnen. Spenglers „Untergang des Abendlandes“ war in bürgerlichen Kreisen breit rezipiert worden. Albert Vögler kannte den Philosophen aus der gemeinsamen politischen Arbeit, mit Paul Reusch, dem Direktor der Gutehoffnungshütte, war Spengler gut befreundet.87 Durch eine Reihe von Vorträgen im Ruhrgebiet kam Spengler Anfang der 1920er Jahre mit anderen Ruhrindustriellen in Kontakt, mit denen er die Ablehnung des „Weimarer Systems“ teilte. Wenn Arnhold Spengler, der die Industrie und ihre Führungsschichten in seinem „Neubau“ mit viel Lob versehen hatte, nun als Impulsgeber für sein Reformmodell benannte und in seinem Vortrag gleichzeitig die Übereinstimmungen mit Spenglers im „Neubau“ ausformulierten Überlegungen erkennen ließ, dann könnte er damit beabsichtigt haben, die Führer des Bergbaus, die Spengler im „Neubau“ als Teil der wahren gesellschaftliche Elite gelobt hatte, dazu zu bringen, den „Neubau des Deutschen Reiches“ gewissermaßen im eigenen Betrieb beginnen zu lassen.88 Die Strategie, das DINTA mittels Spengler im Ruhrbergbau zu verankern, ging gleichwohl nicht ganz auf: Die Firma Krupp sah keine Notwendigkeit zu einer Zusammenarbeit, da sie weder in Punkto Ausbildung noch in Punkto Betriebsgemeinschaft Anregungen von außerhalb benötigte und definitiv keine Einmischung wollte. Paul Reusch, immerhin Mitglied der DINTA-Verwaltungsrates, war zwar interessiert; die Gutehoffnungshütte kooperierte aber nur in ihrem Bergbau- und nicht in ihrem Hüttenbetrieb.89 Unternehmen aus anderen Branchen und außerhalb des Ruhrgebiets arbeite-
gen der Volksaufklärung und -erziehung den Ingenieur als quasi natürlichen Nachfolger des Offiziers sah; vgl. ebd., S. 326. 87 Vgl. dazu Felken: Spengler, 1988, S. 140. Herzog: Freundschaft, 1965, S. 84. 88 Bezeichnenderweise erwähnt Arnhold in einem anderen Vortrag vor anderem Publikum vier Jahre später Spengler nicht mehr als Impulsgeber für das DINTA. Dieser Vortrag gehört zu den in Gesellschaft für Arbeitspädagogik: Leben, 1964 abgedruckten Texten. 89 Frese: Betriebspolitik, 1991, S. 19-20.
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ten dagegen eng mit dem DINTA zusammen,90 und nach der Gründung der Vereinigten Stahlwerke und der Bestellung Vöglers, der auch hinter der Gründung des DINTA gestanden hatte, zum Vorstandvorsitzenden, wurde das DINTA in Europas größtem Montankonzern bereits 1926 die zentrale Ausbildungs-Instanz. Drei Jahre nach der Gründung der Vereinigten Stahlwerke hatten fast alle ihrer Zechen Lehrwerkstätten, Lehrstollen über Tage und manche bereits Lehrreviere unter Tage.91 Weitere drei Jahre später gingen die Werksgemeinschaften in der Volksgemeinschaft auf und die Pioniere der Industriepädagogik versuchten nun, diese zur allgemeinen Volkserziehung zu machen.92 Schon 1931/32 hatte sich Arnhold für die Einrichtung eines einjährigen Arbeitsdienstes ausgesprochen und in ihm die große „‚Lehrwerkstatt eines ganzen Industrievolkes‘“ gesehen, in dem der „berufliche Nachwuchs schon frühzeitig an Disziplin und militärische Umgangsformen, an Berufsstolz und nationale Werte gewöhnt werden“ könne.93 Umgekehrt könne und sollte die berufliche Erziehung nun ihrerseits den Staatsbürger zum „Industriebürger“ machen, schlug 1933 August Wömpener, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Bearbeiter des Lehrbuches „Die Bergmännische Facharbeit“ fungierte, in einer Zwischenbilanz zur bergmännischen Ausbildung vor. Im neuen Ausbildungssystem sah Wömpener nicht nur eine auf die Industrie begrenzte Reform. Hier könne man weit mehr erreichen als den „Produktionsfaktor Mensch“ nur fachlich
90 Fiedler: Arnhold, 1999, S. 331. 91 Ein für alle Zechen verbindliches Ausbildungsprogramm entwickelte sich allerdings nicht, die neue Ausbildung war noch keine Lehre. Bezeichnenderweise hießen die jugendlichen Berufsanfänger daher zunächst „Bergjungleute“ und noch nicht „Berglehrlinge“. Erst im Zuge der reichsweiten Reform der Berufsausbildung Ende der 1930er Jahre wurde die bergmännische Ausbildung zwischen 1938 (lehrvertragsähnliches Ausbildungsabkommen statt Arbeitsvertrag) und 1940/41 (Einführung des Berufsbildes „Knappe“/Lehrvertrag statt Ausbildungsabkommen) zur Lehre aufgewertet. Vgl. dazu Dommer/Kift: Keine Herrenjahre, 1998, S. 26, S. 30 u. S. 56-58. 92 Spengler dürfte dies weniger gefallen haben. Von den Vertretern völkischen Gedankenguts hatte er sich bereits im „Neubau“ distanziert und den Rechten zwar Gesinnung attestiert, aber gleichzeitig einen „Mangel an Intelligenz“. Spengler: Neubau, 1998, S. 15. 93 Fiedler: Arnhold, 1999, S. 336.
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auszubilden; vielmehr „sollte damit die Erwachsenenausbildung, eine Art Bevölkerungsökonomie, die Erziehung in der Familie, die Erziehung zum Staatsbürger, zum ‚Industriebürger‘ u.a. einhergehen.“94 Das hatte bei der neuen Staatsführung dann allerdings doch keine Priorität. Für die Ausbildungsreform und die Rationalisierungsdebatte bleibt Arnholds Vortrag von 1926 gleichwohl ein zentrales Dokument: eine Blaupause nicht nur für die Umstrukturierung des bergmännischen Arbeitsplatzes, sondern der betrieblichen Sozialverhältnisse insgesamt, und er verweist auf einige der Diskurse, die die Reformvorhaben mit Inhalt füllten.
4. Z USAMMENFASSUNG „Die schaffende Menschenkraft bewirtschaften“ war Carl Arnholds Formulierung für ein Programm, das in den 1920er Jahren nicht nur im Bergbau auf der Rationalisierungsagenda stand. Ziel war, den „Produktionsfaktor Mensch“ wissenschaftlich zu analysieren, zielgerichtet neu zu konfigurieren, um ihn effizienter zu machen, und durch Fürsorge (Unfallverhütung, betriebliche Betreuung, Humanisierung der Arbeitswelt) gleichzeitig seine Zustimmung und „Seele“ zu gewinnen. Im Bergbau umreißt Arnholds Kernsatz das neue Regime der Arbeit, das er insbesondere für die Ausbildung konzipiert hatte und das seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in vielen Betrieben erprobt und umgesetzt wurde. Im Fokus des Interesses standen dabei zwei unterschiedliche „Körper“: der reale Körper des Berg(jung-)manns und der soziale Werkskörper. Der Körper des Bergmanns geriet mit der Einführung einer nicht nur systematischen, sondern ganzheitlich ausgerichteten Ausbildung aus Theorie, Praxis, Sport und Charakterformung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre erstmals umfassend in den Blick und wurde Gegenstand einer ganzen Reihe von Objektivierungs- und Subjektivierungsstrategien. Hand und Kopf sollten geschult, die Muskeln gestählt, die Leistungsbereitschaft gestärkt, schließlich das Herz gewonnen werden. Die neue Biopolitik zeigte sich darin, dass die Arbeitsprozesse in ihre wesentlichen Bestandteile zerlegt, daraus Anforderungsprofile für eine qualifizierte und effiziente Erledigung/Umsetzung abgeleitet und nach vorangegangener Eignungsprüfung
94 Wömpener: Ausbildung, 1933, S. 5.
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planmäßig die dafür erforderlichen Fähigkeiten vermittelt und Fertigkeiten eingeübt wurden. Die systematische Ausbildung ersetzte hier das bis dahin vorherrschende schrittweise Hineinwachsen in die bergmännische Arbeit durch eine Initiationsphase, in der neben Schulung (Qualifizierung) auch Erziehung (von Haltung) stattfand. Mit den Lehrwerkstätten entstand für die Auszubildenden dafür ein räumlich separater neuer „Betrieb im Betrieb“. Dem ganzheitlichen Blick auf den Körper des Bergmanns entsprach ein ganzheitlicher Blick auf den Betrieb. Die neu definierte Werksgemeinschaft wurde ebenfalls als „Körper“ aufgefasst, der geschult, erzogen und gepflegt werden musste, damit alle Glieder im Sinne des Ganzen funktionierten. Die „Bewirtschaftung der schaffenden Menschenkraft“ schloss daher folgerichtig die – allerdings getrennte – „Bewirtschaftung“ der Ehefrauen und Töchter der Bergleute ein. Arnhold konzipierte eine Initiationsphase in separaten Räumlichkeiten auch für die Bergarbeitertöchter, in der allerdings – und anders als für die Jungen – nicht die Anforderungen der Moderne verhandelt und vermittelt, sondern traditionelle Rollenbilder zementiert wurden. Als Set von Denkmustern, Diskursen und Praktiken schälte sich die Werksgemeinschaft als ein neues Dispositiv der Arbeit heraus, das alle Belegschaftsangehörigen und ihre Familien einschloss und dies innerhalb wie außerhalb von Arbeitsplatz und Arbeitszeit. Entwickelte Arnhold dafür den Generalplan, so entstand mit dem DINTA ein zentrales Organ, mit dem Arnhold den in den Raum gestellten Diskurs zur Aktion verfestigen und institutionalisieren sowie mit Hilfe eines „Ordens“ von Ingenieuren umsetzen konnte. Als Pate des DINTA fungierte Oswald Spengler, mit dessen Vorstellungen von einer modernen, zeitgemäßen Erziehung Arnholds Ausbildungsreform weitgehend konform ging. Die Rekonfigurierung des Werkskörpers enthielt zwar ebenfalls zeitgemäße Elemente wie die Modernisierung der sozialen Einrichtungen oder die professionell gemachten Werkszeitschriften. Das hinter der Idee der Werksgemeinschaft stehende harmonisierende Sozialkonzept, das mit seinen inkludierenden wie exkludierenden Elementen schon vor seinem Aufgehen in der Volksgemeinschaft als betriebsübergreifendes Gesellschaftsmodell gedacht wurde, war allerdings eher rückwärtsgewandt. Es kam den Vorstellungen einer konservativen Unternehmer- und Managerschicht entgegen, die den gesellschaftlichen Status Quo nicht verändern wollten, ging an den Interessen der zu reformierenden Zielgruppen jedoch vorbei.
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Die Subjektivierungsmechanismen des neuen Programms funktionierten daher nur bedingt, da sich die Arbeiter und ihre Familien auch hier nicht als passive Objekte betrieblichen Handelns zeigten, sondern als Akteure, die mit den an sie gestellten Anforderungen differenziert und je nach eigener Interessenlage umgingen. Dabei stieß die gründliche, auf die (technischen) Erfordernisse der Zeit reagierende Ausbildung durchaus auf Zustimmung genauso wie das Bemühen um Unfallschutz honoriert wurde. Beides – und zusätzlich die sozialpolitischen Angebotspalette – mag dazu beigetragen haben, dass die Arbeiter und ihre Familien den Betrieb als eine Einrichtung wahrzunehmen begannen, die ihre Arbeitskraft nicht nur ausbeutete, sondern sie auch als Personen umsorgte. Für eine weitergehende Identifizierung mit dem Betrieb wie beispielsweise bei Krupp reichten die neuen sozialpolitischen Maßnahmen jedoch nicht aus, zumal sie durch Faktoren wie Leistungsdruck und militaristischer Umgangston der Steiger oder die offene Frontstellung gegen die eigenen Vertretungen und die Attraktionen der Freizeitindustrie konterkariert wurden. So wurde die „schaffende Menschenkraft“ zwar deutlich effizienter „bewirtschaftet“, die „Seele des Arbeiters“ jedoch nicht gewonnen.
L ITERATUR Anonym: 50 Jahre Forschung am FIR und IAW-Verbund, in: Unternehmen der Zukunft (2003) 2, S. 4-6. Anonym: Brief an eine Bergmannsfrau. Von einem, der es gut meint, nämlich dem Werksarzt, in: Werks-Nachrichten 11 (1961) 5, S. 106. Arnhold, R. Carl: Die Heranbildung eines hochwertigen BergarbeiterNachwuchses, in: Glückauf 62 (1926) 12, S. 357-363. Arnhold, R. Carl: Menschenorganisation im Bergbau, Düsseldorf 1925. Brieler, Ulrich: Foucaults Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 248-282. Brunotte, Ulrike: Ritual und Erlebnis. Theorien der Initiation und ihre Aktualität in der Moderne, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 52 (2000) 4, S. 349-367. Burghardt, Uwe: Die Mechanisierung des Ruhrbergbaus 1890-1930, München 1995.
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Niederrheinisch-Westfälischen Steinkohlen-Bergbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Bd. 8, Berlin 1905, S. 1-92.
Arbeiten in der „Konsumgesellschaft“ Arbeit und Freizeit als Identitätsangebote um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts1 P ETER -P AUL B ÄNZIGER
1. Z WISCHEN
PRODUKTIVISTISCHEM UND KONSUMISTISCHEM P ARADIGMA
Es gibt, das ist in einem Band zur Geschichte der (Industrie-)Arbeit vielleicht müßig zu erwähnen, eine lange Tradition, den Menschen vornehmlich als (produktiv) Arbeitenden zu bestimmen. Was genau unter „Arbeit“ oder „Produktivität“ zu verstehen sei, wurde je nach Epoche oder Interesse unterschiedlich definiert. Gemeinsam ist zahlreichen Debatten der vergangenen Jahrhunderte aber eine Tendenz, Arbeit nicht nur als Notwendigkeit oder Last und Mühsal zu bestimmen, sondern als eigentlichen Zweck menschlicher Existenz: der Mensch als „Schaffender“.2 Auch in der Historiographie wurde die Geschichte der Industriegesellschaften während langer Zeit hauptsächlich als Geschichte von „Arbeitsgesellschaften“ konzipiert. Seit einiger Zeit ist jedoch die Tendenz zu erkennen, diese Darstellung zu differenzieren. In verschiedenen programmatischen Texten wird gar vorgeschlagen, auf die Arbeitsgesellschaft der Industrialisierungszeit eine „Konsumgesellschaft“ der industrialisierten Welt folgen zu lassen: Auf ein produktivistisches Arrangement des Sozialen, das in Mitteleuropa bis 1
Für ihre kritischen Anmerkungen danke ich Julia Stegmann (Berlin).
2
Zur Begriffsgeschichte allgemein: Conze: Arbeit, 1972. Kocka: Work, 2010.
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zum Ende der vierziger Jahre vorherrschend gewesen sei, folgte gemäß dieser Darstellung ein konsumistisches, das sich bis heute nicht grundlegend verändert habe.3 Das Credo der VertreterInnen dieser Argumentationsweise beschrieb Andreas Wirsching in einem 2009 veröffentlichten Artikel: „In den modernen Massengesellschaften ist es immer weniger die Arbeit, die die Konstruktion von Individualität erlaubt, als vielmehr der Konsum, über dem sich die Identität des einzelnen konstruiert und bestimmt.“4 Während in der philosophischen Debatte der Industrialisierungszeit die Forderung nach einem „Recht auf Faulheit“5 das emphatische Arbeitsverständnis herausforderte, folgt in dieser historischen Erzählung die Freizeit- und Konsumgesellschaft auf die Arbeitsgesellschaft. Oder, wie Wirsching an anderer Stelle schreibt: „Not only did consumption and the consumer society become favourite subjects for research, but consumption was seen as a – perhaps the – key to the historical analysis of modern societies.“6 Jenseits der zweifellos notwendigen Erweiterung des Feldes der (Zeit-) Geschichte ist eine dualistische Gegenüberstellung von Arbeit und Konsum aus verschiedenen Gründen problematisch. Wirsching selbst kritisiert im Schlussabschnitt des zitierten deutschsprachigen Textes, in dem er auf die „Grenzen des konsumistischen Paradigmas“ eingeht, die verkappte Linearität dieser Erzählung. Auch fragt er im Titel vorsichtig „Konsum statt Arbeit?“.7 In seiner Argumentation schickt er sich jedoch nur scheinbar an, den Kern der Darstellung mehr als nur rhetorisch in Frage zu stellen: Er weist lediglich darauf hin, dass eine Lohnarbeit und damit ein Einkommen zu haben, nach wie vor die absolute Bedingung für die Teilhabe an der Konsumgesellschaft sei.8 Als Identitätsangebot scheint die Arbeit jedoch, Wirsching zufolge, zunehmend ausgedient zu haben: „And the more workers saw themselves as consumers, the larger their non-working time bud-
3
Vgl. etwa den sehr anregenden Artikel von Stoff: Produktivismus, 2001.
4
Wirsching: Konsum, 2009, S. 173.
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Lafargue: Recht, 1887.
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Wirsching: Work, 2011, S. 15.
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In seinem Aufsatz aus dem Jahr 2011 ist das Fragezeichen dann allerdings ver-
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Wirsching: Konsum, 2009, S. 198.
schwunden.
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gets and the fatter their pay-packets, the more consumption tended to replace work as the determiner of individual identity.“9 Der vorliegende Artikel, der auf den ersten Recherchen für ein größeres Forschungsprojekt zur Geschichte „produktiver“ Körper im zwanzigsten Jahrhundert basiert, nimmt die hier skizzierte Fragestellung auf. Eine Geschichte von Arbeit und Konsum im zwanzigsten Jahrhundert, so die These, benötigt einiges an Differenzierungen, um weder in die Falle linearer Darstellungen zu tappen, noch die Veränderungen auszublenden, die mit dem Aufkommen (massen-)konsumgesellschaftlicher Strukturen verbunden waren. Von einer Kontinuität der Bewertung von Arbeit und Konsum im zwanzigsten Jahrhundert kann nicht die Rede sein. Ebenso wenig lässt sich ein „spektakulärer Paradigmenwechsel“ ausmachen, im Verlaufe dessen der Konsum die Arbeit als wesentlichen Faktor der Subjektivation10 ersetzt habe, wie es in der redaktionellen Einführung zu Wirschings Artikel in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte heißt. Die von mir im Folgenden ausgewerteten Quellen lassen vielmehr vermuten, dass solche Thesen in doppelter Hinsicht differenziert werden müssen: Zunächst muss genauer bestimmt werden, inwiefern die Arbeit in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als zentrales Identifikations- oder Kohärenzangebot fungierte. Ich argumentiere, dass weniger die schaffende Arbeit im Sinne ihrer emphatischen Bestimmung im philosophischen Diskurs ein solches Angebot darstellte, denn verschiedene konkrete Bedingungen, die (auch) am Arbeitsplatz vorzufinden sind. In den von mir untersuchten Quellen werden sowohl das Arbeitsklima und die Gestaltung des Arbeitsplatzes erwähnt, als auch die Möglichkeit, Neues zu lernen oder Karriere zu machen. Anschließend zeige ich, dass von einer weitgehenden oder zunehmenden Verlagerung dieser Funktion auf den Konsum nicht die Rede sein kann. Mit der Etablierung konsumgesellschaftlicher Strukturen erweiterte sich zwar die Palette der Identitätsangebote. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Bedeutung des Arbeitens grundlegend verändert hätte. Zusammen mit dem Kon-
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Wirsching: Work, 2011, S. 18.
10 Ich verwende diesen Begriff in Anlehnung an Butler: Psyche, 2001, S. 81ff. und Anm. 1. Übersetzung des Begriffs „assujettissement“ bei Foucault, um den Prozess der Subjektkonstitution von der aktuellen Debatte um die „Subjektivierung der Arbeit“ (vgl. dazu etwa Schönberger: Widerständigkeit, 2007, S. 78) zu unterscheiden.
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sum und anderen Lebensbereichen bestimmte es weiterhin die Konstruktion von Selbstverhältnissen. Die Quellenbasis der folgenden Ausführungen setzt sich in der Hauptsache aus Egodokumenten zusammen. Zum einen handelt es sich um Tagebücher und Briefe junger Angestellter sowie von Personen aus kleinbürgerlichem Milieu, die zwischen ca. 1910 und 1970 im deutschsprachigen Raum verfasst wurden. Großenteils sind die hier ausgewerteten Dokumente Teil der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien. Zum anderen stützt sich meine Argumentation auf die Auswertung von Berufsschulaufsätzen aus der Sammlung Wilhelm und Elfriede Roeßlers, die heute im Archiv „Deutsches Gedächtnis“ der Fernuniversität Hagen in Lüdenscheid liegen. Mit Unterstützung durch Schulbehörden und Kultusministerien sammelten die beiden PädagogInnen in den fünfziger Jahren Aufsätze von SchülerInnen und BerufsschülerInnen aus dem gesamten Gebiet der damaligen Bundesrepublik Deutschland. Im Gegensatz zum Korpus der Tagebücher und Briefe handelt es sich bei den VerfasserInnen dieser Dokumente zum überwiegenden Teil um ArbeiterInnen.11 Der Vergleich der beiden Teilkorpora ermöglicht es somit, die klassenspezifischen Schreibbedingungen zu berücksichtigen. Der Untersuchungszeitraum wurde mit der im Titel angegebenen Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bewusst unscharf eingegrenzt. Da die Berufsschulaufsätze ausschließlich aus den fünfziger Jahren stammen, steht dieser Zeitraum eindeutig im Zentrum. Über die weiteren Egodokumente wird darüber hinaus ein Bogen vom ersten Drittel des Jahrhunderts bis in die sechziger Jahre gespannt. Insgesamt geht es mir weniger darum, abschließende Erkenntnisse über einzelne Zeiträume zu präsentieren, als zur Beantwortung der Frage beizutragen, wie eine Geschichte von Arbeit und Konsum im zwanzigsten Jahrhundert geschrieben werden könnte, die weder im emphatischen Diskurs der Arbeitsgesellschaft aufgeht, noch grundsätzlich zu bestreiten neigt, dass der (Erwerbs-)Arbeit auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts noch ein großes Gewicht für Subjektivationsprozesse zukam.
11 Die Resultate der Studie wurden in Roeßler: Jugend, 1957 veröffentlicht. Für eine Beschreibung der Sammlung vgl. Abels/Krüger/Rohrmann: Jugend, 1989.
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In der Einleitung seines 2010 erschienenen Sammelbandes Work in a Modern Society fragt Jürgen Kocka, inwiefern die zentrale Stellung, welche die Arbeit in der philosophischen Diskussion im neunzehnten Jahrhundert hatte, auch in den Selbstverhältnissen der Arbeitenden ihre Entsprechung gefunden habe. Auf der Basis utopischer Schriften, die zwischen der frühen Neuzeit und dem späten neunzehnten Jahrhundert verfasst wurden, kommt er zu einem eindeutigen Schluss: „It was, first of all, and without exception, the hardship of manual work, labour’s toil and trouble, which was to be overcome: through the shortening of work hours [...] and the liberating effects of modern technology“.12 Kocka geht davon aus, dass sich diese Forderungen weniger auf normativ-abstrakte Überlegungen, als auf empirische Beobachtungen in Fabriken und Werkstätten gestützt hätten. Im 19. Jahrhundert habe sich die Spannung zwischen der sichtbaren Arbeitswelt und den emphatischen Arbeitskonzepten akzentuiert und sei zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte geworden. Als deren Resultat innerhalb der philosophischen Diskussion könne die Konstruktion des Entfremdungs- und des Ausbeutungsbegriffs gesehen werden. Von der ArbeiterInnenbewegung sei der Hinweis auf die Spannung zwischen Realität und Ideal dazu verwendet worden, politische Forderungen zu unterstützen: Wenn die Bestimmung der Arbeit und ihre aktuelle Verfassung so offensichtlich auseinander klafften, musste entweder erstere geändert oder aber die realen Umstände verbessert werden. Dass eher Letzteres angestrebt wurde, schreibt Kocka, liege nicht nur in den von den Eliten der ArbeiterInnenbewegung entwickelten Programmen begründet, sondern auch in den Selbstverhältnissen der Arbeitenden selbst: „By looking more closely at the grassroots level of the emerging socialist labour movement, one can see that active but ordinary workers had a demanding, ambitious understanding of their work as qualified, productive, masculine and culturally important.“13 Inwiefern das auch für jene ArbeiterInnen galt, die den Organisationen der Bewegung mehr oder weniger fern standen, lässt Kocka offen. Es ist jedoch nicht undenkbar, dass auch sie auf emphatische Konzepte Bezug ge12 Kocka: Work, 2010, S. 6. 13 Ebd., S. 9.
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nommen hätten, wenn sie explizit danach gefragt worden wären. Dies würde allerdings nur bedingt etwas darüber aussagen, wie sie ihre Arbeit im Alltag wahrnahmen und welche Rolle diese für ihr Selbstverhältnis spielte. Hier dürften die spezifischen Lebensumstände wichtiger gewesen sein, als die über die Medien, die Schule und die verschiedenen „Organisationen der Arbeitswelt“ popularisierten abstrakten Arbeitsbegriffe. Gegenstand und Anlass der Selbstthematisierung dürfte somit für die meisten Personen nicht nur ein abstrakter Begriff der (schaffenden) Arbeit gewesen sein, sondern vor allem die konkreten und alltäglichen Situationen am Arbeitsplatz und die dort verrichteten Tätigkeiten. Veranstaltungen von Bildungsinstitutionen und Parteien hingegen, in deren Rahmen allgemeine Reflexionen über die Arbeit eher einen Platz hatten, dürften für die meisten ArbeiterInnen Ausnahmesituationen gewesen sein, auch wenn sie nicht ohne Einfluss blieben. „[S]chon in den ersten Klassen [...] predigt der Lehrer: ‚Erst die Arbeit, dann das Spiel.‘ [...] So werden wir schon früh gelehrt, unsere Zeit einzuteilen“14, heißt es in einem der Berufsschulaufsätze. Einen Einblick in den Alltag junger Arbeitender in den fünfziger Jahren und die damit verbundenen Formen der Selbstthematisierung ermöglicht eine Serie von Berufsschulaufsätzen aus dem Roeßler-Archiv, die zum Thema „mein Arbeitsplatz“ verfasst wurden. Zweifellos stellt die kommunikative Form des Schulaufsatzes keinen neutralen Ort für die Äußerungen der SchülerInnen dar. So dürfte es sich bei der (Berufs-)Schule um eine der Institutionen gehandelt haben, über die hegemoniale Diskurse wie die emphatischen Konzepte der schaffenden Arbeit popularisiert wurden. Zugleich bezeugen verschiedene Aspekte die Offenheit der Situation: So ist darauf hinzuweisen, dass die Roeßlers oftmals selbst anwesend waren und zahlreiche Gruppengespräche mit den Jugendlichen führten. Zudem waren die Lehrpersonen gebeten worden, die Anonymität zu wahren und die Aufsätze
14 Roeßler-Archiv, HS Aachen O, Nr. 182 (14.1.1956). Es handelt sich um eine automatische Nummerierung. Sie beginnt jeweils mit der Nummer 100 für das Titelblatt. Bei mehrseitigen Dokumenten wird jeweils die Nummer der ersten Seite angegeben. Die Kürzel in den Archivangaben haben folgende Bedeutungen: BS: Berufsschule; HS: Handelsschule; KB: Kaufmännische Berufsschule; MB: Mädchenbildungsschule; U: Unterstufe; M: Mittelstufe; O: Oberstufe. Die Orthographie und Zeichensetzung der Originale wurden übernommen, alle Namen anonymisiert.
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nicht anzuschauen. Auch wenn dieser Aufforderung sicherlich nicht in allen Fällen entsprochen wurde, dürfte der eingespielte Kommunikationsrahmen des Aufsatzes in der Deutschstunde doch zumindest teilweise aufgebrochen worden sein. Dies und die Wahl einer offenen Aufsatzform dürfte eine Umgebung geschaffen haben, die den Schreibenden über die Aufsatzthemen hinaus relativ wenige Vorgaben machte.15 Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Texte sehr unterschiedlich aufgebaut sind und dass die Themen einen großen Bereich abdecken. So berichteten viele über den Weg zur Arbeit oder beschrieben, wie sie ihre Freizeit verbrachten. Auch Fragmente der emphatischen Arbeitskonzepte werden vereinzelt erwähnt, am deutlichsten im Text von Gudrun S., einer etwa 15-jährigen Fabrikarbeiterin aus Aachen. Er beginnt mit folgenden Worten: „Im Schaffen liegt das Glück des Lebens, du suchst es im Besitz vergebens. Ja ein wahres Sprichwort.“16 Aus dem Zusammenhang des restlichen Aufsatzes ist allerdings zu ersehen, dass die Arbeit für Gudrun S. gerade (auch) insofern Glück bedeutete, als sie die konkret ausgeübten Tätigkeiten als befriedigend empfand und die Beschaffenheit des Arbeitsplatzes ihren Wünschen entsprach. Dies erlaubte es ihr, sich selbst auf eine positive Weise zu thematisieren. Diese beiden Aspekte der Aufsätze – die Formen der Selbstthematisierung am Arbeitsplatz und die Forderungen, die an diesen und die dort verrichteten Tätigkeiten gestellt wurden – stehen im Zentrum dieses und des folgenden Abschnittes. Mit dem Unterthema „Licht- und Schattenseiten“ hatten die Roeßlers bereits ein konkretes Narrativ vorgegeben, an dem sich die BerufsschülerInnen beim Verfassen ihrer Aufsätze orientieren konnten. Kritik zu äußern war also explizit erwünscht, auch wenn gleichzeitig eine ausgewogene Darstellung vorgeschlagen wurde.17 Es erstaunt deshalb, wie wenig die meisten BerufsschülerInnen über die negativen Aspekte ihres Arbeitsplatzes zu berichten wussten. „Schattenseiten habe ich keine“18, heißt es bezeichnender-
15 Zur Methode der Untersuchung vgl. Abels/Krüger/Rohrmann: Jugend, 1989, S. 141-145. Roeßler: Jugend, 1957, S. 21-31. Zu den Aufsatzformen in jener Zeit, Ludwig: Schulaufsatz, 1988, Kapitel XI. 16 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 182 (Januar 1956). 17 Es ist allerdings aus den vorhandenen Aufsätzen nicht klar ersichtlich, ob das Unterthema in den Aufgabenstellungen immer angegeben wurde. 18 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 185 (23.1.1956).
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weise im Text einer Wäschereiarbeiterin. In dieser Hinsicht fällt allerdings ein deutlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern auf. Während lediglich acht Prozent der jungen Frauen deutliche und ein weiteres Fünftel leise Vorbehalte bezüglich des Arbeitsplatzes und der dort zu verrichtenden Tätigkeiten äußerten, hielten sich fast zwei Fünftel der jungen Männer mit negativen Bemerkungen nicht zurück. Ein weiteres Viertel von ihnen formulierte ebenfalls Kritik, jedoch in eher zurückhaltender Weise.19 Männliche Azubis waren also offenbar eher bereit, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen, als ihre weiblichen Kolleginnen. Bezüglich des Inhalts unterscheiden sich die von Männern und Frauen vorgebrachten Kritikpunkte allerdings kaum. „Mein Arbeitsplatz“, schrieb ein 17-jähriger Former-Lehrling, „ist nichts schönes, er ist zu staubig und es ist keine gute Luft drin. Im Winter pfeift [es] zu allen Ecken herein. [...] Ob man heute oder morgen drin umfällt das ist egal. Ist man einige Jahre da, dann bekommt man schon gleich eine Staublunge.“20 Auch in vielen anderen Berichten werden die klimatischen und hygienischen Bedingungen am Arbeitsplatz erwähnt. Diese Arbeitsplätze werden jedoch als „sauber“, nicht allzu „laut“, „modern“ oder gut durchlüftet beschrieben, was in den Augen der BerufsschülerInnen von großer Bedeutung war. Unbefriedigende Situationen wurden deshalb nicht in jedem Fall hingenommen: „Bei uns in der Gießerei müßte daher noch viel getan werden um da Menschenleben zu schützen“, heißt es beispielsweise im oben zitierten Aufsatz. Die kommunikative Form der hier untersuchten Aufsätze scheint also durchaus die Möglichkeit geboten zu haben, die Zustände im
19 Da die Schreibenden aus Aachen (Frauen) beziehungsweise Trier (Männer) stammten, dürfte die regionale Herkunft kaum eine Rolle spielen. In beiden Fällen handelte es sich um mittelgroße westdeutsche Städte mit damals rund 150.000 bzw. 85.000 EinwohnerInnen. Ob das Alter – die Männer waren ca. zwei Jahr älter als die Frauen – eine Rolle spielt, kann auf der Basis der Stichprobe nicht bestimmt werden. Darüber hinaus ist auffällig, dass sich unter denjenigen Berufsschülern, in deren Texten die negativen Beschreibungen überwiegen, eine Gruppe von Former-Lehrlingen befand. Ob Gruppendynamiken – es gibt Hinweise, dass sie gegenseitig abgeschrieben oder sich abgesprochen haben – oder die schwere Arbeit in der Stahlindustrie für die Kritik verantwortlich waren, lässt sich anhand meiner Stichprobe ebenfalls nicht eruieren. 20 Roeßler-Archiv, BS Trier O, Nr. 112 (16.6.1956).
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Betrieb oder am Arbeitsplatz zu hinterfragen. Die Konsequenz aus als unzumutbar empfundenen Arbeitsbedingungen zu ziehen und die Stelle zu wechseln, erwogen allerdings nur Einzelne. „Ich persönlich bin mit der Arbeit u. der Umgebung gar nicht zufrieden u. habe vor, die Stelle so bald wie möglich zu wechseln“,21 schrieb eine junge Frau lapidar, die sich über den Schmutz und weitere Unannehmlichkeiten in einer Aachener Gummifabrik beklagte. Einige Weitere hatten diesen Schritt bereits unternommen, was zweifellos angesichts der sinkenden Arbeitslosigkeit in der BRD um die Mitte der fünfziger Jahre erleichtert wurde.22 Neben den bereits erwähnten Bewertungskriterien, die vor allem die Beschaffenheit der Räumlichkeiten beschreiben, werden in den Aufsätzen verschiedene weitere Eigenschaften erwähnt, die in den Augen der Schreibenden nicht weniger ins Gewicht fielen: die Arbeitszeiten, die Bezahlung und das Verhältnis unter den Arbeitenden beziehungsweise zu den Vorgesetzten. Die Stimmung am Arbeitsplatz war offenbar so wichtig, dass sogar ein Berufsschüler, in dessen Text ansonsten ausschließlich die schärfste Kritik geäußert wird, mit einem versöhnlichen Hinweis darauf schloss: „Wen[n] man sich auf dem Arbeitsplatz mit seinen Kameraden verträgt arbeitet es sich viel leichter.“23 Von Vorgesetzten wollten die jungen ArbeiterInnen und Angestellten darüber hinaus empathisch behandelt werden und für gute Arbeit erwarteten sie entsprechende Anerkennung und die Möglichkeit, sich im Ausgleich auch einmal die eine oder andere Freiheit gönnen zu dürfen. Dazu passt, dass der Betrieb verschiedentlich als paternalistisch geführte, familienähnliche Institution beschrieben wird: „Unser Chef behält uns das[s] wir nicht Arbeitslos werden. Das danken wir ihm mit unserer Treue.“24 Organisationen der ArbeiterInnenbewegung werden lediglich in einem einzigen Text erwähnt, in dem neben dem „guten Meister“ auch der Betriebsrat zu den festen Bestandteilen des wohlgeordneten Betriebs gezählt wird.25 Manchmal ist die Kritik an den Umständen mit einer vagen Hoffnung auf Besserung verbunden, was angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen
21 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 153 (23.1.1956). 22 Vgl. Schildt: Moderne Zeiten, 1995, S. 55. 23 Roeßler-Archiv, BS Trier O, Nr. 110 (16.6.1956). 24 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 127 (20.1.1956). 25 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 222 (18.1.1955 [1956]).
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Lage jener Jahre nicht ganz unbegründet war. Wie Axel Schildt schreibt, wurden solche Hoffnungen von der Mehrheit der Westdeutschen geteilt.26 Konkrete Forderungen an die Verhältnisse in der Produktion27 zu stellen, dürfte in ihren Augen den erfolgversprechenderen Weg dargestellt haben, als die Produktionsverhältnisse grundsätzlich in Frage zu stellen. So finden sich nur einzelne Hinweise auf grundsätzlich verschiedene Interessen von Arbeitenden und BesitzerInnen der Produktionsmittel.28 Wie ich bereits angemerkt habe, stellen Berufsschulaufsätze allerdings nicht unbedingt den bevorzugten Ort für entsprechende Überlegungen dar. Zudem dürfte die Aufforderung, auch die „Lichtseiten“ des Arbeitsplatzes zu schildern, nicht ohne Einfluss geblieben sein: In der Fragestellung selbst war ein harmonisierendes Narrativ bereits angelegt.29 Zu den Faktoren, die eine „wohlgeordnete“ Arbeit in den Augen der BerufsschülerInnen auszeichneten und bezüglich derer sie auf eine positive Entwicklung hoffen konnten, zählte ferner die Arbeitszeit. Ihre wöchentliche Länge sollte begrenzt und der Arbeitstag klar strukturiert sein: „Daß ich übermäßig lange arbeite, kann ich von mir eigentlich nicht sagen, aber ich weiß vorher nie, wann ich aufhören kann. Ich glaube, daß ist auch der Grund, weshalb die meisten Mädchen nicht in den Haushalt wollen und auf die Fabrik gehen, denn dort hat man geregelte Arbeitszeit. Ich würde mich freuen, wenn dies auch in die Hauswirtschaft eingeführt würde.“30
Deutlich spiegeln sich in solchen Äußerungen die zeitgenössischen Debatten um die 40-Stunden-Woche und den arbeitsfreien Samstag wider.31 Anders als die oben beschriebenen Anforderungen an Arbeitsplatz und Tätigkeiten verweist die Thematik der Arbeitszeit auch auf die Freizeit und den Konsum. Sie könne nie etwas Festes abmachen, beklagte sich beispielsweise die zitierte Hausangestellte.
26 Schildt: Moderne Zeiten, 1995, S. 310-314. 27 Vgl. dazu Burawoy: Manufacturing Consent, 1979, S. 15. 28 Das deckt sich mit den Angaben bei Schildt: Moderne Zeiten, 1995, S. 311f. 29 Ähnliche Vorbehalte sind auch im Zusammenhang mit den von Schildt verwendeten Umfrageergebnissen zu diskutieren. 30 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 197 (23.1.1956). 31 Vgl. dazu Schildt: Moderne Zeiten, 1995, Kapitel II.2.
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Ebenfalls einen direkten Bezug zu Freizeit und Konsum weist das letzte zentrale Bewertungskriterium auf: die Entlohnung. Vor dem Hintergrund der Ausführungen im vorletzten Abschnitt dürfte die Annahme nicht unbegründet sein, dass es bei den häufigen Klagen über schlechte Bezahlung oder unentgeltlich zu leistende Überstunden auch um die eigene Kaufkraft ging. Die Höhe des Gehalts oder des Lohns war aber auch deshalb wichtig, weil man zu Hause einen Teil davon abgeben musste oder wollte. Manche scheinen sogar die ganze Familie ernährt zu haben: „Sollte es etwa keine Lohnerh[öh]ung geben werde ich mich nach einer anderen Arbeit umsehen müssen, da es viel zu wenig für vier Personen ist“,32 schrieb ein 17-jähriger Packer, dem es ansonsten auf seiner Arbeit sehr gut gefiel. Vergleicht man solche Äußerungen mit ersten Ergebnissen aus meiner Analyse von Tagebüchern und Briefen von Angestellten aus den zwanziger und dreißiger Jahren, so zeigen sich deutliche Parallelen: Für viele scheint die Lohnarbeit, wenn sie überhaupt thematisiert wurde, vor allem (auch) der Existenzsicherung gedient zu haben. In einem Brief an ihre Schwester berichtete eine junge Frau, dass ein Verwandter zum ersten Werkmeister aufgestiegen sei. Sie freue sich für ihn, „dass er es so weit gebracht hat. Angenehm dabei ist eines [...], er kommt ins Angestelltenverhältnis, und kann daher nicht mehr von heute auf morgen gekündigt werden. Ist dies ebenfalls ein sehr grosser Vorteil.“33 Gutes Arbeits- und Raumklima, geregelte Arbeitszeiten und ein zumindest die existenziellen Bedürfnisse sichernder, zunehmend aber auch weiteren Konsum ermöglichender Verdienst waren also die Anforderungen, welche die Arbeitsplätze erfüllen sollten. Da die dort zu verrichtenden Tätigkeiten im Fall vieler ArbeiterInnen repetitiv und wenig anspruchsvoll waren, stellten diese Umstände jene Faktoren dar, auf die sie einen, wenn auch beschränkten, Einfluss hatten – als ultima ratio konnten sie die Stelle wechseln – oder bezüglich derer konkreten Personen oder Institutionen eine wesentliche Verantwortung zugeschrieben werden konnte. Es waren die KollegInnen, vor allem aber die Vorgesetzten und BesitzerInnen von Fabriken, Geschäften oder Werkstätten, von denen eine Erfüllung der Forderungen erwartet wurde. Den einzelnen Betrieben wurde somit auch ein gewisser
32 Roeßler-Archiv, TR BS O, Nr. 102 (Juni 1956). 33 Sammlung Frauennachlässe (im Folgenden: SFN), NL 152 I, Brief vom 2.10.1939.
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Handlungsspielraum zugeschrieben; nur in Ausnahmefällen wurde mit der „spezifischen Wettbewerbssituation“ argumentiert. All dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch die Tätigkeiten selbst bewertet worden wären. Ein grundlegender Anspruch an diese lässt sich deutlich herausarbeiten: Sie sollten „interessant“ beziehungsweise nicht allzu „langweilig“ sein. Zugleich sollte der Arbeitsrhythmus erträglich bleiben: „Durch die verschiedenen Arten der Stoffe und Farben der Hemden, habe ich etwas Abwechslung. Es ist oft sehr langweilig die Arbeit zu verrichten. Die Arbeit ist nicht schwer aber nervenaufregend“34 schrieb eine junge Frau, die in einer Fabrik für Herrenwäsche arbeitete und sich darüber beklagte, dass ihre Kollegin und sie es kaum je schafften, die geforderte Arbeitsleistung zu erbringen. Mit ihrer positiven Bewertung abwechslungsreicher Tätigkeiten nahmen die BerufsschülerInnen eine Forderung auf, die schon die von Kocka beschriebenen utopischen Schriften enthielten: „Finally, it was the monotony of specialized work that they wished to remedy by permanent alteration, so that work could better serve the purpose of human self-realization.“35 Ein vergleichbares Argument stellt auch einen wichtigen Aspekt jenes Strangs der Kapitalismuskritik dar, welcher die monotone Industriearbeit als grundsätzlich entfremdet betrachtet. Doch auch ohne sich darauf zu beziehen, kann die Bedeutung, die der Gestaltung des Arbeitsplatzes zugemessen wird, als Versuch gewertet werden, angesichts der Notwendigkeit der Existenzsicherung das Beste aus einer unbefriedigenden Erwerbsarbeit zu machen. Nicht nur die schaffende Selbstverwirklichung, sondern auch die gute Stimmung am Arbeitsplatz oder die Qualität der Tätigkeiten stellen somit Faktoren dar, die eine Rolle für die Selbstverhältnisse der Arbeitenden spielen können. Dies stellt zugleich auch eine Antwort auf die – implizit auch in der Einleitung dieses Bandes angesprochene – alte Frage dar, wie die Menschen zum Arbeiten gebracht werden: Es sind nicht nur die pure Notwendigkeit der Existenzsicherung im Kapitalismus und andere Zwangsmittel, aber auch nicht nur Praktiken der Disziplinierung, sondern vor allem eine Vielzahl „weicher“ Identifikationsangebote, vom produktivistischen Arbeitsethos bis hin zu verschiedenen „atmosphärischen“ Aspekten des Arbeitsplatzes. Auf ein weiteres Subjektivationsangebot, die mit
34 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 148 (21.1.1956). 35 Kocka: Work, 2010, S. 6.
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dem Arbeiten verbundenen Formen der Selbstthematisierung, gehe ich im Folgenden ein.
3. AN
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„Er ist nichts schönes. Er ist staubig und schmutzig. Es ist zu lang 8 Stunden zu arbeiten dabei wird man zu müde“,36 heißt es im Aufsatz eines Former-Lehrlings, dessen Ähnlichkeit mit dem im vorangehenden Abschnitt zitierten Text eines Berufsgenossen aus seiner Klasse auffällig ist. Anders als seine Kollegen und die meisten weiteren jungen BerufsschülerInnen gehörte er zu jener Minderheit der EinwohnerInnen der BRD in den fünfziger Jahren,37 die der Arbeit an sich nicht viel abgewinnen konnte: „Es wär mir am liebsten[,] wenn ich überhaupt nicht angefangen [hätte] zu Arbeiten. Was haben es die Menschen so gut[,] die nicht brauchen zu arbeiten und doch genug Geld haben.“ Wie einige weitere VerfasserInnen von Aufsätzen, die dem vergleichsweise angenehmen Leben der Schulzeit nachträumten, scheint er sich allerdings mit seiner Situation abgefunden zu haben: „Doch müßen es auch Menschen geben die Arbeiten, unter denen ich auch bin. Ich bin aber an die Arbeit gewohnt und werde arbeiten um Geld zu verdienen. Ein junger Mensch soll Arbeiten den das Sprichwort lautet Müsiggang ist aller Laster Anfang.“ Es wäre eine vorschnelle Interpretation, den letzten Satz schlicht als bedeutungsloses Zugeständnis an einen von ihm nicht geteilten emphatischen Arbeitsdiskurs zu betrachten und davon auszugehen, dass damit nicht auch ein Aspekt des Selbstverhältnisses des Schreibenden thematisiert worden sei. Der Rückgriff auf abstrakte Vorstellungen wie den Verweis auf die moralische Überlegenheit könnte für ihn eine (prekäre) Möglichkeit gewesen sein, das Fehlen anderer Kohärenzangebote am Arbeitsplatz oder während des Arbeitens auszugleichen. Andere Formen der Selbstthematisierung fallen demgegenüber durch ihre Konkretheit auf. So war es beispielsweise für eine junge Arbeiterin
36 Roeßler-Archiv, BS Trier O, Nr. 110 (16.6.1956). 37 Gemäß Schildt stimmten 1952 und 1963 nur jeweils fünfzehn Prozent der vom Allensbacher Institut für Demoskopie befragten Westdeutschen der These zu, dass ein Leben ohne Arbeit am schönsten wäre: Schildt: Moderne Zeiten, 1995, S. 314.
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wichtig, ihre Arbeit „zuverlässig“ zu verrichten. Nicht bedeutsam war dagegen, in welchem Bereich sie arbeitete. Ihr Text endet mit den Worten: „Auch der junge Mensch kann an sich selbst erfahren welch innere Beglückung, Bereicherung eine sorgfältige ausgefüllte Arbeit gewährt.“38 Da es sich bei der Verfasserin dieser Zeilen um Gudrun S. handelt, aus deren Aufsatz ich bereits das Sprichwort, dass das Glück im Schaffen liege, zitiert habe, führen diese Äußerungen auch zu einer Konkretisierung des Sprichworts selbst. Der Begriff Schaffen verweist dann weniger auf ein produktivistisches Arbeitsethos, als dass er schlicht ein Synonym für Arbeiten darstellt. Als Gegenstand der Konstruktion eines Selbstverhältnisses dürfte also die – für eine nicht direkt in der Produktion tätige Fabrikarbeiterin schwierige – Identifikation mit den im Betrieb hergestellten Produkten kaum gedient haben. Wie für die Mehrheit der BerufsschülerInnen erfüllten diese Funktion eher der Arbeitsplatz, die dort verrichteten Tätigkeiten sowie die an sich selbst gerichtete Forderung, sorgfältig und zuverlässig zu arbeiten. Die Zuschreibung dieser Eigenschaften ermöglichte es ihr, sich in ihrer spezifischen Lage in einer sozial anerkannten Art und Weise zu thematisieren.39 Mit anderen Worten: Das Glück fand Gudrun S. nicht durch das produktive Schaffen, sondern dadurch, dass sie über die Arbeit ein zufriedenstellendes Selbstverhältnis etablieren und sozial angesehene Eigenschaften erlernen konnte. Trotz der mehr oder weniger leisen Kritik an der Härte und den Ungerechtigkeiten, die ihnen vonseiten der Ausbildenden widerfuhren, scheinen sich viele BerufsschülerInnen nicht zuletzt deshalb mit ihrer Situation als Azubis identifiziert zu haben. So schrieb eine junge Frau, die in einer Bügelanstalt arbeitete: „Ab und zu wenn wir etwas falsch machen werden wir sehr grob angeschriehen. Dann ist der ganze Tag wie verhaut. Aber ich sag mir immer, durch Dummheit wird mann klug.“40 Neben der Sorgfalt und der Zuverlässigkeit wurden hauptsächlich Ordentlichkeit, Sauberkeit und Pünktlichkeit als Eigenschaften aufgezählt, die es im Rahmen der Ausbildung zu erlernen galt. „Der Arbeitgeber“, erklärte eine Arbeiterin, „sieht dann wenigstens, daß wir ein bißchen Sauberkeit und Häuslich-
38 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 182 (Januar 1956). 39 Zum Kanon der am positivsten bewerteten Eigenschaften – Fleiß, Arbeitsamkeit, Tüchtigkeit und Strebsamkeit – vgl. Schildt: Moderne Zeiten, 1995, S. 314. 40 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 179 (Januar 1956).
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keit gelernt haben. [...] Jeder Mensch hat seine Vorschriften und seine Pflichten. Es wäre ein heftiges durcheinander, wenn jeder Arbeiter, Lehrling oder Geselle seine Arbeitsstatt ohne aufzuräumen verläßt.“41 Es lässt sich nicht bestimmen, inwiefern die spezifische Kommunikationssituation – das Schreiben im Rahmen einer von den hegemonialen Vorstellungen nicht unabhängigen Institution – solche Formen der Selbstthematisierung förderte. Dass sie keinerlei Bezug zu den Selbstverhältnissen der Schreibenden gehabt hätten, scheint dennoch unwahrscheinlich zu sein. In verschiedenen Texten, in denen über das bereits Erreichte berichtet wird, ist denn auch eine gewisse Selbstzufriedenheit erkennbar: „Pünktlichkeit sollte sich meines Erachtens jeder zur Regel machen“42, schrieb eine 20jährige Büroangestellte. Unverkennbar ist mit solchen Äußerungen in vielen Fällen die Hoffnung auf eine „interessante“ Tätigkeit, auf berufliche Herausforderungen oder gar eine Karriere verbunden. Die zitierte Berufsschülerin fuhr fort: „Mir liegt es nicht, stupide an der Schreibmaschine zu sitzen und von morgens 8 Uhr bis abends um 6 Uhr mit 2 Stunden Mittagszeit im Büro zu sitzen und ich freue mich immer wieder darüber, daß mein Chef mir in dieser Beziehung sehr entgehen kommt.“ Gerade die Betonung der Sauberkeit lässt sich in einigen Fällen auch als Versuch verstehen, von der Fabrik ins Büro aufzusteigen, den Blaumann durch einen weißen Kragen zu ersetzen: „Ganz abgelegen von der Fabrik in einer Baracke ist mein Arbeitsplatz. Ich höre nichts von dem Fabrikleben und Lärm der Maschinen. Ab und zu darf ich auf dem Büro dienen“, schrieb Gudrun S. Ihre aktiveren KollegInnen setzten sich in der freien Zeit freiwillig ans Lernpult und bereiteten sich auf zukünftige Anforderungen vor. Andere hingegen beließen es beim Träumen: „Manchmal aber glaube ich, in diesem Geschäft könnte ich nicht länger bleiben. Wohl im Geschäft, aber diese Art von Geschäft ist auch nicht das richtige. Ich träume manchmal von einem Arbeitsplatz ganz anderer Art. Er müßte mit Kleidern zusammenhängen und mit dekorieren und er müßte mir größere Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Aber ich glaube, so einen Arbeitsplatz finde ich nie. Im Grunde genom-
41 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 120 (20.1.1956). 42 Roeßler-Archiv, KB Bremen M, Nr. 104 (30.1.1956).
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men ist es bei uns im Geschäft sehr schön, aber da ist immer der andere Wunsch, nach dem ich mich sehne.“43
Nicht beim Wunsch beließ es die 18-jährige Johanna B. aus der österreichischen Industriestadt Linz. Die Tatsache, dass sie eine Angestellte war, dürfte wohl nicht ohne Einfluss auf ihre Karriereträume und -chancen gewesen sein, selbst wenn der soziale Aufstieg in jener Zeit für einen zunehmenden Bevölkerungsanteil mindestens zum Gegenstand biographischer Projektionen werden konnte. Am 14. September 1957 schrieb Johanna B. folgende Zeilen in ihr Tagebuch: „Nun sitze ich schon eine ganze Woche auf der Post und finde mich am Briefschalter schon ganz gut zurecht. Nur mein ganzes Leben bleibe ich nicht da, höchstens 2-3 Jahre, dann gehe ich ins Ausland, auch wenn sie mich aufzufressen wünschen. Ich werde noch was ich will.“44 Sie wolle nicht immer bloß ein „Rädchen an der Maschine“ bleiben, das ersetzt werde, „wenn es abgenützt ist“ schrieb sie ein gutes Jahr später voller Leidenschaft und in deutlicher metaphorischer Abwendung von der in den Berufsschulaufsätzen durchaus positiv bewerteten Arbeit an Maschinen.45 Zwei Jahre später setzte sie ihr Vorhaben um. Um ihre Fremdsprachenkenntnisse aufzubessern, arbeitete sie als Au-pair in England und Frankreich. In einem Bewerbungsschreiben für eine Au-pair-Stelle in der Westschweiz betonte sie: „Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß ich Sprachstudentin bin und mit Leuten zusammenkommen möchte, die gutes Französisch sprechen, da ansonsten ein Aufenthalt für mich von keinerlei Nutzen ist.“46 Die zitierten Aussagen zeichnen das Bild einer jungen Frau, die mit allen Mitteln nach beruflichem Erfolg strebte – allerdings nicht ohne auf Widerstände unterschiedlichster Art zu treffen. So hatte sie nach der Matura nicht studieren können, und zwar nicht nur aus finanziellen Gründen. Wie sie im Jahr 2010 rückblickend erzählte, habe ihr der Vater, der selbst ab 1938 in der Wehrmacht Karriere gemacht hatte, die Studienerlaubnis ver-
43 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 151 (23.1.1956). 44 SFN, NL 152 II, Tagebuch Nr. 1, Eintrag vom 14.9.1957. 45 SFN, NL 152 II, Tagebuch Nr. 2, Eintrag vom 5.1.1959. 46 SFN, NL 152 II, Briefe, Formular „Anmeldeschein“, 2.3.1961, S. 2.
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weigert, die damals für nicht Volljährige noch erforderlich war.47 Ihre berufliche Karriere konnte sie also nicht ohne kleinere biographische Brüche und ein gewisses finanzielles Risiko in Angriff nehmen. So hatte sie etwa den Entschluss, auf eine gesicherte Beamtinnenlaufbahn bei der Post zu verzichten, gegen verschiedenerlei Widerstand durchsetzen müssen: „Du bist“, so ist in einem Brief eines Freundes zu lesen, „meiner Überlegung nach, etwas zu früh hier abgehauen. Vergiß nicht, daß Du nun bei der Post immerhin 1760.- S netto Anfangsgehalt beziehen würdest und das eigentlich gar nicht so schlecht ist. [...] Sag mir bitte, welcher Privatangestellte das mit einer derartigen Vorbildung bezieht?“48 Sie selbst war jedoch überzeugt davon, durch entsprechende Anstrengungen ihre beruflichen Ziele erreichen zu können. Schon in der Schule hatte sie begonnen, Fremdsprachen zu lernen. Und so schaffte sie es schließlich, in Paris zu studieren. Anschließend war sie für eine internationale Organisation und für eine multinationale EDV-Firma tätig.49 Von der Sorgfalt und Zuverlässigkeit bis zur karriereorientierten Weiterqualifikation: Es gab am Arbeitsplatz und während des Arbeitens verschiedene Identifikationsmöglichkeiten, die von den Arbeitenden je nach persönlicher Situation erwähnt wurden. Einige der im vorliegenden Abschnitt beschriebenen Formen der Selbstthematisierung, die Ansprüche der Arbeitenden, etwas Interessantes zu tun und beruflich weiter zu kommen, sind dabei von besonderem Interesse für eine Geschichte der Arbeit. Ihre Bedeutung nahm im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts zu, und zwar als Anforderung an die Arbeit genauso wie als Forderung der Arbeitsorganisation gegenüber den Arbeitenden. Die in den Sozialwissenschaften derzeit unter Schlagworten wie „Subjektivierung der Arbeit“ diskutierten Prozesse50 führten zu einer zunehmenden Ausbeutung persönlicher Ressourcen. Sie erfordern die Bereitschaft der Einzelnen, an den eigenen Fähigkeiten zu arbeiten. Damit kommt die Arbeitsorganisation letztlich auch den beschriebenen Ansprüchen an Tätigkeiten und Arbeitsplätze entgegen. Die Ausrichtung auf Variation, „Kreativität“ und Karrieremöglichkeiten lässt sich deshalb als Modus beschreiben, über den sich die Verhältnisse im Betrieb un-
47 SFN, NL 152 II, Gesprächsprotokoll, 26.5. und 23.6.2010, S. 1. 48 SFN, NL 152 II, Brief an Johanna B., 23.10.1960. 49 SFN, NL 152 II, Gesprächsprotokoll, 26.5. und 23.6.2010, S. 8. 50 Vgl. dazu Schönberger: Widerständigkeit, 2007.
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ter den Bedingungen (post-)fordistischer Industrie-, Dienstleistungs- und Konsumgesellschaften neu arrangierten und der die Entfremdungskritik, wie sie nicht zuletzt im Rahmen von Gegenkultur und Neuen Sozialen Bewegungen seit den sechziger Jahren artikuliert wurde,51 zumindest teilweise absorbierte. Dieser Prozess (unter anderen) dürfte dafür gesorgt haben, dass die Arbeit als Gegenstand der Konstruktion kohärenter Selbstverhältnisse nicht ausgedient hatte – trotz der schwindenden Möglichkeiten, sich im Sinne eines handwerklich-traditionellen Arbeitsethos im Produkt der eigenen Arbeit zu verwirklichen. Wenn Wirsching argumentiert, dass die Arbeit durch die mit dem Aufstieg des industriellen Kapitalismus verbundene Standardisierung selbst zu einem „mass-produced item on the market“52 geworden sei, so übersieht er diese Wandlungsfähigkeit: Die „dequalifizierenden“ Verhältnisse im fordistisch-tayloristischen Betrieb stellten nicht den Endpunkt der Geschichte industriegesellschaftlicher Formen der Arbeitsorganisation dar, abgesehen davon, dass sie zu keiner Zeit wirklich vorherrschend waren.53 Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch das im folgenden Abschnitt diskutierte Argument, dass die Arbeit als Identifikationsangebot durch das Aufkommen konsumistischer Subjektivationsformen herausgefordert wurde.
4. N ACH DER ARBEIT : F REIZEIT K ONSUM UND F AMILIE
ZWISCHEN
Tatsächlich waren die Freizeit und der darin stattfindende Konsum ein wesentlicher Bestandteil der Selbstdarstellung in den Tagebüchern und Briefen von Johanna B. und anderen jungen Angestellten aus jener Zeit. Des Öfteren machten sie einen Einkaufsbummel, manche gingen mehrmals pro Woche ins Kino oder ins Theater und die meisten unternahmen Urlaubsreisen in südliche Länder: „Ca 18 Juli Abfahrt über Paris [...] an die Riviera. Bleiben dort solange die Moneten reichen“54, schrieb Johanna B. am Ende
51 Vgl. nicht zuletzt Boltanski/Chiapello: Geist, 2003. 52 Wirsching: Reply, 2011, S. 34. 53 Vgl. dazu Hachtmann/von Saldern: Fließband, 2009, Abschnitt 5, die von einer „Polarisierung der Qualifikationen“ sprechen. 54 SFN, NL 152 II, Brief von Johanna B., 23.10.1960.
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ihres Englandaufenthalts an ihre Mutter. Auch viele der jungen ArbeiterInnen schilderten in ihren Berufsschulaufsätzen die Freude auf den Feierabend, den keineswegs alle zu Hause im Rahmen der Familie verbrachten: „Dann gehen wir noch zur Stadt da gibt es auch noch sehr viel zu sehn“,55 berichtete eine junge Frau, die in einer Aachener Nadel- und Nagelfabrik arbeitete. Immer wieder werden in den Quellentexten die Freizeit und die darin stattfindenden Konsumhandlungen gar explizit gegen die Arbeit abgegrenzt: „Im Büro war ich auch heute, aber ich muß schon sagen, lieber bin ich in der Wildschönau über die Pisten gefahren, als in dem lausigen Loch da die Zeit totschlagen“,56 schrieb Herbert K., ein kaufmännischer Angestellter aus Linz, im Frühjahr 1950 an seine Freundin. Auch viele Aachener HandelsschülerInnen, die sich dem Aufsatzthema „nach der Arbeit“ widmeten, betonten den Unterschied von Arbeits- und Freizeit. In mehr als zwei Dritteln der Texte wird auf den anstrengenden Arbeitstag hingewiesen, nach welchem „die Gesichter vieler Menschen [...] abgekämpft und abgespannt“ sind und alle sich „nach Ruhe und Ausspannung“ sehnen.57 Viele beschrieben, wie sehr sie sich auf die freie Zeit freuten und schilderten eine Vielzahl von Aktivitäten, mit denen sie diese auszufüllen pflegten. Oft gehörten Konsumhandlungen dazu: der Besuch eines Kinos und andere Gelegenheiten, im „Trubel der Großstadt“ das hart verdiente Geld auszugeben.58 Angestellten wie Herbert K., aber auch ArbeiterInnen ohne familiäre Verpflichtungen, eröffnete die Konsumgesellschaft also in der Tat neue Möglichkeiten der Selbstthematisierung. Man konnte sich nicht nur als arbeitende, sondern zunehmend auch als konsumierende Person wahrnehmen und inszenieren. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass es sich dabei mehr um eine Ergänzung bestehender Angebote, als um eine (zunehmende) Ersetzung dieser handelte. Zumindest in den fünfziger Jahren dürften die Freizeit und der Konsum das Arbeiten und die Familie kaum als Gegenstände der Selbstthematisierung ersetzt haben. So ist es mehr als fraglich, ob die Lohnarbeit für die VerfasserInnen der hier untersuchten Egodokumente tat-
55 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 158 (23.1.1956). Zur Häuslichkeit vgl. Schildt: Moderne Zeiten, 1995, S. 110-121. 56 SFN, NL 108, Brief von Herbert K. an seine Freundin, 1.3.1950. 57 Roeßler-Archiv, HS Aachen O, Nr. 134 (14.1.1956). 58 Roeßler-Archiv, HS Aachen O, Nr. 125 (14.1.1956).
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sächlich schlicht den Konsum in der Freizeit, also die Teilhabe an der Konsumgesellschaft, wie Wirsching argumentiert, ermöglichen sollte. Im Fall von Johanna B. beispielsweise finanzierte die nicht immer befriedigende Arbeit als Au-pair gleichermaßen die Urlaubsreisen in den Süden wie sie der Schulung der Sprachkenntnisse diente. Wichtig waren also die (konsumorientierte) Freizeit und die (karriereorientierte) Arbeit. Herbert K. hatte in seinem langjährigen Betrieb, dem „lausigen Loch“, zwar kaum Identifikationsmöglichkeiten und keine Karriereperspektive. Sobald er sich aber anschickte, seinen alten Traum umzusetzen und sich selbständig zu machen, spielte die Arbeit wieder eine zentrale Rolle. Er scheint sich also gerade dann hauptsächlich auf die Freizeit konzentriert zu haben, als es schwierig war, sich in positiver Art und Weise als Arbeitenden zu thematisieren. Dasselbe gilt auch für die BerufsschülerInnen: „Abends bin ich froh wenn ich nachhause gehen kann, dann erwartet mich mein Freund vor dem Geschäft, mit dem ich dann ins Kino gehe oder noch durch die Stadt bummle“,59 schrieb eine Berufsschülerin, die weder zur Mitarbeiterin noch zur Vorgesetzten eine gute Beziehung hatte. Auf den ersten Blick und ohne die Aufsätze über den Arbeitsplatz zu kennen, könnte man zwar aus den Texten zum Feierabend schließen, dass die Arbeit von den meisten BerufsschülerInnen als Mühsal und Zwang betrachtet wurde und dass sie nur danach trachteten, die Arbeitszeit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass die Arbeit von vielen als zwar beschwerlicher, nichtsdestoweniger aber notwendiger Teil des Tages beschrieben wurde, auf den sie mit Zufriedenheit zurückblicken konnten: „Daß jemand froh ist, wenn Feierabend ist, begründet nicht, dass er keine Freude an seiner Arbeit hat.“60 Verschiedentlich findet sich auch der Hinweis, dass die Freizeit und der Konsum ohne Arbeit ihren Reiz verlieren würden und sich dann viele „völlig überflüssig auf der Welt“ vorkämen.61 Zudem dürfte die Aufgabenstellung einer Darstellung Vorschub geleistet haben, die Arbeit und Freizeit scharf voneinander trennt. Und schließlich ist anzumerken, dass die Unterscheidung von Arbeitszeit und freier Zeit/Freizeit bereits für die Begrifflichkeiten der Arbeitsgesellschaft konstitutiv war. Sie stellt keinen Aspekt
59 Roeßler-Archiv, MB Aachen U, Nr. 196 (18.1.1956). 60 Roeßler-Archiv, HS Aachen O, Nr. 124 (14.1.1956). 61 Roeßler-Archiv, HS Aachen O, Nr. 111 (14.1.1956).
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dar, der für die Konsumgesellschaft spezifisch ist. Der Konsum konkurrierte folglich eher mit anderen Freizeitbeschäftigungen, den Kultur- und Sportangeboten der ArbeiterInnenbewegung beispielsweise, als mit der Arbeit.62 Ein ähnlich komplexes Verhältnis wie dasjenige zwischen Freizeit/ Konsum und Lohnarbeit/Arbeitsplatz bestand auch zwischen diesen Lebensbereichen und den intimen und familiären Beziehungen. Liebesbeziehungen dienten beispielsweise dazu, eine kleine Auszeit vom Arbeitsalltag zu ermöglichen, wenn etwa während der Arbeitszeit Briefe an die Geliebte geschrieben wurden: „Jetzt mache ich Schluß sonst überlauern mich die diversen Firmenspione noch, daß ich während der Dienstzeit Briefe schreibe“,63 schrieb Herbert K. an seine Freundin. Die in solchen Äußerungen sichtbar werdenden Grenzziehungen zwischen dem Familien- und Arbeitsalltag einerseits und der mit Konsumhandlungen angefüllten und durch „romantische“ Liebesbeziehungen aufgeladenen Freizeit andererseits beschreibt Eva Illouz in ihrer Studie über den Konsum der Romantik anschaulich. Sie argumentiert, dass solche Liebes- und Freundschaftsbeziehungen64 und der damit einhergehende Konsum insofern eine stabilisierende Wirkung für soziale Institutionen wie Arbeit und Familie entfalten, als das am Arbeitsplatz gelangweilte oder in der Familie überforderte Selbst hier Umsorgung findet.65 Auch in den Berufsschulaufsätzen zum Thema „nach der Arbeit“ finden sich Hinweise auf vom Alltag abgegrenzte, durch Freundschaften „romantisierte“ Konsumhandlungen: „Nach dem Abendessen klingelt es, und meine Freundin holt mich zu einem Spaziergang ab. Unterwegs berichten wir uns dann von der Arbeit, aber auch von anderen Problemen und Wünschen. Dieser Spaziergang endet meistens damit, daß wir uns einen Film anse-
62 Zum Freizeitverhalten und den Zeitbudgets vgl. für die Weimarer Republik Peukert: Jugend, 1987, Kapitel 5, für die fünfziger Jahre Schildt, Moderne Zeiten, 1995, Kapitel II.4. 63 SFN, NL 108, Brief von Herbert K. an seine Freundin, 27.9.1949. 64 Es ergibt Sinn, Illouz’ Argumentation auch auf Konzepte „intimer“ Freundschaften zu beziehen (vgl. dazu auch die Überlegungen in Bänziger: Sex, S. 137-243). 65 Illouz: Romantik, 2003.
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hen.“66 Ähnliche Funktionen lassen sich allerdings auch für die Familie ausmachen, wobei der Konsum hier kaum eine Rolle spielt: „Viele Menschen finden ein gemütliches Heim vor, wo sie mit ihrer Familie sich von der Arbeit ausruhen“, heißt es in einem der Aufsätze. „Andere Menschen, die kein gemütliches Heim vorfinden, sondern sich auf den Straßen herumtreiben oder ins Kino gehen, wissen ein gutes zu Hause zu schätzen.“67 Die Etablierung konsumgesellschaftlicher Freizeitpraktiken erweist sich somit als Prozess, der nicht nur in engem Bezug zur Romantisierung von Intimbeziehungen stand, sondern auch parallel zur Emotionalisierung der (Klein-) Familie erfolgte.68 Auf beiden Ebenen bildeten sich Identifikationsangebote heraus – oder verstärkten sich –, die mit der entsprechenden Funktion der Arbeit konkurrierten, sie jedoch nicht ersetzten. Ganz anders beschrieb Elisabeth B., die Mutter von Johanna, ihren Alltag als verlobte und später verheiratete, aber noch kinderlose Frau in den späten dreißiger Jahren. In dieser Zeit schrieb sie zeitweise fast täglich an ihren Ehemann, der als Militärmusiker tätig und in dieser Funktion oft für längere Zeit abwesend war. Sie selbst, 1914 im Hause einer verarmten Großbauerntochter und eines Herrenschneiders und Bauers in Wien geboren, arbeitete zu jener Zeit als Schneiderin und Näherin in der oberösterreichischen Kleinstadt Wels. Die Lohnarbeit in der Fabrik und weitere Arbeiten mit Textilien zu Hause sind in ihren Ausführungen zwar durchaus positiv konnotiert. Wenn sie sich etwa für ihren Fleiß rühmt, sind deutliche Parallelen zu den analysierten Berufsschulaufsätzen zu erkennen: „Mittwoch habe ich von 7h früh bis 6h abends fleißig genäht. Tüchtig, was?“ Zugleich wird aber deutlich, dass diese Tätigkeiten nur von begrenzter Bedeutung für ihr Selbstverhältnis waren. Sie dienten hauptsächlich als Ersatz, als Flucht vor unangenehmen Gedanken und Schutz vor Einsamkeit: „Zuerst so viele Leute – u. nun gar niemand! Da hilft nur Arbeit. Man vergisst vieles dabei.“69 Auch wenn die kommunikative Form des Liebesbriefs zweifellos die Bedeutung der (Liebes-)Beziehung als Kohärenz stiftenden Bezugsrahmen stark betont, dürfte nicht nur der mediale Kontext für diese spezifische Bewertung der Arbeit verantwortlich gewesen sein. Auch im folgenden Zitat
66 Roeßler-Archiv, HS Aachen O, Nr. 137 (14.1.1956). 67 Roeßler-Archiv, HS Aachen O, Nr. 102 (14.1.1956). 68 Vgl. dazu Illouz: Romantik, 2003. Bänziger: Liebe tun, 2009. 69 SFN, NL 152 I, Brief von Elisabeth B. an ihren späteren Ehemann, 2.7.1936.
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einer älteren Frau aus der Verwandtschaft von Herbert K.’s späterer Frau, das in den fünfziger Jahren verfasst wurde, ist die Arbeit zwar positiv konnotiert, in einem emphatischen Sinne scheint sie dennoch nicht verstanden worden zu sein: „Wenn die Feiertage um sind, ist man froh, dass man zum normalen Leben und seiner Arbeit zurück kehrt, denn auf die Dauer könnte man soviel Gutes nicht aushalten.“70 Während für diese Frauen weder der Konsum noch die Arbeit ein zentrales Identifikationsangebot darstellten, gibt es bereits aus den zwanziger Jahren Quellen, in denen dem Arbeitsplatz wie dem Konsum in der Freizeit eine große Bedeutung zugeschrieben wird. So im Fall der Arbeiterin und Hausangestellten Branka G., die sich in ihrem Tagebuch immer wieder zu den Umständen äußerte, die sie an den zahlreichen Stätten ihres Arbeitslebens antraf. Unter anderem war sie, ursprünglich aus Niederösterreich kommend, während eines halben Jahres in einer Textilfabrik im Schwarzwald tätig. Aufgrund der Arbeitsbedingungen im Betrieb kündigte sie schließlich und trat eine Stelle in einem Antwerpener Haushalt an. Rückblickend schrieb sie über die Zeit in Süddeutschland: „Nun geht es fort [...]. Sonntag den 12. Juni war ich zum letztenmale im Österreicherverein. Trotzdem die Verhältnisse in Deutschland ziemlich schlecht waren habe ich doch eine sehr schöne Zeit dort verbracht u. die allzeit lustigen Mädels sorgten dafür daß es einem nicht langweilig wurde.“71 Wie Jessica Richter betont, war das „Streben nach guten Arbeitsbedingungen“ eine der wesentlichen Motivationen von Hausgehilfinnen, ihre Arbeit zu wechseln. Darüber hinaus stellte der Lohn einen wichtigen Faktor dar.72 Auch dies wird im Tagebuch von Branka G. deutlich. Zudem ließ sie, wie andere working girls der zwanziger Jahre,73 kaum eine Gelegenheit zu einer Autotour oder zu anderen Vergnügungen aus: „Wir als moderne Menschen hatten neben der üblichen Touristenausrüstung immer ein paar Tanzschuhe mit was uns an diesem Tage sehr zu statten kam. In [...] war nämlich zufällig ein Fest u. zu unserer größten Freude konnte wir das ‚Tanzbein‘ schwingen.“74 Die Art und Weise wie bestimmte Bereiche des Lebens
70 SFN, NL 108, Brief von Tante A. an die Freundin von Herbert K., 7.1.1953. 71 SFN, NL 47, Tagebucheintrag „Nachruf“, Juni 1926. 72 Richter: Zwischen Treue, 2009, S. 15. 73 Vgl. dazu Biebl/Mund/Volkening: Working Girls, 2007. 74 SFN, NL 47, Tagebucheintrag zum 15.2.1925, 11.3.1925.
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bewertet wurden, hing also nicht nur von der Generation ab, sondern vor allem auch von den spezifischen Lebensumständen und den Möglichkeiten, welche diese boten.
5. AUF
DEM
W EG ZU
EINER NEUEN
P ERSPEKTIVE ?
Wie ich gezeigt habe, bilden die verschiedenen Aspekte der Arbeit, die Freizeit und der Konsum, sowie die Familie und die Liebesbeziehungen je nach aktueller Situation und biographischer Disposition ein je persönliches Arrangement der Selbstbeschreibung. In Ergänzung zu Andreas Reckwitz, der in seiner Übersicht über die „Subjektkulturen“ der Moderne „Arbeit“, „Intimität“ und „Technologien des Selbst“ als die „drei primären Subjektivationsorte“ bezeichnet,75 weisen die VertreterInnen des Konzepts der Konsumgesellschaft somit zu Recht darauf hin, dass spätestens in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auch der Konsum eine entsprechende Funktion übernimmt. Reckwitz’ Darstellung räumt denn auch im vierten Kapitel dem „konsumtorischen Kreativsubjekt“ jener Zeit einen wichtigen Stellenwert ein. Unklar bleibt hingegen die Bestimmung des „Doppelstatus“ der Technologien des Selbst, die laut Reckwitz zum einen „Praktikenkomplexe neben den anderen sozialen Feldern“ darstellen, während in ihnen zum anderen „allgemeine Dispositionen“ produziert werden, „die in den anderen Feldern […] zum Einsatz kommen und so zur Homologie der Subjektformen jenseits der Felddifferenzen beitragen.“76 Wie ich hingegen zeige, lassen sich auch Arbeit, Konsum und Intimbeziehungen unter Blickwinkel der Technologien des Selbst beschreiben, was die Differenzierung von Reckwitz wenig plausibel erscheinen lässt. Zugleich ruft eine solche Perspektive nach weiteren Untersuchungen. So müsste insbesondere die These geprüft werden, dass die Arbeit im zwanzigsten Jahrhundert überhaupt erst für breite Bevölkerungsschichten zum Gegenstand der Subjektkonstitution wurde.77 Vor dem Hintergrund des hier analysierten Quellenmaterials scheint ein Vorgehen zumindest nicht
75 Reckwitz: Subjekt, 2006, S. 55. 76 Ebd., S. 58. 77 Vgl. dazu die Überlegungen bei Voß/Pongratz: Arbeitskraftunternehmer, 2002, insbes. S. 148.
