Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie: Die Westernisierung von SPD und DGB 9783486594539, 9783486566765

Nach 1945 vollzog sich innerhalb der westdeutschen Arbeiterbewegung eine ideelle Neuorientierung, die im größeren Zusamm

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German Pages 538 [535] Year 2003

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Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie: Die Westernisierung von SPD und DGB
 9783486594539, 9783486566765

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Angster Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie •

Ordnungssysteme Studien

zur

Ideengeschichte der Neuzeit

Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 13

R.

Oldenbourg Verlag

München 2003

Julia

Angster

Konsenskapitalismus

und Sozialdemokratie Die

Westernisierung von SPD und DGB

R. Oldenbourg Verlag München 2003

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfenfonds Wissenschaft der VG Wort

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2003 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: Oldenbourg Graphische Betriebe, Druckerei GmbH München ISBN 3-486-56676-8

Inhalt Vorwort.

9

Einleitung. 1. Zu Fragestellung und Zielsetzung. 2. Zu Forschungsstand und Quellenauswahl. 3. Zum Vorgehen.

11 15 22 32

I.

Gesellschaftsbild und Politikverständnis der deutschen und amerikanischen Arbeiterbewegung. 1. Das ideelle Erbe der deutschen Sozialdemokratie bis 1933. 2. Die politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschafts-

bewegung

.

Konsensliberalismus: Die Wertewelt der amerikanischen Gesellschaft bis in die 1950er Jahre. b. Konsenskapitalismus: Die amerikanischen Gewerkschaften

39 46 59

a.

60

im Konsensliberalismus.

71

II. Die Entstehung des transnationalen Netzwerks nach 1945. 1. „To reconstruct the thinking of the European people": Die amerikanischen Gewerkschaften im Kalten Krieg. a. Amerikanische Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg b. Außenpolitische Ziele der AFL und des CIO. 2. Institutionen gewerkschaftlicher Außenpolitik. a. Außenpolitische Institutionen bei AFL und CIO. b. Internationale Gewerkschaftsorganisationen. c. Zusammenarbeit mit Regierungsbehörden. 3. „The finest labor network in Europe": Reichweite und Struktur der transnationalen Netzwerke. a. Zur geographischen Ausdehnung der Netzwerke. b. Zur Struktur der Netzwerke. c. Zur Analyse der Netzwerke.

99

..

III. AFL/CIO und die Westdeutsche Arbeiterbewegung 1945-1952 1. Die Politik der AFL und des CIO im besetzten Deutschland. a.

...

...

Gewerkschaftspolitik.

b. Erwartungen an die Sozialdemokratie. 2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen a. Selbstverständnis und Ziele der SPD. b. Selbstverständnis und Ziele der westdeutschen .

.

Gewerkschaften.

101 102 112 123 124 139 147 164 164 172 174 179 180 185 207 211

215 223

Inhalt

3.

„Eine Maschinerie uns aufbauen": Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks in Westdeutschland 1945-1952 a. Offizielle Beziehungen und informelles Netzwerk. b. Wurzeln des deutsch-amerikanischen Netzwerks im Exil

....

233 234 252

...

Zeitlicher Schnitt: Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949. 1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren: Splittergruppen, Widerstand und Spanien. a. Sozialistischer Dissens in der Weimarer Republik: die 1920er Jahre. b. Widerstand gegen den Nationalsozialismus und Abkehr vom Kommunismus: die 1930er Jahre. 2. Wertewandel durch die Erfahrungen des Exils 1939 bis 1945 a. Die Annäherung der deutschen sozialistischen Gruppen im Exil. b. Der Einfluß der Erfahrungen in den Gastländern. aa. Beziehungen zu den Organisationen der britischen ..

Arbeiterbewegung.

bb. Die Wirkung auf die deutschen Exilanten in Großbritannien. cc. Exilerfahrungen in den USA. dd. Exilerfahrungen in Skandinavien. c. Fazit. 3. „Nie wieder Weimar": Die Remigration und der Weg in die SPD 1945-1949.

Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957. 1. Die Reformer in DGB und SPD: Rahmenbedingungen, Streitfragen und Flügelbildung 1949-1956. a. DGB b. SPD. .

271 272

273 284 291 293 302 304 317 327 334 339 341

353 355 355 360

2. „Closer teamwork": Der Ausbau des Netzwerks bis zur Partnerschaft. 3. „Verlernen und lernen": Die Umorientierung der AFL um

369

1953/54.

379

4. Der Zehnerkreis: ein Reformernetzwerk zwischen Partei und Gewerkschaften. a. Arbeitsweise und Ziele des Kreises bis 1956. b. Der Zerfall des Zehnerkreises.

398 400 410

Inhalt

VI. Das

7

Ergebnis: Die Reformprogramme von SPD und DGB

1957-1963. 1. Das

1959. Godesberger Programm 2. „Remnants of old-fashioned thinking": Der Streit um Reformen im DGB und das Düsseldorfer Programm von 1963. Der Zerfall des Netzwerks. 3. von

415 415 430 451

Schluß.

467

Anhang.

473

Kurzbiographien.

473

Abkürzungsverzeichnis.

477

Quellenverzeichnis.

480

Literaturverzeichnis.

484

Register.

527

Meinen Eltern

Vorwort Dieses Buch geht auf die Erfahrungen zurück, die ich während eines längeren Aufenthalts in England gemacht habe. Zum einen stellte ich fest, daß die Ideenwelten der Deutschen und der ,Angelsachsen' nicht dieselben sind. Und zum andern erlebte ich bei meiner Rückkehr, wie sehr sich meine eigenen Wertvorstellungen inzwischen verändert hatten. So leuchtete mir, als ich später in Tübingen auf die ,Westernisierungsforschung' stieß, deren Fragestellung nach der ideellen Annäherung zwischen Deuschland und ,dem Westen' spontan ein: mein Thema war gefunden. Daß daraus nun ein Buch geworden ist, verdanke ich einer ganzen Reihe von Personen, von denen hier nur einige genannt werden können. Allen voran meinem Doktorvater, Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel, aus dessen ,Westernisierungs-Projekt' die Arbeit in zweiter Generation stammt und der sie von ihren Anfängen bis zur Drucklegung mit einer für mich notwendigen Mischung aus zuversichtlicher Distanz und engagiertem Interesse begleitet hat. Unter seiner Betreuung entstand die Dissertation, aufgrund derer mich die Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Jahr 2000 promovierte und die mit dem Promotionspreis der Universität ausgezeichnet wurde. Ihre überarbeitete Fassung liegt diesem Buch zugrunde. Zu danken habe ich zudem Prof. Dr. Lutz Raphael, dessen kluge Kritik den Weg von der Dissertation zum Buch begleitet hat. Mein Dank gilt ebenso Prof. Dr. Dietrich Beyrau, dem die Studie viel verdankt. Prof. Dr. Claus-Dieter Krohn möchte ich für die stete Ermutigung und Förderung danken. Er hat, wie auch Dr. Patrik von zur Mühlen, Prof. Dr. Axel Schildt sowie PD Dr. Marita Krauss, Dr. Hartmut Mehringer und Dr. Werner Röder, dazu beigetragen, daß aus einer Geschichte der westdeutschen Gewerkschaften ein Beitrag zur Remigrationsgeschichte geworden ist. Daß es dabei auch eine Arbeiterbewegungsgeschichte geblieben ist, ist Prof. Dr. Klaus Schönhoven zu verdanken. Prof. Dr. Susanne Miller und Fritz Heine, die mir bereitwillig Auskunft gegeben haben, bin ich ebenso zu Dank verpflichtet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Archivs der sozialen Demokratie und des DGB-Archivs bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn sowie der George Meany Memorial Archives in Silver Spring, Maryland, haben sich mit großem Engagement meiner Sache angenommen. Stellvertretend für alle sei hier Wolfgang Stärcke, Klaus Mertsching und M. Lee Sayrs für ihre Hilfe gedankt. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mein Studium und einen Teil meiner Promotion auf vielfache Weise unterstützt. Dem German Marshall Fund of the United States danke ich für die Finanzierung eines Archivaufenthaltes in den USA. Die VG WORT hat die Drucklegung der Arbeit ermöglicht, wofür ich mich herzlich bedanken möchte.

10

Vorwort

Besonderer Dank gebührt den Kolleginnen und Kollegen am Seminar für Zeitgeschichte in Tübingen, die über viele Jahre hinweg fachliche Anregung und persönlichen Rückhalt geboten haben, ungeachtet der Überdosis an .Westernisierung', die sie im Laufe der Zeit zu ertragen hatten. Vor allem Dr. Michael Hochgeschwender sei hier genannt, von dem ich mehr gelernt habe, als ich wiedergeben kann; er, Heinz Angster, Dr. Gabriele Metzler, Katharina Thoms, Ariane Leendertz und Marco Schrof haben zudem die mühselige Arbeit des Korrekturlesens auf sich genommen. Julia Schreiner vom Oldenbourg Verlag habe ich zu danken für die gründliche Durchsicht, die dem Manuskript sehr zugute gekommen ist. Die Fehler dieses Buches habe ich jedoch allein zu verantworten.

Die zum

Hauptlast getragen aber hat Martin Große Hüttmann, dessen Beitrag Gelingen dieser Studie mit keiner Fußnote aufgewogen werden kann all

losses are restored, and sorrows end. Meine Eltern schließlich haben mich auf fremde Länder und vergangene Zeiten erst neugierig gemacht und mir dann die Reisen dorthin ermöglicht. Auch meine Beziehung zu Büchern haben sie zu verantworten. Dieses ist ihnen aus ganzem Herzen gewidmet. -

Tübingen, im Januar 2003

Einleitung Aber es gibt [neben dem Wirtschaftswunder, J.A.] ein noch größeres deutsches Wunder der Nachkriegszeit. Über dieses Wunder wird nicht genug gesprochen, obgleich es, langfristig gesehen, für die Welt als Ganzes noch bedeutsamer ist. Ich denke an das geistige, moralische und politische Wiedererwachen, an die Wiedergeburt und das Erstarken der Demokratie in Deutschland nach zwölf Jahren der Dunkelheit und des Schreckens der Nazi-Diktatur. Auch hier sind wir von der amerikanischen Arbeiterbewegung stolz darauf, unseren deutschen Kollegen geholfen zu haben. -

George Meany1)

Die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zu einer stabilen parlamentarischen Demokratie mit einer liberal-demokratischen und pluralistischen Gesellschaftsordnung ist das zweite, ja das eigentliche Wunder der westdeutschen Nachkriegszeit. Im Gegensatz zum sogenannten Wirtschaftswunder der frühen 1950er Jahre hat es jedoch im öffentlichen Bewußtsein und auch in der historischen Forschung bis heute nur wenig Beachtung gefunden. Dabei war diese Entwicklung mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes keineswegs abgeschlossen und war auch danach kein Selbstläufer. Sie wurde vielmehr im Laufe der 1950er und 1960er Jahre von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen aktiv herbeigeführt. Eine davon war die Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik. SPD und Gewerkschaften durchliefen zwischen Anfang der 1940er und Mitte der 1960er Jahre einen fundamentalen Wandel ihres politischen Denkens, zu dem tatsächlich wie es der Präsident des amerikanischen Gewerkschaftsbunds AFL-CIO, George Meany, formuliert hat die amerikanische Arbeiterbewegung ihren Teil beigetragen hat. In ihrem Godesberger Programm von 1959 vollzog die SPD den Schritt von der proletarischen Klassen- und Weltanschauungspartei zur linken Volkspartei. Aus einer Systemopposition, die der bestehenden Gesellschaftsordnung zumindest in der Theorie ablehnend gegenüberstand, wurde eine Partei, die sich als legitimen Bestandteil der Gesellschaftsordnung und des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland betrachtete und entschlossen war, ihre Interessen und ihre Politik innerhalb des parlamentarischen Systems selbstbewußt zu vertreten.2) Im Düsseldorfer Programm des DGB von 1963 -

-

') Presseerklärung des Präsidenten des amerikanischen Gewerkschaftsbundes AFL-CIO, George Meany, aus Anlaß der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband durch Bundeskanzler

Adenauer, Bonn, 7. Dezember 1959, DGB-Archiv, Bestand 24/614. 2) Kurt Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin-Bonn 1982; Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin-Bonn 1984, S. 13.

12

Einleitung

kam zum Ausdruck, daß sich die westdeutschen Gewerkschaften nun nicht mehr als antikapitalistische ,Gegenmacht',3) sondern als Interessenverbände der Arbeitnehmerschaft innerhalb der marktwirtschaftlichen Ordnung verstanden, deren Aufgabe es war, mit den nicht weniger legitimierten Interessenvertretern der Arbeitgeberschaft zu verhandeln. Man war zu Tarifpartnern geworden. Partei wie Gewerkschaften erkannten die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik vorbehaltlos an, machten sie zur Grundlage ihrer politischen Arbeit und verzichteten, in Abkehr von ihren sozialistischen Traditionen seit den 1860er Jahren, auf das langfristige Ziel einer sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Die Sozialdemokratie machte vielmehr den marktwirtschaftlichen Wettbewerb und das Privateigentum an Produktionsgütern zur Grundlage ihrer wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Soziale Gerechtigkeit sollte nun erreicht werden, indem durch erhöhtes Wachstum und gesteigerte Effizienz Wohlstand erwirtschaftet und verteilt würde. Dies war ein deutlicher Bruch mit den sozialistischen Traditionen seit dem Kaiserreich, die auch beim Wiederaufbau der Arbeiterbewegung in Westdeutschland nach 1945 prägend gewesen waren: SPD wie DGB waren noch Anfang der 1950er Jahre davon überzeugt, daß Kapitalismus mit Demokratie unvereinbar und daß ein solches Wirtschaftssystem Beweis für eine fehlende demokratische Entwicklung sei. Beide strebten daher eine Sozialisierung der Schlüsselindustrien, staatliche Planung und Lenkung der Wirtschaft sowie wirtschaftliche Mitbestimmung der organisierten Arbeitnehmerschaft an. Politische Demokratie müsse durch wirtschaftliche Demokratie ergänzt werden, denn die Befreiung der Menschen von ökonomischer Abhängigkeit sei die Voraussetzung für politische Freiheit. Sozialismus setze Demokratie und Freiheit voraus, aber umgekehrt beruhten Demokratie und Freiheit auch auf Sozialismus. Die Wirtschafts- wie die Gesellschaftsordnung müßten, hier waren sich Partei und Gewerkschaften vollkommen einig, grundlegend reformiert werden. Dahinter standen Grundvorstellungen von Politik und vom Staat, von der Gesellschaft und von der Rolle des Individuums in dieser Gesellschaft, die man als .traditionell deutsch' bezeichnen könnte:4) Interessenkonflikte verhinderten nach diesem Verständnis die gesellschaftliche Harmonie, die von beiden Seiten angestrebt wurde. Von der Arbeiterbewegung wurden sie als Klassenkampf erlebt. Ein freies Spiel der Kräfte, der Wettbewerb von Gütern und Meinungen auf dem Markt wurde ebenso wie der Individualismus als Vereinzelung und Vermassung', als Verlust von Zugehörigkeit und Verläßlichkeit erlebt und abgelehnt. Die Arbeiterbewegung lehnte daher die Marktwirtschaft ab und stellte ,

3)

Eberhard Schmidt:

Ordnungsfaktor oder Gegenmacht.

schaften, Frankfurt/M. 1971.

4)

Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in

Die

politische Rolle der Gewerk-

Deutschland, München 1965.

Einleitung

13

ihr das Konzept der Solidarität, also der Interessenidentität innerhalb der Klasse entgegen. In einer sozialistischen Gesellschaft würden Interessenkonflikte und Klassengegensätze aufgehoben sein. Die Freiheit des einzelnen wäre Freiheit im, nicht aber vom Kollektiv. Dem Staat war auf diesem Wege eine zentrale Rolle als Ordnungsfaktor zugedacht. Er hatte die Wirtschaft zu lenken und die sozialistische Ordnung einzuführen. An die Stelle dieser traditionellen Vorstellungen des deutschen Sozialismus traten nun westeuropäisch-atlantische Wertvorstellungen und Ordnungskonzepte: Das Godesberger Programm dachte nicht mehr in den Kategorien des Klassenkampfs, sondern verstand die Gesellschaft als ein Gefüge, das sich aus konkurrierenden und in Verbänden organisierten Interessen zusammensetzt. Zudem trat das Individuum als geschichtliches Subjekt und als Nutznießer des Fortschritts an die Stelle des Kollektivs. Die SPD verstand sich jetzt als eine „Gemeinschaft von Menschen, die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen. Ihre Übereinstimmung beruht auf gemeinsamen sittlichen Grundwerten und gleichen politischen Zielen" (Godesberger Pro-

gramm).

Dieser Prozeß der ,ideellen Westorientierung' der westdeutschen Arbeiterbewegung war um 1960 abgeschlossen und hat immense Auswirkungen auf ihre Politik gehabt und, so möchte man meinen, auch auf die Entwicklungschancen der westdeutschen Demokratie. Denn das Ende des Nationalsozialismus in der Katastrophe, das Ende deutscher Staatlichkeit, die deutsche Teilung und die Besatzungspolitik der Siegermächte stellten zwar eine Zäsur im Bereich des politischen Systems und einen tiefen Bruch für das Selbstverständnis der Deutschen dar. Für die Ebene der Wertvorstellungen und der Ordnungskonzepte jedoch war mit dem Grundgesetz nicht mehr als der Rahmen geschaffen worden, ein stabiler zwar, aber einer, den es noch auszufüllen und zu beleben galt. Ebenso war die Bundesrepublik mit der Integration in das politische, militärische und wirtschaftliche Bündnissystem des Westens noch kein verläßliches Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft geworden. Letzteres war eine Frage der gesellschaftlichen Entwicklung, und die ließ sich nicht einfach von oben dekretieren oder von außen oktroyieren. Der Weg zu einer westlich-liberalen und pluralistischen deutschen Gesellschaft war kein Selbstläufer, sondern ein langwieriger und komplexer Prozeß, der in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und auf verschiedenen Ebenen teils parallel, teils zeitversetzt ablief und dessen Folgen sich ab etwa 1960 zu manifestieren begannen. SPD und DGB vollzogen diesen Wandel einerseits reaktiv mit, wirkten andererseits aber auch, jedenfalls seit Ende der 1950er Jahre, als aktive Protagonisten einer ideellen Westorientierung in ihrer Gesellschaft. Das Ergebnis schließlich war ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel, dessen Bilanz Jürgen Habermas zum vierzigjährigen Bestehen der Bundesrepublik zog: „Wir sind zum ersten Mal ein halbwegs normaler Bestandteil der westlichen Staatengemeinschaft geworden. Freilich", so fuhr er fort, „hat sich

14

Einleitung

dieser Prozeß zunächst ökonomisch und politisch, später in Ansätzen auch kulturell vollzogen."5) Die Westdeutschen leisteten jedoch, so die Grundannahme dieser Studie, diesen gesellschaftlichen Wandel nicht aus sich selbst heraus. Die Bundesrepublik stand nicht in einem nationalen Vakuum. Sie entwickelte sich zu einer westlichen Gesellschaft vielmehr durch die „natürliche Hybridität von Gesell-

schaften", durch „Bewegungen und Beziehungen" zwischen der eigenen und den Gesellschaften anderer Länder.6) Gerade der Prozeß des Umdenkens in SPD und DGB von traditionell deutschen sozialistischen Positionen hin zu angelsächsisch-westlichen Ordnungsvorstellungen ist ein Beispiel für transnationale Gesellschaftsgeschichte' und damit für .internationale Geschichte'.7) Denn der .Weg nach Godesberg', die Hinwendung der deutschen Sozialdemokratie in Partei und Gewerkschaften zu westlichen Wertvorstellungen verdankt sich den Erfahrungen deutscher Sozialdemokraten und Gewerkschafter mit den Gesellschaften, vor allem den Arbeiterbewegungen, anderer Länder. Eine ganze Reihe von Funktionären hatte in den Jahren des Exils die Wertvorstellungen und die politische Kultur anderer Länder kennengelernt, manche hatten sie sich auch zu eigen gemacht. Nach Kriegsende wiederum engagierten -

-

5) Jürgen Habermas:

Interview mit Barbara Freitag [1989], abgedr. in: Ders.: Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften, Bd. VII, Frankfurt/M. 1990, S. 99-113, hier S. 99. Siehe zur Bewertung dieser Entwicklung Axel Schildt: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1999; Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 127-134. Für die Kritik an der „Ankunfts-Erzählung": Klaus Naumann: Reden wir endlich vom Ende! Das Ancien régime der Zeitgeschichte bleibt von der Gegenwart ungerührt: Sie kennt nur den Erfolg der Bundesrepublik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. August 2001; vgl. Ders., Hg.: Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001. Vgl. auch Dan Diner: Wird die Bundesrepublik ein westliches Land? Vom Umgang mit deutschen Zäsuren und Kontinuen. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/1995. S. 544—553. Zugleich liegt hier aber eine Ursache für die Schwierigkeiten des deutsch-deutschen .Zusammenwachsens', denn die Gesellschaft der DDR hat diese Entwicklung nicht mitgemacht. Ob sie allerdings „traditionell deutsch" geblieben ist oder eine Angleichung an die Wertewelt Osteuropas oder der Sowjetunion durchlaufen hat, muß solange offen bleiben, wie es an ideengeschichtlichen Studien zur DDR fehlt. Siehe Konrad Jarausch/Hannes Siegrist, Hg.: Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945-1970, Frankfurt/M.-New York 1997, S. 11-^16. 6) Jürgen Osterhammel: Transnationale Gesellschaftsgeschichte: Erweiterung oder Alternative?, in: GG, 27/2001, S. 464-479, hier S. 469. 7) Osterhammel: Transnationale Gesellschaftsgeschichte, S. 471^-77; Wilfried ¿of/i/Jürgen Osterhammel, Hg.: Internationale Geschichte. Themen Ergebnisse Aussichten, München 2000, hier insbesondere die Einleitung Wilfried Loths, S. VII-XIV. Vgl. für den Begriff aus Sicht der Politikwissenschaft: Robert Keohane/Joseph Nye, Hg.: Transnational Relations and World Politics, Cambridge, Mass. 1971. transnational' soll im weiteren gebraucht werden, um, in Anlehnung an Keohane/Nye, auszudrücken, daß Beziehungen zwischen Gesellschaften bzw. zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden gemeint sind, im Gegensatz zu denjenigen zwischen Regierungen auf der Ebene des internationalen Staaten-

-

systems.

-

-

1. Zu

15

Fragestellung und Zielsetzung

sich die amerikanischen Gewerkschaften in Westeuropa und in Westdeutschland. Ihr Ziel war es, die westeuropäischen Arbeiterbewegungen als Partner in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zu gewinnen und sie in eine westliche Wertegemeinschaft zu integrieren. In der westdeutschen Arbeiterbewegung fanden sie Partner, die dieses Interesse teilten. Die westlich orientierten Reformer in Partei und Gewerkschaften, von denen viele aus dem Exil zurückgekehrt waren, kooperierten mit den Vertretern der amerikanischen Gewerkschaftsbünde. Ihr gemeinsames Ziel war es, westliche Werte in SPD und DGB mehrheitsfähig zu machen und eine Reform in deren Programmatik und Politik durchzusetzen. Mit den Programmen von Bad Godesberg und Düsseldorf hatten sie 1959 bzw. 1963 dieses Ziel erreicht.

1. Zu

Fragestellung und Zielsetzung

Diese Studie fragt danach, inwiefern sich das Umdenken in SPD und DGB ideellen oder, wenn man so will, kulturellen Einflüssen aus anderen Gesellschaften verdankt. Wie muß man sich eine solche Beeinflussung vorstellen, und wie kann man sie nachweisen? Welche Wege und Mechanismen gibt es, auf denen ,Ideen' den Weg aus der einen in die andere Gesellschaft finden, wer sind die Protagonisten und welche Motive haben sie? Wie wirken sich die neuen Vorstellungen aus? Um diese Fragen zu beantworten, wird hier mit dem Konzept der Westernisierung' gearbeitet.8) Dieses Konzept geht auf ein Tübinger Forschungsprojekt zur, Westernisierung' zurück, das von der Vblkswagenstiftung gefördert wurde und aus dem drei Studien hervorgegangen sind.9) Westernisierung meint die ,

8) Doering-Manteujfei:

Wie westlich sind die Deutschen? Ders.: Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Axel Schildt/Detief Siegfried/Kau Christian Lammers, Hg.: Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311-341 ; Alfons Söllner: Normative Verwestlichung. Der Einfluß der Remigranten auf die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, in: Heinz Bude/Bernd Greiner, Hg.: Westbindungen: Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 72-92. Die Wahl des Begriffs geht ursprünglich zurück auf: Theodore H. von Laue: The World Revolution of Westernization. The Twentieth Century in Global Perspective, New York-Oxford 1987. 9) Alle drei sind in der Reihe .Ordnungssysteme' im Oldenbourg Verlag erschienen. Michael Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für Kulturelle Freiheit und die Deutschen (Bd. 1), München 1998: Thomas Sauer: Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises (Bd. 2), München 1999; Gudrun Kruip: Das ,Welt'-,Bild' des Axel Springer Verlages. Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen (Bd. 3), München 1999. Für eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse und eine Gegenüberstellung der Konzepte .Amerikanisierung' und .Westernisierung' siehe außerdem: Doering-Manteujfei: Wie westlich sind die Deutschen?

16

Einleitung

Herausbildung einer gemeinsamen Werteordnung in den westeuropäisch-atlantischen Gesellschaften und gemeinsamer politisch-ideeller Denkmuster über

Ordnung der Gesellschaft. Der ,Westen' entwickelte im frühen Kalten Krieg eine gemeinsame Ideologie, die als antitotalitärer Gegenentwurf dem Kommunismus und seinem Anspruch auf weltweite Geltung begegnen sollte.

die

Die USA übernahmen dabei die Rolle des Hegemons im westlichen Bündnis, und zwar auch in kultureller Hinsicht:10) Die amerikanische Regierung verfolgte seit Ende der 1940er Jahre das Ziel, eine homogene westliche Werteordnung zu schaffen und zu verbreiten, um das westliche Bündnis zu stärken und so die USA und ihre Gesellschaftsordnung gegen die Bedrohung durch den totalitären Gegner absichern zu können. Die eigenen Werthaltungen und das eigene Ordnungssystem wurden für universal gültig erachtet. Erst die Systemkonkurrenz des Kalten Krieges aber ließ sie zu einem geschlossenen Denkgebäude werden und führte zum ernsthaften Versuch, sie in den Gesellschaften anderer Länder zu verbreiten. Im Unterschied zur Amerikanisierung") handelte es sich bei der Westernisierung aber nicht um einen Transfer von den USA nach Europa, auch wenn Amerikaner dabei eine wichtige Rolle spielten, sondern um eine gemeineuropäisch-atlantische Annäherung, deren Protagonisten Europäer waren. Diese Entwicklung steht in einem längeren Zusammenhang europäisch-amerikanischer Austauschbeziehungen seit dem späten 18. Jahrhundert, die bis nach dem Ersten Weltkrieg vor allem von Europa in Richtung Vereinigte Staaten verliefen. Sie steht in der Kontinuität gesamtwestlicher ideeller Entwicklungen, von denen sich das Deutsche Reich erst nach 1871 bewußt abgegrenzt hatte. Nach 1945 wurde (West-)Deutschland in die sich im beginnenden Kalten Krieg rasch formierende politisch-ideologische Wertegemeinschaft des Westens integriert.

Iü) Siehe hierzu: Julia Angster: „Safe By Democracy". American Hegemony and the Westernization of West German Labor, in: Bernd W. Kubbig, Hg.: Toward a New American Century? The US Hegemon in Motion, in: Amerikastudien/American Studies, 46/2001, S. 557-572. ") Für die .Amerikanisierung' siehe als aktuellen Forschungsüberblick: Philipp Gassert: Amerikanismus, Antiamerikanismus, Amerikanisierung. Neue Literatur zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des amerikanischen Einflusses in Deutschland und Europa, in: AfS, 39/1999. Außerdem: Anselm Doering-Manteuffel: Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft, in: AfS, 35/1995, S. 1-34. Für das Verhältnis von Amerikanisierung und Westernisierung siehe: Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen?, sowie Julia Angster: The Westernization of the German Labor Movement. Cultural Transfer and Transnational Network Politics in the 1940s and 1950s (Ms.). Zum Konzept der Amerikanisierung siehe als knappe Auswahl: Bude/Greiner: Westbindungen; Jeffrey Pack: Multiculturalism in Transit. A German-American Exchange, Providence 1998; Jarausch/Siegrist: Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland; Richard H. Pells: Not Like Us. How Europeans Have Loved, Hated, and Transformed American Culture Since World War II, New York 1997; Alf LUdtke/lnge MarssolekJAde\heid von Saldern: Amerikanisierung. 1996.

Traum und

Alptraum

im Deutschland des 20. Jahrhunderts,

Stuttgart

1. Zu

Fragestellung und Zielsetzung

17

Bundesrepublik der 1940er bis 1960er Jahre meint Westernisierung entsprechend die Verbreitung angelsächsisch-westlicher Werte in der Gesellschaft dazu gehören ein pluralistisches Gesellschaftsbild, ein Politikverständnis auf der Grundlage des angelsächsischen Liberalismus und des Pragmatismus, der Schutz der Rechte des Individuums vor dem Staat sowie des Privateigentums. Die Westernisierung vollzog sich in der Bundesrepublik in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft und in jeweils unterschiedlicher Geschwindigkeit. Verschiedene gesellschaftliche und politische Gruppen waren daran beteiligt, vor allem meinungsbildende Eliten, Intellektuelle und Innerhalb der

-

Publizisten oder Funktionäre in Parteien und Verbänden. In den Studien des ,Westernisierungs-Projekts' wurde deutlich, daß die Westdeutschen auf das Werteangebot des Westens, das sich zunächst durch direkte Vorgaben in der Besatzungszeit, in den 1950er Jahren aber vielgestaltiger und subtiler präsentierte, sehr unterschiedlich reagierten: Neben strikter Ablehnung, die seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend schwieriger durchzuhalten war, da sie einen dem Verdacht aussetzte, unmodern zu sein, finden sich mehrere Varianten des Umgangs mit den neuen Vorstellungen: einmal gab es jene, die als treibende Kraft wirkten und aktiv mit großem Engagement versuchten, westliche Konzepte durchzusetzen; dann jene, die versuchten, das Neue im Gewand eigener, deutscher Traditionen zu sehen, womit sie nolens volens der Verbreitung westlicher Ideen Vorschub leisteten, da sie so leichter akzeptabel erschienen; und schließlich jene, die sich der Entwicklung zumindest der Form nach anpaßten, sobald offensichtlich wurde, daß sie nicht aufzuhalten war.12) Meine Studie zur Rolle der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung13) im Prozeß der ideellen Westorientierung der Bundesrepublik knüpft an die Fragestellung und die Herangehensweise des ,Westernisierungs-Projekts' an und versucht, sie fortzuentwickeln. Die westdeutsche Arbeiterbewegung stand wie die anderen nichtkommunistischen Arbeiterbewegungen in Westeuropa auch zwischen 1945 und Anfang der 1960er Jahre in regem Kontakt zur amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, die sich darum bemühte, die nichtkommunistischen Arbeiterbewegungen im Westen in eine Wertegemeinschaft zu integrieren. Die amerikanischen Gewerkschaften bildeten ein weltweites Netzwerk von Beziehungen aus, dessen Schwerpunkt zwischen 1945 und etwa 1965 auf Westeuropa gelegt wurde. Sie unterhielten zu diesem Zweck eigene außenpolitische Abteilungen und Organisationen, die bis in die frühen 1970er Jahre bestanden. Ihre Partner in diesem Netzwerk waren Sozialdemokraten sowie antikommunistische Sozialisten und Gewerkschafter, welche die Ziele -

-

12) So die Ergebnisse der Projektstudien, vgl. die Zusammenfassung bei Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen? 13) Die christliche Gewerkschaftsbewegung bleibt in dieser Studie außen vor, es geht nur um

Sozialdemokraten in Partei und Gewerkschaften.

18

Einleitung

ihrer US-Kollegen teilten oder diese Kontakte nutzten, weil sie ihren eigenen Interessen dienlich waren. In der Arbeiterbewegung finden sich die frühesten und engagiertesten prowestlichen Kräfte in der Bundesrepublik. Unter den Funktionären in SPD und DGB lassen sich aktive Träger westlichen Denkens ausmachen, denen die Möglichkeit gegeben war, ihre Vorstellungen auch in politisch und gesellschaftlich relevantes Handeln zu übersetzen. Bei ihnen lassen sich vor allem die Motive der deutschen ,Westernisierer' und ihre ideelle Entwicklung von den 1920em bis in die 1960er Jahre sehr klar herausarbeiten, so daß das Sender-Empfänger-Modell' der Amerikanisierungsforschung, die den Deutschen nur die Rolle der Umsetzung amerikanischer Wertvorgaben zugesteht, relativiert werden kann,14) und statt dessen die westdeutschen Protagonisten der Westernisierung und ihre eigenständigen politischen Zielsetzungen ein stärkeres Eigengewicht erhalten. Die deutschen ,Westernisierer' in Sozialdemokratie und Gewerkschaften hatten jedoch zuvor selbst einen Wertewandel durchlaufen, und zwar durch die „Erfahrung der Fremde"15) in der Zeit des Exils. Sie hatten eigene Denktraditionen durch politische Vorstellungen des Westens ergänzt oder ersetzt, sie brachten englische, skandinavische oder amerikanische Gesellschaftskonzepte und Politikbegriffe in die Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung ein. Die Westernisierung der deutschen Arbeiterbewegung, die sich zwischen Mitte der 1930er und Mitte der 1960er Jahre hinzog, nach 1949 jedoch nur deren westdeutschen Teil erreichte, ist also durch einen Prozeß des interkulturellen Transfers zwischen den Arbeiterbewegungen bzw. Gesellschaften vor allem des angelsächsischen Westens und Deutschlands zustande gekommen. „Interkultureller Transfer"16) meint dabei nicht den Transfer von Kultur, son,

14) Vgl. etwa die Perspektive von: Reinhold Wagnleitner Coca-Colonization und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, Wien 1991; aber auch die Tendenz in: Michael Ermarth, Hg.: America and the Shaping of German Society, 1945-1955, Providence-Oxford 1993; Reiner Pommerin, Hg.: The American Impact on Postwar Germany, Providence-Oxford 1995; Volker R. Berghahn: The Americanization of West German Industry, 1945-1973, Oxford 1986. Dagegen allerdings: Pells: Not Like Us.

15) Manfred ßriege/AVolfgang Frühwald, Hg.: Die Erfahrung der Fremde. Kolloquium des Schwerpunktprogramms „Exilforschung" der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Forschungsbericht, Weinheim u.a. 1988. Erfahrung wird hier und im folgenden als .reflektiertes

Erlebt Haben' verstanden. Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1980

(amerik. Orig. 1966).

16) Zum Begriff des interkulturellen Transfers siehe: Michel Espagne/Michae\ Werner: Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze, in: Dies., Hg.: Transferts: les relations interculturelles dans l'espace franco-allemand (XVIIle et XIXe siècle), Paris 1988, S. 11-34; Johannes Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: HZ, 267/1998, S. 649-685; vgl. auch R. Muhs et al., Hg.: Aneignung

1. Zu

Fragestellung und Zielsetzung

19

dem den Transfer zwischen Kulturen, „die Übertragung von Ideen, Gütern, Menschen und Institutionen aus einem spezifischen System gesellschaftlicher Verhaltens- und Deutungsmuster in ein anderes [...]. Das Konzept identifiziert soziale Träger, gesellschaftliche Verbreitungsmechanismen und die strategische Anwendung von Wissen."17) Interkultureller Transfer bezeichnet „einen Prozeß der produktiven Aneignung, nicht etwa eine originalgetreue Übertragung fremder Ideen und Einrichtungen."18) Richtet man das „Augenmerk auf die Träger von Ideen", rücken die „gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Verbreitung von Wissen, die konkreten Interessen der Vermittler und die Rolle, welche der Transfer bei der Ausbildung von Identitäten spielen konnte," ins

Blickfeld.19)

Dieser Ansatz ist für die Analyse der Austauschbeziehungen' zwischen der westdeutschen und der amerikanischen Arbeiterbewegung sehr gut geeignet. Um aber die ideelle Entwicklung der (west-)deutschen Arbeiterbewegung zwischen den 1920er und 1960er Jahren zu verstehen, muß er noch um eine zusätzliche Dimension erweitert werden. Denn eine rein ,bilaterale' Betrachtungsweise, also die Annahme eines Transfers zwischen ausschließlich zwei Kulturen, reicht hier nicht aus. Denn erstens muß auch nach den Erfahrungen deutscher Sozialdemokraten, Sozialisten und Gewerkschafter mit den Gesellschaften und Arbeiterbewegungen ihrer verschiedenen Gastländer gefragt werden. Zweitens stand zudem nicht Westdeutschland im Mittelpunkt der amerikanischen Bemühungen, durch Integration und interkulturellen Transfer eine westeuropäisch-atlantische Wertegemeinschaft zu schaffen, sondern ganz Westeuropa. Die Bezeichnung .Westernisierung' weist daher in Abgrenzung zum Begriff der Amerikanisierung darauf hin, daß es sich um eine Orientierung auf gemeinwestliche Werthaltungen gehandelt hat, die eben nicht einem ,

einzigen Ursprungsland eigentümlich waren. Mit dieser Arbeit ist über den faktischen Erkenntnisgewinn hinaus eine Zielsetzung verbunden, die sich auf die aktuelle Forschungsdiskussion bezieht. Wer einen gesellschaftlichen Wertewandel durch interkulturellen Transfer untersuchen will, bewegt sich sowohl im Bereich der Ideengeschichte, der Kul-

tur- bzw. Gesellschaftsgeschichte als auch der transnationalen Geschichte und damit im Bereich der Internationalen Geschichte.20) Diese Form der Ideenge-

und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert, Bodenheim 1998, bes. S. 7-43; Michel Espagne: Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999. 17) Paulmann: Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer, S. 680. 18) Ebda., S. 674f. 19) Ebda. Paulmann verweist als Beispiel u.a. auf die Amerikanisierung in Deutschland; vgl. Doering-Manteujfei: Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft. 20) Eckart Conze: Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension internationaler Geschichte, in: Loth/Osterhammel: Internationale Geschichte,

20

Einleitung

schichte ist jedoch nicht mit traditioneller Geistesgeschichte zu verwechseln, sondern versteht sich als Beitrag zu einer umfassend verstandenen Gesellschaftsgeschichte. Nicht mehr einer Sozialgeschichte, sondern einer Kulturund vor allem Ideengeschichte „with the politics left out" oder auch: „with the institutions left out" muß inzwischen die Kritik gelten. Den Ansatz, mit -

die Arbeiterbewegungsgeschichte herangegangen wird, könnte vielleicht mit dem Rubrum .politische Ideengeschichte als transnadaher tionale Beziehungsgeschichte' bezeichnen. Es geht dabei um eine Geschichte des politischen Denkens und seiner Wirkung auf das politische Handeln, um den Zusammenhang zwischen Ideen und Praxis. Dazu hat die Gesellschaftsbzw. Kulturgeschichte Theorieangebote gemacht, derer sich allerdings die zeithistorische Forschung, vor allem im Bereich der Arbeiterbewegungsforschung nach 1945, bislang noch wenig bedient hat.21) Hier werden sie nun für ein zeitgeschichtliches Thema nutzbar gemacht. Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften in der Bundesrepublik richteten, wie sich im Verlauf der Arbeit noch zeigen wird, ihr politisches Handeln zumindest langfristig an Grundwerten aus, welche über die Programme die Bahnen bestimmen, „in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte".22) Die Werthaltungen und grundlegenden ordnungspolitischen Ideen, dem hier

-

an

man

S. 117-140, sowie die Einleitung Wilfried Loths zu diesem Band, S. VII-XIV; Jürgen Osterhammei: Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft, in: Ders.: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, S. 11-45; Ders.: Transnationale Gesellschaftsgeschichte; Akira Iriye: Cultural Internationalism and World Order, Baltimore 1997; J. Goldstein/R. O. Keohane, Hg.: Ideas and Foreign Policy. Beliefs, Institutions, and Political Change, Ithaca/N.Y. 1996; Markus Jachtenfuchs: Ideen und Internationale Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 2. Jg./1995, Heft 2, S. W1-AA2. Zur Debatte um die Kulturgeschichte: Thomas Mergel/Thomas Welskopp, Hg.: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997; Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/M. 2001; Dies.: „Kultur" und „Gesellschaft". Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, in: GG, 19/1993, S. 69-99; Hans-Ulrich Wehler: Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998; Ders.: Was ist Gesellschaftsgeschichte?, wiederabgedr. in: Ders.: Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988, S. 115-129; Wolfgang //arr/nrig/Hans-Ulrich Wehler, Hg.: Kulturgeschichte Heute (GG, Sonderheft 16), Göttingen 1996, bes. die Einleitung sowie den Beitrag von Otto Gerhard Oexle: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, S. 14-40; Wolfgang Hardtwig: Alltagsgeschichte heute. Eine kritische Bilanz, in: W. Schulze, Hg.: Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikrohistorie, Göttingen 1994, S. 19-32; Peter Jelavich: Poststrukturalismus und Sozialgeschichte aus amerikanischer Perspektive, in: GG, 21/1995, S. 259-289; Wolfgang Kaschuba: Kulturalismus: Kultur statt Gesellschaft? in: GG, 21/1995, S. 80-95; Wolf Lépenles: Von der Geschichte zur Politik der Mentalitäten, in: -

HZ, 261/1995, S. 673-694; Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion

Wirklichkeit. 21) Paul Erker:

Zeitgeschichte

als

von

Sozialgeschichte. Forschungsstand und Forschungsdefi-

zite, in: GG, 19/1993, S. 202-238, bes. S. 204.

22)

Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen.

Vergleichende religionssoziologi-

1. Zu

Fragestellung und Zielsetzung

21

das Selbstverständnis und die Weltdeutung einer Arbeiterbewegung prägen deren praktische Politik. Wandeln sich die Wertideen', hat dies zumindest mittelbar Auswirkungen auf ihre Praxis, und, so läßt sich mit Blick auf die Weimarer Geschichte argumentieren, auch auf die Gesellschaft, in der sie sich bewegt. An dem Beispiel der .Westernisierung' der deutschen Arbeiterbewegung läßt sich daher der Zusammenhang die .Verkettung' zwischen Ideen und sozialer Praxis untersuchen und die Webersche Frage stellen nach „der Art, in der überhaupt die ,Ideen' in der Geschichte wirksam werden".23) Zum Umgang mit dieser Art von Ideengeschichte hat M. Rainer Lepsius konkrete Vorschläge gemacht, die hier in die methodischen Überlegungen eingeflossen sind. Es gelte, nicht von Kultur in einem diffusen Sinn zu reden, sondern von spezifischen Ideen.24) Diese müßten in ihrer inneren Struktur bestimmt werden, um zunächst die darin enthaltenen Handlungsrelevanzen zu erkennen, erst dann könne ihre faktische Bedeutung für das Handeln von Individuen und Kollektiven und für seine Institutionalisierungen festgestellt werden. In Anlehnung an Webers religionssoziologische Untersuchungen empfiehlt Lepsius die Untersuchung von „dogmatisch hinreichend konkretisierten Ideen [...], die außerdem im interkulturellen Vergleich eine deutliche Variation zeigten."25) Zunächst muß somit die Idee, deren Sozialwirksamkeit untersucht werden soll, genau bestimmt und unabhängig von denjenigen Variablen definiert werden, die sie beeinflussen soll.26) Die Idee sollte Anspruch auf ein spezifisches Verhalten erheben, von anderen Ideen klar abgrenzbar und auf ebenfalls abgrenzbare Trägergruppen beziehbar sein. Sie muß, so Lepsius, spezifische Adressaten haben, an deren Sozialverhalten die Wirksamkeit des Geltungsanspruchs der Ideen überprüft werden kann, und der Zusammenhang zwischen Idee und Trägergruppe muß hinreichend stark sein. Am faktischen Verhalten der Trägergruppe könne dann die Sozialwirksamkeit der Idee beobachtet werden. Am besten, so Lepsius, sei der Einfluß einer Idee bei zeitlich und strukturell bestimmbaren Neuerungen zu beobachten. Für eine solche Analyse bietet die westdeutsche Arbeiterbewegung der 1950er Jahre also geradezu ideale Be,

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dingungen.

Ideen wirken aber nicht in nationalstaatlicher Abgeschiedenheit, sondern bewegen sich über territoriale und kulturelle Grenzen ebenso hinweg wie über politische Epochengrenzen. Gerade für die Arbeiterbewegung, mit den vielfälsche Versuche, [1915-1919], in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1988, S. 237-573, hier S. 252. 23) Max Weber, zit. in: M. Rainer Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 33. Für die Begrifflichkeit siehe Max Weber Die .Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl., Tübingen 1982, S. 146-214. 24) Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen, S. 31^43, hier S. 32. 25) Ebda., S. 32. 26) Zum folgenden siehe Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen, S. 33-39.

22

Einleitung

tigen Exilerfahrungen ihrer Mitglieder und den intensiven organisatorischen und persönlichen Beziehungen in andere Länder, läßt sich dies nachweisen jedoch nur dann, wenn man den Blick über die engen Grenzen der Bundesrepublik hinaus richtet. Eine nationalzentrierte Sozial- oder auch Politikgeschichte der Arbeiterbewegung wird zu den Fragen, die uns hier beschäftigen, daher wenig beitragen können.27) -

2. Zu

Forschungsstand und Quellenauswahl

Der ideelle Wandel der westdeutschen Arbeiterbewegung nach 1945 wird in der Mehrheit der neueren Arbeiten zu SPD28) und DGB29) in der Bundesrepu-

Lutz Raphael: Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht. Die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft" in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, in: GG, 25/1999, S. 5-37. 28) Zur SPD nach 1945 siehe vor allem: Klotzbach: Weg zur Staatspartei; Beatrix Bouvier: Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungsverantwortung. Außen-, sicherheits- und deutschlandpolitische Umorientierung und gesellschaftliche Öffnung der SPD 1960-1966 (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e.V., Braunschweig-Bonn, hg. v. Dieter Dowe), Bonn 1990; Inge Marssolek/Heimich Potthoff, Hg.: Durchbruch zum modernen Deutschland? Die Sozialdemokratie in der Regierungsverantwortung 1966-1982, Essen 1995. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive u.a.: Peter Lösche/Franz Walter: Die SPD. Klassenpartei Volkspartei Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung. Darmstadt 1992. Im größeren Zusammenhang: Franz Walter: Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002; Susanne Afi7/er/Heinrich Potthoff: Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation 1848-1990, 7. Uberarb. Aufl., Bonn 1991; Detlef Lehnen: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848-1983, Frankfurt/M. 1983; Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick, München 1966; Arno Klönne: Die deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte Ziele Wirkungen, Düsseldorf-Köln 1980. Für Einzelaspekte im zeitlichen Längsschnitt: Dieter Gra/¡/Peter Brandt: „Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992; Michael Held: Sozialdemokratie und Keynesianismus. Von der Weltwirtschaftskrise bis zum Godesberger Programm, Frankfurt/M.-New York 1982. 29) Zu den deutschen Gewerkschaften nach 1945 siehe vor allem: Klaus Schönhoven: Die deutschen Gewerkschaften, (Neue Historische Bibliothek) Frankfurt/M. 1987; Hans-Otto Hemmer/Kurt Thomas Schmitz, Hg.: Geschichte der Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis heute, Köln 1990; Michael Schneider Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 1989; Erich Matthias/Klaus Schönhoven, Hg.: Solidarität und Menschenwürde. Etappen der deutschen Gewerkschaftsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 1984; Wolfgang Schroeder Katholizismus und Einheitsgewerkschaft. Der Streit um den DGB und der Niedergang des Sozialkatholizismus in der Bundesrepublik bis 1960, Bonn 1992; Eberhard Schmidt: Die verhinderte Neuordnung 1945-1947. Zur Auseinandersetzung um die Demokratisierung der Wirtschaft in den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl., Frankfurt/M.-Köln 1977; Ernst-Dieter Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik. Die Stellung der westdeutschen Gewerkschaften zur wirt-

27)

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2. Zu

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Forschungsstand und Quellenauswahl

blik Deutschland als Ergebnis innerorganisatorischer Reform vor dem Hintergrund der veränderten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der späten Ära Adenauer gesehen. Diese Arbeiten sind häufig aus SPD- bzw. DGB-nahen Perspektiven geschrieben. Sie sind organisationsgeschichtlich, also partei- bzw. verbandsgeschichtlich angelegt und im Fragehorizont und der Vbrgehensweise klassisch politik-, teils auch programmgeschichtlich gehalten. Sie bewegen sich daher meist ausschließlich in der Zeit nach 1945. Die Zäsur 1945 ist jedoch im ideellen und programmatischen Bereich lange nicht so bedeutend wie im organisatorischen.30) Ein Blick in die Biographien jener Personen, welche die sozialdemokratische und gewerkschaftliche Politik jener Jahre prägten, macht dies deutlich.31) Dennoch werden in den meisten Studien zur Arbeiterbewegung der Bundesrepublik die ideellen Kontinuitäten zum Kaiserreich und zu Weimar zwar konstatiert, nicht aber ideengeschichtlich untersucht. Auch die Ergebnisse der Exil- und Remigrationsforschung, welche die Zäsur von 1945 relativieren könnten und zudem eine transnationale Perspektive geradezu erzwingen würden, werden in die Fragestellung der bisher vorliegenden schaftlichen und militärischen Integration der Bundesrepublik in die Europäische Gemeinschaft und in die NATO, Frankfurt/M.-New York, 1982. 30) Und auch hier wurde in letzter Zeit auf organisatorische Kontinuitäten aufmerksam gemacht: Siegfried Mielke/Peter Rütters: Die Deutsche Arbeitsfront (DAF): Ein Modell für den gewerkschaftlichen Wiederaufbau? Diskussion in der Emigration und in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland, in: Ende des Dritten Reiches Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. v. Hans-Erich Volkmann, München-Zürich 1995, S. 675-708. Siehe zum gewerkschaftlichen Wiederaufbau u.a. die Einleitungen zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 6: Organisatorischer Aufbau der Gewerkschaften 1945-1949, hg. v. Klaus Schönhoven und Hermann Weber, bearb. v. Siegfried Mielke unter Mitarbeit v. Peter Rütters, Michael Becker u. Michael Fichter, Köln 1987; Bd. 7: Gewerkschaften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1945-1949, hg. v. Hermann Weber und Siegfried Mielke, bearb. v. Siegfried Mielke und Peter Rütters unter Mitarbeit von Michael Becker, Köln 1991; Bd. 11: Der Deutsche Gewerkschaftsbund 1949-1956, hg. v. Klaus Schönhoven und Erich Matthias, bearb. v. Josef Kaiser, Köln 1996. 31) Hier seien nur genannt: Stefan Appelius: Heine. Die SPD und der lange Weg zur Macht, Essen 1999; Hartmut Mehringer: Waldemar von Knoeringen: eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionären Sozialismus zur sozialen Demokratie, München u.a. 1989; Petra Weber: Carlo Schmid, 1896-1979. Eine Biographie, München 1996; Peter Merseburger: Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995; Willy Albrecht: Kurt Schumacher. Ein Leben für den demokratischen Sozialismus, Bonn 1985; Lewis J. Edinger. Kurt Schumacher. A Study in Personality and Political Behavior, Stanford 1965; Hartmut Soeli. Fritz Erler Eine politische Biographie, 2 Bde., Berlin u.a. 1976; Brigitte Seebacher-Brandt: Ollenhauer. Biedermann und Patriot, Berlin 1984; Erich Lüth: Max Brauer. Glasbläser, Bürgermeister, Staatsmann, Hamburg 1972. Eine Brandt-Biographie Peter Merseburgers ist im Erscheinen begriffen. Siehe außerdem für die autobiographischen Schriften Willy Brandts u.a.: Willy Brandt: Erinnerungen, Neuausgabe, Berlin 1999; Ders.: Links und Frei. Mein Weg 1930-1950, Hamburg 1982. -

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Einleitung

Arbeiten meist nicht mit einbezogen.32) Umgekehrt verstehen sich Arbeiten der Exilforschung selten als Beiträge zur Geschichte der Bundesrepublik für die DDR-Geschichte gelten, schon wegen der Rolle der Gruppe Ulbricht, wiederum andere Maßstäbe.33) Studien zum Exil von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern enden daher in der Regel mit den Schwierigkeiten der Rückkehr; die Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik und die Exilforschung stehen unverbunden nebeneinander. Nur im kleinen, aber wachsenden Feld der Remigrationsforschung finden sich Ansätze einer wechselseitigen Wahrnehmung.34) Tatsächlich hat die Remigration eine beträchtliche Wirkung auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung der Bundesrepublik ausgeübt: nämlich durch den „unmittelbaren Zusammenhang spezifischer Exilerfahrungen mit neuen Parteistrukturen, politischen Grundwerten, Wirtschaftstheorien, -

32)

Für Gesamtdarstellungen siehe: Wolfgang Benz: Flucht aus Deutschland. Zum Exil im 20. Jahrhundert, München 2001; Michael Schneider: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, bes. S. 783-1078; Hartmut Mehringer Widerstand und Emigration. Das NS-Regime und seine Gegner, München 1997; Claus-Dieter KrohnfPatrik von zur Mühlen/Gerhard Paul/Lutz Winckler, Hg.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998; Patrik von zur Mühlen: Fluchtweg Spanien-Portugal. Die deutsche Emigration und der Exodus aus Europa 1933-1945, Bonn 1992; Briegel/Frühwald: Die Erfahrung der Fremde. Zu Einzelthemen siehe als knappe Auswahl: Rainer Behring: Demokratische Außenpolitik für Deutschland. Die außenpolitischen Vorstellungen deutscher Sozialdemokraten im Exil 1933-1945, Düsseldorf 1999; Einhart Lorenz: Mehr als Willy Brandt. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschland (SAP) im skandinavischen Exil, Frankfurt/M. u.a. 1997; Ders.: Exil in Norwegen. Lebensbedingungen und Arbeit deutschsprachiger Flüchtlinge 1933-1943. Mit einem Vorwort von Willy Brandt, (Nordeuropäische Studien, Bd. 7) Baden-Baden 1992; Werner Röder Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, Hannover 1969; Peter Becher/Peier Heumos: Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933-1939, München 1992; Joachim Radkau: Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluß auf die amerikanische Europapolitik 1933-1945, Düsseldorf 1971; Dieter Günther: Gewerkschafter im Exil. Die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Schweden 1938-1945, Marburg 1982. Für Studien zu Einzelpersonen siehe u.a.: Michael F. Scholz: Herbert Wehner in Schweden, 1941-1946, 2. Aufl., Berlin 1997; Einhart Lorenz: Willy Brandt in Norwegen. Die Jahre des Exils 1933-1940, Kiel 1989. Siehe außerdem die Beiträge in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, hg. v. Claus-Dieter Krohn u.a., München 1983ff. 33) Vgl. die Literaturangaben bei: Michael F. Scholz: Sowjetische Besatzungszone und DDR, in: Krohn, u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 1180-1188. 34) Marita Krauss: Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001; Claus-Dieter A>o/m/Martin Schumacher, Hg.: Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000; Claus-Dieter Krohn/Paink von zur Mühlen, Hg.: Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands, Marburg 1997; Hartmut MehringerTWerner Röder/Dieter Marc Schneider: Zum Anteil ehemaliger Emigranten am politischen Leben der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und der Republik Österreich, in: Wolfgang FrühwaldfWolfgang Schieder, Hg.: Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1945-1954, Hamburg 1981, S. 207-223.

2. Zu

Forschungsstand und Quellenauswahl

25

außenpolitischen Orientierungen oder den Strategien der Deutschlandpolitik", auf den Werner Röder 1980 im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration aufmerksam gemacht hat,35) der aber in seinen langfristigen Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft noch immer kaum Gegenstand

historischer Forschung geworden ist. So bleiben die Studien zu SPD wie DGB nach 1945 auf den nationalstaatlichen, westdeutschen Rahmen bezogen.36) Transnationale Beziehungen, vor allem aber die aus ihnen erwachsenden Einflüsse aus anderen Gesellschaften auf die deutsche Arbeiterbewegung, sind nur selten ein Thema in der deutschen Forschung. Die Studie von Werner Link37) ist bislang die einzige, welche die Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Kräften der Bundesrepublik und der USA also die transnationalen Beziehungen über die Jahre der Besatzungszeit hinaus untersucht. Allerdings behandelt auch sie weder die ideelle Dimension dieser Beziehungen noch ihre längerfristigen Wirkungen auf Wertvorstellungen und Weltbilder, geht auch nicht auf die vor 1945 liegenden Entwicklungen ein und blendet die Hintergründe des amerikanischen Engagements aus. Die Arbeiten von Hermann-Josef Rupieper und Michael Fichter zum Einfluß der amerikanischen Besatzungsmacht auf die deutsche Arbeiterbewegung sind auf das Regierungshandeln der Militärbehörden konzentriert und reichen demzufolge nicht über 1952 hinaus.38) Die Rolle der deutschen gesellschaftlichen Kräfte, die sich erst bei einem Blick auf die 1950er Jahre erschließt, bleibt bei ihnen daher im Hintergrund. Auch die ideengeschichtlichen Zusammenhänge beiderseits des Atlantiks spielen, schon wegen des engen zeitlichen Rahmens, keine eigenständige Rolle. Hans-Jürgen Grabbes Studie zu den Beziehungen zwischen Unionsparteien, Sozialdemokratie und den Vereinigten Staaten von Amerika bezieht sich auf deren Verhältnis zur US-Regierung und blendet die Beziehungen zur amerikanischen Arbeiterbewegung aus, und sie bleibt insofern traditionell politikgeschichtlich, als auch hier nach Werten und unter-

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-15) Werner Röder: Einleitung, in: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, hg. v. Ders./Herbert A.

Strauss, München u.a. 1980, S.XIII-LVIII, hier XLIX.

36) Wichtige Ausnahmen sind etwa: Susanne Miller: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD, zum 80. Geburtstag hg. v. Bernd Faulenbach, Bonn 1995, und Held: Sozialdemokratie und Keynesianismus, der die Entwicklungen im Exil berücksichtigt. Susanne Millers Perspektive ist durch eigene Exilerfahrungen geprägt. 37) Werner Link: Deutsche und amerikanische Gewerkschaften und Geschäftsleute 1944-1975. Eine Studie über transnationale Beziehungen, Düsseldorf 1978. Vgl. allerdings auch die Beiträge in: Horst Lademacher, Hg.: Gewerkschaften im Ost-West-Konflikt. Die Politik der American Federation of Labor nach dem II. Weltkrieg, Melsungen 1982. 38) Hermann-Josef Rupieper: Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der

amerikanische Beitrag 1945-1952, Opladen 1993; Michael Fichter. Besatzungsmacht und Gewerkschaften. Zur Entwicklung und Anwendung der US-Gewerkschaftspolitik in Deutschland 1944-1948, Opladen 1982.

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Einleitung

schiedlichen demokratietheoretischen Voraussetzungen nicht gefragt wird.39) Zum kulturellen und ideellen Einfluß ,Amerikas' auf die deutsche Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit wie in der Nachkriegszeit existieren nur wenige historische Studien.40) Anderes gilt dagegen für die Unternehmerseite, deren ,Amerikanisierung' durch Volker Berghahn eingehend untersucht worden ist.41) Für eine gesamt-westeuropäische Sicht auf die Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert kann mittlerweile auf einige Arbeiten zurückgegriffen werden.42) Zum transnationalen Vergleich finden sich in der deutschen Arbeiterbewegungsforschung seit den 1980er Jahren dagegen zwar eine wachsende Zahl

-19) Hans-Jürgen Grabbe: Unionsparteien, Sozialdemokratie und Vereinigte Staaten von Amerika 1945-1966, Düsseldorf 1983. 40) Wade Jacoby: „Ization" by Negation? Occupation Forces, Codetermination, and Works Councils. Paper presented at the conference „The American Impact on Western Europe: Americanization and Westernization in Transatlantic Perspective", Washington, German Historical Institute, March 25-27, 1999; S. Jonathan Wiesen: Industrialists, Workers, and Perception of America in West Germany in the 1950s, Paper presented at the conference „The American Impact on Western Europe: Americanization and Westernization in Transatlantic Perspective", Washington, German Historical Institute, March 25-27, 1999; Frank Peter Biess: Zwischen Ford und Hollywood. Amerika und der Amerikanismus in der Weimarer Republik 1924-1930, MA Thesis, Washington University, 1992. Werner Kremp: In Deutschland liegt unser Amerika. Das sozialdemokratische Amerikabild von den Anfängen bis zur Weimarer Republik, München-Hamburg 1993, hat auf eine tiefergehende Analyse verzichtet und bietet statt dessen eine Übersicht über die Äußerungen zu Amerika in der sozialdemokratischen Presse. Für zeitgenössische Äußerungen aus der Zwischenkriegszeit: Julius Hirsch: Das amerikanische Wirtschaftswunder, Berlin 1926; Emil Honermeier: Die Ford Motor Company. Ihre Organisation und ihre Methoden, Leipzig 1925; Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer, Berlin 1926. 41) Berghahn: The Americanization of West German Industry; Ders.: Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt/M. 1985; Ders.: Zur Amerikanisierung der westdeutschen Gesellschaft, in: Ludolf Herbst/Werner Bührer/Hanno Sowade, Hg.: Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt, München 1990, S. 227-253; Mary Nolan: Visions of Modernity. American Business and the Modernization of Germany, New York 1994. 42) Donald Sassoon: One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, 2. Aufl., London 1997; Stephen Padgett/William E. Paterson: Social Democracy in Postwar Europe, London-New York 1991; William E. PatersonlMasXa'w H. Thomas: Social Democratic Parties in Western Europe, London 1978; Helga Grebing/Peter BrandtfüÁnch Schulze-Marmeling, Hg.: Sozialismus in Europa Bilanz und Perspektiven. Festschrift für Willy Brandt, Essen 1989; Lutz Niethammer: Strukturreform und Wachstumspaket. Westeuropäische Bedingungen der einheitsgewerkschaftlichen Bewegung nach dem Zusammenbruch des Faschismus, in: Heinz Oskar Vetter, Hg.: Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler, Köln 1975, S. 303-358. Zum Einfluß der SPD auf die Labour Party zu Jahrhundertbeginn siehe: Stefan Berger: The belated party. Influences on the British Labour Party in its formative years, 1900-1931, in: Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, Heft 18/1997, S. 83-111. -

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Forschungsstand und Quellenauswahl

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Arbeiten und theoretischen Überlegungen, die allerdings noch ohne große Folgen für den zeithistorischen Teilbereich geblieben sind.43) Auch eine ideengeschichtliche Herangehensweise an die Entwicklung von SPD und Gewerkschaften in der Bundesrepublik findet sich bislang nicht.44) Überhaupt werden von der Forschung zur Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik die Ansätze der Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte des 19. Jahrhunderts kaum aufgegriffen.45) Diese war seit Anfang der 1970er Jahre von

43) Beispielsweise: Thomas Welskopp: Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren, Bonn 1994. Für einen Forschungsüberblick siehe Thomas Welskopp: Klasse als Befindlichkeit? Vergleichende Arbeitergeschichte vor der kulturhistorischen Herausforderung, in: AfS, 38/1998, S. 301-336; sowie den nach wie vor aktuellen Forschungsbericht von Klaus Tenfelde: Sozialgeschichte und vergleichende Geschichte der Arbeiter, Einführung zu: Ders., Hg.: Arbeiter und Arbeiterbewegung im Vergleich. Berichte zur internationalen historischen Forschung (HZ-Sonderheft Bd. 15), München 1986, S. 13-62; Christiane Eisenberg: The Comparative View in Labour History. Old and New Interpretations of the English and German Labour Movements Before 1914, in: International Review of Social History, 34/1989, S. 403^132; Stefan Berger: The British Labour Party and the German Social Democrats, 1900-1931, Oxford 1994, S. 1-17. In der zeitgeschichtlichen Arbeiterbewegungsforschung in Deutschland finden sich jedoch kaum vergleichende Arbeiten. Für Beiträge aus dem englischsprachigen Raum siehe u.a.: Anthony J. Nicholls: Zwei Wege in den Revisionismus. Die Labour-Partei und die SPD in der Ära des Godesberger Programms, in: Jürgen /ibc&a/Hans-Jürgen PwMe/Klaus Tenfelde, Hg.: Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter, München u. a. 1994, S. 190-204. Berger: The British Labour Party and the German Social Democrats, ist bislang die einzige Studie zum direkten Vergleich beider Parteien; dasselbe gilt für Christiane Eisenbergs Studie zu den deutschen und britischen Gewerkschaften, die ,nur' bis ins späte 19. Jahrhundert reicht: Christiane Eisenberg: Deutsche und englische Gewerkschaften. Entstehung und Entwicklung bis 1878 im Vergleich, Göttingen 1986. 44) Vielmehr stehen programmgeschichtliche oder -analytische Arbeiten im Vordergrund. Vgl. etwa Horst-Udo Niedenhoff: Gegenmacht oder Gestaltungskraft? Die Entwicklung der DGB-Grundsatzprogramme, Köln 1997; Alexander SchwanIGeúne Schwan: Sozialdemokratie und Marxismus. Zum Spannungsverhältnis von Godesberger Programm und marxistischer Theorie, Hamburg 1974. Als Ausnahme aber: Sabine Lemke-Müller Ethischer Sozialismus und soziale Demokratie. Der politische Weg Willi Eichlers vom ISK zur SPD, Bonn 1988, die den ethischen Sozialismus als handlungsleitende Idee für Willi Eichler ebenso herausarbeitet wie dessen Einfluß auf die SPD. Im jüngeren Verständnis ideengeschichtliche Arbeiten finden sich auch im englischsprachigen Raum wenig, auch nicht zur Zwischenkriegszeit: Sheri Berman: The Social Democratic Moment. Ideas and Politics in the Making of Interwar Europe, Cambridge, Mass.-London 1998, erfüllt die vom Titel geweckten Erwartungen leider nicht, denn ,Ideen' werden hier ohne jeden Bezug zu Menschen und Orga-

nisationen behandelt. Die ehrgeizige Arbeit Donald Sassoons, die diesem Anspruch eher nahekommt, ist nach Intention und Ergebnis eine Parteiengeschichte, die allerdings gesellschaftliche Strömungen im Blick behält: Sassoon: One Hundred Years of Socialism. 43) Eine Ausnahme bildete das LUSIR-Projekt unter Leitung Lutz Niethammers, das Alltagsgeschichte und oral history epochenübergreifend für die Jahre 1930 bis 1960 betrieb: Lutz Niethammer, Hg.: „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll." Faschismus-Erfahrungen im Ruhrgebiet. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, Berlin-Bonn 1983; Ders., Hg.: „Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß

28

Einleitung

mit der Entwicklung der Sozialgeschichte eng verbunden und hat im Gefolge der Kritik an der Sozialgeschichte auch die kulturgeschichtliche Wende' mitvollzogen.46) Die Arbeiterbewegungsforschung in der Zeitgeschichte hat dagegen, wie lange Zeit auch die Zeitgeschichtsschreibung insgesamt, die Methodenangebote der Gesellschafts- und Kulturgeschichte kaum rezipiert und zu den theoretischen Debatten nur wenig beigetragen.47) Statt dessen waren in den 1960er und 1970er Jahren die Arbeiten zur westdeutschen Arbeiterbewegung in der Nachkriegszeit von politischer Zeitgenossenschaft geprägt und von scharfen Auseinandersetzungen um die Bewertung des Wandels der SPD von der Klassen- und Millieupartei zur Vblkspartei und des DGB zur ,Dienstleistungsorganisation' gekennzeichnet.48) Die Restaurationsthese war virulent, und nicht wenige Autoren beklagten die „verpaßte Chance" zu einer umfassenden Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft.49) Diese Phase brach mit dem ,Ende des Wachstums', symbolisiert durch den Ölpreisschock 1973, ab und machte der ,Niedergangsliteratur' Platz.50) Die Zeit der keynesianischen und sozial-liberalen Politik, die Westeuropa zwischen Mitte der 1940er und Mitte der 1970er Jahre geprägt hatte, war vorüber, und der Topos vom ,Ende der Arbeiterbewegung' bestimmte die zeitgenössische politische Diskussion ebenso wie die Forschungsperspek-

schiefgegangen ist." Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet. Lebensgeschichte und SoziRuhrgebiet 1930 bis 1960, Berlin-Bonn 1983; />r¿\/Alexander v. Plato, Hg.: „Wir kriegen jetzt andere Zeiten." Auf der Suche nach den Erfahrungen des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960,

es

alkultur im

Berlin-Bonn 1985.