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unplausibel zu sein, das weniger den Verlust des Identifikationspotentials handwerklich-traditioneller Arbeitsvorstellungen zu beschreiben als gerade die zunehmende Verallgemeinerung der Attraktivität anderer Aspekte des Arbeitens zu erklären versucht. Die Gegenüberstellung einer arbeits- und einer konsumorientierten Epoche könnte sich dann als Resultat problematischer Vorannahmen erweisen, das vielleicht mehr über das bürgerliche Arbeitsethos mancher ZeitgenossInnen beziehungsweise heutiger Forschender aussagt, als über die Wahrnehmung durch die Betroffenen von damals. Es war deren Ausrichtung am handwerklichen Schaffen, die womöglich tatsächlich an Bedeutung einbüßte. Von den anderen hier beschriebenen Qualitäten lässt sich dies hingegen keineswegs behaupten. Genauer untersucht werden müsste in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage, inwiefern sich der oben diskutierte Eindruck verallgemeinern lässt, dass im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts sogar die Karriere zumindest auch unter dem Gesichtspunkt der Verringerung ökonomischer Unsicherheit betrachtet wurde. Damit könnte auch dem oftmals zu findenden impliziten „Klassismus“ der Arbeitsgeschichte begegnet werden. Darüber hinaus ließe sich eine solche Darstellung in jene Geschichte der Praktiken der Menschenführung in der Neuzeit integrieren, die für die Einleitung zu diesem Band zentral ist. Sie geht davon aus, dass es im Lauf der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte zu einer tendenziellen Abnahme von Repression und Zwang kam, während Modi indirekter Führung – zunächst Disziplinierung, später dann zunehmend auch Vermittlung von Formen der auf Einsicht beruhenden oder an „eigenen“ Interessen ausgerichteten Selbstführung – wichtiger wurden. Aus einer solchen Perspektive wurde die Frage nach den Identifikationspotentialen der Arbeit (unter anderem) genau dann zum Gegenstand der Thematisierung, als die Verhältnisse in und außerhalb der Produktion eine Komplexität angenommen hatten, die ein rein repressives Vorgehen zunehmend hilflos erscheinen ließ. Der vorliegende Text zeigt, dass sich ein vergleichbarer Blickwinkel auch für die zweite der hier behandelten „traditionellen“ Formen von Vergesellschaftung anbietet: die Geschichte der Familie. Durch deren Reduktion auf die („mittelständische“) Kleinfamilie und die damit verbundene Emotionalisierung durchlief sie einen Prozess, im Verlaufe dessen ihre repressiven Funktionen zugunsten „weicherer“ Formen der Führung in den Hintergrund traten. Die Geschichten des „romantischen“ Liebesideals und der „bürgerli-
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chen“ Kindheit lassen sich als wesentlichen Elemente dieses Wandels beschreiben. Nur eine marginale oder gar keine Rolle spielen in den hier analysierten Quellen weitere zentrale Identifikationsangebote der Industrialisierungszeit wie Kirchen, Parteien und die ArbeiterInnenbewegung. Dass „der gesellschaftliche Bedeutungsgehalt der Klassenzugehörigkeit“ im Lauf des Untersuchungszeitraums zunehmend „verblasste“,78 für die fünfziger Jahre eine „überwiegende Distanz“ der Bevölkerung gegenüber Parteien und anderen politischen Institutionen auszumachen ist und die Säkularisierungsthese selbst in den Kirchen diskutiert wurde,79 dürfte unbestritten sein. Neuere Arbeiten zur „Gegenkultur“ und zu den „Neuen Sozialen Bewegungen“ seit den sechziger Jahren haben jedoch gezeigt, dass die Konzentration auf Zahlen zu Partei- und Kirchenmitgliedschaften grundlegendere Wandlungsprozesse übersieht, die nach einem differenzierteren Bild rufen.80 Die im vorliegenden Text eingenommene Perspektive schließt insofern an diese Forschungen an, als sie eine Geschichte der Konstitution von Selbstverhältnissen über Arbeit, Konsum und intime/familiäre Beziehungen skizziert, die weniger auf die Darstellung von (linearen) Abfolgen abzielt, denn nach Transformationen und Neuarrangements von Thematisierungen und Praktiken fragt.
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78 Mooser: Arbeiterleben, 1984, S. 225. 79 Schildt: Moderne Zeiten, 1995, S. 315 u. 147. 80 Zur Vorsicht im Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen mahnte bereits Schildt: Moderne Zeiten, 1995, S. 147. Vgl. vor allem auch die aktuelle Studie von Eitler: Gott, 2009.
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Risikoregulierung und Gesundheit
Workers Against Lead Paint How Local Practices Go Against the Prevailing Union Strategy. France at the Beginning of the 20th Century * J UDITH R AINHORN Stand up, present and future saturnism sufferers! […] No more speeches and kowtowing. You have produced enough words, articles and brochures to avenge our dead and wounded. Now, it is action that is needed if you want to save yourselves! […] Forward! Attack the Senate, where secrecy, inaction and suborn reign. A new era of combat must begin. L’OUVRIER PEINTRE, N. 26, OCTOBER 1905, P. 2.
From the middle of 19th century to the First World War, the issue of prohibiting the use of white lead in paint provoked many commentaries in France. In many respects, the ghostly figure of the person suffering from lead poisoning, with an ashen complexion, deformed limbs and muscles atrophied by lead, became the symbol of occupational diseases that affected a widening band of the workers’s sphere. If, since the 1830s, the white lead workers, who were busy extracting “white poison” from oxidized lead * This paper is a slightly modified version of an article published in the French journal Politix, 91 (2010) 3, pp. 9-26. The author thanks the editorial staff of Politix for having accepted the translation of this work (translated by Lisa Ellen Spencer).
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plates, moved many observers and gradually benefited from huge improvements in their working conditions, it was the plasterers and painters, the workers who used white lead, who played the role of lead poisoning victims in the beginning of the 20th century. In April 1898, in line with the intense debates that led to the promulgation of the law pertaining to the employers’ liability for work accidents in France, the beginning of the new century was the scene of an extremely well-backed battle about occupational lead poisoning in the medical, hygienist, and political spheres. In fact, the context, as well as the prohibitionist measures that were gradually adopted at the local level by the municipalities and by some ministries, forced the industrialists to speak and write to defend their know-how and their products. During this intense period of labor mobilization, which was also the peak of the revolutionary syndicalism movement and the strike as a form of action, thinking about the reality and the perception of occupational health stakes definitely cannot skip over the union question. The “relative indifference” to the issues of occupational health and safety that the historian Madeleine Rébérioux saw in French labor union’s attitude1 is at least partially the reflection of the rather general disdain that most of the workers harbored for these issues. The union organizations – professional associations and labor union locals and, naturally, the Confédération générale du travail (CGT) born in 1895 – were mostly uninterested in these issues, while the issues of salaries and the length of the workday were at the forefront of the mobilization against capitalism. This observation does not need to lead to aporia. Rather than regret the lack of worker voluntarism for the issues of occupational health and healthy working conditions, it seems more fruitful “to invert the proposition of union indifference for these issues and to use the history of occupational diseases to rethink the methods and the diversity of worker actions”, as the current research orientations invite us to do. 2 Thus, it is worthwhile to continue to think about the conditions of the abrupt though belated appearance of the worker demands for the abolition of lead paint at the beginning of the 20th century and the role that these demands play as a force for mobilizing
1
Rébérioux: Mouvement syndical, 1989, p. 15. For a general history of the CGT
2
Rosental/Omnès: Maladies professionnelles, 2009, p. 7.
union, see Dreyfus: CGT, 1999.
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workers.3 Beyond this change in union strategy, which it is prudent to question, the issues of the stakes and stakeholders clearly emerge. In fact, based on the emblematic case of the combat against lead paint in the first decade of the 20th century, the objective of this paper is to reassess the social and political stakes of the multi-form mobilization, by studying how the conflict was set up and trying to evaluate the role of labor unions in the battle against white lead and its legal outcome: the law of 20 July 1909, which bans its use in construction projects, both interior and exterior.4 Several years earlier, in 1898, the protest of female workers in the match industry, combined with the existence of a technical solution for replacing a toxic product and a specific economic structure for the matchmaking sector (i.e., the match industry was nationalized in 1872), ended with the French government banning the use of white phosphorus, which was responsible for the necrosis of the jaw, commonly called “phossy jaw”, that deformed many female workers. Some authors have pertinently analyzed this first labor victory, founded on a ideology of protecting mothers, children and declining birthrates.5 The combat against lead paint at the turn of the century took the forms used in the combat against the match industry (e.g., strikes, appeals to public opinion). However, it appeared as a less spontaneous, more complex movement, within the conflictual process of union construction. In particular, the white lead issue allows us to observe the slow, gradual development of worker and union doctrine on occupational health and safety and occupational diseases. It also helps to revalorize the role of multi-form networks and the complex social configuration that are a part of the reform circles6 and to highlight the weight of the people involved and the local collabora-
3
This reflection was begun during the international conference entitled “Histoire(s) de la santé au travail”, organized by the French Labor & Health History Group (GHTS: Groupe d’Histoire Travail & Santé) Le Creusot – Université de Bourgogne, 25-26 September 2008. See Rainhorn: Saturnisme, peintres, 2011.
4
… without prohibiting its manufacture in France.
5
See Zylberberg-Hocquart: Ouvrières d’État, 1978, and the outstanding article by Bonnie Gordon, which analyzed the forms of this mobilization: Gordon: Ouvrières, allumettiers, 1993.
6
See Topalov: Nébuleuse réformatrice, 1999.
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tive experiments to the detriment of the federal union institution’s weight in this worker combat. Our hypothesis is that, more than a labor conflict using the traditional actions of revolutionary syndicalism (e.g., propaganda, mobilization, strikes), the banning of lead paint is the fruit of a reformist social inter-class combat that goes against the prevailing contemporary strategy. The paths are thus original, and the levels of mobilization are interwoven. At the time of the painful birth of industry unionism, the combat against the painters’ lead poisoning passed through the strong voice of certain people operating on the national level and the local experiments in social cooperation. Neither one feared going against the dominant union dogma: anarchosyndicalism, which relegated the issues of occupational health and safety and healthy working conditions to the backburner of revolutionary action. This paper is based on an analysis of union sources (e.g., professional journals, meeting minutes, calls for mobilization), police sources about the surveillance of the 1905-1906 strikes, and the abundant expert literature on the issue of lead poisoning. Through the personality of Abel Craissac and his fight against white lead at the national scale and the 1906 joint epidemiological study7 conducted by the painters union and Dr. Désiré Verhaeghe in Lille, this paper intends to highlight two aspects of marginal and dissident union practices in favor of occupational health and safety at the beginning of the 20th century. The consideration of the different mobilization levels, the experimentation and the decision-making allows us to greatly enrich our perspective. In this respect, the north of France is a privileged observation point for a historian, first in terms of the socio-economic context and second in terms of the political context: •
socio-economic context – since the middle of the 19th century, the rapid industrialization competed with rapid urbanization in this region. These two processes (i.e., industrialization & urbanization) were both linked to the intense migrations of workers from the surrounding countryside and, increasingly, neighboring Belgium. The north of France was also the French center of white lead industry, with 80 % of the na-
7
Enquête sur la situation sanitaire des peintres en bâtiments de Lille, Lille, Impr. Le Bigot, undated [August 1906].
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•
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tional production at this time. Thus, the stakes of worker lead poisoning were older and stronger in this region than elsewhere. political context – this region is an area of major confrontation between the “old” Guesdism (the name is drawn from the socialist leader, Jules Guesde), the traditional defender of the idea of class war, on the one hand, and the “new” anarcho-syndicalism, which is on a roll nationally, dominating the direction of the young CGT, on the other hand. The animosity that they feel towards each other, increased by the immediate context of the recent creation of the French Socialist Party (i.e., French Section of the Workers’ International [SFIO: Section française de l’Internationale ouvrière]), is probably one factor in the explanation of the strength of the painters’ strikes in 1905-1906 and the intense union mobilization in this profession around healthy working conditions, during a crucial period for the control of newly created unions.
Thus, considering the occupational health and safety stakes at the national and local level makes it possible to nuance the visibility of the national discourse on this subject and to record the problems raised within a restrictive geographical and economic context, which is characterized by an old increasing sensitivity to the lead poisoning of workers.
1. W HITE
LEAD , THE PAINTER ’ S DEADLY COMPANION
Identified as responsible for painters’ lead poisoning by many people in the artisanal and industrial worlds for at least two centuries,8 white lead (i.e., lead hydroxycarbonate) nonetheless saw its use reinforced considerably during the 19th century in Europe. In fact, while urbanization accelerated and the jurisdiction of the State grew, which entailed the construction of many buildings, white lead gave paint a striking whiteness, a strong covering power and a significant weather resistance, whether it be inside or outside. First imported from Holland, England and Germany, white lead was
8
For example: Ramazzini: Morbis artificum, 1700 (translated into French in 1777 by A. Fourcroy); Combaluzier: Colique, peintres, 1761; Chevallier: Rapport, céruse, 1837; Tanquerel des Planches: Traité, plomb, 1839.
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produced in France at the beginning of the 19th century. Apart from a few factories in Clichy, Marseille and Tours, the area around Lille concentrated most of the national production in the ten factories that employed between 300 and 500 workers. The working conditions were terribly insalubrious, due to the lead dust that invaded the workshops at all stages of the production process. Still, these conditions improved throughout the century, through the individual efforts of the entrepreneurs and the force of law.9 Thus, at the turn of 20th century, the attention moved from the producers of white lead to the users of this product, the plasterers and painters, the daily users of this “white poison”. Because of the numbers of workers in this profession – in France, there were more or less 200 000 plasterers and painters by 1905 –10 these workers were the primary victims of white lead. While the risk of developing visible signs of lead poisoning was sharply reduced in the plasterers and painters compared to the workers who manufactured white lead, these plasterers and painters took a increasingly large place in the victims of lead poisoning, appearing almost always at the head of the list and accounting for approximately half of the patients.11 Consequently, the public debate that began at the start of the 20th century was related to the use of a dangerous product, thus concerning the painters’ profession. However, at the national level, only the regulation,
9
Statutory obligations published in the prefectoral commodo et incommodo inquiries (i.e., a required administrative inquiry into the advantages and disadvantages of an industrial establishment for the public), in application of the 1810 decree on dangerous, troublesome and unhealthy establishments. For the white lead industry and the problems raised by the massive employee lead poisoning, see: Lestel: Céruse, 2002; Jorland: Hygiénisme, 2003; Barrière: Céruse, 2007.
10 L’Ouvrier peintre, the newspaper of the National Painters Federation, 1 March 1905. 11 See Orliac/Calmettes: Lutte, saturnisme, 1912, p. 225; Roch: Saturnisme, Genève, 1910, p. 2. There were more white lead workers than painters in the Lille hospitals due to the importance of the white lead industry in and around Lille. This was an exception in France: in Lille, the painters “only” made up around 8 % of the lead poisoning cases between 1886 and 1910, according to the Archives départementales du Nord (ADN), 96 J/M 12384, Saint-Sauveur, Saturnisme, Fiches de malades, 1900-1905; ADN, 96 J/M 12412, Hôpital de la Charité, Saturnins, 1901-1904.
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even the prohibition, of the use of white lead is really called into question until the First World War; the manufacturing of lead paint is never called into question. Despite the existence of effective replacement products – such as zinc oxide, which was harmless for health and had been known since the middle of the 19th century for its excellent covering properties when used in paint –12 and despite the start of restrictive national regulations and laws,13 it was hardly a question of putting an end to the prosperous white lead industry, which also benefited from powerful institutional and parliamentary backup, especially Charles Expert-Bezançon, senator from Paris, mayor of the 13th Parisian arrondissement, and one of the biggest manufacturers of white lead in Paris and in the suburbs of Lille. The result of almost a decade of parliamentary and ministerial detours, the law of 20 July 1909 totally banned the use of white lead in painting projects, without forbidding its production. The law’s entry in force, planned for 1915, left time for a possible reconversion by the industrials affected by this measure.14 Consequently, until the First World War, despite the very numerous denunciations that white lead was subject to, the use of lead paint on construction sites remained legal and very widespread, even though several large cities15 and a certain number of administrations had al-
12 In 1781, the chemist Courtois de Dijon, and later in 1783, Guyton de Morvaux, first had the idea to substitute harmless zinc oxide for the white lead for paint on construction sites. However, the high price of zinc oxide made its use difficult to generalize, until the brilliant experiments of the entrepreneur-painter, Jean Leclaire, in the 1840s allowed industry to massively manufacture zinc oxide at an affordable price. 13 The decrees of 18 July 1902 and 15 July 1904, prefectoral and local laws in many French cities. 14 The initial bill, proposed in 1903 before the lower chamber of National Assembly by the Minister of Trade, M. Trouillot, accorded a delay of 3 years to the white lead industry for its reconversion. The law finally passed by the two chambers of the National Assembly in 1909 was a set back because it offered a reprieve of about 6 years to white lead. 15 Among them, Paris, Lyon and Bordeaux.
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ready excluded lead paint on construction sites for them, through an administrative memo or order.16 The striking consequence of the widespread use of lead paint, lead poisoning took the painters by storm, like all the people whose professional activity led to encountering “white poison”. At all the stages of this activity – mixing the substances on the construction site, plastering, daubing, filling, dry sanding, painting – painters were confronted with white lead, in the form of dust or droplets that entered into their respiratory and digestive tracts and was deposited on their hands, hair, moustaches and clothes, which played the role of preserving white lead for their future lead poisoning. The size of the lead poisoning epidemic remains extremely difficult to evaluate, for both the stakeholders present at that time and the historians practicing one century later. First of all, it is difficult because no French administrative category existed that allowed the consideration of lead intoxication before the 1919 creation of the first occupational diseases table and because no reliable statistical series was available pertaining to lead poisoning itself. This was true for reasons of administrative organization: it is necessary to be contented with fragments of information based most often on short periods of time and restricted geographical areas, coming from hospitals, the Ministry of Trade and Industry, and labor movement observers. It was also true for reasons of disease etiology: lead poisoning is hidden by many fatal diseases, which were most often cited as the immediate cause of death (e.g., anemia, uremia, nephritis, infectious pneumonia, stroke). This factor lead to under-recording the importance of lead poisoning itself as a cause of death for the studied populations. Finally, it was true for reasons of statistical construction and political customs: without any efforts for systematic epidemiological studies, so much of the data were established without concern for exhaustivity and transparency and often appear contradictory. In the words of the experts, this still sporadic data were brandished as scientific proof of the veracity of expressed facts, whether it was to de-
16 The Ministry of Public Works on 19 December 1900; The Post and Telegraph Sub-Secretariat on 20 February 1901; the Ministry of Trade on 25 March 1901; the Presidency of the Council of Ministers on 11 July 1901; the Ministry of War on 21 October 1901; the Ministry of Public Education on 20 November 1901; and the Ministry of the Marine on 21 August 1902.
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nounce the seriousness of the lead poisoning epidemic or, on the contrary, disparage its seriousness and qualify the epidemic as “amphitheater discourse”, which meant the discourse of ivory-towered intellectuals.17 The statistical disruption also can be explained by the longevity of hygienist ideology. If such social reformer as Leclerc de Pulligny, who was one of the chief engineers at the Ponts et chaussées and permanent representative to Labor Office, had “a tendency to believe that [the] number [of lead poisoning victims] is quite large, it is only an impression”. He added: “Moreover, it is very difficult to distinguish in what we could call the industrial cachexy, what part is due to lead poisoning, to alcoholism, to the stuffy air in the workshops and lodging houses, to venereal excesses, to bad alimentary customs (e.g., hasty, unhealthy meals) and finally the constant anxiety that results from both the tomorrow’s insecurity and the intellectual excitement produced by social and political concerns”.18
Thus, the dozens of medical reports on lead poisoning that flourished at the beginning of the 20th century only permit a vague estimation of the size of the epidemic. Chronic lead poisoning quite probably reached almost all the workers involved with lead paint (e.g., painters, sanders, plasterers, decorators), while some of them, in numbers that were far from being negligible, suffered from acute lead poisoning that led to serious disorders of the central nervous system, sometimes with irreversible consequences, up to and including death.19 In comparison, the English or German regional statistics, just as vague, also witnessed the significance of lead poisoning in industrial painters.20 Faced with the toxicological evidence and the statistical opacity (which would itself deserve a study on the construction and use of statistics about health issues), it is necessary to be contented with estimations and move
17 Fleury: Zinc, céruse, 1905, p. III. 18 Leclerc de Pulligny: Plomb, 1903, p. 200. 19 Rainhorn: Saturnisme, peintres, 2011. 20 Statistics for England (1900-1909), for Prussia and Leipzig area (1904-1908) are given in L’interdiction de l’emploi de la céruse dans la peinture devant la Troisième Conférence internationale du Travail, Genève (octobre-novembre 1921), Nantes, 1924, p. 1.
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from the epidemiological grounds towards the political and social grounds, in order to try to understand the stakeholders’ game plans that were set up at the beginning of the 20th century. In fact, this period seems to be crucial in the process of developing the discourse and actions for occupational diseases.
2. A COMPLEX
GAME PLAN FOR THE UNIONS
A worrisome subject that was essentially restricted to the medical and hygienist spheres since the middle of the 19th century,21 the issue of poisoning from lead paint took on a national dimension in France thanks to the vigorous campaign in the French press as of 1901, especially to Georges Clémenceau’s editorials in L’Aurore. In 1903, the parliamentary context launched a public debate. In June, the members of Parliament voted a law, reported by the Cher Deputy, Jules-Louis Breton, that planned to ban the use of white lead in paint. This initiative set in motion the back-and-forth process between the two chambers of Parliament. The decision of the Senate, more conservative in terms of the interests of employers and industry than the other chamber, was suspended pending the results of a parliamentary inquiry on the white lead issue, which was considered by many to be dilatory, even more so because the inquiry was confided to Senator Alcide Treille,22 famous for his hostility to public intervention in health and sanitation matters. In just a few months, this senator became the person that the adversaries of white lead loved to hate. In the veritable concert of mutual denunciations that appeared with the new century, the role played by the unions and its worker audience is more complex than it appears to be. Until the beginning of the 20th century, if some pioneers are excluded (e.g., the indefatigable manager of the Labor Exchanges, Fernand Pellouti-
21 Worries that were witnessed in the periodicals, such as Annales publiques d’hygiène et de médecine légale. See Moriceau: Hygiénisme industriel, 2010. 22 Doctor and Senator from Constantine from 1897 to 1906. Very conservative, he was opposed to, for example, the generalization and the obligation of the smallpox vaccination, the declaration to the health authorities of all contagious diseases, and the adoption of communal rules to facilitate the fight against insalubrious housing.
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er23), the many publications about the danger of white lead only partially reached the union sphere, even though some union observers asked about the reality of the problems.24 Michèle Perrot had already observed that, in the last 25 years of the 19th century, the strikes were rarely the opportunity to highlight the workers’ demands about occupational safety and unhealthy working conditions alone.25 In the prevailing union ideology, occupational diseases and job-related wear-and-tear seemed to be considered less as the consequences of being exposed to objectively harmful effects (e.g., toxic products, degree of onerousness, fatigue) and more as one of the secondary aspects of industrial exploitation. Thus, at the beginning of the 20th century, the young CGT and the union confederations talked very little about worker health, even less about the white lead in paint. Quite occupied by its slow ideological development and internal conflicts that shook the CGT during the first years of its existence (1895-1910), the young union did not especially try to denounce the health problems at work. The large painters’ strike in Paris in October 1898, which saw Abel Craissac – of whom we shall speak again – designated as the chairman of the strike committee at the Labor Exchange, didn’t even mention the white lead issue.26 Sometimes broaching the issue of industrial poisoning, most often in the last minutes of the congress, the workers’ congresses bore witness to marginal aspect of this concern. The union discourse was essentially structured around two fundamental demands of the labor movement: length of the workday and salaries, which are rarely formulated in terms of health. “The 8-hour workday is healthier”: this line in bold print, read in L’Ouvrier peintre in the spring of 1905, didn’t reappear in the columns of the union sheet until 1909.27 Nonetheless, in L’Ouvrier peintre, the newspaper of the CGT’s National Federation of painters unions, the denunciation of the lead poisoning scourge appeared abruptly as a union priority in 1903-1904, at the moment
23 Pelloutier: Vie ouvrière, 1900, 1975. 24 For example, this was the case for the brothers Léon & Maurice Bonneff, who in 1900 published Les métiers qui tuent. Enquête auprès des syndicats ouvriers sur les maladies professionnelles, Paris. 25 See Perrot: Ouvriers, grève, 1974, 2001, pp. 259-261. 26 See the press file on this strike, preserved in the library of Musée social (Paris). 27 L’Ouvrier peintre, 1 April 1905, p. 2.
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when the white lead stakes became an extremely popular current in political and parliamentary spheres.28 Far from being avant-garde, the painters unions got on the “white lead” bandwagon late and started intoning the antiphon for healthy and safe construction sites. However, the eruption of health and safety demands among the painters unions was not only due to the slow development of an old concern. It seems to have resulted from Abel Craissac’s arrival on the union stage, whose strategy and practice radically broke with the dominant strategy and practice of revolutionary syndicalism. The strikes that shook the painter’s profession in the spring of 1905, especially in the north of France and in Paris region, allow this obvious change in union strategy to be called into question. Orchestrated by Abel Craissac, designated in 1904 by the National Painters Union Congress to direct the combat against white lead,29 the mobilization of painters in the industrial cities in the north of France rapidly took flight. Breaking with most of the labor movements seen up to this date, the health demands were first on the list, even before the demands for higher salaries and a reduced workday. Fustigating the dilatory senate inquiry of Dr. Alcide Treille, the union propaganda denounced the white lead “homicide industry” that was poisoning the painters.30 Without any doubts, the long history of white lead – and lead poisoning – in the Lille region weighed in for the successful mobilization in this area. After a few months of intensive propaganda work, the Lille CGT painters union was created in September 1905, and the union’s agitation resulted in the biggest painters strike that the north of France had known before the First World War. For three weeks, from the 13th of March to the
28 L’Ouvrier peintre (4 pages) was published between 1900 and 1909. It was first published irregularly (17 issues in 5 years), then on a monthly basis between 1905 and 1909. 29 A. Craissac was the CGT representative for the Parisian painters, the treasurer of the National Painters Federation, and the director of the health and safety services at the National Federation of Painters Union. This last role, which testifies to his early interest in occupational health and safety, made him responsible for the fight against white lead within the union. 30 For example, see the poster displayed in Lille by the National Council of the Federation of Painters Unions, 21 July 1905, ADN, M 629/7.
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3rd of April 1906, 240 paint companies in Lille and its surroundings were touched by the strike, which saw more than a thousand painters stop working. In Lille itself, there were up to 660 strikers, or more than a third of the painters working in Lille. This number corresponded to approximately all of the unionized painters.31 The movement quickly spread to the neighboring cities of Roubaix and Armentières by mid-April, where all of the painters were on strike. In May, the strike reached Paris, where 5000 to 10 000 painters stopped working. In Paris, like in Lille, the strikers demanded the abolition of white lead and red lead, which was even more toxic, accompanied by the more traditional demands of a reduced workday and a higher hourly salary.32 Following an almost deafening silence, the abrupt arrival of the demand for abolition of white lead in the union discourse, as well as the strong mobilizations in 1905-1906, leads to speculation, as much as this sudden awareness of health stakes went against the denial of the disease, still very widespread in the profession, and the fatalism of the painters, for which the unions blamed the painters. In fact, the job routine and financial interest made many painters continue to work with lead paint, thus demonstrating “indolence without compare […], an incomprehensible lack of awareness, a shameful cowardice”33. Implicitly, the 1906 strikers’ demands echo the pages of L’Ouvrier peintre, which is the reflection of the Paris painters union, run by Louis Robert and Abel Craissac during almost all of its existence and despite the subversion attempts to which it was subjected. In addition, since Abel Craissac was the head of the painters union, this explained the union’s early interest in the white lead issue. For this reason, Craissac is a powerful trompe-l’œil for the CGT mobilization in favor of occupational health and safety in the first years of the 20th century.
31 Report of the special commissioner for Lille to the Nord Prefect, 23 July 1905, ADN, M 629/7. 32 Statistique des grèves et des recours à la conciliation et à l’arbitrage survenus pendant l’année 1906, Ministry of Labor, Paris, Imprimerie nationale, 1907, pp. 400-407. 33 L’Ouvrier peintre, October 1905, p. 2.
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3. T WO EXAMPLES
OF GOING AGAINST THE PREVAILING UNION STRATEGY , OR REFORM BY ACTIONS
3.1 Abel Craissac and white lead, or the unorthodox union path The movements of Abel Craissac still remain relatively obscure.34 For the little that is known, the path of this painter – union activist from the very beginning, early won to the cause of reformism – could be compared to Isidore Finance, also an industrial painter, who preceded Abel Craissac by one generation.35 Like Finance, Craissac was committed to becoming an important person through his union commitment, and his institutional and administrative commitment, which led him to the Conseil supérieur du Travail (Labor Council) in Paris and to International Labor Office in Geneva in the period between the two World Wars. However, well before he made it to the top, the weight of Abel Craissac’s personality seemed to be essential in the CGT’s apparent conversion to the combat against lead paint. Primarily, it was his trips in favor of this combat, his multiple informational meetings, his exhortations to the industrial painters to revolt against their unhealthy working conditions, his pamphlets and articles in the specialized union press that convinced the painters to strike. The role that he played in trig-
34 The entry in the Dictionnaire biographique du mouvement ouvrier does not say much about Abel Craissac: a painter in Paris, he attended the 4th CGT congress held at the Labor Exchange in Paris and, with Gallet, was the painters’ representative at the congress in Lyon in September 1904, as well as at the congresses in Amiens (1906) and Marseille (1908). In 1905, he was among the leaders of the National Federation of the Painters Union. The entry does not say that Abel Craissac was a member of the Industrial Health and Safety Committee at the Ministry of Trade and that, since he was always largely involved in the issues of occupational health and diseases, he was a member of Conseil supérieur du Travail in the period between the two World Wars, Maitron: Dictionnaire, 1964, Vol. 11, p. 283. 35 For more information about Isidore Finance, see Lespinet-Moret: Office, Travail, 2007.
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gering the strike in Lille in the spring of 1906 has just been shown in the previous section. However, Craissac’s commitment went well beyond this point. On the national level (because his audience was national), he did not make the labor movement his principle target of his tireless propaganda activities. Aware that the upper echelons of the CGT were little mobilized by the prohibition of industrial poisons, he was convinced of the necessity to make all the forces of social progress collaborate in the construction of a more just society. In this, he went against the prevailing revolutionary syndical doctrine and thus appeared as a reformist, an insult in the mouths of the union activists. Directing his fight towards public opinion, he set in motion multiple opinion factors and varied networks of acquaintances likely to advance his cause: proletarian press and literature, such as Jacques Dhur and the Bonneff brothers; the medical and scholarly circles, with such renowned scientists as the chemist, Marcelin Berthelot, and the medical professors Laborde and Brouardel; transnational worker associations, such as the Worker Health and Safety Association and the International Association for the Legal Protection of Workers; and decision-making networks, such as the freemasonry networks. In his own words, Craissac wanted to see “the scholars come down from their ivory tower and stretch out a supportive hand to the painters”36. This was the case during the important demonstration organized in Paris in 1903, with the support the Grand-Orient de France (one of the largest Masonic organizations in France). At the end of the demonstration, a “procession” in which the painters who were victims of lead poisoning, “voluntary helots, went through the streets of the large city, showing their mutilated limbs, their atrophied muscles, and crying out their dreadful and terrifying wretchedness”37, an exhibition that certainly contributed to raising the public’s awareness of the lead poisoning of the painters. Craissac’s objective was clear: he wanted to bring occupational diseases out of the “ghetto” of marginal union demands to make these diseases a humanist cause célèbre.
36 Abel Craissac’s speech on 7 March 1910, published in La céruse vaincue, 1910, p. 5. 37 The journalist Jacques Dhur’s speech on 7 March 1910, published in La céruse vaincue, 1910, p. 10.
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Breaking radically with union discourse, Craissac conducted a campaign against lead paint using diverse tools that blended traditional labor movement actions (e.g., demonstrations, strikes), widened alliances with an affluent middle class and academic communities, and staged “suffering bodies”. This campaign overstepped the limits in two ways. First, it overstepped the limits in terms of the stakes in the combat for labor autonomy. Craissac made healthcare appear as a major stake in the union combat, since the abolition of industrial poisons seemed to him crucial in the process of destroying the capitalist system of exploitation. Second, it overstepped the limits in terms of the methods and strategies used to fight for this autonomy. Like a strange extraterrestrial in the midst of the union world that set up social demands as the exclusive prerogative of workers, he advocated the cooperation of all the forces of social progress, thus taking his place incontrovertibly in the Belle Époque’s reform circles. Craissac used the union’s megaphone to develop a discourse and an activist praxis that went against the prevailing union doctrine that was being built. This behavior caused problems for Craissac in the CGT union. In March 1908, the Parisian CGT painters union voted the exclusion of Craissac, its treasurer, and his friend Robert, the secretary of the National Painters Federation because these “unsavory individuals” through their “antiunion attitudes […] were sowing confusion and division in the painters’ proletariat everywhere in France”. Like Auguste Keufer or Isidore Finance before him, Abel Craissac was openly denounced by the union authorities in Paris as a “schemer who [has his] place in the ministerial antechambers rather than being responsible for unionized workers”38. In the eyes of the CGT, involved in a labor movement empowerment strategy, the combat against painter lead poisoning was not worth combining their forces with doctors, members of parliament and ministerial authorities to prohibit white lead, and this was true until at least the First World War.39
38 Both quotations are from the newspaper Le Travailleur du Bâtiment, the official newspaper of the CGT Construction Federation, no. 12, March 1908, p. 3. 39 During the National Congress of the CGT Construction Federation in 1914, the union still refused to intervene at the Ministry to enforce the 1909 law concerning the white lead ban, which was to be enforced a few months later: “It would start us down a path on which the Federation has never wanted to go, as of this point.” (See Compte-rendu, 1914, p. 541).
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The comparison of two union newspapers of that period – Le Travailleur du Bâtiment and L’Ouvrier peintre – clarifies the picture. This comparison shatters the image of a union accord, which for a time was believed to be taking shape, on the importance of the occupational health stakes, based on the issue of the lead poisoning of painters. In particular, the comparison fully follows the lines of the divisive battle between industry unionism and trade unionism that raged on in these years of constructing the union’s doctrine and praxis, in which revolutionary syndicalism and the strike as a mean of action dominated and triumphed. Le Travailleur du Bâtiment, the official newspaper of the CGT Construction Federation, was not very informative on this issue. It was very rare that this newspaper mentioned painter lead poisoning and its causes during a period that is nevertheless a period of active combat against white lead.40 The attacks against “white poison” and the calls for mobilization were concentrated in L’Ouvrier peintre, the official newspaper of the National Federation of Painters Unions, without succeeding in convincing the other trade associations, including the Construction Federation. According to Dreyfus, at the beginning of the 20th century, French unionism remained “marked by its professional particularisms. Whatever was said about French unionism, before 1914, it did not succeed in uniting all the ‘exploited’ people. It was rarely capable of organizing the solidarity between large groups of workers. Under these conditions, solidarity was difficult to implement.”41 Thus, beyond the painters’ circles, the mobilization against white lead did not succeed in federating the unionized workers, in what would have shaped of global union mobilization against occupational diseases. The debate between industry unionism and trade unionism in the CGT played a key role in the combat against lead paint. Like others, Craissac feared the dilution of the painters union in the immense Construction Federation. In the framework of industry unionism, there was no longer a place for “category-specific” stakes, which can concretely improve the working conditions, to the benefit of the general labor demands (e.g., salaries, working hours). With a deep-seated trade mentality and a specific identity inhe-
40 The incomplete collection at the Bibliothèque Nationale de France was consulted: around thirty issues over the period from 1907 to 1913. 41 Dreyfus: Liberté, Égalité, 2001, p. 102.
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rited from trade guilds, the painters union constituted one of the most refractory bodies to the development of industry unionism, according to what is mentioned in the two newspapers cited above, one being in favor of it and the other one being intensely hostile. Thus, the Parisian authorities of the CGT began the difficult building process during these years, especially in Construction.42 By opting for maintaining the trades in central union organization and the reformism that widened the audience and the tools of the labor movement, Abel Craissac thus marginalized himself in terms of the CGT. Moreover, it is outside of the union, and partially against him, that the first collective attempt to objectively and scientifically prove the seriousness of the lead poisoning among the painters took place, thus making this issue a major element of the workers’ combat. 3.2 The local alliance of scholars and workers The Enquête sur la Situation sanitaire des ouvriers peintres en bâtiments de Lille (Study of the painter health in Lille),43 conducted during the spring of 1906 by Dr. Désiré Verhaeghe and published in August of the same year, is an exceptional document for two reasons. First, the study’s contents were new. The study was about 131 painters in Lille. All of them employed at that time, and all were voluntary participants in the study. This study paints a partial but nonetheless precious epidemiological picture of this professional category in a big working-class city at the beginning of the 20th century. Age, workday length, type of position and level of alcoholization are some of the categories used by Dr. Verhaeghe to describe the population. His results underestimated the morbidity, he said, because of the way the participants were recruited. According to Dr. Verhaeghe, “it is mainly unionized workers – that is, the most intelli-
42 The first national federation of the construction unions and trade groups was established in 1892 but grouped only 20 % of unions that existed at that point. Their number decreased until 1901, date of the disappearance of this federation, before its revival in 1906. See Tallard: Fédération, Bâtiment, 1991, p. 165. 43 This document was preserved at the Municipal Library in Lille (Médiathèque Jean-Lévy), regional funds, indicator 27166. Alain Cottereau referred to it in Cottereau: Usure, 1983, pp. 71-112.
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gent workers, those that understood the impact and usefulness of this study – who were kind enough to respond to our call for volunteers. These people form the elite of their trade association. However, it is undeniable that this part of the working class has the most dignity, consumes the least alcohol and observes the most elementary principles of cleanliness and hygiene”44. In spite of this reservation, he observed that, among all these workers who practice this professional activity, more than 40 percent of them had chronic stomach pains, not counting the patients who suffered from chronic digestive disorders (13 %) and chronic muscle pain (8 %); all these effects were potentially linked to ingesting lead. In particular, beyond the simple epidemiological picture, this study was a first attempt, resolutely new at the beginning of the 20th century, to evaluate the wear-and-tear caused by their professional activity. This wear-and-tear made itself known after 25 or 30 working years, or towards 45 years of age for these painters. It produced the paradox: after the age of 45, most of the examined painters are in good health; the less healthy were gradually eliminated from the profession, either by becoming invalids or death.45 Thus, based on a local epidemiological study and thanks to the close connection between seniority and health status, Dr. Verhaeghe has given us the keys to a new reading of this situation, to understand the structure and evolution of global labor market, introducing in his analysis the notions of onerousness, lifecycle and wear-and-tear of labor. All these notions were still essentially being ignored in the union structures themselves. Second, this study expresses one of the new modes of action for occupational health stakes, which goes far beyond the dominant union doctrine at the national level. In a way, it is the application of Abel Craissac’s desire to see the combat against white lead be a tolerant combat that united “scholars” and “workers”. In fact, the Lille painters union, which resisted fiercely the repeated calls of Paris CGT union to join the confederation, asked Dr. Verhaeghe to conduct this study. Dr. Verhaeghe, the director of the im-
44 Enquête, sanitaire, 1906, p. 2. It could be added that this part of the working class was also the most stable and probably the least precarious part of the painters, among whom many workers were temporary migrants. 45 Ibid., pp. 6-11.
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portant medical and legal service of the Lille Worker Health committee, was known locally for his commitment to the working class.46 This fruitful collaboration gave birth to new perspectives, especially the possibility of an otherwise stable alliance between doctors and the labor movement on collective stakes at the local level. This experience also highlights the transformations, still marginal but on the rise, both in the worker mobilization in favor of health stakes, but also in the medical sphere itself. In this particular case, this passed through the alliance with the “bourgeois” medical sphere. In the same year as this first collaboration between workers and medical personnel in Lille, Dr. Verhaeghe created the National Social Medicine Union, which had as one of its goals “the entente and common action with worker groups for all that is related to public health and occupational and social medicine”47. Far from the Leplaysian social studies, which imagine working-class families as an unchanging object of study and knowledge, the Lille study is a project of inter-class collaboration that was designed to federate the stakeholders concerned by occupational health and safety.48 Because of this centrality, this study opened an early and exceptional breach in the healthcare vision and practice, which was still highly resistant to change.
46 The Worker Health Committee was a component of the Labor Exchange. Dr. Verhaeghe had already led a similar investigation, but at bigger scale because it concerned 1485 textile workers, after the big strikes in this sector in Armentières-Houplines during winter 1903-1904. See Verhaeghe: Enquête, textile, 1905, 24 p. 47 Bulletin administratif du Syndicat national de la Médecine sociale, 1 (1909) 9, p. 2. A research project is under way on the National Social Medicine Union, mainly established in Lille and in Lyon and emblematic of the social cooperation on the issue of occupational health and safety. 48 In this, this agreement prefigures in many respects the collaborative experiences between healthcare professionals and labor collectives led in the 1970s in Italy and France. For the Italian experience, see for example Oddone: Ambiente, 1977. For France, see Laure Pitti’s recent work, especially Pitti: Experts, 2010, pp. 103-132. A research project comparing the beginning of the 20th century and 1970s, in collaboration with Laure Pitti, led us to present a paper at the international conference, “Social Strikes and Conflicts, 20th c.”, Universidade Nova de Lisboa, Lisbon (Portugal), 16-19 March 2011.
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Perturbing the traditional epidemiological perspective, which seeks to identify the hygiene failures that are considered to be responsible for the disease (e.g., lack of protective garments, masks, gloves; too little bathing; meals eaten in the workshops), based on a reference population of 131 cases, Dr. Verhaeghe considers worker health, painter working conditions, and worker choices for managing their careers, for example. By rendering a diagnosis of worker fatigue and deterioration, he legitimizes “rest therapy […], which seem[ed] incompatible with the economic functioning of society”49, including union discourse, which is based upon pride and legitimacy through work.
4. C ONCLUSION The first “special decree”, which imposed a doctor’s regular monitoring of the workers exposed to the risk of lead poisoning, was made on 23 April 1908. The following year on 20 July 1909, a law was voted prohibiting the use of white lead in painting projects as of 1915. This law was presented by its promoters as a victory over white lead, but the law didn’t forbid its fabrication; it only limited the use of white lead. The decree of 1 October 1913 forbade sanding and dry sanding of lead paint. Still, the production of white lead, interrupted during the war because the German military occupied the Lille region where most the white lead factories were found, took up again after the war. The combat against lead paint was not over. Lead poisoning was put on the first table of occupational diseases in 1919; then, the internationalization of the white lead issue during the 3rd International Labor Conference in Geneva in 1921 resulted in the gradual banning of white lead in the various countries ratifying the convention. France ratified this convention in 1926. Before and after the First World War, despite the thundering denunciations of the 1906 strikes, the institutionalized unionism seemed to play only a timid and tardy role in the combat for the prohibition of lead paint.50 In
49 Cottereau: Usure, 1983, p. 97. 50 Jean-Claude Devinck’s PhD dissertation (EHESS, Paris) will examine the labor movement and occupational health and safety and perhaps will bring new elements to this interesting debate.
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the complex stakeholder game plan, in which doctors, hygienists, political figures, free-masons, and labor unions held roles that have to be defined precisely, the combat against white lead has nothing of a binary confrontation that pitted employers against workers, the poisoners against the poisoned. As the unions progressively invested the legal field and acquired legitimacy in the judicial and legal arenas at the beginning of the 20th century,51 the discourse on occupational health and safety seems to have been shaped far beyond the union circles. Other stakeholders were present to invent a new repertory for actions, between social cooperation and union dissidence. On the margins of the worker organizations, even totally outside, whether it be doctors for social justice or workers marked by reformist pragmatism, they participated fully in the reform circles with vague forms and porous social and professional boundaries that characterize the beginning of the 20th century. The First World War was a turning point. The 1920s brought the disintegration of these reform circles in favor of public bureaucracies and State forms of social action.52 In this, the personal path of Abel Craissac, from a painter at the Conseil supérieur du Travail (Labor Council) to a participant at the Ministry of Labor adapted itself to the changing circumstances in the French reform circles in the first half of the 20th century. Craissac’s combat and the Lille epidemiological study are emblematic of the transformations under way. By breaking with the labor doctrine of the union organizations, these two experiences anticipate the onset of the inquiries into occupational health and safety issues, which was still embryonic, and the evolution towards reformism, which was slowly developing in the union organizations in 1909-1910. Thus, as the trompe-l’œil of an early union mobilization against lead paint, they constitute a mirror that sheds lights on the slow process of the institutionalization of occupational health and safety in the worker and medical spheres.
51 For more information about “establishing of a legal framework” for unions, for which the years 1900-1910 are crucial, see Claude Didry’s analysis in Didry: Convention collective, 2002, as well as the interesting article by Laurent Willemez: Syndicats, 2003, pp. 17-38. 52 See Topalov: “Le champ réformateur, 1880-1914: un modèle”, in: Topalov: Nébuleuse réformatrice, 1999, pp. 462-463.
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Risikoregulierung am Arbeitsplatz – Zwischen Rationalisierung und Gesundheitsschutz Ein Problemaufriss zur Geschichte des Arbeitsschutzes am Beispiel der Eisen- und Stahlindustrie zum Ende des 20. Jahrhunderts N INA K LEINÖDER
1. W ENIGER G EFAHR FÜR L EBEN AM ARBEITSPLATZ ?
UND
G ESUNDHEIT
„Gesündere Arbeitsplätze durch Automatisierung?“ Wie die Forschungsliteratur – und auch einige Beiträge dieses Sammelbandes – zeigen, ist die Erkenntnis nicht grundsätzlich neu, dass sich durch Technisierung und Automation die unmittelbare Unfallgefahr durch Distanz zur Gefahrenquelle, aber auch durch die Belastungen physischer Arbeit und schädlicher Umwelteinflüsse verändert haben.1 Auch die Beobachtungen, dass etwa monotone Tätigkeiten an Fließbändern, an Steuerständen und später an Bildschirmen neue Gesundheitsrisiken bergen, sind nicht neu. Und doch haben sich die Maßstäbe von betrieblicher Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz seit der Mitte des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert.
1
Vgl. Kleinschmidt: Rationalisierung, 1993, S. 90.
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Die allgemeine Frage nach der „Gesundheit“ des Körpers dient dabei in erster Linie als Reflexionsbegriff in der Unterscheidung von „krank“.2 So definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer Verfassung Gesundheit darüber hinaus als „[...] state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“3 Der gesunde Körper beschreibt damit auch die Unversehrtheit und Regeneration der Arbeitskraft: „Gesünder“ definiert sich hier also sowohl im Sinne der Einschränkung von Unfallgefahren als auch der den Organismus schädigenden Umwelteinflüsse (Schadstoffe, Lärm, Vibration) oder der Überschreitung physikalischer Leistungsgrenzen im Aufeinandertreffen von Mensch und Maschine im Arbeitsprozess.4 Das sich hieraus ergebende Gesundheitsrisiko am Arbeitsplatz wiederum bezieht sich insbesondere auf die Kontingenz des Unfallgeschehens, also dem Risiko als einen zukünftigen materiellen wie auch gesundheitlichen Schaden, der eintreten kann „[...] – oder auch nicht. Von der Gegenwart aus gesehen ist die Zukunft unsicher, während jetzt schon feststeht, daß die künftigen Gegenwarten in erwünschter oder in unerwünschter Hinsicht bestimmt sein werden.“5 Erst das Zusammenwirken der Kontingenz von Ereignis und Schaden fungiert nach Luhmanns Definition als stufiges „Kontingenzarrangement“. Für den Risiko- und Unfallbegriff bedeutet dies, dass ein kontingenter, also auch vermeidbarer Schaden, verursacht wird.6 Gerade für den Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts wurde die zeitgenössische Rezeption von Unfallgefahren und Gesundheitsbelastungen von der Forschung als Wahrnehmung eines „natürlichen Risikos“
2
Vgl. Luhmann: Risiko, 2003, S. 29.
3
World Health Organization: Constitution, 1946, S. 1.
4
Zu Belastungen und Risiken in der Eisen- und Stahlindustrie vgl. International Labour Office: Safety, 2005, S. 33-83. Zu Arbeit und Arbeitsbedingungen im Hüttenwerk vgl. u.a. Kleinschmidt: Rationalisierung, 1993; Welskopp: Arbeit, 1994; Yano: Hüttenarbeiter, 1996; Zumdick: Hüttenarbeiter, 1990; zu Arbeit und Mitbestimmung nach 1945 Lauschke: Hoesch-Arbeiter, 2000.
5 6
Luhmann: Risiko, 2003, S. 25. Vgl. ebd., S. 25f. Zur aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Rezeption des Unfalls vgl. Kassung: Einleitung, 2009, S. 9-10.
R ISIKOREGULIERUNG
AM
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der Industriearbeit beschrieben.7 Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, markiert das 20. Jahrhundert dagegen im Sinne der oben genannten Risikodefinition einen Übergang zu einem zunehmend präventiv verstandenen Unfallschutz, also der Einwirkung und Einschränkung der Kontingenz insbesondere im Bereich der Unfallverursachung.8 Hier geht es um die Vermeidung künftiger Schäden, indem „[...] die Eintrittswahrscheinlichkeit [...]“ oder „[...] die Höhe des Schadens verringert wird.“9 Das (Unfall-) Risiko wird hier also insbesondere als eine individuelle Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit verstanden und ist so nur im erweiterten Sinne an eine Technikfolgenabschätzung anschlussfähig.10 Was ist nun schließlich neu an den gesundheitstechnischen, ergonomischen Entwicklungen nach 1945? Handelt es sich hierbei um einen grundlegenden Wandel im Verständnis von Mensch, Maschine und Umwelt und an welchen Parametern könnte man dieses Phänomen messen? Der Forschungsansatz zur Rekonstruktion, Abbildung und Analyse dieses abstrakten Phänomens nähert sich hier den internen und externen Verflechtungsstrukturen des kollektiven Akteurs „Unternehmen“ am Fallbeispiel eines Forschungsprojektes zur Arbeitsplatzgestaltung an. Es umfasst ganz bewusst die bisher in der Forschung kaum untersuchten 1970er und frühen 1980er Jahre. Dieser Zeitraum war geprägt durch gesellschaftliche Neu- und Umorientierungen, die sich z.B. in der Bewegung „Humanisierung der Arbeitswelt“ (1970er Jahre) oder den Neuregelungen des Arbeitssicherheitsgesetzes (1973) niederschlugen.11 Paradigmenwechsel, gegebenenfalls aber auch Kontinuitäten, werden auf der praktisch-institutionellen Ebene analysiert, insbesondere in der Wahrnehmung des Körpers des Arbeiters selbst. Der Beitrag soll in diesem Kontext als Problemaufriss dienen, der die zunehmende Komplexität in der Geschichte des Arbeitsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland thematisieren und erste Interpretationsansätze aus unternehmenshistorischer Perspektive als „work in progress“ präsentieren will.
7
Vgl. Andersen/Ott: Risikoperzeption, 1988, S. 109; Milles: Risiken, 1990,
8
Vgl. Luhmann: Risiko, 2003, S. 38-40.
9
Ebd., S. 38.
S. 117.
10 Vgl. Rammert: Technik, 1993, S. 9-10. 11 Vgl. Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 203-213.
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Nach einer allgemeinen Einführung zur inhaltlichen und methodischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Arbeitsschutzes folgt eine Vorstellung der hier im Fokus stehenden Akteure und ihrer Maßnahmen. Beispielhaft geschieht dies an einem von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) initiierten und geförderten Forschungsprogramms zu Ergonomie und Arbeitsschutz und des Mannesmann-Konzerns, der im Rahmen dieses internationalen Programms verschiedene Projekte in seinen Werken durchführte. Abschließend folgen einige bewusst offen gehaltene Betrachtungen zu Kontinuität und Wandel der Wahrnehmungshorizonte von Rationalisierung, Ergonomie, Arbeitsschutz und Körperlichkeit in der Industriearbeit des späten 20. Jahrhunderts.
2. T HESEN
UND
Z UGANG
Entgegen der bereits zeitgenössisch einsetzenden soziologischen Forschung ist der Wandel der industriellen Arbeitswelt im Kontext von Rationalisierung und Automatisierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in der historischen Disziplin bislang ein weitgehendes Desiderat geblieben.12 Die bisherigen historischen Forschungsansätze lagen dabei bislang in ihrer zeitlichen Ausrichtung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.13 Sie nahmen besonderen Bezug auf die Rationalisierungsbewegung der 1920er Jahre. Hier fand die Frage nach den Folgen von Rationalisierung und Automatisierung im Hinblick auf Arbeitsschutz und Gesundheit am Arbeitsplatz bereits in einigen Ansätzen Berücksichtigung. Dabei wurde der Zusammenhang von Unfallentwicklung und zunehmender Mechanisierungsprozesse durchaus differenziert bewertet. So zeigte die zeitgenössische Statistik, dass die neue technische Struktur der Unternehmen neben der mechanischen
12 Vgl. Kleinschmidt: Technik, 2007, S. 123. Aus soziologischer Perspektive vgl. u.a. zur Eisen- und Stahlindustrie Bünnig u.a.: Moderne Zeiten, 1993; Jürgenhake/Winter: Neue Produktionskonzepte, 1992. 13 Vgl. insbesondere auch die Bewegung der Technikfolgeabschätzung unter maßgeblicher Prägung der Forschungsergebnisse A. Andersens bis in die 1990er Jahre hinein. Andersen: Historische Technikfolgenabschätzung, 1996; Machtan/Ott: Erwerbsarbeit, 1987.
R ISIKOREGULIERUNG
AM
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Substitution auch eine wachsende Gefahrenquelle im Produktionsprozess darstellen konnte.14 Probleme der Monotonie oder der Ermüdung wurden hier bereits thematisiert und über die Auswahl des ‚passenden‘ Körpers für die Anpassung von Körper und Maschine am industriellen Arbeitsplatz unter dem Begriff der „Psychotechnik“15 erfasst.16 Mit der Einrichtung erster zentraler Unfallverhütungsstellen in der Eisen- und Stahlindustrie kam es also durchaus zu einer betrieblichen Zuwendung zur Frage industrieller Arbeitsrisiken, die mit der ersten Berufskrankheiten-Verordnung 1925, wenn auch äußerst zögerlich, chronische Belastungen und Gesundheitsschädigungen berücksichtigte.17 Wie die bisherige Forschungsliteratur zeigen konnte, setzte die starke unternehmerische Interessenvertretung hier jedoch eine Orientierung nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten – sowohl im Sinne der Kostenfrage von Rationalisierung und technischer Maßnahmen als auch dem Erhalt unternehmerischer Handlungsautonomie – durch. Weitgehende Eingriffe in die grundsätzlich gesündere und sichere Gestaltung des technischen Systems in den Unternehmen, wie z.B. über ein umfassendes Maschinenschutzgesetz, scheiterten nicht zuletzt auch am Widerstand der Industrie.18 Der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzende Wandel des deutschen Arbeitsschutzes ist insbesondere in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive nur in Ansätzen erforscht.19 An dieser Stelle sei auf den anregenden Aufsatz Flurin Condraus verwiesen, der in einem Fallbeispiel die Entwicklung der Werks- und Betriebsärzte bei Siemens zwischen 1950 und 1975 aufgreift. Als methodisches Zwischenergebnis betont er einen neuen Ansatzpunkt in der historischen Untersuchung der Arbeitsmedizin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser sei an der Schnittstelle „[...] zwischen der Unternehmensorganisation und der Risikobewertung im Sinne der modernen Institutionenökonomie und sozial- und kulturhistorischen Überlegungen zur qualitativen Gesundheitspflege, Le-
14 Vgl. Kleinschmidt: Rationalisierung, 1993, S. 90; Lupa: Ethik, 1993, S. 70-72. 15 Vgl. zuletzt Patzel-Mattern: Ökonomische Effizienz, 2010. 16 Vgl. Lupa: Ethik, 1993, S. 72. 17 Vgl. Weber: Arbeitssicherheit, 1988, S. 148-157; Weber: Moderner Arbeitsschutz, 1993, S. 209-210. 18 Vgl. Weber: Technik und Sicherheit, 1986, S. 120-127. 19 Vgl. u.a. Lauschke: Halbe Macht, 2007, S. 91-103.
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bensqualität am Arbeitsplatz sowie modernen Ansätzen der Körpergeschichte [...]“20 angesiedelt. Condrau legt damit das Augenmerk auf die methodische, interdisziplinäre Chance und Herausforderung, die die Thematik des betrieblichen Gesundheitsschutzes als neue Perspektive in der Geschichte der Industriearbeit insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet. Die These des Wandels von einem vornehmlich reaktiv auf das Unfallgeschehen ausgerichteten Schutzkonzept zu einem komplexeren System des betrieblichen Arbeitsschutzes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht hierbei im Zentrum der Überlegungen. Flankiert und in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs rezipiert, wurde diese Entwicklung unter anderem durch das Forschungsprogramm „Humanisierung der Arbeitswelt“ der Bundesministerien für Forschung und Technik sowie Arbeit und Sozialordnung im Rahmen sozialliberaler Reformpolitik zu Beginn der 1970er Jahre.21 Der Deutungsansatz und damit konnotierte Ansprüche an die zukünftige Arbeitswelt entwickelten sich zu einer weit verbreiteten gesellschaftspolitischen Programmatik, die bis heute das Vokabular zur (Industrie-)Arbeit – allerdings mit sehr heterogenen Definitionen – prägen.22 Ihr inhaltlicher Katalog reicht dabei im praktischen Bereich von der wechselseitigen Anpassung von Mensch und Arbeit über den „fähigkeitsgerechten“ Einsatz des Arbeiters bis hin zur „Herauslösung des Menschen aus dem Belastungsbereich“.23 Im Verlauf des 20. Jahrhunderts vollzog sich offenkundig ein Wahrnehmungswandel zeitgenössischer Arbeitsrealitäten, die ihren Niederschlag auch im Bereich des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes fanden: Woher kamen diese Impulse und wie ist diese Konstituierung von Diskurs und Praxis zu verbinden? Woran ist dies methodisch fest oder analytisch messbar und vergleichbar zu machen? Welche Mechanismen von Wissensproduktion deuten sich hier im Wechselspiel von Diskurs und betrieblicher Praxis an?
20 Condrau: Arbeitsplatz, 2004, S. 255. 21 Vgl. Bethge: Arbeitsschutz, 2006, S. 285-290. 22 Zu zeitgenössischen Definitionsansätzen des Humanisierungsbegriffs: Gaugler: Humanisierung, 1977, S. 10-32; Kreikebaum/Herbert: Humanisierung, 1988, S. 37. 23 Ebd., S. 23.
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Herauszustellen ist mit der zunehmenden Komplexität des Verständnisses eines „gesunden“ Arbeiters der hiermit verbundene Anspruch einer interdisziplinären Betrachtungsweise: Zentraler Zugriffspunkt kann die Multiperspektivität des Phänomens „Arbeits- und Gesundheitsschutz“ sein. Technische Entwicklungen müssen nicht nur mit sozialpolitischen Elementen verknüpft werden. Auch die Rolle von Institutionalisierung, betrieblichen Strukturen, überbetrieblichen Netzwerken (im Fallbeispiel repräsentiert durch den Korpus der EGKS) und des hiermit verbundenen Wissenstransfers sind zu hinterfragen. Die Definition der Produktivität des Industriearbeiters, eben nicht zuletzt gemessen an seinem physischen Gesundheitszustand, richtet sich hier nach einem Foucaultschen Verständnis sowohl nach technischen, medizinischen, ökonomischen als auch moralischen Komponenten, die die Biopolitik von „[...] Förderung, Steigerung und Unterstützung [...]“ des Arbeiterlebens, also die Frage nach der „[...] Möglichkeit und dem Modus einer Regierung des Lebens [...]“24, konstituieren.
3. ARBEITSSCHUTZ IN D EUTSCHLAND
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B UNDESREPUBLIK
Das deutsche Arbeitsschutzsystem geht noch heute auf das im 19. Jahrhundert implementierte dualistische Kontrollsystem zurück, bestehend aus Gewerbeaufsicht und Berufsgenossenschaften. – Letztere sind in paritätischer Besetzung durchaus auch als selbstregulierende Organe der Unternehmen zu verstehen.25 Die hier betrachtete zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts knüpfte grundsätzlich an das System der Versicherung an, also der nachgelagerten Entschädigung im ‚Schadensfall‘, sowohl bei einem Unfall als auch bei einer anerkannten Berufskrankheit.26 Hinzu kamen Maßnahmen des präventiven
24 Muhle: Biopolitik, 2008, S. 10 u. S. 17. Hierbei grenzt Muhle die historische Entwicklung des kulturwissenschaftlichen „Biopolitik“-Begriffs auch deutlich von seiner realpolitischen Verwendung in der Auseinandersetzung mit Bio-Wissenschaften, z.B. über die politische Dimension der Gentechnik, ab. Ebd., S. 17-19. 25 Vgl. Simons: Gewerbeaufsicht und Berufsgenossenschaften, 1984. 26 Vgl. Milles/Müller: Berufsarbeit, 1985, S. 18-19.
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Arbeitsschutzes, die sich maßgeblich an Ergebnissen ausgeweiteter statistischer Methoden orientierten und sich so dem kostenverursachenden Element des Unfallgeschehens für den Betrieb sowie einer zunehmend komplexeren Wahrnehmung des Unfallgeschehens am Arbeitsplatz zuwandten.27 Arbeitsfeld und Instrumente der gewerblichen, berufsgenossenschaftlichen und betrieblichen Unfallverhütungsarbeit blieben jedoch weitestgehend unverändert: Sie unterteilten sich einerseits in die technische, sicherheitskonforme Disziplinierung des Körpers durch Schutzteile an den Maschinen und Arbeitsteilen, wie z.B. Schutzabdeckungen, oder die sogenannte „Einhausung“ zur Reduzierung von Umweltbelastungen (Steuerstände als separate Kabinen), indem sie Körperhaltung, Bewegungs- oder Eingriffsmöglichkeiten beeinflussten. Andererseits wurde mit dem „psychologischen Arbeitsschutz“ verhaltensregulierend durch Auswahl, Unterweisung, Vorschriften und Kontrolle (z.B. durch Betriebsbegehungen) auf den Arbeiter eingewirkt.28 Im Sinne des eingangs zitierten Risikobegriffs ging es also um eine Modifikation von Einrichtung der Maschinen und Verhalten des Menschen zur Einschränkung der Kontingenz von Unfallereignis und Schaden – der Reduzierung des Risikos einer Gesundheitsschädigung am Arbeitsplatz nicht nur aus sozialer sondern insbesondere auch aus betrieblich-ökonomischer Sicht. Technische Maßnahmen wurden dabei durch das 1968 erlassene Maschinenschutzgesetz flankiert. Die betriebliche Arbeitsschutzorganisation wurde durch die obligatorische Beschäftigung sowohl von Sicherheitsingenieuren als auch von Werks- und Betriebsärzten im Rahmen des Arbeitssicherheitsgesetzes (1973) endgültig legislativ verankert.29 Die inhaltliche Erweiterung des Aufgabengebietes des Arbeitsschutzes zu einem umfassenden Schutz vor Gefahren im Arbeitsprozess manifestierte sich schließlich über das überarbeitete Betriebsverfassungsgesetz von 1972 und der Arbeitsstättenverordnung (1976), welche die Berücksichtigung genereller sogenannter „arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse“ in der Arbeits- und Arbeitsplatzgestaltung endgültig festschrieben.30
27 Vgl. Brinkmann/Hoffmann/Mausolff: Direkte und indirekte Kosten, 1954, S. 57; Lauschke: Halbe Macht, 2007, S. 97-103. 28 Vgl. Schneider: Arbeitsgestaltung, 1972, S. 8-10. 29 Vgl. Bethge: Arbeitsschutz, 2006, S. 290-295 u. S. 311-316. 30 Vgl. ebd., S. 297-300; Bethge: Arbeitsschutz, 2008, S. 276-278.
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Zugleich markiert dieser Zeitpunkt auf dem technischen Gebiet einen Ausblick auf die Arbeitswelt der Vollautomatisierung, die mit computergesteuerter Prozessautomatisierung und damit gänzlich neuen Arbeitsplatzrealitäten auch neue Anforderungen und Belastungen an den menschlichen Körper stellte. Die sozialpolitisch orientierten internationalen Forschungsprogramme der EGKS zu Arbeitssicherheit und Ergonomie sind eindeutig im Kontext dieser Ausweitung des Arbeitsschutzgedankens zu verankern. Sowohl die Projekte der EGKS als auch das nationale Forschungsprogramm zur „Humanisierung der Arbeitswelt“ ermöglichten der industriellen Forschung auf dem Gebiet der Arbeitsgestaltung einen Zugang zu Fördergeldern, die für die finanziell aufwendige Um- und Neugestaltung der Produktionsanlagen genutzt wurden. Die Projekte boten so einen zusätzlichen Anreiz für die Unternehmen, neben einer weitestgehend korrektiv geprägten Ergonomie nun auch die „Planungsergonomie“ bei der Neueinrichtung industrieller Großanlagen zumindest in Betracht zu ziehen. Zwar stellten diese zunächst erhöhte finanzielle Aufwendung bei der Errichtung der neuen Anlage für die Unternehmen in Aussicht, sie sollten sich jedoch nach Ansicht der Akteure langfristig gegenüber kostenintensiven Korrektur- und Nachbesserungsarbeiten vorteilhaft bilanzieren lassen.31 Gemeinsam war den Projekten die betriebliche Schwerpunktarbeit anhand einer konkreten technischen, medizinischen oder sozialen Fragestellung, die meist an spezielle Produktionsbetriebe oder einzelne Arbeitsplätze gebunden war. Im Umfeld dieser Projekte bildeten sich Forschungsnetzwerke zwischen Förderern, wissenschaftlichen Experten und betrieblicher Umsetzung, die zumeist auch über das eigentliche Projekt hinaus Bestand hatten. Hinzu kamen weitere, angegliederte Faktoren wie die betriebliche Organisation, materielle und technische Hilfsmittel, rechtliche Grundlagen, Anforderungen der Berufsgenossenschaften, betriebswirtschaftliche Berechnungen, individuelle Anforderungen und Neigungen der am Arbeitsplatz eingesetzten Arbeiter usw.32
31 Vgl. Röbke: Planungsergonomie, 1984, S. 103-105; zum Begriff der Ergonomie grundsätzlich Kirchner: Was ist Ergonomie? 1993, S. 246. 32 Vgl. hierzu Netzwerkansätze der Technikgeneseforschung, deren Schwerpunkt jedoch nicht unbedingt die betriebliche Ausgestaltung, sondern zumeist die allgemeine Verortung von Innovation und Rezeption (Technikfolgenabschätzung)
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4. F ORSCHUNGSPROGRAMME DER E UROPÄISCHEN G EMEINSCHAFT FÜR K OHLE UND S TAHL Die im Kern zur Verwirklichung eines gemeinsamen europäischen Marktes gegründete EGKS ist durch zahlreiche Regelungen zur Verbesserung der Qualität der Arbeit auch eine wichtige Institution innerhalb der Entwicklung des deutschen Arbeitsschutzes. Neben der Internationalisierung und Kooperation vereinheitlichter und zusammengeführter Marktstrukturen ist insbesondere die formalisierte Forschungs- und Fördertätigkeit der EGKS im Bereich der Arbeitsbedingungen in Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie hervorzuheben. Die durch die „Hohe Behörde“ der EGKS koordinierten eindeutig sozialpolitischen Aktivitäten im Bereich der Arbeiterschaft und der Arbeitsbedingungen waren von Beginn an im Aufgabenkatalog der neuen Organisation verankert.33 Während zunächst Fragen der Betriebssicherheit in Kohlen- und Erzgruben im Vordergrund standen, erweiterte sich der Tätigkeitsbereich schon sehr bald um explizite Arbeitsprogramme auch im Bereich des Gesundheitswesens. Das Aufgabenspektrum der EGKS umfasste die Bereitstellung von Informationsmaterial, statistische Erhebungen und Sammlung von praktischen Erkenntnissen und Erfahrungswerten sowie die systematische Erforschung im Grundlagen- und Einzelfallbereich. Mit dem Ziel einer verbesserten Beschäftigungsqualität und dem Schutz von Leben und Gesundheit wurden zentrale Dokumentations- und Informationszentren eingerichtet, Forschungsausschüsse angeregt und internationale Forschungsprogramme geschaffen. Diese fungierten zunehmend als Dach nationaler, institutionell wie auch betrieblich eingebundener Forschungsprojekte. Zentrales Anforderungsmerkmal sollte die allgemeine Relevanz der Forschungsansätze für die Branche und darüber hinaus sein sowie das eindeutige Ziel der Verbreitung der Ergebnisse im Raum der Gemeinschaft. Die Gemeinschaftsforschung und gezielte Vernetzung von Unternehmen, Behörden, Wissenschaftlern und Institutionen zielte insbesondere auf einen hohen Praxisbezug und eine gute Anwendbarkeit im betrieblichen Alltag. Über die finanzielle, ideelle und praktische Forschungsunterstützung hinaus
von Technik und Gesellschaft hinterfragt. Vgl. Rammert: Das Innovationsdilemma, 1988, S. 19-24; Rammert: Technik, 1993, S. 31-32. 33 Vgl. Fox: Vorwort, 1993, S. XI.
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fungierte die Hohe Behörde seit den 1950er Jahren als Motor der Arbeitssicherheitsforschung sowie der Arbeitsplatzgestaltung in Bergbau und Eisenund Stahlindustrie in Europa.34 Ende der 1950er Jahre kam es zur Umsetzung erster Arbeitsprogramme des Arbeitsschutzes und des Gesundheitswesens, deren Tendenzen auf dem Gebiet der Arbeitsplatzgestaltung ab 1966 endgültig Eingang in ein gesondertes Ergonomie-Programm fanden.35 Wie auch Rolf Steffen in seinem Beitrag zur Förderung der Stahlforschung durch die Montanunion bereits herausgestellt hat, war unter anderem die hohe Kontinuität der Forschungsförderung über mehrere Jahrzehnte ein Garant für den Erfolg der Programme.36 Anknüpfend an eine Grundlagenforschung zum allgemeinen Verständnis der Gefahren und Belastungen erfolgte in den 1960er Jahren schließlich eine Ausdifferenzierung der Forschungsarbeiten auf die Gebiete der Arbeitsmedizin, der industriellen Hygiene, sowie der Arbeitspsychologie und -physiologie. Nachdem auf dem Gebiet der Arbeitsplatzgestaltung zunächst einzelne Umwelt- und Tätigkeitsbelastungen im Fokus gestanden hatten, wichen sie im Laufe der 1970er Jahre einem umfassenderen Bild von Belastung und Gefährdung an zunehmend automatisierten und rationalisierten Arbeitsplätzen.37 Bereits 1964/65 wurde von der Hohen Behörde festgestellt: „Nachdem sich die Arbeiten zunächst auf die technischen Sicherheitsvorkehrungen bezogen, ist es nunmehr notwendig, die Arbeitsverfahren und die Arbeitsplätze selbst den physiologischen und psychologischen Bedürfnissen des Personals anzu-
34 Vgl. hierzu im Einzelnen die Berichtstätigkeit der Hohen Behörde, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Hohe Behörde: Gesamtberichte Tätigkeit, jeweils für die Jahre 1953-1967. 35 Vgl. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Hohe Behörde: Menschliche Faktoren, 1967; Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Hohe Behörde: Menschliche Faktoren Bergbau, 1967 und Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Hohe Behörde: Menschliche Faktoren Ergonomie, 1967. 36 Vgl. Steffen: Stahlforschung, 2007, S. 130. 37 Vgl. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl u.a.: 1.-11. Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaften, jeweils für die Jahre 1967-1975.
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passen, so daß die Bedingungen, unter denen der Beruf ausgeübt wird, die Unfallund Krankheitsrisiken verringern.“38
Neben der reinen Unfallverhütung rückten also auch auf der internationalen Ebene langfristige Belastungen und Schäden (Berufskrankheiten) als ganzheitlicher Gesundheitsschutz in den Fokus. Die Programme durchliefen so einen Entwicklungsprozess, der in Wechselwirkung auf Diskurs und betriebliche Tendenzen reagierte und hier zugleich durch die Bereitstellung von Fördergeldern bestimmte Arbeitsbereiche in das Zentrum der betrieblichen Aufmerksamkeit rückte: Während die Teilprojekte Einzelfragen der betrieblichen Arbeitsorganisation thematisierten, sollten durch die grundsätzliche programmatische Ausrichtung die internationale Einheitlichkeit und damit auch die Übertragbarkeit im Korpus des Gesamtprogramms gewahrt werden.39 Die hohe Interdisziplinarität des Arbeitsbereiches schlug sich hier in einem immer dichteren Netzwerk der an den Programmen beteiligten wissenschaftlichen, institutionellen und betrieblichen Akteure nieder. Ihre Erfahrungswerte und Forschungsansätze kumulierten schließlich in der Erkenntnis, Sicherheits- und Gesundheitsaspekte bereits bei der Planung von Arbeitsplätzen zu berücksichtigen. An diese Entwicklungen und Forschungstraditionen knüpft das im Folgenden vorgestellte betriebliche Forschungsvorhaben beispielhaft an.
5. U NTERNEHMENSHISTORISCHES F ALLBEISPIEL : M ANNESMANN AG – H ÜTTENWERK H UCKINGEN Nach der Rekonstruktion eines Wahrnehmungs- und Gestaltungswandels auf der übergeordneten institutionellen Ebene werden diese Entwicklungen nun in ihren Einwirkungen auf die und vielleicht auch der Rückwirkung von der betrieblichen Ebene beispielhaft reflektiert und auf diese Weise der Zusammenhang von Diskurs und Praxis konkret hinterfragt.
38 Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Hohe Behörde: 12. Gesamtbericht, 1964, S. 414. 39 Vgl. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Hohe Behörde: Menschliche Faktoren Ergonomie, 1967, S. 13-15.
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Bei der betrachteten Mannesmann AG handelt es sich um einen Konzern der vornehmlich schwerindustriellen Branche. In dem hier ausgewählten Fallbeispiel steht zwar der Unternehmensbereich der Eisen- und Stahlproduktion des integrierten Hüttenwerkes im Fokus, doch bereits auf der Konzernebene wurde der Arbeitsschutz seit den 1970er Jahren mit dem Schutz vor Verletzungen als Teilgebiet des Systems der Arbeitsgestaltung neu definiert und in die Wechselwirkung der „Anpassung des Menschen an die äußeren Bedingen der Arbeit“ (z.B. Eignungsuntersuchungen, Weiterbildung, Methoden der Leistungsmotivation) und der „Anpassung der äußeren Bedingungen an den Menschen“ (Ergonomie) eingeordnet.40 Im Rahmen der „Ergonomischen Gemeinschaftsaktion“ der EGKS wurde an der seit 1980 errichteten neuen Stranggießanlage ein Projekt zur „Gestaltung von Arbeitsplätzen an Stranggießanlagen nach ergonomischen Erkenntnissen“ durchgeführt. Organisatorisch war es dabei an Vertreter des Betriebes angegliedert: an die Vertreter der zentralen Abteilung für Ergonomie und Arbeitsschutz, den Produktionsbetrieb und die Neubauabteilung, aber auch Einrichtungen wie den konzerneigenen Hersteller der Anlage, der Mannesmann Demag Hüttentechnik.41 Durch die in erster Linie technisch und produktionsbedingt motivierte Umstellung vom konventionellen Kokillen- zum Stranggießverfahren war hier im Stahlwerk auch eine Arbeitsplatzneu- und -umgestaltung erfolgt. Hintergründe und Erklärungsansätze dieses Wandels der industriellen Arbeitsplätze sind an einigen ausgewählten Aspekten zu verdeutlichen: Wie bereits für die Rationalisierung der 1920er Jahre durch Christian Kleinschmidt beschrieben, kam es auch bei dieser Automatisierung in der
40 Schneider: Arbeitsgestaltung, 1972, S. 2. 41 Vgl. Röbke: Beitrag Ergonomie, 1985, S. 74 sowie ausführlich den Abschlussbericht des Projektes Salzgitter AG-Konzernarchiv/Mannesmann-Archiv, Mülheim a. d. Ruhr: M 21.516, Röbke: Gestaltung von Arbeitsplätzen an Stranggießanlagen nach ergonomischen Erkenntnissen. Schlußbericht. Mannesmannröhren-Werke AG, Hüttenwerk Huckingen (= IV. Ergonomieprogramm der EGKS, Ergonomische Gemeinschaftsaktion), Düsseldorf/Duisburg-Huckingen 1983. Etwa zeitgleich erfolgten auch ähnliche Maßnahmen bei der Errichtung eines neuen Hochofens im selben Hüttenwerk unter vergleichbaren inhaltlichen Prämissen und Ergebnissen, vgl. Röbke: Planungsergonomie, 1984.
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zweiten Hälfte des Jahrhunderts als „Nebeneffekt“ zur Reduzierung unmittelbarer Belastungs- und Gefahrenquellen.42 Bei den Umbaumaßnahmen der Produktion zu einer Stranggießanlage handelte es sich zunächst seit den 1960er Jahren um ein technisches Beispiel für die Automatisierung des Produktionsprozesses.43 Durch den Einsatz neuartiger Maschinen sollte nicht nur ein neuer Prozess mit all seinen Vorteilen für betriebliche Prozesse und ökonomische Aspekte geschaffen werden, mit der Einführung einer neuen Gießtechnik war auch eine grundsätzliche Neubewertung des Arbeitsplatzes des Stahlgießers verbunden: Durch den Übergang vom Kokillen- zum Strangguss hatte sich zugleich der als Schwerarbeit charakterisierte Produktionsprozess – mit Gefahren gesundheitlicher Schäden durch Umweltbelastungen aber auch durch Unfallrisiken – zu einer umfangreichen Überwachungstätigkeit der Produktionsmaschinen verschoben. Das Vergießen des flüssigen Stahls in einzelne Blöcke wurde durch den kontinuierlichen und weitestgehend automatisierten Guss in einem langen Strang abgelöst. Einerseits kam es so zu physischen Arbeitserleichterungen für die im Gießbetrieb tätigen Arbeiter. Dies wurde insbesondere durch Mechanisierung und die Entwicklung mechanischer Hilfsmittel sowie durch Wegfall einzelner Arbeitsschritte oder ergonomischer Neugestaltung (z.B. Klimatisierung des Leitstandes) erreicht.44 Andererseits waren in den angegliederten Arbeitsbereichen auch weiterhin muskuläre Aufgaben zu verrichten, die sich insbesondere auf die Schwerpunktbereiche Vorbereitung, Endfertigung und Abtransport konzentrierten. Bei dem neu angewandten Gießprozess bildete fortan die feststehende Gießform (Kokille) das Zentrum des Produktionsnetzes, um das sich alle Aggregate anordneten.45 Der Gießbetrieb vollzog sich weitestgehend automatisch und war nun maßgeblich bestimmt durch die Zulieferung des Rohstahls und der Gießgeschwindigkeit. Eine Gießsequenz betrug bis zu 180 Minuten, wobei der große technische und wirtschaftliche Vorteil, nämlich die „größere Gleichmäßigkeit des Gießvorganges“46 gleichzeitig auch zu
42 Vgl. Kleinschmidt: Rationalisierung, 1993, S. 90. 43 Vgl. Wessel: Huckinger Hüttenwerk, 1993, S. 162-164. 44 Vgl. Gerling: Sicherheitsaspekte, 1979, S. 115; Röbke: Beitrag der Ergonomie, 1985, S. 74-78. 45 Vgl. Gerling: Sicherheitsaspekte, 1979, S. 122. 46 Ebd., S. 120.
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einer neuen Form der Belastung des menschlichen Körpers im Betrieb wurde. Auch zum Ende des 20. Jahrhunderts orientierte sich hier die Arbeit am Takt der Maschine. Noch immer war gerade im Bereich der Großanlagen eine Unterbrechung des laufenden Produktionsbetriebes mit den größten Gefahren (insbesondere Überlauf- und Explosionsgefahr) verbunden. Insbesondere menschliche Zuliefer-, Reparatur- und Wartungsarbeiten gerieten damit zunehmend in das Blickfeld weiterhin physisch geprägter, industrieller Arbeitsplätze. Der eigentliche Produktionsprozess des Gießens erforderte hingegen zunehmende Steuerungs- und Überwachungstätigkeiten, die so insbesondere im Störfall schlagartig zu hohen mentale Anforderungen, wie z.B. erhöhten Konzentrationsleistungen oder schnellem Reaktionsvermögen, umschlagen konnten.47 Mit der Einführung einer neuen Stranggießanlage im Stahlwerk des Hüttenbetriebes ist also eine Senkung der unmittelbaren Gefahr durch Technisierung und Automation zu konstatieren; auch die physischen Belastungen nahmen bis auf punktuelle Ausnahmen mit Einführung der Technik massiv ab. Zugleich verschoben sich jedoch auch die Schutzanforderungen für den Körper des Arbeiters auf Grund neuer Belastungen und Gefährdungen, mit denen die Akteure nach und nach in der praktischen Anwendung des Automatisierungsprozesses konfrontiert wurden. Sie verlagerten sich mit der zunehmenden Steuerungs- und Überwachungstätigkeit sowohl physisch als auch psychisch auf die Problematik der Bildschirm- und Überwachungsarbeitsplätze, auf ein enges Wechselspiel von technischer Prozessautomation und menschlicher Entscheidung im hybriden System.48 Im Rahmen des EGKS-Forschungsprojektes wurden noch in der Planungsphase einer neuen Stranggießanlage die weiterhin bestehenden Belastungen der Technik als „Restrisiken“ einer Prüfung unterzogen und Maßnahmen abgeleitet, die zukünftigen Arbeitsplätze nach gezielt ergonomischen Maßstäben neu- und umzugestalten. Das Unternehmen betonte hier die betriebswirtschaftliche Bedeutung der Arbeitsplatzgestaltung: Neben der unmittelbaren Risikoregulierung der Unfälle und ihrer betrieblichen Kosten wurde insbesondere auch auf ökonomischen Vorteile der Arbeits-
47 Vgl. ebd., S. 118-121. 48 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Cramer und Weyer in ihrer Studie zur vollautomatisierten Containerverladung im Logistikbereich. Cramer/Weyer: Interaktion, 2007, S. 278-282.
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platzattraktivität, z.B. durch die Senkung von Fluktuation und Fehlzeiten, und die Steigerung der individuellen Arbeitsproduktivität, etwa über effizientere Arbeitshandlungen, hingewiesen. Hierzu wurden die Aufgaben von Technik- und Arbeitsgestaltung auch nach mittelbaren, sozialen Aspekten wie der „[...] Erreichung hoher Arbeitszufriedenheit, im Schutz vor Befindlichkeitsbeeinträchtigungen, Gesundheitsschäden und vor arbeitsbedingten Erkrankungen“49 definiert. Hinzu kamen selbstverständlich auch die gesetzlichen Verpflichtungen zur Gestaltung von Arbeitsplätzen nach ergonomischen Erkenntnissen, wie sie beispielsweise die Arbeitsstättenverordnung, das Arbeitssicherheitsgesetz oder die Arbeitsstoffverordnung vorschrieben.50 Ausgangspunkt war die Annahme, dass die Substitution konventioneller Verfahren durch neue Technologien nur selten die ergonomischen Probleme vollständig eliminiere. Einzelne physisch-muskuläre Anforderungen (u.a. in den Bereichen Gießvorbereitung, Brennschneiden, Abtransport) oder belastende Umwelteinflüsse (Lärm, Vibration) blieben auch weiterhin erhalten und wurden zum Beispiel durch Einkapselung des Gießstandes oder der Steuerung des Schneidens und Abtransportes der fertigen Stränge lediglich reduziert.51 Andere Tätigkeiten wurden durch zunehmende mentale Anforderungen überlagert. So wurden z.B. die Leitstände (z.B. Ausrichtung der Bildschirmarbeitsplätze, Lenkung über einen zentralen Leitrechner), Krananlagen und Steuerstände durch die Entwicklung technischer Hilfsmittel oder elektronischer Verwaltungshilfen für die großen Informationsmengen in Anordnung, Funktion und Ausstattung umgestaltet.52 An der Schnittstelle zur Vollautomatisierung kam es hier auch zu einer zunehmenden Konfrontation mit neuen und weiterreichender Problemen, Belastungen und Risiken in der von der Techniksoziologie in Anlehnung an Bruno Latour als „hybride Systeme“ bezeichneten Interaktion von technischer Vollautomatisierung und punktueller menschlicher Steuer- und Ent-
49 Röbke: Beitrag Ergonomie, 1985, S. 73. Damit ähnelt die Debatte auch den Überlegungen bereits aus den 1920er Jahren, vgl. Lupa: Ethik, 1993, S. 60-72. 50 Vgl. Röbke: Beitrag Ergonomie, 1985, S. 73. 51 Vgl. Abbildungen ebd., S. 77-78. 52 Vgl. ebd., S. 74-78.
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scheidungstätigkeit.53 Dies traf unter anderem auf den zentralen Gießleitstand zu: Die gleichmäßigen und zugleich mit starken Konzentrationsleistungen verbundenen Steuerungs- und Überwachungstätigkeiten konnten im regulären Betrieb zu Unterforderungen und in Störfällen rasch zu Überforderungen führen. Insbesondere die hohe Gießgeschwindigkeit der neuen Anlagen erforderte an einzelnen Arbeitsplätzen hohe informatorischmentale Leistungen. Zentrale Frage der Ergonomie in der Interaktion von Mensch und Maschine war die Verarbeitung von Informationsdetails aus dem Gießbetrieb, die durch den Einsatz eines neuen EDV-gesteuerten Farbvideo- und Störmeldesystems gelöst werden sollte. Der ErgonomieBeauftragte des Konzerns Rüdiger Röbke bewertete diese Neuerung als maßgeblichen Fortschritt in der Vereinfachung der Konzentrationsfähigkeit und mentalen Leistungsanforderung am Arbeitsplatz des Gießers: Die Installation von drei Monitoren zeigte zukünftig die „[...] relevanten Daten der Anlagensteuerung und alle Störungen an [...]. Dieses System ersetzt rund 360 Anzeigen einer konventionellen Informationsdarstellung, die die Mitarbeiter bei der Dauerbeobachtung und bei der Erkennung von Mehrfachstörungen überfordert hätte.“54 Der EDV-gesteuerte Gießbetrieb sollte so durch eine übersichtliche Gestaltung die menschliche Entscheidungsfindung im Störfall unterstützen; zugleich eliminierte sie viele manuelle Tätigkeiten im Regelbetrieb. Hier als technisch-ergonomischer Fortschritt betont, reflektieren Cramer und Weyer diese Entwicklung rund 20 Jahre später als eine deutliche Veränderung der menschlichen Kontrollfunktion im Mensch-MaschineVerhältnis: „Der Mensch wird zu einem passiven Beobachter eines Systems, das er immer weniger versteht. Er muss sein Verhalten der Maschine anpassen und wird dabei zunehmend zu passiv-reaktivem Verhalten gezwungen.“55 Allein der Störfall wird gegenüber der Arbeitsroutine zur zentralen Aufgabe, die menschlichen Potenziale der Deutungsarbeit (durch Erfahrung, Kenntnisse, Reflexionsvermögen) werden zur unmittelbaren Entscheidungsinstanz des hybriden Systems.56
53 Vgl. Cramer/Weyer: Interaktion, 2007, S. 267-270; durchaus kritisch Rammert: Technik, 2007, S. 86-89. 54 Röbke: Beitrag Ergonomie, 1985, S. 76. 55 Cramer/Weyer: Interaktion, 2007, S. 279. 56 Vgl. ebd., S. 277.
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Um dieser auch zeitgenössisch wahrgenommenen Diskrepanz monotoner Überwachungstätigkeit einer weitgehend autark agierenden Maschine und extremer Konzentrationsleistung und Reaktionsschnelle im Störfall entgegenzuwirken, wurde auch eine Steigerung der Arbeitsmotivation durch Erweiterung des individuellen Tätigkeitsbereiches („Arbeitsinhaltsgestaltung“) angestrebt. Die Gleichförmigkeit der Arbeit und damit eine abnehmende Konzentration sollte durch einen regelmäßigen Arbeitsplatzwechsel verhindert und gleichzeitig ein größeres Verständnis für die Gesamttätigkeit des Gießbetriebes geschaffen werden. Sie sollte so als ökonomisches Ziel sowohl unmittelbar – durch Rationalisierung –, als auch mittelfristig über die Förderung von „Verantwortungsbewusstsein“ und „Motivation der Mitarbeiter“ zur Steigerung der Arbeitsproduktivität beitragen.57
6. ARBEITSPLATZGESTALTUNG UND G ESUNDHEITSSCHUTZ An der Schnittstelle maschineller Vollautomatisierung und punktueller menschlicher Entscheidungs- und Eingriffsgewalt verschoben sich in der Interaktion Aufgaben und Rollen der menschlichen wie nicht-menschlichen Akteure des Gießbetriebes. Für den Arbeiter und seinen Körper bedeutete dies in erster Linie eine Verlagerung des individuellen Anforderungsprofils zu einer hervorgehobenen und beschleunigten Informationsverarbeitung. Zum einen veranschaulicht das vorgestellte Projekt auf der inhaltlichen Ebene, in welcher Weise die Akteure versuchten, Einfluss auf den Gestaltungsprozess der Großanlage zu nehmen. Zum anderen offenbart die Publikationstätigkeit des Projektleiters Röbke die betriebliche Einflussnahme auch auf den darüber angesiedelten, ergonomischen Diskurs. Sowohl vor- als auch nachgelagert publizierte er in branchenspezifischen Fachzeitschriften („Stahl und Eisen“, Mitteilungsblatt des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaften) und in der arbeitswissenschaftlich-ergonomischen Handbuch- und Ratgeberliteratur („Arbeitsgestaltung“) praktische Definitionen und Ziele betrieblicher Arbeitsgestaltung. In einer Syn-
57 Röbke: Beitrag Ergonomie, 1985, S. 78; Kuhn: Betriebliche Gesundheitsförderung, 2003, S. 166-167.
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these wissenschaftlicher Rezeption und betrieblicher Erfahrungswerte anhand der durchgeführten Forschungsprojekte, die er so einem breiteren Publikum vorstellte, griff er selbst aktiv in den Diskurs „menschengerechter Arbeitsgestaltung“ ein.58 So wurde auch das vorgestellte Projekt der Stranggießanlage auf der Tagung der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft 1983 und auf dem Eisenhüttentag 1984 in Düsseldorf der Fachwelt zugänglich gemacht.59 Die Forschungsprogramme der EGKS können als eine Plattform des kommunikativen Austauschs mit Steuerungsfunktion über die Bereitstellung der Geldmittel identifiziert und die beteiligten Akteure dabei als lockeres Netzwerk begriffen werden. Die beeinflussenden Faktoren reichen von der technischen Rationalisierung (nach betriebswirtschaftlichen Prämissen) und der Unfallverhütung (durch Maschinenschutz, Rahmenvorschriften, persönlicher Schutzausrüstungen) bis zur Arbeitswissenschaft und Ergonomie (technisch, aber insbesondere auch durch individuelle Leistungsund Belastungsgrenzen, Schulung sicherer Verhaltensweisen). Dabei betonte Röbke selbst die Prämisse betriebswirtschaftlicher Zusammenhänge für die im Wettbewerb agierenden Unternehmen: „Der Ergonom muß nicht nur über die erforderliche Fachkunde verfügen, sondern auch die betrieblichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge erkennen und aus diesem Grundverständnis für die gesamte Anlage arbeitsgestalterische Lösungen entwickeln, die sich in das Rahmenkonzept integrieren lassen.“60 In der Frage des Ergonomie-Diskurses hatte bereits 1957 der Arbeitsdirektor der Aktiengesellschaft für Berg- und Hüttenbetriebe Salzgitter, Adolf Jungbluth, darauf hingewiesen, dass es Aufgabe der Werksärzte sei, im Prozess der Rationalisierung ganz grundsätzlich „[...] die Auswirkungen der Arbeit auf den Menschen zu studieren und für Ausschaltung schädigender Einflüsse im weitesten Sinne zu sorgen. Im Interesse des Menschen wird er noch weiter streben und versuchen, die Arbeit nicht nur schadenfrei, sondern auch angenehm zu machen.“61 Dies fand u.a. in einer zuneh-
58 Vgl. u.a. Röbke: Psychologische Belastung, 1975; Röbke: Arbeitsgestaltung, 1980; Röbke: Beitrag Ergonomie, 1985. 59 Vgl. „Arbeitsgestaltung nimmt an Bedeutung zu“, in: Mannesmann-Illustrierte, Der Werktag, 11-12/1983, S. 35; Röbke: Beitrag Ergonomie, 1985, S. 73. 60 Ebd., S. 79. 61 Jungbluth: Arbeitsdirektor, 1957, S. 170.
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menden technischen Ausrichtung auf die Verminderung schädlicher Umwelteinflüsse (wie Hitzearbeit oder Lärmbekämpfung) auch in den ersten Forschungsansätzen der EGKS zur Arbeitshygiene und Arbeitsmedizin ihren Niederschlag.62 Seit den frühen 1970er Jahren zeichnete sich schließlich im Kontext des Diskurses der „Humanisierung der Arbeitswelt“ die sukzessive Gesamtausrichtung einer „menschengerechten Arbeitsgestaltung“ ab, die als eine „menschenfreundlichere Arbeitswelt“ bis in die 1980er Jahre hinein nicht zuletzt auch mehr Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und Anerkennung des werktätigen Menschen einforderte.63 In diesem Diskurs können dabei neben zentralen Akteuren aus Wissenschaft, Politik, Industrie und Gewerkschaften auf der mikrohistorischen Ebene Teilnehmer der aufgezeigten Forschungsprojekte als wichtige Einflussfaktoren identifiziert werden: So hatte der Sicherheitsingenieur Schneider der Düsseldorfer Konzernzentrale bei Mannesmann in einer Publikation des Bundesinstituts für Arbeitsschutz bereits 1971 die grundlegenden Merkmale einer „menschengerechten Arbeitsgestaltung“ aus betrieblicher Sicht definiert. In Ergänzung zur technischen Rationalisierung sah er hier die Leistungsförderung mit und durch Erhalt des gesunden Arbeiters als eindeutiges Ziel der Arbeitsgestaltung. Nur ein dauerhaft gesunder Körper, geschützt sowohl gegen Unfallgefahren als auch gegen kontinuierliche Belastungen durch „Fehlanpassungen von Mensch und Arbeit“64, könne eine Leistungsminderung des ökonomischen Faktors „Arbeit“ für den reibungslosen betrieblichen Ablauf verhindern.65 Zugleich bemängelte er zu diesem Zeitpunkt noch, dass die Arbeitsgestaltung in enger Abstimmung des „Mensch-Maschine-Systems“ und der damit verbundenen Vermeidung von Fehlanpassungen von Arbeit und Mensch in der praktischen betrieblichen Anwendung häufig vernachlässigt würde. Vielmehr dominiere bislang insbesondere die rein ingenieurmäßig gesteuerte Technikgestaltung und müsse durch die Kriterien „biologischer Gesetzmäßigkeiten“ des menschlichen Körpers ergänzt werden: „[D]ie Gestaltungsmethoden selbst unterscheiden sich von denen der Rationalisierung nicht; deshalb ist Arbeitsges-
62 Vgl. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Hohe Behörde (Hg.): Vierter Gesamtbericht, 1956, S. 249-255. 63 Vgl. Kreikebaum/Herbert: Humanisierung, 1988, S. 81-84. 64 Schneider: Menschengerechte Gestaltung, 1971, S. 2. 65 Vgl. ebd., S. 2-4.
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taltung nicht als etwas Isoliertes, Selbständiges, sondern in Verbindung mit der technischen Rationalisierung durchzuführen.“66 Nach der betrieblich orientierten Position Schneiders definierte sich der moderne Arbeitsschutz so zunehmend als Zusammenspiel von Arbeitsgestaltung – als auf die langfristige Erhaltung der Gesundheit angelegter Schutz des Organismus – und der Arbeitssicherheit – als Unfallverhütung und somit Schutz des Körpers vor plötzlichen Verletzungsgefahren. Diese Ausrichtung sollte jedoch nicht mit dem Postulat reinem unternehmerischen „Altruismus“ verwechselt werden. Schließlich handelt es sich um ein in erster Linie ökonomisch wirtschaftendes Unternehmen. So betonte auch Condrau es ließen sich „[...] berufsbedingte Krankheiten bzw. Unfälle ökonomisch als Transaktionskosten bezeichnen, die durch erfolgreiche Externalisierung historisch immer wieder auf die sozialen Sicherungssystem abgewälzt werden konnten.“67 Neben diesen direkten Unfallkosten (z.B. Versicherungsleistungen) diente der Arbeits- und Gesundheitsschutz über die Vermeidung von Produktionsausfällen oder Arbeitszeitverlusten auch der betrieblichen Risikominderung indirekter Kosten. Arbeitssicherheit und Gesundheitspolitik bilden hier aus unternehmenshistorischer Perspektive Instrumente, um mittel- und unmittelbar regulierend auf Unfallkostenrisiken einzuwirken und die individuelle Leistungsfähigkeit zu stimulieren: Auch bei Maßnahmen der Arbeitsgestaltung war und blieb die Frage der Leistungssteigerung – durchaus in einer Kontinuität zur bereits vielfach angesprochenen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – oberstes Ziel. Schließlich wurde auch von den zeitgenössischen Akteuren Arbeitsgestaltung als ein flankierendes Instrument der (technischen) Rationalisierung herausgestellt. Schneider nennt dabei zentrale Begriffe wie „Nutzung ablaufbedingter Wartezeiten“, „Eignungsauslese“ und „Leistungsoptimierung“ (weiterhin als optimale Abstimmung zwischen Technik und Körper z.B. bei der Bedienung einer Maschine)68 aber auch „fähigkeitsgerechte Anforderungen“, sprich der Vermeidung von Unterforderungssituationen. Diese erinnern im Kern stark an arbeitswissenschaftliche Entwicklungen im Bereich
66 Ebd., S. 3-4. 67 Condrau: Arbeitsplatz, 2004, S. 243. 68 Vgl. dazu auch den Beitrag von C. Schnaithmann zu arbeitsphysiologischen Studien und Büroarbeitsplätzen in diesem Band.
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der Ermüdungs- und Monotonieforschung.69 Im Sinne der „Humanisierung der Arbeit“ sollten hier nicht nur physische Leistungs- und Belastungsgrenzen beachtet, sondern auch eine „erfüllende“ Arbeitstätigkeit mit individueller Partizipation und Verantwortungsbereiche durch mentale Anforderungen und eine erneuerte Arbeitsinhaltsgestaltung im automatisierten Betrieb berücksichtigt werden.70 Die Frage der Arbeitszufriedenheit wurde auch als Element der körperlichen Unversehrtheit verstanden.71 Die Arbeitsgestaltung sollte dabei mehr und mehr als ein Instrument zur Regulierung des Gesundheitsrisikos fungieren und umfasste in diesem Sinne zugleich auch eine Optimierung des Handlungssystems zwischen Mensch und Maschine. Zentraler Zugriffspunkt ist hier jene Schnittstelle, an der beide Akteure in eine Interaktion treten (die allgemeine Maschinensteuerung wie auch der Störfall). Dabei handelt es sich gerade an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, wie am hier dargestellten Fallbeispiel verdeutlicht, um eine Form „soziotechnischen Handelns“ über die reine Techniksteuerung durch den Menschen hinaus.72 Weder die reine Reaktion, also korrektive Maßnahmen an der Maschine nach menschlichen Bedürfnissen, noch eine grundsätzliche Gestaltung der Technik nach menschlichen Anforderungen – schließlich war die Technik gerade aufgrund ihrer quantitativen und qualitativen Verbesserungen im Stahlgussbereich so erfolgreich – waren hier das Maß der praktischen Betriebsgestaltung. Eine Synthese ergonomischer, ökonomischer und technischer Interessen, Forderungen, Möglichkeiten und Erwartungen führte in einem komplexen Wirkungsgeflecht die unterschiedlichen Akteure und Interessensvertretungen (Techniker, Ökonomen, Arbeitnehmer, Mediziner, Sicherheitsfachleute, Ergonomen, Betriebsleiter etc.) zumindest zu einem Kompromiss in der praktischen Rationalisierung des Produktionsbetriebes zusammen. Im Sinne eines umfassenden Netzwerkes rund um die Maschine deckten die praktischen arbeitsgestalterischen Maßnahmen zahlreiche Diszipli-
69 Vgl. Schneider: Menschengerechte Gestaltung, 1971, S. 6-26. 70 Vgl. zeitgenössisch ebd., S. 24-25; Röbke: Beitrag Ergonomie, 1985, S. 78; allgemein: Gaugler: Humanisierung, 1977, S. 28. 71 Vgl. zeitgenössisch Kreikebaum/Herbert: Humanisierung, 1988, S. 82-95; zuletzt Sauer: Humanisierung, 2011, S. 19-20. 72 Vgl. Cramer/Weyer: Interaktion, 2007, S. 268-269.
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nen und Akteure ab: die Technik- und Maschinenentwicklung, den an den einzelnen Arbeitsplätzen eingesetzten Arbeiter, medizinische und sicherheitstechnische Einflüsse durch betriebsinterne Sicherheitsingenieure, Ergonomen und Betriebsärzte, externes wissenschaftliches (technisches, arbeitswissenschaftliches) Know-how und nicht zuletzt ökonomische Rahmenbedingungen.
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AUSBLICK
Entsprechend der vorangegangenen Fragestellung teilt sich auch das Fazit der Betrachtungen in ein inhaltliches Ergebnis zur Rekonstruktion der Einflussfaktoren und Auswirkungen eines umfassenderen Gesundheitsverständnisses als Risikoregulierung am Arbeitsplatz zum Ende des 20. Jahrhunderts sowie in eine methodische Reflexion zur Wahrnehmung und Modifikation des Körpers des Industriearbeiters im Spannungsfeld von Risikoregulierung und fortschreitender Rationalisierung. Die inhaltlichen Ergebnisse deuten auf eine zunehmende Komplexität des Arbeitsschutzes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin: Ein umfassender Arbeitsschutzgedanke mit neuen Mechanismen der Risikoregulierung setzte sich, unter anderem über das hier aufgegriffene Beispiel der Disziplin der Ergonomie, neben der reinen Unfallverhütungsarbeit durch. Mit ihm war letztendlich ein Wandel der Wahrnehmung der industriellen Arbeitsplatzgestaltung und des Körpers des Arbeiters in hybriden MenschMaschine-Konstellationen verbunden, der zunehmend mit neuen Belastungs- und Risikofaktoren im fortschreitenden Automatisierungsprozess konfrontiert wurde.73 Im Sinne einer historischen Betrachtung von Technikgenese und betrieblicher Sicherheitsarbeit präsentiert sich der Arbeitsschutz zugleich zunehmend als Netzwerk gestaltender Akteure, die durch einen allgemeinen Humanisierungsdiskurs in Wissenschaft, Gesellschaft, Politik und Unternehmen auch jenseits der historisch-dualistischen Pole Berufsgenossenschaft-Gewerbeaufsicht, Arbeitnehmer-Arbeitgeber oder ähnlichen Konstellationen beeinflusst wurde.
73 Vgl. für eine neue Perspektive der Technikgestaltung im Spannungsfeld technischer Systeme und sozialer Akteure Rammert: Aktion, 2006, S. 188-192.
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Sowohl die nationale Förderung des Bundesministeriums für Forschung als auch der hier thematisierten EGKS boten beispielsweise den finanziellen Rahmen und Anreiz, die grundsätzlichen Maßgaben relativ abstrakter Ansprüche von Arbeitsplatzgestaltung nach arbeitswissenschaftlichen Standards konkret auf der betrieblichen Ebene und in einem größeren Umfang im gewandelten Arbeitsprozess an der Schwelle zur Vollautomatisierung umzusetzen. Diese Projekte wirkten letztendlich über die gemeinsame Generierung von Wissen auch auf eine Form der praktischen Grundlagenforschung zurück.74 Mit Hilfe der internen und externen Verflechtungsmechanismen konnten so ausgewählte Akteure zum Abschluss der sich neu positionierenden Arbeitsschutzwelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts identifiziert werden: Über den Einsatz einer interdisziplinären und betriebsübergreifenden Arbeitsgruppe kam es zu einer umfangreichen Kooperation sonst häufig isoliert agierender Arbeitsbereiche. Ergonomie und Arbeitsschutz waren mit ihren entsprechenden Experten im Unternehmen bereits verankert, die technische Seite wurde dabei insbesondere von der Konzern- und Betriebsleitung nach ökonomischen und von den Planern und Entwicklern nach betriebstechnischen Aspekten gesteuert. Anknüpfend an den Technikgenese-Ansatz und der Frage nach Darstellungsformen solch komplexer Einflussfaktoren und Impulse bildet der interpretatorische Zugang eines Innovationsnetzwerkes hier eine methodische Orientierungshilfe, um inhaltliche Verflechtungen über die Identifizierung maßgeblicher Akteure und ihrer Funktionen festzustellen und organisatorisch wie inhaltlich zu analysieren.75 Kanäle und Wege des Wissenstransfers über die Organe der EGKS wurden hier als äußere Organisationsstruktur angedeutet und nähern sich zugleich der inhaltlich veränderten Wahrnehmung und Ausgestaltung industrieller Arbeitsplätze, also dem Wechselspiel von Diskurs und betrieblicher Praxis, an.76 Der kultur- und sozialwissenschaftliche Ansatz orientiert sich dabei insbesondere an der gewandelten Rolle des Arbeiters und seinem Schutz
74 Vgl. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl/Hohe Behörde: Menschliche Faktoren Ergonomie, 1967, S. 19-20. 75 Vgl. Rammert: Technik 2, 2000, S. 181-189. 76 Dabei stellt das Wissensmanagement auch weiterhin eine zentrale Frage des Arbeitsschutzes im 21. Jahrhundert dar. Vgl. Bieneck: Management, 2002, S. 3.
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am Arbeitsplatz: Die Frage einer entsprechenden Gestaltung der Arbeitsplätze offenbart hier einen Wirkungskomplex, den Gugutzer als „den „produktive(n), effektive(n) und nützliche(n) Körper“77 Foucaults beschreibt. Zeitgenössisch wurde die Aufgabe der Arbeitsgestaltung genau in diesem Bereich definiert, sie verfolge schließlich in ihren unterschiedlichen Ausprägungen über eine Belastungsoptimierung des Körpers sowohl Erhalt und Förderung der Gesundheit einerseits sowie die Steigerung von Arbeiterzufriedenheit und damit nicht zuletzt auch Leistungsfähigkeit und -bereitschaft andererseits.78 Der Schutz des Arbeiters trägt hier eine deutliche biopolitische Handschrift im Spannungsfeld „menschengerechter Arbeitsgestaltung“ und betrieblich-ökonomischer Realität, die somit auch in der Mitte der Rationalisierungsfrage und der Frage nach der wirtschaftlichen Produktivität des Industriearbeiters verortet ist. Der Aspekt der Disziplinierung des Arbeiters und seines Körpers schließt sich hier im Bereich verbleibender Unfallgefahren und Belastungen unmittelbar an: Über Verhaltensvorschriften, Körperschutzmittel, aber auch die durch Anordnung und Ausstattung der Arbeitsplätze erfolgte auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine z.T. durchaus (technisch) vorgegebene „gesunde“ und „korrekte“ Körperhaltung.79 Sowohl die unmittelbare Arbeitsökonomie, der Schutz vor den (technischen) Risiken der Maschine und den Umweltbelastungen im Produktionsprozess, als auch die indirekte, langfristige körperliche Unversehrtheit sind hier unter dem Begriff des Arbeitsschutzes zu berücksichtigen. Darüber hinaus erscheinen auch neue Bereiche körperlicher Risiken auf der Agenda, die so gar nicht mehr den Bereichen eines traditionellen Industriearbeiters entsprechen wollten. Insbesondere Stress- und Unterforderungssituationen wirkten sich hier durch die weitestgehend technischautonomen Produktionsprozesse im Gießbetrieb durch den Takt der Maschine und der erforderlichen mentalen Überwachungstätigkeit aus.80 Der Körper des Arbeiters wurde so in der Wechselwirkung biologischer Belastungsgrenzen und einer im Kontext der Rationalisierung zu verortender
77 Gugutzer: Soziologie, 2010, S. 66. 78 Vgl. Röbke: Arbeitsgestaltung, 1980, S. 317-318. 79 Vgl. dies z.B. anknüpfend an die Schulbank und beispielhaft der „korrekten Schreibhaltung“ bei Hnilica: Disziplinierte Körper, 2003, S. 26. 80 Vgl. Cremer/Weyer: Interaktion, 2007, S. 278-282.
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Leistungssteigerung mittelbar und unmittelbar geformt. Er wurde dabei Gegenstand einer gesamtgesundheitlichen Prävention, die auf eine langfristig abrufbare Leistungsbereitschaft abzielte. Entsprechend der eingangs zitierten Risikodefinition galt es neben akuten Unfallgefahren am Arbeitsplatz auch chronische Belastungen und damit Gesundheitsrisiken zu erfassen und zu minimieren, zu denen zunehmend auch psychologische Belastungssituationen zählten. Der an der interdisziplinären Thematik des Untersuchungsgegenstandes orientierte Zugriff eröffnet hier die Sicht auf umfassende Einflussfaktoren auf das zunehmend komplexere betriebliche Arbeitsschutzsystem, das über normative Vorgaben und sozialpartnerschaftliche Diskurse hinaus betrachtet werden muss. Der Problemaufriss über das Fallbeispiel eines Forschungsprojektes, das die Problematik als Schlaglicht im Brennglas erkennen lässt, ermöglicht eine zumindest punktuelle Nennung konkreter Akteure, die sonst so häufig hinter abstrakten Begriffen des Sozialen, der Technik, der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft oder der Umwelt verschwinden. Diese Fallbeispiele bieten die Chance eines konkreten Quellenzugangs, der einen Blick auf verschiedene Facetten und nicht zuletzt auf die subjektiven Einflussmomente auf den Körper des modernen Industriearbeiters ermöglichen kann. Einige Thesen sind hier bereits angesprochen, erste Lösungs- und Interpretationsansätze umrissen und dabei zugleich noch viel weiteres Forschungspotenzial aufgeworfen worden. Die Perspektive einer erneuerten Sozial- und Kulturgeschichte sollte dabei die Chance eines Forschungsansatzes der Rationalisierung und Automatisierung industrieller Arbeitsplätze über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus nutzen. Hier muss sich in der erneuerten Industriegeschichte der Blick – auch als zukünftiges Forschungsfeld des Zeithistorikers – bis ans Ende des Jahrhunderts weiten, um Spezifika, Kontinuitätslinien und Brüche des gesamten 20. Jahrhunderts zu hinterfragen, die nicht zuletzt auch als Anknüpfungspunkt techniksoziologischer Fragestellungen und heutiger Arbeitsrealitäten dienen. Ausstellungsprojekte zur „Zukunft der Arbeit“ haben dies im musealen Umfeld bereits aufgegriffen.81 Dabei gilt der Körper auch in der Post-Industrialisierung weiter als elementares Kapi-
81 Vgl. dazu die entsprechenden Begleitkataloge Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Hauptsache Arbeit, 2009; Tyradellis/Lepp: Arbeit, 2009.
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tal mit individuell existenzsichernder Funktion. So titelte auch eine 2008/ 2009 ausgerichtete historische Sonderausstellung des Hoesch-Museums zur Gesundheitswirtschaft im betrieblichen Kontext mit einem aus den 1920er Jahren stammenden Unfallverhütungsbild: „Gesundheit ist Reichtum“.82
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Strahlenschutz im Uranbergbau DDR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich M ANUEL S CHRAMM
Der Aufsatz vergleicht die Strahlenschutzregime im Uranbergbau der DDR und der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die achtziger Jahre. In beiden Systemen stellte sich das Problem, den Schutz der Beschäftigten mit einer möglichst effizienten Förderung von Uranerz im Kontext des Kalten Krieges zu vereinbaren. Unterschiede existierten im gesellschaftlichen und politischen Kontext des Bergbaus, weniger in der verwendeten Technik und in den zugrunde gelegten Strahlenschutznormen. Hinsichtlich letzterer orientierten sich die Ende der fünfziger Jahre einsetzenden Strahlenschutzmaßnahmen an Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP). Allerdings zeichnete sich der sächsisch-thüringische Uranbergbau nicht nur durch sein größeres Ausmaß (und entsprechend größeres Gefährdungspotential) aus, sondern auch durch quasi-militärische Geheimhaltung. Die Relevanz des Themas für die Geschichte der Arbeitssicherheit und des Arbeiterschutzes dürfte auf der Hand liegen. Im Uranbergbau stellt weltweit der Strahlenschutz eines der wichtigsten Probleme dar, da hier die Beschäftigten einem höheren Strahlenrisiko ausgesetzt sind als einerseits in anderen Bergbaubetrieben (obwohl auch dort Strahlenschutzprobleme auftreten können) und als andererseits Beschäftigte in anderen Phasen des Brennstoffkreislaufs, z.B. in Atomkraftwerken. Gleichzeitig lässt sich die radioaktive Strahlung und die damit verbundene Gefährdung auch als Beispiel für die Produktion sozialer Realität
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durch Diskurse ansehen.1 Schließlich ist die Strahlung den menschlichen Sinnesorganen nicht unmittelbar zugänglich, sondern muss erst durch geeignete Messinstrumente erfasst und sicht- oder hörbar gemacht werden.2 Insofern bot der Strahlenschutz als Macht-Wissen-Komplex im Prinzip einen guten Ansatzpunkt für wissenschaftliche Experten, in die Gestaltung von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen einzugreifen und diese neu zu strukturieren.3 Allerdings mussten sie hierbei mit dem „Eigen-Sinn“4 der Bergarbeiter rechnen. Zudem zögerten auch die Experten selbst aus verschiedenen Gründen, Maßnahmen anzuordnen oder zu befürworten, die den Körper der Arbeiter zu sehr modifiziert oder in die Arbeitsprozesse zu stark eingegriffen hätten. Die Sozialdisziplinierung blieb daher beschränkt. Im Folgenden wird kurz auf die Entstehung des Strahlenschutzes eingegangen (Abschnitt 1). Die weiteren Abschnitte beschreiben die Strahlenschutzregime in der DDR (Abschnitt 2) und der Bundesrepublik Deutschland (Abschnitt 3). Abschnitt 4 fragt nach der Modellierung des BergarbeiterKörpers im Strahlenschutz, Abschnitt 5 widmet sich dem Verhältnis von Sozialdisziplinierung und Eigen-Sinn. Abschnitt 6 stellt die Ergebnisse in die Kontexte der Geschichte der Arbeitssicherheit einerseits und der Sozialdisziplinierung andererseits.
1. Z UR E NTSTEHUNG
DES
S TRAHLENSCHUTZES
Das zentrale Problem des Strahlenschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg war die Abschätzung der Dosis-Wirkungs-Beziehungen bei kleinen Strahlendosen.5 In der Tat gab es in dieser Frage von den fünfziger bis zu den achtziger Jahren einen weitgehenden Konsens, der in der Annahme einer linearen Dosis-Wirkungs-Beziehung ohne Schwellenwert bestand. In den achtziger Jahren wurden nicht nur andere Formen der Dosis-WirkungsBeziehung diskutiert, etwa ein linear-quadratischer Zusammenhang, son-
1
Vgl. Weart: Fear, 1988.
2
Vgl. Abele: Wachhund, 2002.
3
Vgl. die Einleitung.
4
Vgl. Lüdtke: Eigen-Sinn, 1993.
5
Kellerer: Dosisabschätzungen, 1985, S. 2.
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dern vor allem von radiologischer Seite wurde die Schädlichkeit von Niedrigstrahlung generell angezweifelt.6 Dass radioaktive Strahlung gefährlich sein kann, war bereits wenige Jahre nach Entdeckung der Radioaktivität bekannt. Die frühen Strahlenschutzdiskussionen und die entsprechenden Präventionsmaßnahmen richteten sich vor allem auf Röntgenstrahlen und Radium, dessen Gefährlichkeit sich besonders in der Uhrenindustrie zeigte, wo es für Leuchtzifferblätter verwendet wurde. Daher kam es bereits in den dreißiger und vierziger Jahren zur Festlegung einer sogenannten „Toleranzdosis“, zunächst 1934 für Röntgenstrahlen und 1941 für die Radiumbelastung.7 Während des Zweiten Weltkrieges wurden Grenzwerte im Erzbergbau der Schneeberger und Joachimsthaler Gruben eingeführt, wo die „Schneeberger Krankheit“ seit längerem bekannt war. Danach sollten 18 WL (working level) nicht überschritten werden, bei 54 WL sollte keine Befahrung mehr erfolgen.8 Zum Vergleich: Der 1959 in den USA eingeführte Grenzwert betrug 1 WL, die realen Belastungen der Bergarbeiter in den fünfziger Jahren lagen bei durchschnittlich 8 WL.9 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff der „Toleranzdosis“ durch denjenigen der „maximal zulässigen Dosis“ ersetzt und das Konzept der relativen biologischen Wirksamkeit eingeführt, was die Festsetzung einer Äquivalentdosis (in rem, heute Sievert) für verschiedene Strahlungsarten beinhaltete. Gleichzeitig verringerte die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) den Grenzwert 1953 auf 15 und 1956 auf 5 rem (150 bzw. 50 mSv) pro Jahr für Strahlenbeschäftigte. Für die allgemeine Bevölkerung galt ein Zehntel, also 500 mrem pro Jahr, als Grenzwert. Den Hintergrund bildeten der Aufstieg der Atomenergie und die damit verbundenen Gefahren sowie die Fallout-Kontroverse der fünfziger Jahre.10 Die ICRPEmpfehlungen von 1977 brachten demgegenüber nichts wesentlich Neues. Sie ließen den Grenzwert für die Gesamtbelastung unverändert und forderten, die Belastung solle generell so niedrig wie möglich sein.
6
Oeser/Koeppe: Betrachtungen, 1982.
7
Walker: Permissible dose, 2000, S. 7-9.
8
Schüttmann: Radonproblem, 1992, S. 14.
9
Caufield: Zeitalter, 1994, S. 115.
10 Ebd., S. 90-104, 184-190; Walker: Permissible Dose, 2000, S. 12, 23f.
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2. S TRAHLENSCHUTZ
BEI DER
W ISMUT AG
In der frühen Zeit der Wismut AG, bis etwa Mitte der fünfziger Jahre, existierte kein Strahlenschutz, obwohl die schädliche Wirkung ionisierender Strahlung im Prinzip bereits bekannt war. Der Aufbau eines dosimetrischen Dienstes bei der Wismut AG erfolgte erst Ende 1954. Im Vordergrund stand bis ungefähr Mitte der siebziger Jahre die Messung der Radonkonzentration in der Luft. Es dauerte aber zunächst einige Jahre, bis die Messungen tatsächlich in allen Schächten erfolgen konnten. Dosimetrische Dienste in den einzelnen Betrieben wurden erst 1957 aufgebaut.11 Die international üblichen Grenzwerte waren offenbar in der DDR nicht bekannt. Noch im Februar 1958 sandte die Wismut AG eine Delegation an das Institut für Arbeits- und Sozialhygiene in Berlin und fragte nach der gültigen Obergrenze für die Radonkonzentration.12 Direktor Arthur Brandt behauptete, es gebe keine festgelegten Werte, weder in der DDR noch international. Die Empfehlungen der ICRP waren ihm offenbar unbekannt. Seit Ende der fünfziger Jahre fanden ortsdosimetrische Messungen statt, die vor allem folgende Komponenten erfassten: Radon, später auch Radonfolgeprodukte, Gammastrahlung und langlebige Alphastrahler. Gemessen wurde an bestimmten Betriebspunkten jeweils fünf Minuten im Monat. Damit war streng genommen nur 1/2000 der regulären Arbeitszeit überwacht.13 Die Qualität der Überwachung hing somit entscheidend davon ab, wie die überwachten Betriebspunkte ausgewählt wurden und ob zur Zeit der Messungen realistische Bedingungen herrschten, z.B. was die Bewetterung anging. Die Messungen konnten je nach verwendeter Methode in beide Richtungen abweichen, nach oben oder unten. Der dosimetrische Dienst des Betriebes 9 berichtete 1970, die Absenkung der Radonfolgeproduktkonzentration sei nur scheinbar, da nun aufgrund der besseren Gerätesituation zum ersten Mal an sämtlichen Arbeitsorten gemessen wurde, während vorher nur auf den oberen Sohlen kontrolliert worden war, wo die Belastung höher ausfiel.14 Insgesamt scheint aber die Strahlenbelastung lange Zeit eher un-
11 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 84, 10. 12 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 68, fol. 1f. 13 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 66, fol. 238. 14 Ebd., fol. 238.
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ter- als überschätzt worden zu sein. Als 1975 ein Sprung in der Radonbelastung festgestellt wurde, erklärte die Abteilung Gesundheits- und Arbeitsschutz, früher sei eben ein Mittelwert aus Frischwetter und Vor-OrtMessung genommen worden, während jetzt nur noch vor Ort gemessen werde.15 Ein Strahlenschutzbericht von 1979 schätzte, dass durch Abschalten der Sonderbewetterung und Offenlassen von Wettertüren die tatsächliche Belastung ca. 25-50 % höher war als die gemessene. Weniger belastet waren aber Berufsgruppen, die nicht volle Schichten unter Tage arbeiteten.16 Verstöße gegen Arbeitsschutzbestimmungen wurden auch aus anderen Betrieben immer wieder gemeldet. Hinsichtlich der Radioaktivität bestand das Problem, dass die Gefahr für die Bergarbeiter nicht unmittelbar wahrnehmbar war und „von der visuellen Einschätzung her eigentlich alles in Ordnung erscheint“.17 Die Werte der gemessenen Radon-Konzentration in den Bergbaubetrieben 9 (Aue) und 90 (Ronneburg) zeigten im Lauf der fünfziger und sechziger Jahre eine fallende Tendenz, allerdings ausgehend von einem sehr hohen Niveau. Die Durchschnittswerte sanken vom 25-60fachen des Grenzwertes Mitte der Fünfziger auf das 4,5-8fache Mitte der sechziger Jahre.18 Auch wenn die gemessenen Werte die reale Belastung möglicherweise unterschätzen, dürfte die Abnahme durchaus realistisch sein. Die Werte lagen jedoch immer noch deutlich über den zulässigen Grenzwerten. Mitte der sechziger Jahre wurde erkannt, dass weniger das Radon an sich, sondern eher dessen Tochternuklide (oder Folgeprodukte) den größten Teil der Strahlenbelastung ausmachten. Somit setzten in dieser Zeit erste Messungen der Radonfolgeprodukte (RFP) ein. Vorher hatte man ihre Konzentration anhand der Radonkonzentration geschätzt. Nun mussten die Dosimetristen aber feststellen, dass das Verhältnis von Radon zu RFP variabel war. Als Grenzwert wurden die von der ICRP empfohlenen Werte von 3*10-11 Ci/l (entspricht etwa 40 MeV/cm3) angenommen.19 Eine weitere
15 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 68, fol. 87. 16 Wismut-Archiv, Ordner Strahlenschutz in den Betrieben, Strahlenschutzbericht des BB Reust 1979. 17 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 70, fol. 100. 18 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 68, fol. 36. 19 Ebd., fol. 40.
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Komplikation brachte die Einführung neuer Messgeräte 1974/75, mit denen die RFP-Konzentration wesentlich genauer gemessen werden konnte.20 Die Messungen erfolgten zwischen Mitte der sechziger und Mitte der siebziger Jahre nicht kontinuierlich. Aus den vorliegenden Daten lässt sich dennoch schließen, dass die Werte noch bis zur Mitte der Siebziger über oder doch nahe an den zulässigen Grenzwerten lagen. Erst in den folgenden Jahren gelang es, die Strahlenbelastung im Durchschnitt deutlich unter die Grenzwerte zu senken.21 Hermetisierung und Bewetterung waren die wichtigsten Maßnahmen, die zur Verringerung der Strahlenbelastung ergriffen wurden. Im Allgemeinen erwiesen sie sich auch als recht effektiv, waren aber natürlich mit Kosten verbunden. 1988 errechnete die Generaldirektion, die Reduktion der Kollektivdosis um 1 Personen-Sievert koste 400.000 Mark und sei ökonomisch nicht vertretbar.22 Ein weiteres Problem war der Schluss von den Ergebnissen der Ortsdosimetrie auf die Belastung einzelner Personen. Eine direkte personendosimetrische Kontrolle fand nicht statt, obwohl sie in der DDR-Strahlenschutzordnung eigentlich vorgeschrieben war. Sie wurde allerdings nicht für sinnvoll gehalten, da sowohl Radon als auch die Radonfolgeprodukte Alphastrahler sind und die damals verwendeten Filmdosimeter keine Alphastrahlung messen konnten. Das Problem war nicht auf die Wismut oder die DDR beschränkt. Generell mangelte es an geeigneten Geräten. Noch zu Beginn der neunziger Jahre wurden Personendosimeter zur Radonmessung im Bergbau nur beschränkt eingesetzt. Entsprechende Geräte waren in Frankreich und am Kernforschungszentrum Karlsruhe entwickelt worden.23 Daher wurden schon in den sechziger Jahren bei der Wismut Versuche mit Filmplaketten durchgeführt. Ab 1967 sollten sie schrittweise eingeführt werden, auch wenn nur wenige der versuchsweise eingesetzten Plaketten
20 Wismut-Archiv, Ordner Strahlenschutz in den Betrieben, BB Schmirchau, Jahresbericht 1974; Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 68, fol. 87. 21 Wismut-Archiv, Ordner Strahlenschutz in den Betrieben, und Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 66. 22 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 47, fol. 5. 23 Gnas: Methodik, 1992, S. 43.
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eine Überschreitung der Werte anzeigten.24 Dazu kam es dann aber nicht. Vielmehr wählten die Strahlenschutzverantwortlichen eine andere Lösung, nämlich die Einführung einer EDV-gestützten individuellen Belastungskartei 1971.25 Die Einführung der EDV trug sicher zur Verbesserung der Strahlenschutzsituation bei. Bemerkbar machte sich das in der hohen Zahl an Umsetzungsforderungen, die 1972, im Jahr nach ihrer Einführung, ausgesprochen wurden. Die Umsetzungen, die die mittels EDV errechnete individuelle Strahlenbelastung reduzieren sollten, erreichten in diesem Jahr laut Strahlenschutzbericht „bedenkliche Ausmaße“.26 Bis zur Mitte der fünfziger Jahre und zum Teil darüber hinaus liegen keine Messwerte vor. Das wurde sehr schnell zum Problem, benötigte man doch eine Abschätzung der Strahlenbelastung, um Anträge auf Anerkennung von Lungenkrebs als Berufskrankheit bearbeiten zu können. Schon Ende 1953 beklagte sich der Wismut-Chefarzt Dr. Isecke, es gebe in letzter Zeit massive Angriffe verschiedener Ärzte und Dienststellen auf die Wismut mit dem Ziel, Lungenkrebs als Berufskrankheit anzuerkennen. Er bezeichnete die Vorwürfe als zum Teil unwissenschaftlich.27 Die für die Anerkennung von Lungenkrebs als Berufskrankheit zugrunde gelegten Werte beruhen somit auf Schätzungen.28 Die Anerkennungspraxis für Lungenkrebs als Berufskrankheit entwickelte sich wie folgt:29 Bis 1970 gab es keine allgemein als verbindlich zugrunde gelegten Werte, sondern es fand eine Einzelbegutachtung statt. Entscheidend war hierbei neben der Art der Tätigkeit vor allem die Dauer. Anfangs musste der betroffene Bergmann zwölf bis fünfzehn Jahre unter Tage gearbeitet haben, später sank diese Zahl auf fünf Jahre. 1962-67 wurde zudem bei Verstorbenen eine Lungenveraschung mit Folgeproduktausmessung durchgeführt. Das Ergebnis war vor allem in Zweifelsfällen das entscheidende Zünglein an der Waage. 1970 wurde dann eine erste Tabelle mit Schätzwerten der Strahlenbelastung in Working Level Month (WLM) ein-
24 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 69, fol. 329. 25 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 47, fol. 6. 26 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 68, fol. 62. 27 Bundesarchiv Berlin DQ 1 (Ministerium für Gesundheitswesen), Nr. 3593. 28 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 68, fol. 40ff. 29 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 40/3.
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geführt, die den Berechnungen zugrunde gelegt werden sollte. Die Werte bis 1955 wurden danach mehrfach revidiert. Sah die Tabelle von 1970 noch eine Maximalbelastung in der Frühzeit von 321 WLM pro Jahr vor, so wurde dieser Wert 1975 auf 60 WLM und 1976 auf 150 WLM pro Jahr korrigiert.30 Eine Anerkennung sollte ab 450 WLM errechneter Gesamtbelastung erfolgen, zwischen 250 und 450 WLM entschied eine Kommission. Bei dieser Regelung blieb es bis 1989. Bei einer Strahlenbelastung von 450 WLM, so die Argumentation, sei die Wahrscheinlichkeit, an Lungenkrebs zu erkranken, doppelt so hoch wie normal. Allerdings legten andere Länder und selbst das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS) in der DDR andere Werte zugrunde (z.B. SAAS 110-200 WLM, ab 1985 100 WLM; BRD 100 WLM; USA 120 WLM; CSSR 25 WLM).31 Die Abteilung Gesundheits- und Arbeitsschutz bezeichnete 1989 das Verfahren als unbefriedigend und schlug vor, es durch ein Risikopunktesystem zu ersetzen. Das grundlegende Problem, dass nämlich die individuelle Strahlenbelastung selbst in den achtziger Jahren nicht bekannt war, konnte damit jedoch nicht gelöst werden.
3. S TRAHLENSCHUTZ U RANBERGBAU
IM BUNDESDEUTSCHEN
Uranerz findet sich nicht nur auf dem Gebiet der DDR. Auch in der Bundesrepublik setzte in den fünfziger Jahren die Suche nach Uranvorkommen ein. Das nach Meinung des Atom- bzw. Bundesforschungsministeriums beste Abbaugebiet befand sich im Schwarzwald, in der Gemeinde Menzenschwand in der Nähe von St. Blasien. Wie das Bundesforschungsministerium 1963 auf Fragen von Bundestagsabgeordneten erklärte, handelte es sich bei dem Menzenschwander Vorkommen um dasjenige mit der höchsten Urankonzentration. Die Ausdehnung der Lagerstätte war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt, aber das Ministerium hielt die Einstellung der
30 Die Schätzungen für die Durchschnittsbelastung in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren differierten zwischen der Tabelle von 1971 und der von 1975 etwa um den Faktor 7. Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 68, fol. 46 u. 94. 31 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 40/3.
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laufenden Explorationsarbeiten für unverantwortlich.32 Der Urangehalt lag bei 1 % und angeblich z. T. erheblich darüber.33 Der Abbau verlief jedoch aufgrund des Widerstands der betroffenen Gemeinde schleppend. Die Bewohner befürchteten vor allem Einschränkungen im Tourismus, der in dieser Gegend von großer wirtschaftlicher Bedeutung war. Hinzu kamen Beschwerden über das Vorgehen des Betreibers, der Gewerkschaft Brunhilde, das als „selbstherrlich, eigenmächtig, rücksichtslos“ empfunden wurde.34 Die Gemeinde klagte gegen den Uranabbau und konnte erreichen, dass er 1963 eingestellt wurde.35 Auch wenn die Arbeiten in den siebziger Jahren wieder aufgenommen wurden, so kamen sie doch nie über ein Explorationsstadium hinaus. Der Strahlenschutz während der ersten Abbauphase 1962/63 umfasste vor allem eine personendosimetrische Überwachung mittels Filmplaketten und Füllhalter-Dosimeter. Bei bestimmten Arbeiten, vor allem der Erzverarbeitung, war außerdem das Tragen von Schutzmasken Pflicht. Im November 1962 wurde bei zwei Beschäftigten die Kontamination von Filmplaketten durch Staub festgestellt. Die Arbeiter wurden mittels eines Ganzkörperzählers (Human Body Counter, HBC) untersucht. Die inkorporierte Radioaktivität blieb jedoch unter der Nachweisgrenze.36 Auch der Radongehalt der Grubenluft wurde bereits 1962 thematisiert. Ende des Jahres verlangte das Oberbergamt den Einbau von 600 mmLutten zur besseren Bewetterung. Nach dem Einspruch des Betreibers vertrat das Bergamt Freiburg die Auffassung, nach der Strahlenschutzverordnung dürfe lediglich der Radon-Grenzwert nicht überschritten werden und es sei nicht Aufgabe des Bergamtes, dem Betreiber die Mittel zur Erreichung dieses Ziels vorzuschreiben. Daher sei die Vorschrift über den Ein-
32 Bundesarchiv Koblenz B 138 (BMBW), Nr. 2278, Bd. 1, fol. 199f. 33 Bundesarchiv Koblenz B 138 (BMBW), Nr. 2281, Bd. 1, fol. 23-25. 34 So der Bürgermeister von Titisee, Wilhelm Stahl; Bundesarchiv Koblenz B 138 (BMBW), Nr. 2278, Bd. 2, fol. 531. 35 Vgl. Simon: Streit, 2003, S. 93-95. 36 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 61, Bd. 1.
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bau bestimmter Lutten nicht mehr nötig, zumal die Festlegung auf 600 mm ohnehin willkürlich sei.37 Im Mai 1963 wurden Wasser-, Luft- und Staubproben mit Hilfe eines Szintillationszählers untersucht. Ende August begannen regelmäßige Messungen, die laut Festlegung des Oberbergamtes in der ersten Woche dreimal, danach einmal wöchentlich an drei verschiedenen Punkten zu erfolgen hatten. Die ersten Messungen zeigten nach Auskunft des Betreibers jedoch keine erhöhten Werte. Die Grubenluft unterscheide sich nicht von der Luft im umliegenden Krunkelbachtal.38 Allerdings ist nicht ganz klar, ob bei den Messungen der Gewerkschaft Brunhilde tatsächlich alle relevanten Faktoren erfasst wurden. Benutzt wurde offenbar ein Emanationsmessgerät (wahrscheinlich ein Szintillationszähler), das normalerweise zu Prospektionszwecken verwendet wird.39 Inwieweit dieses die Alpha-Strahlung ausreichend messen konnte, ist fraglich. Mit dem Urteil des Landgerichts Freiburg vom 11.10.1963 wurden die Arbeiten in Menzenschwand zunächst eingestellt.40 Jedoch erfolgten seit 1973 weitere Arbeiten, die eine erneute Beschäftigung des Landesbergamtes mit Fragen des Strahlenschutzes erforderlich machten. Auf einem Lehrgang lernte ein Beamter des Bergamtes, dass eine laufende Messung der Strahlung notwendig sei, dass Filmplaketten keine Alpha-Strahlung erfassten und dass die Inkorporation von Staub eine große Gefahr darstelle. Daraufhin verfügte das Bergamt, dass zukünftig nur noch nass gebohrt werden sollte. Zudem sollten zusätzliche Dosimeter zu den ohnehin verwendeten Filmplaketten von den Beschäftigten getragen werden. Weiter waren Kontrollen mit Hilfe der Untersuchung von Urinproben durchzuführen.41 Das Hauptproblem aber, die Messung des Radon- und Radonfolgeproduktgehaltes der Luft, war zunächst nicht zu lösen, da kein entsprechendes Messgerät auf dem deutschen Markt existierte. Noch im August 1976 mo-
37 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 53. 38 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 61, Bd. 1. 39 Bundesarchiv Koblenz B 138 (BMBW), Nr. 2278, Bd. 2, fol. 329. 40 Bundesarchiv Koblenz, B 138 (BMBW), Nr. 2278, Bd. 1, fol. 135-152. 41 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 3. Hefter, Ergebnisprotokoll der Besprechung vom 8.1.1974.
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nierte das Landesbergamt bei einer Befahrung der Grube, dass bis dahin keine Radonmessung durchgeführt worden war. Seit Oktober 1976 erfolgten Messungen mit einem Gerät der Gewerkschaft Brunhilde, das nur in wenigen Fällen eine Überschreitung des Grenzwertes anzeigte. Als jedoch ein amerikanisches Messgerät (Instant Working Level Meter) eingesetzt wurde, zeigte sich, dass der überwiegende Teil der Messwerte über der zulässigen Konzentration laut Strahlenschutzverordnung von 3*10-11 Ci/l (entspricht 3 WL) lag. Dieser wurde meist nur leicht überschritten, in zwei Gängen jedoch zeigten sich Werte von maximal 6,78 bzw. 10,84*10-11 Ci/l.42 Eine erhebliche Reduzierung des Radongehaltes bewirkte die Umstellung von saugender auf blasende Bewetterung 1977. Damit wurden die zulässigen Werte nicht mehr überschritten.43 Für Irritationen sorgte aber 1979 ein Schreiben des Landesamtes für Umweltschutz, das unter Verweis auf eine Empfehlung der International Atomic Energy Agency (IAEA) die Einhaltung strengerer Grenzwerte (0,3 statt 3 WL) forderte, was im Landesbergamt mit der Bemerkung abgelehnt wurde: „Dann geht nichts mehr“. Nach diesen Werten könne ein Bergmann nur ca. 100 Stunden im Jahr arbeiten. Die Hauptbelastung durch Radon und RFP läge in Menzenschwand unter dem zulässigen Wert. Allerdings sei für die am meisten exponierten Personen eine Gesamtbelastung in der Größenordnung der maximal zulässigen Werte nicht auszuschließen.44 In der Tat waren auch die Belastungen durch andere Strahlenquellen als Radon und RFP in der Luft nicht zu vernachlässigen. Bei einem Beschäftigten wurde 1975 eine Gesamtbelastung von 3,56 rem in 7 ½ Monaten gemessen, was einer hochgerechneten Jahresdosis von 5,83 rem entspräche. Dabei waren die zu diesem Zeitpunkt nicht gemessenen Belastungen durch Radon und RFP noch gar nicht erfasst. Zulässig war aber lediglich eine Jahresdosis von 5 rem.45 Als Ursache für diese hohe Belastung vermutete das Bergamt die fehlenden Wasch- und Umkleidemöglichkeiten. Im Januar
42 Ebd., Vermerk 30.9.1977. 43 Ebd., Vermerk 8.11.1977. 44 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 4. Hefter, 5.6.1979, 9.10.1979. 45 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 3. Hefter, 25.1.1977.
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1977 wurde der Umbau der Baracke angeordnet. Die Zustände dort waren aus Sicht des Strahlenschutzes katastrophal, da kontaminierte Kleidung und Gesteinsproben in dem Büro-, Frühstücks- und Aufenthaltsraum aufbewahrt wurden.46 Insgesamt zeigten sich also in Menzenschwand Fehleinschätzungen und Unkenntnis der Strahlenschutzproblematik seitens der kontrollierenden Behörden. Zudem war die Verfügbarkeit geeigneter Messgeräte ein Dauerproblem. Unterschätzt wurde vor allem die Radon- und RFP-Konzentration in der Luft, die lange Zeit nicht oder nur unzureichend gemessen wurde. Dagegen erfolgte, im Gegensatz zur Praxis in der DDR, von Anfang an eine personendosimetrische Überwachung der Beschäftigten. Die hygienischen Zustände waren ebenfalls sehr problematisch. Größere Gesundheitsschäden der Beschäftigten dürften allerdings durch die kurze Dauer des Bergbaus abgewendet worden sein.
4. D IE M ODELLIERUNG
DES
K ÖRPERS
Der Körper des Bergmanns wird im Strahlenschutz unterschiedlich modelliert. Im Arbeitsalltag wird er so gut wie gar nicht verändert. Allenfalls trugen die Bergarbeiter Filmplaketten oder andere Personendosimeter. Die wichtigsten und wirksamsten Schutzmaßnahmen, Hermetisierung und Bewetterung, veränderten nicht den Körper der Bergarbeiter, sondern deren Umgebung. Dazu passt, dass bei der Wismut die Ortsdosimetrie vorherrschend war, und nicht die Personendosimetrie. Die konkrete Belastung des einzelnen Körpers wurde dann als statistische Größe aus den Aufenthaltszeiten und den ortsdosimetrischen Belastungen berechnet bzw. geschätzt. Die einzige wirksame Strahlenschutzmaßnahme, die den Körper des Bergmannes modifizierte und genau deshalb nicht beliebt war, bestand im Tragen von Atemschutzmasken, die radioaktive Stäube filtern konnten (s. Abschnitt 5). In der Bundesrepublik dagegen verwendete man Filmplaketten zur personendosimetrischen Überwachung, die von jedem Beschäftigten in der Tasche zu tragen waren. Anhand der Schwärzung des Films ließ sich die Strahlenbelastung ungefähr abschätzen. Das Problem war nur, dass die
46 Ebd., 21.1.1977.
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Filmplaketten die beim Bergbau auftretende Hauptgefahr, nämlich die Inkorporation von Alphastrahlern, nicht messen konnten. Hinsichtlich der Gefährdung des Bergmannes stand zunächst die Lunge als gefährdetes Organ im Vordergrund, da Lungenkrankheiten aus dem Bergbau bekannt waren. In den fünfziger Jahren waren zudem die Gonaden (Keimdrüsen) Ziel der Schutzmaßnahmen, da die Fachleute eine Schädigung des Erbgutes befürchteten. Die Anregung kam Mitte der fünfziger Jahre von dem US-amerikanischen Biologen Hermann Muller, der bereits in den zwanziger Jahren die mutagene, d.h. das Erbgut verändernde Wirkung von ionisierender Strahlung an Fruchtfliegen entdeckt hatte und dafür 1946 den Nobelpreis erhielt.47 Muller warnte nun vor der dauerhaften Schädigung des menschlichen Erbgutes durch Strahlung und errechnete, dass eine bloße Verdoppelung der schädlichen Mutationen zum langsamen Untergang der menschlichen Bevölkerung führe.48 Diese Warnung fiel bei deutschen Genetikern zunächst auf fruchtbaren Boden. Da allerdings bei den Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki kein verstärktes Auftreten von Erbkrankheiten nachgewiesen werden konnte,49 rückte die Diskussion über genetische Schäden in den folgenden Jahrzehnten wieder in den Hintergrund, ohne dass die damit verknüpften Fragen wirklich befriedigend beantwortet worden wären. In der Folgezeit trat dann mehr und mehr die Lunge als gefährdetes Organ in den Vordergrund, so dass der Körper des Bergmanns im Strahlenschutzdiskurs tendenziell auf die Lunge reduziert wurde, obwohl Schädigungen anderer Organe, z.B. des blutbildenden Systems, bis heute nicht ausgeschlossen werden können. Eine neuere Studie belegt z.B. einen Anstieg von Tumoren des Hals-Nasen-Rachenraums bei steigender Radonbelastung.50 Als Alternative wurde bereits in den sechziger Jahren der Einsatz von sogenannten Ganzkörperzählern (Human Body Counter, HBC) erwogen. Diese waren jedoch teuer, nur in wenigen Städten vorhanden und nicht mobil, so dass sie sich zur Routineüberwachung nicht eigneten. 1966 existierten im gesamten Bundesgebiet acht, 1962 im gesamten sozialistischen La-
47 Caufield: Zeitalter, 1994, S. 150f., 175f. 48 Anonym: Mitteilungen, 1955/56, S. 374. 49 Vogel: Strahlengenetik, 1985, S. 161. 50 Kreuzer: Radon, 2010.
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ger nur sechs Ganzkörperzähler.51 Außerdem präsentierten sie nur eine Momentaufnahme der Strahlenbelastung und das Bundesgesundheitsamt bezweifelte, dass die Nachweisempfindlichkeit ausreiche. Daher wurden sie in der Regel nur in Fällen eingesetzt, in denen aufgrund anderer Messdaten eine hohe Kontamination vermutet wurde. 1974 vereinbarten jedoch das Bergamt Freiburg und der Betreiber des Bergwerks in Menzenschwand, alle 14 Tage die Hälfte der Belegschaft mittels Ganzkörperzähler überprüfen zu lassen. Das Bergamt musste allerdings einräumen, dass die Ergebnisse dieser Messungen schwer zu interpretieren waren.52 Ähnliches galt für Urinuntersuchungen, die Aufschluss über das inkorporierte Uran geben sollten. 1979 stellte das Kernforschungszentrum Karlsruhe fest, ein Schluss von der Urankonzentration im Urin auf die Strahlenbelastung durch Uranaufnahme sei aufgrund der großen individuellen Unterschiede nicht möglich.53
5. S OZIALDISZIPLINIERUNG
UND
E IGEN -S INN
Es ist auffällig, wie wenig der Strahlenschutz im Uranbergbau als Hebel benutzt wurde, um die Beschäftigten zu disziplinieren. Ansatzpunkte dafür hätte es durchaus gegeben, aber die Bergarbeiter erwiesen sich als eigensinnig und die potentiellen Disziplinierer agierten halbherzig. Das zeigt sich in der Präferenz der Strahlenschützer und Bergämter für solche Maßnahmen, die die Belegschaften möglichst wenig einschränkten, z.B. Orts- statt Personendosismessung bei der SDAG Wismut oder bessere Bewetterung und Berieselung statt der Anordnung, Staubschutzmasken zu tragen, da diese angeblich ohnehin nicht getragen würden.54
51 Bundesarchiv Koblenz B 138 (BMBW), Nr. 6059; Bundesarchiv Berlin DF 10 (Staatliches Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz), Nr. 271. 52 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 3. Hefter, 13.1.1975. 53 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 4. Hefter, 18.5.1979. 54 So das Bergamt Freiburg 1973. Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 3. Hefter, 30.10.1973.
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Welche Personen hätten als Disziplinierer auftreten können? Die Strahlenschutz-Experten wie Physiker und Mediziner hätten sicher über das notwendige Wissen verfügt, waren aber nicht an allzu strengen Richtlinien interessiert, da sie selbst Anwender radioaktiver Isotope oder von Röntgenstrahlen waren. So sahen bundesdeutsche Physiker durch zu strenge Regelungen des Strahlenschutzes 1960 die Forschungsfreiheit gefährdet.55 In der DDR übertrugen die Experten des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz (und seiner Vorgängerorganisationen) die Kontrolle gleich vollständig dem zu kontrollierenden Betrieb, der SDAG Wismut, selbst. Die Bergämter in der Bundesrepublik waren zum einen inhaltlich überfordert, und nahmen zum anderen immer wieder Rücksicht auf die wirtschaftliche Situation der Betreibergesellschaften.56 Es gab Ausnahmen. Bei der SDAG Wismut fiel die StrahlenschutzÜberwachung weitgehend der innerbetrieblichen Abteilung 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz) zu. Der in den fünfziger Jahren eingerichtete dosimetrische Dienst verfügte 1978 über 24 Planstellen. 1987 gab es ca. 40 Dosimetristen, die ca. 62.000 Einzelmessungen durchführten.57 Aus den häufigen Klagen der Dosimetristen über Disziplinlosigkeiten lässt sich schließen, dass sie das Ziel ihrer Tätigkeit durchaus in der Disziplinierung der Beschäftigten sahen. Sicher, ihre Effektivität litt unter dem Mangel an Geräten und Arbeitskräften, der punktuellen Natur der Kontrollen und nicht zuletzt unter dem Eigen-Sinn der Beschäftigten.58 An der Ernsthaftigkeit der Absicht besteht aber kein Zweifel. Aufschlussreich hinsichtlich der Einstellung der Dosimetristen ist die Sprache, die in den von ihnen regelmäßig verfassten Strahlenschutzberichten verwendet wurde. Natürlich war sie in erster Linie sachlich-nüchtern, mit vielen Zahlen angereichert. Die Berichterstatter bemühten sich offensichtlich, die Situation möglichst objektiv darzustellen und generelle Ein-
55 Bundesarchiv Koblenz B 138 (BMBW), Nr. 568 Bd. 1, fol. 8. 56 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Bestand Oberbergamt, Nr. 851, 2. Mappe; Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 4. Hefter. 57 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 47; Nr. 70, fol. 155-162; Nr. 84, S. 10. 58 Beispiele: Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 70, fol. 155-162.
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schätzungen mit quantitativen Belegen zu versehen. Auftretende Probleme wurden entweder mit „objektiven“ Faktoren wie technischen Mängeln oder unzureichender Ausrüstung begründet, oder mit „subjektiven“ Faktoren, also mangelnder Einsicht in die Strahlenschutzproblematik, wie in einem Bericht von 1970: „In sehr vielen Fällen wurde bei den Kollegen festgestellt, daß über das Radonproblem in unserem Bergbaubetrieb keine Klarheit besteht“.59 Grundsätzlich bestand im Verhältnis zu den Bergarbeitern eine charakteristisch ambivalente Haltung. Einerseits wurden sie in den Berichten, wie in dem angeführten Zitat, als „Kollegen“ oder als „Werktätige“ bezeichnet. Darin drückte sich ein für den Bergbau nicht untypisches Gefühl der Zusammengehörigkeit aus. Andererseits bestand ja die Aufgabe der Dosimetristen in der Kontrolle der „Kollegen“, was natürlich eine Distanz schuf, die auch mit gutem Willen schwer zu überbrücken war. Diese ambivalente Einstellung kam in dem Strahlenschutzbericht des Betriebes Schmirchau von 1978 beispielhaft zum Ausdruck.60 Hier wurde gegenüber dem Vorjahr eine Erhöhung der Radonfolgeproduktkonzentration um 36-42 % in Abbau und Vortrieb festgestellt. Die Ursache dafür waren Bewetterungsprobleme, die durch Mängel in der Sonderbewetterung verschärft wurden. Dazu konstatierten die Berichterstatter zahlreiche Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften, z.B. Abschalten der Sonderbewetterung, unberechtigtes Außerbetriebsetzen, Zerstören und Beschädigung von Wetterlenk- und -leiteinrichtungen. Der Bericht vermerkte ausdrücklich, die Unterstützung der Betriebsleitung für die Sonderbewetterung sei vorhanden – scheinbar keine Selbstverständlichkeit. Den „Kollegen“ attestierten sie, es handle sich nicht um bösen Willen, sondern schlichte Unkenntnis, was angesichts der handfesten Zerstörung von Bewetterungseinrichtungen apologetisch klingt. Die Einstellung zu den „Kollegen“ schien in gewisser Weise paternalistisch zu sein. Die Bergarbeiter werden in den Berichten wie Kinder dargestellt, die die Folgen ihres Tuns nicht überblicken können und daher vor den Folgen ihrer eigenen Handlungen geschützt werden müssen. Die Betriebsleitungen erscheinen dagegen eher als unsichere Verbündete, die zwar im Prinzip auf derselben Seite sind, auf die man sich aber nicht ohne Weiteres verlassen kann.
59 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 66, fol. 224. 60 Wismut-Archiv, Ordner Strahlenschutz in den Betrieben, BB Schmirchau, Strahlenschutzbericht 1978.
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Größtes Ärgernis im Einzelnen war aus Sicht der Dosimetristen die Wetterdisziplin, d.h. das Problem des Abschaltens oder Beschädigens von Belüftungsanlagen. Der Grund lag vor allem in der als unangenehm empfundenen Lärmbelastung. Verschiedene Maßnahmen wurden ausprobiert, um zum Erfolg zu kommen, z.B. der Einsatz von nicht-abschaltbaren Lüftern oder von schallgedämpften Lutten, und natürlich die Aufklärung der Steiger über die Gefahren der radonhaltigen Luft.61 Letztlich blieben die Maßnahmen aber ohne durchschlagenden Erfolg. Die zentrale Schwachstelle bei der Durchsetzung von Sicherheitsvorschriften in der SDAG Wismut waren offenbar die Steiger. Ein Bericht der Bergbehörde Karl-Marx-Stadt von 1988 konstatierte, dass es bei den Steigern keinen spürbaren Durchbruch in der Unduldsamkeit gegenüber Verletzungen der Sicherheitsvorschriften gegeben habe: „Bei Kontrollen mußten gute und sehr gute Steigerbenotungen der Betriebspunkte zu häufig auf ‚mangelhaft‘ korrigiert werden“.62 Die Bergbehörde gab dem zu hohen Anteil an Steigern mit nicht ausreichender Qualifikation die Hauptschuld an diesem Zustand. Neben der Wetterdisziplin richtete sich die Aufmerksamkeit der Kontrolleure auf weitere Bereiche, z.B. die Beachtung allgemeiner Hygienevorschriften, die ebenfalls zur Reduzierung der Strahlenbelastung führen konnten. So ordnete, wie oben erwähnt, im Januar 1977 das Bergamt Freiburg den Umbau der Baracke in Menzenschwand an, die als Büro-, Frühstücks- und Aufenthaltsraum diente. Bis dahin waren in einem Raum Gesteinsproben und verschmutzte (und damit kontaminierte) Kleidung aufbewahrt worden, der auch als Büro und Frühstücksraum gedient hatte.63 Essen und Rauchen am Arbeitsplatz waren ferner aus Sicht des Strahlenschutzes problematisch, da die Gefahr der Ingestion bzw. Inhalation radioaktiver Stoffe bestand. In der Tat verboten die Strahlenschutzverordnungen beider deutscher Staaten Rauchen und Nahrungsaufnahme in Räu-
61 Wismut-Archiv, Ordner Strahlenschutz in den Betrieben, BB Reust, Jahresbericht 1971 und 1972; Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 66, fol. 216. 62 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 72, fol. 31-63 (Rechenschaftsbericht der Bergbehörde Karl-Marx-Stadt für das Jahr 1988), hier fol. 35-37, Zitat fol. 36. 63 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 3. Hefter.
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men, in denen mit offenen radioaktiven Stoffen umgegangen wurde.64 Das traf auch auf den Uranbergbau zu. Aus arbeitsorganisatorischen Gründen war es jedoch im Fall der Wismut AG nicht möglich, dass die Bergarbeiter für jede Pause ausfuhren. So nahm die Durchführungsbestimmung zur Strahlenschutzverordnung der DDR von 1984 den Bergbau ausdrücklich von dem Verbot des Rauchens, Essens und Trinkens an Arbeitsplätzen mit offenen radioaktiven Stoffen aus.65 Entsprechende Vorschriften galten jedoch in den Übertagebetrieben (z.B. Aufbereitungsbetrieben), und Verstöße wurden dort moniert.66 In der Bundesrepublik versuchten die Bergämter dagegen, auch in den Untertagebetrieben das Rauchverbot durchzusetzen.67 Ob sie dabei Erfolg hatten, ist nicht bekannt, aber aufgrund der geringen Kontrolldichte eher unwahrscheinlich. Eine weitere Möglichkeit zur Verringerung der Strahlenbelastung war die Verwendung von Staubschutzmasken. Zu diesem Mittel wurde in der Regel gegriffen, wenn eine Reduzierung des Gehaltes an radioaktiven Elementen in der Luft nicht anders zu erreichen war. Der Nachteil bestand darin, dass Masken als unangenehm empfunden und deshalb häufig nicht getragen wurden. Nur japanische Bergarbeiter, so berichtete der Teilnehmer einer Konferenz der Internationalen Atomenergie-Organisation 1963, akzeptierten das Tragen von Staubschutzmasken.68 Hinzu kamen weitere Nachteile der Masken: Zum einen filterten sie nur einen Teil der Stäube, da in der Regel ein fester und dichter Sitz am Gesicht nicht gegeben war und damit Feinstäube nicht ausreichend gefiltert wurden. Das SilikoseForschungsinstitut empfahl daher 1977 Maßnahmen zur Staubbekämpfung,
64 Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 31/1960, Verordnung vom 24.6.1960, § 40; Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 125/1976, Verordnung vom 13.10.1976, § 52; Gesetzblatt der DDR, Teil II, Nr. 76/1964, § 15. 65 Bundesarchiv Berlin DF 10 (Staatliches Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz), Nr. 251, Mappe 2. 66 Wismut-Archiv Bestand 13 (Gesundheits- und Arbeitsschutz), Nr. 67, fol. 111, 137, 161. 67 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 3. Hefter; Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Oberbergamt, Nr. 842, Bd. 1. 68 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Bestand Oberbergamt, Nr. 843, Bericht über das Symposium Radiologische Gesundheit und Sicherheit in Bergwerken und in Aufbereitungsanlagen für Kernenergie-Rohstoffe, IAEA, 26.-31.8.1963, S. 22.
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die das Maskentragen überflüssig machen würden.69 Zum anderen verringerten die üblicherweise verwendeten Vollmasken die Arbeitsleistung, weshalb in Menzenschwand das Tragen von Halbmasken angeordnet wurde.70 Diese Einstellung änderte sich, sobald Lungenkrebs akut auftrat, was meistens erst Jahre oder Jahrzehnte nach dem Ende der Tätigkeit im Uranbergbau der Fall war. Die bis in die Gegenwart erhöhten Lungenkrebsraten bei Männern im Kreis Aue-Schwarzenberg sind wahrscheinlich auf die Strahlenbelastung der Wismut-Bergarbeiter zurückzuführen.71 Die epidemiologische Kohortenstudie des Bundesamtes für Strahlenschutz, die 58.987 Bergarbeiter der Wismut untersuchte, registrierte bis Dezember 2003 6.373 Todesfälle durch Krebs in der Kohorte, fast die Hälfte davon (3.016) Fälle von Lungenkrebs.72 Die Bergarbeiter bewiesen ihren Eigen-Sinn, indem sie sich einer Technisierung ihrer Körper weitgehend entzogen bzw. diese sabotierten. Das betrifft nicht nur die Staubschutzmasken, sondern auch die Einhaltung anderer Arbeitsschutzbestimmungen, die häufig missachtet wurden. Auch der Umgang mit Personendosimetern (wo vorhanden), war häufig sehr nachlässig. Aus Sicht der Experten stand das Problem im Vordergrund, wie die Strahlenbelastung realistisch abzuschätzen war. Tendenziell trat dabei immer mehr die Lunge als hauptsächlich belastetes Organ in den Vordergrund, womit der Körper des Bergmanns in der Wahrnehmung der Strahlenschutzexperten im Wesentlichen auf seine Lunge reduziert wurde.