46) Jürgen Kocka: Arbeiterbewegung

in der Bürgergesellschaft. Überlegungen zum deutschen Fall, in: GG, 20/1994, S. 487^196; Welskopp: Klasse als Befindlichkeit? Vgl. außerdem Alf Lüdtke, Hg.: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrung und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993; Gerhardt A. Ritter, Hg.: Arbeiterkultur, Königstein 1979; sowie das GG-Heft zur Arbeiterkultur im 19. Jahrhundert, GG, 5/1997. 47) Vgl. nach wie vor: Erker: Zeitgeschichte als Sozialgeschichte. 48) Aus der Perspektive der späten 1950er vor allem: Theo Pirker: Die blinde Macht. Die Gewerkschaftsbewegung in Westdeutschland, 2 Bde., München 1960, bes. Bd. 1, S. 237290: „Die Zähmung der Gewerkschaften". Für die Kritik an Pirkers Positionen: Jürgen Seifert: Anmerkungen zu Theo Pirkers Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in Westdeutschland, in: GMH, 12/1961, S. 96-99. Auch Joachim Hirsch: Die öffentlichen Funktionen der Gewerkschaften. Eine Untersuchung zur Autonomie sozialer Verbände in der modernen Verfassungsordnung, Stuttgart 1966, und Wolfgang Hirsch-Weber: Gewerkschaften in der Politik. Von der Massenstreikdebatte zum Kampf um das Mitbestimmungsrecht, Köln-Opladen 1959, verteidigen den gewerkschaftlichen Kurs als Beitrag zur Stabilisierung der westdeutschen Gesellschaftsordnung. 49) Als Beispiele: Schmidt: Verhinderte Neuordnung; Frank Deppe/Georg Fülberth/lürgen Harrer, Hg.: Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Köln 1977, bes. S. 320368: „Der Sieg der Restauration ( 1949-1955/56)"; Frank Deppe, u. a.: Kritik der Mitbestimmung. Partnerschaft oder Klassenkampf?, Frankfurt/M. 1969. 50) Vgl. für diese Einschätzung auch Peter Lösche: Rezension zu Padgett/Paterson: A History of Social Democracy in Postwar Europe, in: AfS, 35/1995, S. 612 f.

2. Zu

29

Forschungsstand und Quellenauswahl

Mit dem Ende der DDR und des Ost-West-Konflikts, und damit dem Verschwinden des Kommunismus, kehrte vollends Stagnation ein. Die Arbeiterbewegung schien ihren Gegenwartsbezug und ihre Zukunftshoffnung verloren zu haben, und mit ihr die Arbeiterbewegungsforschung. In den 1990er Jahren herrschte, so Jürgen Kocka, „intellektuelle Langeweile" in der Arbeiterund Arbeiterbewegungsforschung, und dies gilt, von wichtigen Ausnahmen abgesehen, auch für die zeithistorische Arbeiterbewegungsforschung.52) Dabei wird offensichtlich übersehen, wie sehr die politische und gesellschaftliche Gegenwart in Westeuropa und der Bundesrepublik gerade von den Entwicklungen in Sozialdemokratie und Gewerkschaften mitgeprägt wurden und vice versa. Eine Analyse dieses Prozesses ist daher für eine Orientierung in Gegenwart und Zukunft unerläßlich. Eine epochenübergreifende Ideengeschichte des ,Wegs nach Godesberg', die auch die Einflüsse des Exils und des westlichen Auslands mit einbezieht, muß also als Desiderat gelten. Diese Studie will hierzu einen Beitrag leisten. Bei der hier gewählten Form der Ideengeschichte stehen Personen und die Entwicklung ihres Denkens im Vordergrund, die dann aber in ihr politisches und organisatorisches Umfeld eingebunden werden. Dieses Vorgehen bestimmt die Quellenauswahl der vorliegenden Arbeit. Im Mittelpunkt stehen Briefwechsel, die teils aus Verbandsakten und teils aus Nachlässen stammen. Daneben sind Organisationsakten, wie etwa Berichte oder Sitzungsprotokolle von Ausschüssen herangezogen worden. Da es vornehmlich um Netzwerke zwischen Arbeiterbewegungen und um deren Wirkungen auf das Weltbild ihrer Organisationen geht, bestimmten diese Netzwerksbeziehungen auch die Quellenauswahl. Material zu den organisatorischen Strukturen der beteiligten Verbände wurde erst in zweiter Linie herangezogen. Der Kern des Untersuchungszeitraums liegt in einer Zeit, in der die Schreibmaschine schon selbstverständlich in Betrieb, das Telefon aber noch wenig verbreitet und sehr teuer war, vor allem bei transatlantischer Distanz. Dies sorgt für eine breite Auswahl an Quellen, eben auch zu persönlichen Auseinandersetzungen, die sonst eher dem Gespräch unter vier Augen oder dem Telefonat vorbehalten geblieben wären.

tive.51)

-

51) Vgl.

etwa Rolf Ebbighausen/Friedrich Tiemann, Hg.: Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Ein Diskussionsband zum sechzigsten Geburtstag von Theo Pirker, Opladen 1984; Frank Deppe: Ende oder Zukunft der Arbeiterbewegung? Gewerkschaftspolitik nach der Wende. Eine kritische Bestandsaufnahme, Köln 1984. Für einen Überblick aus jüngerer Perspektive siehe: Klaus Schönhoven: Requiem für einen Dinosaurier? Zur Sozialgeschichte der Arbeiterschaft im Kaiserreich, in: GG, 19/1993, S. 134-140; Thomas Welskopp: Ende der Arbeiterbewegung Neuorientierung der Arbeitergeschichte? Zu neueren Veröffentlichungen in der Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte, in: AfS, 30/1990, S. 575-583. 52) Kocka: Arbeiterbewegung in der Bürgergesellschaft, S. 486. -

30

Einleitung

Die Arbeit stützt sich über weite Teile auf Quellen der amerikanischen Gewerkschaftsbünde, gerade auch in Kapiteln, wo es um die Kooperation zwischen Deutschen und Amerikanern geht.53) Dies hat seinen Grund darin, daß in den deutschen Archivalien praktisch nichts zu dieser Zusammenarbeit zu finden ist, während auf amerikanischer Seite jahrelange ausführliche Briefwechsel zwischen amerikanischen Gewerkschaftern und deutschen Gewerkschaftern und Sozialdemokraten überliefert sind, in denen sehr offene theoretische und politische Diskussionen geführt wurden. Weder in den Akten von SPD und DGB, noch in den Nachlässen der beteiligten Personen auf deutscher Seite54) sind auch nur annähernd so viele und einschlägige Materialien vorhanden wie in den Archivalien der American Federation of Labor und des Congress of Industrial Organization. Die Wahl amerikanischer Quellen besagt daher zunächst nicht viel über die Seite, die betrachtet wird. Im besetzten Deutschland und in der Bundesrepublik der 1950er und frühen 1960er Jahre war es für Sozialdemokraten oder Gewerkschafter anscheinend nicht opportun, offen mit amerikanischen Genossen über das Politikverständnis und Rollenbild der Arbeiterbewegung zu diskutieren, vor allem nicht, wenn man selbst aus dem Exil zurückgekehrt war. Die schriftlichen Hinweise auf diesen Meinungsaustausch sind auf deutscher Seite nur in geringem Umfang aufbewahrt worden.55) Die Aspekte der finanziellen Unterstützung von Aktivitäten der westdeutschen Arbeiterbewegung durch die USA wurden offensichtlich sogar geradezu geheimgehalten. Hier sind in den deutschen Archivalien überhaupt keine Überlieferungen zu finden, während es nicht schwer ist, aus den Akten der Außenpolitischen Abteilungen von AFL und CIO auf finanzielle Transaktionen zu schließen. Solche Schlußfolgerungen stellen jedoch nach wie vor einen Tabubruch dar, ebenso wie die anscheinend immer noch provokante Frage nach dem ame-

53) Es sind in Spring, MD:

erster Linie die Materialien der George Meany Memorial Archives, Silver RG 1-027: AFL, AFL-CIO, Office of the President, George Meany, 1952-1960; RG 2-006: AFL: Office of the Secretary-Treasurer, George Meany, 1940-1952; RG 18-001: AFL-CIO, International Affairs Department, Country Files, 1945-1971; RG 18-002: CIO, International Affairs Department, Director's Files: Mike Ross 1945-1955; RG 18-003: AFL, AFL-CIO, International Affairs Department, Jay Lovestone Files, 1939-1974; RG 18-004: AFL, AFL-CIO International Affairs Department, Irving Brown Files, 1943-1989. 54) DGB-Archiv: Bestand 267: Nachlaß Walter Freitag; Bestand 272: Nachlaß Hans Gottfurcht; Bestand 273: Nachlaß Werner Hansen (Willi Heidorn); Bestand 297: Nachlaß Georg Reuter; Bestand 299: Nachlaß Ludwig Rosenberg. Archiv der sozialen Demokratie: Nachlaß Hermann Beermann; Nachlaß Kuno Brandel; Nachlaß Fritz Eberhard (Hellmuth v. Rauschenplat); Nachlaß Willi Eichler; Nachlaß Werner Hansen (Willi Heidorn); Nachlaß Siegmund (Siggi) Neumann; Nachlaß Willi Richter; Nachlaß Ludwig Rosenberg; Nachlaß Eduard (Edu) Wald; Bestand Erich Ollenhauer; Bestand Internationale Transportarbeiterföderation (ITF): Sammlung Hans Jahn. 55) Dafür kann die Verfasserin auf einen eigenen Briefwechsel mit Fritz Heine aus dem Jahr 1998 zurückgreifen, in dem er freundlicherweise zahlreiche Fragen beantwortete. Ebenso war Prof. Susanne Miller so freundlich, mehrfach Auskunft zu diesem Thema zu geben.

2. Zu

31

Forschungsstand und Quellenauswahl

rikanischen Einfluß auf die Entwicklung der westdeutschen Arbeiterbewegung überhaupt. Eine Untersuchung dieser Zusammenhänge ist daher nur von den amerikanischen Archiven her möglich. Es ist aber auch deutsche Geschichte, die hier überliefert ist. Neben Archivalien wurden auch edierte Quellen genutzt. Für die Zeit des Exils 1933 bis 1945 existieren Quelleneditionen, Dokumentationen und Nachschlagewerke, die den hier benötigten Bereich gut abdecken.56) Angesichts dieser Tatsache und aufgrund der Fülle an Einzelstudien zur Exilforschung wurde auf eine eigenständige archivalische Bearbeitung des sozialistischen und sozialdemokratischen Exils über die Nachlässe der hier vorgestellten Personen und über die Bestände der Internationalen Transportarbeiterföderation und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes hinaus verzichtet. Zu den organisatorischen Belangen der deutschen Sozialdemokratie57) und Gewerkschaften58) nach 1945 steht mittlerweile eine Anzahl von Quelleneditio-

-

56) Ludwig Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration. Die „Union deutscher sozialisti-

scher Organisationen in Großbritannien" 1941-1946 und ihre Mitglieder. Protokolle, Erklärungen, Materialien, Bonn 1998; Exilpolitiker zur staatlichen Neuordnung nach Hitler. Texte aus den Jahren 1940-1949, im Auftrag der Herbert und Elsbeth Weichmann Stiftung hg. v. Heinz Boberach, Hamburg o.J. [1999]; Friedrich Stampfer: Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration. Aus dem Nachlaß von Friedrich Stampfer ergänzt durch andere Überlieferungen, im Auftrage der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien hg. v. Erich Matthias, bearb. v. Werner Link, Düsseldorf 1968; Ursula Langkau-Alex/Thomas M. Ruprecht, Hg.: Was soll aus Deutschland werden? Der Council for a Democratic Germany in New York 1944-1945. Aufsätze und Dokumente, Frankfurt/M.-New York 1995; Alfons Söllner. Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Bd. 1: Analysen politischer Emigranten im amerikanischen Geheimdienst, 1943^15, Bd. 2: Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Außenministerium 1946-1949, Frankfurt/M. 1982 bzw. 1986; Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1. 57) Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949-1966 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, vierte Reihe: Deutschland seit 1945, hg. v. Karl-Dietrich Bracher/Rudolf A/o/roy/Hans-Peter Schwarz, Bde. 8/I-III): Sitzungsprotokolle 1949-1957, bearb. v. Petra Weber, 2 Halbbde.; Sitzungsprotokolle 1957-1961, bearb. v. Wolfgang Hölscher; Sitzungsprotokolle 1961-1966, bearb. v. Heinrich Potthoff; jeweils Düsseldorf 1993. 5S) Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 6: Organisatorischer Aufbau der Gewerkschaften 1945-1949, hg. v. Klaus Schönhoven und Hermann Weber, bearb. v. Siegfried Mielke unter Mitarbeit v. Peter Rütters, Michael Becker u. Michael Fichter, Köln 1987; Bd. 7: Gewerkschaften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1945-1949, hg. v. Hermann Weber und Siegfried Mielke, bearb. v. Siegfried Mielke und Peter Rütters unter Mitarbeit von Michael Becker, Köln 1991 ; Bd. 10: Die Industriegewerkschaft Metall in der frühen Bundesrepublik, hg. v. Klaus Schönhoven und Hermann Weber, bearb. v. Walter Dörrich und Klaus Schönhoven, Köln 1991 ; Bd. 11 : Der Deutsche Gewerkschaftsbund 1949-1956, hg. v. Klaus Schönhoven und Erich Matthias, bearb. v. Josef Kaiser, Köln 1996; Ulrich Borsdorf/Hans O. Hemmer/Martin Martiny: Grundlagen der Einheitsgewerkschaft. Historische Dokumente und Materialien, Köln-Frankfurt/M. 1977.

32

Einleitung

Für DGB und SPD wurde dennoch zusätzlich auf Verbandsakten zurückgegriffen.59) Bei beiden Organisationen sind auch Vorgänge zur jeweils anderen Organisation überliefert, so daß die Fundstellen der Belege teilweise ,über Kreuz' liegen.60) Erwähnt werden muß auch, daß im Gegensatz zum DGB und vor allem zu den amerikanischen Gewerkschaftsbünden bei der SPD keine außenpolitische Abteilung bestand, die eine für dieses Thema relevante Rolle gespielt hätte. Die entsprechende Abteilung kümmerte sich vielmehr nur um die Belange der Internationale und spielt archivalisch im folgenden kaum eine Rolle. In der SPD wurden die Kontakte zur amerikanischen Gewerkschaftsbewegung von einzelnen Mitgliedern des Parteivorstandes getragen, sie werden daher über deren Nachlässe erschlossen oder sind, häufiger noch, über die amerikanische Seite überliefert.61) nen zur

Verfügung.

3. Zum

Vorgehen

Ansatz einer politischen Ideengeschichte als transnationale Beziehungsgeschichte' muß die nationalstaatliche Perspektive in zweierlei Hinsicht transzendiert werden. Der Blick muß erstens über die geographischen Grenzen des Nationalstaates hinweg gerichtet werden, auf andere Länder mit ihren Ideen und Strukturen, um so die gegenseitigen Einflüsse erkennbar zu machen. Der geographische Raum, in dem diese Geschichte spielt, umschließt (West-)Deutschland, Westeuropa und die USA, denn die Entwicklungen der westeuropäischen und nordatlantischen Gesellschaften waren aufeinander bezogen und miteinander verwoben. Der Blick muß zweitens von der Ebene des Staates und der Regierungen weg- und zu den Gesellschaften hingelenkt werden. Denn die wechselseitigen Einflüsse der nordatlantisch-westeuropäischen Länder waren weniger diejenigen von Staaten bzw. Regierungen aufeinander, sondern vielmehr die von Gesellschaften und Kulturen. Und erst, wenn man diese nationenübergreifenden Einflüsse, diese gemeinsamen Entwicklungen in die nationale Geschichtsschreibung hinein nimmt, lassen sich gesellschaftliche, kulturelle und politische Phänomene in den einzelnen Ländern vollständig Für

unseren

begreifen.

59) Archiv der sozialen Demokratie: Bestand Parteivorstand; Bestand Internationale Transportarbeiterföderation (ITF). DGB-Archiv: Bestand 24: DGB-Bundesvorstand. 60) Beispielsweise: Archiv der sozialen Demokratie, Bestand Erich Ollenhauer: Mappe 448:

Deutscher Gewerkschaftsbund: Bestand Parteivorstand: Referat Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. 61) Hier sei noch auf die Schreibweise der englischsprachigen Zitate hingewiesen, die sowohl aus dem britischen wie dem amerikanischen Englisch stammen. Die jeweilige Orthographie wurde beibehalten, so daß sich sowohl die Schreibweise .labour' als auch ,labor' findet.

3. Zum

33

Vorgehen

Ebenso muß über historische Zäsuren hinweggegangen werden jedenfalls im Bereich der kleinteilig segmentierten Zeitgeschichte, da hier die biographischen Erfahrungen und damit die Leben einzelner Menschen nicht in die von den politischen Systemen vorgegebenen Epochen passen.62) Der Zeitraum, den diese Untersuchung abdeckt, ist entsprechend weit gesteckt. Erklärt werden sollen Entwicklungen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre. Die (auch archivalische) Kernzeit dieser Arbeit liegt etwa zwischen 1940 und 1965. Die ideelle und politische Vorgeschichte liegt jedoch im späten 19. Jahrhundert. Tatsächlich geht es, und dies wird ein Blick in die Gliederung deutlich machen, um die Zeit zwischen den späten 1920er und den frühen 1970er Jahren, also um die Spanne zwischen der Zeit, als die Protagonisten dieser Studie ihre ersten politischen und ideellen Prägungen erhielten, und dem Ende ihrer beruflichen Aktivität. Es ist die Generation der um 1900 bis 1910 Geborenen, die hier im Mittelpunkt steht, sowie deren ideelle Entwicklung und politisches Wirken in den USA wie in Deutschland. Die gemeinsamen oder auch nur parallelen Erfahrungen der Mitglieder dieser Generation, ihre Begegnungen und die daraus erwachsenden Folgen bilden den Kern dieser Studie. Ein streng generationeller Ansatz ist hier dennoch nicht gewählt worden, da die Darstellung der gruppenspezifischen Gemeinsamkeiten der hier untersuchten Personen etwa Zugehörigkeit zu Splittergruppen in Weimarer Zeit, Exil und Remigration, politische Lager in SPD und DGB nach 1949 durch eine strikte Einteilung nach Generationsmerkmalen zusätzlich stark kompliziert worden wäre. Die Wahl einer solchen transnationalen bzw. interkulturellen und epochenübergreifenden Perspektive ermöglicht es, am konkreten Einzelfall die Einflußwege von Ideen auf andere Kulturen und auf deren soziale Praxis in den Blick zu bekommen und obendrein noch die Dynamik kulturellen Wandels mit in die -

-

-

Untersuchung einzubeziehen.63)

Hierbei bestimmen die methodischen Überlegungen das Vorgehen. Zunächst müssen, in der Umsetzung der Lepsius'schen Forderungen, die beteiligten Ideen und Ordnungsvorstellungen ,isoliert' werden, um die es in diesem konkreten Fall geht und ihre interne Struktur und historische Entwicklung, ihre Trägergruppen und die aus ihnen abgeleitete soziale Praxis vorgestellt werden. Dies sind hier die beiden Ideengebäude Sozialdemokratie und Konsensliberalismus. (Der Begriff .Konsenskapitalismus' bezeichnet dagegen das Konzept der Arbeitsbeziehungen in der konsensliberalen Gesellschaftsordnung.) Es werden also die Wertvorstellungen und die soziale Praxis der deutschen und der amerikanischen Arbeiterbewegung kontrastiert. Dabei geht es jedoch nicht um einen Vergleich, sondern darum, den Ausgangspunkt für eine ,Beziehungsgeschichte' zu schaffen, für die Geschichte der Interaktion zwischen den bei-

62) Noch immer anregend: Hans Jaeger: Generationen in der Geschichte. einer umstrittenen Konzeption, in: GG, 3/1977, S. 429-452. 63) Oexle: Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, S. 26.

Überlegungen zu

34

Einleitung

den Arbeiterbewegungen in den zwei Jahrzehnten nach 1945. Der Nachteil des Vergleichs als Zugriffsweise ist es ja, daß er seine Gegenstände statisch wahrnimmt und daß die zu vergleichenden Elemente getrennt betrachtet werden ein Vergleich zweier Arbeiterbewegungen, die während des Vermüssen gleichszeitraums miteinander in Beziehung stehen, sich einander annähern und sich dadurch immer ähnlicher werden, wirft kaum lösbare methodische Probleme auf. Vergleich und ,Beziehungsgeschichte' sind aus gutem Grund ganz unterschiedliche Ansätze. Bei unserer Fragestellung kommt also „Galtons Problem" zum Tragen: eine in der ethnologischen Theoriediskussion seit 1889 bekannte „Art von Unschärferelation, die besagt, daß man beim Kulturvergleich nicht gleichzeitig die Fälle in ihrer isolierend herauspräparierten Reinheit und in der Geschichte ihrer wechselseitigen Beeinflussung in den Blick nehmen kann."64) Und genau diese Beeinflussung steht in dieser Studie im Mittelpunkt. Hier geht es also darum, „gesellschaftliche Entwicklungstendenzen zu verfolgen, die die nationalen Grenzen überschritten", und in diesem Fall ist, so Hartmut Kaelble, der Vergleich als Ansatz nicht ratsam.65) Um die Frage nach ,Westernisierung' operationalisierbar zu machen, muß zweitens geklärt werden, was im Ideengebäude einer Arbeiterbewegung festlich' oder ,nicht westlich', in unserem Fall ,deutsch-traditionell', sein kann, also wonach unter dem Rubrum der Westlichkeit überhaupt zu suchen ist. Dies sind für unsere Studie die Bereiche Demokratietheorie bzw. politisches Denken, um einen Begriff aus dem Englischen zu verwenden: Politikverständnis, Gesellschaftsbild und Staatsverständnis, sowie das Selbstverständnis, d. h. die Vorstellung von der eigenen Rolle als Arbeiterbewegung in der Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung. Im einzelnen wird nach der Rolle zu fragen sein, welche dem Individuum zugesprochen wird, nach den Begriffen von Freiheit und Gleichheit und nach der Bewertung gesellschaftlicher Interessenkonflikte. Drittens müssen die relevanten Personen als Träger' von Ideen und die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen methodisch sinnvoll in eine Ideengeschichte eingebunden werden. Dies heißt aber in der Konsequenz, die meinungsbildenden Eliten in den Blick zu nehmen, und nicht die Basis der -

,

-

-

M) Jürgen Osterhammel: Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich. Zu künftigen Möglichkeiten komparativer Geschichtswissenschaft, in: GG, 22/1996, S. 143-164, hier S. 153f.; Ders.: Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft; Harald Kleinschmidt: Galtons Problem. Bemerkungen zur Theorie der transkulturell vergleichenden Geschichtsforschung, in: ZfG, 39/1991, S. 5-22; Hartmut Kaelble: Vergleichende Sozialgeschichte. Forschungen europäischer Historiker, in: Haupt/Kocka: Geschichte und Vergleich, S. 91-130; Thomas Welskopp: Stolpersteine auf dem Königsweg. Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte, in: AfS, 35/1995, S. 339-367; Christiane Eisenberg: Die Arbeiterbewegungen der Welt im Vergleich. Methodenkritische Bemerkungen zu einem Projekt des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, in: AfS, 34/1995, S. 397^410; Dies.: The Comparative View in Labour History. 65) Kaelble: Vergleichende Sozialgeschichte, S. 104.

3. Zum

Vorgehen

35

Denn die Träger der neuen, westlichen Ideen waren Persodurch Exilerfahrungen zu einem Wandel im eigenen Denken gelangt sind und die auch die Möglichkeit hatten, direkten Einfluß auf Programmatik und politische Praxis zu nehmen also meist Funktionäre. Jedoch werden hier nicht alle Funktionäre in SPD und DGB auf westliche Werthaltungen hin betrachtet, sondern es wird am Beispiel einer bestimmten Gruppe der ideelle Wandel und seine Mechanismen aufgezeigt. Diese Gruppe bildete ein Netzwerk, das im Zentrum dieser Untersuchung steht. Wer, um es kurz zu sagen, diesem Netzwerk nicht angehörte, wird hier nicht berücksichtigt, auch wenn er durchaus westliche Ideen vertreten haben mag.66) Mit dem Begriff des Netzwerks ist eine Form von Interessenpolitik beschrieben, die auf der Ebene von Individuen und Gruppen, nicht von staatlichen Institutionen oder offiziellen Organisationen abläuft. Beteiligt sind meist politische Eliten, die über einen hohen Grad an Sachkompetenz und auch Entscheidungsbefugnis verfügen, länderübergreifend und über einen langen Zeitraum hinweg zusammenarbeiten und ein gemeinsames Ziel verfolgten. Sie sind nicht durch kurzfristige Eigeninteressen motiviert, sondern durch gemeinsame Ziele, durch handlungsleitende Orientierungen, die man auch als gemeinsame Ideen oder Werte bezeichnen kann. Ihr Ziel ist es, diese gemeinsamen Orientierungen oder Werte in politisches Handeln zu übertragen, in dem jeweiligen Bereich durchzusetzen oder mehrheitsfähig zu machen.67) In dieser Studie stehen also Eliten im Zentrum der Untersuchung. Sie ist daher ein Beitrag zur Arbeiterbewegungs-, nicht aber zur Arbeitergeschichte. Den Anspruch, nach sozialgeschichtlicher Methodik zu arbeiten, kann und will sie nicht erheben. Als Ideengeschichte von Funktionären in SPD und DGB will sie vielmehr zeigen, daß gesellschafts- und kulturgeschichtliche Ansätze durchaus auch auf die Arbeiterbewegungsgeschichte angewandt werden kön-

Arbeiterbewegung.

nen, die

zuvor

-

nen.

Von zentraler Bedeutung für diese Studie ist zudem der biographische Zugriff. Die Untersuchung der politischen und ideellen Biographien der beteiligten Personen bietet den Schlüssel zu ihren Motiven, zu jenem Wertewandel, der der Westernisierung schließlich zugrundeliegt.

66)

Damit folge ich dem .Positionsansatz' der Elitentheorie: vgl. Peter Waldmann: Elite/ Elitentheorie, in: Dieter Nohlen, Hg.: Wörterbuch Staat und Politik, Neuausgabe 1995, S. 113-117, hier S. 115, mit weiteren Literaturangaben zur Elitentheorie. 67) Für den Netzwerkbegriffs. Klaus Schubert: ,Netzwerkanalyse', in: Dieter Nohlen, Hg.: Lexikon der Politik, Bd. 2: Politikwissenschaftliche Methoden, hg. v. Jürgen Kriz/Dieler Nohlen/Rainer-O\af Schultze, München 1994, S. 272-274; zum Begriff der politischen Elite siehe TB. Bottomore: Elite und Gesellschaft. Eine Übersicht über die Entwicklung des Eli-

teproblems,

München 1966.

36

Einleitung Zur Anlage der Arbeit

Zu Beginn werden die Ordnungsvorstellungen der deutschen und der amerikanischen Arbeiterbewegung gegenübergestellt. Was für ein Gesellschaftsbild haben sie, was für ein Politik- und Staatsverständnis? Welche Ziele verfolgen sie, und mit welchen Mitteln sollen sie erreicht werden? Hier werden die hauptsächlichen Unterschiede zwischen der deutschen und der amerikanischen Arbeiterbewegung herausgearbeitet, und zwar für den Bereich des politischen Denkens und der handlungsleitenden Interessen; die Organisations- oder Ereignisgeschichte tritt dagegen in den Hintergrund. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet also der Status quo ante der Beziehungsgeschichte, die es hier zu untersuchen gilt: Es geht um die Wertvorstellungen und Ziele beider Seiten, bevor sie sich beeinflussen. Das Kapitel zur Sozialdemokratie behandelt nur die Jahre bis 1933, da sie dann als legale Organisation in Deutschland nicht mehr existieren kann und da auf die Entwicklung im Exil später noch ausführlich eingegangen wird. Zudem sind es die Weimarer Traditionen, an die die Partei 1945 wieder anknüpft. Der Teil zur amerikanischen Gewerkschaftsbewegung behandelt dagegen vornehmlich die 1940er und 1950er Jahre, da sich erst in dieser Zeit das Wertegebäude ausbildet, um das es hier geht. Im folgenden werden zunächst die Ziele und das Vorgehen der amerikanischen Seite betrachtet. Das mag verwundern, geht es doch eigentlich um die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie. Die Logik dieses Vorgehens besteht darin, daß es im Kern der Untersuchung um das Wirken eines transnationalen Netzwerks in den 1950er Jahren geht. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppierung entscheidet darüber, wer hier Beachtung findet. Da dieses Netzwerk auf die Aktivitäten der amerikanischen Gewerkschaften nach 1945 zurückgeht, wird entsprechend auch zuerst deren .Außenpolitik' dargestellt. Welche Ziele verfolgten sie mit ihrem weltweiten Engagement, was wollten sie in Europa und in Deutschland erreichen? Bemerkenswert ist dabei die Übereinstimmung dieser Gewerkschaften mit den Zielen der amerikanischen Regierungsaußenpolitik im frühen Kalten Krieg. Neben der Kooperation mit Regierungsbehörden bildeten sie eigene außenpolitische' Institutionen aus, die Ziele formulierten und umsetzten. Am Ende stand ein weitreichendes und stabiles Netzwerk, das Personen und Organisationen in vielen Ländern verband. Die Beziehungen der amerikanischen Gewerkschaftsbünde zur westdeutschen Arbeiterbewegung standen in diesem größeren Zusammenhang. Sie begannen unmittelbar nach Kriegsende und zielten zunächst auf die Frage des gewerkschaftlichen Neuaufbaus und der Besatzungspolitik. Parallel zu offiziellen Kontakten zwischen den Organisationen wurden Netzwerksbeziehungen aufgebaut. Oft gingen diese Kontakte auf Beziehungen der Deutschen untereinander und zu den Amerikanern aus der Zeit des Exils zurück. Welche Motive aber hatten die deutschen Sozialdemokraten und Gewerkschafter ihrerseits, mit amerikanischen Gewerkschaftern zu kooperieren?

3. Zum

Vorgehen

37

An dieser Stelle wird in der Darstellung ein zeitlicher Schnitt gesetzt und die Chronologie unterbrochen, um die politischen und ideellen Biographien der deutschen Netzwerksangehörigen seit den späten 1920er Jahren in den Blick zu nehmen. Denn ihrem Wirken als ,Westernisierer' in der Nachkriegszeit geht ein eigener Wertewandel zeitlich und ursächlich voraus. Dieses Umdenken bei den Protagonisten, den Trägern des interkulturellen Transfers, wird von ihren politischen Vorstellungen in der späten Weimarer Republik über Widerstand und Exil bis zur Remigration Mitte bis Ende der 1940er Jahre ideengeschichtlich nachgezeichnet. Denn durch die Erfahrungen der 1930er Jahre lösten sie sich von ihren radikal sozialistischen oder gemäßigt kommunistischen Positionen; neue Wertvorstellungen und politische Konzepte erwarben sie jedoch erst zwischen 1940 und 1945, und zwar durch die Erfahrungen der Fremde: durch die gegenseitige Annäherung der politischen Gruppierungen in der Ausnahmesituation des Exils sowie insbesondere durch die Beziehungen mit den Gesellschaften ihrer Gastländer. Hier geht es auch darum, zu klären, wer zu einem ,Westernisierer' wird und wer nicht, und ob sich dafür Kriterien entwickeln lassen. Dieses Kapitel führt in der Darstellung schließlich wieder zu dem Zeitpunkt, an dem das Netzwerk seine Arbeit aufnimmt. Im Anschluß geht es dann um die Durchsetzung der neuen Konzepte in SPD und DGB, um das Wirken der Reformer, ihre konkreten Ziele, und die Strategien, durch die sie diese Ziele zu erreichen suchen. Außerdem wird nach der Rolle gefragt, die die amerikanischen Gewerkschaften hierbei spielten. Wie entwickelte sich dieses transatlantische Verhältnis während der 1950er Jahre, und wie funktionierte das Netzwerk? Das Ergebnis sind schließlich die Reformprogramme von Godesberg und Düsseldorf, die im einzelnen auf ihren Gehalt an ,Westlichkeit' zu untersuchen sind. Mit Blick auf den Ausgangspunkt, die Weimarer Traditionen der Sozialdemokratie, gilt es nun zu beurteilen, ob der ja ganz offensichtliche programmatische Wandel in SPD und DGB tatsächlich auf das Einwirken anderer politischer Kulturen zurückzuführen ist. Denn es geht hier nicht darum nachzuweisen, daß es zu einem Wertewandel kam, sondern vielmehr um die Frage, welcher Art dieser war und ob er sich der Übertragung von Ordnungsvorstellungen aus dem Ausland verdankt. Schließlich bleibt zu fragen, welchen Anteil die Remigranten und welchen die amerikanischen Gewerkschafter an den Entwicklungen hatten. Die Annahme, die der Studie zugrundeliegt und die auch mit dem Konzept der Westernisierung zum Ausdruck gebracht werden soll, ist die, daß erst die Kooperation der amerikanischen Gewerkschafter mit ihren deutschen Netzwerkspartnern den Prozeß des Umdenkens in SPD und DGB zustande gebracht hat.