69 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 61, Bd. 2, Schreiben Silikose-Forschungsinstitut der Bergbau-Berufsgenossenschaft, 7.1.1977. 70 Staatsarchiv Freiburg, Bestand Landesbergamt Baden-Württemberg, F 235/10, Nr. 62, 3. Hefter, Verfügung 21.1.1977; Ebd., 1. Hefter, Vermerk 19.9.1975. 71 Krebsregister Sachsen 2001-2005 (http://www.berlin.de/imperia/md/content/ gkr/daten/sn_daten.pdf?start&ts=1224686496&file=sn_daten.pdf). 72 Bundesamt für Strahlenschutz: Technical Report, 2010, S. 3f.
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6. Z USAMMENFASSUNG : ARBEITSSICHERHEIT S OZIALDISZIPLINIERUNG
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Die Ergebnisse lassen sich aus zwei Perspektiven diskutieren: zum einen im Kontext der Geschichte der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes, insbesondere im Bergbau, und zum anderen im Kontext der Geschichte der Sozialdisziplinierung. In der erstgenannten Forschungsrichtung lässt sich zwischen Optimisten und Pessimisten unterscheiden. Die einen verweisen auf den statistischen Rückgang der Unfallzahlen im Bergbau seit der frühen Industrialisierung und kommen somit zu einer optimistischen Einschätzung der staatlichen Überwachungsmaßnahmen und Sicherheitsanordnungen.73 Andere Autoren verweisen darauf, dass sich noch bis in die jüngste Vergangenheit schwere Unfälle in Bergwerken ereigneten, die an sich leicht zu vermeiden gewesen wären. Ein Beispiel dafür war das Schlagwetter in der Westray-Mine in Kanada 1992, bei dem 26 Bergarbeiter ums Leben kamen. Die Missachtung von Sicherheitsvorschriften und lasche Kontrollen waren hier die Ursache.74 Organisationssoziologen sprechen in solchen Situationen, in denen Sicherheitsvorschriften existieren und bekannt sind, aber von den beteiligten Akteuren missachtet werden, von einer Scheinbürokratie („mock bureaucracy“75). Sicherheitsvorschriften werden demnach ignoriert, da sie für die Arbeitgeber wie Arbeitnehmer keine ausreichende Legitimität besitzen, sondern als überflüssig erachtet werden. Das scheint für den Strahlenschutz im Uranbergbau in beiden deutschen Staaten zumindest teilweise ebenfalls zuzutreffen. Insofern stärken die hier dargelegten Beispiele die pessimistische Sichtweise auf die Geschichte der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes. Trotz nicht zu leugnender Verbesserungen von Schutzmaßnahmen, auch im Strahlenschutz, blieben und bleiben die Maßnahmen häufig hinter dem technisch Machbaren zurück. Was bedeutet dies für die Geschichte der Sozialdisziplinierung? Aus einem isolierten Beispiel sollten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Dennoch verweisen die hier gemachten Ausführungen auf die Grenzen der Sozialdisziplinierung. Das heißt natürlich nicht, dass es keine Disziplinierungsversuche gegeben hätte. Aber sie stießen doch an Grenzen, wenn ihr
73 Farrenkopf: Schlagwetter, 2003. 74 Hynes: Patterns, 1997, S. 608. 75 Ebd., S. 607.
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offenbar andere gruppenspezifische Normen entgegenstanden, wie es bei den Bergarbeitern der Fall war. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Ausnahme, aber in zukünftigen Forschungen sollten doch die Grenzen der Sozialdisziplinierung stärkere Beachtung finden. Das gilt nicht nur für Sicherheitsvorschriften im Bergbau. Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen hatten Versuche der Eliten, das Verhalten der einfachen Leute zu regulieren, nur begrenzten Erfolg, z.B. im Bereich der Ernährung. Vorschriften über gute Ernährung und, damit verbunden, den richtigen Lebenswandel gibt es nicht erst seit dem Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts, sondern schon seit der Diätetik der Spätantike.76 Somit haben wir es in diesem Bereich mit einer jahrhundertelangen Sozialdisziplinierung zu tun. Mit welchem Ergebnis? Heutige Untersuchungen zum Ernährungsverhalten von Jugendlichen konstatieren, dass die Ernährung im Wesentlichen vom Lebensstil abhängt und daher gegenüber gesundheitlicher Aufklärung weitgehend resistent ist, da der Lebensstil eng mit Fragen der persönlichen Identität verknüpft ist.77 Natürlich gibt es auch einen gesundheitsorientierten Lebensstil, der vor allem bei Beziehern überdurchschnittlicher Einkommen mit hoher Bildung verbreitet ist: den „Lifestyle of Health and Sustainability“ (LOHAS). Er umfasst in Deutschland nach Schätzungen von Marktforschern zwischen 10 und 20 Prozent der Bevölkerung.78 Das bedeutet, dass ca. 1800 Jahre Sozialdisziplinierung auf 8090 Prozent der Bevölkerung, jedenfalls im Bereich der Ernährung, kaum einen nennenswerten Effekt hatten. Für die Forschung ergibt sich daraus die Aufgabe, stärker nach den Erfolgsbedingungen disziplinierender Diskurse zu fragen.
L ITERATUR Abele, Johannes: „Wachhund des Atomzeitalters“. Geigerzähler in der Geschichte des Strahlenschutzes, München 2002. Anonym: Mitteilungen, in: Atompraxis 1/2 (1955/56), S. 374.
76 Vgl. Bergdolt: Leib und Seele, 1999. 77 Gerhards/Rössel: Ernährungsverhalten, 2003, S. 12, 103. 78 Heinze: LOHAS, 2009.
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Bergdolt, Klaus: Leib und Seele. Eine Kulturgeschichte des gesunden Lebens, München 1999. Bundesamt für Strahlenschutz: Technical Report. The German Uranium Miners Cohort Study (Wismut cohort), 1946-2003, Oberschleissheim 2010. Caufield, Catherine: Das strahlende Zeitalter. Von der Entdeckung der Röntgenstrahlen bis Tschernobyl, München 1994. Farrenkopf, Michael: Schlagwetter und Kohlenstaub. Das Explosionsrisiko im industriellen Ruhrbergbau (1850-1914), Bochum 2003. Gerhards, Jürgen/Rössel, Jörg: Das Ernährungsverhalten Jugendlicher im Kontext ihrer Lebensstile. Eine empirische Untersuchung (= Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung 20), Köln 2003. Gnas, I.: Methodik der Radonmessung, in: Reiners, Christoph/Arndt, Dietrich (Hg.): Strahlenrisiko durch Radon (= Strahlenschutz in Forschung und Praxis 33) Stuttgart/New York 1992, S. 35-45. Heinze, Karin: LOHAS in Theorie und Praxis, http://www.sinus-institut.de/ fileadmin/dokumente/downloadcenter/Artikel_und_Vortraege/LOHAS_ Tagung_Nov_2009.pdf (2.9.2011). Hynes, Timothy: Patterns of Mock Bureaucracy in Mining Disasters. An Analysis of the Westray Coal Mine Explosion, in: Journal of Management Studies, 34 (1997) 4, S. 601-623. Kellerer, A. M.: Die neuen Dosisabschätzungen für Hiroshima und Nagasaki, in: Leppin, Walter (Hg.): Die Hypothesen im Strahlenschutz (= Strahlenschutz in Forschung und Praxis 25), Stuttgart/New York 1985, S. 2-17. Kreuzer, Michaela u.a.: Radon and Risk of Death from Cancer and Cardiovascular Diseases in the German Uranium Miners Cohort Study: follow-up 1946-2003, in: Radiation and Environmental Biophysics, 49 (2010) 2, S. 177-185. Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Ergebnisse, Hamburg 1993. Oeser, H./Koeppe, P.: Kritische Betrachtungen zur Abschätzung von Strahlenrisiken, in: Messerschmidt, Otfried u.a. (Hg.): Zur Problematik der Wirkung kleiner Strahlendosen (= Strahlenschutz in Forschung und Praxis 23), Stuttgart/New York 1982, S. 154-164. Schüttmann, W.: Das Radonproblem im Bergbau und in Wohnungen. Historische Aspekte, in: Reiners, Christoph/Arndt, Dietrich (Hg.): Strah-
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lenrisiko durch Radon (= Strahlenschutz in Forschung und Praxis 33), Stuttgart/New York 1992, S. 5-24. Simon, Armin: Der Streit um das Schwarzwald-Uran. Die Auseinandersetzung um den Uranbergbau in Menzenschwand im Südschwarzwald 1960-1991, Bremgarten 2003. Vogel, F.: Gesichertes und Hypothetisches im Bereich der Strahlengenetik, in: Leppin, Walter (Hg.): Die Hypothesen im Strahlenschutz (= Strahlenschutz in Forschung und Praxis 25), Stuttgart/New York 1985, S. 144-168. Walker, Samuel: Permissible Dose. A History of Radiation Protection in the Twentieth Century, Berkeley 2000. Weart, Spencer: Nuclear Fear. A History of Images, Cambridge/Mass. 1988.
Grenzwertpolitik am Arbeitsplatz Der Arbeiterkörper im „Mensch-Maschine-UmweltSystem“ zwischen individueller Prävention und Sterberate der Population (1955-1980)1 B EAT B ÄCHI
1. E INLEITUNG : Z UR G OUVERNEMENTALITÄT G RENZWERTEN
VON
25 Jahre vor Fukushima, als die Welt gerade gebannt auf Tschernobyl blickte, bezeichnete Ulrich Beck Grenzwerte als „faulen Zauber“ und „kognitive Giftschleusen“. „Risikowissenschaftler“ als „Chemie-Magier“ mit „hellseherischen Fähigkeiten“ würden über Grenzwerte – nach dem „Modell des Lottos“ – eine „Dauerration kollektiver Normalvergiftung“ festlegen und legitimieren.2 Dass Grenzwerte tatsächlich eine Mischung aus Wissenschaft und Werten sind, ist schon an der simplen Tatsache abzulesen, dass Grenzwerte je nach Ort und Zeit variieren.3 Es scheinen gerade
1
Für Anregungen, Hinweise und Diskussionen bedanke ich mich bei Carsten Reinhardt, Julia Schöning, Heiko Stoff, Alexander von Schwerin, Nikolai Brunner.
2
Beck: Risikogesellschaft, 1986, S. 85-92. Zur Historisierung der Risikogesellschaft siehe Boudia/Jas: Introduction, 2007.
3
Zu Grenzwerten aus historischer, philosophischer und soziologischer Perspektive siehe insbesondere Hansson: Limit, 1998. Hiller/Krücken: Risiko, 1997. Ja-
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die Unschärfen und Ambivalenzen zu sein, die Grenzwerte so attraktiv machen. Präzise und fundiert, aber auch verhandelbar und wandelbar, verbinden sie wissenschaftliche mit politischen und ökonomischen Diskursen. Und die Diskrepanz von Wissen und Nicht-Wissen heben sie nicht zuletzt mittels ihrer zahlenförmigen, mathematische Exaktheit suggerierenden Form auf.4 Da Grenzwerte zentrale Instrumente der Bio- respektive Chemopolitik sind, bezeichnet man Grenzwerte und ihre Festlegung vielleicht am besten als (sublime) Regierungskunst. In seiner Geschichte der Gouvernementalität hat Michel Foucault darauf hingewiesen, wie im späten 18. Jahrhundert und vor allem im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung als Zielobjekt einer neuen Regierungsweise etabliert wurde. Neben die Disziplinarmacht, die auf Individuen gerichtet war, trat die Biomacht oder die Biopolitik, die eine Population als Gegenstand der Erkenntnis und der Intervention hat. Die Macht, so Foucault, liege seither weniger und weniger in dem Recht, sterben zu machen, sondern immer mehr in dem Recht, zugunsten des Lebens zu intervenieren. Um das „Leben zu verbessern, seine Unfälle, Zufälle, Mangelerscheinungen zu kontrollieren“, habe die Macht aber nur noch einen statistischen Zugriff auf den Tod, das heißt nicht mehr auf den Tod des Individuums, sondern auf die Sterberate der Bevölkerung. Deshalb gehe es insbesondere darum, „Regulationsmechanismen“ einzuführen, um „eine Art Homöostase“ zu etablieren; es gehe kurz gesagt darum, „Sicherheitsmechanismen um dieses Zufallsmoment herum, das einer Bevölkerung von Lebewesen inhärent ist, zu errichten und das Leben zu optimieren“.5
nich: Grenzwerte, 1999. Körber: Steuerung, 1998. Lengwiler: Risikopolitik, 2006. Luhmann: Grenzwerte, 1997. Reinhardt: Boundary Values, 2008. Reinhardt: Regulierungswissen, 2010. Schwerin: Prekäre Stoffe, 2009. Winter: Grenzwerte, 1986. Zur Geschichte der wissenschaftlichen Politikberatung siehe vor allem Hartmann/Vogel: Zukunftswissen, 2010. Jasanoff: Fifth Branch, 1990. Nowotny: Dilemma, 2003. Weingart: Stunde, 2001. Weingart/Lentsch: Wissen, 2008. 4
Siehe hierzu Bächi: Krise, 2010. Bächi/Reinhardt: Einleitung, 2010. Reinhardt: Regulierungswissen, 2010.
5
Foucault: Verteidigung, 2001, S. 290-292. Ders.: Überwachen, 1976. Ders.: Geburt, 2002.
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Was die Geschichte der Arbeiterkörper betrifft, sind „Sicherheitsmechanismen“ in der Gestalt von Grenzwerten für gefährliche Arbeitsstoffe von zentraler Bedeutung.6 Grenzwerte für gefährliche Arbeitsstoffe werden in Westdeutschland seit 1955 durch die „DFG-Senatskommission zur Prüfung gefährlicher Arbeitsstoffe“, die sogenannte MAK-Kommission (wobei MAK für „Maximale-Arbeitsplatz-Konzentration“ steht) erarbeitet. Die Regulierung von Gefahrstoffen am Arbeitsplatz durch Grenzwerte gründete auf der Annahme, dass allein die Dosis das Gift mache. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Etablierung von Grenzwerten ist die Ideal-Figur des homme moyen. Dieser ist männlich, deutsch und hat einen Normalarbeitstag, wobei sein Organismus über eine gewisse „Selbstreinigungskraft“ verfügt.7 Der Arbeitsplatz wurde im Rahmen der Grenzwertpolitik in mehrfacher Hinsicht zu einem Laboratorium. An den Arbeitsplätzen wurde nicht einfach bloß mit Chemikalien gearbeitet, sondern das experimentelle Wissen über deren Wirkungen auf den menschlichen Organismus wurde gleich auch mitproduziert. So entstanden in den 1970er Jahren im Kontext des Programms der sozial-liberalen Koalition zur „Humanisierung des Arbeitslebens“8 zwei neue Kategorien von Grenzwerten: „Technische-Richtkonzentration“ (TRK) für krebserregende Stoffe und „Biologische ArbeitsstoffToleranzen“ (BAT) als Grenzwerte für gefährliche Stoffe in den Körperflüssigkeiten. Über diese Grenzwerte wurde das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu vermessen und ausgehandelt. Bei der Herausbildung dieses Grenzwerteregimes übernahmen systemtheoretische und kybernetische Metaphern eine wichtige Übersetzungsfunktion. Entsprechend drohte
6
Zur Geschichte der Arbeit, der Arbeitshygiene und des „Humankapitals“ siehe insbesondere Bröckling/Horn: Anthropologie, 2002. Hien: Arbeitsverhältnisse, 2011. Jobmann: Disziplinierung, 2001. Proctor: Blitzkrieg, 2002. Rieger: Arbeit, 2002. Rosenberger: Experten, 2008. Sarasin/Tanner: Physiologie, 1998. Schaad: Chemische Stoffe, 2003. Sellers: Discovering, 1997. Ders.: Hazards, 1997. Stehr: Arbeit, 1994. Vatin: Travail, 1993. Ders.: Arbeit, 1998. Weindling (Hg.): Occupational Health, 1985.
7
Zur postulierten „Selbstreinigungskraft“ siehe Büschenfeld: Kloaken, 1997, S. 166-189.
8
Zur „Humanisierung des Arbeitslebens“ in historischer und ländervergleichender Perspektive siehe Rose/Miller: Production, 1995.
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der Arbeiterkörper in einem entgrenzten „Mensch-Maschine-UmweltSystem“ zu einem technischen Analysegefäß für gefährliche Chemikalien zu werden.
2. G RENZWERTE ALS SUBLIME R EGIERUNGSKUNST UND DIE E INFÜHRUNG VON „M AXIMALEN ARBEITSPLATZKONZENTRATIONEN “ IN W ESTDEUTSCHLAND Etymologisch scheint es so zu sein, dass Grenzwert von „limes“ abstammt. Neben dem (römischen) Grenzwall war und ist der „limes“ auch ein mathematischer Begriff. Eine Folge oder eine Funktion kann in der Mathematik die Eigenschaft haben, sich mit wachsendem Index immer mehr einer bestimmten Zahl anzunähern. Diese Zahl nennt man Grenzwert oder Limes der Folge. Auch wenn der Begriff „Grenzwert“ noch nicht zur Verfügung stand, so wurde er in der Antike insbesondere durch das Paradoxon von Achilles und der Schildkröte versinnbildlicht. Mit diesem Trugschluss wurde zu belegen versucht, dass selbst ein schneller Läufer wie Achilles bei einem Wettrennen eine Schildkröte niemals einholen könne, wenn er ihr einen Vorsprung gewähre. Im 19. Jahrhundert wurde anstelle von Grenzwert von einer „verschwindenden Größe“ gesprochen. Auf wundersame Weise verschwindende Größen kennen auch die Chemiker; sie bezeichneten diesen Vorgang als „Sublimation“. Bei der Sublimation von Jod beispielsweise werden über einen Festkörper, der sich in Gas und dann wieder in einen Festkörper verwandelt, die Kristalle am Boden des Behälters weniger, und gleichzeitig beginnen sie an der kalten Fläche oben zu wachsen. Diese Kristalle entstehen aus dem Joddampf, der unter der Schwelle, am oberen Rand des Becherglases, kondensiert. Die Etymologie des aus dem Lateinischen stammenden englischen Wortes „sublime“, „unter der Schwelle“, und der heutige Gebrauch sowohl für den philosophischen als auch für den chemischen Wortsinn, sind denn auch identisch. Als ästhetische Kategorie bezeichnet das Sublime oder das Erhabene etwas Wahrnehmbares, dessen wesentliche Eigenschaft eine Anmutung von Größe ist, die über das gewöhnlich Schöne hinausreicht. Das Sublime beziehungsweise Erhabene ist daher stets auch mit dem Gefühl von Unerreichbarkeit und Unermesslichkeit ver-
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bunden. Es löst Erstaunen aus, das mit Ehrfurcht und/oder Schrecken verbunden ist.9 Ansätze zur Festlegung von Grenzwerten im heutigen Sinne gab es schon im 19. Jahrhundert, als Chemiker in Fragen der Gewerbehygiene und der Gewässerverunreinigung Grenzkonzentrationen maßen und für betroffene Flussläufe eine gewisse „Selbstreinigungskraft“ postulierten. Triebfedern für die Grenzwertfindung im späten 19. Jahrhundert waren neben der öffentlichen Gesundheitspflege vornehmlich die wirtschaftlichen Interessen der Fischereibiologie und der Agrikulturchemie. Kritik am Grenzwertkonzept wurde in jener Zeit vor allem von Seiten der Chemieindustrie geäußert. Weitere entscheidende Impulse kamen dann aber vor allem aus der Arbeitsmedizin respektive der Arbeitshygiene und der Toxikologie. Das erkenntnisleitende Ziel bei der Festlegung von Grenzwerten bestand darin, die ‚höchste unwirksame Dosis’ oder den ‚No-Effect-Level‘ zu finden. Systematisch wurde das Grenzwertkonzept für Chemikalien im Ersten Weltkrieg entwickelt, als Fritz Haber und Ferdinand Flury die tödliche Wirkung von Giftgasen bestimmen wollten, und dabei die Zeit maßen, in der ein Stoff, in einem bestimmten Raum verteilt, noch wirkt.10 Umfassend reguliert werden gefährliche Arbeitsstoffe in Westdeutschland jedoch erst seit den 1950er Jahren. Am 26. Oktober 1955 traf die DFG-Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe in München erstmals zusammen. Die Kommissionsmitglieder, die der Senat der DFG bestimmte, wurden von verschiedenen Hochschulen, Industriebetrieben und vom Bundesgesundheitsamt rekrutiert. Hinzu kamen noch ein
9
Hoffmann: Das Erhabene, 2010, S. 182.
10 Siehe hierzu Büschenfeld: Kloaken, 1997, S. 166-189. Ein zentraler Kontext der Entstehung von toxikologischen Grenzwerten seit den 1860er Jahren ist das, was man etwas holzschnittartig als „Standardisierung“ bezeichnen kann. Mit Beginn der Industrialisierung gewannen Standardisierungen und Normungen besonders in der Fertigung immer mehr an Bedeutung. Sie garantierten die Austauschbarkeit wichtiger technischer Komponenten und ermöglichten damit eine effizientere Produktion bei beständig hoher Qualität. Bereits 1884 gab der VDI (Verband Deutscher Ingenieure) seine erste Richtlinie heraus. Das Regelwerk zur Untersuchung von Dampfkesseln und -maschinen gab den Startschuss für die VDI-Richtlinien als einen festen Bestandteil der technisch-ökonomischen Infrastruktur in Deutschland. Siehe Lundgreen: Risk, 1997.
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Landesgewerbearzt sowie – als ständige Gäste – je ein Vertreter aus dem Bundesministerium für Arbeit sowie aus dem Bundesinstitut für Arbeitsschutz.11 Definiert wurden MAK-Werte in diesem Gremium als „diejenige Konzentration eines Arbeitsstoffes als Gas, Dampf oder Schwebstoff in der Luft am Arbeitsplatz, die nach dem gegenwärtigen Stand der Kenntnis auch bei wiederholter und langfristiger, in der Regel täglich 8stündiger Einwirkung, jedoch bei Einhaltung einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit bis zu 45 Std. im allgemeinen die Gesundheit der Beschäftigten nicht beeinträchtigt. Bei der Aufstellung von MAK-Werten sind in erster Linie die Wirkungscharakteristika der Stoffe berücksichtigt, daneben aber auch – soweit möglich – praktische Gegebenheiten der Arbeitsprozesse bzw. der durch diese bestimmten Einwirkungsmuster. Maßgebend sind dabei wissenschaftlich fundierte Kriterien des Gesundheitsschutzes, nicht die technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Realisation in der Praxis.“12
3. B ERUFSKREBS ALS E XPERIMENT AM M ENSCHEN UND DIE E INFÜHRUNG DER „T ECHNISCHEN R ICHTKONZENTRATION “ Ein zentraler Akteur beim Wandel der Gefahrstoffregulierung in Westdeutschland in den 1970er Jahren war der sogenannte „Berufskrebs“. Zum beruflich bedingten Krebs hieß es schon 1953, dieser habe „eine eminente theoretische Bedeutung“ für die ganze Krebsforschung, „da es sich ja um ein großes (unfreiwilliges) Experiment am Menschen handelt.“13 Während
11 Siehe Bächi: Krise, 2010, S. 421-423. 12 DFG: Maximale Arbeitsplatzkonzentrationen, 1974, S. 5. 13 Bayer AG: Corporate History & Archives (im Folgenden abgekürzt als BAL), 231-002-003 (Ärztliche Abteilung, Berufserkrankungen, 1953-1971): Deutsche Forschungsgemeinschaft, Protokoll über die 1. Sitzung der Arbeitsgruppe Berufskrebs am 9. Mai 1953 in Bad Godesberg, 27. Februar 1954, S. 5. Das Phänomen, dass die Gesellschaft zum Labor gemacht wird, wurde insbesondere von Wolfgang Krohn und Johannes Weyer beschrieben. Siehe Krohn/Weyer: Gesellschaft, 1990. Zu den Interdependenzen von Chemieproduktion (insbesondere derjenigen von Plastik), Krebs und politischer Kultur siehe Westermann: Plastik, 2007.
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zu Beginn der 1960er Jahre lediglich drei Stoffe in den MAK-Listen als „krebserzeugend“ gelistet waren, war deren Zahl bis 1970 bereits auf zehn angewachsen. Zugleich wurden diese Stoffe nun auch in einer neuen Art und Weise problematisiert. Dies geschah zunächst weniger auf äußeren Druck hin – der Skandal um Polyvinylchlorid (PVC) wurde erst ab 1972 zusehends öffentlich debattiert und das Benzolgesetz ebenfalls erst 1974 verabschiedet. Wichtige Impulse sind deshalb im Regulierungsdispositiv selbst zu suchen. Einerseits war die DFG-Senatskommission für Berufskrebs, die sich mit krebserregenden Substanzen am Arbeitsplatz befasst hatte, 1963 aufgelöst worden. Dies nicht deshalb, weil die Probleme gelöst worden wären, sondern weil die Problemstellung umformuliert und die Frage des Berufskrebses in einem größeren Zusammenhang mit anderen arbeits- und sozial-medizinischen Fragen behandelt werden sollte.14 Andererseits trat ein bis zu diesem Zeitpunkt nur am Rande in die Grenzwertfindung involvierter Akteur, namentlich das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, auf den Plan. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Befürchtung im Raum stand, krebserregende Stoffe, die mit dem MAK-Wert „0“ gelistet wurden, könnten verboten werden. 1972 richtete das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung den „Ausschuss für Gefahrstoffe“ ein, in dem die Festlegung für Grenzwerte für krebserregende Arbeitsstoffe von da an ausgelagert wurde. Seither gibt es für krebserregende Stoffe eine eigene Grenzwertkategorie, die sogenannten Technische Richtkonzentration (TRK-Werte). Diesen Grenzwerten für krebserregende Arbeitsstoffe liegen soziotechnische Überlegungen zu Grunde. Mit anderen Worten: Die dem Ideal nach „rein wissenschaftlichen“, „unbedenklichen“ MAK-Werte (erarbeitet von der gleichnamigen Senatskommission der DFG und publiziert vom BMAS im Bundesarbeitsblatt) wurden von den an „Sachzwängen“ orientierten, bedenklichen TRKWerte (erarbeitet vom Ausschuss für Gefahrstoffe, der direkt dem BMAS unterstand) abgespalten.15
14 Siehe hierzu von Schwerin: Low Doses, 2010. 15 Siehe hierzu Bächi: Krise, 2010.
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4. E LEKTROPHYSIK
UND
K REBS …
Dass der „Ausschuss für Gefahrstoffe“ eingerichtet werden musste, hängt auch mit der Geschichte der theoretischen Kenntnisse über die Beziehungen von Dosis und Wirkung zusammen. Dies trifft insbesondere auf die Dosis-Wirkungs-Beziehungen von krebserzeugenden Stoffen zu. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatte in einem Gefangenenlager der Alliierten in Hammelburg eine neue, heute hegemoniale Weise des Denkens über die Ursachen von Krebs Gestalt anzunehmen begonnen. Konkret handelt es sich um die sogenannten Druckrey-Küpfmüller-Schriften.16 Beide Autoren, der Krebsforscher Herrmann Druckrey und der Elektrotechniker und -physiker Karl Küpfmüller (einer der Begründer der nachrichtentechnischen Systemtheorie) waren früh nationalsozialistischen Organen beigetreten.17 Nach dem Krieg kam Druckrey über verschiedene Lager am 18.12.1946 in das Lager Hammelburg/Unterfranken, in welchem er bis zum 14.9.1947 verblieb. Dort traf er auf Karl Küpfmüller, der am 16.12.1947 aus Hammelburg entlassen wurde. In diesem „Denkkollektiv“18 entstand die Theorie der Summationseffekte und das Prinzip der Irreversibilität kanzerogener Wirkstoffe, die sogenannte „Summationsthese“.19 Auf krebserregende Stoffe bezogen besagt diese These, dass es nicht möglich sei, mit wissenschaftlichen Methoden eine Schwelle anzugeben, unterhalb derer keinerlei Wirkungen auf den Organismus stattfinden, da es bei krebserzeugenden Stoffen keine „Entgiftung“ gebe.
16 Druckrey/Küpfmüller: Quantitative Analyse, 1948. Druckrey/Küpfmüller: Dosis und Wirkung, 1949. Zu den Druckrey-Küpfmüller-Schriften siehe die materialreichen Studien von Volker Wunderlich. Wunderlich: Entstehungsgeschichte, 2005. Ders.: Selbstreproduktion, 2007. Ders.: Papier, 2008. 17 Zur akademischen und „nationalsozialistischen“ Karriere von Hermann Druckrey (1904-1994) und Karl Küpfmüller (1897-1977) siehe Wunderlich: Entstehungsgeschichte, 2005, S. 374-383 u. 391-394. Moser: Krebsforschung, 2011, S. 245-247. 18 Fleck: Entstehung, 1980. 19 Wunderlich: Papier, 2008, S. 383. Zur Bedeutung Druckreys und seiner Theorie der „Summationsgifte“ insbesondere für die Regulierung von Fremdstoffen in der Nahrung siehe Stoff: Hexa-Sabbat, 2009.
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Interessant sind die Druckrey-Küpfmüller-Schriften auch mit Blick auf die Geschichte der Systemtheorie und der Kybernetik in Westdeutschland. Denn nicht nur in ihrer Metaphorik, sondern auch in der rückblickenden Einschätzung Druckreys ist die von ihm und Küpfmüller erarbeitete „Summationstheorie“ ein Kind der Kybernetik.20 In ihr amalgamierten sich das Denken eines systemtheoretischen Elektrophysikers in „closed loops“ sowie die Vorstellung des Krebsforschers vom „allobiotischen Zustand“ in der Rede von der „Entropie“.21 In einem Aufsatz zum Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft schreibt Michael Hagner, dieser Denkstil sei insbesondere deshalb zentral für das Verständnis der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, weil sie mit ihren technisch-mathematischen Grundbegriffen wie Steuerung, Kontrolle, Information und System der Auffassung des Sozialen als Steuerungs- und Kontrollproblem Vorschub geleistet habe.22 Jedoch sei das „Interesse für Fragen der Steuerung in Maschine, Organismus und Gesellschaft im westlichen Teil Deutschlands erst wieder durch den transatlantischen Import der Kybernetik“ reaktiviert worden.23 Hinsichtlich der von Hagner nicht erwähnten Druckrey-KüpfmüllerSchriften24 ist richtig, dass diese nur sehr zögerlich rezipiert wurden. Obwohl Druckrey später ein viel zitierter Autor war, wurden seine Arbeiten zusammen mit Küpfmüller25 bis 1954 nur sieben Mal und von 1955-1964 nur 27 Mal von Autoren zitiert, die nicht zur Arbeitsgruppe Druckrey ge-
20 Siehe Wunderlich: Papier, 2008, S. 336. 21 Siehe hierzu Bächi: Krise, 2010, S. 428f. 22 Hagner/Hörl: Transformationen, 2008, S. 11f. u. 31. Zum Übergang vom Antrieb zu Steuerung und Kontrolle siehe auch Canguilhem: Regulation, 1979. Galison: Ontologie, 2001. Levin: Control, 2000. Mayr: Origins, 1970. Rabinbach: Motor 1990. Reichert: Verhältnis, 2002. Rieger: Kybernetische Anthropologie, 2003. Tanner: Weisheit, 1998. 23 Hagner: Aufstieg, 2008, S. 51. 24 Mit Blick auf die Geschichte der Kybernetik in Deutschland haben in jüngster Zeit unter anderem Stefan Rieger und Philipp Aumann auf die Bedeutung von Karl Küpfmüller für die Entstehung der Kybernetik in Westdeutschland hingewiesen: Rieger: Kybernetische Anthropologie, 2003, S. 38 (Fußnote 6), S. 40 (Fußnote 9) u. 300 (Fußnote 73). Aumann: Mode, 2009, S. 60, 118, 120-122, 128-130, 133, 142f., 195, 253, 276 u. 370f. 25 Druckrey/Küpfmüller: Dosis und Wirkung, 1949.
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hörten. Die Wirkung der Arbeit war demnach, so Volker Wunderlich, der ausführlich zu den Druckrey-Küpfmüller-Schriften publiziert hat, wesentlich größer, als die Zahl der Zitationen vermuten lasse.26 Die äußerst zögerliche Rezeption der Druckrey-Küpfmüller-Schriften in der Toxikologie und in der Medizin steht in bemerkenswertem Widerspruch zur fast schon frenetischen Begrüßung der „Summationthese“ durch die „Verbraucherschützer“-Bewegung der 1950er Jahre.27 Dies hängt wohl auch damit zusammen, dass Druckrey seine Theorie zu den Zusammenhängen von Dosis und Wirkung am Beispiel von Buttergelb entwickelt hatte. Diese Forschungen fanden in der DFG-Senatskommission zur Bearbeitung des Lebensmittelfarbstoffproblems schnell große Anerkennung. Die Kommission wurde zunächst von Adolf Butenandt und ab 1953 von Druckrey selbst geleitet. Als Senatskommission der DFG war sie gleichsam die Schaltzentrale all jener Experten-Kommissionen, die sich in der Folge mit Lebensmittelzusatzstoffen befassten. Bereits 1952 hatte die Lebensmittelfarbstoff-Kommission hinsichtlich der Frage eines Verbots von „Buttergelb“ festgehalten: Besonders wichtig sei in dieser Hinsicht die von Druckrey und Küpfmüller 1948 bei der Untersuchung des Einflusses von Dosis und Zeit gemachte Beobachtung gewesen, dass die Effekte auch kleinster Dosen Buttergelb sich summieren würden und dass bereits kleine Mengen, über lange Zeit gegeben, ebenso zu „Lebertumoren an der Ratte“ führen könnten wie große Dosen, die über kurze Zeit dargereicht worden seien. Zur Tumorbildung müsse lediglich die erforderliche Mindestmenge in der Aufnahme erreicht werden.28 Auch Aktivisten im Umkreis der „Gesellschaft für Nahrung- und Vitalstoffforschung“, die für die „Genealogie des Verbrauchers“ äußerst wichtig war, rezipierten Druckreys Summationsthese bereits in den 1950er Jahren.29 So schrieb etwa Fritz Eichholtz 1958, Druckrey habe mit seiner Theorie der „Summationsgifte“ überzeugend dargelegt, „dass nicht die Dosis, sondern
26 Siehe Wunderlich: Selbstreproduktion, S. 280. 27 Zur Entstehung des „kritischen Verbrauchers“ siehe Stoff: Hexa-Sabbat, 2009. 28 DFG-Kommission zur Bearbeitung des Lebensmittelfarbstoffproblems: Lebensmittelfarbstoffe, 1952, S. 100. Diesen Hinweis verdanke ich Heiko Stoff. 29 Zu Fritz Eichholtz, der „Vitalstoffgesellschaft“ und der Entstehung der Figur des kritischen Verbrauchers siehe Stoff: Hexa-Sabbat, 2009, S. 69-72.
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die Irreversibilität der Wirkung auch kleinster Dosen den entscheidenden Faktor für die Giftigkeit darstellt.“ Dazu führte Eichholtz weiter aus: „Die entscheidende Wendung besteht hier darin, dass für die frühere Toxikologie ein ‚Gift an sich‘ nicht existierte, dass Gift vielmehr definiert war durch die Dosis und die Art der Anwendung; heute sind wir für bestimmte chemische Stoffe zur Auffassung des ‚Gifts an sich‘ zurückgekehrt [...]. Ich halte diese Lehre für den überhaupt 30
wichtigsten Fortschritt der Toxikologie in den letzten Jahrzehnten“.
5. … UND DIE SPÄTE R EZEPTION DER „S UMMATIONSTHESE “ IN DER T OXIKOLOGIE Wesentlich länger als bei den Verbraucherschützern dauerte es, bis Druckreys und Küpfmüllers „Summationsthese“ Akzeptanz in der Toxikologie fand. Diese in Westdeutschland insbesondere seit den 1960er Jahren dominante Disziplin bei der Regulierung gefährlicher Arbeitsstoffe tat sich offenbar mit dem „Gift an sich“ schwer; zumal dieses die Grundlagen toxikologischen Denkens in Frage stellte. Bezeichnend dafür, wie lange sich Toxikologen gegen die „Summationsthese“ stellten, ist ein Aufsatz von Dietrich Henschler, dem langjährigen Vorsitzenden der MAK-Kommission. Noch 1973 schrieb Henschler in der Zeitschrift „Angewandte Chemie“, dass die „Philosophie der Grenzwerte, unterhalb derer Fremdstoffe den Organismus wirkungslos durchlaufen“, auch bei sogenannten „irreversiblen Wirkungen“ gültig sei. Diese Ansicht werde durch die Tatsache gestützt, dass alle biochemischen Strukturen einer permanenten Erneuerung unterliegen würden. Somit bestehe „die Möglichkeit der Reparatur“ eingetretener Veränderungen auch am „genetischen Material der Zelle“. Sobald ein der biologischen Veränderung „entgegengerichteter Vorgang“ ablaufe, sei die „Existenz einer wirkungsfreien Zone der Konzentration oder Dosis auch mathematisch ableitbar“.31 Wenig erfreut über diesen Aufsatz schrieb Druckrey 1973 einen Brief an Henschler, um ihm ausführlich seinen Standpunkt darzulegen. Gleich einleitend bemerkte er mit spitzer Feder: „Sie werden viel Zustimmung ge-
30 Eichholtz: Vom Streit, 1958, S. 37. 31 Henschler: Veränderungen, 1973, S. 321f.
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funden haben“. Niemand werde bezweifeln, dass es bei den meisten Giften „unterschwellige“ Dosen gebe. Dies gelte insbesondere für „Kampfgase“, bei denen es sich „zweifellos“ um „Konzentrations-Gifte“ handeln würde. Aber bereits 1937 sei auf die grundlegend wichtige Erfahrung hingewiesen worden, „dass die betroffenen Organe und Zellen auch nach völlig reversibel erscheinenden Wirkungen in einem ‚allobiotischen‘ Zustand erhöhter Vulnerabilität verbleiben“ würden. Die Ursache dafür sei bereits damals in „Primär-Reaktionen auf molekularer Ebene“ vermutet worden. Dieses Phänomen sei zudem schon Ende der 1930er Jahre in Beziehung zum Begriff der „Entropie“ gesetzt worden. Und um seinen Ansichten Nachdruck zu verleihen, fügte Druckrey an: „Die Irreversibilität und autonome Progressivität der carcinogenen Wirkung ist in der ganzen Welt heute unbestritten.“32 Wie wenn durch diesen historischen Rückblick auf die Anfänge der „Summationsthese“ die eigene Lebensgeschichte vor seinem geistigen Auge vorbeigezogen wäre, sah sich Druckrey am Ende des Briefes an Henschler zu einer Aussage in eigener Sache genötigt. Druckrey schrieb: „Leider muss ich jedoch erwähnen, dass mir jede Lehrtätigkeit in der BRD auf Lebenszeit gegen Recht und Gesetz ohne Angabe von Gründen verweigert wurde. Die Möglichkeit zur Forschung verdanke ich allein der DFG“. Und an Henschler persönlich gerichtet schrieb er: „Dankbar bin ich Ihnen [...] für Ihre Kritik an jedem Versuch, wissenschaftliche Probleme durch Abstimmungen entscheiden zu wollen. Sogar die grössten Wissenschaftler hatten die ‚qualifizierte Majorität‘ ihres Faches gegen sich.“33 Offenbar sah Druckrey auch seine „Summationsthese“ als ein Opfer der „qualifizierten Majorität“; dafür unterstellte er Henschler implizit, dass seine „in der ganzen Welt“ unbestrittene „Summationsthese“ ausgerechnet in Westdeutschland besonders geringe Anerkennung gefunden habe. Einen wesentlichen Grund für diese als „politisch“ zu bezeichnende Rezeptionsgeschichte der „Summationsthese“ sah Druckrey selbst vornehmlich in seiner persönlichen Vergangenheit. Ein anderer Erklärungsansatz für die nur sehr zögerliche
32 Bundesarchiv Koblenz (im Folgenden abgekürzt als BAK), B 227 (Bestand der DFG-Senatskommission zur Prüfung gefährlicher Arbeitsstoffe, MAK-Kommission)/162596 [Generalakte: Bd. 16, 1973]: Brief von Druckrey an Henschler. Freiburg, den 1. 6. 1973, S. 2f. 33 Ebd., S. 4.
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Rezeption ist wohl auch in der Sprache der Druckrey-Küpfmüller-Schriften zu suchen. Diese Schriften waren mit ihren mathematischen Formeln und ihrer systemtheoretischen Sprache in der Krebsforschung lange Zeit semantisch nicht anschlussfähig gewesen. Dabei ist bemerkenswert, dass die Druckrey-Küpfmüller-Schriften erst am Ende der kybernetischen Ära, das Hagner um 1975 ansetzt, in der Toxikologie und bei Mathematikern sowie Informatikern – und erst danach auch in der Medizin – breite Akzeptanz fanden.34
6. Z UR R ELATIVITÄTSTHEORIE DER S ICHERHEIT : M ESSSTRATEGIE UND „M ENSCH -M ASCHINE U MWELT -S YSTEM “ Wie sah die konkrete Umsetzung der Technischen Richtkonzentrationen in den Betrieben aus? Um zu wissen, was und wo genau die Konzentration von krebserregenden Arbeitsstoffen in der Industrie gemessen werden sollte, musste erst festgelegt werden, was ein Arbeitsplatz respektive ein „Arbeitsbereich“ genau ist. Mit Blick auf die Meßstrategie führte A. Drope, analytischer Chemiker und Statistiker von BAYER und Mitglied der MAKKommission, aus: „Systemtheoretisch läßt sich die Arbeitsbereichsüberwachung als spezielles MenschMaschine-Umwelt-System (MMUS) darstellen, wobei als Mensch der Beschäftigte, als Umwelt der Betrieb und als Maschine die technische Anlage zu setzten sind. [...] Als terminus technicus für dieses MMUS ist der Begriff Arbeitsbereich eingeführt worden. Die Frage nach dem Erreichen und Erhalten einer gesundheitsgerechten Arbeitspraxis, kurz: Arbeitshygiene, führt zu dem System der Arbeitsbereichsüberwachung, welches das System Arbeitsbereich im Hinblick auf den Ausgang Arbeitshy35
giene und die Eingänge Arbeitsstoffgrenzwerte [...] einschränkt.“
34 Diese Beobachtung bleibt natürlich erklärungsbedürftig. Zumindest wirft sie die Frage auf, ob die Ära der Kybernetik als Universalwissenschaft in Westdeutschland tatsächlich bereits Mitte der 1970er Jahre zu Ende ging. 35 BAK, 227/151455, AK Meßstrategien und Statistik, Bd. 2: Dr. Drope, Arbeitspapier zum Kurzzeitwert-Konzept, 24. Februar 1982, S. 1-12, hier S. 2.
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TRK-Werte sind Jahres-Mittelwerte, das heißt, ihre Einhaltung musste prospektiv ermittelt werden. Das zentrale Problem bei der Überwachung der TRK-Werte war denn auch die Frage: „Wie sind die gemessenen Konzentrationswerte statistisch zu bewerten, um über die Einhaltung des als Jahresmittel definierten TRK-Wertes entscheiden zu können?“36 Unter Toxikologen war es ein offenes Geheimnis, dass die Festlegung der Messstrategie zur Kontrolle der Einhaltung der TRK-Werte ein „politisches Problem“ war. Der Aufwand der Messungen und der Schutz der Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter mussten gegeneinander aufgerechnet werden. Den in den 1970er Jahren vor sich gehenden Wandel in der Grenzwertfestlegung brachte A. Drope wie folgt auf den Punkt: Es gehe nun nicht mehr darum, in die Vergangenheit zu blicken, sondern die Grenzwertpolitik sei nun zu einer Wissenschaft vergleichbar mit „Hochrechnungen“ bei politischen Wahlen geworden. Drope sprach deshalb auch von der „Hochrechnung zur prospektiven Arbeitsplatzbewertung“.37 Um dieses Problem zu lösen, musste die Einhaltung der Grenzwerte „aufgeweicht“ und „von einer 100%igen auf eine 95%ige Konzeption von Sicherheit umgestellt“ werden.38 Schließlich gelang es den Vertretern der Industrie, ein „praxisnahes Konzept“ der Überwachung der TRK-Werte durchzusetzen. Für die Messungen der TRK-Werte in den Betrieben galt nun lediglich noch eine Sicherheit von 75 Prozent als Richtgröße. BAYER argumentierte unter anderem damit, dass es für einen Großkonzern wie BAYER zwar durchaus möglich sei, eine 100-prozentige Einhaltung der TRK zu garantieren. Von kleineren Unternehmen sei dieser enorme Messaufwand jedoch nicht zu leisten und die statistische Sicherheit müsse deshalb aus Rücksicht auf diese kleineren Konkurrenten „aufgeweicht“ werden. Nur dann sei ein „kos-
36 BAL, Signatur 059-160, Ingenieurverwaltung;. Ärztliche Untersuchungen der Werksangehörigen, 1920-1981: Arbeitsstoff-Informationen, Informationstagung „Krebserzeugende Arbeitsstoffe“, Werk Leverkusen, 24.8.1979, S. 33. 37 BAL, Signatur 059-348, Ordner „1977-1978“: Dr. Drope, Werk Leverkusen, Abt. IN AP-MSR, Aktennotiz 77/62, Akten Nr. 29156, Geb. Nr. H1, 1.8.1977. Betreff: Meßstrategie zur Arbeitsplatzüberwachung, S. 2. 38 Ebd.
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tenmäßig vertretbarer Meßaufwand“ möglich und „prospektiver Arbeitsschutz“ für die Unternehmen finanziell tragbar.39
7. „B IOLOGISCHE -ARBEITSSTOFF -T OLERANZ “: I NDIVIDUALISIERTE P RÄVENTION UND DER ARBEITERKÖRPER ALS ANALYSEGEFÄSS In der MAK-Kommission wurde seit den 1960er Jahren immer wieder über die Einführung einer neuen Grenzwertkategorie für Konzentrationen von gefährlichen Arbeitsstoffen im Organismus debattiert.40 Im Gegensatz zu den MAK- und TRK-Werten, die „den Menschen“ nach Maßgabe eines „Durchschnittsmenschen“ konzipiert hatten, sollten diese Werte der „gesunden Einzelperson“ respektive der „individuellen Prävention“ zu Gute kommen. Dies macht schon der Umstand deutlich, dass sich die MAKWerte auf die Arbeitsumwelt bezogen (sie gaben die zulässige Konzentration in der Raumluft vor), wohingegen die neuen Werte im Individuum selbst (in den Körperflüssigkeiten) gemessen werden sollten. Die Einrichtung von „Maximalen-Organismus-Konzentrationen“ respektive von „Biologischen Arbeitsstofftoleranzen“ erhielt dann vor allem im Rahmen der Großoffensive der sozial-liberalen Koalition zur sogenannten „Humanisierung des Arbeitslebens“ in den 1970er Jahren neuen Schub. Schließlich konnte die MAK-Kommission 1980 hinsichtlich der Einführung von BAT-Werten festhalten, diese neue Grenzwertkategorie sei vornehmlich „für den Schutz des Individuums gedacht“.41
39 BAL, Signatur 059-160, Ingenieurverwaltung; Ärztliche Untersuchungen der Werksangehörigen, 1920-1981: Arbeitsstoff-Informationen, Informationstagung „Krebserzeugende Arbeitsstoffe“, Werk Leverkusen, 24.8.1979, S. 36f. u. 43. 40 BAK, B 227 / 162584 [Generalakte: Bd. 4, 1961-1962]: Niederschrift über die 6. Arbeitssitzung der Kommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe am 14. Juli 1961 in Würzburg, S. 30. 41 BAK, B 227 / 162620 [Generalakte: Bd. 40, 1980]: Niederschrift über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Aufstellung von Grenzwerten in biologischem Material“ der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe am 22. September 1980 in Hamburg, S. 3.
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Diese BAT-Werte stießen jedoch zuweilen auf erhebliche Skepsis. So führte das MAK-Kommissionsmitglied J. Lewalter von BAYER aus, BATWerte dürften nicht zu biologischen oder physiologischen MAK-Werten fehlinterpretiert werden. Zudem sollten sie nicht als „Fixwerte“, sondern als „tolerierbare Bandbreiten“ formuliert werden. Für diese Flexibilisierung der Grenzwertpolitik führte Lewalter eine ganze Liste von Gründen an: „a) ethische: auch der arbeitende Mensch ist primär kein Analysegefäss des BATKonzeptes (Argument der Gewerkschaften) b) emotionale: im Gegensatz selbst zu überhöhten MAK-Werten führt eigentlich jeder Arbeitsstoffbefund in der Köperflüssigkeit sofort zu einer Sensibilisierung und Verunsicherung, ja zu Angst und Besorgnis der Probanden. Es sollte daher zwingend vorgeschrieben sein, die individuelle Bewertung und Mitteilung eines internen Arbeitsstoffbelastungsbefundes ausschliesslich dem Arzt vorzubehalten. c) biologische: tolerierbare innere Arbeitsstoffbelastungen eines Probanden können nur unter Berücksichtigung der Dynamik individueller pathophysiologischer Vorgänge, des Einflusses der Erholungszeiten, Alterungsvorgänge, Synergismen usw. korrekt bewertet werden. d) praktische: nur die unmittelbar nach der biologischen Probenahme auch verfügbaren inneren Arbeitsstoffbelastungsbefunde werden üblicherweise in der aerztlichen Diagnose berücksichtigt.“42
Im Hinblick auf den von Jürgen Link beschriebenen Übergang von starren, präskriptiven und fixen Grenzen hin zu flexiblen, deskriptiven Normalbereichen,43 ist das Resümee von Lewalter in seinem Arbeitspapier bezeichnend. Statt eines „fixen, unpersönlichen BAT-Wertes“ forderte er die Berücksichtung der „individuellen Charakteristika des Exponierten auch zahlenmässig“ ein. Deshalb sollte eine „Bandbreite der Toleranzwerte“ angegeben werden, um so auch dem Arzt eine Hilfe bei der Diagnose und Bewertung des „individuellen Belastungs- und Erholungspotentials des Pro-
42 BAK, B 227 / 162622 [Generalakte: Bd. 42, 1981]: DFG. Niederschrift über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Aufstellung von Grenzwerten in biologischem Material“ der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe am 19. Juni 1981 in Hamburg, Anhang 1, Lewalter, Leverkusen. 43 Link: Normalismus, 1997. Zum Normalismus-Konzept in der Geschichte Wupper-Tewes: Normung, 1999. Ders.: Arbeit, 2002.
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banden“ zu geben.44 Aufschlussreich ist zudem Lewalters Feststellung, dass die persönliche Messung von BAT-Werten – im Gegensatz zu MAKWerten – „emotional“ zu Angst und Besorgnis führen würden. In dieser Perspektive waren die BAT-Werte auch ein Vehikel, um das „präventive Selbst“ zu erzeugen.45 Die individuelle Prävention durch BAT-Werte ist dabei eine heteronom induzierte Selbsttechnologie. Was aber meinte Lewalter mit der Feststellung, „der arbeitende Mensch ist primär kein Analysegefäss des BAT-Konzeptes“? Den BAT-Werten erwuchs vor allem von gewerkschaftlicher Seite Widerstand nicht zuletzt aufgrund der sprachlichen Modellierung des Arbeiterkörpers im Rahmen der Philosophie der BAT-Werte. Die gewerkschaftlichen Bedenken teilte unter anderem auch Klaus Lehmann vom Deutschen Institut für Normung. Lehmann schrieb an die Adresse der Arbeitsgruppe der MAK-Kommission, die mit der „Aufstellung von Grenzwerten in biologischem Material“ betraut war, dass es sehr zu begrüßen sei, wenn ein von deutschen Arbeitsmedizinern seit langem verfolgtes Konzept jetzt in zunehmendem Maße auch international aufgegriffen werde. Wenig hilfreich seien aber alle Aktivitäten, welche die langjährigen arbeitsmedizinischen Bemühungen um eine Verbesserung der Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz zunichte zu machen drohten. „Hierzu zählen unzweifelhaft auch Stellungnahmen technischer Komitees zu ärztlichen Sachverhalten“. Lehmann stieß sich vornehmlich an der Sprache dieser „technischen Komitees“: „Kritikwürdig ist aber insbesondere in ethisch-moralischer Hinsicht, wenn es den Menschen nur als technisches Sammelgefäss begreift. Passagen des Papiers [International Organization for Standardization, Technical Committee-146 Air Quality. Ad Hoc Committee Biological Monitoring. October 12, 1982] wie humans in the workplace […] can be effective samplers of the atmosphere sind nicht nur geeignet,
44 BAK, B 227 / 162622 [Generalakte: Bd. 42, 1981]: DFG. Niederschrift über die Sitzung der Arbeitsgruppe „Aufstellung von Grenzwerten in biologischem Material“ der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe am 19. Juni 1981 in Hamburg, Anhang 1, Lewalter, Leverkusen. 45 Zum „präventiven Selbst“ siehe Lengwiler/Madarász: Präventive Selbst, 2010.
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der arbeitsmedizinischen Sache grossen Schaden zuzufügen. Sie zeigen zugleich wenig Respekt vor der Würde des Menschen.“46
Als ein zentrales Element des Übergangs vom Protonormalismus zum flexiblen Normalismus bezeichnet Jürgen Link die „kybernetische Homöostase“. Dazu schreibt er, normalistische Subjektivität beruhe auf der Fähigkeit zur Selbst-Normalisierung – und diese erfolge „nach dem Modell phantasierter homöostatischer Maschinen und kybernetischer Vehikel. Kein Normalismus also ohne Subjekte, die sich selbst bis zu einem gewissen Grade in orientierungsfähige Homöostaten und steuerbare Techno-Vehikel verwandelt haben“.47 Im Regulierungsdispositiv der BAT-Werte waren die Körper der Arbeiterinnen und Arbeiter wortwörtlich zu einem technischen Analyseinstrument geworden.
8. B ERUFSKREBS UND B LAUER D UNST : Z UR „D ETHEMATISIERUNG INDUSTRIELLER P ATHOLOGIE “ IN DER F REIZEITGESELLSCHAFT Als 1975 die sogenannte „Berufskrebsstudie“ der DFG erschien – dafür waren bei BASF, Höchst, Bayer, ESSO, Ford, Phoenix, Schering, BP, Conti und Dunlop seit 1968 unter anderem mehr als 200.000 Lochkarten statistisch ausgewertet worden – räumten die Autoren gleich selbst ein, dass dieser retrospektiven Studie ein großer methodischer Makel anhaftete. Sie gestanden, dass eine „für die Zwecke der Studie wichtige Information“ leider nicht mehr gewonnen werden konnte: Die Rauchgewohnheiten.48 Im Hinblick auf die Berufskrebsstudie hatte Heinz Oettel, Arbeitsmediziner bei BASF und Mitglied der MAK-Kommission, bereits 1968 vermerkt, die „zentrale Schwierigkeit“ dieser Studien läge im Fehlen einer „exakten Ta-
46 BAK, 227/151439, Arbeitsgruppe „Aufstellung von Grenzwerten in biologischem Material“, Bd. 3, 1981-1982: Brief von Klaus Lehmann, DIN, Deutsches Institut für Normung e.V., 23.12.1982. 47 Link: Normalismus, 1997, S. 27 (Hervorhebung im Original). Siehe auch Tanner: Weisheit, 1998. Zum „normalistischen Gesundheitskonzept“ siehe auch Wupper-Tewes: Arbeit, 2002. 48 Horbach/Koller/Loskant: Analyse, 1975, hier S. 227.
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bakrauchanamnese“; weshalb es auch unmöglich sei, die Lungenkrebsfälle etwa bei der BASF mit konkreten Arbeitsplätzen zu korrelieren.49 Die hier von Oettel verwendete Argumentationsstrategie kann man im Anschluss an Wolfgang Hien sowie Rainer Müller und Dietrich Milles als „Dethematisierung der industriellen Pathologie“ bezeichnen.50 Vielleicht noch treffender ist es, von einer Umsemiotisierung zu sprechen. Denn Oettels Aussage kann als Versuch gelesen werden, Krebs von der Assoziierung mit der beruflichen Exposition in der Chemieindustrie loszulösen und mit individuellem (Fehl-)Verhalten in Verbindung zu bringen. Diese Beobachtung lässt sich auch mit Quellen zur MAK-Kommission untermauern. Die Frage des (Passiv-)Rauchens am Arbeitsplatz wurde in dieser Kommission seit Ende der 1960er Jahre zwar immer wieder verhandelt, spielte jedoch eher eine untergeordnete Rolle. Wichtig schien die Frage des Rauchens für die MAK-Kommission lediglich in einer ganz bestimmten Hinsicht zu sein: Da es die Kommission als unmöglich erachtete, für Gemische MAK-Werte aufzustellen, wurde insbesondere von Dietrich Henschler gegen entsprechende Einwürfe immer wieder die Argumentationsstrategie ins Feld geführt, dass „die Kombination von Arbeitsstoffen mit Alkohol bzw. von Arbeitsstoffen mit Arzneimitteln im allgemeinen wesentlicher ist als die Einwirkung mehrerer Arbeitsstoffe gleichzeitig. Die Gesundheitsrelevanz des Alkohols und des Rauchens ist sehr hoch.“51 Diese Debatten zur Relevanz von Gemischen respektive von Nikotin und Alkohol für den Arbeitsschutz führten in der MAK-Kommission sodann auch zu Reflexionen über die in den 1970er Jahren immer mehr ins Auge fallende „Freizeitgesellschaft“. Für die Arbeitshygieniker ergaben sich aus der Verkürzung der Arbeitszeit und aus der Verlängerung der Freizeit neue „Probleme“, weil die „Unter-
49 Oettel/Thiess/Uhl: Beitrag, 1968, S. 293 u. 295-299. 50 Siehe hierzu Hien: Chemische Industrie, 1994. Milles: Occupational Disease, 1997. 51 BAK, B 149/27666: Maximale Arbeitsplatzkonzentrationen gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe (1970-1978): Landesanstalt für Umweltschutz, BadenWürttemberg. Institut für Immissions-, Arbeits- und Strahlenschutz. Karlsruhe, den 21. 2. 1977 (Dr. Quellenmalz). Aktenvermerk. Betr.: Gespräch DFG-MAKKommission / AgA / BMA v. 3.2.1977.
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nehmer das Privatleben der Arbeiter nicht genügend übersehen können.“52 Auch diese Tendenzen stehen im Kontext der Dethematisierung der industriellen Pathologie und der Individualisierung des Krankheitsverschuldens.
9. „G OVERNING BY N UMBERS “: G RENZWERTE FÜR GEFÄHRLICHE ARBEITSSTOFFE UND DIE RAF Grenzwerte als Medien der Chemopolitik sind ein Element dessen, was Peter Miller treffend als „Governing by Numbers“ bezeichnet hat. Grenzwerte werden gemeinhin als Zahl angegeben. Ihre Legitimation bezieht diese auf Zahlen beruhende Kommunikationsweise aus einem tiefen Glauben an die Wertfreiheit der Mathematik. In Form der Statistik und der Wahrscheinlichkeitsrechnung war diese Wissenschaft immer wieder wesentlich daran beteiligt, dass Grenzwerte ihre erstaunliche Karriere hinlegen konnten.53 Diesen Wertfreiheitsbeteuerungen zum Trotz durchschauten einige Arbeiterinnen und Arbeiter den politischen Gehalt der Grenzwerte offenbar. In den Generalakten der MAK-Kommission im Bundesarchiv in Koblenz liegt ein Brief des „geprüften Industriemeisters“ Oskar W., den dieser an die DFG gerichtet hatte. In diesem Brief konstruierte Oskar W. zunächst eine Analogie zwischen dem „Buback-Mord“ und der „Ermordung Unschuldiger“ durch die Chemieindustrie. Auch wenn Grenzwerte nicht direkt zu Wort kamen, so wird in diesem Brief doch klar, wie Wolf die Grenzwertpolitik am Arbeitsplatz interpretierte: „Es wird niemand den Buback-Mord für richtig befinden, dass der Mord an hohen Justizbeamten aber den „kleinen Mann“ viel weniger berührt als ein Geiselmord, die Ermordung Unschuldiger und nicht zuletzt auch eine falsche Justizpolitik ausbadender ermordeter Polizeibeamten, liegt auf der Hand. Der Bürger und auch kleine Beamte ist in unserer Beamtokratie statt Demokratie rechtlos. Firmen wie BASF,
52 BAK, B 227/151491: Ausschuss für Gefahrstoffe beim BMAS, Zusammenfassende Niederschrift der Sitzung „MAK-Wert-Definition und Meßstrategie“, 31. Januar 1978, S. 11. 53 Siehe Miller: Governing by Numbers, 2001. Miller: Calculating, 2008. Zum virulenten „trust in numbers“ siehe Porter: Trust, 1995. Zur Geschichte des Wahrscheinlichkeitskalküls siehe Gigerenzer: Empire, 1989.
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BAYER usw. treiben eine vorbildliche Umwelt- und Betriebspolitik, letzthin kostet auch die Neuanlernung eines Arbeiters um DM 3000.- oder mehr in vielen Fällen.“
54
Wolf unterstellte den Chemie- und Pharmagiganten somit, „risk-benefit“Analysen zur möglichst optimalen Nutzung des „Humankapitals“ einzusetzen. Auch er betrachtete die Dosierung von Gefahrstoffen nicht als medizinisch-toxikologisches Unterfangen, sondern als eindeutig sozio-ökonomische Angelegenheit. Diesen Umstand drückte W. in der Sprache der Zahlen aus. Zudem versuchte er, einen Zusammenhang zwischen der Tötung eines Individuums und derjenigen einer Population herzustellen. Wenn auch nicht bezüglich der Gegenstände, so schien – was wesentlich zentraler ist – über die Sprache, in der man sich stritt, Konsens zu herrschen.
10. E PILOG : G RENZWERTPOLITIK UND KYBERNETISCHE ANTHROPOLOGIE ZWISCHEN I NDIVIDUALISIERUNG UND T OTALISIERUNG Wachsender Konsens ist zunächst nicht bezüglich der Gegenstände, über die man sich streitet, sondern über die Sprache, in der man sich streitet, zu erwarten. Die Sprache gewinnt dadurch wieder an „semantischer Eindeutigkeit“. Durch diese Form sozialer und kultureller Stabilisierung ist im Krisenkontext eine neue Koordination des Denkens zustande gekommen.55 Die Diskurse zur Stellung des Individuums im Produktionsprozess zeichnen sich in den 1970er Jahren durch eine systemtheoretisch respektive kybernetisch imprägnierte Sprache aus. Metaphern aus dem Fundus der Kybernetik dienten als Übersetzungsmedien, wobei die Arbeiterkörper gleichsam als lebende Modelle funktionierten. In den BAT-Werten wurde der Arbeiterkörper zu einem „technischen Sammelgefäss“ in einem als „MenschMaschine-Umwelt-System“ konzipierten Arbeitsbereich; und das Subjekt der TRK-Werte fußte auf einer systemtheoretisch-mathematischen Theorie
54 BAK, B 227 / 162610: MAK-Kommission, Generalakte, Bd. 30, 1977, Brief von Oskar W., Geprüfter Industriemeister, an die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Trossingen, den 1.9.1977. 55 Siegenthaler: Regelvertrauen, 1993, S. 203 u. 206.
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der Entstehung von Krebs. Die Wirkmächtigkeit der Kybernetik als heterogenes Ensemble von Praktiken und Diskursen war entsprechend eine zentrale Voraussetzung für die Akzeptanz der systemtheoretisch inspirierten – und in mathematischen Formeln explizierten – neuen Sichtweise der Beziehungen von Dosis und Wirkung insbesondere bei der Entstehung von Krebs. Während sowohl die Einführung der TRK- als auch der BAT-Werte als Übergang zu einer kybernetisch modelliertem Risikoepisteme gelesen werden können,56 so besteht dennoch ein Unterschied in der jeweiligen Positionierung des Arbeiterkörpers im Regulierungsdispositiv. Die Erfindung der TRK-Werte steht stärker im Zeichen der Regierung einer Population, wohingegen die BAT-Werte mehr im Zusammenhang mit der Aufwertung der individuellen Gesundheit im Zuge der „Humanisierung des Arbeitslebens“ zu sehen sind. Während die TRK-Werte (wie die MAK-Werte) auf der Annahme eines Normalmenschen gründen und mittels statistischer Extrapolationen die Konzentration von gefährlichen Stoffen in der Raumluft – also in der Arbeitsumwelt – festlegen, werden die BAT-Werte in den Körperflüssigkeiten gemessen. Sie gehen somit von „individuellen Charakteristika“ (etwa in der Resorption von Gefahrstoffen und vom „Normalen“ abweichenden Stoffwechselvorgängen) aus. Die Einführung der BAT-Werte mit ihren flexibleren „Toleranzbereichen“ kann denn auch als ein Element des Übergangs zum flexiblen Normalismus gelesen werden. Dennoch sind BAT-Werte einerseits, und MAK- und TRK-Werte andererseits, zwei Seiten derselben Medaille. Wie Giorgio Agamben im Anschluss an Michel Foucault festgestellt hat, integrierte „der moderne westliche Staat in einem bislang unerreichten Maß subjektive Techniken der Individualisierung und objektive Prozeduren der Totalisierung“. Es sei somit von einem eigentlichen „politischen double bind“ zu sprechen, „das die gleichzeitige Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen bildet.“57 Hinsichtlich der Bio-Politik am Ende des 20. Jahrhunderts ist eine Aussage aus einem Interview mit dem Arbeits-, Sozial- und Umweltmediziners Gerhard Lehnert aus dem Jahre 1991 aufschlussreich. Lehnert, der an der Einführung der BAT-Werte aktiv beteiligt und unter anderem Dekan der
56 Schwerin: Low Doses, 2010. 57 Agamben: Homo sacer, 2002, S. 15.
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Medizinischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg war, vertrat in der Zeitschrift „Das öffentliche Gesundheitswesen“ folgende Ansicht: „Ich glaube, dass man das Problem in der klassischen Weise der Prävention nicht mehr angehen kann, weil das einfach nicht mehr bezahlbar ist. Alle Maßnahmen gegen Risiken des Arbeitsplatzes oder des Lebens generell immer am schwächsten Glied ausrichten zu wollen, ist unrealistisch geworden. Ich glaube, es gibt nur noch den Weg, Risikogruppen herauszufiltern und auch den Mut zu haben, den Leuten zu sagen, dass sie ein Risiko haben, das gegenwärtig nicht auszuräumen ist.“
58
Zu den Nebenwirkungen von Grenzwerten am Ende des 20. Jahrhunderts fragen Sie also besser nicht ihren Arzt oder Apotheker, sondern einen Gesundheitspolitiker. Denn ihre Individualität spielt nur insofern eine Rolle, als sie eine Funktion ihrer Risikopopulation ist.
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58 Lehnert: Es spricht, 1991, S. 147.
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Arbeitsorganisation und industrielle Ordnung
Kanalisierte Dynamik, angeordnete Körper Bewegungsmetaphern, Gesellschaftsordnung und der Industriebetrieb (1920-1960) T IMO L UKS
1. D IE P ROBLEMATISIERUNG DES I NDUSTRIEBETRIEBS Die klassische Industriegeschichte war lange Zeit darauf fixiert, einen theoretisch tragfähigen, idealtypischen Begriff des Betriebs zu entwickeln und diesen dann in der historischen Analyse ‚anzuwenden‘. Derartige Bemühungen stoßen jedoch insofern an Grenzen, als dass sie zwar vergleichende und typisierende Perspektiven eröffnen, diese aber mit einer gewissen EntHistorisierung einhergehen. Demgegenüber stehen Ansätze, die sehr viel stärker auf die historisch je spezifischen Konstitutionsbedingungen des modernen Industriebetriebs abheben.1 Daran anschließend möchte ich eine Konzeption von Industriegeschichte vorschlagen und erproben, die sich unter Bezug auf Michel Foucault historischen Modi der Problematisierung des Industriebetriebs widmet. Das Augenmerk verlagert sich dabei von der Beschreibung als gegeben vorausgesetzter Gegenstände auf die Analyse ihrer Etablierung. Problematisierung meint, so Foucault, die „Gesamtheit der diskursiven oder nicht-diskursiven Praktiken“, die „etwas in das Spiel des Wahren und des Falschen eintreten“ lässt und es als „Objekt für das Denken (sei es in der Form der moralischen Reflexion, der wissenschaftlichen Erkenntnis, der politischen Analyse usw.)“ konstituiert.2 1
Vgl. dazu die Einleitung von Lars Bluma und Karsten Uhl in diesem Band.
2
Foucault: Sorge, 2005, S. 826.
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Im konkreten Fall geht es darum, welche Gesellschaftsentwürfe und Ordnungsmodelle einer bestimmten Sicht auf den modernen Industriebetrieb zugrunde lagen und welche gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen daraus abgeleitet wurden. Es geht mithin um die Frage, wie verschiedene Modi der Problematisierung industriebetrieblicher Arbeits- und Sozialverhältnisse mit unterschiedlichen Modi der Be- und Verarbeitung der Moderne zusammenhingen. Die Industriegeschichte kann auf diese Weise sehr viel grundsätzlicher innerhalb der vielfältigen Versuche verankert werden, die Geschichte moderner Gesellschaften zu schreiben. Eine derartige Analyse kann zum Beispiel der Frage nachgehen, wie der Industriebetrieb in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem Problem- und Interventionsfeld wurde, von dessen Gestaltung sich Soziologen, Sozialpolitiker und Produktionsingenieure die Re-Stabilisierung einer vermeintlich krisenhaften Gesellschaftsordnung versprachen. Dabei lässt sich ein relativ kohärenter Diskurs identifizieren, der darauf zielte, betriebliche Arbeitsund Sozialverhältnisse in einer ganz bestimmten Weise zu formatieren.3
2. I NDUSTRIEBETRIEBLICHES O RDNUNGSDENKEN S OCIAL E NGINEERING
UND
Zwischen 1920 und 1960 wurde unter anderem in Deutschland und Großbritannien ein Modus der Be- und Verarbeitung der Moderne wirkmächtig, der sich als Ordnungsdenken und Social Engineering bezeichnen lässt und die Problematisierung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche strukturierte.4 Ordnungsdenken und Social Engineering meint im Grunde genommen
3
Zur Umsetzung dieses Programms: Luks: Betrieb, 2010.
4
Neben dem Industriebetrieb ist vor allem an Verkehr, Stadtplanung, Architektur, Bevölkerungs- und Sozialpolitik zu denken. Vgl. Etzemüller: Romantik, 2010; Kuchenbuch: Gemeinschaft, 2010; Schlimm: Ordnungen, 2011. In diesen Arbeiten, wie auch bei mir, kommt mit Blick auf Ordnungsdenken und Social Engineering der grammatikalische Singular zur Anwendung. Das reflektiert den Umstand, dass Ordnungsdenken und Social Engineering eine diskursive Formation bezeichnet – und nicht, was auch möglich wäre, zwei Wahrnehmungsmuster und Gestaltungsinstrumente. Es macht also einen Unterschied, ob von Ordnungsdenken und Social Engineering im Singular oder im Plural die Rede ist.
K ANALISIERTE D YNAMIK,
ANGEORDNETE
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eine mögliche Reaktion auf die ‚Moderne‘; eine Reaktion unter vielen. Im Prinzip war Ordnungsdenken und Social Engineering eine Antwort auf die Frage, wie die Moderne politisch, wissenschaftlich und kulturell be- und verarbeitet werden konnte, wie sie wahrgenommen, beschrieben und zu gestalten versucht wurde.5 Als begriffliches Doppel ist Ordnungsdenken und Social Engineering im Kontext soziologischer Bestimmungen der Moderne – vornehmlich bei Zygmunt Bauman – prominent geworden.6 Die Moderne, so Bauman, sei durch eine bürokratische Kultur gekennzeichnet, die die Gesellschaft als administratives Objekt, als Ansammlung zu lösender Probleme begreift, deren Lösung freilich eine möglichst präzise und ‚praxisrelevante‘ (sozial-)wissenschaftliche Erforschung voraussetzt. Damit wird der Blick nicht zuletzt auf die vielfältigen Anwendungsformen humanwissenschaftlichen Wissens gelenkt.7 Ordnungsdenken und Social Engineering strukturierte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auch die Problematisierung des Industriebetriebs. Der Betrieb wurde infolgedessen als Brennpunkt und Katalysator jener politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen identifiziert, die mit der Herausbildung moderner, industrieller Massengesellschaften verbunden waren. Der Betrieb wurde zu jenem Ort, den es zu gestalten galt, um die industrielle Hochmoderne einzuhegen und zu einer Ordnung vorzustoßen, die die vermeintlichen Verwerfungen der Moderne hinter sich lassen sollte. Industriebetriebliches Ordnungsdenken und Social Engineering etablierte sich in jenem Moment, als eine wirkmächtige Alternativerzählung zum zwar hier und dort weiter praktizierten, insgesamt jedoch als überholt angesehenen Paternalismus wie auch zum offen revolutionären Anti-Kapitalismus benötigt wurde. Die Konturen industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und Social Engineerings kommen im Zusammenhang von Krisendiagnose, konstatiertem Handlungs- und Gestaltungsbedarf, der Identifizierung konkreter Handlungs- und Interventionsbereiche sowie der Skizze möglicher Mittel und Wege betriebs-sozialer und gesamtgesellschaftlicher Re-Integration zum Ausdruck. Ein wesentliches Element industriebetrieblichen Ordnungsdenkens und Social Engineerings war der Versuch, Dynamik zu kanalisieren. Beschleu-
5
Vgl. Etzemüller: Ordnung, 2009.
6
Vgl. Bauman: Moderne, 1991; Bauman: Dialektik, 1992.
7
Vgl. Raphael: Verwissenschaftlichung, 1996; Raphael: Ordnungsdenken, 2001.
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nigungsphänomene nahmen seit den 1880er Jahren einen prominenten Platz in der Wahrnehmung und im Umgang mit der Moderne ein. Sowohl die Vertreter einer in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstehenden Verkehrswissenschaft als auch eine Reihe heutiger Gesellschaftstheoretiker, Soziologen und Verkehrshistoriker trugen und tragen dazu bei, Verkehr bzw. Mobilität und Moderne diskursiv zu verknüpfen. Auf diese Weise entstand eine Perspektive, die Dynamik und Beschleunigung zur Voraussetzung und zum Signum moderner Gesellschaften machte, gleichzeitig aber auch betonte, dass daraus Probleme entstünden, die ihrerseits ordnende und gestaltende Interventionen erforderten.8 Das schlug sich angesichts der Fließarbeit und des Fließbands und angesichts des Umstands, dass Maschinen und Produktionserfordernisse den Rhythmus im Betrieb vorgaben, markant in der Problematisierung des Industriebetriebs nieder. Dem unterlag ein längerer kultur- und gesellschaftsgeschichtlicher Beschleunigungstrend (oder zumindest: ein entsprechender Diskurs), der immer wieder auch Fragen der industriellen Produktion umfasste. Im neunzehnten Jahrhundert wirkten Produktionserfordernisse einerseits in außerbetriebliche Bereiche hinein, andererseits wurde in den Betrieben die Kluft „zwischen der Schnelligkeit der Maschinen und der Langsamkeit der Arbeiter“ (P. Borscheid) diskutiert. Beschleunigung, Tempo und Taktung strukturierten eine spezifisch moderne Zeitwahrnehmung, gekennzeichnet, so Hartmut Rosa, durch eine eigentümliche Paradoxie – stete Beschleunigung oder „Verflüssigung“ bei gleichzeitiger „Erstarrung“.9 Die Ordnungsideale, die sich um Fließband und fließende Produktion herum ausbildeten, gingen über organisatorische und technische Fragen hinaus. Zwar diskutierten Produktionsingenieure nach wie vor derartige Fragen, das bildete oft aber den Auftakt für die Bereitstellung und Durchsetzung umfassender betriebs-sozialer Ordnungsmodelle. Industriebetriebliches Ordnungsdenken und Social Engineering war zwischen 1920 und 1960 durch ein elaboriertes Paradigma fließender Ordnung gekennzeichnet, das sich in den Produktionsräumen materialisierte, vor allem aber auch eine metaphorische Ebene aufwies, auf der reibungsloses Fließen zum Sinnbild von Ordnung wurde. Konzept und Praxis betriebs-sozialer Ordnung rekur-
8 9
Vgl. Schlimm: Ordnungen, 2011, S. 9-25. Vgl. Rosa: Beschleunigung, 2005, S. 39-50; mit anderen Akzenten Borscheid: Tempo-Virus, 2004.
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rierten auf eine bestimmte Art von Bewegung. Es galt, Bewegungen zu kanalisieren und zeitliche Abläufe zu takten. Fließende und Fließbandarbeit brachten sehr anschaulich Regel- und Gleichmäßigkeit in Abläufe, die zuvor verwirrend wirkten und kaum zu überblicken waren. Das reibungslose Fließen mauserte sich zu einem Ideal, das nachhaltig mit Ordnung assoziiert wurde. Fragen rein technischer Effizienz und Organisation der Produktion wurden in der gleichen Weise beschrieben wie innerbetriebliche Kommunikation und zwischenmenschliche Beziehungen. Die innere und äußere Gestaltung der Fabrikgebäude und Produktionshallen wurde der Idee der Flow Production untergeordnet und gab dieser Gestalt. Bestimmte Bewegungen, die nicht behindert werden durften, die Transformation unerwünschter in erwünschte Bewegungen, eine möglichst rationelle Ausnutzung von Raum und Zeit – all das sollte durch die Gestaltung des betriebssozialen Raums erreicht werden.10 Mit Blick auf die (An-)Ordnung11 arbeitender Körper im Raum unterscheiden sich sowohl Ordnungsdenken und Social Engineering als auch das damit verbundene Ideal kanalisierter Dynamik von der klassischen Disziplinierung, deren Funktionsweise Michel Foucault so eindrücklich herausgearbeitet hat.12 Es geht daher im Folgenden nicht nur um die Machtverhältnisse und Machteffekte, die mit dieser oder jener Gestaltung des Raums verbunden sind, sondern um die Konstituierung spezifischer Räume selbst.
10 Der Versuch soziale Ordnung mittels Gestaltung von Räumen und Bewegungen zu etablieren, findet sich auch in anderen Bereichen. So wirkte etwa die „Grundrisswissenschaft“ der Weimarer Republik in diese Richtung. Im Kontext der Diskussionen um Rationalisierung und Kleinstwohnungsbau ging es dabei um die Strukturierung von Bewegungen (in der Wohnung) sowie ein Verständnis der Wohnung selbst als „Verteiler von Wohnfunktionen“ und Schleusensystem. Vgl. Kuchenbuch: Gemeinschaften, 2010, S. 79-82, 87-89. 11 So, wie ich ihn hier und im Folgenden verwende, hat Martina Löw diesen Begriff geprägt: „Der Begriff der Anordnung, insbesondere in der von mir gewählten Schreibweise ‚(An)Ordnung‘, verweist auf zwei Aspekte gleichzeitig: erstens die Ordnung, die durch Räume geschaffen wird, und zweitens den Prozeß des Anordnens, die Handlungsdimension. Eine relationale (An)Ordnung weist damit immanent neben der Handlungsdimension eine strukturierende Dimension“ auf. Löw: Raumsoziologie, 2001, S. 166. 12 Vgl. Foucault: Überwachen, 1994.
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Es geht um Bewegungsspielräume, die im konkreten Fall den Arbeitern eingeräumt wurden. An diesem Punkt liegt in der Tat die Vermutung nahe, dass disziplinierende Machttechniken an ihre Grenzen stießen und immer häufiger durch alternative Zugriffe ersetzt oder zumindest ergänzt wurden. Diesen Zugriffen ging es vor allem um die Kanalisierung von Bewegungen. Der Topos kanalisierter Dynamik wies verschiedene Dimensionen auf. Zunächst ging es vor allem Produktionsingenieuren darum, den vermeintlichen Widerspruch zwischen technisch-organisatorischer Umwälzung der Produktion auf der einen und dem Ideal stabiler sozial-räumlicher Ordnung auf der anderen Seite aufzuheben (3.). Diese Versuche bewegten sich im Rahmen einer Diskussion um Fließband und Automatisierung, die primär die Zusammenhänge technischer, organisatorischer und sozialer Fragen in den Blick nahm. Daneben widmeten sich Betriebspolitiker und Angehörige sowohl des Managements als auch der Gewerkschaften dem Zusammenhang von Kontrollmechanismen und Kommunikationsflüssen (4.). An den Versuchen der Regulierung innerbetrieblicher Kommunikation lässt sich eindrücklich nachvollziehen, dass und wie der Betrieb von einem Ort ungeregelter in einen Ort geregelter Bewegungen verwandelt werden sollte. Zudem warf der Rekurs auf das Fließband und die innerbetriebliche Kommunikation die Frage nach den Strukturprinzipien und Charakteristika betriebs-sozialer Ordnung auf (5.). Neben den in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wirkmächtigen organizistischen Metaphern und Gemeinschaftssemantiken avancierte hier vor allem der Topos der Reibungslosigkeit sowie derjenige der Verkettung zur regulativen Idee. Schließlich zeigten sich umfangreiche Bemühungen, eine ‚Infrastruktur‘ zu entwickeln, die geeignet war, Dynamik im Allgemeinen sowie einzelne Bewegungen im Besonderen zu regulieren (6.). Zu diesem Zweck wurde der Betrieb nach und nach in ein komplexes und stabilisierendes Geflecht aus Kanälen, Wegen, Pfaden und Flüssen verwandelt – materiell und metaphorisch. Damit wurden die Bahnen etabliert, in denen sich die Arbeiter-Körper bewegen sollten, konnten und mussten. An die Stelle eines direkten disziplinierenden Zugriffs auf den individuellen Körper trat der Versuch, die sozialräumliche Umwelt zu strukturieren – in der Überzeugung, dass diese indirekt auf die Bewegung der Körper einwirken würde.
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3. P RODUKTIONSDYNAMIK UND SOZIAL - RÄUMLICHE O RDNUNG Klagen über Unordnung im Innern der Betriebe häuften sich seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Mit der modernen Massenproduktion entstanden neue Anforderungen an Koordination und Kontrolle im und über den Produktionsprozess. Mit der Etablierung fließender Produktion, das heißt der Integration spezialisierter Operationen in einen Produktionsprozess, wurden Diagnosewissen, Teamarbeit, Koordination, Kooperation, Kommunikation und Kontrolle wichtiger.13 Die Fabriken der Automobilindustrie waren jene Orte, an denen sich neue Probleme aber auch neue Muster betriebs-sozialer Ordnung deutlich zeigten. Diese Fabriken spielten beim Transfer und der Diffusion des Fließbands eine wichtige Rolle.14 In Europa setzte nach dem Ersten Weltkrieg und bis in die späten zwanziger Jahre eine produktionsorganisatorische und -technische Experimentierphase ein. „In this atmosphere, all automobile manufacturers were fascinated by the assembly line and, more generally, by mechanical handling. Such devices were physically and obviously imposing; they embodied movement and flow – they were mass production.“15 Im Einzelnen variierte das natürlich. Bei Vauxhall folgten Werkstattorganisation und Maschinenanordnung der Ausbildung direkter Kontrollmechanismen seit der Eingliederung in den General Motors-Konzern im Jahr 1925. Auch Morris schritt mit der Restrukturierung der Produktions- und Maschinenanordnung weit in Richtung amerikanischer Prinzipien voran. Austin ging den Weg fließender Produktion dagegen sehr viel langsamer und stärker gerahmt durch paternalistische Wohlfahrtsprogramme.16 In Deutschland trieb Opel die Einführung fließender Fertigung nach dem Ersten Weltkrieg voran, bereits vor der Übernahme durch General Motors. Opel etablierte mit der Reorganisation
13 Vgl. für verschiedene industriegeschichtliche Kontexte: Hounshell: System, 1985; Nuwer: Batch, 1988; Scranton: Diversity, 1991; Welskopp: Arbeit, 1994. 14 Vgl. Adeney: Motor, 1989, S. 159-162; Bardou u.a.: Revolution, 1982, S. 51-76; Holden: Vauxhall, 1981; Lewchuk: Technology, 1987, S. 33-65; Stahlmann: Revolution, 1993, S. 22-59. Zum Fließband vgl. Bönig: Einführung, 1993; Fridenson: Coming, 1978. 15 Cohen: Modernization, 1991, S. 760. 16 Vgl. Lewchuk: Technology, 1987, S. 152-184.
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der Produktion seit 1920 ein Mischsystem aus fließender und Fließbandarbeit.17 Versuche, die Fließbandproduktion in Richtung Automatisierung weiterzuentwickeln, gab es bereits in den zwanziger Jahren. Seit Ende der Dreißiger setzte jene Dynamik ein, in deren Folge versucht wurde, die in Frage stehenden Techniken großflächig umzusetzen. Automatische Transfermaschinen wurden zwischen 1945 und 1955 zunächst vor allem in der Automobilindustrie eingeführt. Ihre Hochphase erstreckte sich von den fünfziger Jahren bis in die achtziger Jahre.18 In Deutschland war in dieser Hinsicht Volkswagen wichtig. Zwar ging hier auch die Umstellung auf das fordistische Modell der Fließfertigung erst in den frühen fünfziger Jahren vonstatten, 1954 erfolgte dann aber eine umfassende Reorganisation des Produktionsprozesses. „Diese Reform kombinierte den konsequenten Einstieg in die fordistische Fließfertigung mit einer fortschreitenden Automatisierung“.19 In Großbritannien kam es bei Austin zwischen 1946 und 1951 zu entscheidenden Veränderungen der Produktionsorganisation. Das neue System, das Kit Marshalling, etablierte den Fluss des Materials von Station zu Station und ermöglichte die mehr oder weniger gleichzeitige Herstellung verschiedener Modelle an/auf einem Band.20 Bei Fließband und Automatisierung, das zeigt bereits ein kurzer Abriss, handelte es sich zunächst um technische und organisatorische Neuerungen, die zunehmend in den Sog einer sozialen Problematisierung des Betriebs gerieten. Dabei zeichnete sich rasch ab, dass Probleme der Sozialordnung in die Produktionsordnung eindrangen. Frank Woollard, langjähriger Produktionsingenieur der Austin Motor Company, schrieb das dem Fließband und seinen Wirkungen selbst zu. „Nevertheless, there is a moral force about flow-line production which, if properly understood, and rightly used, should make for better order and for more equity and justice in works administration.“21 Fließband und Automatisierung brachten nicht nur eine weithin sichtbare Umwälzung der Produktionstechnik und -organisation mit
17 Vgl. Kugler: Werkstatt, 1987, S. 333-338; Kugler: Arbeitsorganisation, 1985; Stahlmann: Revolution, 1993, S. 71-80. 18 Vgl. Hounshell: Automation, 2000; Hounshell: Planning, 1995. 19 Wellhöner: Wirtschaftswunder, 1996, S. 104. 20 Vgl. Zeitlin: Reconciling, 2000. 21 Woollard: Principles, 1954, S. 88.
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sich, sondern machten Dynamik zum nunmehr unumkehrbaren Prinzip der industriellen Produktion. Ob, inwieweit und in welche Richtung das Auswirkungen auf die soziale und räumliche Ordnung des Betriebs hatte, war eine offene und intensiv diskutierte Frage. Die Fließband- und Automatisierungsnarrative waren seit den zwanziger Jahren durch die Idee einer kontinuierlichen Geschichte der Produktion geprägt. In den Argumenten bildete sich die Suche nach einer Balance zwischen Kontinuität und Wandel ab. Technisch-organisatorischer Wandel war nirgends als solcher ein Problem, sondern erst dann, wenn er in stabile Sozialformationen und Arbeitsbeziehungen eingriff. Verschiedentlich wurde hervorgehoben, dass zum Beispiel die Automatisierung eine Fortschreibung bisheriger Modelle fließender Produktion, deren Weiterentwicklung oder logische Schlussfolgerung sei. Gerade unter Produktionsingenieuren und in den Stellungnahmen der Unternehmen dominierte ein Produktionsevolutionismus, der technische und organisatorische Neuerungen nicht als Bruch begriff. Frank Woollard erinnerte die Leser des Journal of the Institution of Production Engineers 1953 mit klaren Worten an die seiner Ansicht nach nicht zu übersehenden Kontinuitätslinien zwischen Fließband und Automatisierung. „It must be remembered“, so schrieb er, „that automatic transfer machines and mechanisms are the flowering of the flow production system – that handmaiden of mass production – which has done so much to provide and increase the amenities of civilised life. […] The automatic transfer machine – as we know it – grew out of the flow production techniques which have been current for rather more than thirty years past“.22 Einer der damaligen Vizepräsidenten der Ford Motor Company, D.J. Davis, brachte dieses produktionsevolutionistische Weltbild gleichermaßen zum Ausdruck, als er 1956 schrieb:„We do not believe that automation, as we use it, is a revolutionary development in production technique; rather, it is just another evolutionary phase of our advancing production technology.“23 Fließband und automatische Fabrik seien, das versicherte auch die Opel-Post ihren Lesern, „Höhepunkte einer geradlinigen technischen Entwicklung, die im vorigen Jahrhundert begann und im nächsten Jahrhundert die menschenarme Fabrik verwirklichen dürfte.“24 In den fünfziger Jahren
22 Woollard: Advent, 1953, S. 18f. 23 Davis: Automation, 1956. 24 Gross: Logik, 1956, S. 3.
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wurde das Verhältnis von Kontinuität, Wandel und Bruch innerhalb der industriellen Produktion zudem zum Thema der Industrie- und Betriebssoziologie. Dies geschah vor allem vor dem Hintergrund der Debatten um eine ‚zweite industrielle Revolution‘ – und, natürlich, entlang der Frage nach den Zusammenhängen technischer, organisatorischer und sozialer Entwicklungen. Helmut Schelsky zählte es gar zu den ideologischen Elementen der Automatisierungsdiskussion, von einer zweiten industriellen Revolution zu reden. Technisch, so Schelsky, mögen einzelne Entwicklungen zwar durchaus als revolutionär angesehen werden können, mit dem Begriff der Revolution sei nun aber einmal untrennbar auch eine soziale Umwälzung verbunden – und eine solche zeige sich gegenwärtig nicht.25 Evolution und Revolution wirkten im hier relevanten Verwendungskontext im Sinn Reinhart Kosellecks als „asymmetrische Gegenbegriffe“, die „auf ungleiche Weise konträre Zuordnungen“ sozialen Wandels darstellten.26 Das Begriffspaar beschreibt nicht nur zwei Arten von Wandel, sondern es wird bereits in der Benennung und Gegenüberstellung eine der beiden privilegiert, indem sie als vereinbar mit sozialer Ordnung vorgestellt wird. Der skizzierte Produktionsevolutionismus war ein möglicher Weg, um die augenfällige, als notwendig und unumkehrbar erachtete Dynamik industrieller Produktion einzuhegen. Die Industriegeschichte, das wird an dieser Stelle deutlich, darf sich nicht auf eine sozial- und technikgeschichtliche Rekonstruktion der Fließbandproduktion beschränken, sondern sollte gleichermaßen aus diskursgeschichtlicher Perspektive die damit verwobenen Topoi und Figuren in den Blick nehmen.
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DURCH
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Als zweite Quelle innerbetrieblicher Dynamik rückte die Kommunikation (und damit verbunden: Kontrolle) in den Betrieben ins Zentrum des Interesses. Neben der Etablierung systematischer Managementstrukturen trug nämlich auch diejenige bestimmter Kommunikationsstrukturen zur praktischen Realisierung des Unternehmens als distinkter Einheit bei. Mittels neuer Kommunikationsgenres (Formulare, Tabellen, Graphen, Handbücher,
25 Vgl. Schelsky: Folgen, 1957, S. 36-38. 26 Vgl. Koselleck: Semantik, 1979.
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Berichte, Memos, Werkszeitschriften) wurden die Kommunikationsflüsse zunehmend systematisiert.27 Kommunikationsdefizite, Reibungsverluste und dergleichen waren in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts etablierte Themen, und ihre Thematisierung gründete einerseits im Topos fließender Ordnung, andererseits im Verständnis des Betriebs als kommunikativer Ordnung. Als in den fünfziger und sechziger Jahren die Kybernetik als neuer Stern am Himmel erschien, schien diese genau die richtige Sprache zu bieten, um die Bedeutung von Kommunikation in der und für die Ordnung des Betriebs in Worte zu fassen.28 Aus kybernetischer Perspektive zeigten sich die Aufgaben industriellen Managements geradezu als Gestaltung von Informationsflüssen.29 Die Abstraktionshöhen kybernetischer Kommunikations-, Management- und Organisationstheorien blieben andernorts in der Regel unerreicht. Bemerkenswert ist jedoch, dass Informationen hier genauso fließen, wie Bleche, Getriebe, Motoren, Räder oder Türen in der Produktion, dass dieser spezifische Umgang mit Kommunikation auch im Kleinen, zum Beispiel bei der Ausgestaltung innerbetrieblicher Mitbestimmung, prägend war. Als Mitglied eines gemeinsamen Ausschusses von Arbeitern und Unternehmensleitung, so stellte ein Handbuch der Industrial Welfare Society aus dem Jahr 1952 fest, habe man dazu beizutragen, einen freieren Informationsfluss – in beide Richtungen – herzustellen. „You are a member of a works committee. That is to say, you are one of a large number of representative men and women who bring to industry the benefits of consultation – a freer flow of information to the employees about the intentions and ac-
27 Vgl. Yates: Control, 1989. 28 Zur Geschichte der Kybernetik: Bluma: Wiener, 2005; Bowker: Universal, 1993; Galison: Ontologie, 2001; Hagner/Hörl: Transformation, 2008; Heims: Constructing, 1991. 29 Vgl. Beer: Factory, 1962, S. 164. Stafford Beer gehörte zu den führenden britischen Kybernetikern der ersten Stunde. Er war intensiv mit dem Verhältnis von Management und Kybernetik beschäftigt, kritisierte dabei seit den fünfziger Jahren, dass kybernetisches Denken auf Computereinsatz reduziert und dieser in den meisten Unternehmen lediglich als eine Art der Papiervermeidung betrachtet werde, soziale Strukturen jedoch unangetastet ließe, vgl. Pickering: Cybernetics, 2002, S. 423f.
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tivities of your concern; and a better understanding by management of the problems and difficulties of the employees, as well as a clearer appreciation of what they contribute.“30
Diese Perspektive auf den Betrieb als kommunikative Ordnung sowie die Konzipierung sozialer als kommunikativer Beziehungen prägte verschiedene Reformbemühungen. So wiesen zum Beispiel der beim Tavistock Institute of Human Relations31 beschäftigte Elliott Jaques und Wilfred Brown, der Managing Director der Glacier Metal Works, im Rahmen eines Forschungs- und Reformprojekts32 geradezu exzessiv auf die Bedeutung kommunikativer Strukturen hin. Jahrelang, so schrieb Brown, habe er beobachten müssen, dass der Transfer von Lösungen, die an einer Stelle im Werk für ein bestimmtes Problem gefunden worden seien, in der Regel nicht gelang. Die existierenden Kommunikationskanäle, so Brown, reichten offensichtlich nicht aus, um Problemlösungen überall im Werk gleichermaßen verfügbar zu halten. Das begründete für ihn einen dringenden Reformbedarf. Mit einer mitgelieferten Abbildung und deren Kommentierung rückte Brown die Bedeutung von bestehenden, fehlenden und zu schaffenden Kommunikationskanälen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Kommunikationskanäle sollten als Produzenten organisatorischer und sozialer Einheiten im Betrieb sichtbar werden.
30 Industrial Welfare Society: Handbook, 1952, Vorwort. 31 Zur Human Relations-Bewegung sowie dem diskursiven und institutionellen Kontext des Tavistock Institute vgl. Walter-Busch: Faktor Mensch, 2006, S. 312-346. 32 Zwischen 1948 und 1965 wurde unter der Leitung von Brown und Jaques eine Reihe von Studien durchgeführt, die die Entwicklung der sozialen und kommunikativen Gruppenstrukturen bei den Glacier Metal Works in den Blick nahmen. Dabei ging es um die Frage der Auswirkungen organisatorischer Veränderungen auf Rollenverhalten und Verantwortungsgefühl der Angestellten. Vgl. Jaques: Culture, 1951; Brown/Jaques: Glacier Project Papers, 1965.
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„Fig. 25 [vgl. Abbildung 1] depicts diagrammatically the technical channel of communication of one division. These channels are quite distinct from, and an addition to, operational manager-subordinate channels. They are needed […] to alleviate the pressure of traffic or communication of instruction, policy, etc., that builds up in the operational lines of communication.“33
Abbildung 1: Kommunikationskanäle und die Produktion betrieblicher Ordnung (Brown: Explorations, 1960, S. 167). Browns Visualisierung der Kommunikationskanäle lässt keinen Zweifel daran, dass verschiedene Ebenen der innerbetrieblichen Abläufe kommunikativ miteinander verzahnt werden mussten. Die klassische hierarchische Ordnung im Sinn vertikaler Separierung blieb zwar noch erkennbar, ließ sich durch die graphisch eingezogene Kommunikationsebene nun aber mehrdimensional beschreiben. Neben den in klassischer Schichtung erkennbaren drei Stufen der Hierarchie zeigt die Graphik eine weitere Einheit, die aus den „staff officers“ besteht und quer zur gestuften Hierarchie liegt. Deren Zusammengehörigkeit, das heißt der Umstand, dass sie eine organisatorische und soziale Einheit innerhalb des Betriebs bilden, wird freilich erst dadurch sichtbar, dass verbindende „lines of technical instruction“ eingezeichnet werden. Ohne diese kommunikativen Kanäle beständen zwischen den einzelnen „staff officers“ keine sichtbaren direkten Verbindungen.
33 Brown: Exploration, 1960, S. 166f.
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Kommunikation verwies stets auch auf Kontrolle. Kommunikation wurde in den USA schon seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Werkzeug zur Erreichung von Management- und Unternehmenszielen betrachtet. Es ging um Kontrolle durch Kommunikation.34 David Noble hat in seiner Geschichte der industriellen Automatisierung für die Folgephase auf die Bedeutung der Kooperation zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Militär während des Zweiten Weltkriegs hingewiesen, die zu einer nachhaltigen Orientierung an Fragen der Kontrolle und Kommunikation, weniger an Betriebs- und Produktionskosten geführt habe.35 In diesen Bahnen etablierten sich zahlreiche Diskussionen um Umfang und Art der möglichen und nötigen Kontrollmechanismen innerhalb des Industriebetriebs. Walter Puckey, Präsident der Institution of Production Engineers, wies 1955 in seiner Eröffnung der bedeutenden Margate-Konferenz darauf hin, dass Kontrolle ein ebenso vielschichtiges wie wichtiges Thema sei: „‚Control‘ has many alternative definitions, including check – restrain – govern – regulate – command – compare. It is, I believe, the most important single word in the Vocabulary of Automation and it is probable that it will be exercised more through the one word ‚Electronics‘ than any other.“36 Ambivalenzen und Unklarheiten in der Begriffsbildung waren nun aber nicht zwingend ein Problem. Vielmehr ließ sich vor diesem Hintergrund ein expansives Tätigkeitsfeld konturieren, das ein vager Kontrollbegriff zusammenzuhalten versprach. R.H. Booth beschied den auf der MargateKonferenz anwesenden Produktionsingenieuren, dass Kontrollfragen den wesentlichen Teil ihrer Arbeit ausmachten: „[…] control of materials and control of processes, which in turn means control of timing, of temperature, of dimensions, of many other variables which only too often live up to this name. Control mechanisms of one sort or another are old and widely used, and electronics has long played its part in the process.“37
Kontrolle konnte innerhalb dieses Denkens nahezu alles sein. Entscheidend waren nicht einzelne Eingriffe in die betrieblichen Abläufe, die dem Kont-
34 Vgl. Yates: Control, 1989. 35 Vgl. Noble: Forces, 1986, S. 3-41; Mindell: Human, 2002. 36 Puckey: Factory, 1955, S. 13. 37 Booth: Computer, 1955, S. 50.
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rollbereich zugeordnet und von anderen Eingriffen abgegrenzt werden konnten, sondern der Umstand, dass Produktionsingenieure die Gesamtheit ihrer Tätigkeiten – von der technischen Anpassung einzelner Maschinen über die Entwürfe ganzer Produktionsabläufe bis hin zur Manipulation des ‚menschlichen Faktors‘ – als Kontrolle beschreiben konnten, dass der Topos der Kontrolle geeignet schien, die Gesamtheit des Betriebs auf einen Nenner zu bringen. Auch die immer wieder diskutierte Automatisierung nahm unter Kontrollaspekten keine Sonderstellung ein: „Automation exhibits one kind of control dynamic based on one kind of structure. […] Cybernetics is about all manner of control, all kinds of structure, all sorts of system. Automation belongs here. But to the science of cybernetics as a thinking tool for solving the control problems that beset industry, automation is irrelevant.“38
Stafford Beers soeben zitierte kybernetische Perspektive ermöglichte eine direkte Verbindung zwischen Kommunikation und Kontrolle. Indem die Automatisierung in ein Kontrollarchipel eingefügt wurde, statt selbst das umfassende Modell abzugeben, gelang ein entscheidender Landgewinn. Die engen Grenzen, die die Anwendung und Umsetzung einiger spezifischer Neuerungen in der Produktionstechnik faktisch bedeuteten, wurden überschritten. Mit Blick auf die Industriegeschichte ist die Analyse des Kontroll- und Kommunikationsparadigmas insofern interessant, als dass ‚Kontrolle‘ und ‚Kommunikation‘ in den 1980er bzw. 1990er Jahren zu Schlüsselkategorien wurden – ohne dass die Frage nach dem Stellenwert dieser Topoi innerhalb verschiedener historischer Problematisierungen des Industriebetriebs gestellt wurde.39 Entscheidend ist an dieser Stelle, dass ‚Kontrolle‘ und ‚Kommunikation‘ nicht mehr nur als heuristische Instrumente zum Einsatz kommen sollten, um eine Neuinterpretation industriebetrieblicher Arbeits- und Sozialverhältnisse vorzunehmen, sondern zugleich als Gegen-
38 Beer: Irrelevance, 1958, S. 112. 39 Das gilt insbesondere für die in vielerlei Hinsicht produktive labor-processDebatte sowie die jüngeren Forschungen zur Unternehmenskommunikation, vgl. Spencer: Braverman, 2000; Knights/Willmott: Labor Process Theory, 1990; Tinker: Spectres, 2002; Wischermann u.a.: Unternehmenskommunikation, 2003; Wischermann u.a.: Unternehmenskommunikation, 2000.
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stände zeitgenössischer Reflektionen erkannt und analysiert werden. Es geht also nicht lediglich darum, organisatorische und technische Neuerungen in den Betrieben nachträglich als mehr oder weniger verdeckte Versuche zu interpretieren, die Autonomie der Arbeiter zu beschneiden, sondern um die Beantwortung der Frage, welche Vorstellungen von Kontrolle und Kommunikation bereits zeitgenössisch ins Spiel gebracht wurden und vor allem: wie diese Topoi zur Voraussetzung und zum Garanten betriebssozialer Ordnung aufstiegen.
5. R EIBUNGSLOSIGKEIT
UND
V ERKETTUNG
Das Problem der Kommunikation, ihres Fließens und ihrer Kontrolle war eng verwoben mit dem Topos der Reibungslosigkeit. Auf dieser Basis zeichnen sich zeitgenössische Konzeptionen des Betriebs als eine spezifisch verkettete Ordnung ab, die frei von Störungen sein sollte. Die Eliminierung von Störfaktoren und die Gewährleistung reibungsloser Abläufe waren ein umfassendes Programm, das sich in die technischen, organisatorischen, sozialen und persönlichen Dimensionen des Betriebs einschrieb. Ordnungsideal und Ordnungsaufgabe griffen ineinander. „Die Fließarbeit umschließt den Begriff störungsfreier Tätigkeit. Nun ist aber keine menschliche oder mechanische Tätigkeit so vollkommen, daß sie nicht gelegentlich Störungen unterworfen wäre. Nachsehen aller in den Fließarbeitsreihen vorgenommenen Tätigkeiten ist daher ein Erfordernis, ohne das eine Fließarbeit praktisch nicht durchführbar ist. […] Die Revision muß sich auf alle Störungsquellen erstrecken.“40
Technische und organisatorische Revision des Produktionsprozesses mit dem Zweck der Eliminierung von Störfaktoren, wie Otto Kienzle es 1932 in seinem eben zitierten Beitrag zur Einführung der Fließarbeit forderte, war eine Seite der Medaille. Die andere war die Forderung nach steter Aufmerksamkeit für den innerbetrieblichen Umgang miteinander, die in firmenoffiziellen Publikationen regelmäßig wiederkehrte. „Der Erfolg sämtlicher industrieller Unternehmungen und Werke“, so schrieb Karl Bernauer
40 Kienzle: Revision, 1926, S. 197.
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1931 im Opelgeist, „beruht zwingend auf der reibungslosen und entgegenkommenden Zusammenarbeit sämtlicher Abteilungen und damit sämtlicher Mitarbeiter.“41 Immer wieder ging es in den zeitgenössischen Diskursen um die Ordnung des Industriebetriebs um Reibungen, Störungen, fließende Ströme, Kanalisierung, Eindämmung, Gleichgewicht. In der Opel-Post las sich das 1952 so: „Bei uns im Werk reiben sich täglich 20000 Menschen. Diese Feststellung klingt zwar etwas dramatisch, sie ist aber eine Realität. […] Nun könnte dieser Hinweis zu der Feststellung verleiten, daß es unmöglich wäre, den stetig fließenden Strom der verschiedensten Reibungen und Störungen innerhalb einer großen Gemeinschaft zu kanalisieren, einzudämmen. Das stimmt keinesfalls.“42
An dieser Stelle griffen die Gestaltung der Kommunikationsflüsse und eine neue Sicht auf Produktionstechnik und -organisation ineinander. Letztere wurden nun explizit auch als potentielle Integrationsmedien akzentuiert, die dafür sorgen sollten, dass sich überhaupt so etwas wie eine betriebs-soziale Ordnung herstellte und nicht bloß sozialharmonische Rhetorik blieb. Die betriebliche Ordnung ließ sich nun als Effekt organisatorischer und technischer Verkettungen begreifen. Auch das Fließband integrierte und verkettete. L. Stubenrecht hob diese Dimension 1941 in einem Vortrag bei Opel hervor. „Die Maschinen werden hierbei so angeordnet und so dicht nebeneinander aufgestellt, daß jede Arbeitsoperation mit der nächstfolgenden auf das engste verkettet ist. […] Soll ein ganzes Aggregat im Fließverfahren hergestellt werden, so wird man die Fabrikation sämtlicher speziellen Teile dieses Aggregates zusammenlegen. Auf der einen Seite dieses Raumes wird das Rohmaterial angeliefert und auf der gegenüberliegenden erfolgt der Zusammenbau des Aggregates auf dem Montageband. Zwischen diesen Hauptlinien und eine Verbindung derselben darstellend, liegen parallel zueinander die Fließreihen für die mechanische Bearbeitung der Einzelteile. […] Die Fließfabrikation eines ganzen Automobils setzt sich zusammen aus einer ganzen
41 Bernauer: Zusammenarbeit, 1931, S. 4. 42 Anonym: Spannungen, 1952, S. 3.
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Reihe solcher Aggregat-Werkstätten, deren Produkte dann auf Transportbändern in den Wagen-Fertigmontagen zusammenströmen.“43
Der Betrieb wurde zu einer verketteten Ordnung, in der Konstruktion, Materialbeschaffung, Produktion und Vertrieb ineinander griffen; in der Informationen, Materialien und Bearbeitungsschritte zusammenflossen. Das Fließband brachte verschiedene ‚Inseln‘ in eine Ordnung und konstituierte damit ein Werksensemble. Auf einer ausklappbaren Schautafel aus einem Lehrbuch für die Einführung und Umsetzung von Fließarbeit lässt sich das besonders deutlich erkennen (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Serielle Ordnung und Verkettung (Mäckbach: Fliessarbeit, 1926, S. 192). In der Abbildung stehen einzelne Arbeiter nebeneinander, das vor ihnen ablaufende Band verkettet sie. Das Band sorgt auf dem Bild dafür, dass man nicht (oder nicht nur) Individuen sieht, sondern einen Prozess. Das bloße Nebeneinander der Arbeiter wird auf diese Weise zu einer seriellen Ord43 Stubenrecht: Erläuterungen, 1941, S. 11.
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nung in Reih und Glied. Die einzelnen Arbeiter werden im Erläuterungstext unterhalb der Abbildung nummeriert und mit einem Arbeitsschritt identifiziert. Dadurch wird jedem einzelnen ein Platz in einem Produktionsprozess zugewiesen. Die Abbildung zeigt beides: die jeweilige (statische) Position des Arbeiters und den (dynamischen) Prozess der Produktion, an dem jeder teilhat und der sich in Folge der verkettenden Wirkung des Fließbands einstellt. Es war, so verkündete noch 1956 ein Opel-Vorstand, „das laufende Band, das wie ein Ariadnefaden in unterschiedlicher Form dieses neue Werk durchzieht und den Rhythmus der Arbeit bestimmt“.44 Die soziale Dimension und verkettende Wirkung von Fließarbeit und Fließband lassen sich im Anschluss an die bisherigen Ausführungen sehr klar erkennen, wenn man einen weiteren Blick in Werkszeitschriften der Zwischenkriegszeit wirft. Die Redaktion der sozialdemokratischen Betriebszeitung für die Opel-Belegschaft visualisierte und materialisierte Derartiges bereits durch das Logo sowie ihre Erscheinung als ausklappbares Faltblatt – ein papiernes Band, durch das der Text fließen konnte. In der ersten Ausgabe 1929 hieß es folgerichtig: „Wie im modernen Riesenbetrieb das laufende Band den neuen Fabrikationstyp darstellt, der die Arbeiter und Arbeiterinnen in seinen Rhythmus zwingt, so soll in unserer neuen Zeitung ‚Am laufenden Band‘ alles abrollen, was inner- und außerhalb des Betriebes für die Interessen der Arbeiterschaft von entscheidender Bedeutung ist. Symbolisch soll, wie das laufende Band den ganzen Betrieb zu einer großen Werkstatt zusammenschweißt, in dieser Zeitung das geistige, politische und wirtschaftliche Band, das die Arbeiter im Betriebe verknüpft, aufgezeigt“ werden (vgl. Abbildung 3).45 Der Topos des verbindenden Bands war keine Spezialität der gewerkschaftlichen Betriebspresse. Der Opel-Generaldirektor Ignaz Reuter kündigte seinerseits den Start der unternehmensoffiziellen Zeitschrift Opelgeist mit einem Verweis auf die Notwendigkeit verständnisvoller Zusammenarbeit und gegenseitigen Vertrauens an.46 „Aus dieser Auffassung“, so hieß es 1930 im Opelgeist, erwachse „ein hohes Verantwortungsgefühl, das zu der Überzeugung führt, dass auch die scheinbar unbedeutendste Tätigkeit ein
44 De Wolff: Abschnitt, 1956, S. 12. 45 Anonym: Band, 1929, S. 1. 46 Vgl. Reuter: Opelgeist, 1930.
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unentbehrliches Glied in der Gesamtorganisation bildet.“47 Bildlich spiegelte sich das, im Gegensatz zur Gewerkschaftszeitschrift, nur bedingt wider (vgl. Abbildung 4). An Stelle eines verbindenden Bands glich das Logo eher einer breiten Straße, die große (Produktions-)Geschwindigkeit nahe legt, aber auch nicht ganz den Eindruck ausschließt, man könne rechts und links herunterfallen.
Abbildung 3: Das verbindende Band der Gewerkschaft (Am laufenden Band, Titel, Stadtarchiv Rüsselsheim, Sammlung Opel).
Abbildung 4: Der Fortschritt des Managements (Der Opelgeist, Titel, Stadtarchiv Rüsselsheim, Sammlung Opel). Reibungslosigkeit und das „verbindende Band“ wurden zu einem Zielpunkt für die Gestaltung der Sozialbeziehungen im Betrieb und darüber hinaus. Ordnung wurde zur Einordnung, wurde zur Integration des Einzelnen in ein Ganzes, und dieses Ganze wurde in Analogie zur Produktionsordnung, wurde vom Band her gedacht. Es ging um die Integration einzelner Prozes-
47 Anonym: Opelgeist, 1930, S. 1.
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se, um die Etablierung eines integrierten, fließenden Gesamtprozesses, in den Menschen und Maschinen eingebunden waren. Diese Ordnung war dynamisch, aber ihre Dynamik war kontinuierliche Bewegung.
6. R EGULIERTE D YNAMIK Fließende und Fließbandarbeit standen für ein Ordnungsmodell, dessen Realisierung in den Produktionshallen anschaulich zu besichtigen war – in der konkreten Gestaltung von Kanälen, Wegen, Pfaden und Flüssen. Produktionslayout und Fabrikarchitektur wurden der Idee der Flow Production untergeordnet und gaben dieser zugleich Gestalt.48 Fabrikarchitektur, so formulierte es in Deutschland zum Beispiel Walter Gropius, habe „endlich der lebendigen Lebensform der Zeit das natürliche Kleid [zu] erfinden“, das dem „schauenden Auge“ das „entscheidende Motiv der Zeit“ – das „Motiv der Bewegung“ – zu sehen geben solle.49 Dieses Bewegungsmotiv, so Michael Mende mit Blick auf das von Rudolf Lodders in den dreißiger Jahren realisierte Bremer Borgward-Werk, erlangte gerade für den Bau von Automobilfabriken Bedeutung. In herausgehobenem Maß galt es hier, die Gebäude auf einen möglichst kontinuierlich fließenden Ablauf hin auszulegen.50 Vor diesem Hintergrund wurde die Gestaltung der Wege im Betrieb zu einer wesentlichen Herausforderung. Fließband und Fließarbeit boten sich dabei als Modell an. Sie schienen hinsichtlich der Anordnung der Arbeitsstellen und Werktische ganz neue Möglichkeiten reibungsloser Bewegungsabläufe ohne gegenseitige Behinderung zu bieten. Reibungslosigkeit bei der Überwindung von Raum und Zeit wurde zur Leitidee, die Gestaltung der Wege im Betrieb zu einer wesentlichen Herausforderung. „Da wir es bei der Fließarbeit mit festen Arbeitsstellen zu tun haben, so können diese Stellen viel enger aneinandergereiht werden, als im gewöhnlichen Betriebe, so nahe nämlich, daß sich die Leute nicht gegenseitig in ihren Bewegungen behindern“ (vgl. Abbildung 5).51
48 Vgl. Biggs: Factory, 1996. 49 Walter Gropius, zit. n. Mende: Kunst, 1996, S. 223f. 50 Vgl. Mende: Kunst, 1996, S. 224. 51 Mäckbach: Zusammenbau, 1926, S. 183f.
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Abbildung 5: Die Werkstatteinrichtung strukturiert die Bewegungen (Mäckbach: Fliessarbeit, 1926, S. 193). In der Abbildung wird deutlich, dass Bewegung sich auf einen relativ begrenzten Bereich bezieht. Die durch Hocker angezeigten Arbeitsstellen liegen dicht beieinander. Bewegungsspielraum besteht hier kaum. Freie und ungehinderte Bewegungen im gesamten Raum sind offensichtlich nicht intendiert. Der Werkraum insgesamt ist mit Werkbänken und Säulen angefüllt, und diese stehen jeder Bewegung im und durch den Raum buchstäblich im Weg. Mit einer Ausnahme: Die Bewegung der Werkstücke auf den Werktischen ist erwünscht und soll ermöglicht werden. Die Wege der Werkstücke sind daher auf dem Bild deutlich zu erkennen, und das steht im Gegensatz zu den überhaupt nicht erkennbaren Wegen durch den Werkraum als Ganzes. Aber auch auf den Werktischen sind lediglich Kanäle zu sehen. Freie, ungeregelte Bewegung außerhalb dieser Kanäle ist auch für die Werkstücke nicht möglich. Das Bild inszeniert also in zweifacher Hinsicht eine Hierarchie denkbarer Bewegungstypen und damit insgesamt die Notwendigkeit, bestimmte Bewegungen zu verhindern und andere zu fördern.
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Diese für die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht untypische Weise, mit Bewegung umzugehen, zeigt sich nicht zuletzt im Selbstverständnis der betrieblichen Transportabteilungen und dem Stellenwert innerbetrieblichen Transports. Ein effizientes internes Transportsystem galt als Voraussetzung für ein stetes Voranschreiten und Fließen der Produktion.52 Innerbetrieblicher Transport und Produktion schienen in der geregelten Bewegung des Flow zu verschmelzen.53 Ordnung und Stabilität resultierten aus dem gekonnten Zusammenspiel von Regulation und Zirkulation. Bewegungen verliefen geordnet und kanalisiert, solange die Materialien sich auf den vorgesehenen „travelpaths“54 bewegten. Der innerbetriebliche Transport zum Beispiel bei Opel war entsprechend im „Liniensystem“ organisiert, fügte sich damit in das skizzierte dynamische, gleichwohl aber strukturierte Ordnungsgefüge. „Ein Fahrer“, so gab die Opel-Post 1953 zu lesen, „fährt von einer festgelegten Ausgangsstation über bestimmte Zwischenstationen zu einer Endstation. […] Das Liniensystem kann erfahrungsgemäß nur auf wenigen Linien ohne nennenswerte ständige Änderungen beibehalten werden. Die anderen Linien sind dem Rhythmus der Produktion unterworfen und machen entsprechende Wandlungen mit.“55 Vor allem eine Straßen- und wörtlich zu nehmende Flussmetaphorik diente immer wieder dazu, den optischen Wirrwarr des ersten Eindrucks zu entwirren. Opels Haus- und Hofpoet Heinrich Hauser glitt virtuos durch die verschiedenen Metaphoriken, deren Gemeinsamkeit darin bestand, Ordnung und Bewegung zu integrieren. „Ich habe den Verlauf der Fabrikation geschildert als ein Flußsystem. Dies Bild ist genau so richtig und genau so falsch wie alle schematischen Darstellungen. Der Nebenfluß ‚Karosseriebau‘ mündet nämlich nicht seitlich, sondern von oben in den Hauptstrom ein. […] Der Fluß der Arbeit entspringt im obersten Geschoß. Wie ein Wasserfall stürzt sich das laufende Band dann in das zweite Stockwerk, durchläuft es von einem Ende bis zum anderen, fällt dann ins erste und endet über einer Luke. Hier ist der Ausgang für die fertige Karosserie, die Mündung des ‚Nebenflusses‘.
52 Vgl. Wardropper: Organization, 1928, S. 90. 53 Vgl. Riebel: Transport, 1952. 54 Engelbach: Notes, 1928, S. 502. 55 Riebel: Organisation, 1953, S. 7.
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Wir blicken durch die Luke in die Tiefe und sehen: dort unten fließt der große Strom ‚Fertig-Montageband‘.“56
Zum Vorschein kamen „olivgrüne Alleen von Maschinen, durchströmt von Metall“. Die vielfältigen Ströme der Bewegung fügten sich in Hausers Kopf „zu einer gewissen Ordnung“. Die Maschinenstraßen waren nun als System von Haupt- und Nebenstraßen so klar zu erkennen, „wie die Luftaufnahme eines Stromdeltas“.57 Dieses Bild blieb in Erinnerung und wurde einige Jahre später, von Opel-Vorstandsmitglied Gaston De Wolff, erneut aufgerufen: „Heinrich Hauser schrieb einmal von seinen Eindrücken im Opelwerk, daß sich die Rinnsale der Arbeit zu Bächen vereinigen und aus diesen Flüsse und Ströme werden. Wie recht er damit hatte, werden Sie selbst erleben, wenn Sie selbst an den laufenden Bändern entlang gehen und sehen, wie sie gespeist werden mit den ebenfalls auf laufenden Bändern oder von Maschinenstraßen erzeugten und herangeführten Einzelteilen.“58
7. F AZIT Soziale Umgebung und Milieu – damit beschrieb man in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts den Betrieb als eine Raumordnung. In den Versuchen, die betrieblichen Umweltbedingungen zu gestalten, zeigt sich in besonders deutlicher Weise der Übergang von einem organisatorischtechnischen zu einem sozialen Problematisierungsmodus innerhalb der Diskurse um den Industriebetrieb.59 Der Betrieb war ein Raum im konkreten ebenso wie im übertragenen Sinn, und diejenigen, die sich darin bewegten, wurden eingepasst, wurden verortet, wurden angeordnet. Michel Foucault hat in der individuierenden Platzierung ein wichtiges Kennzeichen der Disziplinargesellschaft identifiziert. Die Disziplin als neue Praxis der
56 Hauser: Band, 1936, S. 98. 57 Hauser: Stahlherz, 1951, S. 7f. 58 De Wolff: Abschnitt, 1956, S. 12. 59 Zur Problematisierung des Industriebetriebs als sozial-räumliche Umwelt: Luks: Betrieb, 2010, S. 106-133.
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Machtausübung stütze sich, so Foucault, auf eine „Kunst der Verteilungen“ und bediene sich dazu einer Reihe von Techniken: der Klausur als „bauliche Abschließung eines Ortes von allen anderen Orten“, der Parzellierung als „Prinzip elementarer Lokalisierung“, der Zuweisung von Funktionsstellen als „Schaffung eines nutzbaren Raums“ und schließlich des Rangs als „Platz in einer Klassifizierung“. Das von Foucault beschriebene Spiel der Platzierungen funktionierte entlang der Vorgabe „Jedem Individuum seinen Platz und auf jeden Platz ein Individuum“.60 Eine derartige Kopplung lässt sich mit dem bereits eingeführten Begriff der (An)Ordnung präzisieren.61 Diese Perspektive verbindet nicht nur Körper und Raum, sondern ermöglicht es darüber hinaus – diese Analyserichtung sei hier wenigstens noch benannt – in einem zweiten Schritt, Praktiken verräumlichender (An)Ordnung als Praktiken der Subjektivierung zu analysieren. Letzteres meint, im Anschluss an Michel Foucault, Techniken, die eine „Spezifizierung der Individuen“62 forcieren, also „Objektivierungsformen“, „die den Menschen zum Subjekt machen.“63 In Überschreitung der Grenzen der klassischen Disziplinargesellschaft, aber unter Beibehaltung der Kopplung von Körper und Raum, von (An)Ordnung und Subjektivierung machte industriebetriebliches Ordnungsdenken und Social Engineering Menschen zu einem Teil des Betriebsraums, deren Körper insofern relevant wurden, als dass sie sich in der betrieblichen Umwelt bewegten und diese Bewegung in den Griff zu bekommen war. Es war das Anliegen der vorangegangenen Analyse, jene Diskurse zu portraitieren, als deren Effekt sich jeweils sehr konkrete Bewegungsspielräume im Betrieb materialisierten. Dabei sollte nicht in erster Linie gezeigt werden, wie Subjektivierungspraktiken vor Ort konkret abliefen, sondern wie der Bezugsrahmen beschaffen war, innerhalb dessen ein bestimmter Zugriff auf arbeitende Subjekt möglich wurde.
60 Vgl. Foucault: Überwachen, 1975, S. 181-191. 61 Vgl. Löw: Raumsoziologie, 2001. 62 Foucault: Wille, 1976, S. 58. 63 Foucault: Subjekt, 2005, S. 269f.
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1. P REAMBLE “We cannot evade or ignore the workers’ issue in heavy industry anymore; The best way to approach this question is in an association of engineers.”1 ENGINEER TRASENSTER, 1873.
The representation of the miners’ society has been coloured by a variety of interpretations. Depending on the author of the image, this population was presented either as heroes of the underground or as miserable workers, treated as slaves by wealthy operators. The latter image is supported by descriptions and analysis of the low wages, the bad living conditions, the long working days and the violent suppression of miners when they dared to react against exploitation. Increasingly, during the last two decades a more nuanced approach has gained ground, taking into account the harsh living conditions, but also the first philanthropic attempts of particular mining operators to provide some basic services to their miners, and the competitive spirit that characterised Belgian industrial development during the first decades after the independency. Bruwier, Caulier-Mathy, Dejollier, Gaier and Vandendriessche & Dagant looked at the technical development of the min-
1
Association Liège: Mémorial, 1873, p. 28.
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ing business and its economic influence.2 Pasleau, amongst others, focused on a particular case, i.e. Cockerill.3 Regarding the workers’ issue, the social politics of the elites and the political battle of the working class have always received the major share of attention. The development of the miners’ protest actions, strikes and the formation of unions and the subsequent regularisation have been studied by Deferme, Deneckere, and Puissant, amongst others.4 This can be partly explained by the fact that the source material on these issues is much richer, as it concerned excesses that provoked reactions from contemporaries. Working conditions and body practices received less attention because they were seen as evident and invisible, and thus little information is available. Van den Eeckhout tried to fill in this gap by looking at work relations based on information regarding the werkboekje or livret (logbook); indeed, the workers’ opposition against this contract was driven by the fear that it would influence their working conditions negatively.5 Furthermore, Van den Eeckhout, in charge of a compilation of articles dealing with the position of the foremen, tried to look deeper into the issue of changing working conditions. Interestingly, in all these studies, the entrepreneurs and engineers were overlooked, let alone the history of conflict settlement in enterprises and in industry in general. Mainly Caulier-Mathy reflected on the people who realised, criticised and impeded innovation; the engineer appears only sporadically in these writings, however.6 This is even more striking when we consider the exceptional, far-reaching role state engineers played as supervisors and technical experts in the mining business. These state engineers occupied an intermediate position between policy (government) and practice (proprietor). Within the management of mining enterprises, privately employed engineers (civil engineers) appeared as well. Their position was rather vague. Depending on individual cases, civil engineers functioned as
2
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E NGINEERS
AND THE
O RGANISATION
OF
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mediator between management and workers, or rather aligned themselves with the managing directors. The little interest in the human intelligence that was responsible for the expansion of the mining industry – the essential industry for the industrial development in nineteenth century Belgium – together with the lack of information on working conditions and body practices in this industrial branch, motivates the research presented here. Van den Eeckhout put it clearly as follows: “The number of studies discussing the labour relationship under industrial capitalism is overwhelming, but the literature on labour and the labour process as concrete, day-to-day shop-floor practices seems much less abundant […]. In business histories it is often merely implicitly present; in histories of industrial relations it is frequently reduced to a matter of discussion between unions, employers and governments. In quite a few working-class histories, theoretical and ideological assumptions and debates have obscured the view of the labour process as a lived relationship between creatures of flesh and blood.”7
This apt critique should be seen in the light of available sources and the topic under study. The engineers’ perception of the contemporary organisation of the mining work is investigated with a major emphasis on the human beings, the ‘creatures of flesh and blood’. In the following paragraphs, this article will chart work organisation through the eyes of mining engineers between 1791 and 1865. The contemporary perception will be linked with the policy developed by corps engineers and implemented by civil engineers. This perception leads to the question whether or not engineers consciously and actively tried to organise the shop floor and if so, according to which parameters, e.g. economic variables or moral standards. In doing so, we will deal with organisational and gender issues as well as with health and safety topics that are located within the tension field between technical improvements, economic variables and body practices. Mining engineers touched upon these issues within the discussion of technical improvements, the safety of mining exploitations and the miner’s working and living conditions. Within the framework of this analysis, one should not overestimate the purposefulness and the coherence of the management’s actions, as Van den Eeckhout correctly stressed in the previous quote. The selected time-
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Van den Eeckhout: Supervision, 2009, p. 2.
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frame 1791-1865 not only covers the expanding mining industry but also deals with the period that directors and engineers took the first steps to manage a growing labour force. Our investigation stops when important social legislation tried to intervene in the workers’ lives – both on the shop floor and in private spheres – since this topic has been studied extensively before. Engineers found a sounding board for their social concerns in the engineering associations that were founded in the shadow of the two mining engineering schools in Belgium: the Association des ingénieurs sortis de l’Ecole de Liège (AIL, 1847) and the Société des anciens élèves de l’école spéciale de commerce, d’industrie et des mines de Hainaut (SEH, 1852), established in Mons. It should be noted, however, that the publications of both institutions form an important source for industrial improvements rather than true a discussion platform for social themes. Such platform became available with the institution of the enquêtes of 1843 and 1869. Topics such as child and female labour, hygiene, nourishment and medical care were discussed amongst others by corps engineers. For this preliminary exploration of the engineer’s position about work organisation also other contemporary publications were consulted including journal articles and descriptions by engineers and legislation.
2. C HANGING LABOUR RELATIONS IN B ELGIAN MINES : T ECHNICAL INNOVATIONS AND SCALE INCREASE Iron ore was present in shallow layers in what is now South-East Belgium; the Borinage region centred upon Charleroi and Liège constituted a vast coal formation that ran from the North Sea to the Rhineland. The Walloon region was characterised by thin, irregular coal veins that contained a lot of mine gas, rendering exploitation onerous.8 Intensive mining exploitation developed from the seventeenth and eighteenth century onwards, led by speculators and coal merchants who provided the mine enterprises, often family-run businesses, with the required financial means. Being paid in kind, these brokers effectively controlled the coal market and could thus put
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Besides coal and iron ore also lead, pyrites and blende were extracted. Gadisseur: Industriële doorbraak, 1981, p. 52.
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financial pressure on the debtors. The operators in the early nineteenth century who had survived contemporary regime changes, i.e. the French annexation in 1795, the Dutch reign in 1815 and eventually the Belgian Independency in 1830, were mainly self-taught or hands-on experts with traditional training.9 With the introduction of the first steam engines and new ventilation techniques, the existing exploitation system clearly was deficient, however, and different partnerships (société) saw the light. Future customers of the coal exploitations who wanted to safeguard a steady supply of energy participated in these partnerships, the best-known example being Cockerill. Thanks to these corporations, the required capital could be collected to finance technical innovations. Offering shares to realise a capital increase resulted in an intensive participation of banks such as the Société Générale10, the most important financial institution of Belgium. Eventually, notwithstanding some exceptions such as Grand Hornu and Produits de Flénu, these partnerships were transformed into limited companies (société anonyme) after the Independency in 1830. The entrepreneurial class was actually badly represented in the mining industry since capital was concentrated in only a few hands, which tended to crowd out the self-made man. An elite of managers took their place instead, controlling the markets on assignment of the owners of capital. This resulted in a twofold problem, according to Tenfelde who wrote that “too many secondary areas of the economy appeared to be dependent on it [mining industry]; the control over this important branch of the economy had been placed in too few hands during the process of capital concentration under prevailing liberal theory of economics […] the manoeuvrability of the state’s leadership appeared to be re-
9
Gaier: Houillière Liégeoise, 1988, pp. 22-23, 133, 171, 202.
10 Under Dutch rule, the Société Générale (originally Algemeene Nederlandsche Maatschappij ter begunstiging van de Volksvlijt) was founded in 1822: a crucial event since this financial institute would actively participate in spearhead industries which stimulated economic revival in the south of Belgium. As a consequence a small group of financiers, mainly from Brussels, gained a powerful grip on the most modern industries of the country.
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stricted by the concentration and degree of power belonging to heavy industry. The other side of the problem was the social issue.”11 The mining industry was thus clearly coloured by an increase of scale that would influence the relations on the shop-floor as well: while before employer and employee had been in daily contact with each other, (financial) operators became invisible and were represented by engineers and foremen. Engineer Lambert12 even pictured those two actors as completely foreign to one another: “the workers are in general only little known, there is no strong relationship between them and their employers, they perceive each other as strangers […].”13 Parallel to this, new technical developments rendered workers unqualified to participate directly in the innovation process. Engineer Charles Le Hardy de Beaulieu (1816-1871)14 connected the well-documented contemporary working and living conditions of the miners with this increase of scale: “the actual work organisation in large workshops seems to have been especially invented to destroy this [intimate bond], harming public morality, the morals and the material wellbeing of
11 In 1858 the predominance of the Société Générale was clear: the bank was involved in 14 out of 26 limited partnerships. Caulier-Mathy: Steenkoolindustrie, 1995, pp. 189, 193, 197. Kurgan-van Hentenryk: Industrial relations, 1990, pp. 203-205, 207, 214-215. Tenfelde: Industrial relations, 1990, p. 3, Puissant: Evolution, 1982, pp. 40-42, 61. 12 J. Lambert was Ingénieur principal du 2me arrondissement (Charleroi). No further information available. 13 The employers could not give details about the origins of their miners and engineer Lambert explained this by pointing at the inexistent contact between work force and management. See also the reflections of engineers Gautier, Delneufcour and Weiler in Enquête, 1846, pp. 244, 268. Scloneux: Grève, 1880, p. 207. Weiler referred to ‘slavery’ when describing the work organisation. Engineer Julien Weiler (1844-1909) was engineer, economist and sociologist. In his writing he used the pseudonym Scloneux amongst others. Enquête, 1869, p. 74. 14 Charles Le Hardy de Beaulieu (1816-1871) graduated from the French engineering school Ecole centrale des arts in Paris in 1835. He is generally identified as an economist and professor of the Belgian engineering school Ecole spéciale de commerce, d’industrie et des mines du Hainaut, established in 1837 in Mons. Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, p. 51. Le Hardy de Beaulieu: Petit manuel, 1868.
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the working class.” Aside from this analysis, the author understood that it was neither desirable nor possible to return to former practices: it was society’s duty to study the problems that resulted from the new industrial organisation.15 Nevertheless, the mining operators had to bear in mind that the mining administration was supervising their enterprise. State intervention indeed led to the introduction of measures on health and safety which had no equivalent in other industrial branches at the time. This article will introduce the mining legislation from the French period onwards before returning to the management of the mines, not least because both corps and privately employed engineers debated together upon the issues at hand.
3. I NCREASING
REGULATION
3.1 The French kick-off: corps engineers as technical consultants and superintendents As this volume’s introduction explained, labour was subjected to structural changes during the nineteenth century. One of the major modifications referred to was the increasing juridical regulation by the State. Technical development and more precisely its introduction into the mining industry was stimulated by the French government since the mine inspectors and engineers of the Corps des mines were put in charge of supervising the exploitations and implementing technical innovations to assist mine proprietors.16
15 The previous practice of daily contact made that problems were more easily solved. The new relationship is easily exemplified by the use of affichage (posting) to announce new regulations. The miners bore witness to the change: “we always expect traps in these writings, that are mostly incomprehensible for us.” Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, pp. 47, 51. 16 As ambassadors of the central government, state engineers were, unsurprisingly, not always perceived in a positive manner – not least because the operators themselves had to pay these state officials for being inspected. Information on the mining regulations and supervision before the French annexation in 1795: Gaier: Houillière Liégeoise, 1988. Caulier-Mathy: Loi mines, 1983, pp. 53-91. Cent cinquantième anniversaire, 1963, pp. 39-42.
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Justification for this state interventionism was found in the legislation of 1791 and 1810 regarding the concessions for mining exploitations, open mines or quarries: the French government, more precisely the Conseil d’Etat, contributed concessions after a ‘well-considered’ decision. Consequently, the State supervised mining exploitation directly. In order to guarantee the supervision, the Agence des Mines (renamed Conseil des Mines de la République in 1795, and Conseil général des Mines in 1810) was established to manage the corps of eight inspectors, twelve engineers and forty engineer-candidates (élèves).17 In 1798 the first French engineer was appointed in Liège, le premier arrondissement minéralogique de la première division. By 1810 the initial policy was adapted; henceforth the financial and operational capacities of potential concession candidates had a major share in granting the concession. The corps engineers were appointed to investigate this issue. To guarantee the formation of these state officers, candidates for the Corps des mines had to attend the Ecole polytechnique first – thus resulting in engineers with a highly theoretical profile, far removed from traditional mining operators.18 Within their role of technical consultants19, corps engineers actively participated in industrial progress. This role became clear at the moment when the concession was being granted. Every member of the partnership had to commit himself to the regulations of compulsory specifications (cahier des charges) first formulated by the corps engineers in 1810. Thanks to this document the engineers could impose technical innovations, improved safety measures and a rational exploitation policy, for instance by
17 Already in 1744 a royal decree claimed that the underground was property of the King, and since 1781 the ‘Inspecteurs des Mines et Minières du Royaume’ had formed the heart of the mining supervision in France. It looks as if in 1791 the State became actual owner of the underground and remained in this position after having allowed the concession for exploitation. For a detailed analysis of the history of the mining legislation and the French Corps des mines we refer to the detailed research of Thépot: Ingénieurs, 1988. Caulier-Mathy: Loi mines, 1983. 18 This educational background is far more complex, however. See Thépot: Ingénieurs, 1998. 19 Because of their task to distribute important engineering knowledge, the Annales des arts et manufactures were spread to entrepreneurs between 1800 and 1815. Caulier-Mathy: Technique d’exploitation, 1971, p. 132.
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making the use of steam engines or supports in the underground galleries compulsory.20 Exactly these specifications were a source of frustration, as has been documented for the Borinage. There, proprietors pleaded for the wholesale suppression of all administration and supervision, given that the French state engineers were “subordinate tyrants […] ordering vicious theories to follow […] [resulting in] various exploitations ceasing extraction.”21 Nonetheless, this quote shows that corps engineers took energetic action and were present in more than just legal texts. As superintendents, they paid special attention to the safety of the underground galleries and of the workers. The articles of the 1810 mining law explain: “48. They observe the future exploitation method, to enlighten the operators concerning inconveniences or improvements, or to warn the administration of existing vice abuses or dangers; 49. If alarmed about public safety or consumer’s needs the operation is restricted or suspended; 50. If operation endangers public safety, the maintenance of the pits, the solidity of the works, the safety of the miners or their residential area, the prefect will guarantee this […].”22
Contemporary witness reporting that “the operators are not at all bothered by the life of their workers,” show that this aspect of the French legislation came by no means late in the new départements.23 Notorious mine catastrophes led to an extension of the corps engineers’ authority and even more emphasis was put on safety at work. In the preamble of a decree from 1813 the following causes were listed for different misfortunes: “1° in execution of the specifications’ clauses imposed on the operators to guarantee the solidity of their work; 2° the insufficiency of the precautions against underground flooding and against the ignition of the mephitic and noxious vapours; 3° the
20 For the influence of the state engineers see: Caulier-Mathy: Technique d’exploitation, 1971, p. 118. Caulier-Mathy: Steenkoolindustrie, 1995, p. 189. 21 Caulier-Mathy: Loi mines, 1983, p. 76. 22 Loi 1810, 1810. 23 Gaier quotes the Frenchman Thomassin, functionary of the département de l’Ourthe. See: Gaier: Houillière Liégeoise, 1988, p. 133. Puissant reached a conclusion with a similar tone in Puissant: Innovation, 1986, p. 74.
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lack of subordination of the workmen; 4° the negligence of the mine owners to call for required rescue.”24
The first two points constitute a reaffirmation of the corps engineer’s authority; the last ones, which mentioning insufficient responsibility of operators and miners themselves, will return below. 3.2 Mining policy and Corps after 1815 After a Dutch intermezzo between 1815 and 1830,25 marked by the suppression of the Corps des mines and a decentralizing policy, the Temporary Government claimed the independency of Belgium on October 4, 1830.26 The Belgian government was facing enormous challenges of industrial and infrastructural nature, not least because former markets had disappeared due to the closure of the Scheldt and the loss of the Dutch colonial trading areas. To manage this complex problem properly, the new state harkened back to tried solutions from the past. In particular, it maintained the 1810 legislation for the mining industry: the Corps des mines was re-launched with the objective to guarantee a safe and rational exploitation as initiated
24 Rolin: Institutions, 1903, p. 65. Cent cinquantième anniversaire, 1963, p. 21. Caulier-Mathy: Technique d’exploitation, 1971, pp. 119-121. Mainjot: Corps, 2006, p. 10. 25 The Verenigd Koninkrijk der Nederlanden (United Kingdom of the Netherlands, established in 1815) generally led to decentralisation in the sector compared to the previous French period. The Etats Provinciaux would play a more important role, although a central authority – the King – remained responsible for actually approving concession applications. The local authorities could moreover express their opinion on concession applications for the first time. Continuity and knowledge transfer were guaranteed by the French engineers Bosnuël (becoming the only Chief-Engineer of the country) and Chèvremont, already working in the territory of what would later be Belgium under French rule. Only limited information is available regarding the Dutch period: Cent cinquantième anniversaire, 1963, pp. 46, 47, 89-90. Caulier-Mathy: Loi mines, 1983, pp. 53, 77-78. Caulier-Mathy: Ingénieurs, 1986, pp. 4-5. 26 For an introduction in the history of Belgium see: Blok: Nederlanden, 1977. Chlepner: Histoire, 1983. Witte: Geschiedenis, 1997.
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during the French Empire. Active interventionism thus marked the new government from its inception.27 As a consequence, Belgian state policy governing mining carried a French stamp during much of the nineteenth century. Since it survived all contemporary regime changes, the relevance and importance of the 1810 legislation should not be underestimated. During the following decades, the Belgian corps engineers continued to act as consultants by compensating for the lack of technical knowledge on the part of the proprietors. According to Caulier-Mathy, the aforementioned specifications had been more strictly applied during the Dutch reign. After a brief interval in which operators were left alone, caused by the recession following the independency, regulations were once again more strictly applied in 1834.28 The negative perception of the corps engineers, documented under the French reign, was still alive after 1830. G.E. Brixhe, who had graduated in Law, stated in his dictionary from 1833 that state engineers acted imperiously and that mine operators were kept under the administration’s thumb. The concession applicant was even described as a puppet, moving as the state engineer pleased.29 Apart from acting as technical experts and inspectors, the corps engineers also appeared as advisors to the government regarding in matters related with the mining industry. The aforementioned Enquête sur la condition des classes ouvrières instituted in 1843 and repeated in 1868 is an example of such consultation. The focus was twofold in the 1840s: looking at conditions for female and child labour and the morality of the working
27 The Conseil d’Etat was not re-established and this caused major problems given that this council had to give the fundamental advice about any concessionrelated decision. Only in 1837 the vacuum was filled in with the introduction of the Conseil des mines which approved 138 concessions in nine years – most likely making up arrears since no exploitations were (re-)opened since 1830. The three mining divisions after 1831 were: Mons (Hainaut), Namur (Namur and Luxembourg), Liège (Liège and Limburg). A chief engineer, assisted by a sub-engineer, was responsible for each of the three mining divisions. For the influence of the state engineers see: Caulier-Mathy: Technique d’exploitation, 1971. Caulier-Mathy: Mécanisation, 1975, p. 81. Caulier-Mathy: Steenkoolindustrie, 1995, p. 189. 28 Caulier-Mathy: Technique d’exploitation, 1971, p. 170. 29 Brixhe: Répertoire, 1833, p. 113.
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classes. In 1868 the scope was extended with issues such as the miner’s wage, housing, nourishment, hygiene and medical care, amongst others. The corps engineers were asked for information as ‘objective observers’, besides other actors such as enterprise owners, medical committees and representatives of some Chambers of Commerce. 3.3 Legislation to ‘discipline’ the miner: the ‘werkboekje’ Legislation did not always conflict with the operator’s interest. An important means of pressure was the werkboekje or livret (logbook) which was introduced with the law of 22 germinal year XI (1803) in order to limit labour fluctuation and to produce an able and stable workforce. A worker had to hand over his logbook to his employer and only got it back to move on after having fulfilled all agreements. As this document became a compulsory condition for recruitment in the mining industry in 1813, the operators had a powerful instrument of control at their disposal, which was reinforced in 1840 after it had been fallen out of use under Dutch rule. The opponents called it a repressive tool, limiting individual freedom, given that the employer could prevent the worker to change enterprises by retaining his logbook. In 1869 Alexandre Jamar (1821-1888), Minister of Public Works, wrote that this logbook was indeed not compatible with the freedom of work that was claimed in Belgium: “one has to understand that the legislation and regulations dealing with this issue [work organisation] have made the logbook very unpopular … and it is seen as a symbol for slavery.” 30 The miners indeed felt restricted in their mobility. Le Hardy de Beaulieu phrased the workers’ fear that the logbook, binding miners to a specific enterprise, would result in more heavy working conditions and insufficient salaries.31 The miners thus (unsuccessfully) asked for its abolition: in 1830 workers destroyed their logbook and in 1841 a petition was sent to the King pleading against the confirmation of this document, stating that “after a sweet freedom during ten years […] some men want to bring the miners back to subordination which is most horrible for a true Belgian […]. Sire, can one million of your citizens be subjected to a handful of people, fa-
30 Enquête, 1869, p. IX. Also Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, pp. 98-99. Scloneux: Grève, 1880, p. 194. 31 Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, pp. 50-51.
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voured by fate’s treasures?”32 This request was enforced with a strike that lasted for four weeks, mobilizing 20,000 miners; colleagues who wanted to continue their work in the mine region were subjected to intimidation.33 The mining operators did not want to give in, however, because the ‘anarchy’ of miners, who showed up at work as they pleased, was a major obstruction for the smooth functioning of the mine.34 The logbook offered a way to formalize the worker’s duties; it was a strategic tool in ‘domesticating’ the workers. Interestingly, not all branches of industry exploited this opportunity; especially in the mining industry, operators and managers held on to this document. Corps engineers did not take position in this argument but proposed instead alternative measures to ‘discipline’ the miner, such as payment in advance of wages or the award of bonuses to dutiful miners. Also, men caught in places of leisure during working days could be picked up as vagabonds.35 Only in 1882, however, the logbook would become optional.
32 The logbook was even more important to the miners because it granted them membership to the Caisses de prévoyance (health insurance), established in 1840 to reimburse victims of accidents and to pay pensions. Petition cited by Puissant: Evolution, 1982, p 93. 33 Ibid., pp. 91, 117. Van den Eeckhout: Arbeidsrelaties, 2005, pp. 153-63. 34 Indeed engineer Wellekens wrote in Enquête, 1846, p. 306: “Instead of working every day, the miner devotes only three or four days per week to work, and he passes the remainder days in idleness […].” This ‘anarchy’ was not only recorded in the mining industry see: Scholliers: Werktijden, 1982, p. 16. 35 Enquête, 1869, pp. 88, 142. See also: Scholliers: Werktijden, 1982. Puissant: Evolution, 1982, p. 37. For the discussion regarding the bonus system we refer to Engineer Rucloux, Flamache, Lambert in: Enquête, 1869, pp. 26-27, 53, 73, 87-88, 137, 144, 150.
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4. L EGALLY ORGANIZING THE WORK FLOOR ? D ISCUSSIONS REGARDING FEMALE AND CHILD LABOUR 4.1 Women in the mining industry: a financial need, a moral problem36 The livret or logbook was an instrument of control that fell outside the corps’ authority, and thus did not resonate so much with the corps. On the issue of women workers, however, the opinion of state engineers was on the contrary extensively recorded through the aforementioned questionnaires. On an international scale, Belgian and English women showed the highest participation in industrial activity. In the Belgian mines they would remain present until 1902; until the last quarter of the nineteenth century their number even increased constantly. A brief international comparison will prove that this Belgian case, where 10 percent of the underground workforce concerned women and girls, was an exception.37 According to contemporary documents, 11,038 women, out of which only 236 were married, were employed in the mines of Hainaut.38 In England 3.11 percent of the workers in the extraction industry were women in 1841. One year later female miners were legally excluded from underground activities. Regarding surface work, their presence decreased from 6.25 to 3.12 percent be-
36 Recent literature on female miners: Hilden: Women, 1993. Salée: Travail, 1996. Pasleau: Femme, 2002. Roels: Belgium, 2008. 37 Some operators suppressed female and children labour before it became officially prohibited, e.g. Cockerill plc since 1867. In 1889, a law was approved protecting women under the age of 21 in industrial enterprises. In 1892 new female workers were forbidden in underground galleries, although women already working underground were allowed to continue their activities. It was not before 1911 that female labour underground was forbidden at large. Roels: Belgium, 2008, pp. 53-54, 59, 68. Pasleau: Femme, 2002, p. 627. Hilden: Women, 1993, p. 89. 38 Enquête, 1869, p. 4.
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tween 1874 and 1900.39 Prussia developed a very different attitude, since female labour was limited from the eighteenth century onwards. According to Roels this was the result of State interventionism in the organisation of exploitation, as well as the connection to military work which made mining exploitation pre-eminently a male activity. Quite early Prussia started to restrict the work of women in mining. In 1827 the Oberbergamt Bonn as a regional mining authority enacted a regulation that women were no longer allowed underground. A similar regulation was valid for the Düsseldorf administrative district since 1858 and with the “Berggesetz” in 1865 the prohibition of women work underground was established in whole Prussia. A general prohibition for the German Empire dates from 1878.40 Like in other countries, the work in Belgian mines was ‘gendered’, meaning that there were specifically female and male jobs.41 Generally speaking, women performed executive tasks of a lower level requiring no specific skills, which resulted in less social esteem and a lower income. While women in mining earned between 0.5 and 1 francs (which was less
39 Notwithstanding the law of 1842, some hundred women remained working in the galleries until the end of the nineteenth century. England enacted a protective legislation on behalf of the workers after many years of tension in 1847 and thus had the first law in history requiring that female labour should be limited to ten hours a day. Le Hardy de Beaulieu referred to the argument of supporters of female labour who referred to the English case where ‘girls and women were employed in mines in more harsh and unworthy circumstances.’ Interestingly the author counters this argument simply with his opinion that England is in many cases a good example, except for female and children labour. Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, pp. 81-82. Commons: Goodwill, 1919, pp. 189-190. Roels: Belgium, 2008, p. 47. 40 Ibid., p. 48. Vanja: Frauenarbeit, 1989, pp. 21-22. 41 This brings us to the concept of ‘gender-segregation’, referring to the unequal division of men and women among professions and functions and the resulting difference in remuneration. According to the research of Bracke both horizontal and vertical segregation characterized the mining industry. Vertical segregation points at the unequal distribution of positions among the two sexes within one company, horizontal segregation looks at the spreading of genders amongst different departments and tasks. Bracke: Vrouwenarbeid, 1996, pp. 168, 174-179, 185, 199. Enquête, 1869, p. 26.
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compared to other industries), men received around 1.5 and 2 francs. Female miners thus received half or even one third of the amount their male colleagues took home.42 This lower income mainly resulted from the kind of work women were recruited for: they were active in lesser paid jobs.43 Just as in other European countries, women indeed worked as ‘draggers’ (hiercheuse), sorters (trieuses) and ‘lamp caretakers’ (lampenistes). They were predominantly responsible for the transport of raw materials; at first by carrying baskets, later by loading and pushing wagons. Although initially working on the surface, they appeared underground after 1800.44 Also in a vertical perspective, women had less career development opportunities – they most often quit work after marriage or after giving birth. This tendency turned out even stronger in male environments such as mining. The career of female miners lasted five up to 15 years while their male colleagues
42 In other industrial branches this difference was smaller since women earned more, between two thirds and three fourths of male wages. Bracke explains the overall segregation of the sexes as a direct result of the traditional position of women within families: the supporting role of women in the private sphere continued on the shop floor. When children left for work mothers stayed, if possible, home. The lower income for women was not a Belgian phenomenon. In the Netherlands, Germany and England women earned less than male colleagues, too: respectively 60 %, 60>70 % and 40>50 %. In the English textile industry women could earn up to 70 % of the men’s income. Bracke: Vrouwenarbeid, 1996, pp. 179, 186-195, 197-198, 200-201. De Groot: Fabricage, 2001, pp. 2932.451-454. Pasleau: Femme, 2002, pp. 616-620, 622-625. Roels: Belgium, 2008, p. 72. More information on salaries: Puissant: Evolution, 1982, pp. 56-57, 68-69. 43 Both ideological construction and gender segregation lead to the perception of the women’s income as a supplement of the pater familia’s salary. Ideological construction moreover supported segregation: skilled labour and heavy work were identified with the male gender, while female labour was perceived as unskilled and the required talents were recognized as inborn, unlearned dexterity – which were moreover those skills needed in the household. De Groot: Fabricage, 2001, pp. 28-29. 44 Notwithstanding these categories, only the profession of ‘hewer’ was exclusively male. Bracke: Vrouwenarbeid, 1996, pp. 199-201. Roels: Belgium, 2008, pp. 60-61, 65, 71, 76.
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worked during 30 till 40 years. Only 10 percent of the Belgian women worked after their marriage, according to the official registers, and this mainly concerned widows or women whose husband had left.45 The main reason for employing women is easily identified: while the family often needed the mother’s low income to survive,46 their employment made up a great difference for operators. This situation would last for a very long period compared to other countries because of the obvious financial benefit to the mine’s owner and because of the lack of legislation. Only when the bad morals of the miners, witnessed by contemporaries, was directly connected to the fact that women worked, voices were slowly raised to alter the situation. 4.2 Public morality versus individual freedom at stake In the 1840s very few engineers condemned female labour outright. The argument typical for this early period is the complaint that women were not able to deal with stressful situations in case of accidents. Their panicking and screaming would restrain men (being moreover stronger) to start rescue operations.47 The presence of women in the underground activities was furthermore distracting since “these people [miners], who are not familiar with the principles of chastity, are not willing to resist their passion during work that is insulating them by couple in the overall darkness, in a disorder of clothing as a result from the nature or intensity of their work.”48 Looking at this argument from a different perspective, sexual crimes formed an issue although some engineers said such offenses were “barely possible underground since all ‘imagination’ was killed due to the working circumstances including a constant circulation of people and the tiring work.”49 Nevertheless, the fact that “married miners do not allow their
45 Enquête, 1869, p. 47. 46 Information and quotes referring to the scarce income see: Enquête, 1846, pp. 203-232, 306, 314 etc. 47 Enquête, 1846, pp. 260-261. 48 Note that the physical nature of the mining work did not play any role in the 1840s. Bidaut: Etudes, 1844, p. 262. 49 Enquête, 1846, pp. 232, 245, 291-292.
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wives to continue mining labour” was directly linked with the danger of moral corruption.50 Other arguments grew stronger as time passed by. It was said that “the moralisation of the miner’s population could be attained by the suppression of women and girls in underground activities.”51 Engineer-economist Le Hardy de Beaulieu, supported by the corps engineers participating in the 1869 enquête,52 argued that female labour was totally unacceptable. This author stressed that women lost all morality and religious attitude due to the working conditions in the mines and that contact between children and parents deteriorated; this in turn had damaging consequences for the whole of society since the woman was the pivot of the household, responsible for the education of children: “Since young girls usually stay in the mines during the day, surrounded with ill-mannered people of the male sex and of all ages, they become absolutely unsuitable to understand and execute the holy tasks of wife and mother.” And he continued that “any attempt to reform the morality of the miner’s population in the Borinage will fail as long as women are employed in the mining operations.”53 The abolition of female labour could moreover have positive consequences: their job could be filled in by unemployed men and operators could replace them by mechanical means or horses without fearing investment costs nor strikes, i.e. women would no longer ‘hamper progress’.54 So if the arguments against female labour were widely carried, why did the situation last? The corps engineers such as engineer Flamache argued that a legal prohibition would contravene the right to work and individual freedom: an adult woman should be able to choose her place of work freely, notwithstanding that “it would be definitely desirable if she were no longer allowed in these works [underground galleries] where her nature is impregnated with the rudeness of too much masculinity.”55 More practical reasons were pushed forward: “prohibiting mining work for women would have farreaching consequences for some families, because it happens daily that
50 Ibid., p. 262. 51 Enquête, 1846, pp. 235, 249. Enquête, 1869, pp. 3, 48. 52 Ibid., pp. 70-71, 141 etc. 53 Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, pp. 56-57, 80-81. 54 Enquête, 1869, p. 71. 55 Ibid., pp. 7, 71, 141.
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girls become the only support of their old or injured parents” and other work options for women were scarce, especially in the Borinage.56 Finally, women were needed in mining exploitation since there was an increasing demand for work forces. The liberal government did not want to rub the operators the wrong way and remained unwilling to adopt legislation that could negatively influence the free market. Notwithstanding this policy, the lower wages of women was not explicitly put forward by those in favour for female labour.57 The financial consequences of labour reorganisations appeared mainly in relation with child labour where engineers pointed at the competition with the English coals on the French market.58 Moralising arguments thus were defeated; the consequences of mining labour upon the women’s body were of no importance by the 1860s.59 4.3 The specificity of children on the work floor Corps engineer Eugène Bidaut (1808-1868) wrote in 1845: “At the highest rate of wages, the workman can just live miserably; where does it go when this wage falls 10 or 20 or 30 centimes, as it happens yearly? The worker is thus forced to cut down on food and clothing, to suffer hunger and cold […] as long as they remain healthy, the worker can live, though with great sorrow.”60 So children were sent to the mines to make up the family’s income.61 As with female labour, Belgium lagged far behind neighbouring countries regarding child labour as well.62 Engineer Chaudron compared the
56 The revenue of women was for one engineer the main reason to support their presence in 1843 since most families needed this salary. Enquête, 1846, pp. 235, 249. See also Enquête, 1869, pp. 6, 49. 57 Only one reference to higher expenses and possible strike actions due to the prohibition of female labour is found: Ibid., p. 71. Le Hardy de Beaulieu: Grève, 1861, p. 82. 58 Enquête, 1846, p. 239. 59 Le Hardy de Beaulieu developed these argumentations in 1861: Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, pp. 82-84. Hilden: Women, 1993, pp. 87-129, 130-154. 60 Bidaut: Etudes, 1844, p. 169. 61 For numbers about their employment see Enquête 1843 and Enquête 1869. 62 Bidaut: Etudes, 1844, p. 261.