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der deutschen und amerikanischen Arbeiterbewegung Die Westernisierung der deutschen Arbeiterbewegung war ein vielschichtiger und langwieriger Prozeß, der sich zwischen etwa 1940 und Mitte der 1960er Jahre hinzog und in dessen Verlauf sich SPD und Gewerkschaften ein westliches Politikverständnis und Gesellschaftsbild aneigneten. Dies veränderte zugleich die eigenen, deutschen sozialistischen Traditionen, in die neue, westliche Elemente eingebaut wurden. Die einzelnen Schritte und das Ergebnis dieses ideellen Wandlungsprozesses sollen im folgenden untersucht werden. Vorab muß jedoch geklärt werden, was der Begriff, westlich' für eine Arbeiterbewegung überhaupt zu bedeuten hat, und was im Gegensatz dazu mit deutschen' sozialistischen Traditionen gemeint ist, denn nur so lassen sich die Dimensionen der Veränderung erfassen, welche die (west)deutsche Arbeiterbewegung ausgehend von ihren Weimarer Traditionen durchlaufen hat. Diesem Zweck soll daher im ersten Kapitel eine Gegenüberstellung der ideellen und programmatischen Positionen der deutschen Sozialdemokratie Partei wie Gewerkschaften mit der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung dienen, wie sie sich in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs darstellten, zu dem Zeitpunkt also, als die offiziellen wie informellen Beziehungen beider Seiten begannen. Zunächst werden die ordnungspolitischen Vorstellungen, die Werthaltungen und das Selbst- und Rollenverständnis der deutschen und der amerikanischen Arbeiterbewegung vorgestellt und die Unterschiede zwischen beiden herausgearbeitet, wie sie sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt hatten. Es geht uns dabei um die Ebene der Werte und Ideen und um die Frage, wie sie das Verhältnis der Arbeiterbewegung zur Gesellschaftsordnung und zum Staat prägten, denn hierin liegt einer der Hauptunterschiede zwischen beiden Seiten begründet. Die amerikanische Arbeiterbewegung verstand sich in der Theorie, die sie seit den 1930er Jahren auch in die Praxis umsetzen konnte, als legitimer Bestandteil der amerikanischen Gesellschaftsordnung und des politischen Systems. Sie betrieb systemimmanente Opposition, wenn sie es für nötig hielt, niemals aber Fundamentalopposition. Verfassung, Regierungs- und Wirtschaftsordnung ließen sich verbessern, bildeten aber die wesentliche Grundlage des eigenen politischen Handelns und wurden als solche nicht prinzipiell in Frage gestellt. Das war, aufgrund historischer Erfahrungen ebenso wie theoretischer Grundannahmen, für die deutsche Arbeiterbewegung anders. Denn die deutsche Sozialdemokratie und die freien Gewerkschaften verstanden sich selbst als Systemopposition, welche die Wirtschaftsordnung jedenfalls theoretisch in Frage stellte und eine grundlegende Gesellschaftsreform zu ihrem Ziel erklärte selbst noch, als die SPD in der Weimarer Republik staatstragende Funktion hatte. -

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40

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

zwischen der deutschen und der amerikanischen Arbeiterbewein wurden der Forschung bislang kaum vorgenommen. Dies hat nicht zugung letzt damit zu tun, daß die amerikanische Gewerkschaftsbewegung besonders unter deutschen Arbeiterbewegungshistorikern nicht uneingeschränkt als Ar-

Vergleiche

beiterbewegung gilt, da ihr das parteipolitische Moment fehlte.1) Dies beschränkt die Wahrnehmung vieler Historiker auf den westeuropäisch-sozialistischen Typus von Arbeiterbewegungen, wobei in der vergleichenden Forschung wiederum die deutsche und die britische Variante den

Untersuchungshorizont dominieren.2) Die Arbeiterbewegung ist ein internationales Phänomen, das sich im 19. Jahrhundert parallel, jedoch in unterschiedlichen Varianten, in allen industrialisierten Gesellschaften entwickelt hat.3) In Westeuropa, der Wiege des Sozialismus, wurde es zum langfristigen Ziel der Arbeiterbewegung, den Kapita-

lismus abzuschaffen und eine Gesellschaft zu errichten, in der die Produktion der Kontrolle der Arbeiterschaft unterworfen wäre statt der Entscheidung der Eigentümer und den Gesetzen des Marktes. Soziale Gerechtigkeit und Emanzipation waren die Ziele dieser Bewegung, ein menschenwürdiges Leben für die Arbeiterschaft, welches man nur dadurch erreichen zu können glaubte, daß man die Macht- und Eigentumsverhältnisse, ja die gesamte Gesellschaftsordnung umstürzte. Diese Vorstellung beruhte zu keinem geringen Teil auf den Erfahrungen, welche die jungen Arbeiterbewegungen mit den Regierungen und den Arbeitgebern der bürgerlichen Gesellschaftsordnungen des 19. Jahrhunderts gemacht hatten. Besonders die Erfahrungen der deutschen Arbeiterbewegung schlugen sich in der sozialistischen Theorie nieder, die bald zur Leitideologie der gesamten westeuropäischen Linken wurde. Nachdem die SPD 1891 den Marxismus offiziell in ihr Programm aufgenommen hatte, breitete er sich rapide in der ganzen europäischen Linken aus.4) Als erfolgreichste Arbeiter-

') „Beispielsweise erscheint eine große, zusammenfassende Deutung der Arbeiterbewegungsgeschichte in den USA in einem europäischen', zumal im ,kontinentaleuropäischen' Sinne als nicht möglich: Ihr müßte das Moment parteipolitischer und damit politikgeschichtlicher Eigenständigkeit fehlen." Tenfelde: Sozialgeschichte und vergleichende Geschichte

der Arbeiter, hier S. 28. 2) Berger: The British Labour Party and the German Social Democrats; Eisenberg: Deutsche und englische Gewerkschaften; Eisenberg: The Comparative View in Labour History. Auch wo kein direkter Vergleich zwischen Deutschland und Großbritannien vorgenommen wird, bestimmt doch häufig der Blick nach Großbritannien den Fragehorizont oder wird die kontinentaleuropäische der angelsächsischen Entwicklung idealtypisierend gegenübergestellt: als Beispiele unter vielen: Walter Kendall: The Labour Movement in Europe, London 1975; John Breuilly: Labour and Liberalism in Nineteenth-Century Europe. Essays in Comparative History, Manchester-New York 1991; Jürgen Kocka, Hg.: Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Deutschland, Österreich, England und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1983. 3) Eisenberg: The Comparative View in Labour History, S. 403; Sassoon: One Hundred Years of Socialism, passim. 4) Sassoon: One Hundred Years of Socialism, S. 9.

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

41

partei der Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg hatte die deutsche Sozialdemokratie Vorbildfunktion für praktisch alle kontinentaleuropäischen sozialistischen Parteien, auch für die Entwicklung der englischen Arbeiterbewegung. Diese ,hegemoniale' Rolle der SPD in der europäischen sozialistischen Bewegung, als „Schlüsselpartei der zweiten Internationale"5), verdankte sich einer besonderen Kombination von Umständen: Deutschlands damaliges machtpolitisches und wirtschaftliches Gewicht in Europa sowie das Ansehen deutscher Kultur und Wissenschaft, vor allem der Philosophie und der Sozialwissenschaften, verstärkte die Wirkung der Tatsache, daß die SPD nach dem Ende des Sozialistengesetzes die am besten organisierte Partei war und europaweit die größten Wahlerfolge aller sozialistischen Parteien verbuchen konnte.6) Das Erfurter Programm der SPD von 1891 wurde einer der meistgelesenen Texte unter europäischen Sozialisten, und Kautskys Kommentar des Programms, der noch vor 1914 in sechzehn Sprachen übersetzt wurde, avancierte international zur „anerkannten populären Summa" des Marxismus.7) Die SPD diente als Vorbild bei der Gründung der österreichischen, der schwedischen, der norwegischen, der finnischen und der Schweizer Arbeiterpartei, teilweise auch als Vorbild der italienischen und belgischen, vor allem aber für die südosteuropäischen Parteien.8) Auch wenn jede dieser nationalen Arbeiterbewegungen ihre spezifischen Eigenarten aufwies praktisch alle begründeten ihre jeweilige Abweichung von der mutmaßlichen Norm mit ihren nationalen Besonderheiten und Rahmenbedingungen -, so lassen sich doch zwischen 1890 und 1914 einige Gemeinsamkeiten der europäischen Sozialisten ausmachen, nicht zuletzt die programmatische Ausrichtung am populär vereinfachten Marxismus Karl Kautskys und August Bebeis, der zum „Marxismus der zweiten Internationale" geworden war.9) Die Entwicklung in Westeuropa legt einen klaren Zusammenhang zwischen der Industrialisierung und der Entstehung einer sozialistischen Bewegung nahe. Das Beispiel der USA zeigt jedoch, daß dieser Zusammenhang keineswegs so zwingend war, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn in den USA, -

der schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts am weitesten entwickelten Industriegesellschaft, fand sich, zur wachsenden Irritation der europäischen Soziali-

5) Sassoon:

One Hundred Years, S. 9 (meine Übersetzung, J.A.). Siehe auch: Susanne Miller: Die SPD und die Zweite Internationale, in: Klaus Schönhoven/Dlettich Staritz, Hg.: Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag, Köln 1993, S. 136-152. 6) Sassoon: One Hundred Years, S. lOf. 7) Sassoon: One Hundred Years, S. 11 (meine Übersetzung, J.A.). Karl Kautsky: Das Erfurter Programm. In seinem grundsätzlichen Theil erläutert, Stuttgart 1892; Jürgen Rojahn/TiW Schelz/Hans-Josef Steinberg, Hg.: Marxismus und Demokratie. Karl Kautskys Bedeutung in der sozialistischen Arbeiterbewegung, Frankfurt/M.-New York 1992. 8) Sassoon: One Hundred Years, S. 11 f.; für die Ausnahme Frankreich und für Spanien siehe ebda. 12f., zu Italien siehe 13f. 9) Sassoon: One Hundred Years, S. 5 (meine Übersetzung, J.A.); außerdem ebda. S. 9, 14f.

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der

Arbeiterbewegung

sten, eben keine sozialistische Bewegung und keine Arbeiterpartei wohl aber eine Gewerkschaftsbewegung. Dieses Phänomen erschien den sozialistischen Theoretikern als eklatanter Widerspruch zum marxistischen Diktum, daß das jeweils am weitesten industrialisierte Land den andern das Bild ihrer eigenen Zukunft vor Augen halte und also den Weg in den Sozialismus weisen -

müßte.10) Als Erklärungsmodell für diese scheinbare Anomalie diente und dient bis auf den heutigen Tag der Topos vom American Exceptionalism. '' ) Die Frage, warum die USA als einziges unter den industrialisierten Ländern keine sozialistische Bewegung hervorgebracht haben, beschäftigte seit dem späten 19. Jahrhundert Theoretiker, Historiker und Publizisten.12) Tocqueville formulierte in den 1830er Jahren als erster die Ansicht, die USA unterschieden sich grundlegend in ihren gesellschaftlichen Organisationsprinzipien und ihrer sozialen Struktur von den traditionelleren, post-feudalen und daher statusorientierten Nationen der Alten Welt.13) Nach dem Ersten Weltkrieg verengte sich der Gebrauch des Begriffs American Exceptionalism darauf, das Fehlen einer radikalen bzw. sozialistischen Arbeiterbewegung in den USA zu erklären.14) Seymour Martin Lipset betrachtet die amerikanische Besonderheit als das Ergebnis eines historischen Prozesses, der mit einer egalitaristischen, das heißt -

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meritokratischen und individualistischen Revolution begann.15) Während des 19. und 20. Jahrhunderts blieben die USA seiner Meinung nach das Land, das

10) Seymour

Martin

Lipset: The End of Political Exceptionalism?, in: Wolfgang Merkel/

Busch, Hg.: Demokratie in Ost und West. Für Klaus von Beyme, Frankfurt/M. 183-209, hier S. 184f.; R. Laurence Moore: European Socialists and the American Promised Land, New York 1970, S. 91. Vgl. auch Werner Sombart: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?, Tübingen 1906. 1') Seymour Martin Lipset: The End of Political Exceptionalism?, passim. 12) Siehe etwa: Richard Flacks: Making History: The Radical Tradition in American Life, New York 1988, S. 104 f.; Kim Voss: The Making of American Exceptionalism. The Knights of Labor and Class Formation in the Nineteenth Century, Ithaka 1993; Rick Halpernßonathan Morris, Hg.: American Exceptionalism. U.S. Working Class Formation in International Context, New York 1997; Robert J. Fitrakis: The Idea of Democratic Socialism in America and the Decline of the Socialist Party, New York 1993; Mike Davis: Prisoners of the American Dream. Politics and Economy in the History of the US Working Class, New York 1988. Andreas 1999, S.

Haltung sozialistischer Theoretiker siehe beispielsweise: Friedrich Engels: Engels Weydemeyer, 7. August 1851, in: Karl A/arr/Friedrich Engels: Letters to Americans, 1848-1895, New York 1953, S. 25 f., und Engels an Sorge, 6. Januar 1892, ebda. S. 239; Sombart: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?; H.G. Wells: The Für die an

Future in America, New York 1906. 13) Alexis de Tocqueville: Democracy in America, 2 Bde., New York 1948, S, 36f.; Seymour Martin Lipset: American Exceptionalism: A Double-Edged Sword, New York 1996. 14) Seymour Martin Lipset/Gary Marks: It didn't Happen Here: Why Socialism Failed in the United Staates, New York 2000. 15) Das folgende beruht auf: Lipset: The End of Political Exceptionalism?, S. 199-200; und Seymour Martin Lipset: Continental Divide. The Values and Institutions of the United States and Canada, New York 1990, S. 8-13, 22-36.

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

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einer klassischen liberalen Gesellschaft mit ihrer Ablehnung von ,Elitismus', Etatismus und konservativem Ständedenken am nächsten kam. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatten der Sozialismus und das Denken in Kategorien des Klassenkampfes wenig Chancen in einer Gesellschaft, deren Wertesystem antietatistisch, deren soziale Struktur jedenfalls zumindest egalitär war, zumindest aber ein hohes Maß an sozialer Mobilität zuließ, und die von einer individualistischen protestantisch-sektiererischen Weltsicht geprägt war. Erst in den 1930er Jahren kam es zu deutlichen qualitativen Veränderungen in diesem Gefüge, kam erstmals ein „social democratic finge" in die USA.16) Als Folge der Weltwirtschaftskrise erhielten nun Planung, Wohlfahrtsstaat und die Rolle der Regierung als hauptsächlichem regulierenden Akteur eine bis dahin nie gekannte Bedeutung. Die 1930er Jahre führten in dieser Hinsicht zu einer .Europäisierung' nicht nur der amerikanischen Politik, sondern zu einem gewissen Grade auch der amerikanischen Arbeiterbewegung.17) Nach dem Zweiten Weltkrieg schwang das Pendel jedoch allmählich wieder in die andere Richtung, nicht zuletzt wegen des steigenden Wohlstandes in der amerikanischen Gesellschaft, welcher der klassisch liberalen Weltsicht, die in den USA als Conservatism bezeichnet wird, wieder zum Durchbruch verhalf.18) Aus dieser Perspektive des American Exceptionalism erschien die deutsche Arbeiterbewegung, wie insgesamt die europäischen, als der Normalfall, von dem die USA und ihre Arbeiterbewegung auffällig abwichen. Diese Einschätzung steht jedoch in offensichtlichem Gegensatz zu der Vorstellung vom ,Deutschen Sonderweg', die in der westdeutschen Arbeiterbewegungsforschung, vor allem aber den vergleichenden Studien zu den europäischen Arbeiterbewegungen, noch bis zum Ende der 1980er Jahre großen Einfluß besaß.19) Denn dieses Interpretament ging von einer Abweichung Deutschlands von der .Normalität' und Normativität des westeuropäischen, vor allem des britischen Entwicklungsmodells aus und fungierte nach 1945 als zentraler Erklärungsansatz für die Entstehung des Nationalsozialismus, dessen Vorgeschichte von Luther über Hegel und Friedrich den Großen bis ins Bismarckreich, in den Ersten

16) Richard Hofstadter: The Age of Reform. From Bryan to F.D.R., New York 1972, S. 308. 17) Lipset: The End of Political Exceptionalism?, S. 200; zur in dieser Zeit wachsenden Rolle des ,Klassenfaktors' unter den Parteianhängerschaften siehe: Samuel Lubell: The

Future of American Politics, 3. Aufl., New York 1965, S. 55-68. 18) Lipset: The End of Political Exceptionalism?, S. 200. 19) Zur These vom .Deutschen Sonderweg' siehe allg.: Bernd Faulenbach: Überwindung des „deutschen Sonderweges"? Zur politischen Kultur der Deutschen seit dem Zweiten Weltkrieg, in: APuZ, B51/1998, S. 11-23; Ders.: „Deutscher Sonderweg". Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewußtseins, in: ApuZ, B 33/1981, S. 3-21; Ders.: Ideologie des Deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980; Helga Grebing: Der „deutsche Sonderweg" in Europa 1806-1945. Eine Kritik, Stuttgart u.a. 1986; Deutscher Sonderweg Mythos oder Realität? Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, München 1982. -

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

und schließlich zur .Machtergreifung' Hitlers führte.20) Seit den 1960er Jahren stand das deutsche Modernisierungsdefizit im Mittelpunkt der Betrachtungsweise.21) Besondere Beachtung fanden die Bedingungen im Deutschen Kaiserreich, vor allem die „Diskrepanz von wirtschaftlich-gesellschaftlicher Modernisierung und politischer Traditionalität",22) sowie die „Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie", mit weitreichenden Folgen für die politische Entwicklung in Deutschland.23) Diese Sichtweise stellt die Arbeiterbewegung mit ins Zentrum der Fragestellung nach der Besonderheit der deutschen historischen Entwicklung. Denn sie galt als eine der wichtigsten progressiven Kräfte in Deutschland, als ein Modernisierungsfaktor, dem die gesellschaftliche und politische Mitwirkung im Kaiserreich mit Repression und Ausschlußverfahren verweigert wurde. Aber nicht nur das Verhalten der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, sondern auch die Arbeiterbewegung selbst wurde in Relation zur britischen Arbeiterbewegung wahrgenommen, die nun als der Normalweg erschien. Sowohl Entstehungsgeschichte als auch Struktur von Partei und Gewerkschaftsbewegung in Deutschland unterschieden sich in dieser Forschungsperspektive stark von jenen in den westeuropäischen Ländern; Klaus Tenfelde spricht daher vom „Sonderweg der deutschen Arbeiterbewegung [...], die nicht anders konnte als revolutionär zu sein, die aber doch zugleich den Reformismus in sich nährte, ohne sich seinen Einsichten beugen zu dürfen."24) In den westlichen Industrienationen Großbritannien und USA sei dagegen „Arbeiter-Interessenpolitik auf

Weltkrieg

20)

Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946; Gerhard Ritter Das deutsche Problem. Grundlagen des deutschen Staatslebens gestern und heute, München 1962. Mit deutlich anderer politischer und weltanschaulicher Stoßrichtung dagegen: Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Königstein 1978, Ders.: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln-Berlin 1969. 21) Vgl. etwa M. Rainer Lepsius: Demokratie in Deutschland als historisch-politisches Problem, in: Theodor W. Adorno, Hg.: Spätkapitalismus und Industriegesellschaft, Stuttgart 1968, S. 197-213; Hans-Ulrich Wehler. Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. Als „Klassiker" dieses Zugangs siehe: Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973. Für die politikwissenschaftliche bzw. demokratietheoretische sowie soziologische Einschätzung in den 1960er Jahren siehe: Ernst Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, sowie Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland.

22) Klaus Tenfelde: Geschichte der deutschen Arbeiter und der Arbeiterbewegung ein Sonderweg, in: Der Aquädukt 1763-1988. Ein Almanach aus dem Verlag C.H. Beck im 225. -

Jahr seines Bestehens, München 1988, S. 469-483, hier S. 472. 23) Gustav Mayer Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland, 1863-1870, [1912], in: Ders.: Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt/M. 1969, S. 108-194. 24) Tenfelde: Sonderweg, S. 481.

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

diese oder jene Weise, aber jedenfalls in demokratisch-parlamentarischen Formen anerkannt" worden.25) Mittlerweile hat die Sonderwegsthese viel von ihrer Bedeutung verloren. Der aus modernisierungstheoretischer Sicht fast selbstverständliche Konnex zwischen industriegesellschaftlicher Entwicklungsstufe und liberaldemokratischem Politikmodell wird inzwischen hinterfragt. Zudem hat der ,deutsche Sonderweg' einer näheren komparatistischen Untersuchung verschiedener westeuropäischer Gesellschaften nicht standgehalten.26) Man sah nun keinen Normal weg' mehr, sondern nur noch Sonderwege.27) In der Tat scheint bei genauerer Betrachtung kaum eine Arbeiterbewegung der ,Norm' zu entsprechen, ja diese Norm selbst verschwimmt bei näherem Hinsehen.28) Hans Mommsen hat eine Typologie der europäisch-atlantischen Arbeiterbewegung entworfen, die drei Gruppen bildet: die von der SPD dominierten Arbeiterbewegungen Zentral- und Osteuropas sowie Skandinaviens; diejenigen der westeuropäischen Kontinentalstaaten mit stärker syndikalistischen Elementen; und schließlich die angelsächsischen Arbeiterbewegungen, ein eigener Typus der Arbeiter-Interessenvertretung.29) Aber selbst diese Typologie läßt sich bei eingehender Betrachtung leicht in Frage stellen, denn für die Gegebenheiten an der Basis gilt sie nur bedingt: „official ideology" und „ideology from below" sind alles andere als identisch.30) Unterschiedliche Vergleichsräume und -ebenen führen also zu jeweils anderen Sonder- und Normalfällen. Hier sollen also ungeachtet aller Sonderwege und Exceptionalisms zunächst die Unterschiede zwischen der deutschen und der amerikanischen Arbeiterbewegung betrachtet werden, jedoch ohne daraus normative Aussagen ableiten zu wollen. Vielmehr geht es darum, den ,Status quo ante' dieser transatlantischen Beziehungen festzustellen, ehe ein Prozeß des Kulturtransfers be,

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25) Ebda. 26) Eisenberg: Deutsche und englische Gewerkschaften; Berger: The British Labour Party and the German Social Democrats; Tenfelde: Sozialgeschichte und vergleichende Geschichte der Arbeiter; Thomas Welskopp: Klasse als Befindlichkeit? 27) Damit konnten sich Geoff E/ey: Deutscher Sonderweg und englisches Vorbild, in: David Blackbourn/Geoff Eley: Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürger-

liche Revolution von 1848, Frankfurt/M.-Beriin 1980, S. 7-70; David Calleo: The German Problem Reconsidered. Germany and the World Order, 1870 to the Present, Cambridge 1978; und Thomas Nipperdey in: Deutscher Sonderweg Mythos oder Realität?, S. 16-26, in ihrer Kritik bestätigt sehen. 28) Hans-Ulrich Wehler spricht an einer Stelle gar vom „okzidentalen .Sonderweg' ": HansUlrich Wehler: Was ist Gesellschaftsgeschichte?, in: Ders.: Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988, S. 115-129, hier S. 121. 29) Hans Mommsen: Zum Problem der vergleichenden Behandlung nationaler Arbeiterbewegung am Beispiel Ost- und Südostmitteleuropas, in: IWK, 15/März 1979, Heft 1, S. 31-34. 30) Berger: The British Labour Party and the German Social Democrats, S. 14f; S. 173-206. -

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

dessen Ende die deutschen Sozialdemokraten westlich-atlantische Konzepte in ihre Programmatik aufgenommen hatten. Es geht darum zu zeigen, wie verschieden beide Bewegungen waren, obwohl sie letzten Endes für die gleiche Klientel und um vergleichbare Anliegen kämpften. Allerdings interessiert uns hier ausschließlich die Ebene der Ideen, Ordnungsvorstellungen und Werthaltungen, der Programmatik und Theorie. Im einzelnen soll geklärt werden, was beide Seiten jeweils unter Politik verstanden, welche Rolle sie dem Staat zuwiesen und wie sie sich das Funktionieren der Gesellschaft dachten. Welche Funktion schließlich sprach man sich selbst, den Organisationen der Arbeiterbewegung, in den Abläufen der wirtschaftlichen und politischen Ordnungen zu? Da es um Progamme geht, um die Wertvorstellungen und Grundkonzepte, die die praktische Politik von Partei und Gewerkschaften bestimmten, wird hier, der Grundausrichtung der gesamten Arbeit entsprechend, nicht die .Basis' betrachtet, sondern die Ebene der Organisation und der Funktionäre, die Programme schrieben und veränderten und sie in die politische Praxis umsetzten. Die amerikanische Gewerkschaftsbewegung wird dabei etwas ausführlicher vorgestellt und im Gegensatz zu SPD und deutschen Gewerkschaften, bei denen dies wohl eher vorausgesetzt werden darf, auch in ihrer organisatorischen Entwicklung kurz beschrieben. gann,

an

1. Das ideelle Erbe der deutschen Sozialdemokratie bis 1933 Die SPD wurde 1945 wiedergegründet in bewußtem Rekurs auf die Traditionen der Partei seit dem Erfurter Programm von 1891.31) Dieses Programm, das bis 1921 in Kraft blieb, formulierte das Ergebnis der Erfahrungen aus den 1870er und 1880er Jahren, und gab der Marxismus-Rezeption der SPD Ausdruck.32) Das Gesellschaftsbild und Politikverständnis dieses Programms

3i)

Albrecht Kaden: Einheit oder Freiheit. Die Wiedergründung der SPD 1945/46, Hanno1964, S. 281. 32) „Erst mit dem Erfurter Programm erfolgte die entscheidende und eindeutige Wendung [der Sozialdemokratie] zum Marxismus." Miller Das Problem der Freiheit, S. 17. Zur Arbeiterbewegung im Deutschen Kaiserreich siehe v.a.: Gerhard A. Ritter/K\aus Tenfelde: Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, hg. v. Gerhard A. Ritter, Bd. 5), Bonn 1992, der jedoch den Bereich der Arbeiterbewegung weitgehend ausspart. Die hierzu angekündigten Bände sechs und sieben: Gerhard A. Ritter: Der Durchbruch zur Massenbewegung. Die Arbeiterbewegung im Kaiserreich vom Gothaer Einigungskongreß 1875 bis in die 1890er Jahre, und Klaus Tenfelde: Zwischen Integration und Klassenkampf. Die Arbeiterbewegung im Kaiserreich von den 1890er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, sind noch nicht erschienen. Außerdem: Gerhard A. Ritter: Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890-1914, 2. Aufl., Berlin 1963; Schönhoven: Deutsche Gewerkschaften, S. 58-115; Ders.: Die Gewerkschaft ver

1. Das ideelle Erbe der deutschen Sozialdemokratie bis 1933

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sollte die Sozialdemokratie auf viele Jahrzehnte hinaus von kurzlebigen Ausnahmen abgesehen praktisch bis zum Ende der 1950er Jahre prägen. Das Erfurter Programm enthielt zwei Teile.33) Der erste, theoretisch-grundsätzliche, der großenteils von Karl Kautsky stammte und in Abstimmung mit Friedrich Engels entstanden war, verknüpfte eine Analyse und Prognose der Gesellschaftsentwicklung mit der sozialistischen Zielsetzung und interpretierte sie als Naturgesetzlichkeit.34) Aus dieser Perspektive erschien der Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft zunehmend als ein Ereignis, das von selbst, also ohne das direkte revolutionäre Zutun des Proletariats eintreten werde, auf welches das Proletariat aber vorbereitet sein müsse. Der zweite, von Eduard Bernstein geschriebene Teil bezog sich auf die Praxis, auf die konkreten politischen Forderungen der SPD zur Verbesserung der politischen und sozialen Situation der Arbeiter. Diese Forderungen setzten allerdings zugleich eine Anerkennung der bestehenden Gesellschaftsordnung und ihrer Institutio-

-

nen

voraus.35)

Dies brachte die Doppelstrategie der SPD zum Ausdruck, die Wilhelm Liebknecht auf dem Erfurter Parteitag folgendermaßen formuliert hatte: „Das Revolutionäre liegt nicht in den Mitteln, sondern im Ziel!"36) Damit bewegte sich die Programmatik der Sozialdemokratie „von Anfang an auf zwei Ebenen".37) Auf der Ebene der täglichen politischen Praxis sollten Staat und Gesellschaft in ihrer historisch gewachsenen Form reformiert werden. Bis ein Zustand größerer sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Freiheit erreicht wäre,

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Massenbewegung im Wilhelminischen Kaiserreich 1890 bis 1914, in: Tenfelde u.a.: Geschichte der deutschen Gewerkschaften, S. 167-278; Schneider. Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S. 66-114; Lehnen: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei, S. 78-110; Helga Grebing: Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914, München 1985 (im folgenden als „Grebing: Arbeiterbewegung" zitiert); Gerhard A. Ritter: Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung vom Vormärz bis zum Ende der Weimarer Republik, Berlin-Bonn 1980. 33) Das Erfurter Programm ist abgedr. in: Dieter Dowe/KurX Klotzbach, Hg.: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, 2. Aufl., Berlin-Bonn 1984, S. 187-192. 34) Dieser erste, allgemeine Teil aus der Feder Kautskys paraphrasierte den siebten Abschnitt aus dem 24. Kapitel des Marx'schen „Kapital", vgl. die Einleitung zu: Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente, S. 13-56, hier S. 27. 35) Erfurter Programm, abgedr. in: Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente, S. 187-192, hier S. 190 f. 36) Grebing: Arbeiterbewegung, S. 107. Vgl. auch Karl Kautsky: Ein sozialdemokratischer Katechismus, in: Die Neue Zeit, 12/1893-94, Bd. 1, S. 361-369, 402-410; in Auszügen abgedr. in: Grebing: Arbeiterbewegung, S. 153-155, hier S. 153. 37) Ob dies einen Dualismus zwischen Theorie und Praxis darstellte, wie es Dowe und Klotzbach konstatieren, (Einleitung zu: Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente, S. 13-56, hier S. 28) ist umstritten. Grebing: Arbeiterbewegung, etwa argumentiert, dieser Dualismus bestehe „nur dem Scheine nach". Das Erfurter Programm bringe den „Doppelcharakter des Selbstverständnisses" der SPD zum Ausdruck, das revolutionär und reformistisch zugleich war, vgl. S. 107-111. Zum folgenden siehe Susanne Miller: Das Problem der Freiheit im Sozialismus, Bonn 1974, S. 291-299, hierS. 291. ten als

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

sollten also systemimmanente Reformen unternommen werden. Auf der Ebene der langfristigen Zielsetzung jedoch wurde eine grundlegende Gesellschaftsreform, eine Systemtransformation angestrebt. Hier sollte die Vision einer sozialistischen Gesellschaft Wirklichkeit werden, die sich von der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung in ihrer äußeren Struktur ebenso unterschied wie in ihrer inneren Qualität. Beiden Ebenen der sozialdemokratischen Programmatik war jedoch die Vorstellung von der .Sozialen Revolution' gemeinsam. Diese sollte die Menschheit aus ihrem bisherigen Zustand der Klassengegensätze und Klassenkämpfe in eine Entwicklung überleiten, die von derlei Gegensätzen frei wäre. Die SPD sah die Ursache der Unfreiheit des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, in der Abhängigkeit der Arbeiter von den Eigentümern der Produktionsmittel. Daher erschien die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln als notwendiges und zugleich hinreichendes Mittel zur Befreiung des Proletariats. Freiheit galt somit als das zwangsläufige Ergebnis einer durch ökonomische Sozialisierung geschaffenen Gleichheit: als Freiheit von

Abhängigkeit.

Dahinter steckt ferner die Vorstellung, daß in einer sozialistischen Gesellschaft Übereinstimmung herrschen würde zwischen den Interessen des einzelnen und den Interessen der Gesamtheit, also den Erfordernissen des Gemeinwohls.38) Diese Gesellschafts- und Wirtschaftsform würde selbst wiederum als naturnotwendiges Ereignis der gesellschaftlichen Entwicklung eintreten, also nicht als Folge eines äußeren Eingriffs. Die Soziale Revolution vollzieht sich, sie wird nicht gemacht. Am Ende, so die Utopie, stünde eine Gesellschaftsordnung, in welcher der Staat, das heißt die politische Gewalt, abgestorben ist, eine „gewaltfreief.J menschliche[.] Gesellschaft Freier und Gleicher."39) Allerdings hat sich diese Utopie erst mit der Marxismus-Rezeption in der Sozialdemokratie durchgesetzt, und sie wurde nie von allen Anhängern geteilt. In der Anfangsphase der Sozialdemokratie hatte der Staat noch als idealer Träger der zentralen Verantwortung für das Gemeinwohl gegolten. Lassalle etwa hatte den Staat als sittliche Idee angesehen, der den Einzelinteressen gegenüber eine überragende moralische Position besaß.40) Für beide Varianten der sozial-

38) Susanne Miller macht in diesem Zusammenhang auf das Problem aufmerksam, das zum einen die Freiheitsbeschränkung des einzelnen auch oder sogar besonders in der sozialistischen Produktionsweise aufwerfe, und sich zum andern dadurch stelle, daß keinerlei Zwangsmaßnahmen vorgesehen seien, mit denen sich die Interessen der Gesamtheit im Falle von Abweichungen durchsetzen ließen. Miller: Das Problem der Freiheit, S. 292. 39) Miller: Das Problem der Freiheit, S. 293. 40) Siehe vor allem: Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ein Überblick, München 1966, S. 17-68; Dies.: Arbeiterbewegung; Detlef Lehnen: Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung und Regierungspartei 1848-1983, Frankfurt/M. 1983; Klaus Schönhoven: Die Deutschen Gewerkschaften, Frankfurt/M. 1987, S. 16-36, hier S. 18f.; Ritter Staat, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung. Der angekündigte vierte Band der von Gerhard A. Ritter herausgegebenen Reihe ,Geschichte der Arbeiter und der Arbei-

1. Das ideelle Erbe der deutschen Sozialdemokratie bis 1933

49

demokratischen Gesellschaftsvorstellungen aber vor und nach .Erfurt', marxistisch wie nicht-marxistisch, mit einem gemeinwohlorientierten Staat oder als Staats- und herrschaftsfreie Gesellschaft hatte das Gemeinwohl „absolute Vbrrangigkeit" vor den Einzelinteressen.41) Beide programmatischen Grundkonzepte hatten dieselbe Vorstellung davon, wie die Beziehung zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft zu denken sei, und ebendiese Vorstellung war eng mit einem weiteren Charakteristikum des Freiheitsbegriffs verknüpft, das allen sozialdemokratischen Gesellschaftskonzepten gemeinsam war. Ihr Verständnis von Freiheit bezog sich stets auf ein Kollektiv: gemeint ist „die Freiheit ,des Proletariats', ,der Klasse', .des Volkes', ,der Menschheit', niemals die Freiheit des einzelnen."42) Kurz, die Sozialdemokratie strebte nach Gleichheit (im Sinne von wirtschaftlicher Gleichstellung), von der man annahm und wünschte, sie werde zu einer Interessenidentität unter den Mitgliedern der Gesellschaft führen und zur Freiheit der Gesamtheit, was zugleich bedeutete zur Freiheit des einzelnen in der Gesamtheit. Dieses Gesellschaftsverständnis unterschied sich deutlich von jenem, das für die Demokratietheorie und das Politikverständnis in Großbritannien und den USA grundlegend war. Im .politischen Denken' dieser Länder wurde von der Pluralität der Gesellschaft ausgegangen, ein Zustand, den es nicht zu überwinden, sondern zu erhalten galt. Schließlich bildeten Interessenunterschiede in dieser Perspektive die selbstverständliche Grundlage jeglichen politischen Handelns in einer Gesellschaft, Interessenkonflikte wurden daher als Normalität angesehen. Es galt, die verschiedenen Positionen und Bestrebungen zu einem vernünftigen, ergebnisoffenen Ausgleich zu bringen. Entsprechend wurde hier Freiheit als Schutz des einzelnen vor der Gesamtheit oder der staatlichen Autorität, als Freiheit des Individuums vor dem Kollektiv bzw. der Minderheit vor der Mehrheit verstanden.43) Die sozialistische Gesellschaft, auf welche die deutsche Sozialdemokratie langfristig hinarbeitete, war dagegen charakterisiert durch die Abwesenheit -

-

terbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts': Jürgen Kocka: Zwischen Volksbewegung und Klassenbewegung. Arbeiterorganisationen vom Vormärz bis 1875, ist noch nicht erschienen.

41) Miller: Das Problem der Freiheit, S. 293. 42) Ebda., S. 293. 43) Für die angelsächsisch-westliche Demokratietheorie

siehe ausführlich Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien. Daß Susanne Miller diese (westliche) Auffassung als „Freiheit im modernen politischen Sinne" bezeichnet und erklärt, die Sozialdemokraten hätten gerade das eigentliche Problem der Freiheit verkannt, nämlich die Rechte des einzelnen gegenüber einer Autorität zu schützen, {Miller: Das Problem der Freiheit, S. 295) soll hier bereits als Hinweis darauf dienen, daß sie selbst in den Kreis der in dieser Arbeit untersuchten ,Träger von Westernisierung' in der westdeutschen Sozialdemokratie gehört. Susanne Miller ist nicht nur als Protagonistin der hier erzählten Geschichte und als Zeitzeugin, sondern ebenso als Analytikerin der sozialdemokratischen Demokratie- und Gesellschaftstheorie von großer Bedeutung für diese Studie.

50

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

Konflikten. Dies setzte wiederum die Vorstellung voraus, die Interessengegensätze in einer Gesellschaft könnten aufgehoben werden, besonders da sie allein durch die Wirtschaftsstruktur und die Eigentumsverhältnisse verursacht seien. Die Pluralität einer Gesellschaft, die Meinungs- und Interessenvielfalt, besaß in dieser Konzeption nicht nur keinen Eigenwert, es gab für sie vielmehr gar keine Kategorie, die über die Vorstellung von Abhängigkeitsverhältnissen und den daraus resultierenden Unterschieden hinausreichte. Der Wert der Einzelpersönlichkeit hatte jedenfalls hinter dem Wert der Gesellschaft zurückzutreten: der einzelne, so Karl Kautsky, sei der Gesellschaft gegenüber „nichtig", er habe kein Recht, seine Freiheitsansprüche der sozialistischen Gesellschaft gegenüber geltend zu machen, wo diese dem gesellschaftlichen Kodex widervon

sprächen.44)

In ihrer praktischen, auf die Gegenwart bezogenen Politik trat die Sozialdemokratie jedoch für demokratische Gleichberechtigung ebenso wie für demokratische Freiheit ein und wählte den Parlamentarismus und das Repräsentativsystem als den geeignetsten Weg, ihre Forderungen durchzusetzen. Sie verfocht, selbst in den Zeiten des Sozialistengesetzes, einen Kurs der strengen Gesetzlichkeit.45) Es kam in der Zeit des Kaiserreichs allerdings zu keiner Kooperation zwischen der Sozialdemokratie und anderen politischen Kräften, so daß jene sich auf die gewerkschaftliche und die wenig einflußreiche parlamentarische Arbeit sowie auf Agitation beschränkte. Vor allem letztere fand große Resonanz unter der SPD-Anhängerschaft, die sich angesichts des „Gefühl [s] der Ohnmacht im ,Klassenstaat' leicht für revolutionäre und utopische Szenarien begeistern ließ.46) Diese fanden wiederum nur wenig Widerhall bei jenen Sozialdemokraten, die tatsächlich die Möglichkeit zur praktischen Politik besaßen und die in ihrer Alltagsarbeit auch Erfolge zu verbuchen hatten, wie etwa Kommunalpolitiker, süddeutsche Landtagsabgeordnete, führende Genossenschafter oder Spitzenfunktionäre der Gewerkschaften. Sie verfolgten einen strikt reformistischen Kurs und waren für die revolutionären und utopischen Zukunftsentwürfe der Parteispitze nicht zu begeistern. Der „parteioffizielle Radikalismus" ließ sich von ihnen jedoch zunächst nicht beirren, und so war es dieser, der die Wahrnehmung der Sozialdemokratie von außen prägte und ihre Ablehnung durch Staat und Bürgertum noch verstärkte. Diese „verhängnisvolle Wechselwirkung" zwischen der ideologischen Intransigenz auf sozialdemokratischer Seite und der politischen Intransigenz auf bürgerlicher ließ An"

44) Für August Bebeis Position: August Bebet: Die Frau und der Sozialismus, 9. Aufl., Stuttgart 1891, S. 312; vgl. Miller: Das Problem der Freiheit, S. 238. Zum Unterschied Bebel-Kautsky: Miller Das Problem der Freiheit, S. 241. Für Karl Kautsky: Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie, Stuttgart 1893, S. 3; vgl. Miller: Das Problem der Freiheit, S. 238. Zu Kautsky auch: Rojahn/Schelz/Steinberg: Marxismus und Demokratie.

45) Vgl. Miller. Das Problem der Freiheit, S.

«) Ebda., S. 297.

104-106.

1. Das ideelle Erbe der deutschen Sozialdemokratie bis 1933

51

einer politischen Mitwirkung der Arbeiterbewegung verkümmern. Die dieser Folgen Entwicklung sollten auch die Rolle der SPD in der Weimarer Resätze

zu

publik prägen.47)

Während der Revolution von 1918/19 entstand in klarer Abgrenzung von dem linksradikalen, spartakistisch-leninistischen Ziel einer Diktatur des Proletariats' und ebenso vom Rätesystem, das die USPD anstrebte, ein Komplex von politischen Konzepten, der die sozialdemokratische Politik in der gesamten Weimarer Republik bestimmte. Es waren dies die parlamentarische Demokratie, die Vorstellung einer Demokratisierung weiterer staatlicher und gesellschaftlicher Bereiche, wie etwa Verwaltung und Kommunen, die Wirtschaftsdemokratie, die Gemeinwirtschaft und das kollektive Arbeitsrecht.48) In der Weimarer Sozialdemokratie bestand Konsens darüber, „daß die politische Demokratie notwendig der Ergänzung bedarf'.49) Freie Wirtschaft und Demokratie waren nach dieser, für die Weimarer SPD prägenden Haltung unvereinbar. Der sozialdemokratische Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer setzte diese Vorstellung in das Konzept einer ,Wirtschaftsverfassung' um, das sich, wenn auch nur in Teilen, im Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung wieDurch diese neue derfand.50) Wirtschaftsverfassung, so hoffte Sinzheimer, werde das wirtschaftliche Leben „organisch zusammengefaßt" und komme der „Wirtschaftsgeist der neuen Wirtschaftsgemeinschaft" zum Ausdruck.51) Das Parlament, das für die politische Seite der Demokratie zuständig sein sollte, blieb jedoch für Sinzheimer die oberste demokratische Instanz und hatte die letzten Entscheidungen zu treffen. Die Weimarer Reichsverfassung war in den Augen der Mehrheitssozialdemokratie zwar ein Kompromiß mit den bürgerlichen Kräften, dennoch ver,

47) Vgl. ebda., S. 297 f., Zitate S. 297. 48) Zur Rolle und Politik der Sozialdemokratie in der Revolution von 1918/19 siehe ausführlich: Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, hg. v. Gerhard A.

Ritter, Bd. 9), Berlin-Bonn 1984; Susanne Miller: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918-1920, Düsseldorf 1978. Zum folgenden siehe: Walter Euchner: Sozial-

demokratie und Demokratie. Zum Demokratieverständnis der SPD in der Weimarer Republik, in: AfS, 26/1986, S. 125-178, hier S. 144; Klaus Schönhoven: Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat, München 1989; Heinrich August Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei? Zur Programmdiskussion in der Weimarer Sozialdemokratie 1920-1925, in: GG, 8/1982, S. 9-54; Horst Heimann: Marxismus, Revisionismus und Reformismus in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, in: APuZ, B 10/83, S. 3-24; Peter Lösche/Franz Walter: Auf dem Weg zur Volkspartei? Die Weimarer Sozialdemokratie, in: AfS, 29/1989, S. 75-136. 49) Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 142, Anm. 73, hier auch das Zitat Hugo Sinzheimers auf dem Weimarer Parteitag, Juni 1919. 50) Hier erhielten auch die Räte ihre Funktion als Organe der wirtschaftlichen Demokratie. Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 141-144. 51) Zitate und Paraphrasierung bei Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 142.

52

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

wirkliche sie, so der Chefredakteur des „Vorwärts" und Mitglied des Parteivorstands, Friedrich Stampfer, den

„Volksstaat, den das Programm der Sozialdemokratie fordert, für den zwei Arbeitergenerationen gekämpft haben, in dem die führenden Geister des Sozialismus stets das Mittel erblickten, den Emanzipationskampf des Proletariats bis zu dem Punkt zu bringen, von dem aus er mit friedlichen Mitteln bis zum Endsieg geführt werden kann."52) Am Ziel ihrer Wünsche sahen sich die Sozialdemokraten mit diesem Staat jedenfalls in ihrer Mehrheit noch nicht. Der Übergang von der Oppositions- zur Regierungspartei fiel der Partei nicht leicht.53) Beim Vorstand wie bei der Mitgliedschaft waren Vorbehalte gegen Koalitionen mit den bürgerlichen Kräften verbreitet. Selbst die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder taten sich schwer, ihre Politik gegen die Wünsche der Basis durchzusetzen.54) Die SPD war in der Weimarer Zeit die „republikanische!.] Staatspartei schlechthin."55) Dennoch folgte sie nicht der Logik des parlamentarischen Systems, die verlangt hätte, „alles daranzusetzen, mehrheitsfähig zu werden und bündnisfähig zu bleiben oder, mit anderen Worten, sich von der proletarischen Klassen- in eine linke Volkspartei und von der .geborenen' Oppositionspartei in eine regierende Koalitionspartei zu verwandeln".56) Dies wäre jedoch ihre einzige Chance gewesen, wieder zur bestimmenden Kraft der deutschen Politik zu werden.57) Ob eine solche Entwicklung der Sozialdemokratie „unter den politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Weimarer Republik überhaupt denkbar" gewesen ist, muß allerdings in der Tat als fraglich gelten,58) zumal der Wandel der SPD zur parlamentarischen Vblkspartei, ihr Abschied vom Klassenkampf und ihre Hinwendung zum Pluralismus ja auch nach 1945 kein Selbstläufer war. Einen Versuch allerdings hat die Weimarer SPD gemacht, von der parlamentarischen Klassenbewegung der Arbeiter zur linken Volkspartei zu werden, -

52) Friedrich Stampfer: Verfassung, Arbeiterklasse und Sozialismus. Eine kritische Untersuchung der Reichsverfassung vom 11. August 1919, Berlin 1919, zit. in: Euchner: Sozialde-

mokratie und Demokratie, S. 145 (Hevorh. bei Euchner). Zu SPD und Weimarer ReichsverWinkler: Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 226-242; vgl. auch Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914-1919, Stuttgart u.a. 1978, S. 1075-1092, 1178-1205; Heinrich Potthoff: Das Weimarer Verfassungswerk und die deutsche Linke, in: AfS, 12/1972, S. 433-483; Peter Steinbach: Sozialdemokratisches Verfassungsverständnis zwischen Reichsgründung und Nationalsozialismus, in: APuZ, 22/980, S. 19-33. 53) Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 246. 54) Ebda., S. 12. 55) Das folgende beruft sich auf: Heinrich August Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei? Zur Programmdiskussion in der Weimarer Sozialdemokratie 1920-1925, in: GG, 8/1982, S. 9-54, für das Zitat: S. 9. 56) Winkler Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 13; vgl. auch ebda., S. 53. 57) Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 50. 58) Zu den Hindernissen Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 13 f.; S. 51.

fassung:

1. Das ideelle Erbe der deutschen Sozialdemokratie bis 1933

53

nämlich im Görlitzer Parteiprogramm vom September 1921. Zu diesem Zeitpunkt erschien der SPD es war noch die MSPD ,unter sich' das Erfurter Programm überholt, seine zentrale politische Forderung, die demokratische Republik, erfüllt. Weder die These von der Verelendung des Proletariats noch die Prognose von der allgemeinen Proletarisierung des Mittelstandes und vom baldigen Zusammenbruch des Kapitalismus erschien den Autoren des neuen Parteiprogramms noch haltbar. Die Revisionisten in der Partei nach wie vor angeführt von Eduard Bernstein folgerten, da der Sozialismus offensichtlich nicht von selbst eintrete, müsse das Ziel einer neuen Gesellschaft mittels einer der Gegenwart angemessenen Strategie der Machtgewinnung verfolgt werden. Unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts und des parlamentarischen Systems bedeute dies, die SPD müsse langfristig versuchen, die Mehrheit der Wähler zu gewinnen. Da aber die Mehrheit der Wähler sich nicht dem Proletariat zurechne und da auch Arbeiter andere Parteien wählten, müsse die SPD zu diesem Zweck auch nichtproletarische Schichten ansprechen.59) Hierfür sei der Begriff des Klassenkampfes jedoch hinderlich. Er tauge nur für die historische und soziologische Analyse, als politischer Kampfbegriff sei er unbrauchbar und zudem durch die Kommunisten diskreditiert. Er schrecke potentielle Wähler aus anderen Schichten ab und passe auch nicht zur Realität der Koalitionspolitik in einer parlamentarischen Demokratie, für die eine Zusammenarbeit mit dem Bürgertum unabdingbar sei. Diesem dürfe man daher nicht offen den Kampf ansagen, weder in der Praxis noch in der Theorie. Im Görlitzer Programm setzten sich die Revisionisten inhaltlich durch, obwohl der Klassenkampfbegriff als Schlagwort erhalten blieb.60) Jedoch hielten auch sie am ,Endziel' der „Vergesellschaftung des Bodens und der kapitalistischen Betriebe" fest.61) Insgesamt hat die SPD auch im Görlitzer Programm an dem hergebrachten allerdings in weite Ferne gerückten Ziel des Klassenkampfes festgehalten: der Alleinherrschaft der Arbeiterklasse.62) Gerade an diesem revisionistischen Programm, das den Erfordernissen der Republik noch am ehesten entsprach, wird deutlich, wie gespalten das Verhältnis der SPD zur Weimarer Republik im Grunde war: -

-

-

-

-

-

„Eine gewaltig erstarkte Arbeiterbewegung [...] stellt sich dem Kapitalismus als ebenbürtiger Gegner.

59)

Mächtiger denn je erhebt sich der Wille, das kapitalistische System zu Uberwin-

Höchstens ein Drittel der deutschen Gesellschaft bestand nach Winklers Schätzung Mitte der 1920er Jahre aus klassenbewußten Arbeitern, Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 47 f. 60) Für die Mitglieder der Programmkommissionen siehe: Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente, S. 207. 61) Eduard Bernstein 1909 in den ,Leitsätzen für die Neuformulierung des sozialdemokratischen Parteiprogramms', erneut 1920. erstmals veröffentlicht in: Eduard Bernstein: Revisionismus und Programmrevision, in: Sozialistische Monatshefte, 13/1909, S. 403-411, zit. in: Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 24. 62) Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 32.

54

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

den [...]. [Die Sozialdemokratische Partei] betrachtet die demokratische Republik als die durch die geschichtliche Entwicklung unwiderruflich gegebene Staatsform, jeden Angriff auf sie als ein Attentat auf die Lebensrechte des Volkes. Die Sozialdemokratische Partei kann sich aber nicht darauf beschränken, die Republik vor den Anschlägen ihrer Feinde zu schützen. Sie kämpft um die Herrschaft des im freien Volksstaat organisierten Volkswillens über die Wirtschaft, um die Erneuerung der Gesellschaft im Geiste sozialistischen Gemeinsinns. Die Überführung der großen konzentrierten Wirtschaftsbetriebe in die Gemeinwirtschaft und darüber hinaus die fortschreitende Umformung der gesamten kapitalistischen Wirtschaft zur sozialistischen, zum Wohle der Gesamtheit betriebenen Wirtschaft erkennt sie als notwendiges Mittel, um das schaffende Volk aus den Fesseln der Kapitalherrschaft zu befreien, die Produktionserträge zu steigern, die Menschheit zu höheren Formen wirtschaftlicher und sittlicher Gemeinschaft emporzuführen."63)

Die sozialistische Gesellschaft sollte durch einen Akt des Willens geschaffen werden, nicht mehr von selbst entstehen als Folge naturgesetzlicher Notwendigkeit. Der handelnde Mensch kam ins Spiel. Der revisionistische Einfluß wird hier besonders deutlich. Die Sozialdemokraten, auch die Revisionisten unter ihnen, folgten jedoch nicht der Grundidee des aus der angelsächsischen politischen Tradition stammenden parlamentarischen Systems: Dieses beruht nämlich darauf, unterschiedliche bzw. gegensätzliche Interessen innerhalb einer Gesellschaft als prinzipiell gleich legitim anzusehen; sie auf dieser Grundlage miteinander verhandeln zu lassen und durch Kompromisse zu einem Ausgleich zu bringen, wobei das Ergebnis zunächst offen ist und auch jeweils in absehbarer Zeit wieder neu verhandelt werden kann. Sie gingen im Gegenteil davon aus, daß die gegenwärtige Gesellschaftsordnung für das Volk, also die Gesamtheit, nicht gut sei und daß die Interessen und Positionen der anderen gesellschaftlichen Kräfte ,falsch' seien. Die SPD müsse daher, da sie im Gegensatz zu den anderen den nichtigen' Weg kenne, im Interesse des Ganzen die Gesellschaftsordnung umformen und zu diesem Zwecke ihre Gegner besiegen, d. h. die Macht im Staat erlangen, um dann, allein an der Herrschaft, die notwendigen Veränderungen vorzunehmen. Um diese Macht zu erreichen, sei die Republik der bestmögliche Weg, und dürften und müßten auch Koalitionen mit Vertretern gegensätzlicher Interessen eingegangen werden. Das Görlitzer Programm wurde jedoch kaum in die Praxis umgesetzt, denn es galt nur genau ein Jahr lang, bis zur Wiedervereinigung von SPD und ,Rest'-USPD im September 1922. Das revisionistische Parteiprogramm der SPD blieb „nur eine kurze Episode und die SPD eine proletarische Milieupartei".64) Die Unabhängigen lehnten das Görlitzer Programm ab, sahen darin eine Rückwärtsentwicklung „vom Klassenbewußtsein zu vorsozialistischen und kleinbürgerlich demokratischen Auffassungen".65) -

-

63 )

Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitag in Görlitz, 18. bis 24. September 1921, abgedr. in: Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente, S. 207-213, hier S. 209.

M)

Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 9. Artur Crispien: Eine weitere Absage an die Arbeiter, in: Freiheit, 448/23.

65) Vgl.

Septem-

1. Das ideelle Erbe der deutschen Sozialdemokratie bis 1933

55

Beim Zusammenschluß mit der SPD setzten sich die Unabhängigen programmatisch durch. Im September 1925 wurde in Heidelberg ein neues Parteiprogramm der SPD beschlossen.66) Dieses war in seinem Teil zur praktischen Politik eng an das Görlitzer Programm angelehnt, sein allgemein-theoretischer Teil war jedoch der Versuch, das Erfurter Programm in die Gegenwart fortzuschreiben.67) Das Heidelberger Programm trägt die Handschrift Rudolf Hilferdings, der in der Nachfolge Karl Kautskys seit 1924 der zentrale Theoretiker der SPD geworden war. Kautsky hatte in den Parteien Vertreterinnen der unterschiedlichen Klasseninteressen gesehen, die den Wählern unterschiedliche Programme vorstellten, welche auf diese Weise zwischen großen Prinzipien zu entscheiden hätten. Rudolf Hilferding sah so formulierte er es später in seiner großen Rede auf dem Kieler Parteitag der SPD von 1927 die Rolle der Parteien im Zusammenhang mit der modernen parlamentarischen Demokratie. In dieser sei, im Gegensatz zum alten obrigkeitsstaatlichen Konstitutionalismus, der dem Parlament als Ganzem gegenübergestanden habe, der Staat government, d. h. aus Regierung, Verwaltungsmaschinerie und den Staatsbürgern zusammengesetzt. Hilferding kam aus dieser Perspektive zu dem Ergebnis, -

-

„daß das wesentliche Element jedes modernen Staates die Parteien sind, weil der einzelne seinen Willen nur durch das Medium der Parteien zur Geltung bringen kann. Infolgedessen sind alle Parteien notwendige Bestandteile des Staates, genau wie die Regierung und die Verwaltung. Dies bedeutet zugleich die Anerkennung der Grundlage der marxistischen Definition, weil der Parteikampf nichts anderes widerspiegelt, als den Kampf der Klassen untereinander, der Parteikampf also der Ausdruck der Klassengegensätze ist."68)

Hilferdings Interpretation

des Weimarer Parlamentarismus war vom angelsächsischen Staatsverständnis geprägt,69) jedoch nur im Hinblick auf die Form inhaltlich blieb er, wie die gesamte Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, dem Selbstverständnis der SPD als Partei der Arbeiterklasse verpflichtet, -

ber 1921 ; Karl Kautsky, 24. September 1921, zit. in: Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 26f. Artur Crispien, in: Protokolle der sozialdemokratischen Parteitage in Augsburg, Gera und Nürnberg 1922, Berlin 1922, S. 134f., zit. in: Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 33. Dagegen: Eduard Bernstein: Leipzig und wir, in: Vorwärts, 29/18. Januar 1922, zit. bei: Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 34 (Hervorh. im Orig.) 66) Ein Aktionsprogramm war ihm schon im September 1922 vorausgegangen. Den Vorsitz der ebenfalls im September 1922 eingesetzten Programmkommission hatte Karl Kautsky inne. Siehe hierzu: Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 35^t0. 67) Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 40. 6ii) Rudolf Hilferding: Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik. Rede auf dem Parteitag zu Kiel. Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in Kiel. Protokoll [...], Berlin 1927, S. 165-184, zit. in: Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 147. Hilferding vertrat seine „Funktionslehre des demokratischen Staates" jedoch auch schon 1922 und 1924: siehe hierzu: Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 159-161, Nachweise S. 159. Zum sozialdemokratischen Verständnis von Parteien und Parteienstaat siehe ebda., S. 146-148. w) Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 147.

56

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

die sie im Klassenkampf vertrat. Denn obwohl das „zentrale Lehrstück der Hilferdingschen Demokratieanalyse [...] das Theorem vom Parallelogramm der sozialen Kräfte [war], deren Resultante die Richtung der politischen Entscheidungen indiziert", und er damit die SPD „zu einer Partei wie jede andere" zurückstutzte, hielt er dennoch an der traditionellen sozialistischen Auffassung fest, nach welcher „der Sieg des Proletariats aufgrund der vom wissenschaftlichen Sozialismus enthüllten historischen Tendenzen als verbürgt" galt.70) Hilferding wollte nach wie vor die anderen sozialen Kräfte durch die Arbeiterklasse besiegt wissen und schließlich einen Zustand herbeiführen, in dem das Proletariat Gesellschaft wie Staat dauerhaft dominierte. Dies war mit einem angelsächsischen Demokratieverständnis absolut unvereinbar.71) Die Reformisten in der SPD kritisierten die nur verschämte Weiterentwicklung des Erfurter Programms und erklärten, wie etwa Friedrich Stampfer: „[...] wir müssen die Kunst lernen, Mehrheiten zu gewinnen, sie zu erhalten und für unsere Staats- und wirtschaftspolitischen Aufgaben einzuspannen."72) Die Demokratie dürfe daher nicht, wie es im Programmentwurf hieß, nur deswegen geschützt werden, weil sie „den weitesten Spielraum für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und damit für die Verwirklichung des Sozialismus" biete. Die SPD müsse sich vielmehr zur Demokratie „um ihrer selbst willen" bekennen.73) Das neue Programm nahm diese Kritik auf, indem es erklärte, der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung sei nicht nur ein wirtschaftlicher, „sondern notwendigerweise ein politischer Kampf. [...] In der demokratischen Republik besitzt sie [die Arbeiterklasse, J.A.] die Staatsform, deren Erhaltung und Ausbau für ihren

Befreiungskampf eine unerläßliche Notwendigkeit ist.

Sie kann die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu

sein."74)

Das letzten Endes instrumentelle Demokratieverständnis des Heidelberger Programms bestimmte die Politik der SPD bis zum Ende der 1920er Jahre. Es be-

™) 71)

Ebda. In den 1950er Jahren hat Ernst Fraenkel das Bild vom Kräfteparallelogramm in seine Pluralismustheorie übernommen -jedoch mit deutlich anderem Inhalt aufgefüllt: Seine Demokratietheorie geht von einem angelsächsisch-westlichen Politikverständnis und einem ebensolchen Gesellschaftsbild aus: vgl. Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien. 72) Friedrich Stampfer: Der Programmentwurf, in: Vorwärts, 410/31. August 1925, zit. in: Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S. 41 (Hervorh. im Orig.). 73) Entwurf des sozialdemokratischen Parteiprogramms, in: Vorwärts, 343/23. Juli 1925; Stampfer Der Programmentwurf, zit. in: Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei?, S.41f. 74) Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitag in Heidelberg, 13. bis 18. September 1925, abgedr. in: Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente, S. 215-224, hier S. 218.

1. Das ideelle Erbe der deutschen Sozialdemokratie bis 1933

endete die

57

Entwicklung der SPD zu einer linken Volkspartei und Regierungs-

partei. Einen weiteren wichtigen Beitrag zur sozialdemokratischen Programmatik in den 1920er Jahren leisteten die Freien Gewerkschaften. Auch sie verfolgten das Ziel einer Demokratisierung der Wirtschaft.75) Sie entwickelten das Konzept der Wirtschaftsdemokratie weiter und präzisierten es, vor allem in Bezug auf die Rolle, die dem Staat in der Wirtschaft zukommen sollte. Anlaß war 1923/24 das endgültige Scheitern der Zentralarbeitsgemeinschaft, und mit ihr des Konzepts der Sozialpartnerschaft' eine Erfahrung, die in den deutschen Gewerkschaften lange nachwirkte. Eine Folge war, daß ADGB und SPD 1924 das Konzept der Wirtschaftsdemokratie', der „gleichberechtigten Partizipation der Arbeiterschaft an den ökonomischen Entscheidungsprozessen",76) wiederaufnahmen, das bereits 1919 von Hugo Sinzheimer entwickelt worden war. Fritz Naphtali, der Leiter der Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik des ADGB, arbeitete ein detailliertes theoretisches Konzept aus.77) Es erschien zum Hamburger Gewerkschaftskongreß von 1928, der den Zeitpunkt markiert, „von dem an Wirtschaftsdemokratie' zur offiziellen, auf der Linken und der Rechten beachteten und kritisierten Zielvorstellung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung wurde."78) Im Kern des Konzepts standen Mitbestimmung, Planung und Sozialisierung. Die unternehmerische Alleinherrschaft sollte am Ende durch paritätische Beteiligung der Gewerkschaften überwunden und durch planmäßige Wirtschaftsführung im Interesse der Allgemeinheit ersetzt werden. Der Staat spielte in diesem Konzept eine zentrale Rolle. -

75) Schönhoven: Deutsche Gewerkschaften, S. 116-176; Schönhoven: Reformismus und Radikalismus, passim; Michael Schneider: Höhen, Krisen und Tiefen. Die Gewerkschaften in der Weimarer Republik, in: Tenfelde u.a.: Geschichte der deutschen Gewerkschaften,

S. 279^146; Heinrich August Winkler: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930 (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, hg. v. Gerhard A. Ritter, Bd. 10), [1985], 2. Aufl., Berlin-Bonn 1988. 76) Schönhoven: Deutsche Gewerkschaften, S. 159. Zum folgenden siehe: ebda, 159f.; Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 152-158; Winkler: Der Schein der Normalität, S. 606-628; Schönhoven: Reformismus und Radikalismus, S. 125f.; Franz Ritter: Theorie und Praxis des Demokratischen Sozialismus in der Weimarer Republik, Frankfurt/M.New York 1981, S. 115-130; Cora Stephan: Wirtschaftsdemokratie und Umbau der Wirtschaft, in: Wolfgang Luthardt, Hg.: Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Weimarer Republik. Materialien zur gesellschaftlichen Entwicklung 1927-1933, 2 Bde., Frankfurt/M. 1978, S. 293-353. 77) Fritz Naphtali: Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel, mit einem Vorwort von Ludwig Rosenberg und einer Einführung von Otto Brenner, Neuaufl., Frankfurt/M. 1966. Zu dem Werk hatten auch bedeutende sozialdemokratische Theoretiker wie Hilferding, Sinzheimer, Erik Nölting und Fritz Tarnow beigetragen. 78) Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 153.

58

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

Die theoretische Begründung für die wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen der Sozialdemokratie lieferte Hilferdings Konzept des „Organisierten Kapitalismus".79) Dem Finanzkapital komme, nach Hilferdings Ansicht, eine führende Rolle im Prozeß der kapitalistischen Konzentration zu. Diese Konzentration ermögliche eine umfassende Steuerung der Wirtschaft und erleichtere so die Überwindung des Kapitalismus mit Hilfe des vom Proletariat eroberten Staates.