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working conditions in German mines in 1854. According to his report, mining activities were forbidden for women or girls and male adolescents could be recruited at the age of sixteen years only.63 The Belgian case was closer to the English one where children, employed at the age of eight, made up one third of the total miners’ population around 1840. According to Caestecker children younger than sixteen represented 13.4 percent of the total number of Belgian miners in 1812 and 1845. According to the same author, this had increased up to 20 percent (of a total of some 80,000 miners) by 1869.64 In the 1840s child labour was generally tolerated if the children were minimum twelve years old. The debate focused on the acceptability of night work since this concerned less heavy jobs and the air quality was better. Children could moreover attend day classes while they were simultaneously trained on the shop by relatives at night. In this way they would also benefit from the healthy daylight.65 Just as in France, the idea of part time work for children was definitely rejected since mining work implied a complex organisation which could not, it was thought, be individually adjusted. In Belgium, moreover, the engineers stressed that the financial losses to the children’s family would have to be compensated somehow.66
63 Chaudron: Newcastle, 1854, pp. 21-23. No more information about Chaudron available. 64 In the 1840s 16 % of all Belgian employees were aged between five and fourteen; 41 % were children up to nineteen years. Only in 1887 the legal minimum age of twelve was adopted in Belgium. In England, the youngest earned 3 pence (0.30 francs), the oldest of seventeen years got 3 shilling (3.75 francs). In Belgium an adult miner earned between fr. 0.90 and 1.66 francs for an average day around 1840. Van Eeckhout: Verhouding, 1981, p. 455; Caestecker: Arbeidsmarktstratgieën, 2008, pp. 34, 44; Church: Employers, 1990, pp. 23-24. 65 The combination of work and education was nevertheless subject of discussion since it was rejected that this combination was not feasible due to the heavy nature of mining work which demanded recovery time during spare hours. Other engineers thought miners should not receive too much education since “the more the miner thinks of himself as erudite, the more turbulent and evil he becomes.” Enquête, 1846, pp. 228, 233, 242, 246, 304. Deferme: Arbeidswetgeving, 2002, p. 245. 66 Enquête, 1846, p. 316.
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The major argument to maintain night work, however, came from a different direction: engineers argued that mining activities were overall so bad for the miners’ health that the influence of night work as such was negligible.67 In 1843 the voices pointing at the physical consequences of child labour as a motivation to abandon this practice, were still very few. Engineer Bidaut wrote: “Above that age [eight] the law […] allows them to perform a job that is physically too violent for their forces.”68 Some other engineers identified the physical character of mining work on the contrary as a beneficial exercise, so that the work was useful instead of harmful. Interestingly, the French Comité houillères Français, consulted two decades later in 1868, also defended the last reasoning: “There is no work condition that affects the health or the development of children. In contrary, it concerns exercises that make them stronger and give them a good work spirit […] children fulfil in the mines a useful task which is adapted according to their forces; if children are prohibited they have to be replaced by men who are more expensive and could perform more important tasks […] a mine is a workplace as decent as all the others.”69
In Belgium, mining work for children was perceived rather negatively by 1869, but other voices could still be heard. Engineer Lambert even described employment of children under twelve as an ‘act of charity’; most chiefs accepted this, as parents complained of being restricted financially.70 The concept was very much alive that legal intervention was needed to protect the offspring until the age of twelve since children – contrary to women – could not autonomously decide whether they wished to enter the mining industry. It would nevertheless take until 1879 and 1884 before Belgian so-
67 Overall it is known that children were responsible for transporting raw materials and guarding interior gates. Specifications about their tasks during night are not known. 68 Enquête, 1846, p. 287. Enquête, 1869, p. 67. 69 Ibid., pp. 14-18. 70 Ibid., p. 68.
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cial legislation dealt explicitly with the minimum age of children to be sent to work.71
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5.1 Labour management? There was a slight difference in managing mining enterprises between limited companies and family run business that managed to go along with the scale increase and technical innovations. Since the latter dealt with a labour cost of 60 percent of the total budget labour management was profitable although it resulted in social paternalism. At Le Grand Hornu, for instance, housing and an equipped hospital were built for the miners in an early stage.72 The managers of limited companies, on the other hand, preferred to invest in machines, equipment and the organisation of production to keep the cost of labour low.73 Notwithstanding this different approach, the operator’s attitude towards the miner’s population followed in general the model of workers as ‘hired hands’. This model is described by Kaufman as a “primitive and harsh management of labour, and the stark dangers and inhumanity of work life facing most employees.”74 The ‘drive system’, as the traditional personnel management model is called, made use of pressure and fear to enhance efficiency.75 The aforementioned logbook was a power-
71 Social legislation dealing with the age of children and women dates from 1889; similarly a law for social housing, the payment of wages and the workers’ inspection from 1895, and the eight-hour working day for mechanics and machinists in mining from 1913. 72 Operator Henry De Gorge was responsible for the construction of new mine buildings and a working-class area in the west of Mons in 1816. This commission was initially given to architect Fr. Obin Lille and in 1825 to architect B. Renard. Construction was finished in 1831. Enquête, 1846, p. 54. 73 De Leener: Syndicale, 1909, p. 92. Kurgan-van Hentenryk: Industrial relations, 1990, pp. 208-209. 74 See Kaufman: Hired Hands, 2010, p. 5. 75 Kaufman has extensively studied the Human Resource Management in the USA starting from the late nineteenth century. For an analysis of the drive system see
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ful tool to put pressure on the worker, but the managing directors and the chief engineers went further. While ‘coalition’ was forbidden for workers, the managers and chief engineers gathered regularly and collaborated, e.g. in the Association houillère du bassin Couchant de Mons (1840) or the Comité houiller du Centre (1841), to discuss common interests such as the workers’ wage and technical improvements.76 Charles Le Hardy de Beaulieu was among the first to condemn this collaboration; he identified it as abusing the power resulting from the cooperation of capital and talent. “It is very exceptional to see in our time […] large associations […] which do not cross the delicate limit between use and misuse, by developing a monopoly or by assuming certain privileges.”77 The major problem was, according to this author, that directors and engineers used their monopoly to control the demand of work: “The major fault of the Union consists in considering the worker as a simple producer of driving force, built up in flesh and blood, without taking his heart or his intelligence in consideration. This is exactly the major cause, according to us, for the malaise that is now living in the miners’ population of the Borinage and the frequent accusations between masters and workers.”78
Notwithstanding the negative tenor of his comments, Le Hardy de Beaulieu gives us a valuable insight in the way miners were treated.
Kaufman: Hired Hands, 2010, pp. 2, 4-5, 10-12. Van den Eeckhout: Supervision, 2009, p. 10. 76 The Le Capelier law from 1791 did forbid coalition and the formation of profession-related interest groups. Kurgan-van Hentenryk: Industrial relations, 1990, pp. 206-207. Puissant: Evolution, 1982. Mottequin: Réunions, 1973. 77 Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, pp. 52, 66-76. 78 That his opinion was not generally supported is clear since he began his article as follows: “[…] our opinion expressed in this article is not endorsed by general consent because it does not correspond with some assumptions and even contradicts some supposed interests and it will cause an explosion of the secret irritation […] that is resulting from the intimate tension between the interest of the very moment and their consciousness.” Ibid., pp. 46-47, 68, 105.
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5.2 The miner as a machine of flesh and blood With scaling-up and increasing technical complexity, access to knowledge had been withdrawn from the worker. While previously professional expertise depended on skilled workers and their master, this had gradually moved to engineers who took over control. Through this increasingly scientific management the employee lost the property right to his work. The crucial factor was a change of social relations of production.79 Some careful steps towards scientific measurements of the worker’s task demanded that experts would deal with rate-fixing and accounting but also with the organisation of work (standardization, identifying best-practices for a specific job etc.). The ‘engineer’s bookkeeping’ was openly discussed in the engineering association of Mons with the purpose to develop a standard document that should make the job easier.80 Accurate models of measuring were leading to specifications for others, more precisely the foreman,81 to follow.
79 Only at the end of the nineteenth century, more precisely in 1897, miners themselves would become involved again in the organisation of their work as representatives were included in the Supervision of Mines (Mijntoezicht); a body developing mine regulations with the purpose of reducing the number of mine accidents. According to the Corps des mines itself, Belgium was the first country where miners got involved in the supervision of safety and health. Commons: Goodwill, 1919, pp. 13-16. 80 The association failed in its attempt to standardize industrial bookkeeping because the members of the society argued that the influencing factors were too many and too diverse. Anonymous: Procès-verbal, 1862, pp. 15-16, 52-53, 56, 61. 81 Van den Eeckhout looks at the profile and role of foremen in different industrial branches. Her assessment of the foremen’s role in mining is linked with the status of craft workers on the shop floor: when emphasizing the worker’s relative control of the labour process, the foreman is hardly visible and he appears as a true mediator. In this perspective, his relationship to his subordinates is characterised by reciprocity and mutual respect. On the other hand, the foremen is pictured as a “tyrannical figure who lets loose his driving methods on his hapless collaborators”. Le Hardy de Beaulieu referred to foremen as “true vampires”. Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, p. 59. Scloneux: Grève, 1880, p. 195. Van
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This reasoning fits in with the organisational model of the worker as a machine, described by Commons, and so is the “value determined by the quantity of its product […]. The machinery theory is the engineer’s theory of economy and output […]. The application of this theory by the engineer is perhaps the most productive invention in the history of modern industry.”82 Contemporary rhetoric confirms the picture of the worker as a machine in a literal way: “the conditions of power and energetic action of these machines of flesh and blood, as the workers are called, have attracted little attention. Too often and too long it was forgotten that they differed from iron and steel machines, that they have a soul and that their production did not uniquely depend from their muscular force, but also and mainly form their moral and intellectual development.”83
This picture easily brings us to the engineer’s ambition to study and measure the motions and energies of the human ‘machine’ to identify the large resources and unused possibilities of the employers. The wish to validate the maximum of individual output was seen in engineer Chaudron’s calculation: he and some colleagues calculated that a miner’s effort to climb up 400 m on a ladder was “equivalent to […] more than 1/8 of his daily production.” By avoiding this climb, he could spare some energy which could be used for valuable work and “this increase in useful effect, will obviously result in a reduction of the cost price, because the wage rate is not proportional to the effect, but to the existing relationship between supply and available work forces.”84 In the same line, the discussion on whether to introduce ladders or rather elevator cages was directed by the concern for possible growth of output.85 A last example was the calculation of the cost saving when horses instead of women and children could be employed in
den Eeckhout: Supervision, 2009. Puissant: Evolution, 1982, pp. 162-163. For the quote see Van den Eeckhout: Supervision, 2009, p. 3. 82 Commons: Goodwill, 1919, pp. 13-14. 83 Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, p. 48. 84 Chaudron: Rapport, 1862, p. 91. Cornet: Observations, 1862, pp. 129-134. Bouhy: Lampes, 1852, pp. 133-134, 139, 142. 85 Anonymous: Procès-verbal, 1859, p. 13. Anonymous: Compte rendu, 1859, p. 20. Mottequin: Réunions, 1973, pp. 100-101.
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transporting raw materials: one horse could drag daily 274,000 kg over 100 m and could thus replace fourteen workers. The additional costs of larger galleries would thus easily be compensated.86 5.3 Correlation between work and body practices Similar to the early discussions on child labour, these efforts to measure labour provide us with information on the perception of the worker’s body and its relationship to the working conditions. It was only in the context of the 1843 questionnaire that engineer Bidaut urged to introduce changes from the human point of view by openly questioning the human nature of the working conditions in the mining industry: “you cannot deny that this profession – working deprived of sunlight, absorbing other gases than the atmospheric air, positioning the body in an unnatural position – exposes the body to constant dangers […]. For me it is without doubt that this should be the object of special measures.”87 To improve health and safety conditions, the mining organisation and economy had to change throughout, since there was no single job especially harmful but rather all of them together, according to his observations.88 Bidaut was supported in part by chief engineer Gonot who said that “the bad conduct, insufficient ventilation, poorly positioned ladders, small dimensions and the moisture of the pits and galleries, etc; if […] the administration would manage to regularise the exploitation concerning these elements, they would certainly have rendered an immense service to humanity.”89 Some fifteen years later engineer Briart emphatically said that “the miner dies very slowly, but he does not die less.”90
86 Bidaut: Etudes, 1844, pp. 266-267. 87 Enquête, 1846, pp. 252, 322. 88 It should be mentioned that no attention at all was paid in the 1869 questionnaire to accidents or to the influence of the digging of coal itself on the body of the worker. Interest was directed towards issues dealing with the worker outside working hours, as we have mentioned before. Ibid., pp. 262, 273. 89 Ibid., p. 234. 90 For more descriptions of the daily tiredness noticed in the mining industry see Briart: Translation, 1862, p. 157.
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The engineers offered a twofold reason for the indisputable fact that mining activities were bad for the workers’ health. The working conditions were not beneficial: the air was unclean and warm, there was a cold draught teasing the sweated bodies of the miners, who were often working in puddles of water, and in order to reach their (underground) work place they had to climb ladders of 300 to 400 meters’ length. The actual nature of the task made the job even heavier. A statistics report of the militia operations illustrated that the miner’s profession was by far the most dangerous one: 31 % of the miners were rejected for service against an average of 10 % for other professions.91 This medical analysis concluded that “just one glance at the children employed in the mines, is in general enough to notice their small size, the limited development of their shoulder width, their skinny and twisted members […] the impoverishment of their constitution is obvious even to the untrained eye.”92 From the 1860s onwards, the first critical reflexions on these topics appeared in the periodicals of the engineering societies. Engineer Briart stated that “the security of the workers should be the main concern of inventors: to avoid an exaggerated tiredness due to the ladders and to preserve the required health conditions for mining work as long as possible or to keep them from accidents […].”93 The organisation of the work floor thus had to be adjusted to improve body practices. Already in 1829 four enterprises, the largest companies in the Liège basin, used horses to replace children and women, i.e. the mining enterprises of Cockerill, Espérance, Six-Bonniers and Marihaye. These animals were used for transporting material and it was said that “55 five horses should be enough to replace 770 miners, who would preferably take up less hard and less unhealthy work.” While by the late 1860s the unhealthy consequences of working in the mine galleries were generally acknowledged, corps engineer Lambert rather crassly referred to horses in 1869 to prove that the underground working conditions were not that bad at all: “I cannot talk any more about depriving [miners] from sunlight since I do not know the consequences for the animal economy […] it is better to study the horses that are
91 Enquête, 1846, pp. 271-272. 92 Ibid., pp. 271-272. See for similar conclusions: Enquête, 1869, p. 48. 93 Briart: Translation, 1862, p. 157.
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used in large numbers and that stay underground during different months or even years without leaving the mine. I have to add that, notwithstanding the little care they get and the harsh work they perform, these horses become too fat with the same food that they get at the surface.”94
In 1857-1858 the Société des anciens élèves de l’école spéciale de commerce, d’industrie et des mines de Hainaut launched a research question to mechanise the miners’ transport by elevators. The motivation was clearly set out: “Leaving aside the possible question of humanity; while the discussed means [use of cages] has withdrawn the workman from tiredness and from some diseases, it exposes him to dangers more or less imminent but still terrible [e.g. breaking cables][…] it is important to find out whether workmen and owners will benefit from the costs for the new cages to penetrate the mines.”95
The output resulting from technical innovation was thus clearly the main concern, rather than improving body practices because of human concerns: the miners were subjected to the technical requirements of the best possible exploitation. 5.4 The engineer’s main concern: How to avoid pit disasters? It was the high rate of mining accidents with far-reaching consequences, rather than the unhealthy working conditions that captured the engineers’ attention. Between 1820 and 1840 there were 31 victims per 10,000 miners; between 1880 and 1885 this number decreased to 23 and it was down to 17 in 1896. If compared to the amount of coal dug in that period, this reduction seems even more pronounced: from 34 victims in 1831 to 10 in 1896 per exploited ton. About 40 % of the deaths were due to landslides and col-
94 Enquête, 1869, p. 70. 95 Anonymous: Procès-verbal, 1859, p. 13. Anonymous: Compte rendu, 1859, p. 20.
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lapses.96 The financial consequences of pit disasters, and in second place the human loss, formed the driving force to look for the causes of accidents. Given that corps engineers were charged with improving the workers’ safety, some actual propositions coming from that quarter were rapidly introduced, such as the use of ladders instead of lift cages to transport miners in and out the mines. The many accidents with cages could no longer justify their application for transporting people, according to the corps engineers. The workers themselves, however, definitely preferred the cages since the ladders required a lot of energy and time to be climbed. Also the operators were in favour of cages as the use of ladders demanded an important investment because a specific shaft had to be built for these ladders, while the cages were the same being used for the transport of exploited goods.97 This clearly illustrates the double tension between administration and industrial reality, but also between the wish to improve working conditions and safety issues.98 Engineer Flamache accused the “warm and inadequate working atmosphere” of the mechanics responsible for the transport of miners in and out the mines. The intensive concentration demanded by their task and the long working days of twelve hours did not correspond to their responsibilities. Given the number of accidents that occurred due to distraction, Flamache proposed to shorten their working day, for instance from twelve to eight hours.99
96 Puissant lists the following numbers for the Borinage: 1821-1850: 63 gas explosions resulting in 648 victims (344 death); 1850-1879: 71 explosions with 1748 victims (1044 death); 1880-1909: 18 explosions with 405 victims. Mainjot: Corps, 2006, p. 14. Puissant: Evolution, 1982, p. 45. 97 For a very detailed analysis of this specific problem we refer to Puissant: Innovation, 1986, pp. 80-86. 98 Parallel, the corps’ authority was extended with the inspection of steam machines in any industrial enterprise in 1839. Both engineers of the Corps des Ponts et Chaussées and the Corps des mines had to grant permission for placement and inspected the safety after installation. In 1852 the Police for exploitation by underground galleries (Police des carriers exploitées par galleries souterraines) was moreover appointed. Rather than setting up general safety measures, specific solutions were sought when the safety of the miners was liable to be neglected: Cent cinquantième anniversaire, 1963, p. 91. 99 Enquête, 1869, p. 52.
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The major source of accidents, however, was the working attitude of the miner himself: “Certain workers make themselves guilty of imprudence and inconsideration, by opening their lamps in mines with volatile gases […] as for young men, you cannot count too much on their exactitude nor on their attention.”100 This sloppiness and the declining concentration during work were prime causes of accidents. “Although these accidents are caused by the negligence and the inattention of the victims themselves, humanity obliges the engineer to seek and restrict the cause of this negligence and inattention.”101 Hence, engineers created lamps which could not be opened by the miners themselves. Engineer Briart believed that the negligence and the inattention of the miner resulted from the nature of the ‘machine’ itself, i.e. the miner. The monotonous repetition of movements became extremely tiring after a certain time, so Briart tried to calculate how many manoeuvres one could perform before attention was diverted, resulting in a ‘staggering impatience’.102 “The most flexible, intelligent people, whose spirit cannot constantly remain forcibly fixed on the same manoeuvre repeated time after time will be much more attentive, while those whose intelligence, little developed, more easily lend themselves to the purely mechanised operations and so to speak automatics, which they carry out, in the end, without the spirit taking its share.”
The engineer thus realised that there was no objective answer to the question of how many repetitive actions a worker could perform before losing his concentration, but he proposed to minimise the number of changes and the time required for an individual movement. The installation of the machine itself was also important since one needed enough space for the manoeuvres.103 These reflections were not motivated philanthropically, however, as the great financial losses and extended damages linked with a mining disaster formed the main motivation. Engineer Bouhy (1821-1887) was the first to point at the responsibility of industrial managers in 1851, although not
100 Bouhy: Lampes, 1852, p. 153. 101 Briart: Translation, 1862, pp. 149, 151. 102 Ibid., p. 160. 103 Ibid., pp. 159-161.
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identified literally, since they supplied unsuitable material. In 1859 engineer Em. Jonniaux went one step further by indicating the shared responsibility of operator and workers, hoping to stimulate research related to applied materials and techniques: “And the main share [in responsibility], does it not come to those who consciously left the instrument of the worker’s death in his own hands?”104 Only at the end of the nineteenth century, the worker himself would no longer be seen as individually responsible for accidents, but rather as the victim of fate; the accident would be seen as a consequence of the functioning of society and of industrialisation.105 5.5 Towards paternalism The attitude described above could gain general currency in Belgium because there was a reserve of unskilled, mainly illiterate workers who were exploited to maximise the economic-technical benefit – the overpopulation on the labour market guaranteed the surplus value. The accumulated benefits were processed by a small group who were guiding the financial manoeuvres in society – making them powerful and wealthy – and who thus directly benefited from a continuation of the existing operations. The corps engineers tried to counterbalance these exploitation strategies. Through the compulsory specifications they stimulated improvement of the infrastructure and impeded short-term management policies.106 Le Hardy de Beaulieu, an exception to the rule, remarked that “the financiers and engineers who consider the worker as a simple reservoir of driving force, of flesh and blood, are commonly wrong in the evaluation of the outcome of force since they neglect the element of the worker’s morality in their calculations, a principal element though.”107 The author clearly disagreed with this short-term vision, as he called it, since it results in slavery. This type of management was even more disgraceful since it had been
104 No information is available about Jonniaux. Jonniaux: Améliorations, 1859, p. 88. Gille: Incendie, 1860, pp. 105-131. 105 Deferme: Arbeidswetgeving, 2002, p. 248. 106 Puissant: Innovation, 1986, p. 75. 107 Also engineer Weiler referred in 1880 to ‘miners as slaves’, although the tone of his article is rather ironic. Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, pp. 98-99. Scloneux: Grève, 1880, p. 194.
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proven, according to the engineer-economist, that slavery does not lead to the best results. The operators should better make use of the miner’s morality and intellect, the only two elements that distinguish them from slaves: the first element has to give a purpose that stimulates the worker to be present – and this purpose is easily found in being able to maintain his family. If this reasonable wish would be suppressed, the worker would become once again a slave whose only thought would be how to escape from his master.108 The picture of the workforce as ‘hired hands’ of course has to be nuanced. Besides the demand-supply and cost minimisation, the need to bind the miner to his work resulted in the first attempts to treat the workers as human resources.109 This resulted at first in careful paternalistic interventions, such as the construction of worker housing, washing houses and hospitals, rather than in structural changes to adapt the labour process.110
6. C ONCLUSIONS The objective of this article, within the overall frame of this book, was to look at the engineers’ work organisation in the mining industry in Belgium between 1791, when the first important legislation dealing with mining concessions was introduced into the country, and 1865, when opposition to current mining practices slowly started to consolidate, supported by an international reform movement. In the matter of work organisation it is clear that the industry was looking for the cheapest possible exploitation method and thus welcomed children and women in mining enterprises. While children were employed according to their physical possibilities, it seems that women had more control over their employment. Due to – or thanks to, a question we do not wish to answer here – both horizontal and vertical gender segregation,
108 Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, pp. 97-98, 104-105. 109 Kaufman: Industrial Relations, 2001, pp. 515-517. Commons: Goodwill, 1919, pp. 5, 7, 62-63 etc. 110 For more information on these topics see: Le Hardy de Beaulieu: Grèves, 1861, p. 99. Annuaire Liège, 1865, Enquête, 1869, pp. 33-35, 58-60, 78-79, 91-92, 102, 118, 127, 143.
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women were generally working before their marriage in transporting the raw materials. Given the concepts of the time, women left the mines to take care of the household. The connection between their function as ‘mother and wife’ and the morality of the miner, and of society in general, was the main argument used against their recruitment in the mines. However, the numbers show that is was the miner himself who kept his wife at home, rather than the operators who excluded women; female workers thus were commonly identified as widows or abandoned. The physical impact on the miner’s body was only an element of concern in the light of the children’s development. Other reflections on the heavy and dangerous nature of the work in this industrial branch, appeared in the framework of reflections on technical improvements or cost-benefit analysis that was dominating the organisation of the mining industry. This leads us to the question: to which extent did engineers consciously and actively organise the shop floor and according to which parameters? The traditional management system, characterised by a lack of standards, policies or specialised staff, made that the treatment of workers was localised on the lowest level of the company, i.e. the shop floor where decisions were likely to be conducted by non-rational elements such as favouritism in the shadow of a more or less invisible board. This management system, also referred to as the ‘drive system of management’, was only effective as long as labour was economically weak. The policy was driven by the wish to reduce the number of (mortal and incapacitating) accidents and to limit the physical consequences of the mining work. However, both considerations were not driven by arguments of humanity but by a cost-benefit approach of labour. The description of the worker as a ‘machine of flesh and blood’ is illustrative for this attitude: of course a machine did need maintenance, but it should especially function as long as possible – both in hours per day as in years. Consequently, engineers focused on aftercare and limiting wear of these human machines. The presumed difference between corps engineers and privately employed engineers in this area needs definitely more investigation. Notwithstanding their clear mission to improve safety, neither the administration nor the corps of state engineers had forcible means to urge the entrepreneurs to apply the clauses of the specifications they developed. Their actual importance in this matter probably depended on maintaining good professional relationships – after all, they were also responsible for insuring a smooth exploitation. In
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addition, these civil servants played an important role in the diffusion of technical improvements which ultimately also served to improve working conditions in the mines. The state ultimately favoured the employers in the nineteenth century; not at least because the bourgeoisie censitaire (the upper and middle classes who could vote by right of property) was playing a pivotal role in economic, politic, religious and social institutions and an elite of managers controlled the markets on assignment of the owners of capital – the aforementioned Société Générale is the best example of this evolution. The consequences of industrialisation on the workers’ position and on the workers’ body were known by contemporary engineers. It is telling that the various descriptions of unhealthy and dangerous working conditions culled from the sources were mostly limited to mere observation, and did not offer thoroughgoing reform. Corps engineers Delneufcour and Gartier, amongst others, carefully pointed at the lacking management system by reminding that “the misbehaviour of workmen generally comes from the indifference of the masters […] this so desirable relationship between master and worker barely exists for the miner.” Safeguarding smooth operations was paramount, and organisational demands determined the policy on the work floor. ‘Controlling’ the workers was not actively discussed as an objective, nor was this ever questioned since it was the actual situation. Generally speaking, the ‘workers’ issue’ was discussed no earlier than from the mid-1870s onwards. The questionnaires of 1843 and 1868 nevertheless gave corps engineers the opportunity to air their opinions much earlier. Engineer Bidaut, in particular, supported by some more modest personalities, made use of this platform. He identified work organisation as “the evil that struck my eyes for a long time; now an occasion arose to announce this evil, to indicate the means to diminish it and I have grabbed the opportunity. I have said what is, in my opinion, the truth.” Decisions following the corps’ advice date nonetheless only from the 1890s when the protest of the worker and the miner had reached boiling point.
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Das Schreibtischproblem Amerikanische Büroorganisation um 1920 C HRISTINE S CHNAITHMANN The need for standardization of desk systems will be perceived when it is recognized that every minute motion used in the handling of office work has a bearing on the final result. It is this combination of motions in working that differentiates the good from the poor worker, the trained from the untrained, the efficient from the inefficient. LEFFINGWELL: OFFICE MANAGEMENT, 1927, S. 501.
King Vidors „The Crowd“, ein Stummfilm von 1928. New Yorker Straßenszenen aus der Vogelperspektive. Menschenmassen, Automobile, Hochbahnen. Das Durcheinander des Verkehrs noch verstärkt durch Mehrfachbelichtungen und Überblendungen. Schließlich Wolkenkratzer, Wechsel der Perspektive. Die Kamera am Fuß eines Bürohochhauses, der Blick steil nach oben gerichtet. Stockwerk um Stockwerk identische Fensterreihen. Kamerafahrt entlang der Fassade. Im Zentrum des Bildes – endlich – ein einziges Fenster. Schnitt. Blick auf einen Bürosaal aus der Totale: Reihe um Reihe identische Tische, an jedem Tisch ein Büroangestellter, jeder Büroangestellte beschäftigt; wieder und wieder wendet die Hand das Papier in exakt derselben Bewegung. Eine Choreographie der Gleichförmigkeit. Kamerafahrt, dieses Mal über die Tische. Close Up. Ein Mann am Schreib-
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tisch, John Sims, Büroangestellter Nr. 137. Er schreibt, hält inne, kratzt sich am Kopf. Blick auf die Uhr. Eine Minute vor fünf. John Sims erwartungsvoll. Fünf Uhr, er springt auf. Mit ihm hundert andere und mehr. Fluchtartig räumen sie den Saal, entlassen in den Feierabend, die Freiheit. Ein Filmausschnitt, zwei Minuten. Er transportiert das stereotype Bild eines tayloristischen Büros, geprägt von der standardisierten Anordnung der Angestelltenmassen, der stupiden Gleichförmigkeit der Tätigkeiten und einem straffen Zeitregime. Der Kamerablick aus der Totale zeigt sinnbildlich die panoptische Disziplinarmacht des Büromanagers; der wilde Sturm in den Feierabend wird als Gegenentwurf zur entfremdenden Arbeit am Schreibtisch inszeniert. Hartmut Böhme sieht in der „systematische[n] Trennung des Büros von seinen Umgebungen“ das wesentliche Charakteristikum der Bürowelt. Während in der Fabrik handhabbare Rohstoffe in handfeste Produkte umgewandelt würden, spiele das Materielle im Büro allenfalls die untergeordnete Rolle, Informationsströme – „die eingehen, koordiniert, verwaltet, gespeichert, distribuiert und ausgegeben werden“ – möglich zu machen. Die Welt außerhalb des Büros beschreibt Böhme als „ein opakes Chaos wimmelnder Materie, Dinge und Körper“; dieses werde im Büro in geordnete Zeichenprozesse – sogenannte ,Vorgänge‘ – „transubstantiiert“.1 Der Film „The Crowd“ illustriert diese Differenz bildgewaltig, indem er den pulsierenden New Yorker Großstadtverkehr der planvollen Ordnung des Bürosaales gegenüberstellt, in der jeder Angestellte durch die Nummer auf seinem Namensschild selbst zu einem ,Vorgang‘ wird. Wie sich die Welt des Büros aus der Sicht einer jungen Büroangestellten darstellt, beschreibt der amerikanische Autor Sinclair Lewis in seinem 1917 erschienenen Roman „The Job“: „A world is this whose noblest vista is composed of desks and typewriters, filing cases and insurance calendars, telephones, and the bald heads of men who believe dreams to be idiotic. […] It is a world whose crises you cannot comprehend unless you have learned that the difference between a 2-A pencil and a 2-B pencil is at least equal to the contrast between London and Tibet; unless you understand why a normally self-controlled young women may have a week of tragic discomfort because she is using a billing-machine instead of her ordinary correspondence typewriter.
1
Böhme: Büro, 1998, S. 97-98.
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The shifting of the water-cooler from the front office to the packing-room may be an epochal event to a copyist who apparently has no human existence beyond bending over a clacking typewriter, who seems to have no home, no family, no loves […]. The moving of the water-cooler may mean that she must now pass the sentinel office-manager; that therefore she no longer dares break the incredible monotony by 2
expeditions to get glasses of water. “
Die Vielzahl der Dinge, die diese Passage benennt – Schreibtisch, Schreibmaschine, Aktenschrank, Kalender, Telefon, Stift, Fakturiermaschine, Wasserspender – und die Bedeutung, die ihnen zugeschrieben wird, legt die Vermutung nahe, dass das Materielle – zumindest im computerlosen Büro des frühen 20. Jahrhunderts – doch eine größere Rolle spielte, als Böhme ihm in seinen Reflexionen über die „Welt im Büro“ zugesteht. Studiert man die umfangreiche Fachliteratur, welche um 1920 die Prinzipien des Taylorismus auf die Büroarbeit übertrug, wird darüberhinaus schnell deutlich, dass die Arbeit am Schreibtisch in Analogie zur Arbeit in der Fabrik ganz wesentlich als körperliche Arbeit verstanden wurde. Neben der systematischen Untersuchung und Standardisierung von Informationsflüssen wurde in diesem Zusammenhang auch die effiziente Gestaltung des Schreibtisches –„the office man’s work bench“3 – als sogenanntes desk problem ausführlich diskutiert. Vor diesem Hintergrund untersucht mein Beitrag das Verhältnis von Arbeit, Körper und Rationalisierung in der wissenschaftlichen Büroorganisation in Amerika um 1920.
1. T HE M ASTER ’ S E YE Um die tiefgreifenden Veränderungen zu verstehen, die sich im Innern des Büros im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vollzogen, lohnt es sich einen Blick auf ein typisches Büro vor dem Aufkommen von Büroarbeitssaal und Scientific Management zu werfen. Der Soziologe C. Wright Mills beruft sich hierzu in „White Collar“ auf die Erinnerungen einer Frau, die 1882 ihre erste Stelle in einem Büro antrat:
2
Lewis: Job, 1994, S. 42-43.
3
Leffingwell: Office Management, 1927, S. 391.
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„She remembered when the office was one rather dark room, the windows always streaked with dust from the outside, and often fogged with smoke from the potbellied stove in the middle of the room. She remembered the green eyeshade and the cash book, the leather bound ledger and the iron spike on the desk top, the day book and the quill pen, the letter press and the box file. At first they were only three in the office: at the high roll-top desk, dominating the room, sat the owner; on the stool before a high desk with a slanted top and thin legs hunched the bookkeeper; and neer the door, before a table that held the new machine [Schreibmaschine, C. S.], sat the 4
white-collar girl. […] Later there was an office boy […].“
Die Beziehungen innerhalb des Büros waren geprägt vom persönlichen Kontakt. Mit einem Zitat aus der englischen Übersetzung von Balzacs „Les Employés“ bringt Mills das Verhältnis zwischen den Angestellten und dem Inhaber auf den Punkt: „there was devotion on the one side and trust on the other.“5 Vor der Einführung des Telefons war der Inhaber tagsüber häufig abwesend, um Geschäftskontakte außerhalb des Büros zu pflegen. Dem Buchhalter kam in diesem Gefüge eine große Verantwortung zu. Nahezu alle Geschäftsabläufe fielen in seinen Aufgabenbereich. Er leitete die jungen Angestellten an, die so einen Überblick über die anfallenden Tätigkeiten erhielten. Mit zunehmender Selbständigkeit wuchsen dann in der Regel auch bei ihnen Bezahlung und Status.6
Abbildung 1: Zylindersekretär (Garlock/Marshall, 1894, Abb. 1). 4
Mills: White Collar, 1956, S. 190-191.
5
Honoré de Balzac zitiert nach ebd., S. 192.
6
Vgl. ebd., S. 190-192; Braverman: Labor, 1998, S. 203-207; Forty: Objects, 1986, S. 120-122.
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Der Zylindersekretär, der roll-top desk (Abbildung 1), war neben dem Stehpult das zentrale Möbelstück im Büro des 19. Jahrhunderts. Kennzeichnend waren seine hohe Rückfläche, die vielen Fächer und Schubladen und die massiven Standfüße; mitunter konnte er durch eine Lade verschlossen werden. Dieser wuchtige Tisch mit seinem hohen Aufbau symbolisierte nicht nur den Status des Mannes, der an ihm arbeitete, sondern er gewährte ihm auch das Privileg eines privaten Raumes. Da niemand sehen konnte, woran er gerade arbeitete, ohne ihm über die Schulter zu blicken, oblag ihm die Hoheit über seine Arbeitsweise und -geschwindigkeit; für erledigte wie unerledigte Papiere boten die Fächer und Schubladen eine Vielzahl an Ablagemöglichkeiten. „Such a desk“, schreibt Adrian Forty, „assumed that the clerk was responsible for its contents, and for his work; it represented a small private domain [...] Such a desk encapusaled the responsibility, trust and status given to some clerks.“7 Mit der Schreibmaschine kündigte sich die Veränderung des Büros bereits an. Der Einsatz von neuen Maschinen wie der Schreibmaschine, der Tabelliermaschine und des Diktiergerätes prägte den Büroraum bald ebenso wie die zunehmende Beschäftigung von Frauen und die Entstehung von Massenarbeitssälen. Um 1870 verrichtete weniger als ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Erwerbstätigkeit im Büro; der typische Büroangestellte war männlich und erledigte so verschiedenartige Aufgaben wie die Buchhaltung und die Aktenablage. Das Aufkommen großer national operierender Unternehmen sowie die wachsende Bedeutung von Banken und Versicherungen führte im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem raschen Wachstum der Büroarbeit; Mechanisierung und Rationalisierung hatten den Anstieg gering qualifizierter Tätigkeiten zur Folge. Damit einher ging auch ein Statusverlust der Büroangestellten. Um 1920 arbeiteten acht Prozent aller Erwerbstätigen in einem Büro; der Frauenanteil betrug fünfzig Prozent. Die wachsende Zahl der Angestellten bewältigte stetig größer werdende Aktenberge.8 Die folgende Passage aus einem Standardwerk der Büroorganisation – Lee Galloways „Office Management: Its Principles and Practice“ von 1919 – macht deutlich, dass das komplexe Gefüge der großen Büros, wie sie im
7
Ebd., S. 124.
8
Vgl. Hierzu ebd., S. 121; Rotella: Transformation, 1981; Glenn/Feldberg: Proletarianization, 1977, S. 52-55.
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ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden, kaum Ähnlichkeit hatte zu den familiären Beziehungen in einem kleinen Büro: „The larger […] business offices grow, the more difficult and important become the problems of management. Orders must be given to employees by managers, and reports of work performed must be recorded. Inspectors, superintendents, foremen, senior clerks, and office managers increase in number – their function being to keep the employees and machines working harmoniously. At first one of these supervisors can give instructions verbally and keep the details in his memory, but as the subdivision of work increases the necessity grows for continual communication between the various ranks of authority. Letters and memos, production orders and work tickets, speaking tubes and telautographs, cost statistics and controlling accounts, time clocks and messenger boys, multiply to keep pace with the growing complexity of business and to save time of executives and workmen alike.“
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Die stetig zunehmende Größe und Komplexität von Büros machte die systematische Organisation der Büroarbeit zu einer Notwendigkeit. Zwischen die Geschäftsleitung und die Angestellten trat die Hierarchieebene der Manager, welche die arbeitsteilig organisierten Geschäftsabläufe im Büro kontrollierten und koordinierten. Das persönliche Verhältnis zwischen dem Inhaber und seinen Angestellten und das damit verbundene Gefühl der gegenseitigen Verpflichtung, wie sie in kleinen Büros üblich war, konnte in Büros mit hundert und mehr Angestellten nicht aufrecht erhalten werden. „The characteristic feature of this era“, bemerkt Harry Braverman, „was the ending of the reign of the bookkeeper and the rise of the office manager as the prime function and representative of higher management.“10 Office Management etablierte sich als eigenständige Managementdisziplin mit eigenen Ausbildungsstätten, Berufsverbänden, Lehrbüchern, Zeitschriften, Standards und Methoden. Als wegweisend erwiesen sich dabei die Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung, die Frederick Winslow Taylor 1911 erstmals in Buchform veröffentlichte.11 Taylor betrachtete den menschlichen Körper mit dem Blick eines Ingenieurs; jede Tätigkeit analysierte er wie einen komplizierten Mechanismus
9
Galloway: Office Management, 1919, S. vii.
10 Braverman: Labor, 1998, S. 211. 11 Taylor: Principles, 1911.
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mit dem Ziel einen, möglichst effizienten Bewegungsablauf zu finden. Ermüdung galt es zu verhindern, indem man unnötige Bewegungen ausschaltete. Ineffiziente Arbeitsmethoden wurden durch rationellere ersetzt, die vereinfachten Routinen schriftlich festgehalten und als Anweisungen an die Ausführenden übergeben. Nur sehr kleine Arbeitsvorgänge konnten mit der erforderlichen Präzision beobachtet, analysiert und rationalisiert werden. Das Prinzip der Arbeitsteilung war daher ebenso wesentlich für die wissenschaftliche Betriebsführung wie für die Trennung von Planung und Ausführung. Die Gestaltung jedes einzelnen Arbeitsschrittes, für die bisher der Ausführende selbst zuständig gewesen war, fiel zunehmend in die Hände von beobachtenden Experten, die sich dem obersten Gebot der Effizienz verschrieben hatten:12 „Taylor’s factory was to be one big machine, with all tasks organized and distributed accordingly, and with men of special training placed to see that the gears meshed. [... He] proposed a neat, understandable world in the factory, an organization of men whose acts would be planned, co-ordinated, and controlled under continuous expert direction.“
13
Büroarbeitsplätze wurden mit den gleichen Methoden untersucht und entsprechend der gleichen Prinzipien optimiert wie industrielle Arbeitsplätze. Zwischen 1910 und 1930 erschienen zahlreiche umfangreiche Handbücher, die auf mehreren Hundert Seiten Taylors Grundsätze auf die Büroarbeit anwandten.14 „Desk activities are processing operations as surely as are activities at machine and bench,“15 betonte der Geschäftsführer der Taylor Society in seinem Vorwort zu Wiliam Leffingwells BüroorganisationsHandbuch, das 1925 unter dem Titel „Office Management“ erschien. Büroexperten wie Leffingwell und Galloway übertrugen die wesentlichen Praktiken und Strategien der wissenschaftlichen Betriebsführung auf die Büro-
12 Vgl. ebd. Zur Geschichte der wissenschaftlichen Betriebsführung: Giedion: Mechanisierung, 1994, S. 120-124; Braverman: Labor, 1998, S. 59-85. 13 Haber: Efficiency, 1973, S. xf. 14 Vgl. u.a.: Schulze: American Office, 1913; Leffingwell: Office, 1918; Johnson: Office Management, 1919; Galloway: Office Management, 1919; Leffingwell: Office Management, 1927. 15 H. S. Person im Vorwort zu: Leffingwell: Office Management, 1927, S. vi.
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arbeit. Gemäß des Prinzips der Trennung von Planung und Ausführung erhielt der Büromanager die Funktion einer zentralen Kontrollinstanz. Er sollte alle Geschäftsabläufe effizient organisieren und – was mindestens ebenso bedeutend war – ihre korrekte Ausführung überwachen. Die Macht des Büromanagers basierte ganz wesentlich auf arbeitsräumlichen Kontrolltechniken. Indem der Massenarbeitssaal die „permanente Sichtbarkeit aller Arbeitspersonen und ihres räumlich-sozialen Handlungsgeschehens“16 garantierte, ermöglichte er die detaillierte Kontrolle und Disziplinierung der Angestellten – ein Charakteristikum, das Hans-Joachim Fritz zufolge den Vergleich zu Benthams Panopticon nahe legt. Fritz beschreibt ein hierarchisch organisiertes Netz von Kontrollblicken, welchem die Büroangestellten unterworfen worden seien. Wichtig sei dabei allein gewesen, dass sich „jeder einzelne ständig überwacht fühlt, auch wenn er in Wirklichkeit nur von Zeit zu Zeit in die beaufsichtigenden Blickbeziehungen der Vorgesetzten gerät.“17 Mit dieser Beschreibung schließt Fritz direkt an Michel Foucaults Konzept des Panoptismus an, das die Hauptwirkung des Panopticons – „die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes“18 – zu einem machtgenerierenden Prinzip verallgemeinert. „Die panoptische Anlage,“ schreibt Foucault, „ist nicht einfach ein Scharnier oder ein Austauschregler zwischen einem Machtmechanismus und einer Funktion; sie bringt Machtbeziehungen innerhalb einer Funktion zur Geltung und steigert dadurch diese Funktion.“19 Macht und Wissen integrieren sich so „genauestens und bis ins Detail in die zu kontrollierenden Prozesse.“20 Das Ineinandergreifen von Sichtbarkeit, Wissen und Macht im Büro um 1920 verdeutlicht die folgende Passage aus Lee Galloways „Factory and Office Management“: „System may provide an excellent plan of control, but it is of little avail without the ‚eye of the master‘. Orders are useless unless carried out; reports mean nothing unless acted upon. [...] Proper planning [...] will enable the ‚master’s eye‘ to see all events that possess any significance.“21
16 Fritz: Menschen, 1982, S. 98; Vgl. hierzu auch Braverman: Labor, 1998, S. 211. 17 Fritz: Menschen, 1982, S. 98. 18 Foucault: Überwachen, 1994, S. 258. 19 Ebd., S. 265-266. 20 Ebd., S. 265. 21 Galloway: Factory, 1918, S. 36-37.
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Das Auge des Büromanagers kontrollierte die korrekte Ausführung der zuvor systematisch geplanten Arbeitsschritte. Analog zur Kamera, die im Film „The Crowd“ über die identischen Tischreihen hinweg fährt, bewegte sich der potentiell allgegenwärtige Blick des Büromanagers über die Schreibtische der Angestellten. Seine volle Wirksamkeit entfaltete dieser Blick erst durch die Gleichförmigkeit dieser Schreibtische und ihre repetitive Anordnung. Diese „Homogenisierung des Sehraumes“22 wurde, so Hans-Joachim Fritz, notwendig, sobald die Büroorganisation die Techniken des Sehens als Herrschaftsmittel für sich entdeckte.
2. M ODERN E FFICIENCY D ESK Im selben Maße, in dem die Angestelltenzahlen im Büro stiegen und der Büromanager die Kontrolle über die Arbeitsabläufe übernahm, wuchs die Kritik an der Nutzung von Zylindersekretären. „The roll top desk is [...] fast disappearing from the efficiently managed office,“23 bemerkte John William Schulze 1913 in seinem Handbuch über Büroorganisation „The American Office“. Wie er hielten zahlreiche Experten im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts den Zylindersekretär für ein Auslaufmodell. Die vielen Schubladen und -fächer und die Möglichkeit, den Tisch mit einer Lade zu verschließen, verleiteten ihrer Ansicht nach zu Unordnung und dazu, die tägliche Arbeit nicht zu Ende zu führen. Außerdem, so die verbreitete Meinung, behinderte der hohe Aufbau die freie Sicht des Büroleiters:24 „The old roll-top desk is going out of use. Its pigeon holes were only too convenient places for stuffing papers that should have been placed in files. In the readiness with which the roll-top desk may be closed at night and may present an appearance of order lurks a temptation not to finish the day’s business and clear the desk each night. In addition to its other disadvantages, the roll-top desk by reason of his high back
22 Fritz: Menschen, 1982, S. 98. 23 Schulze: American Office, 1913, S. 63. 24 Vgl. hierzu: Galloway: Office Management, 1919, S. 90; Johnson: Office Management, 1919, S. 30; Leffingwell: Office Management, 1927, S. 397-398.
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deprives the office manager of an unobstructed view of the men under his supervision.“
25
Als vorbildliches Gegenmodell wurde der sogenannte Modern Efficiency Desk präsentiert, der 1915 für das neue Hauptbüro der Equitable Assurance Company entwickelt worden war. Dabei handelte es sich um einen einfachen Tisch mit nur drei flachen Schubladen, der den Büroangestellten im Gegensatz zum Zylindersekretär keinerlei Privatsphäre mehr bot. In diesem Tisch konnten die Büroangestellten keine Schriftstücke mehr verstauen, die dann übersehen wurden. Der Tendenz, auf den nächsten Tag zu verschieben, was auch heute erledigt werden konnte, war damit – da waren sich die Büroexperten einig – Einhalt geboten:26 „One of the advantages of the desk is that the clerks cannot stow away in it papers which later will be overlooked. With it a clerk works with greater expedition, and there being no room for placing current work in the desk, the tendency to defer until tomorrow what can be done today is almost entirely eliminated.“
27
Abbildung 2: Modern Efficiency Desk (Galloway: Office Management, 1919, S. 89). Der Übergang vom Zylindersekretär zu Schreibtischen wie dem Modern Efficiency Desk – und damit zur Betrachtung des Schreibtisches als einem Werkzeug, das der arbeitswissenschaftlichen Gestaltung unterworfen wer-
25 Johnson: Office Management, 1919, S. 30. 26 Vgl. Galloway: Office Management, 1919, S. 89; Johnson: Office Management, 1919, S. 31. 27 Equitable Life Assurance Society, zitiert ebd., S. 31.
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den konnte und musste – markierte einen signifikanten Wandel innerhalb der Büroarbeitswelt. Mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Betriebsführung war man sich zunehmend bewusst geworden, welchen Einfluss das Arbeitsumfeld, die Werkzeuge und das Mobiliar auf die Effizienz der Tätigkeiten hatten. Mit diesen Erkenntnissen wollte man nun auch „the office man’s work-bench“28 verbessern: „The desk is one of the most used pieces of furniture in the office. The office employee is at it constantly. The highest type of working efficiency in a desk is obtained when the desk itself is so constructed and so arranged that it does not in the slightest degree interfere with the progress of a person’s work, but, on the other hand, aids in every possible way.“
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Leffingwell skizzierte die grundlegenden Aufgaben eines Schreibtisches: Einerseits diente er als Schreibfläche und kurzfristige Ablagefläche; gleichzeitig sollte es auf der Tischplatte und in den Schubfächern Ablagemöglichkeiten geben für Bürobedarf wie Papier und Stifte sowie für wichtige Nachschlagewerke, Akten und Berichte. Diese Aufgaben waren nicht neu – sie charakterisierten die Funktion von Schreibmöbeln seit jeher. Neu war die nahezu obsessive Beschäftigung mit Effizienz, Ordnung und Kontrolle.30 Fast jeder Schreibtisch auf dem Markt, so kritisierte Leffingwell, biete dreimal soviel Speicherplatz wie nötig. Das koste nicht nur den Hersteller Arbeit und Material, sondern sei auch ein ständiges Ärgernis für den Büromanager: Wichtige Papiere gingen verloren oder würden in den verschiedenen Fächern verlegt und wären schließlich hinfällig; der ganze Arbeitsplatz ein Müllhaufen statt einer Ablagefläche für wertvolle und lebendige Materialien, die auch benutzt würden. Auch vermisste er geeignete Behältnisse für Füller und Bleistifte, Gummibänder, Klammern und sonstigen Bürobedarf; die Schubladen entsprächen nicht den Standardgrößen für Papier.31
28 Leffingwell: Office Management, 1927, S. 391. 29 Schulze: American Office, 1913, S. 62. 30 Vgl.
Leffingwell:
Office
Management,
1927,
Schreibmöbel, 1986. 31 Vgl. Leffingwell: Office Management, 1927, S. 394.
S. 391-392;
Dietrich:
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Abbildung 3: Standardisierte Schreibtischordnung (Leffingwell: Office, 1918, S. 270). Auf dieser Abbildung (Abbildung 3) präsentierte Leffingwell einen vorbildlich geordneten Schreibtisch. Die Tischfläche diente hier nur vorübergehend als Ablage. Benötigte Arbeitsmaterialien wie Notizbücher, Bleistifte und Stempel hatten ihren festen Platz in den Schubladen. Leffingwell sprach sich – wie zahlreiche andere Autoren auch – für ein standardisiertes Ordnungssystem aus. Die benötigten Gegenstände und ihre Anordnung sollten sowohl auf der Tischoberfläche als auch in den Schubfächern standardisiert werden: „If employes are left to themselves, each fits up his desks as he chooses. There must be some ‘one best way.’ That way should be found and standardized.“32 So reglementierte die standardisierte Tischausrüstung in einer Rechnungsabteilung den Inhalt der Schreibtische bis ins Kleinste: „Center drawer: Signal clipse, rule, memo pads, pens, pencils, pins, eraser
32 Johnson: Office Management, 1919, S. 35.
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Top right hand drawer: 1st compartment: Cards for tomorrow’s billing, daily reports and time sheets 2nd compartment: Attorney report blanks, special draft blancs 3rd compartment: Cards and memoranda for drafts and attorney reports, requisition slips Second right hand drawer: 1st compartment: Letter heads, statements, second request statements 2nd compartment: Plain envelops Lower right hand drawer: Department Manual, book of rules, personal things“
33
Idealerweise wurden die benötigten Gegenstände – so beschreibt die deutsche Rationalisierungsexpertin Irene M. Witte das System ihres amerikanischen Kollegen Frank B. Gilbreth – auf einer sogenannten ‚Schreibtischversorgungskarte‘ aufgelistet. Diese befand sich in jedem Schreibtisch und hatte auf der Rückseite eine Skizze, die den festgelegten Platz jedes Gegenstandes verzeichnete. Sie diente als Vorlage für den Bürodiener, der den Tisch in Abwesenheit des Angestellten zweimal täglich, morgens und mittags, in Ordnung bringen sollte. Klar erkennbare Ein- und Ausgangskörbe unterstützen den Botendienst, der die erledigten Schriftstücke von einem Schreibtisch zum nächsten trug.34 Auch der Büromanager profitierte von der Ordnung, indem sie ihm half, den Überblick über alle erledigten und unerledigten Papiere zu behalten, wie Schulze in „The American Office“ betonte: „The office manager knows that he can go at any time to any desk and discover all the work that is unfinished by looking into the upper left hand drawer. Periodical inspections are made and it is insisted upon that the drawers be used in the manner instructed.“35 Schulze gab in seinem Handbuch beispielhafte Inspektionsberichte wider, um zu verdeutlichen, welche Verbesserungen durch regelmäßige Inspektionen erzielt werden konnten. Bewertet wurde anhand eines Punkte-
33 Ebd., S. 34-35. 34 Vgl. Witte: Amerikanische Büroorganisation, 1925, S. 18-22; Johnson: Office Management, 1919, S. 33. 35 Schulze: American Office, 1913, S. 64.
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systems mit fünfzig Punkten als Bestnote für eine exzellente Ordnung des Arbeitsplatzes. Bei der ersten Inspektion schwankten die Bewertungen der einzelnen Tische zwischen 35 und 45 Punkten. Angemahnt wurden vor allem zu viele Papiere in den Schubladen, zu viel Büromaterial sowie auf dem Schreibtisch verstreute Papiere. Keine der begutachteten Abteilungen erreichte zu diesem Zeitpunkt einen Punktedurchschnitt von mehr als 44 Punkten. Ein halbes Jahr später lagen alle Abteilungen im Durchschnitt über 45 Punkten; die Angestellten J. O. Kaser und A. E. Perkes hatten sich von 35 auf 44 Punkte gesteigert; keiner der Angestellten erhielt weniger als 44 Punkte. Die Bewertung jedes und jeder Angestellten ging schließlich in seine oder ihre Personalakte ein. Als Folge fortgesetzter Verstöße gegen die normierte Ordnung musste der Angestellte im schlimmsten Fall mit seiner Entlassung rechnen.36 Die Inspektion der Schreibtische ist ein prägnantes Beispiel für die Disziplinartechnik der ,normierenden Sanktion‘, bei der jeder einzelne im Hinblick auf eine vorgegebene Norm differenziert und bewertet wird. „Hand in Hand mit dieser ,wertenden‘ Messung“ geht Foucault zufolge „der Zwang zur Einhaltung einer Konformität.“37 An jedem einzelnen Schreibtisch entfaltete die panoptische Disziplinarmacht auf diese Weise ihre Wirkung: So wie die Kopistin in Lewis’ Roman „The Job“ den Gang zum Wasserspender in dem Moment nicht mehr wagt, in dem sie sich dadurch den wachsamen Blicken des Büromanagers aussetzt, übernehmen die Angestellten das vorgegebene Ordnungssystem, um eine zufrieden stellende Bewertung zu erzielen. Oder um es mit den Worten Foucaults zu sagen: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“38 Die Ordnung am Schreibtisch galt im frühen 20. Jahrhundert als wesentliche Voraussetzung für die effiziente Ausführung der Büroarbeit. Das Sprichwort „The busier the man the clearer the desk“ betrachtete die wissenschaftliche Büroorganisation dementsprechend als Ausdruck einer Wahrheit, die vielfach bewiesen worden war. Die Anordnung der standar-
36 Vgl. ebd., S. 67-70. 37 Foucault: Überwachen, 1994, S. 236. 38 Ebd., 1994, S. 260.
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disierten Schreibtische in Reih und Glied garantierte nicht nur die Kontrolle der Arbeitsabläufe, sie zeigte auch ihre sorgfältig durchdachte Planung. „The appearance presented by a uniform desk equipment througout the office,“ schrieb John William Schulze, „suggests the existence of well ordered methods.“39 Für Lee Galloway war der Modern Efficiency Desk aus diesem Grund ein Symbol für moderne Betriebsführung: „The simplicity of this equipment reflects the celerity with which business is conducted today. The desk is no longer a storage place – nor even ornamental – but a tool for making the quickest possible turnover of business paper.“40
3. APPLIED M OTION S TUDIES „Many motions in an office are wasted through the improper arrangement of desk drawers and the equipment on the desk for handling papers,“41 formulierte Schulze eine verbreitete Ansicht seiner Zeit. Der Büroangestellte, dessen erledigte und unerledigte Papiere sich unordentlich vor ihm anhäuften, so die Überzeugung der Büroexperten, vergeudete sowohl körperliche als auch geistige Energie, was zu unnötiger Ermüdung führte. Während nötige Ermüdung den Rationalisierungsexperten Frank und Lillian Gilbreth zufolge durch Arbeit hervorgerufen wird, die getan werden muss, entsteht unnötige Ermüdung durch überflüssige Anstrengungen. Diese können sowohl körperlicher Natur sein (der Radiergummi liegt weiter entfernt als nötig), als auch geistiger Natur (wenn z.B. immer wieder neu entschieden werden muss, wohin der Radiergummi gelegt werden soll). „The office worker, whose finished and unfinished papers are heaped in confusion before him,“ konstatierte das Ehepaar Gilbreth, „expends not only useless motions in getting at and disposing of what he wishes to handle, but also mental energy, in constantly adjusting and readjusting himself to the work.“42 Die von den Gilbreths propagierte Analyse und Reorganisation von Bewegungsabfolgen mit dem Ziel der Vermeidung von unnötiger Anstrengung war symptomatisch für die wissenschaftliche Betriebsführung:
39 Schulze: American Office, 1913, S. 72. 40 Galloway: Office Management, 1919, S. 89-90. 41 Schulze: American Office, 1913, S. 63. 42 Gilbreth/Gilbreth: Fatigue Study, 1916, S. 89.
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„Eliminating the effort is the aim of our age. There is no gainsaying the fact that this world of ours is wasting millions of dollars doing useless things with brain and body. The efficiency movement and the scientific management movement are the natural results of an almost universal desire to avoid the useless.“
43
Bestellungen sortieren, Telegramme aufgeben, Briefe beantworten, Rechnungen schreiben, Akten ablegen – das waren typische Tätigkeiten wie sie im Büro tagein und tagaus wiederholt wurden. Eine zusammenhängende Abfolge solcher Arbeitsschritte bezeichnete Leffingwell als Routine. Den „straight-line flow of work“ – den geradlinigen Papierfluss ohne Umwege und Unterbrechungen – erklärte er zu einem der wichtigsten Prinzipien der Büroorganisation.44 Die Aufgabe des Büromanagers bestand darin, die einzelnen Routinen zu verstehen und zu überprüfen, ob sie für das Geschäftsziel des Unternehmens überhaupt notwendig waren. In einem von oben nach unten fortschreitenden Analyseverfahren sollten zunächst die Routinen untersucht werden, dann die Arbeitsschritte innerhalb der einzelnen Routinen und schließlich die Durchführung der Arbeitsschritte selbst. Danach, so Leffingwell, wisse der Büromanager auf jeder Ebene, ob die angewandte Methode die beste sei oder nicht; falls nicht, gelte es, die beste Methode zu finden.45 Übertragen auf die konkrete Architektur des Büroraumes konnte das bedeuten, einen ineffizienten Zickzack-Weg kreuz und quer durchs ganze Büro so zu rationalisieren, dass die Transportwege kürzer wurden (Abbildung 4).46
43 Schulze: American Office, 1913, S. 9. 44 Leffingwell: Office Management, 1927, S. 332. 45 Vgl. ebd., S. 140-157. 46 Vgl. Galloway: Office Management, 1919, S. 69-71.
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Abbildung 4: Büroroganisatorisches Diagramm (Galloway: Office Management, 1919, S. 70).
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Indem die Bewegungsabläufe im Büroraum in eine diagrammatische Darstellung überführt wurden, konnte die Rationalisierung vorweg gedacht werden, ohne auch nur ein einziges Möbelstück zu verrücken. Als Instrument des Büromanagers diente das Diagramm dazu, das effizienteste Bewegungsmuster – „the one best way of doing a job“47– zu konstruieren; der Vorher-Nachher-Vergleich machte dann die Notwendigkeit der Rationalisierung auch für den Laien offensichtlich. Die Möglichkeit der Darstellung von Bewegungsabläufen in einem Diagramm verlieh dem Büromanager die Kontrolle über diese Bewegungsabläufe und ihre Korrektur. Nachdem er auf dem Papier den idealen geradlinigen Papierfluss ermittelt hatte, war die Übersetzung in eine entsprechende Anordnung der Schreibtische nur noch ein kleiner Schritt. In einigen Büros ging man um 1920 sogar so weit, ein Fließband einzuführen, welches die Schriftstücke von einem Schreibtisch zum nächsten transportierte. Dabei handelte es sich um die wohl konsequenteste Verwirklichung des straight-line flow of work. Dem Schreibtisch kam innerhalb einer derart durchorganisierten Routine die zentrale Funktion eines Knotenpunktes zu. Auch dieser Knotenpunkt wurde dann – wie unter einem Mikroskop – auf überflüssige Bewegungen hin untersucht.48 Taylor zufolge bestand die Aufgabe der wissenschaftlichen Betriebsführung darin, das – implizite – Wissen über die Arbeitsabläufe, das bis dahin den Arbeitern zu eigen gewesen war, zu sammeln, zu ordnen und schließlich auf einfache Regeln, Gesetze und Formeln zu reduzieren. Diese sollten die Arbeiter darin unterstützen, ihre Tätigkeiten auf möglichst effiziente Art und Weise zu verrichten.49 Taylor verwies in diesem Zusammenhang auf Gilbreths Bewegungsstudien, welche dieser zuerst auf Baustellen durchgeführt hatte. Er hob hervor, Gilbreth sei es durch das präzise Studium der Bewegungsabläufe von Maurern gelungen, die Anzahl ihrer Bewegungen von achtzehn auf fünf zu reduzieren. „[N]eedless motions can be entirely eliminated and quicker types of movements substituted for slow movements,“ fasste Taylor die Vorteile des Bewegungsstudiums zusammen.50
47 H. S. Person, im Vorwort zu: Leffingwell: Office Management, 1927, S. vi. 48 Vgl. Galloway: Office Management, 1919, S. 36; Leffingwell: Office Management, 1927, S. 335; Bradley: Office Spaces, 2007, S. 365. 49 Vgl. Taylor: Principles, 1911, S. 36. 50 Vgl. ebd., S. 79.
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Abbildung 5: Versuchsanordnung für die Gilbreths Motion Studies (Gilbreth: Method, 1916, Abb. 1 und 2). Für ihre Motion Studies verfeinerten die Gilbreths im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ihr wissenschaftliches Instrumentarium sukzessive. Mit einem speziellen Verfahren zur Untersuchung und Korrektur von Bewegungen, gelang es ihnen schließlich, die Dauer und die Art und Weise einer Bewegungsabfolge gleichermaßen zu erfassen. Auf der Darstellung der Versuchsanordnung in Frank B. Gilbreths Patentschrift von 1916 ist ein Arbeiter an einer Bohrmaschine zu sehen (Abbildung 5). Er befindet sich in einem Laborraum, der in quadratische Maßeinheiten eingeteilt ist. Die Aufgabe des Probanden besteht darin, einen unbearbeiteten Gegenstand aus der Kiste mit der Nr. 3 zu nehmen, diesen zu durchbohren und ihn schließlich in die Kiste mit der Nr. 5 abzulegen. Für die Untersuchung wird der Raum verdunkelt und der Bewegungsablauf fotografisch aufgezeichnet. Das Problem, dass die Fotografie komplexe Bewegungsabläufe als verschwommene Bilder wiedergibt, löste Gilbreth, indem er winzige Glühbirnen an die be-
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treffenden Gliedmasse anbrachte. Der Bewegungsablauf war daraufhin als lineare Lichtlinie – cyclegraph – auf der Fotografie zu erkennen (Abbildung 6). Die relative Dauer und Geschwindigkeit der Bewegung wurde durch die regelmäßige Unterbrechung des Lichtsignals dargestellt; die Bewegungsabfolge zeigte sich so als eine Folge von weißen Strichen und wurde dann als chronocyclegraph bezeichnet.51 Für den Büroexperten Leffingwell war Gilbreths Chronozyklegraphie ein hervorragendes Verfahren zur Untersuchung von Bewegungsabläufen am Schreibtisch: „Now it is quite evident that in the travel of any particular body through space, be that space great or small, the distance traveled has an important bearing upon the time occupied in traveling; but it is not at all certain that each worker will naturally choose the shortest path for each motion he makes, and these photographs demonstrated the fact undeniably.“
52
Abbildung 6: Zyklegraphie (Gilbreth/Gilbreth: Ermüdungsstudium, 1921, Tafel X, Abb. 20 und 21).
51 Vgl. Gilbreth: Method, 1916, S. 1-2. 52 Leffingwell: Office Management, 1927, S. 503.
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Gilbreth war davon überzeugt, dass man durch das Studium von Bewegungsgraphen und durch die vergleichende Betrachtung die effizienteste Methode für einen Bewegungsablauf ermitteln und diese zum Standard machen könnte.53 Geschickte Bewegungsabläufe glaubte Gilbreth in fließenden Bewegungskurven zu erkennen; Ungeschicklichkeit äußerte sich seiner Ansicht nach in ruckartigen Bewegungen, vielen Verzögerungen, abrupten Unterbrechungen, Richtungswechseln und anderen Unregelmäßigkeiten. Auch die Faktoren, welche die Art und Weise der Bewegungsabfolgen beeinflussten, zeigten sich Gilbreths Ansicht nach in den Zyklegraphien. Die Reichweite seiner Methode erläutert er in seiner Patentschrift mit beachtlicher Ausführlichkeit: „In the use of the invention, the motion or operation may actually be photographed, or permanently recorded: and all motions, and all operations and aggregations of a multiplicity of motions may be studied in detail. They may be studied as to speed, variations in speed, acceleration, retardation, continuity, momentum, inertia, intermittency, periodicity and direction; and as to their paths or orbits of movement, cycles and rythm; also as to retardation of speed due to the inertia of loads picked up; and acceleration and reflex action on release from loads. Where the operations are those of a man, the invention also permits study of any indecision or mental hesitancy on the part of the subject, as well as of presence or lack of nerve control; and of the effects of incentives, stimulants, foods, drugs and of fatigue; showing the time and the duration of the same, and the periodicity of rests; and of error and recurrence of error; and of the causes of these mental and physical phenomena.“
54
Gilbreths Chronozyklegraphien erfassten den Bewegungsablauf in ähnlicher Weise wie die Diagramme den Papierfluss. Gilbreth und seine Frau Lillian wandten sie auf alle Bereiche an, in denen sie sich eine Effizienzsteigerung erhofften; Bewegungsabfolgen im Büro wurden ebenso mit der chronozyklegraphischen Methode untersucht wie Arbeitsabläufe in der Fabrik oder im Haushalt. Die diagrammatische Form der Wissensrepräsentation diente dabei gleichermaßen der Veranschaulichung wie der Abstraktion; der komplexe dreidimensionale Bewegungsablauf wurde durch die
53 Vgl. Gilbreth/Gilbreth: Fatigue Study, 1916, S. 118-123; Gilbreth/Gilbreth: Motion Study, 1917, S. 91-93. 54 Gilbreth: Method, 1916, S. 1.
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vereinfachende Projektion in die Ebene sichtbar und handhabbar. Zusätzlich überführte das Ehepaar Gilbreth die Zyklegraphien in dreidimensionale Drahtmodelle (Abbildung 7). Ein namenloser junger Ingenieur, der dieser Methode zunächst skeptisch gegenüber gestanden hatte, war schließlich doch vom Nutzen der Bewegungsmodelle überzeugt: „After making a number of models of motions I have changed from a scoffer to a firm believer. […] I consider them of the same value to the motion study man as is the model of an engine or a mechanical device to an engineer. [...] A motion, in itself, is intangible, but a model of a motion gives one an alltogether different viewpoint, as it seems to make one see more clearly that each motion leaves a definite 55
path, which path may be may be subjected to analysis.“
Abbildung 7: Bewegungsmodell (Gilbreth/Gilbreth: Applied Motion Study, 1917, Abb. 16). Die Bewegungsmodelle, die Gilbreth Ansicht nach den one best way verkörperten, dienten demjenigen, der seine Bewegungsabläufe verbessern sollte, als normierende Vorlage: „Through its use he can see what he is to do, learn about it through his eye, follow the wire with his fingers, and thus
55 Zitat eines Ingenieurs, zitiert nach Gilbreth/Gilbreth: Effect, 1916, S. 274.
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accustom his muscles to the activity that they are expected to perform.“56 Mit der Aufzeichnung der Bewegungsabfolgen als Zyklegraphien wurde das verkörperte Wissen externalisiert; die Bewegungsgraphen wurden kontrolliert und einem detaillierten re-enginineering unterworfen, um schließlich an den Körper zurück gebunden zu werden. Was sich hier formierte war ein ,anatomisch-chronologisches Verhaltensschema‘, wie Michel Foucault es beschreibt: „Der Akt wird in seine Elemente zerlegt; die Haltung des Körpers, der Glieder, der Gelenke wird festgelegt; jeder Bewegung wird eine Richtung, eine Dauer, ein Ausschlag zugeordnet; ihre Reihenfolge wird vorgeschrieben. Die Zeit durchdringt den 57
Körper und mit der Zeit durchsetzen ihn alle minutiösen Kontrollen der Macht.“
Suren Lalvani stellt die Bewegungsstudien der Gilbreths in den größeren Zusammenhang der Fotografie des 19. Jahrhunderts.58 Seiner Ansicht nach spielte die verobjektivierende Wirkung der Fotografie eine entscheidende Rolle für die Instrumentalisierung des menschlichen Körpers. „Photography,“ schreibt er unter Bezugnahme auf Foucaults Konzept der Disziplin, „became part and parcel of a managerial discourse in ‚anatomopolitics‘, that envisioned an engineering of the body of the worker in terms of the efficient concerns of capitalist enterprise.“59 Suren Lalvani weist darauf hin, dass die Fotografie neue Sichtbarkeiten möglich machte: „visibilities that help propose the machine analogue for the worker’s body.“60 Darin sieht der Architekturhistoriker Hyungmin Pai eine Gemeinsamkeit von Zyklegraphie und Diagramm.61 Dass auch die Büroexperten um 1920 sich der verobjektivierenden Wirkung der Diagramme bewusst waren, belegt Lee Galloways Bemerkung, die diagrammatische Darstellung zwänge den Manager „to look upon his organization from the point of view of functions and activities rather than from the standpoint of the persons who are run-
56 Gilbreth/Gilbreth: Motion Study, 1917, S. 127-128. 57 Foucault: Überwachen, 1994, S. 195. 58 Lalvani: Photography, 1993, S. 459. 59 Ebd., S. 457. 60 Ebd., S. 459. 61 Vgl. Pai: Portfolio, 2002, S. 163-176.
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ning the business. [...] He can look at his organization as if it were a machine.“62 Für Pai ist die Konzeptualisierung des Menschen als Maschine ein grundlegendes Charakteristikum der wissenschaftlichen Betriebsführung. Darauf weisen auch Begriffe wie Human Engineering, Human Motor und Human Machine hin, die um 1920 in der Management-Literatur zunehmend auftauchen. Pai beruft sich auf David Noble, der in der Entwicklung des modernen Managements eine Verschiebung sieht „from the engineering of things to the engineering of people.“63 Der Arbeiter oder Angestellte, der dazu angehalten wurde, seine Bewegungsabläufe mit Hilfe der Gilbreth’schen Bewegungsmodelle zu verbessern, wurde dadurch gleichsam zu einem Ingenieur seiner selbst, „considering and examining his own labor, which lies before him abstracted, a signifier whose signified has been preconceived, and which awaits the material receptacle of his body.“64
Abbildung 8: Arbeitswissenschaftlich gestalteter Schreibtisch nach Gilbreth (Gilbreth/Gilbreth: Ermüdungsstudium, 1921, Tafel II, Abb. 4).
62 Galloway: Factory, 1918, S. 140. 63 Noble: Design, 1977, S. 263-264; Pai: Portfolio, 2002, S. 164-165. 64 Lalvani: Photography, 1993, S. 460.
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Ein weiteres grundlegendes Prinzip des Diagramms sieht Pai in der operationalen Verschränkung von Raum und Funktion: „the diagram was used as a tool to correlate the unit of production – the functionalized body of the worker – with the spatial area.“65 Dieser Logik der ,Zusammenschaltung von Körper und Objekt‘ – um erneut mit Michel Foucault zu sprechen – folgte auch der Schreibtisch, den Gilbreth als Ergebnis arbeitswissenschaftlicher Gestaltung präsentierte: Jeder Gegenstand hatte einen ganz bestimmten Platz – den sogenannten ,Normalplatz‘, der auf der Grundlage des effizientesten Bewegungsablaufes ermittelt worden war. Die Abfolge der Handlungsschritte wurde in die Anordnung der Gegenstände übersetzt. Ziel dieser Anordnung war die Erziehung des Schreibtisch-Nutzers zu standardisierten Bewegungsabläufen. Die Aufnahme, der Transport und das Ablegen sollten schließlich mit möglichst wenig Zeit- und Kraftaufwand erfolgen.66 Die Arbeit an diesem Schreibtisch kann im Anschluss an Michel Foucault als „instrumentelle Codierung des Körpers“ verstanden werden: Die Gesamthandlung wird in zwei parallele Reihen – Körperelemente und Objektelemente – zerlegt, die dann mittels einer Reihe einfacher Gesten in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die gesamte Berührungsfläche zwischen dem Körper und dem Objekt wird so mit Macht besetzt: „die Macht bindet den Körper und das manipulierte Objekt fest aneinander und bildet so den Komplex Körper/Waffe, Körper/Instrument, Körper/Maschine.“67 Oder eben: Körper/Schreibtisch.
4. C ORPORATE B ODIES Der Einsatz von Bewegungsstudien in der wissenschaftlichen Büroorganisation produzierte ,gelehrige Körper‘ im Sinne Michel Foucaults. Foucault zufolge verknüpft der Begriff der „Gelehrigkeit“ den analysierbaren Körper mit dem manipulierbaren Körper: „Gelehrig ist ein Körper, der unterworfen werden kann, der ausgenutzt werden kann, der umgeformt und vervoll-
65 Pai: Portfolio, 2002, S. 171. 66 Vgl. Gilbreth: Fatigue Study, 1916, Text zu Abb. 5; Witte: Amerikanische Büroorganisation, 1925, S. 18-19. 67 Foucault: Überwachen, 1994, S. 196-197.
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kommnet werden kann.“68 Erstmals gehe es bei der Disziplin „nicht darum, den Körper in der Masse, en gros, als eine unterschiedslose Einheit zu behandeln, sondern ihn im Detail zu bearbeiten; auf ihn einen fein abgestimmten Zwang auszuüben; die Zugriffe auf der Ebene der Mechanik ins Kleinste gehen zu lassen: Bewegungen, Gesten, Haltungen, Schnelligkeit.“ Den Gegenstand der Kontrolle sieht Foucault in der „Ökonomie und Effizienz der Bewegungen und ihrer inneren Organisation.“ Ausgeübt werde die Disziplinarmacht, indem sie die Ausführung der Tätigkeit genauer überwacht als das Ergebnis „und die Zeit, den Raum, die Bewegungen bis ins kleinste codiert.“69 Eine Beschreibung, die mit dem Anliegen der Gilbreth’schen Bewegungsstudien korrespondiert: „Motion study consists of analyzing an activity into its smallest possible elements, and from the results synthesizing a method of performing the activity that shall be more efficient.“70 Die Standardisierung von Schreibtischen war nur eine von zahlreichen Techniken der Disziplinierung. Das idealtypische Büro um 1920 kann im Anschluss an Michel Foucault als Dispositiv der Disziplin verstanden werden. Arbeitender Körper und Schreibtisch wurden durch Kontrolle und Korrektur untrennbar miteinander verschaltet mit dem Ziel ihrer reibungslosen Eingliederung in die Maschinerie des gesamten Betriebsablaufes: „[K]ey strategic practices of disciplinary power – examination, training, normalizing judgment, spatial distributions, temporal control of activity, and the subordination of groups and bodies to functional imperatives – are all embodied in the design of office spaces, with desks acting as the conduits through which these relations flow. The subject is therefore bound to the institution via the interface of the desk not only by mechanisms of visualization, but also by related architectural and social deployments of disciplinary relations.“
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Die Gestaltung der Räume hat für die Disziplinarmacht eine besondere Bedeutung, wie Foucault insbesondere am Beispiel von Benthams Panopticon
68 Ebd., S. 175. 69 Alle Zitate: Ebd., S. 175. 70 Gilbreth: Motion Study, 1916, S. 272. 71 Bradley: Office Spaces, 2007, S. 365.
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ausführlich darlegt.72 Foucault spricht in diesem Zusammenhang auch von ,lebenden Tableaus‘, „die aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen geordnete Vielheiten machen.“73 Die zugrundeliegende Gebäudearchitektur (inklusive des Mobiliars) betrachtet er als ein „Instrument zur Transformation der Individuen.“ Es sei eine Architektur, „die auf diejenigen, welche sie verwahrt, einwirkt, ihr Verhalten beeinflußbar macht, die Wirkungen der Macht bis zu ihnen vordringen läßt, sie einer Erkenntnis aussetzt und sie verändert.“74 Michael Ruoff zufolge handelt es sich dabei um eine „umgekehrte Ergonomie, die nicht die Arbeit an den Körper anpasst.“75 Der Begriff der ,umgekehrten Ergonomie‘ mag die Gestaltung der von Foucault in „Überwachen und Strafen“ beschriebenen Schulräume, Exerzierplätze und Gefängnisse zutreffend beschreiben – auf das idealtypische Büro des frühen 20. Jahrhunderts lässt er sich nur bedingt anwenden. Der Begriff der Ergonomie, eine Kombination der griechischen Wörter ergon (für „Arbeit“) und nomos (für „Gesetze“), geht auf den polnischen Biologen Wojciech Jastrzebowski zurück; erst im Zuge der Entwicklung des Human Factors Engineering während des Zweiten Weltkrieges wurde er zunehmend Bestandteil des akademischen Sprachgebrauchs.76 Die International Ergonomics Association definiert Ergonomie heute folgendermaßen: „Ergonomics (or Human Factors) is the scientific discipline concerned with the understanding of interactions among humans and other elements of a system, and the profession that applies theory, principles, data and methods to design in order to optimize human well-being and overall system performance.“
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Legt man diese Definition zugrunde, dann kann man in Bezug auf die Schreibtischgestaltung des frühen 20. Jahrhunderts keineswegs von einer ‚umgekehrten Ergonomie‘ sprechen. So betonte Gilbreth bereits 1911: „The work itself should be laid out in such a way that its performance will add to
72 Foucault: Überwachen, 1994, S. 256-268. 73 Ebd., S. 190. 74 Ebd., S. 222. 75 Ruoff: Foucault-Lexikon, 2007, S. 106. 76 Vgl. Jastrzebowski: Ergonomics, 2001. 77 IEA: Definitions, 2000, S. 102.