„Organisierter Kapitalismus bedeutet also in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion. Diese planmäßige, mit Bewußtsein geleitete Wirtschaft unterliegt in viel höherem Maße der Möglichkeit der bewußten Einwirkung der Gesellschaft, d. h. nichts anderes, als der Einwirkung durch die einzige bewußte und mit Zwangsgewalt ausgestattete Organisation der Gesellschaft, der Einwirkung durch den Siaaf."80) Staat und Gesellschaft fallen hier in eins, wenn die Arbeiterbewegung die Macht im Staat selbst ausübt: Die Republik mache es möglich, den Sozialismus über die Eroberung der Staatsmacht zu erkämpfen.81) Bei Naphtali findet sich zudem der Aspekt der Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen im „kollektiven Arbeitsrecht", aus der folge, daß die Wirtschaft nicht als individuelle, sondern als „gesellschaftliche Funktion im Interesse der Allgemeinheit" zu gelten habe. Hieraus leitete er die Forderung einer Demokratisierung von Organisation und Lenkung der Wirtschaft ab. Ziel der Arbeiterbewegung müsse es daher sein, erstens mehr Einfluß des Staates auf die Wirtschaft zu erkämpfen, und zweitens, parallel dazu, Mitbestimmung innerhalb der Wirtschaft zu erlangen. Dies sollte aber betont nicht auf Betriebsebene erfolgen aus Furcht vor „Syndikalismus": dem Zusammenspiel von Unternehmern und Arbeitnehmern auf Kosten der Verbraucher, aber auch aus den organisationspolitischen Gesichtspunkten des gewerkschaftlichen Zentralismus -, sondern als Mitbestimmung gewerkschaftlicher Vertreter in großen Unternehmensorganisationen. Die Aufgabe der Arbeitnehmervertreter sollte es -

sein, „entgegen dem kapitalistischen Geist die Gesichtspunkte der Interessen der Gesamtwirtschaft in der

Geschäftsführung

zum

Ausdruck [zu]

bringen.

Auch bei einer solchen Teil-

79) Vgl. Heinrich A. Winkler Einleitende Bemerkungen zu Hilferdings Theorie des Organisierten Kapitalismus, in: Ders., Hg.: Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1973, S. 9-18; für die Kritik Winklers an Hilferding als Theoretiker siehe: Heinrich A. Winkler. Hilferding in der Endphase der Weimarer Republik, in: Jürgen Kocka/ Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde, Hg.: Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München u.a. 1994, S. 131-155,

Kritik an Hilferdings Konzept S. 152. Rede Rudolf Hilferdings auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927, zit. in: Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 153 (Hervorh. ebda.); vgl. Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus [1910], 2. Aufl., Wien 1920, S. 506. 81 ) Euchner Sozialdemokratie und Demokratie, S. 153 f. zur

80)

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

59

nähme der Arbeiterschaft an der Produktionsführung in den einzelnen Organisationen kann sich der Interessenausgleich zwischen den einzelnen Gewerbezweigen immer nur über eine Organisation des Staates, als Vertreter der Gesamtwirtschaft, vollziehen."82)

Wirtschaftsdemokratie' war als notwendige Etappe auf dem Weg zur sozialistischen Gesellschaftsordnung gedacht: der Kapitalismus konnte, „bevor er gebrochen wird, auch gebogen werden", seine Struktur selbst war, das hatte die geschichtliche Erfahrung gelehrt, veränderlich.83) Vollendete Wirtschaftsdemokratie setze, so Naphtali, jedoch Sozialisierung voraus, also eine gewandelte

Eigentumsordnung.84)

Die umfassende Steuerung einer hochgradig konzentrierten und zentral gelenkten Wirtschaft durch den Staat, der von der Arbeiterbewegung dominiert wurde, gab dieser die Möglichkeit, eine sozialistische Wirtschafts- und damit auch Gesellschaftsordnung zu schaffen: im Konzept der Wirtschaftsdemokratie' kamen erneut die „für das deutsche sozialdemokratische Denken charakteristischein] staatsorientiertefn] Züge" zum Ausdruck.85) Der Staat war für die Gewerkschaften der Garant gegen die Übermacht der Unternehmer in den Tarifverhandlungen, und war für die gesamte Sozialdemokratie das Mittel zum Weg in den Sozialismus, in die Gesellschaftsordnung der Freiheit, Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit.

2. Die politischen Ideen der amerikanischen

Gewerkschaftsbewegung It is this which marks the American labor movement from most other national movements; it is a labor movement upholding capitalism, not only in practice, but in principle as well. Selig Perlman86)

Als die amerikanischen Gewerkschaften 1945 Beziehungen zu den deutschen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern aufnahmen, waren es die beiden Gewerkschaftsbünde American Federation of Labor (AFL) und Congress of Industrial Organisations (CIO), welche diese Kontakte knüpften und pflegten. Die

82) Naphtali: Wirtschaftsdemokratie,

S. 41, zit. in: Euchner. Sozialdemokratie und Demo-

kratie, S. 154.

83) Naphtali: Wirtschaftsdemokratie, S. 19. 84) Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie, S. 155. 83) Ebda., S. 162 f. Ähnlich staatsorientierte Züge wies Ernst Fraenkels Konzeption der .kollektiven Demokratie' von 1929 auf, die das Konzept der Wirtschaftsdemokratie um die

Dimension der Staatsbürokratie erweiterte: Ernst Fraenkel: Kollektive Demokratie [1929], in: Ders.: Reformismus und Pluralismus. Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Autobiographie, zusammengestellt und hg. v. Falk Esche und Frank Grube, Hamburg 1973, S. 73-87. 86) Selig Perlman: Labor and the New Deal, in: Milton Derber/Edwin Young, Hg.: Labour and the New Deal [1957], 2. Aufl., New York 1972, S. 361-370, hier S. 367.

60

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

und das Selbstverständnis, aufgrund derer sie agierten und die sie auch vermitteln wollten, hatten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich herausgebildet. Sie waren das Ergebnis von Erfahrungen und Lernprozessen und sie haben die politischen Ziele wie die politische Praxis dieser Gewerkschaftsorganisationen bestimmt. Mit dem Wandel der programmatischen Positionen wandelte sich auch die Praxis, und umgekehrt führten bei den amerikanischen Gewerkschaften anders als in Deutschland praktische Erfahrungen auch recht schnell zu einer theoretischen Weiterentwicklung oder Neuorientierung. Die Ziele der amerikanischen Arbeiterbewegung veränderten sich mit den gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten; ein chiliastisches Endziel gab es für sie nicht. Dennoch handelte es sich um eine politisch aktive, streitbare und in ihren Positionen sehr konsequente Arbeiterbewegung. Besonders wichtig für das Verständnis dieser Gewerkschaftsbewegung und ihrer Politik nach dem Zweiten Weltkrieg ist ihr Verhältnis zur amerikanischen Gesellschaft und deren Werthaltungen. Diese sollen darum vorab kurz umrissen werden.

Werthaltungen

-

a.

Konsensliberalismus: Die Wertewelt der amerikanischen bis in die 1950er Jahre

-

Gesellschaft

In der amerikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre war die Ansicht verbreitet, „that everything was settled by the New Deal and the Fair Deal, and that there really aren't any great differences in political life."87) Das „Ende der Ideologien" schien gekommen:88) Klassenauseinandersetzungen oder ähnlich fundamentale Kontroversen schienen für die Vereinigten Staaten keine Bedeutung mehr zu haben. Die Lösung für soziale Probleme war nun bekannt, Gerechtigkeit war durch Wachstum und Produktivität, durch Effizienz zu erreichen; und dies machte politische Auseinandersetzungen um Verteilung und Gesellschaftsform obsolet. Der liberale Konsens einte nun die amerikanische Gesellschaft. Seine spezifische Form hatte sich seit Ende der 1940er Jahre herausgebildet, und er dominierte bis zum Ende der 1960er Jahre die Wertewelt, die Kultur und das politische Handeln, besonders in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, Außen- und Außenwirtschaftspolitik.89) Der sogenannte Konsensliberalismus führte auch zur Ausprägung neuer Vorstellungen von der Beschaffenheit der amerikanischen Gesellschaft, wie sich anschaulich an der Entwicklung der Historiographie in dieser Phase zeigen läßt. Hatte sich das Fach in der Zwischenkriegszeit vornehmlich mit den Konflikten und Kon-

87)

Todd Gitlin: The Sixties. Years of Hope, Days of Rage, 3. Aufl., New York 1993, S. 56. Daniel Bell: The End of Ideology, New York 1960. Für eine weitergehende Genealogie des Konsensliberalismus und seine Protagonisten sowie für ausführliche Literaturangaben siehe Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive?, S. 68-86; hier auch zum folgenden.

88) 89)

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

61

fliktpotentialen der US-Gesellschaft beschäftigt, die Heterogenität des angeblichen melting pot und die scharfen Brüche in seiner Geschichte betont,90) so erfolgte nun ein deutlicher und rapider Umschwung. Die Gemeinsamkeiten wurden jetzt ebenso herausgearbeitet wie die Kontinuitäten, dem Nachweis der Traditionsgebundenheit der Vereinigten Staaten wurde viel Mühe gewidmet,

der allen Ethnien, Schichten und Epochen gemeinsame American Way of Life stieg zum Ariadnefaden der US-Geschichte auf.91) Der Konsens über die Grundlagen des Gemeinwesens, der allerdings Meinungsverschiedenheiten im Detail nicht ausschloß, erhielt zentrale Bedeutung. Auch Kritiker der innenpolitischen Situation, des kulturellen und politischen Klimas oder der Wirtschaftspolitik, wie etwa John Kenneth Galbraith oder Louis Hartz, bewegten sich im Rahmen dieses Konsenses, ja halfen sogar entscheidend mit, ihn zu konstituieren.92) Wer diesen Konsens nicht teilte, stellte sich selbst in eine Position außerhalb der US-Gesellschaft, der Kollaboration mit dem kommunisti-

90)

Von der Jahrhundertwende bis in den Zweiten Weltkrieg war diese Sicht bestimmend für die Schulenbildung der amerikanischen Historiographie. Zu nennen wären hier Frederick Jackson Turner, Charles A. Beard, Vernon L. Parrington und ihre Schüler. Ihre Arbeiten reflektierten besonders die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den USA der Progressive Era und der Weltwirtschaftskrise. Vgl. hierzu Richard H. Pells: The Liberal Mind in a Conservative Age. American Intellectuals in the 1940's and 1950's, 2. Aufl., Middleton 1984, S. 148. 91 ) Der entstehende Konsens spiegelte sich sehr schnell in der Perspektive der Geschichtsschreibung wider und ging zugleich mit einem Generationswechsel an den Lehrstühlen einher. Die Geschichte der Amerikanischen Revolution und der Progressive Era wurde neu geschrieben, selbst der Bürgerkrieg erschien in milderem Licht und erhielt den Charakter einer kurzlebigen Ausnahme. Unter anderen zeigten Daniel Boorstin und David Potter, wie kontinuierlich und in welch großer Distanz zu Europa die Geschichte der USA geschrieben werden konnte. Vgl. Pells, Liberal Mind, S. 148. 92) Louis Hartz legt dar, daß die politischen und sozialen Auseinandersetzungen der USA alle innerhalb eines „Lockian settlement" stattfänden, hält aber die USA keineswegs für ideologiefrei, sondern vielmehr für eines der doktrinärsten Länder der Welt. Er beklagt die mangelnde Reflexion der eigenen Grundannahmen. „Even a good idea can be a little frightening when it is the only idea a man has ever had." Louis Hartz: The Liberal Tradition in America. An Interpretation of American Thought since the Revolution, San Diego 1991 (Neudr. der Ausg. von 1955), passim, Zitat S. 175. Vgl. auch Pells: Liberal Mind, S. 155-162, 174. John Kenneth Galbraith kam im Laufe der 1950er zu einer kritischeren Position, als er sie noch 1952 vertreten hatte. In seinem Werk „The Affluent Society" von 1958 kritisierte er das amerikanische Vertrauen in die schiere Produktivität ohne soziale Verantwortung, die unreflektierte Hinnahme der vorgegebenen Werte und die allgemeine Konformität und Kritiklosigkeit. Galbraith: The Affluent Society [1958], Boston 1971 bes. S. 4f.; Ders.: American Capitalism, Boston 1952. Vgl. auch Pells: Liberal Mind, S. 162-174. Als weitere Beispiele für eine kritische Haltung gegenüber dem Konsensliberalismus: Richard Hofstaaten The American Political Tradition and the Men Who Made It, New York [1954], 1973; Ders.: The Age of Reform, New York 1955, und Ders.: Anti-Intellectualism in American Life, New York 1963; außerdem Dwight Macdonald: Politics Past, New York 1957. Zu Macdonald siehe Pells: Liberal Mind, S. 174-182.

62

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der

Arbeiterbewegung

sehen Gegner verdächtig.93) Die integrative Funktion des Konsensliberalismus verdankte sich nicht zuletzt diesem enormen Konformitätsdruck. Welches waren nun die Bestandteile dieses Konsensliberalismus? Die älteste Komponente ist sicherlich der angelsächsische Liberalismus.94) Er geht auf die englische Aufklärung zurück, auf die „Glorious Revolution" und besonders auf das Denken John Lockes; später dann auf den Einfluß von Denkern wie Adam Smith, Jeremy Bentham, Richard Cobden und John Stuart Mill. Der amerikanische Liberalismus ist eng verwandt mit dem englischen, beide teilen die Abneigung gegen die französische Variante der Aufklärung, gegen deren basisdemokratischen und radikalen Zug, der zu den Exzessen der Französischen Revolution geführt habe. Hauptelemente dieser Form des Liberalismus sind der Schutz der individuellen Freiheit und des Rechts auf Eigentum, der Glaube an universell gültige Werte, das vernunftbegabte, nach seinem freien Willen handelnde Individuum, das Vertrauen in die Vernunft anstelle der Tradition, die Rechtsstaatlichkeit, also eine Regierung, die den Gesetzen unterworfen ist, die Zustimmung der Regierten als Legitimationsgrundlage von Herrschaft, die Säkularität des Staates und der Freihandel. Das Ziel ist die Freiheit, im Sinne von Freiheit des einzelnen vom Staat, und nicht die Gleichheit, die Egalität wie in der französischen Aufklärung; angestrebt wird allenfalls Chancengleichheit. Die spezifische Ausprägung des Protestantismus in den USA, die sich deutlich vom eher kollektivistischen' Puritanismus unterscheidet, liegt dieser Weltsicht zugrunde: der amerikanischen Erweckungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts ging es um die Individualisierung der Religion und ihre Anpassung an die kapitalistische Marktgesellschaft;95) außerdem die Erfahrung der Freikirchen mit dem Establishment der anglikanischen Kirche, die Erfahrungen der Dissenter und ihrer daraus resultierenden Sympathien für den Pluralismus. Diese Bevorzugung der Freiheit vor der Gleichheit sollte das Zusammenleben einer Gesellschaft ermöglichen, die aus mehreren Gruppen mit verschiedenen ethischen Grundhaltungen zusammengesetzt war. Im

93) Vgl. hierzu die Darstellungen der Opfer oder Kritiker der Kommunistenverfolgung, wie etwa James Wechsler. The Age of Suspicion, New York 1953; Dalton Trumbo: The Time of the Toad, New York 1972; Lillian Hellman: Scoundrel Time, New York 1976; Murray Kempton: Part of Our Time,

New York 1955; Leslie Fiedler. An End to Innocence, Boston 1955. Einen guten Einblick bieten die Zeugenaussagen vor den Anhörungen des Kongresses, wiedergegeben in: Eric Bentley, Hg.: Thirty Years of Treason, New York 1971. Außerdem siehe: David Caute: The Great Fear, New York 1978; Walter Goodman: The Committee, New York 1968; Stefan Kanfer A Journal of the Plague Years, New York 1973; Victor Navasky: Naming Names, New York 1980. Für eine neuere Darstellung siehe Joel Kovel: Red Hunting in the Promised Land. Anticommunism and the Making of America, LondonWashington 1994, S. 109-136. 94) Hartz: The Liberal Tradition, passim; siehe auch: Lewis Perry: Intellectual Life in America. A History, 2. Aufl., Chicago 1989. 95

) Diese Erweckungsbewegung meint Max Weber schen „Puritanismus" spricht.

offensichtlich,

wenn er vom

amerikani-

2. Die politischen Ideen der amerikanischen

Gewerkschaftsbewegung

63

19. Jahrhundert entwickelte sich dieser lockeanische besitzbürgerliche Individualismus dann zur Grundlage einer liberalen Demokratie weiter, fand zu einem spezifischen Verständnis von Parlamentarismus. In den Vereinigten Staaten setzte diese Entwicklung mit der Jacksonian Era (1828-1845) ein. Hier entwickelte sich jedoch aus dem gemeinsamen angelsächsischen Liberalismus eine eigene Variante, die dem Topos vom American Exceptionalism zugrundeliegt. Da in den USA sowohl eine genuin konservative als auch eine sozialistische Tradition fehlten, beides, wie argumentiert wird, weil es keine feudale Vergangenheit gab, liegt das gesamte politische Spektrum innerhalb eines liberalen, lockeanischen Rahmens.96) Die ,Linken', liberals oder radicals genannt, entsprechen dem europäischen Linksliberalismus, die conservatives dem National- oder Wirtschaftsliberalismus, ihre Auseinandersetzungen seien „family squabbles" so jedenfalls die Selbstsicht der amerikanischen Konsensliberalen. Das Ergebnis sei „a state limited by strongly organized social forces acting through freely organized political parties."97) In den 1930er Jahren wurde diese Form des Liberalismus modifiziert, ergänzt durch die Wertewelt und die Instrumentarien des New Deal. Nach dem Schock der Weltwirtschaftskrise und dem Versagen bisheriger Regulative angesichts des Ausmaßes dieser Krise wuchs die Bereitschaft, staatsinterventionistische Maßnahmen zu akzeptieren, solange sie den Erhalt der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zum Ziel hatten und sich als Mittel der Wiederherstellung des Status quo ante verstanden, bei allenfalls gemäßigtem reformistischem Ehrgeiz. Der Zweite Weltkrieg schließlich erweiterte den Spielraum sowohl des Staates als auch des Reformflügels innerhalb der Democratic Party. Social engineering, technokratisch-planerischer Umgang mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen, wurde zum normalen politischen Instrumentarium. Das Vertrauen in Wissenschaft und Fortschritt, das diesem neuen Politikverständnis zugrunde lag, stammte schon aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, war etwa von Thorstein Veblen oder Lester Frank Ward98) propagiert worden. Erst die Weltwirtschaftskrise und der auf sie fol-

96) Hartz:

The Liberal Tradition, passim; Tony Smith: America's Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century, Princeton 1994, S. 13-19, hier S. 6. 97) Smith: America's Mission, S. 13-19, hier S. 17. 98) Veblen, 1857-1929, amerikanischer Nationalökonom und Soziologe, Begründer des Institutionalismus, bekannt für seine Untersuchung externer Effekte beim Konsum. Thorstein Veblen: The Place of Science in Modern Civilization [1906], in: Ders.: The Place of Science in Modern Civilization and Other Essays [1919], with a New Introduction by Warren J. Samuels, New Brunswick-London 1989, S. 1-31. Ward, 1847-1913, war der amerikanische Begründer einer .progressiven Soziologie', der Lehre eines sozialwissenschaftlich steuerbaren Fortschritts, der die Vorstellung einer amerikanischen Mission in der Welt prägen half. Siehe z.B. Lester Frank Ward: Dynamic Sociology or Applied Social Science. As Based upon Statical Sociology and the Less Complex Sciences, 2 Bde., 2. Aufl., New York-London 1920.

64

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

gende Zweite Weltkrieg aber ermöglichten es, dieses Denken in konkretes politisches Handeln umzusetzen. Der wichtigste Einfluß auf den New Deal und die auf ihn folgende Ära sozialer Reformen aber war der Keynesianismus, der die Massenkaufkraft in das wirtschaftliche Denken miteinbezog und die theoretische Grundlage für die politics of productivity bot. Diese wiederum propagierte wirtschaftliches Wachstum als Lösung sozialer Probleme und schien eine ideologiefreie Sozialreform zu ermöglichen, die die politische Ökonomie des Landes unangetastet ließ und breiten Wohlstand in der Bevölkerung versprach, ohne die Besitzverteilung anzugreifen.99) Privateigentum blieb so ein Fundament individueller Freiheit.100) In seiner „radikalsten" Form, wie er auf den linken Flügeln der Democratic Party und der nichtkommunistischen Gewerkschaften sowie in Teilen des State Department und der Regierungsbehörden des New Deal und dann der Kriegsbehörden anzutreffen war, hatte der New Deal sozialreformerische Züge, allerdings auch hier in liberaler Ausprägung: Die Eigentumsordnung sollte nicht angetastet, aber Mitspracherechte eingeräumt und Chancengleichheit geschaffen werden. Der Krieg ließ den Staat stärker noch als zuvor in die Wirtschaft eingreifen, verstärkte die Rolle der Planung. Dies führte jedoch bald nach Kriegsende zu einer Gegenbewegung und in deren Folge zu einer Rücknahme der staatlichen Aufgaben. Seit Anfang der 1940er Jahre entwickelte sich aus dem New Deal, den Reformprogrammen zur Krisenbewältigung, eine Werteordnung, die sogenannte „New Deal Order": „a dominant order of ideas, public policies, and political alliances",101) die von einer Koalition aus antikommunistischen Linken, vor allem dem linken Flügel der Democratic Party, den Gewerkschaften, aber auch von weiten Teilen der Unternehmer, von Schwarzen und der Bürgerrechtsbewegung sowie von Katholiken und Juden, besonders den ,New York Intellectuals', getragen wurde.102) Dieses Bündnis der Mitte bildete bis weit in die 1960er Jahre die Machtbasis der Democratic Party und war das „vital center" des Konsensliberalismus.103) Die New Deal Order wurde ab 1946/47 erneut modifiziert, ein Rechtsruck in der amerikanischen Politik beendete ihre reformerische Phase und läutete den Fair Deal ein, der weniger staatsbezogen war als der New Deal und weniger gesellschaftsreformerisch dachte, ohne aber je einem laissez-faire Liberalismus nahezukommen, und der stärker auf das Civil Rights Movement hin orientiert war. New Deal und Fair Deal blieben aber möglich, da die Unter99) Charles S. Maier The Politics of Productivity. Foundations of American International Economic Policy after World War II, in: Ders. : In Search of Stability. Explorations in Historical Political Economy, Cambridge 1987, S. 121-152. 100) vgl. Gitlin: The Sixties, S. 60. 101) Fraser/Gerstle: New Deal Order, bes. die Einleitung, S. ix-xxv.

102) Zu den New York Intellectuals siehe Alan Wald: The New York Intellectuals. The Rise and Decline of the Anti-Stalinist Left from the 1930s to the 1980s, Chapel Hill-London 1987; Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive?, S. 99. ,03) Arthur M. Schlesinger jr.: The Vital Center. The Politics of Freedom, Boston 1949.

2. Die politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

65

nehmer wie die Gesellschaft insgesamt durch den Krieg an Staatseingriffe gewöhnt waren: Der ,Kriegskeynesianismus' lag noch nicht lange zurück.104) Der Boom, der im Krieg eingesetzt hatte und entgegen aller Skepsis auch in der Nachkriegszeit anhielt, schuf nun aber neue Voraussetzungen: Das Vertrauen in die kapitalistische Wirtschaftsordnung, das in den 1930er Jahren gründlich erschüttert worden war, wuchs und mit ihm die Überzeugung, durch richtigen Gebrauch der keynesianischen Steuerungsinstrumente, durch einen begrenzten Wohlfahrtsstaat und durch collective bargaining in den Arbeitsbeziehungen zugleich wirtschaftlichen Wohlstand und politische Demokratie fördern zu können. Der Weg zu sozialer Gerechtigkeit schien klar vorgegeben, soziale Probleme waren „unfinished business".105) Das dritte Element des Konsensliberalismus war der Pragmatismus. Mit seinem Anspruch, Methode des Denkens zu sein und keine Antworten vorzugeben, seiner ausdrücklichen Ablehnung universalistischer a-priori-Setzungen und jeglicher Dogmen, ebenso mit seiner Grundannahme der Lernfähigkeit des Menschen bildete er die ideale philosophische Grundlage für die „Ideologie der Ideologielosigkeit" des Konsensliberalismus.106) Mußte nicht jeder vernunftbegabte und lernfähige Mensch zu denselben (konsensliberalen) Überzeugungen gelangen, die ja unideologische Lösungen boten für die althergebrachten und doktrinären politischen Auseinandersetzungen? Das aus diesem Selbstverständnis resultierende pluralistische Gesellschaftsbild bot darüber hinaus die geeignete philosophische Begründung der liberalen Demokratie. Die Grundidee des Pragmatismus ist „die Umstellung von der fundierenden Rolle des Bewußtseins auf die fundierende Rolle des Handelns".107) John Dewey, der bedeutendste der amerikanischen Pragmatisten, definiert Pragmatismus als die Lehre vom praktischen Charakter der Realität. Eine Doktrin müsse angewendet werden, wolle man ihren Wahrheitsgehalt prüfen.108) Schon 1878 erklärte Charles Sanders Peirce, Mathematiker, Physiker und Philosoph, unsere Überzeugungen seien in Wirklichkeit Handlungsanleitungen; um die Bedeutung einer Idee zu erfassen, müßten wir nur bestimmen, welches

104) Fraser/Gerstle: New Deal Order. 105) pQr eme zeitgenössische Darstellung siehe: Seymour E. Harris: Saving American Capitalism, New York 1948. Vgl. auch Gitlin: The Sixties, S. 54-66, Zitat S. 61. 106) Daniel Bell: The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties,

Glencoe 1960; Hochgeschwender. Freiheit in der Offensive?, S. 77-80, 466-479. 107) Hans Joas: Amerikanischer Pragmatismus und deutsches Denken. Zur Geschichte eines Mißverständnisses, in: Ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 1992, S. 114-145, hier S. 116. 108) „We have to do a doctrine in order to know its truth." John Dewey: Does Reality Possess Practical Character?, in: Essays, Philosophical and Psychological, in Honor of William James, Professor in Harvard University, by his Colleagues at Columbia University, New York 1908, S. 53-80, zit. nach dem teilw. Abdruck dieses Textes in: Rüssel B. Goodman, Hg.: Pragmatism. A Contemporary Reader, New York-London 1995, S. 79-91, hier S. 81. Siehe auch Goodmans Einführung zu Dewey's Text, ebda. S. 76f.

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der

Arbeiterbewegung

Verhalten sie hervorzurufen geeignet sei, und uns dann darauf beschränken, dieses Verhalten zu untersuchen. Ideen seien also nach den Konsequenzen praktischer Art zu beurteilen, die sie mit sich brächten. Unser Begriff von einer Idee oder einem Gegenstand sei letztlich nichts anderes als unser Begriff vom Effekt derselben in praktischer Hinsicht.109) Bei dieser neuen philosophischen Richtung handelte es sich, so betonte William James im Jahr 1907, um eine Methode des Denkens, nicht um Antworten auf philosophische Fragen. „A pragmatist

turns

away from abstraction and

insufficiency,

from verbal solutions, from

priori reasons, from fixed principles, closed systems, and pretended absolutes and origins. He turns towards concreteness and adequacy, towards facts, towards action and towards power [...,] against dogma, artificiality, and the pretence of finality in truth."110)

bad

a

Theorien würden so zu Instrumenten, zu Handlungsanleitungen, und böten nicht etwa Antworten auf letzte Fragen, die uns Gewißheit verschaffen und weiteres Suchen ersparen könnten. Der Fragehorizont verlagere sich so von den „ersten Dingen", den a-priori-Setzungen, zu den „letzten Dingen", den Konsequenzen und empirischen Ergebnissen einer Haltung. Wahrheit jenseits der praktischen Wirklichkeit ist ohne Bedeutung. Der Pragmatismus überträgt so die Methode der Naturwissenschaft auf das philosophische Denken. Die stärksten Einflüsse auf diese Weltsicht kommen von Darwin und von der Experimentalpsychologie. Die Fähigkeit des Menschen, kreativ problematische Situationen zu lösen, also nicht einfach vorgegebene Normen auszuführen, ist eine Grundannahme dieser Weltsicht. Die pragmatistische Ethik geht von der Möglichkeit eines Lernprozesses aus, der sich durch fortschreitende Weltaneignung beim praktisch handelnden Menschen abspielt. Liegt beim Universalismus kantianischer Ethik das Problem in der Rechtfertigung von Normen, so betrachtet die pragmatistische Ethik die Problemlösung aus der Perspektive des moralisch handelnden Menschen selbst, etwa im Falle einer Pflichtenkollision. Die experimentelle Reflexion über die Folgen der eigenen Handlungsalternativen gehört für den Pragmatismus zum innersten Kern der Moralität. ' ' ' )

109)

Charles Sanders Peirce: How to Make Our Ideas Clear, in: Popular Science Monthly, 12, 1878, S. 286-302. Ebenso argumentierte William James: „[...] meaning, other than practical, there is for us none. [...] There can be no difference anywhere that doesn't make a

difference elsewhere no difference in abstract truth that doesn't express itself in a difference in concrete fact and in conduct consequence upon that fact, imposed on somebody, somehow, somewhere and sometime." William James: Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking, New York 1907, teilw. abgedr. in: Goodman: Pragmatism, S. 53-75, hier S. 55 (Hervorh. i.O.). n0) James: Pragmatism, in: Goodman: Pragmatism, S. 56 (Hervorh. i.O.). 1' ') Hans Joas: Die Kreativität des Handelns und die Intersubjektivität der Vernunft. Meads Pragmatismus und die Gesellschaftstheorie, in: Ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, S. 281-308. Zu G. H. Mead und seiner Variante des Pragmatismus siehe G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1968; siehe auch Joas: Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werks von G.H. Mead, [l.Aufl. 1980] 2. Aufl., Frankfurt/M. 1989. -

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

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John Dewey, Philosoph, Entwicklungspsychologe und Pädagoge, der sich dem Einfluß von Peirce und James vom Neo-Hegelianer zum Pragmatisten entwickelt hatte, verhalf dem Pragmatismus in den USA zu großem Einfluß. Er gab ihm jedoch zugleich eine neue, politisch relevante Note. Rekonstruktion in der Philosophie könne immer nur Vorstufe sein für eine gesellschaftliche Rekonstruktion durch die Philosophie. Die Weltsicht des Pragmatismus führte nun zu einem Demokratiebegriff, der ein radikales Moment enthielt: die ständige Kritik an der Verwirklichung demokratischer Ideale in den bestehenden politischen Institutionen und in der politischen Praxis und die Forderung nach ihrer Verwirklichung durch höhere soziale Gleichheit.112) Die Betonung der Praxis als Kriterium für die Gültigkeit von Theorien und Weltanschauungen untermauerte andererseits auch die linksliberale Kritik an der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, sofern jene allerdings innersystemisch blieb. Für Fundamentalopposition ließ sich der Pragmatismus nicht bemühen, er lieferte auch keine neue Sozialphilosophie. Mit seinem tiefen Glauben an Wissenschaft und Fortschritt, seinem Hang zur technizistischen und sozialwissenschaftlich fundierten Weltsicht und zum social engineering lieferte er die weltanschauliche Begründung für den New Deal und das daraus entstehende Gesellschaftsbild, und er ermöglichte deren bruchlose Einbindung in den amerikanischen Liberalismus. Ein weiteres wesentliches Element des Konsensliberalismus ist der liberale Internationalismus. Er spiegelt die Vorstellung einer amerikanischen Aufgabe auf internationaler Ebene wider und geht auf Wilson zurück, der 1918 die neue Rolle seines Landes in der Weltpolitik benannte: „that the world must be made safe for democracy."113) Diese Politik speiste sich aus zwei miteinander kompatiblen Motivlagen: einerseits aus dem ökonomischen Interesse der Vereinigten Staaten, denen an einer Weltwirtschaftsordnung nach dem eigenen Muster gelegen war, das heißt an einer Öffnung der Märkte, einer Politik der open door und der one world. Eng damit verbunden, aber doch ein eigenständiges Motiv war die politisch-moralische Überzeugung, die Vereinigten Staaten müßten als Modell für die Welt dienen und ihr Freiheit und Fortschritt bringen. Dieses Selbstverständnis weitete das schon ältere Thema des manifest destiny auf den globalen Rahmen aus.114) Die eigenen Werte wurden als universal gültig und unter

112) Joas: Die Kreativität des Handelns, in: Ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, S. 281-308, hier S. 307. Cornel West: The American Evasion of Philosophy. A Genealogy of Pragmatism, Madison 1989. 113) Zit. u.a. in: Erich Angermann: Die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1917, 9. Aufl., München 1995, S. 28, mit weiteren Literaturangaben. 114) Der Begriff geht zurück auf: John L. O'Sullivan: On Texas Annexation and Manifest Destiny [1845], in: Sean Willentz, Hg.: Major Problems of the Early Republic, 1787-1848. Documents and Essays, Lexington 1992, S. 525-528; vgl. auch Anselm Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen?, in: Historisch-Politische Mitteilungen, 3/1996, S. 1-38, hier S. 11.

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

damit für jeden vernunftbegabten Menschen und jede Nation als erstrebenswert betrachtet. „There could, American liberal expansionists believed, be no truly enlightened dissent against the ultimate acceptance of American ways [...]."'15) Es galt vielmehr, den Weg zu weisen, auf dem die USA selbst schon so erfolgreich gegen Krise und Totalitarismen vorangeschritten waren. Diese Politik nahm geradezu missionarische Züge an. Dazu kamen jedoch auch ganz handfeste Sicherheitsinteressen, im heraufziehenden Kalten Krieg mehr noch als nach dem Ersten Weltkrieg. Die Erfahrungen seit den 1930er Jahren hatten gezeigt, daß die USA in einer Welt totalitärer Systeme nicht würden bestehen können, weder wirtschaftlich noch politisch, und daß sie in Kriege und Krisen unweigerlich hineingezogen würden.116) Die Sicherheitsinteressen des amerikanischen national security state erforderten daher eine möglichst weltweite Verbreitung und Stabilisierung demokratischer konkret liberaldemokratischer Regierungsformen.117) Die Konsequenz, die man aus dieser Einsicht zog, war der Versuch, die eigenen Werte zu verbreiten. Dieser intentionale Wertetransfer vollzog sich auf drei Ebenen: erstens durch die offizielle Regierungspolitik, zweitens verdeckt durch covert action11^) und drittens auf der transnationalen bzw. der gesellschaftlichen Ebene. Wie eng jedoch wirtschaftliche und politische Motive miteinander verknüpft waren, wird daran deutlich, daß im State Department und nicht nur dort davon ausgegangen wurde, daß die amerikanische Wirtschaftsform des „well-managed capitalism" die Entwicklung einer liberalen Demokratie nach sich ziehen müsse, daß man also das eine mit dem anderen hervorbringen könne.119) Diese Logik liegt auch dem European Recovery Program zugrunde, und hat sich so gesehen tatsächlich als korrekt erwiesen. Aus angelsächsischem Liberalismus, dem New Deal mit seiner keynesianischen Wirtschaftspolitik und seiner Sozialreform, dem Pragmatismus und der American Mission des liberalen Internationalismus war also bis zum Ende der -

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115) Emily S. Rosenberg: Spreading the American Dream. American Economic and CultuExpansion, 1898-1945, New York 1982, S. 234. 116) Präsident Roosevelt erklärte 1940, die USA könnten nicht leben „as a lone island in a world dominated by the philosophy of force." Samuel I. Rosenman, Hg.: The Public Papers and Addresses of Franklin D. Roosevelt, 1940, New York 1941, S. 261, zit. in: Leffler: Specral

of Communism, S. 29. Smith: American Mission, S. xiii; Leffler: Specter of Communism, passim, bes. viii: „In this work I show that the lessons of the 1930s cast a huge shadow over postwar foreign policies. These lessons were not simply that appeasement did not work nor that exports were the key to prosperity, but that configurations of power abroad were critical to the maintenance of a free political economy at home. American officials had concluded as early as 1940 that they could not live in a world dominated by totalitarian nations, even if those powers refrained from attacking the United States." 118) Siehe u.a. John Ranelagh: The Agency. The Rise and the Fall of the CIA, 2. Aufl., New York 1987. 119) G;7/m: The Sixties, S. 61. ter

117)

2. Die politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

69

1940er Jahre der Konsensliberalismus entstanden, wie er in den 1950er und 1960er Jahren die amerikanische Innen- und Außenpolitik dominieren sollte. Jedoch fehlt in dieser Auflistung ein Faktor, der dem Konsens der 1950er Jahre erst seine eigentliche Ausprägung gab: der Antitotalitarismus, der jedoch selbst kein konstitutiver weltanschaulicher Bestandteil des Konsensliberalismus war.120) Der Eindruck der Bedrohung von außen verstärkte sich zusehends, als der Systemgegensatz zwischen Ost und West zum Systemkonflikt und zum Kalten Krieg eskalierte, und wirkte auf die amerikanische Innenpolitik und auf die Gesellschaft selbst zurück. Der Antitotalitarismus, der bald nahezu ausschließlich als Antikommunismus auftrat, kann als Schlüssel zur Stimmungslage des Nachkriegsliberalismus in den USA betrachtet werden.121) Der amerikanische Antikommunismus wurde durch den Kalten Krieg angeheizt, nicht aber verursacht. Schon die sozialistischen Auswanderer, die nach der Revolution von 1848 in die Vereinigten Staaten kamen, taten sich schwer, Sympathien für ihre grundlegende Gesellschaftskritik zu wecken. Der American Exceptionalism, das Fehlen von Klassenbewußtsein und sozialistischer Ideenwelt, ist generell eng verwandt mit dem amerikanischen Antikommunismus seit den 1950er Jahren, in gewisser Weise sogar dessen Vorbedingung.122) Nachdem die Erfahrungen der 1930er Jahre und des Krieges dem Antitotalitarismus ein breites Fundament gegeben hatten, engte der Kalte Krieg diesen bald auf die Sonderform des Antikommunismus ein. Die Politik des Containment, wie sie in der Truman Doktrin verkündet wurde, George F. Kennans ,Langes Telegramm' und sein ,X Artikel' in Foreign Affairs sollten auch innenpolitisch tiefgreifende und langfristige Folgen zeitigen. Die antistalinistische Linke der 1930er Jahre, die sich inzwischen zum liberalen Konsens zählte, tat das ihrige, die amerikanische Gesellschaft gegen den Kommunismus einzuschwören.123) Das Ergebnis hatte jedoch nur wenig mit dem Kommunismus selbst zu tun: antikommunistisch zu sein, definierte vielmehr „a way of being American".124) Antikommunismus umfaßte in den 1950er Jahren ebenso wie noch in den 1980er Jahren eine eher vage Ansammlung von Überzeugungen: „that Communists are responsible for domestic unrest, that Communist countries are all alike, that peace is best ensured through military strength, and that American lives are worth more than the lives of people in other countries".125) Kommunistisch zu sein bedeutete unamerikanisch zu sein, und Joel -

120) vgl. zu dieser Einschätzung Doering-Manteujfei: Wie westlich sind die Deutschen? in: Historisch-Politische Mitteilungen, 3/1996, S. 21. 121 Gitlin: The ) Sixties, S. 61. 122) Kovel: Red Hunting, S. 6f.; William Z. Foster: History of the Communist Party of the United States, New York 1952, S. 33-35; Paul Buhle: Marxism in the USA, London 1987.

123) Hierzu ausführlich: Wald: The New York Intellectuals. 124) Kovel: Red Hunting, S. 3-13, hier S. 3 f. 125) Ebda., S. 4. Auf die Frage, was ein Kommunist sei, erhielt ein Journalist 1953 u.a. folgende Antworten: „Well, they are always sneeking around. I don't know too much about ...

70

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

Kovel bezeichnet es in seiner Studie zum Antikommunismus treffend als seltsam für eine Nation, „to define Communism as somehow ,un-, the identity of that nation."126) Der Konformitätsdruck, den diese Polarisierung in ,amerikanisch' und ,unamerikanisch' aufbaute, hatte eine nicht zu unterschätzende integrative Funktion und verlieh der insgesamt doch disparaten liberalen Koalition erst den nötigen Zusammenhalt.127) Seit Ende der 1940er Jahre orientierten sich die liberals' auf diesen Konsens hin und die progressives' wurden dabei marginalisiert. Die soziale Reformagenda wurde aufgegeben, die „sozialdemokratische Ära" der New Deal Order endete. Das innenpolitische Pendel schwang jedoch noch weiter nach rechts und führte zu einer antikommunistischen Hysterie, die vielfach als regelrechte .Hexenjagd' erschien. Die Hauptakteure in diesen Exzessen waren der Untersuchungsausschuß des Repräsentantenhauses gegen .unamerikanische' Aktivitäten (HUAC) sowie Senator Joseph McCarthy, der mit seinem Subcommittee von 1950 bis 1954 eine Spur der Angst und der Denunziation durch die amerikanische Gesellschaft zog.128) Die Prozesse gegen das Ehepaar Rosenberg und gegen Alger Hiss erlangten dabei traurige Berühmtheit; vor allem das Todesurteil gegen die Rosenbergs, das auch vollstreckt wurde, ist nur aus der Hysterie jener Zeit zu erklären. Diese extreme Phase des Antikommunismus in den USA dauerte allerdings nur bis 1954. Die wenigen Jahre, die sie anhielt, genügten jedoch, den liberalen Kern des politischen und gesellschaftlichen Konsenses wieder zu gefährden. Kritik an der Verletzung liberaler Bürgerrechte wurde laut, die den Bestand der amerikanischen Demokratie mehr gefährde als der Kommunismus. Auch George F. Kennan, einer der Vordenker des Kalten Krieges, der eher einem Elite-Antikommunismus' zugeneigt war, wandte sich gegen den hysterischen Antikommunismus.129) Diese Kritik trug den Keim in sich, der später in Gestalt der ,

„I'm not exactly sure the definition seems to be changing." „A crook, I suppose." „A person who wants war." Aus Cedric Belfrage: American Inquisition 1945-1960 [1973], 2. Aufl., New York 1989, S. 195, zit. in Kovel: Red Hunting, S. 248. 126) Im Zusammenhang mit Überlegungen zum Namen des „House Unamerican Activities Committee", HUAC. Kovel: Red Hunting, S. 5. 127) Wie erfolgreich der Antikommunismus diese innenpolitische Funktion erfüllte, zeigt eine Umfrage aus dem Jahr 1987, nach der sich 70% der befragten Amerikaner selbst als antikommunistisch bezeichneten, dagegen ,nur' 49% als religiös. Siehe Norman Ornsteinl Andrew Kohut/Larry McCarthy: The People, the Press and Politics, Reading, Mass. 1989, S. 113, zit. in: Kovel: Red Hunting, S. 4. Zur Polarisierung in zwei Lager siehe Gitlin: The them."

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Sixties, S. 62. 128) Das HUAC, ein Komitee des Repräsentantenhauses, war schon 1938 eingerichtet worden unter Leitung von Martin Dies, einem texanischen Demokraten. Die Hochphase seiner Aktivität lag jedoch in den frühen 1950er Jahren. Siehe hierzu Richard Gid Powers: Not Without Honor. The History of American Anticommunism, New Haven-London 1998, S. 191-233; M.J. Heale: American Anticommunism. Combating the Enemy Within, 1830-1970, Baltimore, MD. 1990, S. 105-121; Goodman: The Committee; zu McCarthy siehe bes.: Powers: Not Without Honor, S. 235-272; Kovel: Red Hunting, S. 109-136. 129) Zur liberalen Kritik allg. siehe Gitlin: The Sixties, S. 61 f. „The difference [to McCar-

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

71

Neuen Linken den liberalen Konsens ablehnen und sogar aufbrechen sollte: eine neue Generation begann, die Liberalen an ihren eigenen Maßstäben zu

messen.130) b.

Konsenskapitalismus: Die amerikanischen Gewerkschaften im Konsensliberalismus

Die amerikanischen Gewerkschaften waren zu dieser Zeit in zwei konkurrierenden Gewerkschaftsbünden organisiert, deren Mitglieder Berufsverbände waren, welche wiederum lokal und bundesstaatlich gegliedert waren und „internationale", d.h. bundesweite Dachorganisationen besaßen. Der ältere Gewerkschaftsbund war die American Federation of Labor, die 1886 gegründet worden war; der jüngere Congress of Industrial Organisations entstand 1935. Beide Gewerkschaftsbünde teilten nach dem zweiten Weltkrieg und in den 1950er Jahren den liberalen Konsens und waren Bestandteil der Koalition, die ihn trug. Alle oben beschriebenen Elemente des Konsensliberalismus gehörten auch zu ihrem Politikverständnis und Gesellschaftsbild und lagen ihrem eigenen Rollenverständnis als Gewerkschaften zugrunde. Der angelsächsische Liberalismus, die Wirtschaftspolitik und Wertewelt des New Deal, der Pragmatismus und der liberale Internationalismus bildeten die ideellen Grundlagen für die Politik der amerikanischen Gewerkschaften der 1950er und 1960er Jahre. Wie in der amerikanischen Gesellschaft insgesamt, wirkte der Antikommunismus auch in der Gewerkschaftsbewegung anfangs als polarisierendes und am Ende als integratives Element. Die AFL entstand in den 1880ern als Zusammenschluß der nationalen, d.h. bundesstaatlichen, Gewerkschaften, die sich damit ausdrücklich gegen den po-

litisch-reformistischen Flügel der amerikanischen Arbeiterbewegung jener Jahre abzugrenzen suchten und statt dessen einen Kurs des sogenannten pure unionism verfolgten. Sie vertraten, in strenger Gliederung nach Berufsgruppen, die Interessen ihrer handwerklich geprägten, vor allem aus Facharbeitern bestehenden Mitgliedschaft gegenüber den Unternehmern ebenso wie gegenüber den ungelernten Arbeitern.131) Sie beschränkten sich dabei auf eng umschriebene gewerkschaftliche Aufgaben.132) Denn einerseits konnten die Gewerk-

thyism]

was that liberalism thought the principal menace lurked outside." Hervorh. i.O. Zu Kennans Antikommunismus siehe Kovel: Red-Hunting, S. 39-63, hier S. 51. I3°) Gitlin: The Sixties, passim, bes. S. 60: „[...] fathers who lost their political children. [...] Their students and sometimes their biological children were among the founding generation of the New Left." 131) Gary Marks: Unions in Politics. Britain, Germany, and the United States in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, Princeton, N.J. 1989, S. 204-217; vgl. auch Rainer Erd: Amerikanische Gewerkschaften. Strukturprobleme am Beispiel der Teamsters und der Automobilarbeiter, Frankfurt/M.-New York 1989, bes. S. 16f. 132) David Brody: The Course of the American Labor Movement, in Ders.: In Labor's

72

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

Schäften ihre unmittelbaren Ziele nur erreichen, wenn sie sich zu überregionalen Verbänden zusammenschlössen. Dies zwang sie aber zugleich, die ethnischen und religiösen Gegensätze innerhalb ihrer Organisationen zu akzeptieren, und machte den Verzicht auf eine verbindliche politische Programmatik und eine gemeinsame ideelle Linie notwendig. Innerhalb der AFL blieben die einzelnen Berufsstände autonom, es gab keine zentralisierte Kontrolle durch den Gewerkschaftsbund. Aufgabe der AFL war es zunächst, die auf der Ebene der Einzelstaaten und bundesweit agierenden Gewerkschaften zu unterstützen, ihre Anerkennung durch die Unternehmerseite zu erkämpfen und anschließend in ein Collective Bargaining17,3) einzutreten, gegebenenfalls aber auch Streiks zu ermöglichen. Ihr Kurs despure unionism führte die AFL jedoch nicht zu politischer Enthaltsamkeit. Schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sie ihre Strategie des Belohnens von Freunden und Bestrafens von Gegnern („reward your friends, punish your enemies"), um die eigenen Ziele etwa im Kongreß durchzusetzen. Immerhin boten die amerikanischen Gewerkschaften in ihrer Gesamtheit einen beachtlichen Block von Wählerstimmen und Finanzkraft auf, die sich als politisches Druckmittel einsetzen ließen. Diese Gewerkschaftsbewegung verfolgte jedoch keine unmittelbaren revolutionären Ziele. Das schloß sich angesichts der politischen und sozialen Heterogenität der Mitglieder von vorneherein aus, es entsprach aber auch dem Selbstverständnis der neuen Organisation. Die Interessen der Mitgliedsgewerkschaften sollten innerhalb des bestehenden Wirtschaftssystems vertreten werden. „We have no ultimate ends. We are going on from day to day. We fight only for immediate objects objects that can be realized in a few years."134) Aufgabe der Gewerkschaften sei es, zu jeder Zeit das jeweils Beste für die Lage der Arbeiter zu erreichen, ohne daß ein bestimmtes Ziel festgesetzt würde, welches dann weiteres Streben überflüssig machen würde. Der Kampf um unmittelbare tagespolitische Forderungen, der permanente Versuch, die Lage der Arbeiter schrittweise zu verbessern, war selbst das Ziel.135) Der erste AFL-Präsident Samuel Gompers hielt es für „our duty to live out our lives as workers in the society in which we live and not work for the downfall or the -

Cause. Main Themes S. 52.

on

the

History

of the American Worker, New York-Oxford

1993,

133) Collective Bargaining bedeutet, daß Gewerkschaften und Unternehmer auf privatrechtlicher Ebene miteinander verhandeln, ohne Einmischung des Staates, und daß ihre Vereinbarungen überbetriebliche Geltung haben. Dies setzt voraus, daß die Gewerkschaften auch von den Arbeitern im Betrieb als ihre Vertreter akzeptiert werden. Zur Entstehung, den Strukturen und der Praxis des Collective Bargaining siehe Doris E. Pullman/L. Reed Tripp: Collective Bargaining Developments, in: Derber/Young: Labour and the New Deal, S. 317-360. 134) Adolph Strasser [1885], zit. in: Foster Rhea Dulles/Me\\yn Dubofsky: Labor in America. A History [1949], 5. Aufl., Arlington Heights, 111. 1993, S. 142. 135) Howe: Socialism and America, S. 28.

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

2. Die

destruction

or

the overthrow of that

evolution."136)

73

society, but for its fuller development and

Staatsfern in ihrem Selbstverständnis wandte sich Gompers' AFL sogar gegen eine Reihe von Reformgesetzen. Während sie den Schutz von Frauen und

Kindern in der Industrie akzeptierte, lehnte sie eine gesetzliche Regelung der Arbeitszeit und Löhne für Gewerkschaftsmitglieder ab also auch Maximalarbeitszeiten und Mindestlöhne. Denn dies würde Abhängigkeit vom Staat bedeuten. Gompers setzte dagegen auf gewerkschaftliche Stärke in freien Verhandlungen mit den Unternehmern. Das Recht auf solche Verhandlungen und das Recht, Druck auf die Industrie auszuüben, sollte der Staat den Gewerkschaften garantieren und nichts anderes. Jegliche Form von Wohlfahrtsstaatlichkeit lehnte er ab. Diese Haltung wird mit dem Begriff „Voluntarismus" bezeichnet. Die Gewerkschaften sollten, so Gompers, nur versuchen „to secure by legislation at the hands of government what they could [not] accomplish by their own initiative and activities."137) Dieses politische Prinzip der freiwilligen, nicht gesetzlich erzwungenen Regelung der Arbeitsbeziehungen stammte aus der antimerkantilistischen Tradition der angelsächsischen Arbeiterbewegungen, die ihrem Selbstverständnis nach staatsfern, nicht aber systemfeindlich waren. In ihrem Weltbild hatte sich die Regierung aus den Konflikten der gesellschaftlichen Interessenverbände herauszuhalten und nur die Rahmenbedingungen zu garantieren. Von staatlichem Eingreifen in wirtschaftliche Zusammenhänge erwarteten sich diese Organisationen keinen Vorteil. In dieser Haltung sah sich die AFL in den 1920er Jahren bestätigt, als der Staat sich in den Arbeitsbeziehungen gänzlich auf die Seite der Unternehmer stellte, der corporate state' sich die Sache des ,big business' zu eigen machte. In diesem Jahrzehnt herrschte in den USA mehr denn je das Modell der ungezügelten Marktwirtschaft, in dem der Unternehmer heuern und feuern konnte und gewerkschaftliche Interessenvertretung als anarchischer Eingriff in die Abläufe der privaten Wirtschaft galt. Die amerikanische Regierung setzte ihre Macht, und nicht zuletzt die Armee, gegen streikende Arbeiter und ihre Vertreter ein. Auch die Justiz ließ sich gegen die Gewerkschaften und für die Interessen der Wirtschaft instrumentalisieren. Obwohl die Arbeitsbedingungen in den Fabriken hart waren, blieb das Interesse der Arbeiterschaft an gewerkschaftlicher Organisierung gering, da die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ein Entlassungsgrund und Einstellungshindernis war. Nach 1922 gab es kaum noch -

-

Streiks unter den Arbeitern, in spürbarem Gegensatz zu den Arbeitskämpfen der Jahre 1916 bis 1922. Die Gewerkschaften verloren an Einfluß; bei einzel-

136)

Laslett: Samuel

Gompers,

in:

Melvyn DubofskyfWarren

America, Urbana-Chicago 1987, S. 62-88, hier S. 84.

Van Tine: Labor Leaders in

137) Zit. in: Laslett: Samuel Gompers, S. 81. Siehe auch: Louis S. Reed: The Labor Philosophy of Samuel Gompers, New York 1968; Harold C. Livesay: Samuel Gompers and Organized Labor in America, 2. Aufl., Prospect Height, 111. 1993, S. 109-129.

74

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

Organisationen, wie beispielsweise den United Mine Workers (UMW) ging die Mitgliederzahl um 80% zurück. 1930 war die immense Automobilarbeiterschaft zu 99% unorganisiert. Wie schon in Zeiten funktionierender Tarifbeziehungen um die Jahrhundertwende galten erzielte Abschlüsse nur für die Gewerkschaftsmitglieder selbst und hatten keine Richtwertfunktion in den Branchen. Die Bedeutung der Gewerkschaften im amerikanischen Wirtschaftsleben schwand rapide.138) Im Laufe der 1920er Jahre hatte zudem die Industriearbeiterschaft schnelle und massive Veränderungen durchgemacht. Zwischen 1919 und 1933 wandelten sich der Charakter und das Tempo der Arbeit, die Zusammensetzung der Arbeiterschaft und die Muster der industriellen Auseinandersetzungen grundlegend. Zugleich wuchs der Wohlstand in der amerikanischen Arbeiterschaft. Die Realeinkommen stiegen bei sinkender Wochenarbeitszeit, und die besser Qualifizierten begannen, Eigenheime und Autos zu kaufen. Dieser Aspekt der Entwicklung, der eng mit den Begriffen Fordismus und Taylorismus verbunden war, wurde von der europäischen, besonders der deutschen Arbeiterbewegung mit großem Interesse wahrgenommen. In der Debatte um die Amerikanisierung der deutschen Wirtschaft betonten die deutschen Gewerkschaften vor allem das hohe Lohnniveau, während die Unternehmerseite, für die die USA ebenfalls Vorbildcharakter besaßen, die Rationalisierung und die hohen Gewinne in den Vordergrund stellte.139) Die Chance auf Wohlstand schien für einige Zeit die Tatsache aufzuwiegen, daß fast der gesamten Industriearbeiterschaft in den USA die arbeitsrechtliche Vertretung fehlte. Es gab keinerlei Mitspracherechte, keinen Anspruch auf rechtliche Vertretung, ja nicht einmal auf betriebliche oder gewerkschaftliche Organisation und keinen Schutz individueller Grundrechte. Auch von Seiten des Gesetzgebers existierten keine arbeitsrechtlichen Regelungen.140) Arbeitsbeziehungen waren Sache der einzelnen Betriebe. Außerdem gelang es den nen

138) Robert H. Zieger: The CIO 1935-1955, Chapel Hill-London 1995, S. 6-21; Lizabeth Cohen: Making a New Deal. Industrial Workers in Chicago, 1919-1939, Cambridge 1990, bes. S. 159-211; Irving Bernstein: The Lean Years. A History of the American Worker, 1920-1933, Boston 1960. 139) Zieger: The CIO, S. 6-21. Für die Rezeption in Europa siehe: Charles S. Maier: Zwischen Taylorismus und Technokratie. Gesellschaftspolitik im Zeichen industrieller Rationalität in den zwanziger Jahren in Europa, in: Michael Stürmer, Hg.: Die Weimarer Republik. Belagerte civitas, Königstein 1980, S. 188-213; Biess: Zwischen Ford und Hollywood; Thomas Freyberg: Industrielle Rationalisierung in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. u.a. 1989; Gunnar Stollberg: Die Rationalisierungsdebatte 1908-1933. Freie Gewerkschaften zwischen Mitwirkung und Gegenwehr, Frankfurt/M. 1981. Als Überblick: Doering-Manteuffel: Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft. Für die zeitgenössische Perspektive siehe: Hirsch: Wirtschaftswunder; Honermeier: Die Ford Motor Company; Amerikareise deutscher Gewerkschaftsführer. 140) Bernstein: The Lean Years, S. 47-74; Robert H. Zieger: Republicans and Labor, 1919-1929, Lexington 1969, S. 216-259.

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

75

großen Unternehmen, durch hohe Löhne, soziale Leistungen und sogar Freizeitangebote das Bedürfnis der Facharbeiterschaft nach Interessenvertretung gering zu halten. Der moderne welfare capitalism bot durch seinen Glauben an

endloses Wachstum nun auch der Arbeiterschaft die Aussicht auf Wohlstand und Sicherheit.141) Wirtschaftsführer und Teile der Washingtoner Administration verkündeten das Ende des Arbeiterproblems. Zu früh, wie sich schnell zeigen sollte. Als am 25. Oktober 1929 in New York die Börse kollabierte und die Weltwirtschaftskrise begann, brachen bald auch die Strukturen des welfare capitalism weg. Dem Konsens der 1920er Jahre, der im Tausch für harte Arbeit in der Industrie hohe Löhne, Sicherheit und Teilhabe an der Konsumkultur geboten hatte, ging nun die Grundlage verloren. Das Vertrauen in Wachstum und Fortschritt wurde erschüttert, der Glaube an das Funktionieren des freien Marktes in Frage gestellt.142) Die amerikanische Regierung reagierte auf die Krise mit einer an den Theorien John Maynard Keynes' orientierten und völlig neuartigen Form des staatlichen Wirtschaftsmanagements und beteiligte auch die Gewerkschaften, die nun in Regierungsbehörden mitarbeiteten. Die Mitwirkung der Gewerkschaften wurde unverzichtbar für das amerikanische Wirtschaftssystem. Nun kamen gewerkschaftliche Konzepte zum Tragen, die über den Konsum die Nachfrage stärken wollten, den Gewerkschaften hierbei eine starke Rolle zuwiesen und die Regierung zur Regulierung und Stabilisierung der Wirtschaft heranzogen. Ein hoher Lebensstandard für Arbeiter wurde nicht nur als Frage der Gerechtigkeit betrachtet, sondern als Voraussetzung für die so notwendige Nachfrage nach den Gütern der Massenproduktion. Für die Rolle des Staates in den Arbeitsbeziehungen diente die Erfahrung der Mobilisierung im Ersten Weltkrieg als Vorbild. Die öffentliche Hand sollte die Konsumnachfrage stimulieren, Arbeitsbeschaffungsprogramme auflegen und über nationale Standards Arbeitszeit und Lohn festsetzen. Im Zentrum dieses Konzeptes stand dabei das Recht der Arbeiter, sich in starken Gewerkschaften zu organisieren, um ihre Interessen innerhalb dieser neuen Wirtschaftsordnung erfolgreich vertreten zu

können.143)

141)

H.M. Gitelman: Welfare Capitalism Reconsidered, in: Labor History, 33, No. 1, Winter 1992, S. 5-31; David Brody: The Rise and Decline of Welfare Capitalism, in: Ders., Hg.: Workers in Industrial America. Essays on the Twentieth-Century Struggle, New York 1980, S. 48-81.

142) Vgl. zur Weltwirtschaftskrise in den USA u. a. Robert S. McElvaine: The Great Depression. America, 1929-1941, New York 1983. 143) Dieses Konzept wurde schon 1928 von Sidney Hillman vertreten, dem Vorsitzenden der Amalgamated Clothing Workers of America (ACWA). Er verkörperte Anfang der 1930er Jahre den neuen Typus des Gewerkschaftsführers, der social engineering betrieb und in gesamtgesellschaftlichen Konzepten dachte. Zu Hillman siehe Steven Fraser: Sidney Hillman. Labor's „Machiavelli", in: Dubofsky/Van Tine: Labor Leaders, S. 207-233.

76

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

Nach Roosevelts' Amtsantritt und dem Beginn der Reformprogramme des New Deal 1933 wurden die Gewerkschaften in die Bekämpfung der Wirtschaftskrise einbezogen. Die Arbeiterbewegung wurde in die liberale Reformkoalition eingebunden, und zum erstenmal in ihrer Geschichte machte sich eine Regierung ihre Sache zu eigen.144) Die Position der Gewerkschaften gegenüber den Unternehmern wurde auf dem Wege der Gesetzgebung gestärkt.145) Dieses Vorgehen bewegte sich schon in einem rein keynesianischen Denkhorizont. Die industrielle Konzentration hatte die Verhandlungsposition der Arbeiterbewegung geschwächt, so die Argumentation, und darüber hinaus auch zu einer einseitigen Verteilung des nationalen Wohlstands geführt. Wirtschaftlicher Wiederaufstieg und wirtschaftliche Stabilität waren aber von Massenkaufkraft abhängig und setzten daher eine breitere Verteilung dieses Wohlstandes voraus. Als in den 1920er Jahren die Arbeiterbewegung schwach war, gingen die Gewinne aus der Produktion in Investitionen, Profite und Spekulationen, anstatt die Nachfrage zu stärken. Dies wurde als eine Ursache der Wirtschaftskrise gesehen, und entsprechend sollten nun die Gewerkschaften eine faire Verteilung der Kaufkraft in der Bevölkerung erkämpfen. Durch den New Deal wurden die Gewerkschaften zum festen Bestandteil der amerikanischen Wirtschaftspolitik. Sie erlangten staatliche Anerkennung als Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft und erhielten in den Arbeitsbeziehungen sogar direkte Unterstützung durch die Regierung. Labor gehörte nun zur New Deal Coalition um die Democratic Party und wollte daran auch festhalten. Dieser neue Einfluß machte die Gewerkschaften wieder attraktiver für die Industriearbeiter, denen im Zuge der Technisierung und Rationalisierung des Produktionsprozesses die Zukunft gehören würden. Dieser schnell wachsende Teil der Arbeiterschaft war in der an Handwerk und Facharbeiterschaft orientierten AFL jedoch kaum repräsentiert. Angelernte und ungelernte Arbeiter in der Massenproduktion galten in diesem Gewerkschaftsbund als minderwertig, nicht zu organisieren und obendrein als Gefahr, da sie Löhne unterbieten und Streiks brechen könnten.146) Gegen diese Haltung formierte sich jedoch innerhalb der AFL eine Gruppe von Gewerkschaftsführern, die für industrial unio-

144)

Patrick Renshaw: American Labour and Consensus Capitalism, 1935-1990, London 1991, S. xviif; S. lOf. Zur Roosevelt Coalition siehe: Arthur M. Schlesinger, jr.: The Politics of Upheaval 11960], 2. Aufl., Boston 1988, S. 424-443. 145) Der wichtigste Schritt war hierbei der National Labor Relations Act (NLRA) vom 5. Juni 1935, gemeinhin Wagner Act genannt: „[...] perhaps the most important law passed in the 1930s": McElvaine: The Great Depression, S. 250-263, hier S. 258; R.W. Fleming: The Significance of the Wagner Act, in: Derber/Young: Labor and the New Deal, S. 121-155; Renshaw: American Labour, S. 20; David Plotke: The Wagner Act, Again. Politics and Labor, 1935-37, in: Studies in American Political Development, 3/1989, S. 105-153; Rainer Erd: Die amerikanischen Gewerkschaften im New Deal 1933-1937, Frankfurt/M./New York 1986, S. 117-183. 146) Renshaw: Consensus Capitalism, S. 23. u.a.

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

77

nism, für die gewerkschaftliche Organisation der Industriearbeiterschaft und

ihre Eingliederung in die AFL eintraten. Sie gründeten 1935 eine neue Organisation, das Committee for Industrial Organization (CIO), deren Ziel es war, die Masse der Industriearbeiterschaft in die Gewerkschaftsbewegung einzugliedern. Das CIO wandte sich gegen die Politik der AFL-Führung, nicht aber gegen die Grundlagen dieser Politik: am Collective Bargaining wollte man ebenso festhalten wie an der zentralistischen und hierarchischen Struktur der AFL; die Grundlagen des amerikanischen politischen Systems, seine Institutionen und Werte, standen nicht in Frage auch nicht der freie Wettbewerb und das private Unternehmertum.147) Das CIO entwickelte sich im Laufe der nächsten Jahre aus recht bescheidenen Anfängen zu einer zweiten großen Dachorganisation in der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, zu einem ernsthaften Rivalen der AFL.148) 1938 spaltete sich das CIO formal von dieser ab und nannte sich um in Congress of Industrial Organisation (CIO). In der AFL verblieben die orthodoxen Anhänger des pure unionism, die Föderation wurde konservativer und orientierte sich mehr denn je an ihren Traditionen. Der neue CIO verkörperte dagegen die ,linkere' im amerikanischen Sprachgebrauch: liberal Variante der Gewerkschaftsbewegung.149) Die CIO-Führung lehnte sich dabei eng an die Demokratische Partei an.150) -

-

-

147)

Perlman: Labor and the New Deal, in: Derber/Young: Labor 361-370, hier S. 366; Zieger: The CIO, S. 24. 148) Zieger. The CIO, S. 22^11.

and the New

Deal,

S.