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and not subtract from health.“78 Sowohl Gilbreth als auch Leffingwell unternahmen verschiedene Studien, um den Schreibtisch und den Bürostuhl der Anatomie des menschlichen Körpers anzupassen. Die verbesserten Möbel sollten dem Menschen, der an ihnen arbeitete, eine energieschonende Arbeit und Arbeitshaltung erleichtern; die Ermüdungserscheinungen, die etwa durch langes Sitzen oder durch starke Lichtreflexionen hervorgerufen wurden, sollten so weit wie möglich gelindert werden. Unterschiedliche Körpermaße wurden dabei ebenso berücksichtigt wie die spezielle Struktur und Funktionsweise der verschiedenen Körperteile und Sinnesorgane; Materialien für die Tischoberfläche wurden in diesem Zuge sowohl auf ihre Eignung als Schreibunterlage hin untersucht, als auch auf ihre Reflexionseigenschaften. Es entstanden Schreibtische mit Fußstützen und Schreibtische, an denen man sowohl im Sitzen als auch im Stehen arbeiten konnte.79
Abbildung 9: Schreibmaschinentisch (Galloway: Office Management, 1919, S. 190).
78 Gilbreth: Motion Study, 1911, S. 34. 79 Vgl. Leffingwell: Office Management, 1927, S. 405-414; Gilbreth/Gilbreth: Fatigue Study, 1916.
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In den büroorganisatorischen Schriften des frühen 20. Jahrhunderts finden sich zahlreiche weitere Beispiele für eine Auseinandersetzung mit dem komplexen Wechselverhältnis von menschlichem Wohlbefinden einerseits und der Effizienz des Gesamtsystems andererseits. Irene M. Witte erfasst die Erkenntnisse ihrer amerikanischen Kollegen folgendermaßen: „Man erkannte schon frühzeitig in Amerika, daß man von der meist teuren und empfindlichen Büromaschine nur dann die höchste und beste Leistung zu erwarten habe, wenn ihr Bediener sie sieben oder acht Stunden täglich in bester Verfassung und ohne Übermüdung bedienen kann. Wenn man durch einen der betreffenden Arbeit angepassten Schreibtisch mit Hilfsvorrichtungen wie eingebauten Karteien und Abstellvorrichtungen, durch einen bequemen Stuhl in richtiger Höhe, durch Anbringung von Fußstützen, durch stetiges Hinweisen auf die Bedeutung einer richtigen Haltung bei der Arbeit die Leistung des Angestellten und der Maschine erhöhen konnte, wenn man durch Herabdrückung von Übermüdung und Überanstrengung die Lebenslust und Arbeitsfreude des Angestellten erhalten konnte, sind dann nicht die in diesen Hilfsmitteln angelegten Gelder reichlich verzinst?“
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In diesem Sinne durchzieht die Sorge um das körperliche Wohlbefinden der Angestellten Leffingwells Überlegungen zur Büroorganisation auch dort, wo er das Büro mit einer Maschine vergleicht. Leffingwell beschreibt zunächst, was bei der Steuerung einer Maschine zu beachten sei: ihre Arbeitsweise und ihre Kapazität, die besonderen Schwachstellen. Störfaktoren wie Schmutz, Rost sowie große Hitze oder Kälte gelte es auszuschalten. Die Lager müssten stets mit dem richtigen Öl geschmiert werden. Diese Faktoren überträgt er dann auf die Führung eines Büros. Er nennt mehrere Verantwortungsbereiche, deren umfassende Kenntnis für einen erfolgreichen Büromanager unabdingbar seien: die Arbeitsweise des Büros, die Belastbarkeit der Belegschaft, die menschlichen Schwächen der Angestellten – Anfälligkeit für Krankheiten, Ermüdung der Augen, Belastung durch schlechte Luft und zu hohe oder zu niedrige Temperaturen. Störfaktoren wie Lärm, Aufregung und Unordnung seien ein Hindernis für den reibungslosen Ablauf; die faire Behandlung der Angestellten vergleichbar mit dem Schmieren der Maschine.81 Die Regeneration durch regelmäßige Pausen,
80 Witte: Amerikanische Büroorganisation, 1925, S. 8. 81 Vgl. Leffingwell: Office Management, 1927, S. 35-52.
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sportliche Betätigung, ausreichende Belüftung und die Motivation durch Anreize für vorbildlich ausgeführte Arbeiten sind für Leffingwell ebenso probate Mittel der Effizienzsteigerung wie strikte Disziplin und deutliche Anweisungen. Selbst Blumenschmuck auf den Schreibtischen ist seiner Ansicht nach gerechtfertigt, sofern er dem obersten Ziel dient – der „efficient, smooth-running business machine“.82 Die wissenschaftliche Büroorganisation des frühen 20. Jahrhunderts folgte einer einfachen unternehmerischen Logik: „Being easier, the work is done quicker, which translated into dollars-and-cents language means a ‚smaller payroll‘.“83 Ihre Eigenschaft als Disziplinarmacht zeigt sich in dem Ziel, das sie verfolgte: die effiziente leichtgängige Büromaschine, die – um noch einmal Worte Foucaults zu borgen – „durch die genau abgestimmte Ineinanderführung ihrer Teilchen ein hohes Maß an Effizienz erreicht.“84 Das reibungslose Funktionieren der vielgliedrigen Maschinerie, als welche das Büro verstanden wird, setzt die Integration von Schreibtisch, Körper und Raum voraus: „An organization is a combination of all elements necessary to bring about a desired result. We have an efficient organization when the elements are combined in such a manner that they will operate harmoniously, accurately and promptly, and will achieve the result required with the least expenditure of money and effort. The elements of an organization are men, equipment and space.“
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Rationalisierung und Humanisierung von Arbeit lassen sich in diesem Zusammenhang nicht als einfaches Gegensatzpaar verstehen; sie stehen vielmehr in einem reziproken Verhältnis zueinander. Auch darin entspricht die Büroorganisation um 1920 noch dem Charakter der Disziplinarmacht, der es Foucault zufolge „weniger um Ausbeutung als um Synthese, [...] um Zwangsbindung an den Produktionsapparat“ geht.86 Aufgrund dieser engen Einbindung des Angestellten in den Mechanismus des tayloristischen Büros, schlägt der kanadische Kulturwissenschaftler Dale Bradley vor statt
82 Leffingwell: Office, 1918, S. 26. 83 Ebd., Text zu Abb. 139, S. 248. 84 Foucault: Überwachen, 1994, S. 211-212. 85 Schulze: American Office, 1913, S. 12. 86 Foucault: Überwachen, 1994, S. 197.
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von „corporeal“ – körperlichen – von „corporate“ – korporativen – Körpern zu sprechen.87 Foucault beschreibt die Disziplin als eine spezifische Machttechnologie, welche sich einerseits durch eine „gesteigerte Tauglichkeit“ der Körper auszeichnet und welche andererseits „die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung“ umpolt.88 Wie der Strafgefangene in seiner Zelle und der Soldat auf dem Exerzierplatz, wird die Büroangestellte am Schreibtisch in eine Machtmaschinerie eingebunden. Anders als der Soldat oder der Strafgefangene jedoch hat die Büroangestellte die Möglichkeit, die Arbeit im Büro aus freien Stücken aufzugeben wie das Beispiel der Kopistin im Roman „The Job“ zeigt: Nachdem ihr die Gelegenheit versagt wurde, die Monotonie ihrer Tätigkeit durch Ausflüge zum Wasserspender zu durchbrechen, trifft sie eine Entscheidung. „As a consequence,“ heißt es im Roman, „she gives up the office and marries unhappily.“89 Für sie ist der Fortgang aus dem Büro zwar augenscheinlich nicht mit größerem Wohlbefinden verbunden, doch zeigt sie dadurch, dass sie die Freiheit besitzt, sich gegen die Zustände im Büro und damit gegen das Attribut „korporativ“ zu entscheiden. Foucault bezeichnet einen solchen Widerstand als „chemischen Katalysator, der die Machtbeziehungen sichtbar macht und zeigt, wo sie zu finden sind, wo sie ansetzen und mit welchen Methoden sie arbeiten.“90 Foucaults Konzept der gouvernementalen Macht nimmt das komplexe Wechselspiel von Macht und Freiheit in den Blick. Macht in diesem Sinn schließt die Handlungsfreiheit der Subjekte nicht aus, sondern ein; sie entfaltet sich in dem Moment, in dem den Subjekten mehrere Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und zielt darauf ab, den Handlungsspielraum zu beeinflussen: „Wenn man Machtausübung als ein auf Handeln gerichtetes Handeln definiert, wenn man sie als ‚Regierung‘ von Menschen durch andere Menschen im weitesten Sinne des Wortes beschreibt, dann schließt man darin ein wichtiges Element ein, nämlich das der Freiheit.“91
87 Bradley: Office Spaces, 2007, S. 364. 88 Foucault: Überwachen, 1994, S. 177. 89 Lewis: Job, 1994, S. 43. 90 Foucault: Subjekt, 2005, S. 243. 91 Ebd., S. 257.
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Freiheit ist für Foucault insofern eine Existenzbedingung der Macht, als dass die Machtausübung, „die letztlich danach trachtet, vollständig über sie zu bestimmen“, und die „Widerspenstigkeit der Freiheit“ einander durch „permanentes Provozieren“ aufrechterhalten.92 Es gebe, schreibt Foucault, „keine Machtbeziehung ohne Widerstand, ohne Ausweg oder Flucht, ohne möglichen Umschwung. Jede Machtbeziehung impliziert also zumindest virtuell eine Kampfstrategie […] Sie bilden füreinander gleichsam eine ständige Grenze, einen Punkt möglicher Umkehrung.“93 Im Büro um 1920 provoziert das Unterbinden des kleinen Widerstandes – die regelmäßigen Ausflüge zum Wasserspender – den großen Widerstand: die Kündigung. Die Büroexperten schenkten dem wirtschaftlichen Verlust, der durch eine hohe Fluktuation der Angestellten entstehen konnte, große Aufmerksamkeit. Die Schulung der Angestellten in der effizienten Ausführung ihrer Tätigkeit wurde als Investition betrachtet, die sich später rechnen sollte. Verließ ein gut ausgebildeter Angestellter das Büro, so bedeutete das einen wirtschaftlichen Verlust. Neben der Heirat und schlechter Gesundheit – beides keine Kampfstrategien mit Aussicht auf Erfolg – wurden auch der Wechsel auf eine bessere Stelle oder die Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen als Grund für den Fortgang in Betracht gezogen. „It may be,“ heißt es in einem der Handbücher, „that the wage scale is too low, that promotions are not frequent enough or that working conditions are unsatisfactory.“94 In dem Ratschlag, diese Gründe systematisch zu erfassen, um daraus für die Zukunft zu lernen, zeichnet sich der mögliche Erfolg von Widerspenstigkeit ab. Die gesteigerte Nützlichkeit der Angestellten ging demnach keineswegs zwangsläufig mit einer vertieften Fügsamkeit einher; vielmehr konnte zunehmende Kompetenz auch zum Entstehen einer Gegenmacht führen und damit zu einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse, wie das Ehepaar Gilbreth anmerkt: „The new knowledge is of no use to the employer without the cooperation of the worker. This fact puts the relations between the worker and his employer on a new basis. They must cooperate, or both pay an awful price. These new methods have
92 Ebd., S. 257. 93 Ebd., S. 261-262. 94 Johnson: Office Management, 1919, S. 109-111; Strom: Feminization, 1989, S. 60-62.
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demonstrated that there is so much to learn that the employer can not afford to put on and lay off his employers in proportion to the receipt of orders. He [der Arbeitgeber, C.S.] must solve the problem of steady employment. He cannot afford to let his specially trained men ‚get away‘.“
95
Das Büro um 1920 als lückenlosen Disziplinarapparat zu verstehen, greift vor diesem Hintergrund zu kurz, insofern gut ausgebildeten Angestellten gewisse Handlungsfreiräume erhalten blieben. Ein signifikantes Umdenken jedoch lässt sich auf der Führungsebene für den untersuchten Zeitraum nicht beobachten: Um die Kooperation der Angestellten zu erreichen, baute die Büroorganisation mit der Implementierung von Anreizsystemen, die messbare Leistungen honorierten, auf die Disziplinierung des Verhaltens durch positive Sanktionen. Zu diskutieren bleibt, ob und inwiefern das Wechselspiel zwischen Macht und Freiheit im Büro auch in späteren Jahren zu einer Verfeinerung der disziplinarischen Praktiken führte, oder ob die Disziplin durch andere Formen der Machtausübung ergänzt oder abgelöst wurde.
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Rationalisierung abseits der Produktion: Die Betriebskantine
„Schafft Lebensraum in der Fabrik!“ Betriebliche Kantinen und Speiseräume im deutschen Rationalisierungsdiskurs 1880-1945 K ARSTEN U HL
Die Pastorentochter Hildegard Jüngst arbeitete im Herbst 1927 für zwei Monate in einer Schokoladenfabrik. Nicht finanzielle Not hatte die 26jährige Frau dort hingetrieben, sondern der Wunsch an der Universität Köln in Pädagogik zu promovieren. Ihre 1929 erschienene Dissertationsschrift Die jugendliche Fabrikarbeiterin. Ein Beitrag zur Industriepädagogik basiert weitgehend auf den dort gewonnenen Beobachtungen. Was heute in der Sozialforschung verdeckte teilnehmende Beobachtung hieße, bezeichnete Jüngst als „das eigene Eingehen in den Lebenskreis der zu Erforschenden für eine bestimmte Dauer“.1 Dabei blieb sie für ihre Kolleginnen inkognito, die Fabrikleitung und die Vorarbeiterinnen und Meisterinnen waren dagegen informiert. Dieser Forschungsansatz führte zu einer Empathie, die der Text nicht verhehlen kann; gipfelnd in der Forderung, es sei „Lebensraum“ in der Fabrik zu schaffen:
1
Jüngst: Jugendliche Fabrikarbeiterin, 1929, S. 17. Zur Person Jüngsts liegen wenige Informationen vor, vgl. Billmann-Mahecha: Qualitative Sozialforschung, 1994, S. 212. Der vorliegende Text ist im Rahmen des DFG-Projekts „Geschlecht, Raum und Technik in der Fabrik: Die ‚rationelle‘ Gestaltung industrieller Arbeitsplätze in Deutschland 1900-1970“ an der TU Darmstadt entstanden.
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„Lebensraum und Arbeitsstätte sind wohl getrennt und werden nicht mehr zu vereinigen sein. Um aber die Sphäre des Lebensraumes auch in der Fabrik wirksam zu machen, muss sie soweit das möglich ist, auf den Arbeitsraum übertragen werden. […] Schafft Lebensraum in der Fabrik! Zum mindesten ein Aufenthaltsraum gehört dazu, ein Raum innerhalb des Betriebes, wo sich das Mädchen ‚zu Hause‘ fühlen kann, ein schlichter, aber geschmackvoller Speisesaal, dessen Ausstattung der Phantasie des Mädchens entgegenkommt, ihr womöglich freien Spielraum zur Betätigung lässt […].“2
Der Ton dieser Aussage war für einen wissenschaftlichen Text durchaus ungewöhnlich. Inhaltlich jedoch schloss Jüngst direkt an einige noch vorzustellende sozial- und arbeitswissenschaftliche Studien an, die sich in den 1920er Jahren mit der unwiderruflichen Trennung von Arbeitsraum und Lebensraum in der modernen Fabrik beschäftigt hatten. Jüngst selbst suchte explizit nach Möglichkeiten, die „Sphäre des Lebensraums auch in der Fabrik wirksam zu machen“. Damit sollte die Vorbedingung dafür geschaffen werden, dass die Fabrikarbeit zukünftig „trotz Entseelung und Mechanisation mit frischer Kraft und fröhlichem Sinn geleistet werden“ könne.3 Neben der Schaffung besserer Luft- und Lichtverhältnisse forderte Jüngst die Einrichtung von Sozialräumen, insbesondere von Speisesälen. Im Folgenden möchte ich die Schaffung und Gestaltung von betrieblichen Kantinen und Speiseräumen als einen Versuch interpretieren, das „Fabrikproblem“ zu lösen. Der prominente Karlsruher Sozialpsychologe und liberale badische Kultusminister Willy Hellpach hatte Anfang der 20er Jahre das „Fabrikproblem“ als einen „Teil des Lebensraumproblems“ definiert. Letztlich gehe es darum, sich dem Phänomen der „atomisierten Menschenmasse“ in der Fabrik zu stellen, indem die „zerstückelte Arbeit“ mit dem „ganzen Menschen“ wieder verknüpft werde.4 Die Einrichtung von Sozialräumen – in diesem Fall von Kantinen und Speisesälen – soll als eine Praktik verstanden werden, die gleichzeitig die Diskurse der Rationalisierung und der Humanisierung aufgegriffen und
2
Jüngst: Jugendliche Fabrikarbeiterin, 1929, S. 112.
3
Ebd., S. 112.
4
Lang/Hellpach: Gruppenfabrikation, 1922, S. 55. Hellpach sah die wichtigste Aufgabe in dem Ausbau der Institution der Lehre, um die Arbeiter für den modernen Fabrikprozess zu erziehen.
„S CHAFFT L EBENSRAUM IN DER FABRIK!“
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miteinander verbunden hat. Bereits für die Gewerbehygiene der Weimarer Republik stand dieser Zusammenhang fest: „Zur rationellen Arbeitsgestaltung […] gehört aber auch, durch genügend lange Pausen und gut eingerichtete Aufenthaltsräume für die Erfrischung der Arbeiter zu sorgen“.5 Kantinen in erster Linie als ein Instrument zur Sozialdisziplinierung zu betrachten, wie es Ulrike Thoms’ Pionierstudien zur Geschichte der Betriebskantinen nahelegen,6 stellt eine Verkürzung dar, die der Vielfältigkeit der eingesetzten Praktiken der Machtausübung nicht gerecht wird. Im Folgenden gilt es aufzuzeigen, auf welche Weise Kantinen und Speiseräumen vielfältige Funktionen innerhalb der Fabrikordnung zukamen: Es ging um die Ausweitung der Kontrolle, die Stabilisierung sozialer Distinktion und gouvernementale Strategien zur Nutzbarmachung der Arbeitersubjektivität. Zunächst wird der Begriff des „Lebensraums“ im Kontext der Industrieforschung in der Weimarer Republik genauer dargestellt, dann werden am Beispiel der Speiseräume die räumlichen Strategien zur Aufrechterhaltung der Ordnung und der sozialen Betriebshierarchien aufgezeigt. Abschließend soll am Beispiel der Bekämpfung des Alkoholkonsums gezeigt werden, inwiefern sich unterschiedliche Formen der Machtausübung gegenseitig ergänzten. Die Quellenbasis besteht in erster Linie aus arbeits- und sozialwissenschaftlichen Publikationen; anhand einiger der wenigen Quellen aus Arbeiter/-innenperspektive wird versucht, der Gefahr einer Affirmation der Expertensicht zu entgehen. Vermittelt lässt sich die Position der Arbeitenden aus Abhandlungen ableiten, die Hildegard Jüngst offensichtlich zum Vorbild für ihr Vorgehen dienten: Allen voran gilt dies für den Bericht des ehemaligen Pfarrgehilfen Paul Göhre, der 1890 für Drei Monate Fabrikarbeiter gewesen war und dessen Beispiel einige Nachahmer/-innen fand.7 Berichte von Arbeiter/-innen im eigentlichen Sinne sind äußerst rar; wurden sie im Auftrag des Unternehmens, etwa für eine Firmenfestschrift verfasst, lässt sich vermuten, dass kritische Äußerungen bereits durch die
5
Krüger: Frauenarbeit, 1929, S. 17.
6
Vgl. Thoms: Essen, 2004, S. 203. Die Entstehung der Betriebskantinen im 19. Jahrhundert sei als Teil der „zunehmenden sozialen Disziplinierung der Arbeitswelt“ zu verstehen.
7
Vgl. Göhre: Drei Monate, 1906.
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Kenntnis des Auftraggebers unterblieben.8 Offen kritische Arbeiterinnenpositionen finden sich hingegen in dem 1930 erschienen Band Mein Arbeitstag – mein Wochenende, der 150 Berichte von Textilarbeiterinnen vereinigt und vom Textilarbeiterverband herausgegeben wurde.9
1. „L EBENSRAUM “ IM
INDUSTRIELLEN
B ETRIEB
Die Debatte um die Trennung von Lebensraum und Arbeitsraum und die damit einhergehenden Probleme durchzogen das kurze „fordistische Jahrhundert“.10 So veröffentlichte das „Zentralblatt für Arbeitswissenschaft und soziale Betriebspraxis“ 1969 einen Beitrag des Frankfurter Politologen Hans-Gerhard Stück, der die Frage im Titel trug, was ein „totaler Leistungsraum“ sei. Ein Grundproblem bestehe darin, dass der betriebliche Arbeitsraum den Charakter eines „soziale[n] Zwangraum[s]“ trage: „Je mehr künstlich hoch gezüchteter abstrakt addierter Leistungsraum und nicht hintergehbarer Lebensraum mit Hilfe einer deficienten Organisation auseinandertreten, um so mehr wird heute die Regenerationsbasis des Humanum angetastet.“11 Es soll hier nicht in Frage gestellt werden, ob Stücks sozialwissenschaftliche Kritik nicht durchaus eine adäquate Beschreibung der von ihm analysierten Zustände leistet. Vielmehr soll an dieser Stelle die Kontinuität einer gewissen Form der Problematisierung dargestellt werden, die der Kritik der Fabrikarbeit einen Rahmen vorgab: In Fortführung einer wissenschaftlichen Tradition, die in der frühen Weimarer Republik unter liberalen Vorzeichen entstanden und im Nationalsozialismus fortgeführt worden war, wurde der industrielle Arbeitsraum insofern kritisiert, als ihm die Qualität
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Vgl. Dietrich: Frauen, 1991. – Dietrich lässt teilweise die Quellenkritik bei der Interpretation von Berichten vermissen, die Arbeiterinnen im Auftrag des Unternehmens für eine Firmenfestschrift verfasst haben.
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Deutscher Textilarbeiterverband: Mein Arbeitstag, 1930. – Lüdtke weist darauf hin, dass auch diese Berichte nicht repräsentativ sind, da ausschließlich gewerkschaftlich organisierte Arbeiterinnen, darunter viele Funktionärinnen, Stellung bezogen haben, Lüdtke: Erwerbsarbeit, 1991, S. XX.
10 Vgl. Hachtmann/von Saldern: Fordistische Jahrhundert, 2009. 11 Stück: Leistungsraum, 1969, S. 56.
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des „Lebensraums“ fehle: Er sei künstlich, ein reiner Zweck- bzw. Zwangsraum, und ihm fehle das Menschliche. Anhand dieser Debatte lässt sich aufzeigen, dass sich bereits die frühe Rationalisierungsbewegung mit dem Kern dessen beschäftigte, was in den 1970er Jahren als „Humanisierung der Arbeit“ verhandelt wurde.12 Es erscheint hier sinnvoll, nicht von einer Dichotomie von Rationalisierung und Humanisierung auszugehen. Zugrunde gelegt werden soll eine Arbeitsdefinition von „Humanisierung“, die das verstärkte Interesse am Faktor Mensch und die damit einhergehende Zielsetzung, die Arbeit an den Menschen (und nicht nur den Menschen an die Arbeit) anzupassen, meint. Damit soll die Wertung nicht vorweggenommen werden: Keinesfalls verschwand mit dieser Sicht auf die Arbeiter/-innen das Interesse an einer Effizienz- und Produktivitätssteigerung. Vielmehr setzte sich bei wissenschaftlichen Experten wie Unternehmern eine neue Form des Eigennutzes durch, eine „aufgeklärte Variante des unternehmerischen Eigeninteresses“, wie sie Bruce Kaufman für die USA ebenfalls in der Periode direkt nach dem Ersten Weltkrieg am Entstehen des Human Resource Managements festgestellt hat.13 An anderer Stelle wurde dargelegt, inwiefern die Beschäftigung mit Fabrikarbeiterinnen und der vermeintlichen Geschlechterdifferenz als Katalysator für verschiedene Formen der „Humanisierung“ der Arbeit betrachtet werden kann.14 Auch die bereits angeführte Hildegard Jüngst sah eine besondere Notwendigkeit, jungen Frauen „Lebensraum“ in der Fabrik zu bieten. Grundsätzlich wurde die Diskussion allerdings auch unabhängig von einer expliziten Reflexion des Geschlechterverhältnisses geführt. In Deutschland befasste sich insbesondere die Betriebssoziologie mit der Gestaltung der Arbeitsumwelt. Dabei prägten zwei Publikationen von 1922 den in diesem Zusammenhang zentralen Begriff vom „Lebensraum“ Fabrik, Willy Hellpachs Gruppenfabrikation und Eugen Rosenstocks Werkstattaussiedlung. Es lässt sich zeigen, dass sich dieser Terminus als bemerkenswert flexibel erwies und so auch in Kontexte integriert werden konnte, die ideologisch nichts mit dem bekanntesten Gebrauch des Begriffs Lebensraum in (proto-)nationalsozialistischen Eroberungsplänen zu tun hat-
12 Zur Debatte in den 1970er Jahren, vgl. Sauer: Humanisierung, 2011. 13 Kaufman: Managing, 2008, S. 287. 14 Vgl. Uhl: Geschlechterordnung, 2010.
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ten.15 Hellpach hatte eine zentrale Frage: „Was ist das Fabrikproblem?“16 Die konkreten architektonischen Aufgaben, wie beispielsweise Luftzufuhr und Lichteinfall zu regeln seien, erklärte er zunächst zu „Fabrikproblemchen“. Das „große Fabrikproblem“ hingegen sei „selber wieder Teil des Lebensraumproblems“.17 Diese „Werkraumfrage“ der räumlichen Anordnung von Menschen, Maschinen und Material sei bis zu diesem Zeitpunkt weder von der „Fabriktheorie“ noch von der „Fabrikpraxis“ als Problem erkannt worden.18 Bisher sei nur die quantitative Eigenschaft des „modernen Fabriksaals“ erkannt worden, nämlich die Anhäufung einer „großen Menschenmasse“. Ebenso wichtig sei aber der meist übersehene qualitative Aspekt der „atomisierten Menschenmasse“: Zwischen den einzelnen Arbeitenden bestehe „keine Arbeitsbeziehung“.19 Allerdings stellte Hellpach an anderer Stelle klar, dass er keineswegs „zu diesen Romantikern gehöre“, die sich ein idealisiertes mittelalterliches Handwerk zurück wünschten. Sein Ziel sei es, die moderne „zerstückelte Arbeit […] dennoch sinnvoll und sittlich mit dem ganzen Mensch wieder zu verknüpfen“.20 Die Lösung des Problems sah Hellpach in einer Konzen-
15 Woodruff Smith betont die ideologische Flexibilität des Begriffs Lebensraum, geht aber selbst bei der Erörterung seines Ursprungs aus den Schriften des Geographen Friedrich Ratzel wie die historische Forschung an sich nur auf die gewiss wichtigste Dimension, die imperialistische, ein, Smith: Friedrich Ratzel, 1980, S. 68. 16 Lang/Hellpach: Gruppenfabrikation, 1922, S. 6. 17 Ebd., S. 8. Hellpach bezieht sich explizit auf das Lebensraum-Konzept Friedrich Ratzels, das er für einen der „eminent genialen Einfälle“ Ratzels hält, obwohl dieser letztlich keine überzeugende Theorie geschweige denn eine „systematische Beweisführung“ daraus gebildet habe, sondern den Einfall „ziemlich unausgeschöpft liegen gelassen“ habe. Hellpach versuchte sich dennoch an einer „sozialgeschichtlichen“ Auslegung von Ratzels Diktum „Jede große geschichtliche Wirkung setzt Verständnis für die Bedeutung des Raumes und Kraft zu seiner Bewältigung voraus“, ebd., S. 8, 97. 18 Ebd., S. 20. 19 Ebd., S. 22. 20 Hellpach: Erziehung, 1925, S. 55. Hinrichs’ Charakterisierung von Hellpachs Konzepten als „kulturpessimistisch“ erscheint folglich verkürzend, Hinrichs: Seele, 1981, S. 180.
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tration auf die Institution der industriellen Berufsausbildung, es ging ihm darum, die Arbeiter/-innen für den modernen Produktionsprozess zu erziehen.21 In seiner Funktion als badischer Kultusminister entwickelte Hellpach Pläne für den schulischen Teil der Ausbildung: Das Ziel war einerseits die praktische Erziehung zur rationellen Arbeit, andererseits sollte den Lehrlingen ein Überblickswissen und ein Bewusstsein für den gesamten Arbeitsprozess verschafft werden. Die zeitgenössische Arbeitswissenschaftlerin Irene Witte lobte dieses Vorhaben als Gegenmodell zum „Fordsche[n] Prinzip – fünf oder sechs Tage Sklave, ein bis zwei Tage Mensch“; dieses käme für den „deutschen Arbeiter überhaupt nicht in Frage“, das Ziel müsse vielmehr genau in der von Hellpach anvisierten „Beseelung der Arbeit und des Arbeiters“ liegen.22 Hellpach machte in seinen Anmerkungen zur Gruppenfabrikation deutlich, dass allein durch die Disziplinierung der Arbeitenden nicht alle Probleme der Produktion zu lösen seien. Vielmehr habe gerade eine straffe Fabrikordnung verknüpft mit den räumlichen Gegebenheiten ein spezifisches Problem hervorgerufen: „Der Saalarbeiter ist sachlich und menschlich atomisiert“. In diesem Befund verdichte sich „das moderne Fabrikproblem“. Der „Geselligkeitstrieb“ der Arbeiter/-innen werde unterdrückt; während ältere Formen der Arbeit die Arbeitenden „menschlich verbunden“ habe, indem „Geplauder, Klatsch und Tratsch, Lied, Zuruf, Neckerei, Vorwurf, Scheltrede, Spott, Belehrung, Klage“ weiten Raum eingenommen hätten, habe der Fabriksaal diese Verbindung ausgelöscht.23 Das von Hellpach beschriebene und vermisste Arbeiterverhalten jenseits der reinen Ausrichtung auf den Produktionsprozess lässt sich mit dem Sozialhistoriker Alf Lüdtke als „Eigen-Sinn“ bezeichnen; auch Lüdtke nennt die Beispiele der Neckereien und der privaten Gespräche unter Arbeitenden. Lüdtke geht es darum, die Vorstellung von einer umfassenden Kontrolle über die Arbeiter/-innen durch alltagsgeschichtliche Forschungen zu differenzieren. Das eigen-sinnige Verhalten diente der individuellen wie kollektiven Selbstvergewisserung der Arbeiter/-innen. Keineswegs sei dieses Verhalten jedoch dem Widerstand zuzurechnen, damit werde man dem Eigen-Sinn nicht gerecht. Dieser sei eben nicht wie der Widerstand allein
21 Hellpach: Erziehung, 1925, S. 55, 61f. 22 Witte: Taylor, 1924, S. 74. 23 Lang/Hellpach: Gruppenfabrikation, 1922, S. 26.
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eine Reaktion auf Disziplinierungsversuche,24 sondern sorge spontan und unabhängig davon dafür, dass die Arbeiter/-innen „immer wieder physischen und sozialen Raum für sich selbst“ okkupierten.25 Hellpachs Stellungsnahme gibt einen Hinweis darauf, dass es sinnvoll sein kann, Lüdtkes Konzept zu ergänzen. Wenn auch Lüdtke überzeugend dargelegt hat, dass eigen-sinniges Verhalten der Arbeiter/-innen nicht ohne weiteres zu unterdrücken bzw. zu disziplinieren war, so ist doch in Frage zu stellen, ob es den Arbeitenden tatsächlich gelingen konnte, einen „Raum für sich selbst“ zu besetzen. Auch Experten und das Management hatten Interesse an der Besetzung dieser Räume, weil sie in Hellpachs Perspektive die konkrete Chance eröffneten, die spezielle Qualität des Lebensraums im modernen Arbeitsprozess zu erhalten bzw. wiederzugewinnen. Es ging nicht in erster Linie um den Versuch einer Disziplinierung von Eigen-Sinn, sondern vielmehr um die Gestaltung konvergenten Eigen-Sinns,26 also um die Nutzbarmachung proletarischer Alltagspraktiken für Zwecke der Produktivitätssteigerung. An dieser Stelle bietet sich dann wiederum der Anschluss an Foucault, speziell an seinen Begriff der Regierung/Gouvernementalité an („das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren“).27 Das Ziel, konvergenten Eigen-Sinn zu erzeugen, lässt sich als eine Ausprägung der Gouvernementalité verstehen. Deutlich zeigen lässt sich diese Zielsetzung an Eugen Rosenstocks Werkstattaussiedlung – Untersuchungen über den Lebensraum des Industriearbeiters, das als zweiter Band nach der Gruppenfabrikation in der von Hellpach herausgegebenen Reihe „Sozialpsychologische Forschungen“ erschien. Der Rechtshistoriker und Soziologe Rosenstock folgte Hellpachs Problemstellung und konstatierte, „der Lebensraum des Arbeiters und sein Arbeitsraum“ fielen als „zwei getrennte, ja zwei entgegengesetzte Hälften auseinander“.28 Rosenstocks Ziel war es zu erörtern, „unter welchen Bedin-
24 Lüdtke: Ordnung, 1992, S. 219ff. 25 Lüdtke: Arbeit, 1993, S. 377. 26 Ich danke Ulrich Wengenroth für eine anregende Diskussion, die u.a. den Begriff des konvergenten Eigensinns hervorgebracht hat. 27 Foucault: Subjekt, 1995, S. 256. 28 Rosenstock: Werkstattaussiedlung, 1922, S. 6. Luks hält fest, dass Rosenstocks Diagnose „charakteristisch für industriebetriebliches Ordnungsdenken insgesamt“ gewesen ist, Luks: Betrieb, 2010, S. 21.
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gungen sich das ändert“.29 Im Gegensatz zu Hellpach legte er die Motivation seines Ansinnens offen und stellte implizit klar, dass es nicht um philanthropische Zwecke ging: „Nur eines steht fest: der Arbeiter muss jetzt Kräfte seines Lebens in den ‚Betrieb‘ einströmen lassen, die er dem Unternehmer und dessen Fabrik grundsätzlich vorenthielt. Kräfte seines Lebens sagen wir, zum Unterschied von der bloßen Kraft seiner Arbeit von der nackten Arbeitskraft, die er bisher allein in den Arbeitsraum hineinzuliefern wünschte. Durch den Einstrom seiner Lebenskräfte muss also der Arbeitsraum zu einem Teil seines Lebensraumes werden.“
Die Fabrik könne folgendermaßen zum „Lebensraum des Arbeiters“ werden: Zunächst müssten „die Dinge, um die es sich handelt, anders“ benannt werden. Der Arbeiter müsse fortan „Angehöriger eines Betriebes“ heißen; die Arbeitsordnung dürfe nicht weiterhin „eine einseitig an […] den Arbeiter gerichtete Ermahnung“ sein, sondern müsse zur zusammen ausgearbeiteten „Vereinbarung“ werden: „Dem Mitgliede eines Prozesses, dem Mitarbeiter an einer Aufgabe, dem Angehörigen eines Betriebes wandelt sich notwendig die Welt und der Raum seiner Arbeit.“ An sich sei entscheidend, dass sich „Dinge, Gefühle, Urteile“ wandelten. 30 Sowohl Hellpach als auch Rosenstock trugen nicht allein zur wissenschaftlichen Debatte bei, sondern versuchten sich auch bei Daimler praktisch an der Umsetzung der formulierten Ziele. Rosenstock war für die Realisierung der Werkszeitung, 1919 die erste in Deutschland, hauptverantwortlich, was sich durchaus als ein Schritt zum angesprochenen Versuch, die Mentalitäten der Arbeiter/-innen zu ändern, verstehen lässt. Konkret diente es dem Ziel, den befürchteten Linksruck der Arbeiterschaft durch die Herstellung und Steuerung einer unternehmensinternen Öffentlichkeit zu verhindern.31 Die Rosenstocks Buch den Titel gebende Werkstattaussiedlung, also die Idee, die Spaltung von Arbeits- und Lebensraum durch die räumliche Ausgliederung einzelner Werkstätten aus dem Fabrikverbund zu überwinden, war ebenfalls als praktischer Vorschlag gedacht, konnte aber
29 Rosenstock: Werkstattaussiedlung, 1922, S. 7. 30 Ebd., S. 7. 31 Vgl. Luks: Betrieb, 2010, S. 13f.
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nicht realisiert werden.32 Die von Hellpach beschriebene Gruppenfabrikation wiederum wurde von seinem Co-Autor, dem Ingenieur Richard Lang, bei Deutz eingeführt; der Historiker Peter Hinrichs sieht darin eine „Frühform“ der in den 1970er Jahren „neuentdeckten sogenannten ‚teilautonomen Arbeitsgruppen‘“, allerdings wiesen schon Zeitgenossen Hellpachs’ darauf hin, dass diese Versuche in der Praxis wenig erfolgreich gewesen seien.33 Einige Jahre später zeigte sich der Betriebssoziologe Götz Briefs dennoch zuversichtlich und sah die Tendenz, dass sich die Fabrik wieder vom reinen „Zweckraum“ wegbewege und „lebensräumliche Elemente“ hinzugewinne. Briefs stellte in seiner letzten Publikation in Deutschland vor seiner Emigration in die USA 1934 fest, dass die „absolute Versachlichung des Betriebsraums“ vor allem deswegen kein Idealbild für die Betriebsleitungen sei, weil sie in dieser Form „nicht mehr ‚rationell‘“ sei.34 Die Rede vom Lebensraum Fabrik ging also durchaus mit Rationalisierungsüberlegungen einher. Konkret kritisierte Briefs die „Unfreundlichkeit mancher Arbeitsräume“, die dazu beitrage, der Fabrik „das Lebensräumliche noch weiter zu entfernen“.35 Das Beispiel Briefs darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeitswissenschaften im Nationalsozialismus von einer großen personellen und inhaltlichen Kontinuität geprägt waren. So stellte Curt Piorkowski, einer der Pioniere der industriellen Psychotechnik im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik,36 einen direkten Zusammenhang zwischen der Lebensraumdebatte und dem Amt Schönheit der Arbeit der Deutschen Arbeitsfront (DAF) her: „Der nationalsozialistische Betrieb ist nicht nur eine Produktionsstätte, sondern der Lebensraum einer menschlichen Gemeinschaft.“ Die gesamte Betriebsgestaltung und insbesondere auch „eine vorbildliche innere Ausgestaltung der Arbeits- und Gemeinschaftsräumen“
32 Vgl. Ebd., S. 9. 33 Vgl. Hinrichs: Seele, 1981, S. 172, 187. 34 Briefs: Betriebsführung, 1934, S. 3. 35 Ebd., S. 25. 36 Vgl. Rabinbach: Human Motor, 1990, S. 277; Patzel-Mattern: Psychotechnik, 2010, S. 20.
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würden zeigen, inwiefern eine Fabrik die Ziele des Amtes verwirklicht habe.37 Vor jeder theoretischen Diskussion um den „Lebensraum“ Fabrik gab es bereits praktische Maßnahmen, die auf der grundsätzlich gleichen Problematisierung der Arbeitsumwelt basierten. So berichtete Hugo Münsterberg, der eine zentrale Rolle bei der Etablierung der industriellen Psychotechnik spielte, 1919 davon, dass in vielen Fabriken, in denen keine lauten Maschinen liefen, Musik vom Grammophon abgespielt wurde. Der Experte bestätigte die „belebende“ und „anregende Wirkung“, äußerte aber Skepsis bezüglich der etwaigen Ablenkung oder einer auf Dauer „erschlaffende[n] Wirkung“. Letztlich müsse im wissenschaftlichen Experiment die Auswirkung auf jeweilige Tätigkeiten untersucht werden. Der wissenschaftliche Experte reklamierte also ein an die Betriebspraktiker bereits verlorenes Feld, dasjenige der Gestaltung der Betriebsatmosphäre, zurück.38 Grundsätzlich scheint experimentelles Wissen später in diesen Prozess eingeflossen zu sein: Maria Kahle, die nach Paul Göhres Vorbild inkognito in einem Berliner Schalterwerk am Fließband gearbeitet hatte, um 1930 den Bericht Akkordarbeiterin zu veröffentlichen, schilderte die Praxis der Musikbeschallung bei der Arbeit. Musik sei gezielt in den Stunden gespielt worden, „in denen nach Erweis psychologischer Experimente die Arbeiterinnen ermatten“, nämlich um 11 und um 14 Uhr. Laut Kahles Schilderung sei diese Praxis durchaus in dem Sinne erfolgreich gewesen, als die ermüdeten Arbeiterinnen belebt worden seien.39 Die Forschungen des Sozialhistorikers Jürgen Bönig belegen, dass beim Schalterbau der AEG am Ende der 1920er Jahre Radiokonzerte gespielt wurden; der von Kahle anonymisierte Betrieb könnte also die AEG gewesen sein. Bönig nennt als Motiv für die Musikeinspielungen allerdings in erster Linie den Kampf gegen die hohe Fluktuation der Arbeiterinnen.40 Besonders interessant ist eine von Münsterberg wiedergegebene Praxis, die noch deutlicher dem Diskurs des „Lebensraums“ Fabrik zuzurechnen ist. Eine amerikanische Fabrik habe die Arbeiterinnen – ebenfalls in einer Abteilung, in der ausschließlich Frauen arbeiteten – eine Katze halten las-
37 Piorkowski: Zellwollerzeugung, 1938, S. 77. 38 Münsterberg: Psychologie, 1919, S. 139. 39 Kahle: Akkordarbeiterin, 1930, S. 60. 40 Vgl. Bönig: Einführung, 1993, S. 301.
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sen. Das gemeinsame Spielen mit der Katze galt nicht als Verstoß gegen die Arbeitsordnung, sondern als willkommenes Mittel, das „soziale Bewusstsein“ der Arbeiterinnen zu entwickeln. Wohlweislich habe es sich hier um eine Abteilung mit „besonders abspannender Arbeit“ gehandelt, eine allgemeine Übertragbarkeit wurde nicht behauptet. Gleichwohl zeigt sich hier ein gesteigertes Interesse an der Subjektivität der Arbeiter/-innen, denen durchaus eigen-sinniges Verhalten erlaubt war: Dieses sollte nicht unterbunden, sondern gelenkt werden. Letztlich betrachtete der Psychotechniker Münsterberg die „sozialen Unterhaltungsmittel“ im Betrieb als ein geeignetes Mittel, um die „Leistungsfähigkeit“ zu steigern. Durch sie könne das „Reservoir psychophysischer Energien“ der Arbeiter/-innen aufgefüllt werden.41 Spiegelte sich aber überhaupt dieser Expertendiskurs um den „Lebensraum“ in den – raren – Äußerungen der Arbeiter/-innen wider? Die Schilderung einer 35-jährigen Textilarbeiterin lässt zumindest vermuten, dass die Beobachtungen der Experten teilweise von den Arbeitenden ähnlich eingeschätzt wurden: „Die Maschine hat mich in Beschlag genommen und will mich stumpf und seelenlos machen. Sie hält mich 9 ¼ Stunden lang fest, eine Mittagspause von einer halben Stunde ausgenommen, die kaum genügt zum Essen. Der Meister ist sehr streng und duldet kaum, dass man mit einer Kollegin spricht. Er will die Arbeiterin ganz unter die Herrschaft der Maschine bringen. Das gelingt ihm beim mir aber nicht. Mag er mir doch das Sprechen verbieten, meine Gedanken sind frei, die kann er nicht halten und die schweifen oft mit meinen Blicken, weil ich gerade am Fenster stehe, hinaus.“42
Hellpachs schon beschriebene Analyse sah genau an dieser Stelle die Notwendigkeit und die Möglichkeit, das Gespräch unter den Kolleginnen eben nicht zu verbieten, sondern – in gelenkten Bahnen – sogar zu fördern, um den „Geselligkeitstrieb“ nicht zu unterdrücken und die „Atomisierung“ der einzelnen Arbeiter/-innen aufzuheben. Bezüglich der Verbesserung der Ar-
41 Münsterberg: Psychologie, 1919, S. 139. 42 Bericht von J. B. aus N. bei E., 35 Jahre, in: Deutscher Textilarbeiterverband: Mein Arbeitstag, 1930, S. 60. Ähnlich äußerte sich eine weitere Arbeiterin, vgl. S. 69.
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beitsbedingungen, der Arbeitsräume und der Sozialräume im Betrieb überwog unter den Textilarbeiterinnen, die 1928 Berichte über ihren Arbeitsalltag verfassten, Pessimismus. Im Falle einer erfahrenen Arbeiterin, die seit 19 Jahren in einem „sogenannte[n] moderne[n] Betrieb“, einer großen Weberei und Spinnerei, tätig war, speiste sich dieser düstere Blick in die Zukunft aus der Erfahrung. Obwohl sie ihre Arbeit schätze, könne sie mit den Bedingungen keinesfalls zufrieden sein: „Da wird immer gebaut und vergrößert, aber verbessert wird nicht.“43 – Das betraf lange Zeit auch das Kantinenwesen: Auch bei Fabrikneubauten wurde selten eine Kantine eingerichtet. So hielt die Frauenrechtlerin Elisabeth Gnauck-Kühne am Ende des 19. Jahrhunderts fest, dass es allein von dem „Zufall“ abhänge, einen „human denkenden Arbeitgeber“ zu haben, ob die Arbeiter/-innen mittags eine warme Mahlzeit in der Fabrik einnehmen konnten.44
2. AUSWEITUNG DER K ONTROLLE Im Bereich der betrieblichen Speiseräume fanden allerdings insofern Verbesserungen statt, als sich ihre Zahl bis Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich erhöhte und sich auch ihre Einrichtung langsam in die Richtung dessen bewegte, was wohl Hildegard Jüngst vorgeschwebt haben mag.45 In der späten Weimarer Republik war es aber immer noch nicht ungewöhnlich, dass selbst in größeren Betrieben keine Betriebskantine vorhanden war. Genaue Zahlen lassen sich schwer angeben, aber im Vergleich zum niederschmetternden Befund, den Gnauck-Kühne 1896 in ihrer Studie zur Lage der Arbeiterinnen in der Berliner Papierwaren-Industrie festhielt, wuchs die Zahl der Speiseräume in den folgenden Jahrzehnten deutlich: Gnauck-Kühne
43 Bericht von E. Oe. aus H., 37 Jahre, in: Deutscher Textilarbeiterverband: Mein Arbeitstag, 1930, S. 55. 44 Vgl. Gnauck-Kühne: Lage, 1896, S. 62. 45 Vgl. Thoms: Physical Reproduction, 2009, S. 150ff. Vor allem während des Zweiten Weltkrieges stieg die Zahl der Kantinen deutlich an; in den 1950er Jahren erreichte ihre Zahl mit etwa 10.000 dann den Höhepunkt, der in der späteren Konkurrenz mit Imbissbuden und mitgebrachten Snacks nicht mehr gehalten werden konnte.
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fand nur in fünf von 72 untersuchten Betrieben einen Speiseraum vor, in den übrigen Fabriken wurde im Arbeitsraum gegessen.46 Dabei muss auf den Unterschied zwischen Kantinen, in denen warme Speisen verkauft wurden, und reinen Speiseräumen hingewiesen werden, die nur als Aufenthaltsraum zum Verzehr mitgebrachter Speisen dienten. Sehr lange blieben Speiseräume für die Situation in der Mehrzahl der Betriebe bestimmend. So hieß es noch 1923 in Wilhelm Franz’ Handbuch zur Gestaltung von Fabrikbauten, dass denjenigen Arbeitenden, die während der Mittagspause nicht die Fabrik verlassen, Speiseräume mit „Speisewärmvorrichtungen“ zur Verfügung gestellt werden müssen; ein Küchenbetrieb wird nicht einmal als Alternative erwähnt.47 Zehn Jahre später setzten Heideck und Leppin in ihren Anmerkungen zur Planung und Ausführung von Fabrikanlagen zwar die Einrichtung einer „Werkspeisung“ grundsätzlich voraus, betonten aber, dass Arbeiter daran weniger Interesse zeigten als Angestellte; folglich gab es in vielen Betrieben auch „nur eine Beamtenspeisung“ und zusätzliche Arbeiterspeiseräume zum Verzehr mitgebrachter Speisen.48 Eine Generation zuvor, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, galten betriebliche Sozialräume noch nicht als verpflichtend. Das mit ähnlicher Zielsetzung ebenfalls als Handbuch verfasste Werk des Ingenieurs Ludwig Utz über Moderne Fabrikanlagen von 1907 hielt die Einrichtung von Sozialräumen an sich, die zeitgenössisch als „Wohlfahrtseinrichtungen“ bezeichnet wurden, trotz der Gewerbeordnungsnovelle nur dann für „notwendig, wenn die betr. Fabrik einsam liegt“,49 die Arbeiter/-innen also nicht in der Mittagspause nach Hause gehen konnten. Die Zahl der Unternehmen ohne einen Aufenthaltsraum blieb auch in den nächsten Jahrzehnten noch hoch. Es lässt sich vermuten, dass auch Hildegard Jüngsts Erfahrungen in den Mittagspausen des Jahres 1927 ihre Forderung nach der Schaffung von „Lebensraum“ in den Fabriken mitbewirkt haben. Bei gutem Wetter aßen Jüngst und ihre Kolleginnen „im Freien auf irgendeinem Grabenrand sitzend“, bei schlechter Witterung nahmen die Arbeiterinnen der Schokoladenfabrik die Mahlzeit in der Versandabtei-
46 Vgl. Gnauck-Kühne: Lage, 1896, S. 59. 47 Franz: Fabrikbauten, 1923, S. 125. 48 Vgl. Heideck/Leppin: Der Industriebau, 1933, S. 187. 49 Utz: Moderne Fabrikanlagen, 1907, S. 320.
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lung ein, wo sie sich auf die Versandkisten setzten.50 Auch die zeitgenössische Fachliteratur zur Einrichtung von Fabrikanlagen hielt fest, dass in einigen Betrieben sogar die Praxis fortbestand, dass die mitgebrachten Mahlzeiten „an den Arbeitsplätzen eingenommen“ wurden.51 Zwar gab die Novelle der Reichsgewerbeordnung von 1891 den zuständigen Polizeibehörden die Möglichkeit, den Betrieben anzuordnen, für die Mahlzeiten „angemessene, in der kalten Jahreszeit beheizte Räume unentgeltlich zur Verfügung“ zu stellen,52 zu einer flächendeckenden Einführung von betrieblichen Speiseräumen in Folge der Gesetzesänderung kam es gleichwohl nicht. In der Praxis verlangten die Behörden offenbar nur von Betrieben, „in denen das Essen im Arbeitsraum wegen vorhandener Gifte oder starker Gerüche gesundheitsschädlich wäre“, die Einrichtung von Speiseräumen. So konnte die nationalsozialistische Propaganda verkünden, erst die DAF habe grundsätzlich die Einrichtung von Speiseräumen in allen Betrieben gefordert.53 Die tatsächlichen Maßnahmen des Amtes Schönheit der Arbeit führten zwar zur Einrichtung und Verbesserung einiger tausend Speiseräume, gleichwohl war kein signifikanter Anstieg der baulichen Maßnahmen gegenüber dem Niveau der Weimarer Republik zu verzeichnen.54 Die Behörden drangen also selten auf die Einrichtung von Speiseräumen. Die wachsende Einrichtung dieser betrieblichen Sozialräume im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts muss folglich in erster Linie aus der Motivation der Unternehmen erklärt werden. Die Medizinhistorikerin Thoms hat eine Vielzahl von Gründen gefunden, die Betriebe bewogen hat, Speiseräumen einrichten zu lassen. Zum einen sind durchaus philanthropische Interessen festzustellen, die oft mit einem Unternehmerpaternalismus einhergingen: Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Fabrik diente gleichsam der stärkeren Bindung der Arbeiter/-innen an das Unternehmen. Dazu kam oft der auch von den einflussreicher werdenden Arbeitswissen-
50 Vgl. Jüngst: Fabrikarbeiterin, 1929, S. 48; ähnlich vgl. Deutscher Textilarbeiterverband: Mein Arbeitstag, 1930, S. 31, 66, 69. 51 Vgl. Heideck/Leppin: Der Industriebau, 1933, S. 187. 52 § 120d I Gewerbeordnung für das Deutsche Reich, abgedruckt bei Pannier: Gewerbeordnung, 1923, S. 140. 53 von Hübbenet: Taschenbuch, 1938, S. 143. 54 Vgl. Frese: Betriebspolitik, 1991, S. 345; ähnlich Lüdtke: Ehre, 1993, S. 321.
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schaften unterstützte Gedanke, dass die Gewährleistung einer erholsamen Pause und einer sättigenden Mahlzeit sowohl die Leistungsfähigkeit wie die Leistungsbereitschaft der Arbeiter/-innen stärken konnte. Wie weiter unten noch auszuführen sein wird, waren Überlegungen zur Arbeitssicherheit ebenfalls von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang: Ein gesteuertes Angebot von Speisen und Getränken in Kantinen galt als Mittel zur Bekämpfung des Alkoholkonsums, dem ein großer Anteil der Arbeitsunfälle zugeschrieben wurde.55 Als oberstes Ziel, das mit der Einrichtung von Speiseräumen und Kantinen verfolgt wurde, identifiziert Thoms jedoch die Herstellung von Ordnung und Sauberkeit in den Betrieben. Das Aufsichtspersonal in den Speiseräumen habe ein Regiment geführt, das sich als „Speiseraumpolizei“ bezeichnen ließe. Grundsätzlich seien die neuen Formen einer geregelten Nahrungsaufnahme bei der Arbeit als Teil des Disziplinarsystems der Fabrik zu betrachten.56 Generell ist Thoms insofern zuzustimmen, als sie eine wichtige Aufgabe des Kantinenwesens beschreibt: In der Tat wurde es der Unternehmensleitung möglich, die Arbeiter/-innen auch in den Mittagspausen zu kontrollieren. Nun konnte zumeist sogar im Konsens mit der Arbeitervertretung der Pausenaufenthalt in den Arbeitsräumen untersagt werden.57 In Aufenthaltsräumen ließ sich wesentlich leichter die Einhaltung der Disziplin gewährleisten als in Fabriken ohne Speiseraum, in denen aus der Not heraus einzelne Ecken der Arbeitsräume oder des Fabrikhofes verschiedenen Gruppen von Arbeitenden oder einzelnen Arbeitenden als Pausenort dienten. Bevor derartige Funktionen der Speiseräume zu benennen sind, gilt es aber festzuhalten, dass mit der Ausweitung des Disziplinarsystems die Wirkung dieser Einrichtungen nicht hinreichend zu beschreiben ist. Der Historiker Jakob Tanner hat in seiner Studie über die Ernährung in Schweizer Industriebetrieben herausgearbeitet, dass den Kantinen auch – vielleicht sogar in erster Linie – die Rolle einer „emotionalen Tankstelle“ zukam. In diesem Sinne habe die Kantine als „Familienraum“ innerhalb der Fabrik fungiert.58 Diese Interpretation lässt sich gut mit dem untersuchten Diskurs
55 Vgl. Thoms: Essen, 2004, S. 203, 208. 56 Vgl. Thoms: Physical Reproduction, 2009, S. 134, 120. 57 Vgl. Freese: Konstitutionelle Fabrik, 1909, S. 103f. 58 Tanner: Fabrikmahlzeit, 1999, S. 369.
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zum „Lebensraum Fabrik“ verbinden: Diese Aufenthaltsräume sollten mehr als reiner „Zweckraum“ sein, die Arbeiter/-innen sollten sich als Menschen fühlen. In der Konsequenz diente auch dies sehr wohl einem „Zweck“: Auf diese Weise sollte gewährleistet werden, dass sie ihre Potentiale ausreizen konnten. Nichtsdestotrotz wurde die adäquate Einrichtung und Lokalisierung der Speiseräume mit der Aufrechterhaltung der Fabrikdisziplin verbunden. Die langsame Etablierung der Speiseräume zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte die Fragen mit sich, wo sie innerhalb der Fabrikanlage liegen sollten und wie sie zu kontrollieren seien. Hauers Handbuch zur Gestaltung des Fabrikbaus (1922) berücksichtigte, dass in der Regel Angehörige den Arbeitern das Essen brachten. Die Speisesäle sollten deshalb „am besten von den übrigen Räumen etwas getrennt“ liegen und einen „besonderen Eingang von der Straße aus“ erhalten, damit die Angehörigen die eigentlichen Fabrikräume nicht betraten. 59 Der Milchhof Nürnberg, der nach seiner Fertigstellung 1930 der größte Molkereibetrieb Europas war, war so konzipiert, dass der Pförtner aus zwei Fenstern gleichermaßen den Transportverkehr als auch den Weg zur Kantine überwachen konnte.60 In der ersten Auflage von Ernst Neuferts Bauentwurfslehre, das bis heute in mehreren Sprachen eines der einflussreichsten Architekturhandbücher ist, folglich also die Konstruktion vieler Bauten beeinflusste, wurde 1936 festgehalten, dass der Speiseraum sich stets „in der Nähe des Werkseingangs“ und in solchen Fällen vor dem Fabriktor befinden sollte, „wenn Speisen von Angehörigen gebracht werden“; auf jeden Fall müsse alles, auch die Gartensitzplätze, so angeordnet sein, dass es „vom Werkspförtner übersehbar“ sei.61 Das Beispiel der räumlichen Abtrennung der Angehörigen vom Werksgelände lässt sich durchaus als Beleg einer zunehmenden Ausweitung der Kontrolle verstehen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts konnten Frauen und Kinder, die den Arbeitern das Essen brachten, noch mit ihnen zusammen am Arbeitsplatz essen. Später musste das Essen von den Angehörigen in die – wie beschrieben am Rande des Werksgeländes in Tornähe gelegenen – Speiseräume gebracht werden. Zu dieser räumlichen Beschränkung kam eine zeitliche hinzu: Die Angehörigen durften in einigen Fällen maximal eine
59 Hauer: Fabrikbau, 1922, S. 52. 60 Vgl. Ostermann: Fabrikbau, 2006, S. 83. 61 Neufert: Bauentwurfslehre, 1936, S. 191.
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Viertelstunde bleiben; eine gemeinsame Mahlzeit gestaltete sich nunmehr also schwierig.62 In diesem Sinne stellte die Einrichtung von Speiseräumen nicht allein eine Wohlfahrtsmaßnahme der Betriebe dar. Gleichzeitig gaben die Vorschriften zur Nutzung der Speiseräume die Möglichkeit, die am Ende des 19. Jahrhundert noch nicht klar gezogenen Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben zu etablieren: Die Fabrik wurde zum abgegrenzten Raum. Mit dem Gang zum Speisesaal konnten allerdings auch für die Arbeiter/-innen selbst zusätzliche Überwachungsmaßnahmen verbunden sein. Viele Fabrikordnungen schrieben den Arbeitenden vor, dass sie sich auf Verlangen des Sicherheitspersonals nach Arbeitsschluss beim Verlassen des Betriebs nach etwaigem Diebesgut abtasten lassen mussten. Einen ähnlichen Vorgang beschrieb eine Textilarbeiterin 1928 für die Mittagspause: Auf dem Weg zur Kantine musste sie eine „Visite“ über sich ergehen lassen, die sie als entwürdigend empfand.63 Die geregelte Einführung von Pausen brachte zudem ein Zeitregiment mit sich, das nach Kahles Bericht ihre Kolleginnen dazu brachte, aus Selbstdisziplin keine Zeit zum Essen und Trinken außerhalb der Mittagspause aufzubringen, selbst wenn der Körper danach verlangte.64 Formen der Disziplinierung konnten zur Internalisierung von gewünschten Verhaltensmaßregeln führen; weiter unten gilt es, auf ergänzende Methoden der Nutzbarmachung der Arbeiter/-innensubjektivität einzugehen, die nicht mehr in erster Linie auf Zwang beruhten.
3. S OZIALE D ISTINKTION ABGRENZUNG
DURCH RÄUMLICHE
Die Schaffung von „Lebensraum“ in der Fabrik durch die Einrichtung eines Aufenthaltsraums für die Mittagspausen bedeutete also keinesfalls den Verzicht auf ein Regime der Disziplinierung und Überwachung. Wie dargelegt ermöglichte die Einführung von Speiseräumen teilweise sogar eine Ausweitung der Disziplinarmacht. Der Diskurs der Verschönerung und Humanisierung der Arbeitsplätze führte folglich nicht in direkter Linie zu einer Kon-
62 Lüdtke: Arbeitsbeginn, 1980, S. 110. 63 Bericht von E. K. aus L., 45 Jahre, in: Deutscher Textilarbeiterverband: Mein Arbeitstag, 1930, S. 202f. 64 Vgl. Kahle: Akkordarbeiterin, 1930, S. 18.
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zentration auf die Entfaltung der Arbeitspotentiale der Beschäftigten, indem ihre Handlungsräume gezielt gestärkt worden wären. Experten wie Rosenstock und Münsterberg entwarfen derartige Konzepte, aber in der Mehrzahl der Betriebe standen solchen Neuerungen Beharrungskräfte entgegen. Der Fabrikraum war zudem nicht nur nach außen, also zwischen den Arbeitenden und ihren Familien abgetrennt. Auch innerhalb der Belegschaft gab es, nicht zuletzt in den Sozialräumen wie den Kantinen, räumliche Trennungslinien. In Pierre Bourdieus Konzept des sozialen Raums schafft das „Streben nach Distinktion“ Trennungen zwischen Individuen bzw. Gruppen von Individuen.65 Bourdieu hat den Terminus Raum in erster Linie metaphorisch benutzt, physischer Raum spielt in diesem Konzept eine untergeordnete Rolle.66 Das Distinktionsstreben, also den Versuch symbolisches Kapital zu erwerben,67 hat Bourdieu beispielsweise in der sprachlichen Ausdrucksweise oder in der Partnerwahl wirksam werden gesehen. Im Sinne Bourdieus lassen sich auch die Beobachtungen Paul Göhres aus seinen drei Monaten als Fabrikarbeiter interpretieren. Göhre beschrieb das distinguierte Auftreten der Meister, die sich „schon durch ihre Kleidung […] von allen übrigen“ unterschieden, da sie im Gegensatz zu den Arbeitern „auch während der Arbeit den üblichen modischen Rock, Schlips und weiße Wäsche“ trugen, „obgleich auch sie häufig aus ganz einfachen Arbeiterkreisen“ stammten.68 Die Meister versuchten also, ihre Herkunft hinter sich zu lassen und das gewonnene soziale und kulturelle Kapital in der Wahrnehmung ihrer Arbeiter zu symbolischen Kapital zu verwerten. Die soziale Distinktion fand ihren räumlichen Ausdruck; im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war die Trennung zwischen Angestellten und Arbeitern sowie häufig auch zwischen Meistern und Vorarbeitern auf der einen Seite und Arbeitern auf der anderen Seite innerhalb der Speiseräume üblich. Dazu kam in der Regel die Geschlechtertrennung. Die Ausstattung zwischen Angestelltenkasinos und Arbeiterkantinen unterschied sich zunächst stark voneinander. Erst in der Weimarer Republik gab es eine gewisse Annäherung; auch in den Arbeiterräumen gab es nun häufig Stühle statt Bänke, oft kleinere Tische samt Tischtuch und Blumenschmuck anstelle
65 Bourdieu: Sozialer Raum, 1995, S. 21. 66 Vgl. Löw: Raumsoziologie, 2001, S. 179. 67 Vgl. Bourdieu: Sozialer Raum, 1995, S. 22. 68 Göhre: Drei Monate, 1906, S. 83.
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langer Tischreihen.69 Die Trennung in unterschiedliche Räume wurde aber zu diesem Zeitpunkt selten aufgehoben. Allerdings war ein anderes Distinktionsmerkmal lange Zeit vorgelagert: Bereits Gnauck-Kühne hatte geschildert, dass die relativ hohen Preise der angebotenen Mahlzeiten es den Arbeiterinnen und Arbeitern nicht ermögliche, die Kantine aufzusuchen.70 Die Preise unterschieden sich stark zwischen verschiedenen Betrieben, einige Unternehmen boten bereits im 19. Jahrhundert subventioniertes Essen zu günstiges Preisen an, dass auch von den Arbeitern und Arbeiterinnen angenommen wurde, in anderen Kantinen blieben die Angestellten weitgehend unter sich. Erst am Ende der 1950er Jahre in der Bundesrepublik ging erstmals eine Mehrheit der Arbeiter/-innen regelmäßig in der Betriebskantine essen.71 Sofern also der Preis nicht die Arbeiter/-innen von vornherein ausschloss, war eine klare räumliche Segregation in den Kantinen üblich. So sah das 1907 erschienene Handbuch des Bauingenieurs Ludwig Utz zur Gestaltung von Fabrikanlagen innerhalb der Arbeiterkantine getrennte Speiseräume für Meister und Vorarbeiter vor. Als Entwurf für „große Fabrikanlagen mit bedeutender Arbeiterzahl“ gab Utz folgendes Beispiel eines Kantinengrundrisses (vgl. Abbildung 1):
Abbildung 1: Grundrissentwurf einer Kantine für große Fabrikanlagen mit bedeutender Arbeiterzahl (Utz, Ludwig: Moderne Fabrikanlagen, Leipzig 1907, S. 132). 69 Vgl. Thoms: Essen, 2004, S. 211. 70 Vgl. Gnauck-Kühne: Lage, 1896, S. 61. 71 Vgl. Thoms: Essen, 2004, S. 213ff.
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In der Mitte führt der Haupteingang zum großen Speisesaal (S), der für Arbeiter/-innen vorgesehen war; vermutlich zur Trennung der Geschlechter ist dieser Saal durch eine Säulenreihe getrennt. Ein Nebeneingang führt in den rechten Seitentrakt, in dem sich sechs kleinere Speiseräume (s) für Meister und Vorarbeiter befinden, denen im Verhältnis zu ihrer Zahl ein deutlich größerer Raum zugestanden wurde. Die Distinktion fand also auf verschiedenen Ebenen statt: Die Arbeiter/-innen saßen von ihren direkten Vorgesetzten getrennt, die Meister und Vorarbeiter waren aufgrund der kleineren Räume der Masse des großen Speisesaals entflohen und hatten gleichzeitig größeren Raum für ihre individuelle Entfaltung. Aufgrund der Größenverhältnisse und in Übereinstimmung mit der um die Jahrhundertwende üblichen Praxis ist zum Beispiel davon auszugehen, dass Meister und Vorarbeiter auf Stühlen saßen, während die Arbeiter/-innen sich auf Bänke zwängen mussten (vgl. Abbildung 2):
Abbildung 2: Speisesaal der Accumulatoren-Fabrik Aktiengesellschaft, Hagen, um 1900 (Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Sign. F 137-870/1). Ulrike Thoms hält fest, dass diese räumliche Manifestation der betrieblichen Hierarchien offensichtlich zu keinen Protesten von Seiten der Arbeiter/-innen führte. Diese seien in erster Linie an günstigen Preisen interessiert gewesen und hätten deshalb das schlechtere Angebot in Kauf genommen; die räumliche Trennung von den Vorgesetzten kam vermutlich nicht
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ungelegen; sie ermöglichte ein gewisses Ungestörtsein.72 Wo sind dann also die Gründe dafür zu suchen, dass die räumliche Unterteilung der Kantinen nach Beschäftigungskategorien ab den 1920er Jahren in Deutschland aufgehoben wurde? Die Propaganda des Amtes Schönheit der Arbeit legt nahe, hierin eine Umsetzung des nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaftsgedankens zu sehen. Eine solche Maßnahme passte genau in die NS-Betriebspolitik, weil relevante Hierarchien davon nicht angetastet wurden und eine Hebung des Gemeinschaftsgedankens in vielerlei Hinsicht vorteilhaft sein konnte. Das Kantinenkonzept des Amtes und seine Entwürfe von Speiseräumen sahen im Gegensatz zu der in der Weimarer Republik üblichen räumlichen Segregation auch tatsächlich keine Trennung zwischen Arbeiter- und Angestelltenkantinen vor.73 Allerdings entstand die Infragestellung dieser räumlichen Manifestation betrieblicher Hierarchien in einem Kontext, der wenig mit der nationalsozialistischen Ideologie zu tun hatte: in der Amerikanisierungsdebatte der Weimarer Republik. So zeigte sich Wilhelm Müller in seiner 1926 veröffentlichten Abhandlung über Soziale und technische Wirtschaftsführung in Amerika davon beeindruckt, dass in den meisten amerikanischen Fabriken sowohl Arbeiter und Angestellte als auch leitendes Personal in einem Raum gemeinsam zu Tische gingen. Die Wirkung dieser Praktik sei beachtlich: Dadurch werde „ein einheitlicher Geist erzeugt, weil die Arbeiter sich nicht herabgesetzt fühlen“ könnten.74 Überhaupt unterscheide sich der Umgang im Betrieb positiv von den Verhältnissen in Deutschland, die noch stark von den „Ketten des Kastengeistes“ geprägt seien:75 Es herrsche ein kollegialer und zwangloser persönlicher Verkehr, die Angestellten bildeten keine Klasse, die sich von der Arbeitern unterschieden hätte.76 Letztlich finde überall die Leitfrage, „wie schaffe ich arbeitsfreudige Mitarbeiter“, seinen Niederschlag.77
72 Vgl. Thoms: Physical Reproduction, 2009, S. 137, 141. 73 Vgl. von Hübbenet: Taschenbuch, 1938, S. 146ff.; auch Friemert hebt diesen Unterschied zur Weimarer Republik hervor, vgl. Friemert: Produktionsästhetik, 1980, S. 209f. 74 Müller: Wirtschaftsführung, 1926, S. 115. 75 Ebd., S. 2. 76 Ebd., S. 37. 77 Ebd., S. 3.
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Die Antwort sah folgendermaßen aus: Die Aufhebung der überflüssigen Manifestation sozialer Hierarchien könne den Weg zu einer Nutzbarmachung subjektiver Potentiale in den Arbeitern ebnen. Wenn der Geist der „Zusammenarbeit“ vorherrsche, könne auf der Basis gegenseitigen Vertrauens von den Arbeitern „Verantwortungsfreudigkeit, Verständnis und Unterstützung“ verlangt werden. So könne ein neuer Typus „selbstbewusster“ und „selbstständiger“ Arbeiter entstehen, der stärker „der eigenen persönlichen Kraft“ vertraute.78 Unterstützt von Maßnahmen wie dem subventionierten betrieblichen Kantinenwesens würde der Unternehmer so „den Arbeiter zum Kapitalisten“ machen.79 Dieses Konzept aus den 1920er Jahren weist eine erstaunliche Nähe zu vermeintlich originär post-fordistischen Formen der Arbeitersubjektivität auf, wie sie etwa die Soziologen Voß und Pongratz für den „Arbeitskraftunternehmer“ der Gegenwart beschreiben.80 Müllers Überlegungen sollten trotz ihres arbeiterfreundlichen Tons und trotz einiger Interessenüberschneidungen aber nicht mit Positionen der Arbeiterbewegung verwechselt werden. Auch bei Müller ging damit bereits eine neoliberale Zurückweisung einer vermeintlich „zu weit getriebene[n] und damit die Wirtschaft fesselnde[n] Sozialpolitik“ einher.81
4. B EKÄMPFUNG
DES
ALKOHOLKONSUMS
In den Debatten um die Einrichtung des betrieblichen Kantinenwesens fanden sich etwa ab der Jahrhundertwende immer wieder Stimmen, die mit dieser Maßnahme einen Wandel des Arbeiterbildes verbanden. An die Stelle der überkommenen industriellen Beziehungen – der Unternehmer als ‚Herr im Haus‘ stand dem Arbeiter als ‚Untertan‘ gegenüber – sollten kooperative Formen treten; zumindest sollten die Arbeiter/-innen das Gefühl haben, ‚Mitarbeiter‘ zu sein. Beispielhaft für diese, zumeist von liberalen Unternehmern, Arbeitsexperten und Politikern vertretene Position, ist eine Aussage von Friedrich Naumann. Naumann hielt 1908 fest, Wohlfahrtsein-
78 Ebd., S. 185. 79 Ebd., S. 34. 80 Vgl. Voß/Pongratz: Der Arbeitskraftunternehmer, 1998. 81 Müller: Wirtschaftsführung, 1926, S. 185.
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richtungen in Betrieben nützten solange nichts, wie die Arbeiter und Angestellten nicht „selbst beratend“ mitwirkten; ansonsten wären solche Einrichtungen nur zusätzliche „Ketten“ der Arbeiter. Ziel müsse es sein, dass die Arbeiter „den Betrieb als ‚unser Betrieb‘ bezeichnen“ könnten.82 Aus dieser Problematisierung öffnete sich ein Handlungsfeld für die Unternehmensleitungen, das zweierlei Optionen ermöglichte, die in der Praxis oft ineinander übergingen: Zum einen war eine reine Manipulation der Arbeiter/-innen denkbar – eine Verbesserung der Betriebsatmosphäre und gewisser Umgangsformen ohne eine eigentliche Erweiterung des Handlungsspielraums der Arbeiter/-innen. Zum anderen konnte aber auch versucht werden, die ‚Mitwirkung‘ der Arbeiter/-innen tatsächlich zuzulassen, ja zu fördern, um sie für ‚unseren Betrieb‘ produktiv einsetzen zu können. Einen Ausgangspunkt für den Einzug flexibler Konzepte jenseits repressiver Machtmechanismen stellte der Arbeitsschutz dar. Überlegungen zur Arbeitssicherheit spielten insofern eine Rolle bei der Einrichtung betrieblicher Kantinen, als diese der Bekämpfung des Alkoholkonsums bei der Arbeit dienen sollten. Die häufige Unternehmerkritik am vermeintlich hohen Alkoholkonsum der Arbeiter, der viele Unfälle verschulde, soll nicht einfach als adäquate Beschreibung des Problems der Arbeitssicherheit verstanden werden. Die Vielzahl der Hinweise auf die Korrelation zwischen einem rückläufigen Alkoholkonsum und einer sinkenden Zahl von Arbeitsunfällen deuten zwar tatsächlich darauf hin, dass hier ein ursächlicher Zusammenhang bestanden hat. Allerdings konnte mit der Kritik am Alkoholkonsum der Einfluss der vom Unternehmen verantworten Arbeitsbedingungen an der Unfallhäufigkeit heruntergespielt werden: Schuld an ihren Verletzungen schienen in erster Linie die Unfallopfer selbst zu sein.83 Zudem bestätigte die Rede vom vermeintlich omnipräsenten Alkoholismus bei der Arbeit das bürgerliche Bild des Proletariers als das ‚Andere‘ des Bürgertums: angefangen bei der Arbeitsmoral bis hin zum Lebenswandel an sich.
82 Naumann: Deutsche Gewerbekunst, 1964, S. 276f. 83 Markus Lupa weist darauf hin, dass verstärkt in der Gewerbehygiene der Weimarer Republik die vermeintlich unvorsichtigen oder leichtsinnigen Arbeiter/innen an sich für ihre Unfälle verantwortlich gemacht worden, Lupa: Ethik, 1993, S. 70.
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Andererseits war diese soziale Unterscheidung durchaus auch von einem Teil der Arbeiterschaft gewollt. Bis in die frühe Bundesrepublik gehörte der Alkoholkonsum zum Habitus männlicher Fabrikarbeiter, nicht zuletzt in Abgrenzung zu Angestellten.84 Beispielsweise wurde erst 1956 bei der Dortmunder Werkzeugmaschinenfabrik Wagner & Co. – einvernehmlich von Geschäftsleitung und Betriebsrat – ein generelles Alkoholverbot beschlossen. Die Unternehmensleitung brachte das Thema zur Sprache, da „der Alkoholausschank in der Kantine zu Auswüchsen“ geführt hätte. Konsens wiederum herrschte darüber, dass – wie der Geschäftsführer festhielt – „selbstverständlich nichts dagegen einzuwenden sei, wenn ein Arbeiter einmal eine Flasche Bier trinke“, nur einzelne „Disziplinlosigkeiten“ gelte es zu vermeiden, weshalb letztlich zum Mittel des Verbotes gegriffen werden müsse.85 Somit hielt sich sehr lange eine Mentalität, die der reformfreudige Fabrikant Heinrich Freese bereits vor dem Ersten Weltkrieg bemängelt hatte. Die meisten Arbeiter seien nicht von der Meinung abzubringen, dass „Bier als Stärkungsmittel für die körperlich Arbeitenden unentbehrlich sei“. Zusätzlich wurde auf die schlechte Trinkwasserqualität verwiesen und hervorgekehrt, dass in Folge des gesunden Bierkonsums sehr „wenig Schnaps getrunken“ werde.86 Freeses Kampf gegen den Alkoholkonsum bei den Arbeitern war bezeichnend für die Unternehmerposition ab dem späten 19. Jahrhundert, allerdings wurde zumindest in Einzelfällen noch in den 1870er Jahren selbst Branntwein als Bonus an einzelne Arbeitergruppen verteilt.87 Interessant ist, dass – neben Verboten und der Androhung von Entlassungen, die auch häufig waren, – in einigen Betrieben just jene Position aufgegriffen wurde, die Freese von seinen Arbeitern entgegnet wurde: Es gab Bier oder Wein zur Bekämpfung des harten Alkohols. Teilweise plädierten
84 Vgl. Süß: Kumpel, 2003, S. 173. 85 Vgl. Niederschrift über die außerordentliche Sitzung zwischen Geschäftsleitung und Betriebsrat vom 4.6.1956, Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Bestand Wagner & Co., Sign. F3-151, Bl. 1f. 86 Freese: Konstitutionelle Fabrik, 1909, S. 116f. 87 Lüdtke berichtet von Freigetränken bei Krupp. Ab einer gewissen Außentemperatur gab es kalten Kaffee für die Arbeiter, allerdings auch „guten, leichten (40 %igen) Kornbranntwein“, Lüdtke: Arbeitsbeginn, 1980, S. 107.
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auch Gewerbeinspektoren zum Ausschank von Bier in der Kantine, um den Branntweinkonsum zu bekämpfen.88 Am häufigsten war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Strategie, alkoholfreie Getränke zu subventionierten Preisen oder unentgeltlich abzugeben und gleichzeitig Bier oder Wein in der Kantine zu verkaufen.89 Julius Post und Heinrich Albrecht zählten so auch die Basler Speiseanstalt der Schweizerischen Centralbahn zu den Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern für ihre Geschäftsangehörigen (1893). Durch den Verkauf „guter Speisen und Getränke“ war es möglich geworden, „den Branntweingenuss nach und nach“ zu beseitigen. Zunächst wurden zur langsamen „Entwöhnung schwere italienische Weine verzapft“, später „gewöhnten“ sich die Arbeiter daran, das Essen mit kohlensäurehaltigem Wasser zu sich zu nehmen. Schließlich konnte ein Verbot des Branntweins durchgesetzt werden, die Arbeiter waren nicht mehr betrunken, die Unfallquote ging zurück.90 Paul Göhre berichtete aus seiner dreimonatigen Erfahrung als Fabrikarbeiter von ähnlichen Praktiken. Er stellte klar, dass „moralisierende Reden und andere Reformversuche“ bei der Bekämpfung des Alkoholkonsums kaum erfolgreich waren. Neben der Praxis der Schnapsverbots und der Androhung von hohen Strafen sah er in einer „kleine[n] technische[n] Erfindung“, dem Bügelverschluss für Bierflaschen, eine „Hauptursache“ für den Rückgang des Konsums harter Alkoholika: „Denn der Arbeiter, der früher die Schnapsflasche in der Tasche hatte, nimmt jetzt die ebenso transportable Bierflasche mit.“91 Ein gleichzeitiger Einsatz von repressiven Maßnahmen – Strafandrohungen bei Schnapsgenuss – und dem freiwilligen Umstieg der Arbeiter auf andere Getränke durch das Angebot von Bier sowie dem ebenfalls stark nachgefragten Ausschank von Kaffee und Buttermilch in der Kantine war auch hier wirksam.92
88 Vgl. Ellerkamp: Industriearbeit, 1991, S. 138. 89 Vgl. Matschoss: Maschinenfabrik, [1912], S. 158. Diese Praxis war nicht allgegenwärtig, bei Humboldt beispielsweise gab es schon frühzeitig ein Alkoholverbot flankiert zum Verkauf von alkoholfreien Getränken zum Selbstkostenpreis, vgl. Anonym: Führer, 1919, S. 159. 90 Post/Albrecht: Musterstätten, 1893, S. 343. 91 Göhre: Drei Monate, 1906, S. 30, vgl. S. 63. 92 Vgl. ebd., S. 30.
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Bei Arbeiterinnen hingegen wurde der Bierkonsum in der Kantine nicht geduldet. Während des Ersten Weltkrieges störte sich die Direktion des Gussstahlwerks Witten an dem „Unwesen“, dass sich Arbeiterinnen „biertrinkend an der Kantine“ aufhielten. Dort seien sie „von den männlichen Arbeitskräften auch noch zum Biertrinken animiert“ worden. Die Betriebsleiter wurden aufgefordert, solche Vorkommnisse zu verhindern, da „die weiblichen Arbeitskräfte zumeist den Biergenuss nicht ohne Folgen“ vertrügen. Arbeiterinnen, die trotz Verbotes in der Kantine angetroffen werden würden, um sich dort „möglicherweise durch Vermittelung männlicher Arbeiter sich Bier zu verschaffen“ suchten, seien „tunlichst sofort zu entlassen“.93 Den männlichen Arbeitern hingegen wurde nicht ihr eigener Bierkonsum, sondern nur die vermeintliche Verführung der Kolleginnen zum Alkoholgenuss vorgeworfen. Für die Arbeiterinnen wiederum war die Kantine durch diese Anordnung der Direktion zum verbotenen Ort geworden; bereits ihre Anwesenheit in der Kantine machte Sie des Biertrinkens verdächtig. Die beschriebenen flexiblen Maßnahmen zur Bekämpfung des Alkoholkonsums in der Fabrik bezogen sich also nur auf männliche Arbeiter; bei Arbeiterinnen wurde allein auf disziplinarische Maßnahmen und Verbote gesetzt. Eine Mischung aus Disziplinarordnung und einem Prämiensystem, dass die Arbeiter zur Selbstkontrolle motivieren sollte, wählte die mechanische Weberei F. Brandts in Mönchengladbach bereits 1884 zur Bekämpfung des Alkoholkonsums – auch außerhalb des Betriebes. Zunächst wurde in der Fabrikordnung während der Arbeitszeit betrunkenen Arbeitern sofortige Entlassung angedroht.94 Das „Hauptkampfmittel gegen die Trunkenheit“ sah der Unternehmer Brandts aber in der Auszahlung einer Prämie von einer Mark an diejenigen Arbeiter, die jeweils während eines Monats keinen Branntwein, auch nicht privat, getrunken hatten.95 Die Prämie wurde nur an männliche Arbeiter im Alter von über 16 Jahren gezahlt. Darin lässt sich
93 Rundschreiben der Direktion des Gussstahlwerks Witten an die Betriebsleiter vom 9.10.1915, Westfälisches Wirtschaftsarchiv, Sign. F 81-1004, o. P. 94 Vgl. Post/Albrecht: Musterstätten, 1893, S. 379f. Der entsprechende Teil der Fabrikordnung findet sich wörtlich wiedergegeben bei Post und Albrecht. Die vollständige Fabrikordnung von F. Brandts liegt als faksimilierter Nachdruck vor, vgl. Stadtarchiv Mönchengladbach: Fabrikordnung, 1974. 95 Mieck: Arbeiter-Wohlfahrts-Einrichtungen, 1904, S. 47.
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sehen, dass das Alkoholproblem vom Unternehmer Brandts am Ende des 19. Jahrhunderts als ein rein männliches betrachtet wurde: Von Frauen wurde an sich erwartet, dass sie keinen Alkohol tranken, eine Prämie stand ihnen im Gegensatz zu den männlichen Kollegen dafür nicht zu. Die Kontrolle bestand allein darin, dass der jeweilige Arbeiter schriftlich bescheinigte, „keinen Branntwein, keine Liqueure, Magenbitter u.s.w. oder irgend ein anderes gebranntes Getränk“ zu sich genommen zu haben. Auf diese Weise sollte ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis aufgebaut werden: Der Fabrikant versicherte, der Aussage zu vertrauen, dem Arbeiter wurde zugesichert, dass nur „der Obermeister und drei Vertrauenspersonen“ außer dem Fabrikherrn erfuhren, wer einen Schein eingereicht hatte. Gleichwohl blieben die hierarchischen Verhältnisse erhalten; die betriebsinterne Bekanntmachung der neuen Regelung schloss mit der unverhohlenen Drohung, dass unwahre Angaben zur sofortigen Entlassung führten.96 Dem Versuch wurde zugestanden, erfolgreich gewesen zu sein: In der Fabrik selbst wurde kein Schnaps mehr getrunken, etwa ein Drittel der Arbeiter würden die Enthaltsamkeitsprämie in Empfang nehmen, ohne das Unehrlichkeit aufgedeckt worden sei, was gleichermaßen für das „Ehrgefühl der Arbeiter“ spreche.97 Der Unternehmer Brandts beanspruchte also räumlich über die Fabrik hinausgehend über die Arbeiterschaft bzw. über ihr Freizeitverhalten verfügen zu können. Eine weitere Ausweitung dieser Strategie berichtete Paul Mieck 1904 in seiner Abhandlung über betriebliche Sozialräume über die Aktiengesellschaft des Altenbergs. Deren vorbeugender Kampf gegen den Alkoholismus habe darin bestanden, Schenken und Wirtshäuser in Fabriknähe aufzukaufen und in Arbeiterwohnungen umzuwandeln. In Ergänzung drohte auch hier die Fabrikordnung mit der Entlassung betrunkener Arbeiter. Ein weiteres „vorbeugendes Mittel“ wiederum habe darin bestanden, den Arbeitern Wein zu Einkaufspreisen in der Kantine anzubieten, um den „giftigen Branntwein“ zu verdrängen. Diese Methode habe den „denkbar besten Erfolg“ bei den Arbeitern gezeigt. Das zentrale vorbeugende Mittel bestand allerdings in der „Errichtung gesunder und freundlicher Arbeiter-
96 Vgl. Post/Albrecht: Musterstätten, 1893, S. 380f. 97 Vgl. ebd., S. 381. Mieck nannte eine Quote von 25 Prozent der Arbeiter, die die Prämie in Anspruch genommen hätten, Mieck: Arbeiter-Wohlfahrts-Einrichtungen, 1904, S. 47.
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wohnungen, durch welche der Arbeiter veranlasst wird, sein gemütliches Heim der lärmerfüllten und übelriechenden Kneipe vorzuziehen“.98 Die Raumpolitik der Unternehmer wurde hier in zweierlei Hinsicht weiterentwickelt. Zum einen wurde beansprucht, auch über das (Trink-)Verhalten der Arbeiter in Privaträumen verfügen zu können, zum anderen sollte der Privatraum aktiv umgestaltet werden: Der Zeitvertreib in der proletarischen Kneipe sollte in das bürgerlichen Moralvorstellungen genügende Heim verlagert werden.99
5. F AZIT Der Lebensraum der Arbeiter/-innen war bereits am Ende des 19. Jahrhunderts ein umkämpftes Gebiet: Es galt Räume zuzuweisen, sie zu gestalten, den Zeitvertreib in ihnen zu beeinflussen und verschiedenen Räumen Werte zuzuschreiben. Bevor Betriebssoziologen in den 1920er Jahren das Lebensraum-Problem thematisierten, hatten bereits Betriebspraktiker den Lebensraum der Arbeiter/-innen beeinflusst. In diesem Sinne war „Lebensraum“ kein fester Inhalt, dessen Qualität später von Betriebssoziologen in den rationalisierten Fabriken vermisst wurde; vielmehr musste der Lebensraum der Fabrikarbeiter/-innen jeweils historisch definiert und gestaltet werden. Interesse daran hatten neben den Arbeitenden selbst die Unternehmer und zunehmend die Experten in Wissenschaft und Praxis: Arbeitswissenschaftler, Ingenieure, Manager. Nicht zuletzt ging es dabei um klassenspezifische Werte und Verhaltensnormen. Ein genauer Blick auf die Debatten um betriebliche Speiseräume wie auch ihr tatsächlicher Betrieb zeigt, dass diese Praktiken von einem Zusammenwirken verschiedener Machttypen gekennzeichnet waren. Formen der Disziplinierung, die sich in der Fabrikordnung sowie angedrohten und erteilten Strafen äußerten, wurden keinesfalls im Laufe des 20. Jahrhunderts verdrängt. Allerdings wurden sie zunehmend stärker mit dem Ziel verbunden, die Arbeiter/-innen mögen die Disziplinarordnung internalisieren, sich also eine Selbstdisziplin auferlegen. Neben diese beiden Praktiken,
98 Mieck: Arbeiter-Wohlfahrts-Einrichtungen, 1904, S. 46. 99 Zur betrieblichen Wohnungspolitik, vgl. u.a. Hilger: Sozialpolitik, 1996, S. 173202.
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die sich zu einer umfangreichen Form der Sozialdisziplinierung ergänzten, trat allerdings ein zusätzlicher Machttypus, der oft von der historischen Forschung übersehen wird. Diese Ausprägung der Macht lässt sich mit Foucault als Regierung beschreiben: Es ging nicht allein darum, Arbeiter/innen zu disziplinieren, sondern nun immer stärker – durch die erfolgreiche Sozialdisziplinierung auch zunehmend in erster Linie – darum, einen Rahmen dafür zu schaffen, dass sie als nützliche Individuen zu einem wichtigen Faktor der Rationalisierung werden konnten. Eine stärkere Beschäftigung mit dem Faktor Mensch und die Einräumung der Möglichkeit zur Entfaltung der Potentiale der arbeitenden Subjekte – mithin das, was heute als ‚Humanisierung der Arbeit‘ bezeichnet wird, – war unmittelbar mit dem Vorhaben der Rationalisierung verwoben. Wie geschildert charakterisierte die Praxis der industriellen Arbeit in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber vor allem ein langsamer Wandel, der zudem in einigen Fabriken erst sehr spät eintrat. Konservative Unternehmer oder Beharrungskräfte des Gewohnten sorgten dafür, dass vielerorts noch lange nach dem Beginn der Diskussion um den „Lebensraum“ in der Fabrik weiterhin der Herr-im-Hause-Standpunkt des Unternehmers vorherrschte, keine Kantinen eingerichtet wurden oder vorhandene Kantinen von einer räumlichen Trennung nach betrieblicher Hierarchie gekennzeichnet waren. Einige Sozialdemokraten und Gewerkschafter vertraten Positionen, die ähnlich wie die der angeführten liberalen Wissenschaftler aus heutiger Sicht eine Kritik der Verhältnisse äußerten, die den Weg zu einer notwendigen Modernisierung des kapitalistischen Fabriksystems zeigten. So kritisierte Paul Göhres den „großkapitalistische[n] Fabrikbetrieb“ dafür, dass er den Arbeitern ihre „Selbstverantwortung“ und jede „Möglichkeit des persönlichen Risikos“ sowie der „Selbstgestaltung der eigenen Zukunft“ genommen habe. Nur wenn den Arbeitern das zurückgegeben werden würde, könne gewährleistet werden, dass weiterhin eine Mehrheit dem „individualistischen Wirtschaftssystem“ anhinge.100 Der Gewerkschafter Christian Schmitz schloss 1929 implizit an den Diskurs über den „Lebensraum“ Fabrik an: Den Arbeiter/-innen einen Ausblick in die Natur zu gönnen, schade nicht dem Unternehmer, sondern sorge für „Entspannung“ und eine bessere „Arbeitsstimmung“. Statt aber einen „Fabriksaal mit fro-
100 Göhre: Drei Monate, 1906, S. 57.
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hen Farben zu tünchen“ oder „mit Bildern oder Blumen zu schmücken“, gäben sich die Fabrikanten Mühe, dem Arbeitsraum den Charakter einer „Gefängniszelle“ zu verleihen. Dabei könne „wirklich saubere und genaue Arbeit auf die Dauer nur in einem Räume geleistet“ werden, der „selbst sauber und wohlgeordnet“ sei.101 Weite Teile der Arbeitswissenschaft vertraten in der Weimarer Republik ähnliche Positionen, die ersten progressiven Unternehmer führten derartige Neuerungen ein: Die auf den ersten Blick ungleichen Geschwister ‚Humanisierung‘ und Rationalisierung der Arbeit fanden nach und nach auch in der Praxis zueinander. Die Ordnung der Fabrik verlor zwar nicht ihren disziplinarischen Charakter, allerdings wurde sie effektiv von gouvernementalen Machtpraktiken ergänzt, die den Arbeitenden einerseits einen gezielt begrenzten Raum zur Entfaltung ihrer Subjektivität boten, andererseits die volle Einbringung dieser Subjektivität in und das vollständige Abrufen aller Potentiale für den Arbeitsprozess verlangen konnten.
L ITERATUR Anonym: Führer durch die Maschinen-Anstalt Humboldt. 60 Jahre technischer Entwicklung 1856-1916, Köln 1919. Billmann-Mahecha, Elfriede: Qualitative Sozialforschung in der Psychologie der Weimarer Republik: Beispiele aus der Kinder- und Jugendpsychologie, in: Psychologie und Geschichte, 5 (1994), S. 208-217. Bönig, Jürgen: Die Einführung von Fließbandarbeit in Deutschland bis 1933. Zur Geschichte einer Sozialinnovation, Münster 1993. Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und „Klassen“. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1995. Briefs, Götz: Betriebsführung und Betriebsleben in der Industrie. Zur Soziologie und Sozialpsychologie des modernen Großbetriebs in der Industrie, Stuttgart 1934. Deutscher Textilarbeiterverband (Hg.): Mein Arbeitstag, mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeiterinnen, Berlin 1930.
101 Schmitz: Welt, 1929, S. 101f.
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1. I NTRODUCTION To its nineteenth-century advocates, the rise of modern nutritional science held the promise of alleviating contemporary social ills, staving off political unrest, and even promoting economic growth. In the early twentieth century, German nutritionists and scientists increasingly focused attention on the concept of “people’s nutrition” (Volksernährung) and the effects of a poor diet on the human organism, in particular that of urban workers. Despite the large corpus of scientific knowledge produced about the subject, the links between the science and the changes it affected on society remains an understudied aspect of history.1 This chapter will begin to redress this situation by exploring the nutritional policies of the Nazi regime as it pertained to labor efficiency and rearmament.2 To this end, the “Hot Factory Meals” campaign of the German Labor Front’s office Beauty of Labor will serve as a lens onto the bio-political nature of Nazi food policy. 3 This chapter contends that there was a concerted effort by the National Socialist regime to alter traditional German foodways in order to achieve its
1
For more on this, see Kamminga/Cunningham: Science, 1995.
2
This paper is based on research from my more wide-ranging dissertation. See
3
The classic statement on biopolitics is Foucault: Sexuality, 1978.
Cole: Feeding, 2011.
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sociopolitical and economic goals. In the typically militaristic language of the Third Reich, Germans were called to the “front” in a battle against “Henkelmänner” (lunch boxes) and “Stullenpakete” (bagged lunches). Propaganda and lectures continually pressured, though not always successfully, employers to provide canteen facilities and workers to leave packed lunches at home. What will become clear is that against the backdrop of war mongering and racial persecution, the regime attempted to put into action a laudable food reform movement to promote increased health and productivity. Instead of traditional high-fat, high-protein fare, which was often imported, it was argued that a well-balanced and nutritious diet from “German” soil not only increased the health and productivity of the individual, but also that of the “Betriebsgemeinschaft” (plant community) and indeed the entire “Volkskörper” (people’s body). In an attempt ensure success, the regime relied upon cutting-edge nutritional science and even created their own cooking schools to train canteen employees in the “Nazi” culinary arts. However, the inability of the Nazi government to implement those measures in a comprehensive fashion serves as an important reminder that even in a fascist dictatorship the “art of governing” is often hampered by an obstinate subaltern.
2. T HE P EOPLE ’ S N UTRITION In many respects, nineteenth-century Germany was at the forefront of the development of modern nutritional science. Indeed, the world-renowned American chemist Russell Henry Chittenden, who is credited with establishing the field of bio-chemistry, noted that “in 1878 any American student desirous of making progress in physiological chemistry had no recourse other than going to Germany […]”.4 Chittenden himself studied at Heidelberg from 1878-1879 under the well known enzyme researcher Wilhelm Kühne. Beginning with the founder of physiological chemistry Justus von Liebig, a successive group of German scientists changed the ways humans thought about their diet. Steeped in the science of the day, many began to advocate for a radical alteration of the human diet; one that stressed the
4
Chittenden: Development, 1930, p. 27.
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consumption of foods based on their nutritional values and not simply because of taste, convenience, or cultural tradition. Nutritionists argued that industrialization had significantly altered traditional foodways, usually for the worse. While the proletariat no longer worried much about droughts and famine after the “food revolution”, urbanization did much to hurt their health via constant undernourishment. It was argued that after their migration from the countryside to the city urbanites began to eat “irrationally”.5 The traditional rural diet heavy on potatoes and fresh vegetables gave way to one centered around meat. Urban workers now constrained by the time clock and skimpy pay stubs increasingly turned to cheap, ready-to-eat canned goods as well as pre-cooked and preserved meats. Hovering at some fifty kilos per person in 1900, annual meat consumption nearly tripled in Germany between 1800 and the eve of the First World War. But because of meat’s high cost, workers could rarely afford enough to reach daily protein requirements as indicated by nutritionists. And the cheap cuts accessible to workers ensured they consumed large amounts of unhealthy fats. With caloric gaps still left to fill, urban laborers often turned to quick energy sources, in particular sweets and alcohol, as small amounts of such luxuries made their often miserable lives a bit more palatable. This resulted in an unbalanced diet that unwittingly robbed workers of energy. An article from the Preußische Zeitung summed it up in thusly: “meat + fat × beer = efficiency reduction”.6 Such a diet, it was believed, could also lead to a variety of diseases and health issues, everything from cancer to tooth decay. Thus it became clear to many that the issue of nutrition extended far beyond the realm of personal health. As the rise of modern nutritional science coincided with the rise of the modern nation state, the diets of citizenry became, in Foucault’s words, more “governmentalized”. This was done in various ways, either indirectly through funding research in universities and laboratories or in a more straightforward manner through the establishment of consumer protection laws and welfare services. On the one hand, state governments began to understand that nutrition played a central role in the social, economic, and political problems of the day. On the other
5
Treitel: Food Science, 2007, pp. 51-61.
6
Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (here after BAL) NS 5/VI-4925: Fleisch + Fett × Bier = Leistungsschwund, Preußische Zeitung, 08.04.1939.
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hand, food scientists also increasingly understood how their work could serve as a solution to many of those same problems. In Germany, these ideas were subsumed under the concept of Volksernährung.7 Interest in Volksernährung increased dramatically at the beginning of the twentieth century as the pace of industrialization accelerated and the advent of the Great War brought the so-called “food question” into the mainstream.8 Experts wondered what are the minimal nutrition requirements for a soldier to maintain peak performance? What is the bare minimum civilians must eat to stave off diseases? How much should industrial workers consume to achieve maximum efficiency? In the latter case, nutrition came to mix with scientific management (Taylorism) and labor rationalization theories as factory owners sought out ways to increase profits by cutting costs and the maximizing efficiency of their workflows, machines, and even their workers. During the Third Reich, the concept of Volksernährung mixed with the racial hygienic and ultra-nationalist theories popular in Nazi ideology. Nazi nutritionists argued that it was impossible to set standard nutritional guidelines for everyone in the world as the various races were biologically and physiologically different.9 For example, it was believed that the Japanese, Malays, Russians, Estonians, and Latvians had longer intestinal tracts and larger salivary glands that allowed for better processing of carbohydraterich diets. Also stomachs were believed to perform differently depending on race as evidenced by their belief in the existence of “the rice stomach of the Malays and the banana stomach of Negroes”. 10 Franz Wirz, a dermatologist and expert member of the NSDAP’s Committee for Public Health, explained the Nazi conception of Volksernährung in the simplest of terms. “The criteria correlate to the same requirements which National Socialism
7
Rubner: Volksernährungsfragen, 1908. For a case study on the American food scientist Wilbur O. Atwater, see Aronson: Nutrition, 1982, pp. 474-487. For Britain, see Mayhew: Nutrition Controversy, 1988, pp. 445-464.
8
See for example the work of Max Winckel. As a nutritional expert and food chemist, he began working with the Bavarian government to publish informational brochures. See Winckel: Krieg, 1914; Winckel: Kriegsbuch, 1915.
9
Ertel: Grundlagen, 1938, p. 2.
10 Flößner: Fragen, 1936, p. 10. „Hierher gehört weiter der Reisbauch der Malaien und der Bananenbauch der Neger.“
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has placed on purely political areas. One may not live just the way it suits him, but rather he has to always question his actions: Will I help or hurt my people by it?”11 To support his nationalist claims, Wirz focused on changes to the German diet over the previous century and linked it to series of health problems which appeared ever more frequently. The sudden increase of metabolic diseases (Stoffwechselkrankheiten) of the liver, kidneys, and bowels spoke for themselves, he believed. Wirz wanted to delve deeper into other less conspicuous health issues, namely tooth loss and infertility. He held that peoples who ate naturally (i.e. no artificial additives) from the bounties of their own fields knew nothing of tooth decay, but “a large portion of our people suffer from tooth loss and its often grave circumstances”. It was not just the middle-aged and older Germans either. The results from military medical exams had shown that seventeen out of one hundred young males were not physically fit for service, fifteen percent because of bad teeth.12 Under Nazism it was believed that one had a patriotic duty to eat healthfully. Citing a rather dubious claim that French émigrés to Canada exhibited “extraordinary fertility” after changes to their lifestyle and above all their diet after leaving their homeland, Wirz asserted that proper nutrition was key to the “healthy development of nation and race”.13 Food was also of great economic importance, both for consumers and the regime. At its core Nazi nutritional policy had two interconnected goals, namely food security and autarky. If there was any chance for Hitler to make his millenarian dreams for Germany come true, it was clear that Germans must be fed both sufficiently and domestically. This was particularly salient given the fact that the bitter memories of hunger and want during the First World War and the Great Depression were never far from anyone’s mind. To accomplish those goals, the Nazi government cooked up a three-part plan that focused on increasing agricultural production, steering consumption, and encouraging the frugal, proper use of foodstuffs. The latter two objectives lie at the heart of this study, neither of which could be achieved without support from the general populace. Therefore, the Nazi
11 Wirz: Nationalsozialistische Forderungen, 1936, p. 107. 12 Ibid., p. 106. 13 Ibid. Wirz also cited American research which drew links between sterility and metabolic dysfunctions caused by abnormal coli flora in the intestines.
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government spent much time and effort researching the standard of living and consumption patterns of “Otto Normalverbraucher”. The results of a joint study on the living conditions of German workers commissioned by the Reich Statistics Office and the German Labor Front in 1939 make this very clear.14 Data from 1937 was collected on 2600 households, of which, 350 were selected as representative samples from twenty-seven Gaue. While the meager income figures for average working-class households are in and of themselves very telling, what is most striking are figures for expenditures, above all for food.15 After scrutinizing the household budgets of the families and taking stock of even the smallest expenditures, the survey found that nearly forty three percent of a worker’s income went to food. The figure jumps to nearly forty seven percent if beverages and tobacco products are included. To put this in perspective, the average American food expenditures for 2009 amounted to roughly thirteen percent of income.16 Although Germans in the 1930s were consuming on average eighteen percent less meat than they had in the previous century, meat and meat products still consumed the largest portion of their food budget at some twenty three percent. At just under fifteen percent were bread and baked goods followed by milk (8.4 %), margarine, lard, suet, and other raw fats (6.2 %), and butter (5.9 %). While potatoes only took an average 3.7 percent of a workingclass household income, it dominated the diet with a daily consumption of
14 Statistisches Reichsamt: Wirtschaftsrechnungen, 1939, pp. 118-126, 323-329. This was published in two parts. The first dealt with income and expenditures and the second with food expenditures and consumption figures in detail. 15 The average hourly income of male skilled workers in Germany in 1933 was 80 Reichpfennigs per hour. Male apprentices brought in an average of 68 pfennigs per hour while general laborers, who were the largest group, earned roughly 63 pfennigs. Female skilled laborers and apprentices earned around 52 pfennigs per hour and women who worked as general laborers could scarcely hope for more than 43 pfennigs. Because pay rates varied based on type of industry and even region, these figures, while representative, can be misleading, especially for the lowest paid workers in the textile factories and saw mills. These figures come from Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1933, pp. 273. 16 Consumer Expenditures 2009, Bureau of Labor Statistics, accessed November 3, 2010, http://www.bls.gov/news.release/cesan.nr0.htm.
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some 1,453 grams. Bread consumption was also high at 1,040 grams followed by vegetables at 323 grams, fruits at 178 grams, and meat at 177 grams.17 These figures clearly show that the inability or the unwillingness of German workers to obtain sufficient quantities of fruits and vegetables meant that the average diet was dominated by the satiating properties of carbohydrates, protein, and fats. This was problematic for Nazi nutritional policy for two reasons. First, meat and fats were not produced domestically in sufficient quantities to meet current demand and therefore had to be imported. This obviously ran counter to the regime’s autarkic goals. Second, a host of nutritionists since the nineteenth century had been trumpeting a lower protein, lower fat diet as critical for improved health. Volksernährung was thus latched onto during the Third Reich as a way to not simply improve the health and productivity of German workers, but also as way to improve the health of the German economy as well as the entire Volkskörper.18 Unlike the traditional high-fat, high-protein “irrational” diet, Germans were now to eat the preferred Nazi diet referred to as “gemischte Kost” (literally “mixed fare”, but better translated as “well-balanced”). Such a diet consisted of natural, sustainable, and affordable foodstuffs from both animals and plants delivered by German farmers from German fields. It was not about quantity, but rather the quality and variety of ingredients. Germans were to do their patriotic duty by exploiting the mystical bond between Blut und Boden and consume foods born out of native soil. But what did a healthy German diet actually consist of? Here Nazi nutritional policy was greatly influenced by the Life Reform Movement that had grown precipitously in the late nineteenth century in Germany and Switzerland in reaction to modern, industrial society. Advocates pushed for a return-tonature style of living that emphasized the reestablishment of the traditional bond between the human body and its natural environment. The reformers attempted this in a variety of ways, most often seeking self-improvement through dietary reform, vegetarianism, homeopathy, nudism, sun worship, or physical fitness. The idea was that by individually eschewing luxury and
17 Statistisches Reichsamt: Wirtschaftsrechnungen, 1939, p. 323. 18 On the idea of a “people’s body” and its antithesis, see Neumann: Phenomenology, 2009, pp. 149-181. For an excellent study during the war, see Süß: “Volkskörper”, 2003.
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excess through self-discipline and self-control, one could gradually reform society at large.19 Nutritionally speaking, the preferred Nazi diet was dominated by seasonal, domestic vegetables and fruits and complimented with available fish and meats. With the launching of the Four-Year Plan in 1936 to put Germany on a war footing, getting millions of workers to eat the appropriate diet, especially while on the job, was seen as vital for numerous reasons, not least because science had firmly established that a poor diet also sapped energy and hurt performance.
3. B EAUTY
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L ABOR
AND
F ACTORY C ANTEENS
One of the most transformative social aspects of industrialization was the clear demarcation it brought between the home and the workplace. Working far from the hearth meant that for the first time the large urban workforce would be required to take their midday meals on the job. Initially wives or children, if the home was close enough, often met husbands at the factory gate with warm lunches. However, as the pace of industrialization quickened and break times got shorter, this became increasingly rare. And with factories often outside the city center and mines in even more remote areas, workers seldom had access to cheap restaurants or street vendors. They either brought small, undemanding meals from home or simply went without. The result was virtually a constant state of undernourishment among the working class that was evident everywhere in the industrial world.20 As companies and factory owners more and more looked to rationalize production in order to eke out ever greater profits, they also attempted to rationalize the diet of their workforce via factory canteens. As Karsten Uhl has shown in his chapter, this was part and parcel of the movement toward industrial discipline. In Germany during the Great War the patronage and creation of industrial canteens increased dramatically, but
19 On the movement, see Krabbe: Gesellschaftveränderung, 1974; Barlösius: Naturgemäße Lebensführung, 1996; Jeffries: Lebensreform, 2003, pp. 91-106. 20 International Labor Office: Worker’s Nutrition, 1936, p. 5. For the British case, see Government Printing Office: Welfare Work, 1917. From a hygienic perspective, see Collis/Greenwood: Health, 1921.
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there was always resistance to such mass provisioning.21 Whether critical of the food, prices, or perceived economic benefits for bosses, workers often viewed owner-sponsored canteens with distrust. Workers in Switzerland’s chemical industry, for example, staunchly opposed job-site canteens as overly paternalistic.22 If things were to be different in Hitler’s Germany, the negative associations attached to Massenspeisung (mass provisioning), especially the unstomachable memories of war-time soup kitchens, would have to be overcome. Attempts to overturn the general pessimism Germans had toward communal feeding programs began in typical fashion by first altering the language.23 Terms like “Massenspeisung” or the more disparaging and colloquial “Massenabfütterung” quickly became passé.24 To emphasize the National Socialist character of the new programs, more congenial substitutes like “the common cooking pot” (der gemeinsame Kochtopf), or the far more common “communal feeding” (Gemeinschaftsverpflegung) became standards in the Nazi lexicon when referring to mass provisioning.25 Indeed, Gemeinschaftsverpflegung, a term coined in the 1930s and still common today, became the default term for the Nazi regime. But it was not simply a matter of semantics as the ideological underpinnings behind mass provisioning changed too. Nazi ideologues argued that in the typical capitalist conception of economics all aspects of business were viewed through the dual lenses of sound capital investment and profitability. Thus factory owners would only feed workers if it was beneficial to their bottom line. National Socialism found such economic thinking as overly materialistic and “Jewish”. “Not capital and profit, but labor stands at the center of economic life.”26 Labor produced capital, not the other way around. German workers
21 Davis: Home Fires, 2000, pp. 152-185. 22 Tanner: Fabrikmahlzeit, 1999, pp. 273-383. 23 Certainly one of the most astute observers of language manipulation in the Third Reich was the Dresden philologist Viktor Klemperer. See Klemperer: LTI, 1975. 24 The German verb “füttern” (to feed) is usually associated with animals. 25 On the language, see for example BAL NS 5/VI-4487: Der große Topf. Probleme und Tatsachen der Gemeinschaftsverpflegung, in: Deutsche Allgemeine Zeitung, 24.3.1944. 26 Walter: Gemeinschaftsverpflegung, 1941, p. 45.
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were not proletarians or simply cogs in the wheels of industrial production lines, but rather integral and important members of a “Leistungsgemeinschaft” (productive community) consisting of a factory leader and his retinue (Gefolgschaft). To prove the point, the Beauty of Labor Office began operations in November 1933 under the motto “the German everyday shall be beautiful”. Charged by the German Labor Front with eradicating class distinctions and raising living standards by making the workplace safer and more aesthetically pleasing, Beauty of Labor oversaw a series of campaigns whose goal was nothing less than to transform Germany’s industrial landscape.27 The main functions of Beauty of Labor were to inspect all commercial construction projects and to oversee all building projects of the German Labor Front, in particular factory renovations. These tasks were greatly expanded, however, with the announcement of the Four-Year Plan and the replacement of Karl Kretschmer with Herbert Steinwarz as director in 1936. Beauty of Labor inspectors visited plants throughout Germany making suggestions for improvements and detailing infractions. Much of the Beauty of Labor’s propaganda was directed at factory owners and managers to demonstrate the economic and social benefits that would come if they footed the bill for enhancement projects. Most of the projects were focused on increasing safety in the plant as well as the health of workers by improving lighting and ventilation systems, reducing noise and airborn particulates as well as promoting cleanliness, health, and hygiene by constructing washrooms, changing and exercise facilities as well as gardens for employees during breaks.28 The tax benefits and promises of increased worker efficiency seem to have been effective as by 1938 over 67,000 plant inspections took place and German employers had spent over 900 million Reichsmarks on improvements.29 Such successes suggested to contemporaries that Beauty of Labor was the “culmination of a revolution in German facto-
27 Rabinbach: Aesthetics, 1976, p. 191. 28 See for example, Lotz: Schönheit, 1940. Further see three publications from the Office Beauty of Labor: Amt Schönheit der Arbeit: Sechs Vorträge, 1941; Abortanlagen, 1942. 29 Rabinbach: Aesthetics of Production, 1976, p. 193.
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ries” and a “socialist obligation […]” that is “part of the new social policy in the new Germany”.30 It has been noted that one of the most interesting and unique features of Beauty of Labor was the attention it paid to the bodies of workers, especially their personal hygiene and the cleanliness of the work environment in which they toiled.31 Filthy wardrobes and washing facilities, typical in many industries, were to be a thing of the past as they robbed workers of the “joys” to be found manual labor. Beauty of Labor pressed for properly outfitted, spacious, and sanitized facilities befitting racially superior Germans. But it was not just simply the physical appearance of the workers they were concerned with. Much like the components of any piece of equipment on the shop floor, their internal parts had to be cared for as well. This could only be done with proper nutrition. Likening a good diet to a routine tune-up, one contemporary remarked, “[e]veryone knows how important proper maintenance and a good greasing is for the machines […] so they remain operable and protect them from wear and tear”.32 As already mentioned above, a byproduct of the industrial revolution was the fact that workers would regularly take their lunches away from the home. But few employers offered either sufficient lunch breaks, easy access to food, or adequate space to eat in. Because of this it was commonplace for workers to simply eat at their station, often holding a self-packed sandwich in one hand and a lever or tool in the other. Others might simply overturn boxes or crates lying about to serve as makeshift tables and chairs. Equipment for warming leftovers from the prior evening’s meal packed in a Henkelmann (lunch box) was rare, as was suitable storage. Thus, it became routine for German workers to eat cold, easily transportable foods quickly amongst the dirt, dust, noise, chemicals, and the hubbub of the shop floor. When break rooms were provided they were often cramped, dank, and filthy. Such eating habits and environments were seen as the root causes for a variety of health, economic, and political problems in the Third Reich and
30 BAL NS 5/VI-DAF-6262: Ein Geschenk an den schaffenden Werkmann, in: Württembergische Landeszeitung, 17.7.1936. 31 Baranowski: Strength, 2004, p. 87. 32 Berliner Kraft und Licht (Bewag):Warmes Essen, 1939, p. 2.
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the Beauty of Labor campaign “Hot Factory Meals” (Warmes Essen im Betrieb) was called into action in February 1939 to fix them.33 Advances in modern nutritional science as well as modern medicine had clearly shown that not only would improper nutrition deplete the energy and performance of a worker, but was also believed to be the cause of many ailments common to the urban working class. Everything from stomach ulcers to indigestion was linked to a poor diet. Indeed, it was often claimed that along with the migration of people to the urban centers came a massive surge in so-called “Zivilisationskrankheiten”, most of which were caused by eating improperly.34 “Short lunches, eating hastily, cold foods (sandwiches) are the cause, and 55 % of workers suffer from these ailments” one expert noted.35 German workers, it was argued, were literally suffering from a “life of sandwiches” (Stullenleben).36 Bread would certainly satiate the appetites of workers, but it was not particularly easy to digest, especially when it was not well-chewed before swallowing, and it could not provide the variety of essential nutrients needed to maintain peak performance. It should also be noted that with the lack of refrigeration, especially during the warmer months of the year, workers had worry about eating spoiled foods. Many of these problems could be avoided, it was believed, if hearty, warm meals were supplied for workers. Doctors held that the human organism had a physiological “daily curve” (Tageskurve) in which energy levels increased throughout the morning but reached their peak at midday and then began to decline. A nutritious, well-balanced, cooked lunch was seen as the best way to restore that energy.37 Healthy caloric intake levels of course depended on the type of labor one did or more precisely the amount of muscle activity. For example, a person holding an occupation wherein they stood for most of the shift required twenty-five percent more calories than someone who held a desk job. Those in heavy manual labor jobs like
33 Reinhart: Musterbetrieb, 1941. 34 BAL NS 5/VI-DAF-4484: Gesunde Lebensführung – nationale Pflicht, in: Hamburger Fremdenblatt, 7.11.1940. 35 Magengeschwür und Ernährung, in: Zeitschrift für Volksernährung, 20.10.1940. 36 Kretschmer: Warmes Essen, 1939, pp. 109. 37 Kopsch-Rossin: Warmes Mittagessen, 1937, p. 6.
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mining could require as much two hundred percent more. In caloric terms, this meant a variation of 2000 to 5000 calories.38 But why the necessity of a hot meal? Scientists argued that primitive humans had been herbivores, but had adapted over time to the demands of the environment, in particular the use of fire to cook foods. Over thousands of years human beings physiologically adjusted to these new foodways and ultimately evolved into omnivores.39 During this process, cooked food became more easily digestible for humans, that is, the time it takes to break down and process the food into energy is much shorter. The reasons for this are numerous. First, simply the aroma of a cooked meal starts the digestive process. The smell of herbs and spices, of sprinkled “chives on a soup or fried onions over potatoes”, stimulates the salivary glands while at the same time the stomach begins to secrete its digestive juices. Not only that, but cooked foods generate more blood flow to the stomach than cold foods resulting in higher production of the Pepsin enzyme and more efficient protein digestion.40 Fats, which are not water soluble, are much harder for the human body to digest. In fact, dietary fats are little affected by mouth and stomach secretions and only begin to significantly break down when in the duodenum (Zwölffingerdarm). Bile, stored in the gallbladder, is introduced via a duct to the duodenum which then emulsifies the fats allowing the molecules to be absorbed into the bloodstream. Thus, Butterbrot, the quintessential mainstay of the German workers diet, was one of the more difficult to digest foods.41 Given the short lunch breaks of the urban workforce, a warm meal was not surprisingly deemed critical in maintaining their operational efficiency.42
38 Schein: Werksverpflegung, 1940, p. 9. 39 Many of the publications cite the work of Hermann Gerbis who was the Gewerbemedizinalrat (Senior Health Consultant for Industry) during the Weimar Republic. See in particular Gerbis: Ärztliche Probleme, 1930. 40 Müller/Ziegelmayer: Werksverpflegung, 1939, pp. 69-71; Kretschmer: Warmes Essen, p. 110. 41 Müller/Ziegelmayer: Werksverpflegung, 1939, pp. 69-71. Butterbrot (literally bread with butter, but margarine or schmaltz is common as well), or Stullen/ Schnitte (in the dialect of Berlin and northeast Germany) was a very common choice for packed lunches of urban laborers. 42 Ibid., pp. 17-18.
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Beauty of Labor’s “Hot Factory Meals” propaganda campaign declared a “fight against sandwiches” (Kampf gegen Stullen) as it attempted to both compel employers provide access to meals and employees to pay for and eat them. A deluge of literature, lectures, and film shorts produced by the Research and Enlightenment Division of Beauty of Labor assured business owners and shop managers that their investments would pay off in form of productive, healthy, and happy workers. Although there appears to have been no hard statistical data, the German Labor Front nonetheless made bold, wide-ranging claims based on experiments undertaken by doctors in factories where mass provisioning existed. In its brochure entitled Arbeit und Ernährung the German Labor Front summarized the findings. It had found that in factories that dispensed hot meals workers had greater “propensity for work and achievement” (Arbeits- und Leistungsfreudigkeit) and that they found it not just a “convenience” but that it also raised their “wellbeing and efficiency”. During a two-week long renovation of one kitchen a “glaring decrease in the productive efficiency of the workforce” was observed. On Saturdays when no meals were prepared, over-time workers preferred “re-heated potatoes and coffee over the best Butterbrot”. It even alleged, although much harder to believe, that workers “sometimes refused overtime when not receiving hot food”. Interestingly, it also claimed that those workers required to take sick leave throughout the year were not regular patrons of the factory canteen.43 Employers and employees were also repeatedly reminded that participation was a national duty and very much “in the interest of the State” as it would allow for the food rationing system to be more easily controlled.44 Of course for many businesses the prospect of implementing a system of mass provisioning was daunting and posed numerous, significant challenges depending on budget, space, location, and the size of the workforce. Moreover, actions taken had to meet the strict criteria developed by Beauty of Labor if they wished to reap tax and credit stimulus packages. Here the engineering and plant design experience of Director Herbert Steinwarz proved very helpful as the tasks of the Beauty of Labor Office expanded in-
43 Reprinted in Walter: Gemeinschaftsverpflegung, 1941, pp. 35-36. 44 Von Hübbenet, Taschenbuch, 1939, p. 144; Sommert: Warmes Essen, 1939, p. 40.
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to more architectural, technical, and design areas.45 To help make this process as smooth as possible, Steinwarz placed consultation offices manned with specialists at the local level to help factory owners in all matters concerning mass provisioning including appropriate designs of kitchens and dining halls as well as recommendations on kitchen management, personnel, and meal planning. Such functionaries were referred to as the “concept bearers” (Ideenträger) of the organization.46 Accordingly, Beauty of Labor became increasingly involved with prototype designs on everything from wallpaper and lighting to furniture and tableware.47 Why did Beauty of Labor go to such great lengths? Previous experiences had shown that even when tasty, warm meals were provided the vast majority of workers did not patronize the canteens, due in no small part to the uninviting dining areas. “Food alone doesn’t do it; the eye eats and savors as well.”48 Furthermore, providing sufficient wash, dining, and recreation facilities for the working class tied directly into the ideological foundations on which the Beauty of Labor stood. It was part and parcel of the attempt to reinstitute the long lost “joyous spirit” into work. The dining hall was not to resemble a “mass processing plant” (Massenabfertigungsanstalt), but rather was to be “beautifully and comfortably” furnished so that the lunch break was a time of rest and relaxation.49 Walls were to be decorated tastefully, not with the common “kitsch wallpaper” found everywhere that had in their view contributed “to no small extent to a deterioration of taste” (Geschmacksverderb). In accordance with National Socialist principles, such “evils” were to be “exterminated” by seizing “it at the root”.50 Not only did Beauty of Labor work closely with the wallpaper in-
45 Amt Schönheit der Arbeit: Unser Ziel, no date. 46 BAL NS 5/VI-DAF-6268: Kulturarbeit im Betrieb, in: Bremer Zeitung, (1937) 270. 47 See for example Steinwarz/Mewes/Simma: Kameradschaftshaus, 1939. See also the Office’s periodical of the same name (Schönheit der Arbeit) for various model designs of its flatware and crockery. For example, no. 1 (1937), pp. 4143. 48 Berliner Kraft und Licht (Bewag):Warmes Essen, p. 2. 49 Von Hübbenet: Taschenbuch, 1939, p. 146. 50 BAL NS 5/VI-DAF-6268: Und nun die schöne Tapete …. Ein neuer Aufklärungsfeldzug des Amtes ‚Schönheit der Arbeit‘, in: Bremer Zeitung, (1937) 297.
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dustry to develop acceptable designs, it also contracted artists to paint völkisch-themed murals and dictums like “Honor labor and honor the laborer and you honor the nation” on walls. To further “prevent the infusion of national kitsch”, famous sculptors like Arno Breker were commissioned to produce various-sized busts of “leading men” in stucco or terra cotta to adorn break rooms.51 Likewise, furniture was supposed to complement the style of the room all the while being handsome, comfortable, yet rugged and easy to keep clean. Chairs were usually recommended over bench-style seating because they took up less space, are easy to arrange, and allowed workers to come and go without bothering others. Tables were to be made of hardwoods with or without veneers, depending on whether table clothes were to be used. And fresh flowers were always to be placed on tables as they infused life and color to the room. The entire space was to be brought together with appropriate sconces or chandeliers for lighting as well as curtains to accentuate windows. Decisions were made easier for factory owners as they could choose from the 158 different furniture designs published in Beauty of Labor’s own catalogue.52 An attractive canteen needs attractive tableware lest the “many hidden connections between tableware and eating and drinking” are broken and the “harmony of pleasure” is interrupted.53 Therefore, the Beauty of Labor worked with the porcelain, glass, and pottery industries to develop suitable and cost efficient designs. Plates, cups, bowls, saucers, pitchers, and serving dishes of various styles were produced.54 And just like good tools were needed on the shop floor, so too were utensils that
51 BAL NS 5/VI-DAF-4486: Kein nationaler Kitsch in Gemeinschaftsräumen, in: Der Angriff, 30.10.1941. 52 Nothhelfer/Stolper: Möbelbuch, 1937. 53 Essen und Essen ist zweierlei, in: Schönheit der Arbeit, 11 (1938), p. 446. The author uses the example of beer being drunk from a tea cup arguing that the unfamiliar vessel would disrupt the senses and alter both the taste and enjoyment of the beverage. 54 See the collection of brochures and special prints housed in the library of the Federal Archive in Lichterfelde, BAL NSD 50/295 Schönheit der Arbeit. See also Schäfer: Porzellangeschirre, 2001, pp. 80-141.
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met utility requirements, but were also “beautiful” and had the “perfect form”.55 As important as aesthetics were to dining areas, functionality was essential when it came to canteen kitchens. It must not only be close to the shop floor, but its arrangement and output should be such that the lines move quickly so that “the soup does not get cold before they get to the table and that precious break time is not lost on unnecessary waiting”.56 The number of patrons to be served in any one shift dictated much of the layout. A handbook published by Beauty of Labor gave a variety of possible floor plans for 50, 100, 200, 500, or 1000 people. But there were many other particulars to be worked out as well. How many shifts and/or meals would be served? How would food deliveries be made? What types of storage would be needed? What type of heat source (coal, steam, gas, or electricity) would be used?57 Sanitation and safety were extremely important as well. Perhaps one of the most important aspects though was staffing the kitchen with a skilled workforce. As we will see below, the regime had a solution for this too.
4. N AZI C ULINARY ARTS Few of the lessons of World War One were lost on the Nazis and the issue of worker’s nutrition was no different. Studies commissioned by the Nazi government found that heavy industrial workers, in areas like mining or steel production, were able to consume on average roughly half of their daily dietary requirements in 1917.58 That is, the undernourishment of workers in heavy industry between 1914 and 1918 not only helped to reduce industrial output by some forty percent, but it was also seen as a deciding factor in Germany’s catastrophic defeat in the Great War. Nazi nutritionists were quick to point out that even early in the war strong voices of concern over the “food question” could be heard but went tragically unheeded. One such
55 For examples see Modelle des Amtes Schönheit der Arbeit, in: Schönheit der Arbeit, 1938. 56 Von Hübbenet: Taschenbuch, 1939, p. 146. 57 Steinwarz: Speiseräume, 1942. 58 Ziegelmayer: Schwerarbeiter, 1937.
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example came from none other than Field Marshal Paul von Hindenburg. In a letter to the Emperor in September 1916 he wrote: “The solution to the labor problem is vital, and it does not just concern the number of workers, but rather it above all concerns their individual productive efficiency…. Your Excellency, I urgently ask all state governments as well as administrative and municipal agencies to stay on top of the serious situation that is before our eyes and request of you to organize with all means available the sufficient nutrition for our industrial workers.”59
If efforts to ensure the “nutritional freedom” of the Second Empire were slow to materialize and ultimately inconsequential,60 such a mistake would not be made in the Third. For many within the Nazi ranks communal feeding operations became increasingly important in the late 1930s for Germany’s economy and the creation of a strong Volksgemeinschaft. Already in 1937 it was estimated that 35-40 percent of the population patronized some form of communal feeding operation, so much so that canteen kitchens witnessed a shortage of skilled personnel. The food served to these millions of Germans could not simply just taste good, it needed to be healthy and the recipes needed to always use seasonal ingredients which accorded with the rationing system set by the Reich Food Estate. In essence, the health of the people and the economy was very much in the hands of the cooks working behind the scenes in factory kitchens. Because of this responsibility, the government averred that they needed proper training that would allow them to fulfill the above goals all the while using their artistry to avoid the monotony often found in mass provisioning. As one war ministry food expert told an audience at the seventh annual International Culinary Arts Exhibition in Frankfurt am Main in 1937, “we have no interest in adopting the methods of the giant Soviet industrial kitchens which day in and day out deliver to its people a standar-
59 Cited in Schilling-Voß: Arbeiterernährung, 1937, p. 143. 60 On this issue, see Moeller: German Peasants, 1986; Offer: Agrarian Interpretation, 1989.
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dized soup with a few, paltry alternating add-ins” (mit kümmerlich wechselnden Einlagen).61 To remedy the shortage as well as coordinate all mass provisioning in Germany, the Labor Front leader Robert Ley announced the creation of the Reich Labor Committee for Mass Provisioning (Reichsarbeitsgemeinschaft für Gemeinschaftsverpflegung) in November of 1937. Under the leadership of Hans Feit, a colleague of Ley’s in the Labor Front’s Commerce Office, the Mass Provisioning Committee was a working group that consisted of over thirty offices, agencies, associations, and technical experts connected in any way with food and feeding operations in Germany. The idea was to bring together their vast and diverse experiences with mass provisioning from both the civilian and military sectors so that they could learn from one another. Its main goals were to compile recipes and meal plans, to serve as technical support for canteens, to aid the Reich Food Estate in securing food security through consumption controls, and to “promote meticulous training and educational work”.62 One of the most important actions taken by the committee was to establish the Reich School for Mass Provisioning (Reichsschule für Gemeinschaftsverpflegung) in Frankfurt am Main which offered continuing education courses and vocational training for cooks and chefs working in the industry or wanting to. In coordination with the catering and hotel sectors, the German Labor Front had already in January 1936 opened a school in Frankfurt am Main to train cooks and wait staff. The Reich Cooking and Language School for the Hospitality Industry (Reichskoch- und Sprachenschule für Gaststättengewerbe), as it was called, housed in the beautiful Sommerhof palace, also became the home of the Mass Provisioning Committee. In the typical poly-
61 This came from a speech made by Dr. Wilhelm Ziegelmayer. BAL R36/1275 DAF Gemeindetag: Aus der Arbeit der Reichsarbeitsgemeinschaft für Gemeinschaftsverpflegung. Eine Kundgebung von geschichtlicher Bedeutung, 1937. 62 BAL R36/1275 DAF Gemeindetag: Gemeinschaftsverpflegung. Gründung einer Reichsarbeitgemeinschaft, in: Berliner Börsen-Zeitung, 10.11.1937. The committee also worked very closely with the Beauty of Labor in the “Hot Factory Meals” campaign. See also BAL R36/1275 DAF Gemeindetag: Bericht über die erste Arbeitstagung der Reichsarbeitsgemeinschaft für Gemeinschaftsverpflegung am 25.11.1937, and more generally BAL NSD 50/97: Reichsschule für Gemeinschaftsverpflegung der Deutschen Arbeitsfront, (no date).
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cratic administrative style of the Nazi government, the skilled personnel in the Home Economics Division of the Labor Front’s Women’s Office were also brought in.63 Training programs varied in length depending on experience. A two-month course cost 290 Reichsmarks which included room, board, materials, and accident insurance. A ten-day course was also available for 65 Reichsmarks. On the second floor of the building were sleeping rooms, showers, as well as recreation and reading areas. The first floor contained classrooms, a library, and the teaching kitchen outfitted with the latest in kitchen technology.64 The training programs focused on both practical and theoretical instruction. Not only did they hone their skills in the kitchen, participants were also lectured on dietetics, nutrition and health, food science, cooking science, the food industry, kitchen administration as well as the “duties of a communal cook in the current State”.65 Given the pace at which mass provisioning expanded as a result of the German Labor Front’s activities as well as the outbreak of war in 1939, cooks and chefs had little trouble finding work. In 1944 the Reich Food Estate estimated that no less than twenty-six million people were using communal food services for part or all of their nutritional needs. Of the roughly 43,000 communal feeding sites in Germany, 17,300 were factory canteens (up from 6,500 in 1939) and 19,400 were work camp kitchens.66 It further
63 See the various articles published in Die Deutsche Gaststätte in the winter and spring of 1938. For example (1938) 1 and (1938) 5. See also BAL R36/1275: Aufbau und Zweck der Reichsarbeitsgemeinschaft für Gemeinschaftsverpflegung, 1938. There was also foreign language instruction for wait staff trainees. 64 Aus dem Betrieb der Reichskochschule für das Gaststättengewerbe in Frankfurt a. Main, in: Die Küche, 3 (March 1936), pp. 66-67. 65 BAL NSD 50/97: Reichsschule für Gemeinschaftsverpflegung der Deutschen Arbeitsfront, (no date). 66 According to Beauty of Labor, mass provisioning was not economically viable for factories and businesses with less than fifty employees. Because of this, the Labor Front began pushing Fernverpflegung (catering), wherein the food would be made offsite by a contracted kitchen or restaurant and then delivered in large insulated containers. This was even done for coal miners. There were approximately 2,000 such services in 1944. See, Fernverpflegung: Neue Maßnamen der DAF. Sichern zweckmäßiger Ernährung in den Betrieben, in: Arbeitertum, 22 (1940), pp. 4-5.
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estimated that since the beginning of the war those fed by factory canteens had risen from 1.5 million to 12 million and in the work camps from 1 million to 14 million.67 With these sorts of figures it is obvious that an ever increasing number of qualified personnel were needed as well. To help meet the rising demand for qualified cooks, the German Labor Front employed twenty-five District Teaching Chefs (Gaulehrköche) to provide technical training and support in every region of the country. The number of participants in the courses increased annually, going from 1,280 in 1940 to 4,350 in 1943.68 Despite these impressive figures, a final question remains: was the Beauty of Labor successful in its stated goals?
5. C ONCLUSION The above question is a difficult one to answer given the multiplicity of objectives as well as the many variables outside the Office’s sphere of influence. But the answer must be both yes and no. Beauty of Labor had two clearly stated goals. First, it intended to redress discontent within the working class by raising the standard of living, not by significantly increasing their wages or reducing the long hours, but via improvements in the workplace. Hence it was not through economic means, but rather by propagandistic means. Certainly there is ample evidence to show that tens of thousands of workplace beautification projects were completed. For example, in 1940 alone Beauty of Labor completed 4,332 inspections which led to 2,600 shop floor construction and technical improvements as well as the building of 800 new canteens and recreation rooms, 67 camaraderie houses, 12 gymnasiums, and 22 pools.69 But there is also significant evidence which suggests that the workers were not won over by such chicanery, es-
67 BAL NS 5/VI-4487 DAF: Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Gemeinschaftsverpflegung, in: Zeitungsdienst des Reichnährstandes, 30.11.1944. Compare with Drews: “Nazi-Bohne”, 2004, p. 155. 68 BAL NS 5/VI-4487: Die Gemeinschaftsverpflegung, in: Die Deutsche Sozialpolitik, 2 (1944). See also the cookbook of Gaulehrkoch Novotny: Küchenzettel, 1942. 69 BAL NS 5/VI-6229 DAF: Leistungen des Amtes ‚Schönheit der Arbeit‘, in: Deutsche Bergwerkzeitung, 18.02.1941.
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pecially because expenses were often foisted upon them. Employers trying to cut corners and costs often had employees engaged in “volunteer overtime” after their shifts cleaning up green spaces, painting walls, and completing building projects. Various tactics were used to enlist support, usually by public shaming or the threat of dismissal, but talk of a stint in a concentration camp was known to work well too.70 Despite the potential economic benefits that were to come to factory owners from the improvements, many forced workers to share a burden of the cost by docking their pay. So much so, that already in 1937 lawsuits were flying and a regional court in Duisburg ruled that such salary reductions were illegal. Press releases by the regime repeatedly admonished factory leaders for such actions.71 Beauty of Labor’s second goal with its improvement projects, and above all with its “Hot Factory Meals” program, was to increase worker productivity and morale. Judging irrefutable success or failure here is much more difficult as comprehensive hard data for all industries is lacking. There is certainly much evidence to suggest that attempts to return the “spirit of joy” to work were largely ineffectual. Records from the late 1930s point to widespread discontent exemplified, for example, by the spikes in absenteeism. Berlin’s rearmament factories reported in September 1939 (during the war!) that twenty percent of the workforce did not bother to turn up the day after payday each week. Complaints about refusals to work overtime, poor workmanship, drunkenness, and damaged equipment were quite common. Nearly two hundred small, isolated strikes were reported by authorities over an eighteen-month span (1937/38) as well.72 Even the annual May Day parties and “camaraderie evenings” organized by factory leaders complete with food and drink were increasingly ridiculed and
70 Evans: Third Reich, 2005, p. 475. 71 See for example BAL NS 5/VI-6268 DAF: Es geht nicht auf Kosten der Gefolgschaft. Für ‚Schönheit der Arbeit‘ darf kein Lohn einbehalten werden, in: Frankfurter Volksblatt, 08.10.1937 and Pächter oder Verpächter? Wer trägt die Kosten für ‚Schönheit der Arbeit‘?, in: D.A.K., 2.01.1938. 72 The list of strikes is incomplete, but still telling. On this as well as the forms of worker discontent noted above, see Mason: Workers’ Opposition, 1981, pp. 120-137.
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avoided. Many workers complained that in actuality their Labor Front dues were subsidizing the festivities.73 The recent resurgence of interest in economic history in the last decade further complicates our assessment of Beauty of Labor’s efficacy as long held assumptions about the Nazi war economy are being challenged. It is no longer clear that industrial productivity slumped, or was even headed toward crisis levels in the late 1930s.74 A reinterpretation and quantitative analysis of key sources renders a view of the war economy that was much more stable and continuous than previously thought. If this is true, and so it seems, then the so-called “armament miracle” of Albert Speer does not seem so miraculous after all.75 Does this then mean that the “Hot Factory Meals” program achieved the desired results of increasing worker efficiency? It would be very difficult, probably impossible given the dearth of evidence, to make such a case irrefutably. One detailed study of mass provisioning written in 1941 does give some suggestive evidence from a single district. Of 82,783 factory workers in the seventeen Kreise that comprised the Gau Baden, on average only 17.7 % spent the 35-50 cents required to purchase a meal. This figure, however, includes workers lacking access to hot meals. Of the workers who could patronize canteens, just 41 % took advantage of the opportunity in Gau Baden.76 While it may be difficult to gauge Beauty of Labor’s success in quashing working-class agitation or returning a “joyous” and “ennobling” spirit back into manual labor, the National Socialists clearly expended huge amounts of time and money trying to institute their scientifically-backed nutritional policies and getting Germans to embrace them. Perhaps attempting to label the National Socialist experiment in melding together nutritionism and industrial discipline as a success or failure is to miss the forest for
73 See for example, Deutschland-Berichte der Sopade 5 (1938), entries for April/ May, pp. 464-467. 74 Although these views find their origins in the 1940s, a fierce debate ensued in the 1990s between two British historians. See Overy: War, 1994. For the crisis argument, see Mason: Nazism, 1995. For a recent reassessment, see Tooze: Wages, 2007. 75 Tooze: Miracles, 2005, pp. 439-464; Scherner: Preparation, 2010, pp. 433-468. 76 Walter: Gemeinschaftsverpflegung im Betrieb, 1941, pp. 195-196. The author notes that rural areas often had the fewest patrons.
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the trees. However effective or ineffective the Nazi mass provisioning system was, its significance is without question still considerable. Germany was never starved into submission as it had been in 1918. It was an acute shortage of labor, not sustenance, which severely curtailed industrial production. The Nazi food system thus helped to fuel six long years of war and the death of millions.
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Ertel, Hermann: Die Grundlagen der deutschen Volksernährung. Zugleich ein Überblick über Tagesfragen der Ernährung, Leipzig 1938. Evans, Richard: The Third Reich in Power, New York 2005. Flößner, Otto: Allgemeine ernährungsphysiologische Fragen, in: Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung, ed. Aufklärung! Eine Vortragssammlung, Leipzig 1936, pp. 10-14. Foucault, Michel: The History of Sexuality, New York 1978. Fritz-Adolf Schilling-Voß: Arbeiterernährung und Massenspeisung im Kriege 1914-1918, in: Zeitschrift für Volksernährung, 10 (1937), p. 143. Gerbis, Hermann: Ärztliche Probleme zur Frage der Fabrikspeisung, in: E. Gottschlich, E./Gerbis, Hermann/Reutti, Karl: Fabrikspeisung, Berlin 1930 (Zentralblatt für Gewerbehygiene und Unfallverhütung, supplement 16), pp. 19-38. International Labor Office (ed.): An International Enquiry into Costs of Living: A Comparative Study of Workers’ Living Costs in Detroit (USA) and Fourteen European Cities, Geneva 1931. Jeffries, Matthew: Lebensreform: A Middle-Class Antidote to Wilheminism, in: Eley, Geoff/Retallack, James (eds.): Wilhelminism and Its Legacies. German Modernities, Imperialism, and Meanings of Reform, New York 2003, pp. 91-106. Kamminga, Harmke/Cunningham, Andrew (eds.): The Science and Culture of Nutrition, 1840-1940, Amsterdam 1995. Klemperer, Victor: LTI – Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1975. Kopsch-Rossin, Richard: Warmes Mittagessen oder Stullen, in: Arbeitertum, 11 (1937), p. 6. Krabbe, Wolfgang R.: Gesellschaftveränderung durch Lebensreform, Göttingen 1974. Kretschmer, Walter: Warmes Essen im Betrieb, in: Die Ernährung, 4 (1939) 4, p. 109. Lotz, Wilhelm: Schönheit der Arbeit in Deutschland, Berlin 1940. Mason, Tim: Nazism, Fascism, and the Working Class, Cambridge 1995. Mason, Tim: Workers’ Opposition in Nazi Germany, in: History Workshop Journal, 11 (1981), pp. 120-137. Mayhew, Madeleine: The 1930s Nutrition Controversy, in: The Journal of Contemporary History, 23 (1988) 3, pp. 445-464.
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Moeller, Robert G.: German Peasants and Agrarian Politics, 1914-1924. The Rhineland and Westphalia. Chapel Hill/London 1986. Müller, Lotte/Ziegelmayer, Wilhelm: Auch für wenig Geld eine gute Werksverpflegung. Warmes und billiges Essen in den Betrieben, in: Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung, 8 (1939) 5, pp. 69-71. Neumann, Boaz: The Phenomenology of the German People’s Body (Volkskörper) and the Extermination of the Jewish Body, in: New German Critique, 36 (2009), pp. 149-181. Nothhelfer, Karl/Stolper, Hans: Das Möbelbuch Schönheit der Arbeit, Berlin 1937. Novotny, Alexander: Küchenzettel zur Gemeinschaftsverpflegung in Lager- und Werkskuchen, Berlin 1942. Offer, Avner: The First World War. An Agrarian Interpretation, Oxford 1989. Overy, Richard: War and the Economy in the Third Reich, Oxford 1994. Rabinbach, Anson G.: The Aesthetics of Production in the Third Reich, in: Journal of Contemporary History, 11 (1976) 1, pp. 43-74. Reinhart, Josef (ed.): Nationalsozialistischer Musterbetrieb. Zeitgemäßes, Grundsätzliches, Wegweisendes zum NS-Musterbetrieb, Berlin 1941. Rubner, Max: Volksernährungsfragen, Leipzig 1908. Schäfer, Franz Günther: Die Porzellangeschirre ‚Schönheit der Arbeit‘ (1935-1945). Das Inventar, Marktredwitz 2001. Schein, Hans: Die Werkverpflegung der Arbeiters. Mit besonderer Berücksichtigung der Werkdiätküche, Leipzig 1940. Scherner, Jonas: Nazi Germany’s Preparation for War: Evidence from Revised Industrial Investment Series, in: European Review of Economic History, 14 (2010) 3, pp. 433-468. Sommert, Ernst H.: Warmes Mittagessen im Betrieb. Die Gemeinschaftsverpflegung in der Fieseler-Flugzeugbau Gesellschaft, in: Zeitschrift für Gemeinschaftsverpflegung, 8 (1939) 3, p. 40. Statistisches Reichsamt (ed.): Wirtschaftsrechnungen von 350 Arbeiterhaushaltungen für das Jahr 1937, in: Wirtschaft und Statistik, (1939) 4, pp. 118-126; (1939) 8, pp. 323-329. Steinwarz, Herbert/Mewes, Georg/Simma, Paul: Das Kameradschaftshaus im Betrieb, Berlin 1939. Steinwarz, Herbert: Speiseräume und Küche in gewerblichen Betrieben. Zusammenstellung und Gesamtbearbeitung, Berlin 1942.
„FORT
MIT DER
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Süß, Winfried: Der “Volkskörper” im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945, Munich 2003. Tanner, Jakob: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz, 1890-1950, Zürich 1999. Thoms, Ulrike: Industrial Canteens in Germany, 1850-1950, in: Jacobs, Mark/Scholliers, Peter (eds.): Eating Out in Europe. Picnics, Gourmet Dining, and Snacks Since the Late Eighteenth Century, New York/ Oxford 2003, pp. 351-372. Tooze, J. Adam: No Room for Miracles. German Industrial Output in World War II Reassessed, in: Geschichte und Gesellschaft, 31 (2005) 3, pp. 439-464. Tooze, J. Adam: The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, New York 2007. Treitel, Corinna: Food Science/Food Politics: Max Rubner and ‘Rational Nutrition’ in Fin-de-Siècle Berlin, in: Atkins, Peter J./Lummel, Peter/ Oddy, Derek J. (eds.): Food and the City in Europe since 1800. Burlington, VT, 2007, pp. 51-62. von Hübbenet, Anatol: Das Taschenbuch Schönheit der Arbeit, Berlin 1938. von Liebig, Justus: Animal Chemistry, or Organic Chemistry and its Applications to Physiology and Pathology, London 1842. Walter, Erich: Die Gemeinschaftsverpflegung im Betrieb, PhD Dissertation, Heidelberg 1941. Winckel, Max: Krieg und Volksernährung, Munich 1914. Winckel, Max: Kriegsbuch der Volksernährung, Munich 1915. Wirz, Franz: Nationalsozialistische Forderungen an die Volksernährung, in: Die Ernährung, 1 (1936) 3, pp. 103-112. Ziegelmayer, Wilhelm: Die Kost der Schwerarbeiter, in: Zeitschrift für Volksernährung, 12 (1937), pp. 205-218.
Autorinnen und Autoren
Bächi, Beat, Archiv für Agrargeschichte, Bern [email protected] Studium der Allgemeinen Geschichte, Soziologie und Philosophie an der Universität Zürich, Promotion an der ETH Zürich (Vitamin C für alle! Pharmazeutische Produktion, Vermarktung und Gesundheitspolitik, 19331953, Zürich: Chronos 2009), 2007-2009 Projektmitarbeiter am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, Universität Bielefeld (DFG-Projekt „Regulative Wissenschaft: Gefahrstoffbewertung in Gesundheits-, Arbeitsund Umweltschutz, 1950-1985“), 2009-2011 Co-Leiter der Nachwuchsforschergruppe “Geschichte, Soziologie und Philosophie der Wissenschaften” am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und Post-doc an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS), seit Oktober 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Archiv für Agrargeschichte, Bern (SNF-Projekt „Die agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft im 19./ 20. Jahrhundert“). Bänziger, Peter-Paul, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte FSW, Universität Zürich; [email protected] Studierte Geschichte und Philosophie in Zürich. Nach einem Aufenthalt an der EHESS in Paris und der Promotion zu einem sexualitäts- und mediengeschichtlichen Thema (Sex als Problem. Körper und Intimbeziehungen in Briefen an die „Liebe Marta“, Frankfurt a.M./New York: Campus 2010) war er Lehrbeauftragter an der Universität Zürich und Nachwuchsdozent mit Schwerpunkt „Transformationen der Arbeitswelt“ an der Universität St. Gallen/HSG. Anschließend koordinierte er das Graduiertenkolleg des Zentrums „Geschichte des Wissens“ (ZGW) von ETH und Universität Zürich.
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Im akademischen Jahr 2010/11 war er Gastwissenschaftler am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (WISO) der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Körpergeschichte, die Geschichte therapeutischer Dispositive, die Geschichte des Fordismus sowie die Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaft. Bluma, Lars, Ruhr-Universität Bochum, Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin; [email protected] Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie; 1998: Mitarbeiter des Universitätsarchivs der Ruhr-Universität Bochum (RUB); 1999-2007: Wissenschaftlicher Mitarbeiter/Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Technikgeschichte an der RUB; 2004: Abschluss der Promotion „Norbert Wiener und die Entstehung der Kybernetik im Zweiten Weltkrieg“; 2007-2009: Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Leibniz-Verbundprojektes „Vergangenheit und Zukunft sozialer Sicherungssysteme am Beispiel der Bundesknappschaft und ihrer Nachfolger“ an der Abteilung für „Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin“ an der RUB; seit 2010: DFG-Projekt: „Der Körper des Bergmanns in der Industrialisierung: Biopolitik im Ruhrkohlenbergbau 1890-1980“ an der Abteilung für „Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin“ an der RUB. Cole, Mark B., Edison State College; [email protected] Before his current position as Professor of History at Edison State College, Mark B. Cole was an Assistant Professor of History in the Department of Social Sciences and Criminal Justice at Benedict College (2009-2011). He received his Ph.D. from the University of Florida with a dissertation entitled “Feeding the Volk: Food, Culture, and the Politics of Nazi Consumption 1933-1945” (2011). In 2005 he was a Fellow of the Holocaust Educational Foundation Summer Institute at Northwestern University. His research interests lie in the histories of nutrition, consumption and material culture more generally. Kift, Dagmar, LWL-Industriemuseum; [email protected] Promotion 1989 an der Freien Universität Berlin über „Arbeiterkultur im gesellschaftlichen Konflikt. Die englische Music Hall im 19. Jahrhundert“, Essen 1991, engl.: „The Victorian Music Hall. Culture, Class and Conflict“, Cambridge 1996. Oberkustodin im LWL-Industriemuseum, dort u.a. Pro-
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jektleiterin für die Dauerausstellung des Museumsstandortes Zeche Zollern II/IV in Dortmund (Eröffnung 1999) und des Sonderausstellungsprojektes „Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder“ (2005/06; www.vertreibung-und-wirtschaftswunder.de), derzeit u.a. Mitarbeit am Internetportal FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE (www.frauenruhr geschichte.de). Arbeits- und Publikationsschwerpunkte: Arbeiter-, Jugendund Revierkultur, Bergbau- und Freizeitgeschichte, Migration, Frauen- und Geschlechtergeschichte. Kleinöder, Nina, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf [email protected] 2004-2009: Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Anglistik/Amerikanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; seit 2009: Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Wirtschaftsgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes mit einem Dissertationsprojekt zur Geschichte des deutschen Arbeitsschutzes im 20. Jahrhundert am Beispiel der westdeutschen Schwerindustrie. Linssen, Willemijne, Catholic University Leuven (Belgium) [email protected] Willemijne Linssen is art historian and holds a degree in Conservation of Monuments and Sites (Raymond Lemaire International Centre for Conservation). She studied at the Deakin University of Melbourne (Australia) within the exchange program ‘Sharing our Heritages’ in 2007. After having worked in the architecture office ‘Barbara Van der Wee Architects’ she enrolled in a PhD program at ASRO, Catholic University of Leuven, in 2008. This research project is entitled “Engineering a new world: The role of engineers in Modern Society 1815-1890. A comparative analysis of ‘the engineer’ in Belgium, England, France, Germany (K.U. Leuven Research Fund OT/044/07)”. Luks, Timo, TU Chemnitz, Wirtschafts- und Sozialgeschichte [email protected] 2006-2009: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; DFG-Projekt „Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne“ (Leitung: Prof. Dr.
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Thomas Etzemüller); 2010: Promotion an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg (Der Betrieb als Ort der Moderne. Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010); seit 2009: wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Geschichte der TU Chemnitz, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Prof. Dr. Rudolf Boch). Rainhorn, Judith, Université Lille-Nord de France, Valenciennes/Calhiste Institut universitaire de France; [email protected] Alumnus of the École Normale Supérieure, Judith Rainhorn first examined the history of international migrations and industrial cities in the 19th and 20th centuries (PhD, Université de Tours, 2001). Her recent research includes the history of occupational health and safety and occupational diseases from a transnational perspective. She teaches at the University of Lille-Nord de France (Valenciennes) and is a member of the Institut Universitaire de France. Schnaithmann, Christine, Institut für Kulturwissenschaft, HumboldtUniversität zu Berlin; [email protected] 1999-2007 Studium der Kulturwissenschaft und der Informatik an der HU Berlin; 2007-2008 Zertifikatsstudium „Design Thinking“ am Hasso Plattner Institut (HPI); seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt- Universität zu Berlin; Dissertationsvorhaben zur Wissensgeschichte der Büroarbeit im frühen 20. Jahrhundert am Beispiel von Frank Lloyd Wrights Larkin Administration Building (19061950). Seit 2009 mehrere Lehraufträge an der HPI School of Design Thinking in Potsdam. Schramm, Manuel, Technische Universität Chemnitz, Institut für Europäische Geschichte; [email protected] Studium der Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie; 1999-2002 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 417 der Universität Leipzig; 2002 Promotion an der Universität Leipzig; 2002-2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Technik und der Technikwissenschaften der TU Dresden; 2005-2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der TU Chemnitz; 2007 Habilitation an der TU Chemnitz, seit 2008 Privatdozent an der TU Chemnitz.
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Uhl, Karsten, TU Darmstadt, Institut für Geschichte, Abt. Technikgeschichte; [email protected] Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Psychologie an der Universität Hamburg von 1993 bis 1998; Stipendiat im DFG-Graduiertenkolleg „Geschlechterdifferenz & Literatur“ von 1998 bis 2000; Promotion in Neuerer und Neuester Geschichte an der LMU München 2000 (Das „verbrecherische Weib“. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800-1945, Münster u.a. 2003); Aufbaustudium „Museum & Ausstellung“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg von 2001 bis 2003; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora von 2003 bis 2006; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der TU Darmstadt seit 2007 (Habilitationsvorhaben/DFG-Projekt zur Gestaltung industrieller Arbeitsplätze 1900-1970).
Dank
Der vorliegende Band gibt die Ergebnisse des im Februar 2011 an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführten Workshops „Arbeit – Körper – Rationalisierung: ̘neue Perspektiven zum historischen Wandel industrieller Arbeitsplätze“ wieder. Sowohl die Durchführung des Workshops als auch die vorliegende Publikation konnten nur durch die Mitwirkung mehrerer Institutionen und Personen realisiert werden, denen die Herausgeber herzlich danken möchten. Insbesondere ist hier auf die finanzielle und organisatorische Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Ruhr-Universität Bochum hinzuweisen. Ganz herzlich möchten wir uns bei Nadja Schmitt für ihren kompetenten und unverzichtbaren Einsatz bei der Erstellung der Druckvorlage bedanken sowie bei Arthur Jeger für die Hilfe beim Korrektorat. Unser Dank gilt darüber hinaus auch den Autoren und Autorinnen der einzelnen hier versammelten Beiträge für die lebendige und kritische Diskussion während des Workshops und des anschließenden Veröffentlichungsprozesses. Wir haben den intensiven Gedankenaustausch und die Zusammenarbeit sehr genossen. Lars Bluma Karsten Uhl
Histoire Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden 2010, 502 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1270-7
Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.) Die Bielefelder Sozialgeschichte Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen 2010, 464 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1521-0
Michael Hochgeschwender, Bernhard Löffler (Hg.) Religion, Moral und liberaler Markt Politische Ökonomie und Ethikdebatten vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2011, 312 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1840-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Oliver Kühschelm, Franz X. Eder, Hannes Siegrist (Hg.) Konsum und Nation Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation März 2012, ca. 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1954-6
Anne Kwaschik, Mario Wimmer (Hg.) Von der Arbeit des Historikers Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft 2010, 244 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1547-0
Sarah Zalfen, Sven Oliver Müller (Hg.) Besatzungsmacht Musik Zur Musik- und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914-1949) Juli 2012, ca. 230 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1912-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Thomas M. Bohn, Victor Shadurski (Hg.) Ein weißer Fleck in Europa ... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West
Timo Luks Der Betrieb als Ort der Moderne Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert
2011, 270 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1897-6
2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1428-2
Claudia Dittmar Feindliches Fernsehen Das DDR-Fernsehen und seine Strategien im Umgang mit dem westdeutschen Fernsehen
Michael März Linker Protest nach dem Deutschen Herbst Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des ›starken Staates‹, 1977-1979
2010, 494 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1434-3
Marina Hilber Institutionalisierte Geburt Eine Mikrogeschichte des Gebärhauses April 2012, ca. 380 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2035-1
Petra Hoffmann Weibliche Arbeitswelten in der Wissenschaft Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890-1945
März 2012, ca. 364 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2014-6
Carola S. Rudnick Die andere Hälfte der Erinnerung Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989 2011, 770 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1773-3
Stefanie Samida (Hg.) Inszenierte Wissenschaft Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert
2011, 408 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1306-3
2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1637-8
Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.) Die Transformation der Lager Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen
Anette Schlimm Ordnungen des Verkehrs Arbeit an der Moderne – deutsche und britische Verkehrsexpertise im 20. Jahrhundert
2011, 318 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1179-3
2011, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1828-0
David Kuchenbuch Geordnete Gemeinschaft Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert
Matthias Zaft Der erzählte Zögling Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung
2010, 410 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN 978-3-8376-1426-8
2011, 404 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1737-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de