149) Nachdem lange Zeit in der amerikanischen Forschung die Arbeitsbeziehungen im einzelnen Betrieb im Mittelpunkt gestanden hatten, hat sich seit Ende der 1980er Jahre das Interesse nun auch der weiteren, nationalen Dimension der Gewerkschaftspolitik zugewandt. Für die betriebliche und lokale Perspektive, die meist mit einem sozialgeschichtlichen Fragehorizont verbunden ist, vgl. Nelson Lichtenstein: Auto Worker Militancy and the Structure of Factory Life, 1937-1955, in: Journal of American History, 67, Sept. 1980, S. 335-349; Ders.: Life at the Rouge. A Cycle of Workers Control, in: Charles Stephensonl Robert Asher, Hg.: Life and Labor. Dimensions of American Working Class History, Albany 1986, S. 237-248; Steve Jefferys: Management and Managed. Fifty Years of Crisis at Chrysler, Cambridge, Mass. 1986; Bruce Nelson: Workers on the Waterfront. Seamen, Longshoremen, and Unionism in the 1930s, Urbana 1988. Gegen die Beschränktheit dieser Perspektive wendet sich David Brody in: Workplace Contractualism in Comparative Perspective, in: Nelson Lichtenstein/Howell Harris, Hg.: Industrial Democracy in America. The Ambiguous Promise, Cambridge, Mass. 1993, S. 176-205. Zu den neueren Arbeiten in diesem Bereich, die eine politikgeschichtliche oder im weiteren Sinne gesellschaftsgeschichtliche Ebene betreten siehe u.a.: Kevin Boyle: The UAW and the Heyday of American Liberalism 1945-1968, Ithaca-London 1995, der die Geschichte der UAW in die amerikanische Politik- und Gesellschaftsgeschichte integriert und die Bedeutung der UAW für die Entwicklung des New Deal Liberalism herausarbeitet; Gary Gerstle: Working Class Americanism. The Politics of Labor in a Textile City 1914-1960, Cambridge, Mass. 1989, der die Bedeutung kultureller und ethnischer Fragen für die Gewerkschaftspolitik aufzeigt. Steven Fraser: Labor will Rule. Sidney Hillman and the Rise of American Labor, New York 1991, hebt besonders die sozialdemokratische Position des CIO und seiner Anhänger hervor. Auch Nelson Lichtenstein hat die Debatte um die nationale und gesellschaftspolitische Rolle der Gewerk-

78

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

Das wohl bedeutendste Mitglied im CIO war die im August 1935 gegründete Automobilarbeitergewerkschaft United Automobile Workers (UAW).151) Schon Ende 1937 war die UAW eine der größten und einflußreichsten Einzelgewerkschaften der Vereinigten Staaten geworden, 1945 organisierte sie eine Million Mitglieder im wichtigsten Industriezweig des Landes: die Autoindustrie war die Schlüsselindustrie der USA, der größte Massenproduktionssektor der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Sie stand im Zentrum der amerikanischen Wirtschaftspolitik und trug entscheidend dazu bei, aus dem CIO eine große, mitgliederreiche und mächtige Dachorganisation zu machen.152) Eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der UAW, und bald auch im CIO, war Walter P. Reuther. Der Werkzeugmacher bei Ford in Detroit, Sozialist und äußerst erfolgreiche union organizer der UAW begann seinen Aufstieg in der Gewerkschaftshierarchie 1936, als er in den Bundesvorstand der UAW gewählt wurde. Er gehörte dem Progressive Bloc dieser Gewerkschaft an, einer Koalition aus Sozialisten, Kommunisten und unabhängigen Radikalen, deren Ziel es war, die UAW dem neuen CIO anzuschließen, was ihnen auch gelang. Von da an spielte Reuther in seiner Gewerkschaft wie im Dachverband eine ständig wachsende Rolle. Er trat aus der Socialist Party aus und wandte sich der Democratic Party zu. Als er 1940 Vizepräsident der UAW wurde, band er sie in eine feste Allianz mit dem linken Flügel der Demokraten ein und unterstützte Roosevelt nach Kräften.153) Reuther und die UAW prägten die Entwicklung des CIO, waren aber umgekehrt auch das Produkt derselben Entwicklungen, die den CIO hervorbrachten und für einige Zeit so erfolgreich machte: des New Deal und des New E>ea/-Liberalismus, der sich im Laufe des Krieges herausbildete. Der Zweite Weltkrieg verstärkte noch einmal den Einfluß der Gewerkschaften in der Wirtschaft. Die industrielle Produktion wurde zum kriegsentschei-

vorangetrieben, beispielsweise in seinem Aufsatz: From Corporatism to Collective Bargaining: Organized Labor and the Eclipse of Social Democracy in the Postwar Era, in: schaften

Fraser/Gerstle: New Deal Order, S. 122-152. Er und Ira Katznelson besonders: Was the Great Society a Lost Opportunity?, in: Fraser/Gerstle: New Deal Order, S. 185-211 gehören zu den entschiedensten Kritikern der Gewerkschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Zur UAW und ihrer sozialdemokratischen Position siehe neben Boyle: The UAW, besonders: Stephen Amberg: The Union Inspiration in American Politics. The Autoworkers and the Making of a Liberal Industrial Order, Philadelphia 1994, und Nelson Lichtenstein: The Most Dangerous Man in Detroit. Walter Reuther and the Fate of American Labor. New York 1995. 15°) Brody: The Course of American Labor Politics, in: Ders.: Labor's Cause, S. 43-80, hier S. 69. 151) Lichtenstein: Most Dangerous Man. 152) Boyle: The UAW, S. 10-34; Lichtenstein: Most Dangerous Man, S. 47-103; Zieger. The CIO, S. 31. 153) Dabei hatte er noch 1936 den New Deal als lauwarm kritisiert und für eine revolutionäre dritte Partei aus Farmern und Arbeitern plädiert: Boyle: The UAW. S. 36f. -

-

2. Die

politischen

Ideen der amerikanischen

Gewerkschaftsbewegung

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denden Kriterium, und die Mitwirkung der Arbeiterschaft war unverzichtbar. Es wurde Aufgabe der Gewerkschaften, diese Mitarbeit zu sichern und zu organisieren. Unmittelbar nach dem Angriff auf Pearl Harbour erklärten die Gewerkschaftsführer freiwillig ihren Verzicht auf Streiks.154) Vor allem Walter Reuther nutzte die Lage der Jahre 1940 und 1941, als durch die Umstellung der Wirtschaft die Arbeitsbeziehungen hochgradig politisiert waren, um mit staatlicher Unterstützung die Position der Industriegewerkschaften auszubauen.155) Die Rolle der Gewerkschaften im Krieg war sicherlich ambivalent: Sie sollten die Arbeiterschaft disziplinieren, den Arbeitsfrieden sichern und eine reibungslose Produktion ermöglichen. Im Gegenzug wurden sie in Entscheidungsabläufe einbezogen. Dies entsprach aber durchaus dem bisherigen Kurs der AFL, und auch der CIO hatte in erster Linie Vorteile durch diese Konstellation. Die Gewerkschaften konnten durch den Übergang zu einer keynesianischen Wirtschaftspolitik immer höhere Löhne aushandeln und halfen so die Konsumnachfrage zu erhöhen, was sich bald in sinkenden Arbeitslosenzahlen niederschlug. Den Erfolg dieser Politik spürten vor allem die Industriegewerkschaften an den rasch ansteigenden Mitgliederzahlen, die ihnen umso mehr wirtschaftlichen Einfluß und nun auch gesellschaftliches Ansehen verschafften.156) Die Gesundung der Wirtschaft durch den Krieg bestärkte die Gewerkschaften in ihrer Hochlohnpolitik. Nach Kriegsende forderten sie deutliche Lohnerhöhungen die AFL sah eine Erhöhung um 20-30% als möglich an, der CIO sogar mehr und zwar nicht nur mit dem Argument, die Arbeitgeber könnten sich dies leisten, sondern, daß dies volkswirtschaftlich notwendig sei, um die Kaufkraft zu erhalten und so einen erneuten Zusammenbruch der Wirtschaft und katastrophale Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Beide Gewerkschaftsbünde argumentierten im Herbst 1945 keynesianisch.157) Der CIO versuchte, seine wirtschaftspolitische Position auszubauen. Mit zahlreichen Streiks in den Jahren 1945 und 1946 versuchte vor allem Walter Reuther, die wirtschaftliche Demobilmachung zu nutzen, um die wirtschaftspolitischen Strukturen des Landes neu zu definieren und neben Lohnerhöhungen auch Mitsprache in den Produktionsentscheidungen der Unternehmen zu erlangen. In diesen Arbeitskämpfen -

-

154) Ein Beispiel für die Kooperationsbereitschaft der Gewerkschaften war der „500 planes day"-Plan Walter P. Reuthers vom Dezember 1940, der ungenutzte Anlagen der Detroiter Autoindustrie zur Flugzeugherstellung umwandeln wollte. Lichtenstein: Most Dangerous a

Man, S. 154-174.

155) George Romney: Automobile Manufacturers' Association, o.D., zit. in: Lichtenstein: Dangerous Man, S. 230; außerdem in: Lichtenstein: Walter Reuther and the Rise of Labor-Liberalism, in: Dubofsky/Van Tine: Labor Leaders, S. 280-302, hier S. 287; Brody: Most

The New Deal, Labor, and World War II, in: Ders.: Labor's Cause, S. 175-219. 156) Die Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg zwischen 1940 und 1945 von knapp neun Millionen auf 15 Millionen an; der CIO konnte seine Mitgliederschaft sogar verdoppeln. Renshaw: Consensus Capitalism, S. 73; Brody: The New Deal, Labor, and World War II, S. 187. ,57) Renshaw: Consensus Capitalism. S. 77-79.

80

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

scheiterten die Gewerkschaften jedoch

an

der entschlossenen

Gegenwehr der

Unternehmen.158)

Insgesamt entstand in den späten 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs eine gesellschaftspolitische Grundhaltung in den USA, die aus dem New Deal hervorgegangen war und ihn weiterführte. Dieser New Deal Liberalism, ein verhältnismäßig geschlossenes Ideengebäude, in dem dennoch mehrere liberale Richtungen zusammenfinden konnten, führte wesentliche Grundgedanken des New Deal fort. Er legte zugleich den Grundstein für den Consensus Liberalism, der die Jahrzehnte nach dem Krieg beherrschte und der auch der ,kulturellen Außenpolitik' der USA und der transnationalen Politik der amerikanischen Gewerkschaftsbünde zugrunde lag. Die Vorstellung vom Staat und seiner Rolle gegenüber der Gesellschaft und ebenso das Bild, das sich die Gewerkschaften in den USA der 1950er und 1960er Jahre von der eigenen Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft machten, wurden durch die Entwicklung nachhaltig geprägt, die der New Deal bis nach dem Ende des Krieges genommen hatte. Das ,Wertepaket' dieser, wie Steven Fraser und Gary Gerstle es bezeichnen, New Deal Order wurde auch und gerade von AFL und CIO geteilt.159) Denn schließlich sollten die Gewerkschaften in dieser New Deal Order und im aus ihr hervorgehenden Konsensliberalismus eine wichtige Rolle spielen als Garanten für die Verteilung von Kaufkraft in der Gesellschaft und

von Wirtschaftswachstum und Produktivität. So wurden sie zu aktiven Vertretern dieser Werteordnung und trugen zugleich nach Kräften zu ihrer Verbreitung im westlichen Ausland bei. Denn bei Kriegsende hatte sich in Washington ein wirtschaftspolitisches Konzept durchgesetzt, das anstelle des Staatsinterventionismus der Kriegsjahre fiskalpolitische Steuerung setzen wollte: Steuern und Ausgaben sollten die Instrumente sein, mit denen der Staat in das Wirtschaftsgeschehen eingriff, ohne aber die Institutionen der Wirtschaft selbst zu kontrollieren.160) Denn die Bedingungen der Wirtschaftspolitik hatten sich gewandelt. Als sich im Laufe des Krieges abzeichnete, daß sich die Wirtschaft gründlich saniert hatte, das System der freien Marktwirtschaft wieder voll funktionierte und ein massiver wirtschaftlicher Aufschwung einsetzte, wurde Wachstum nicht nur wieder für möglich gehalten, es rückte sogar ins Zentrum der Überlegungen. Erstmals erschien es denkbar, soviel zu erwirtschaften, daß ,genug für alle' da wäre: Verteilung auf hohem Niveau anstelle von staatlicher Subvention oder gar von

damit

Umverteilung. 158) Zieger The CIO, 212-227; zur Rolle und den Zielen Reuthers im GM-Streik: Boyle: The UAW, S. 30 f. 159) Fraser/Gerstle: New Deal Order, besonders die Einleitung, S. ix-xxv. Vgl. auch Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive?, S. 75 f. 160) Allan Brinkley: The New Deal and the Idea of the State, in: Fraser/Gerstle: New Deal Order, S. 85-121.

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

81

„We know that the road to the new democracy runs along the highway of a dynamic economy, to the full use of our national resources, to full employment, and increasingly higher standards of living. [...] We stand on the threshold of an economy of abundance. This generation has it within its power not only to produce in plenty but to distribute that plenty."161) Die korporatistischen und wirtschaftsplanerischen Ideen der mittleren 1930er Jahre verloren angesichts dieser Entwicklung schnell an Wirkung. Die Skepsis der frühen New Dealer gegenüber dem Kapitalismus und den Großunternehmern und ihr Vertrauen in den Staat als Manager sozialer Konflikte gehörten der Vergangenheit an. Der Fiskalpolitik kam von nun an die Aufgabe zu, Wachstum zu stimulieren, Wirtschaftsschwankungen auszugleichen und für Vollbeschäftigung zu sorgen. Der Reiz des New Deal Liberalism lag darin, daß er Lösungen für die Probleme des Kapitalismus bot, welche Veränderungen an der Struktur des Kapitalismus ebensowenig nötig machten wie ein zu starkes Eingreifen des Staates in die Wirtschaft. Wirtschaftswachstum wurde in dieser Sicht zum zentralen Movens des sozialen Fortschritts.162) Die Grundidee dieses wirtschaftspolitischen Konsenses war, daß Wachstum und Produktivität Klassenkonflikte obsolet machten und dafür sorgten, daß Arbeitgeber und Gewerkschaften sich um die Anteile von Lohn und Gewinn nicht zu streiten

brauchten.163) Wirtschaftspolitische und gewerkschaftliche Ziele trafen sich in dieser Zeit. Die amerikanischen Gewerkschafter akzeptierten die ordnungspolitische Entwicklung nicht nur, sie prägten sie sogar mit. Gewerkschaftliche Spitzenfunktionäre konnten in dieser Zeit als Theoretiker und Politiker dazu beitragen, sowohl die Arbeiterbewegung an die Gesamtgesellschaft und ihre Wertewelt her-

anzuführen, als auch ebendiese Wertewelt in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Macht des Funktionärs in seiner Organisation verhalf ihm zu politischer Macht und gesellschaftlicher Gestaltungsmöglichkeit. Zugleich war aber die Bereitschaft, die liberalen Grundlagen der Gesellschaftsordnung zu teilen und sich nicht gegen die Entwicklung zu stellen, die Voraussetzung für die Integration der Gewerkschaften in den liberalen Konsens. Ein Beispiel für den Zusammenhang von organisatorischer Macht in der Gewerkschaftsbewegung und Prägekraft im Bereich der Werte ist die Rolle, die Walter P. Reuther als zentraler Theoretiker des New Deal Liberalism auf gewerkschaftlicher Seite unmittelbar

161)

So der Bericht des National Resources Planning Board von 1943 (Resources DevelopReport), dessen Hauptautor Alvin Hansen war. Zit in: Brinkley: The New Deal and the Idea of the State, S. 108. 162) Brinkley: The New Deal and the Idea of the State, S. 110. 163) Maier: Politics of Productivity; siehe auch Ders.: Hegemony and Autonomy within the Western Alliance, in: Melvyn P. LefflerlDavid S. Painter, Hg.: Origins of the Cold War. An International History, London-New York 1994, S. 154-174, hier S. 158. Der Marshall Plan übertrug dieses Denken dann auf die internationale Ebene, indem er davon ausging, daß Produktivität und damit Wirtschaftswachstum auch die politischen und sozialen Probleme Europas lösen würden. ment

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

nach dem Zweiten Weltkrieg spielte. Seine Position soll daher nun kurz betrachtet werden. Auch Reuther war zwischenzeitlich von seinen wirtschafts- und gesellschaftsreformerischen Ansätzen abgekommen und argumentierte nun im Glauben an die Perfektion und Kapazität der Wirtschaft, beeinflußt vom Denken John Maynard Keynes', Thorstein Veblens und John Deweys. Moderne Technologie, Wirtschaftswachstum und soziale Gerechtigkeit in der Form allgemeinen Wohlstands gingen in seinen Vorstellungen eine enge Verbindung ein. Reuther prägte den New Deal Liberalism mit und trug dazu bei, ihn zur Leitidee der amerikanischen Arbeiterbewegung in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg werden zu lassen. Nelson Lichtenstein führt es nicht zuletzt auf Reuthers Einfluß in der amerikanischen Arbeiterbewegung zurück, daß diese nun begann, ihr Vorkriegsvokabular „Macht", „Gerechtigkeit", „industrial democracy" gegen keynesianische Fachbegriffe wie „purchasing power", „aggregate demand" und „wage-price stability" einzutauschen.164) Walter Reuther wurde schnell zu einem der bedeutendsten Gewerkschaftsfunktionäre der Nachkriegszeit. Nach heftigen Flügelkämpfen innerhalb der UAW, die sich aus ihrer Gründungsgeschichte als Ansammlung lokaler und relativ unabhängiger Organisationen erklärten und die bis November 1946 die Gewerkschaft zu spalten drohten, wurde er schließlich im März 1946 Präsident der UAW.165) Sein Einfluß in der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung wuchs weiter und machte ihn 1952 zum Präsidenten des CIO. Reuther war einer der „new men of power", die C. Wright Mills 1948 beschrieb; Angehöriger einer Elite, die durch die neue Rolle entstanden war, die der New Deal der Arbeiterbewegung in der Wirtschaftsordnung und der Gesellschaft verschafft hatte, und die nun diese Gesellschaft und die Arbeiterbewegung nachhaltig verändern half.166) Er prägte die Organisation, der er vorstand, und er vereinbarte wie kaum ein anderer Gewerkschaftsführer dieser Zeit die Ideen des späten New Deal mit konkreter Gewerkschaftspolitik. Das keynesianisch geprägte Konzept der Massenkaufkraft als Wirtschaftsmotor hatte für ihn zwei selbstverständliche Voraussetzungen: die gewerkschaftliche Organisation der Industriearbeiterschaft und die „industrielle Demokratie".167) Reuthers Konzept einer „industriellen Demokratie" war geprägt vom Debs'schen Sozialismus, einer Mischung aus Marxismus und Jeffersonianismus, in dem sein aus Deutschland ausgewanderter Vater, Valentin Reuther, seine fünf Kinder erzogen hatte.168) Für Walter Reuther war die amerikanische -

-

164) Lichtenstein: Most Dangerous Man, S. 221. 165) Boyle: The UAW, S. 30. 166) C. Wright Mills: The New Men of Power. America's Labor Leaders, New York 1948; Lichtenstein: Most Dangerous Man, S. 47. 167) Lichtenstein: Most Dangerous Man, S. 48. 168) Zu Debs s. Nick Salvatore: Eugene V Debs. Citizen and Socialist, Urbana 1982. Zu Kindheit und biographischen Prägungen W. P. Reuthers siehe Lichtenstein: Most Dangerous

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

83

Gesellschaft in zwei konkurrierende Klassen geteilt, eine Konkurrenz, die aber im Rahmen der Verfassung sehr wohl dem Gemeinwohl nützen könne. Die traditionelle sozialistische Unterscheidung zwischen Bourgeoisie und Proletariat lehnte er ab und ersetzte sie durch die politisch offenere Teilung in „private privilege" und „the people". Kevin Boyle hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Reuther, indem er das Proletariat durch das Volk ersetzte, sich von der europäischen Klassenanalyse zumindest äußerlich absetzte und an ihre Stelle die zentralen Elemente der politischen Tradition der USA setzte. Dies ermöglichte es ihm, die Industriearbeiterschaft in eine klassenübergreifende Koalition mit der Mittelschicht und den Armen, vor allem den African-Americans, einzubinden. Es ging ihm auch nicht darum, den Kapitalismus abzuschaffen. Er habe nichts gegen freie Marktwirtschaft, argumentierte Reuther, aber: „my concept of free enterprise does not mean license for private institutions to exploit a privilege. It does mean the obligation of an institution, no matter who owns it, to so conduct itself as to serve the public interest."169) Reuthers Definition dieses public interest wiederum macht einen Wandel im Denken eines Teils der amerikanischen Arbeiterbewegung deutlich: wo traditionellerweise der Republikanismus die Ziele prägte, finden sich nun Topoi der Technokratie und des social engineering. Reuther war stark von Thorstein Veblen beeinflußt, dem amerikanischen Nationalökonomen und Soziologen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Vorstellung einer technologischen Reform der amerikanischen Gesellschaft Ausdruck gegeben hatte und dessen Analyse der externen Effekte beim Konsum in Reuthers Argumentation mitschwang.170) Das Problem sei nicht, das habe der Krieg bewiesen, die Produktion, sondern vielmehr der Verbrauch. In einem Artikel des New York Times Magazine im September 1945 kritisierte Reuther polemisch verkürzt die Angst der Amerikaner vor dem Wohlstand und warnte in Veblens Bild vor der „inordinate productivity" der Maschine; Man, S. 1-12; Lichtenstein: Walter Reuther and the Rise of Labor-Liberalism, in: Dubofsky/ Van Tine: Labor Leaders, S. 280-302, hier S. 287; Victor G. Reuther: The Brothers Reuther and the Story of the UAW. A Memoir, Boston 1976. Zur Beziehung zwischen deutscher und amerikanischer Sozialdemokratie während der Progressive Era siehe James Kloppenberg: Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870-1920, New York 1986, bes. Kap. 6-9; siehe auch Hartmut Keil: German Working-Class Radicalism in the United States from the 1870s to World War I, in: Dirk Hoerder, Hg.: Struggle a Hard Battle. Essays on Working-Class Immigrants, Northern Illinois University Press 1986, S. 71-94. 169) \y. P. Reuther in einer Rede vor Americans for Democratic Action, 22. Februar 1948, zit. in: Boyle: The UAW, S. 23. I7°) Der wichtigste Text für Reuther ist Thorstein Veblen: The Engineers and the Price System, New York 1921, gewesen. Walter und Victor Reuther bekannten sich offen zu ihrer Veblen-Rezeption in der UAW-Zeitschrift Ammunition, Ausgabe v. Juli 1949, S. 35-37. Deutlich wird dies auch in: Walter P. Reuther: Our Fear of Abundance, in: Ders., Selected Papers, hg. v. Henry Christman, New York 1961, S. 13-21. Vgl. Boyle: The UAW, S. 24, Anm. 35, hier auch weitere Belegstellen.

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der

Arbeiterbewegung

productive genius has always been stalemated by our failure at the distributive end. We have found it impossible to sustain a mass purchasing power capable of providing a stable market for the products of a twentieth century technology."171)

„our

Die moderne Technologie gebe den Amerikanern die Möglichkeit, eine Wirtschaft der Vollbeschäftigung, des Überflusses und des permanenten Wohlstands zu schaffen. Die unternehmerische Elite des Landes aber, die die Technologie kontrolliere, verhindere diese Entwicklung und vermehre statt dessen ihre Gewinne, indem sie einen Kurs des „geplanten Mangels" steuere. So fahre die Stahlindustrie ihre Anlagen nicht voll aus, bleibe unter ihrer Kapazität und halte damit die Preise für ihre Produkte künstlich hoch. Andere, vor allem die Autoindustrie, nutzten die neuen Technologien nicht um die Produktion zu erhöhen, sondern um Arbeitsplätze abzubauen und die so gesparten Gelder ihren Gewinnen zuzuschlagen. Das Ergebnis dieser Unternehmenspolitik sei katastrophal für die Volkswirtschaft. Zuwenig Güter kämen auf den Markt und gleichzeitig werde die Kaufkraft gering gehalten, die Anfälligkeit für Wirtschaftskrisen sei hoch. Als Lösung forderte Reuther die Sozialisierung nicht der Produktionsanlagen, sondern der Produktionsentscheidungen: Mitsprache in der Unternehmenspolitik war das Ziel, denn er sah „no permanent prosperity [...] so long as the controls of production remain in the hands of a privileged minority".172) Privateigentum sollte erhalten bleiben, ein verantwortlicher Umgang damit aber erzwungen werden. Dieses öffentliche Interesse sollte die Regierung zum Teil als direkte Eignerin von Anlagen der Schlüsselindustrie vertreten, indem sie Maßstäbe für den Wettbewerb setzte, oder aber durch direktes Eingreifen in die Produktionsentscheidungen der Unternehmen, die dann mit der Fiskal- und Geldmengenpolitik der Regierung abzustimmen wären. Reuther folgte hier einer Richtung im späten New Deal, die staatlicher Planung eine große Bedeutung einräumte. Sein Verständnis von Wirtschaftsdemokratie war neben Veblen stark von John Maynard Keynes geprägt. Dabei war für ihn die Rolle der Gewerkschaften, vor allem der Industriegewerkschaften, zentral. Sie sollten in entsprechenden Planungsbehörden vertreten sein, neben Vertretern der Unternehmer, der Regierung, der Landwirtschaft und der Verbraucherverbände. Gemeinsam würden diese Interessengruppen das Beste für das Gemeinwohl hervorbringen. Dieses Konzept der staatszentrierten Wirtschaftsdemokratie ist als elitär und nicht genuin demokratisch bezeichnet worden.173) Es ist tatsächlich dem Repräsentativgedanken verpflichtet und verfolgt damit einen sogenannten top-down approach, der Basisdemokratie in der Gewerkschaftsstruktur ablehnt. Die stark betonte

Gemeinwohlorientierung in Abgrenzung von Individual- oder Gruppen-

m) Walter P. Reuther Reuther Challenges ,Our Fear of Abundance', in: New York Times Magazine, 16. September 1945, S. 8. Vgl. auch Lichtenstein: Most Dangerous Man, S. 220. 172) Boyle: The UAW, S. 23-27, Zitat S. 24. 173) Ebda., S. 25.

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

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interessen gemahnt an das Kollektiv in der europäischen sozialistischen Tradition und kann durchaus als Abkehr vom mainstream der amerikanischen Arbeiterbewegung interpretiert werden. Das Ergebnis dieses Konzeptes wäre aus Reuthers Perspektive eine geordnete, hierarchisierte und der Repräsentativität verpflichtete also nicht egaliwirtschaftliche Demokratie, ohne die die politische Demokratie nicht täre würde überleben können. Denn solange nur eine kleine Minderheit die wirtschaftliche Macht in ihren Händen halte und die Massen von Mitsprache ausschließe, klaffe eine Lücke zwischen demokratischer Rhetorik und demokratischer Praxis. Diese Schwäche aber könne der Kommunismus ausnützen, er würde um sich greifen und die Demokratie bedrohen.174) Es ging Reuther also weder um direkte radikale Partizipation, noch um Marxismus. Um seiner Forderung nach industrieller Demokratie Nachdruck zu verleihen, bemühte Reuther, und mit ihm die CIO-Spitze, nicht nur den Antikommunismus, sondern griff auf Positionen des Pragmatismus zurück. Dieser bot der amerikanischen Arbeiterbewegung insgesamt, nicht nur dem CIO, das theoretische Rüstzeug für eine Praxis, die sie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts angeeignet hatte: die Überprüfung programmatischer Positionen an ihrer Wirkung in der politischen Realität, die Vorstellung, daß sich die Theorie an der Wirklichkeit messen und gegebenenfalls an sie anpassen lassen müsse. Dies ist jedoch keinesfalls mit Opportunismus zu verwechseln, wie es bei der Verwendung des Wortes pragmatisch' im Deutschen üblich ist. Der Pragmatismus berührt vielmehr unmittelbar den Zusammenhang von Theorie und Praxis, von Erfahrung und Handeln.175) Und gerade das Demokratie Verständnis, das John Dewey aus dem Pragmatismus ableitete, mit seiner Forderung nach der Verwirklichung demokratischer Ideale in der politischen Praxis und nach höherer -

-

174) „Communism breeds on what democracy too often practices; it exploits the lapses of the democratic conscience and thrives on the shortcomings of democratic action. It is the task of democrats to bridge the gap between preachment and practice. We must wipe out the double standard in America and in the world which divides the masses from the minority that controls the preponderance of economic power." Walter P. Reuther. How to beat the Communists, in: Collier's, 28. Februar 1948, S. 44, zit. in: Boyle: The UAW, S. 48. Mit diesem Konzept der Wirtschaftsdemokratie als Ergänzung und Voraussetzung der politischen Demokratie findet Reuther vor allem bei den europäischen Arbeiterbewegungen zwischen 1945 und etwa 1950 Anklang. Es ist aber ab 1948 in der inneramerikanischen Debatte marginalisiert und wird von Reuther selbst dann nicht mehr offen vertreten. Langfristig setzt sich die voluntaristische Variante der AFL durch. 175) In Europa, und gerade in Deutschland, stieß der Pragmatismus, seit er durch James' Veröffentlichung Aufmerksamkeit erregt hatte, teilweise auf Ablehnung. Hier wurde Pragmatismus gelesen als die simple Gleichsetzung von Wahrheit und Nützlichkeit: Was dem Handelnden nütze oder behage, das dürfe er für wahr halten. Hans Joas: Amerikanischer Pragmatismus und deutsches Denken. Zur Geschichte eines Mißverständnisses, in: Ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 1992, S. 114-145, bes. S. 117.

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

sozialer Gleichheit,176) diente den amerikanischen Gewerkschaften, vor allem dem CIO, als theoretisches Rüstzeug.177) Die aus dieser Überzeugung erwachsene politische Praxis der Gewerkschaften in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg brachte ihnen jedoch im Nachhinein massive Vorwürfe seitens der historischen Forschung ein. An der Bereitschaft der Gewerkschaften, vor allem des CIO, zur Zusammenarbeit mit den Vertretern des Kapitals und mit dem Staat wurde vielfach scharfe Kritik geübt. Die Frage, weshalb die amerikanische Arbeiterbewegung es unterlassen habe, die tiefe Krise des Kapitalismus für eine radikale oder auch nur systemreformerische Umwälzung zu nutzen, steht dabei im Vordergrund. Die klassenübergreifende Zusammenarbeit in den 1940er Jahren habe die Hoffnungen zunichte gemacht, den Wohlfahrtsstaat auszudehnen und in den USA einen eher europäischen sozialdemokratischen Weg einzuschlagen; eine Chance sei vertan

worden.178)

Wie immer

dazu stehen mag: festzuhalten bleibt, daß einerseits die „keynesianische Revolution" den Gewerkschaften eine neue Position in der Gesellschaft und gegenüber dem amerikanischen Staat verschaffte, daß zugleich aber auch eben dieses System des New Deal Liberalismus undenkbar gewesen wäre ohne die aktive Mitwirkung der Gewerkschaftsorganisationen. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg waren Arbeiterbewegung und New Deal, Gewerkschaftspolitik und das Handeln der demokratischen' Regierung auf das engste miteinander verwoben, und dies war durchaus im Interesse der man

Arbeiterbewegung. 176) Joas: Die Kreativität des Handelns, in: Ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, S. 281-308, hier S. 307; West: The American Evasion. 177) Hartz: The Liberal Tradition, S. 10: „Pragmatism, interestingly enough America's great contribution to the philosophic tradition, [...] feeds itself on the Lockian settlement." 178) Lichtenstein: From Corporatism to Collective Bargaining. Allgemein zur Entwicklung der amerikanischen Arbeiterbewegung im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit s.: Amberg, Union Inspiration; Christopher Tomlins: The State and the Unions. Labor Relations, Law, and the Organized Labor Movement in America, 1880-1960, New York 1985; Melvyn Dubofsky: The State and Labor in Modern America, Chapel Hill 1994; Nelson Lichtenstein: Labor's War at Home. The CIO in World War II, Cambridge, Mass. 1982; Ders.: Conflict Over Workers' Control. The Automobile Industry in World War II, in: Michael Eràc/î/Daniel Walkowitz, Hg.: Working-Class America. Essays on Labor, Community, and American Society, Urbana 1983, S. 284—311; Ders.: The Making of the Postwar Working Class. Cultural Pluralism and Social Structure in World War II, in: Historian, 51, Nov. 1988, S. 42-63; Ronald W. Schatz: Philip Murray and the Subordination of the Industrial Unions to the United States Government, in: Dubofsky/Van Tine: Labor Leaders, S. 239-256; Alan Dawley: Workers, Capital, and the State in the Twentieth Century, in: J. Carroll Moody/AWce Kessler-Harris, Hg.: Perspectives on American Labor History. The Problems of Synthesis, De Kalb, 111. 1990, S. 166-179; Ira Katznelson: Was the Great Society a Lost Opportunity?, in: Fraser/Gerstle: New Deal Order, S. 185-211, bes. S. 190-192; Boyle: The UAW, S. 7f. Differenzierter dagegen Perlman: Labor and the New Deal, in: Derber/Young: Labor and the New Deal, S. 361-370, hier S. 367; Renshaw: Consensus Capitalism, S. 39.

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

87

Ab 1946 kam es jedoch zu einem politischen Klimawechsel in den USA, der unmittelbare Auswirkungen auf das Programm und die Politik der Arbeiterbewegung hatte. Roosevelts Nachfolger Harry S. Truman führte zwar im Prinzip den wirtschaftspolitischen Kurs seines Vorgängers fort, hielt aber die antifaschistische Allianz, die Roosevelt mit allen Flügeln der Linken gebildet hatte, nicht aufrecht und stand auch den Arbeiterorganisationen eher distanziert gegenüber.179) Dazu kam der außenpolitische Klimawechsel, der sich auch auf die Innenpolitik auswirkte. Mit Beginn des Kalten Krieges breitete sich in den USA das Gefühl eines Belagerungszustandes aus. Die Kritik amerikanischer Kommunisten an der harten antisowjetischen Linie Trumans löste schließlich eine Welle des Antikommunismus aus, das sogenannte red-baiting begann.180) Und als nach den Kongreßwahlen vom 5. November 1946 die Republikaner zum ersten Mal seit 1930 wieder beide Häuser des Kongresses beherrschten, war der politische Rechtsruck vollzogen. Die Gewerkschaftsgegner, in erster Linie Unternehmer und konservative Kongreßabgeordnete, hatten sich seit den späten 1930er Jahren gesammelt und erhielten nun, 1946 und 1947, wachsende Unterstützung. Das Klima in den Arbeitsbeziehungen änderte sich rapide. In einer breit angelegten Propagandakampagne wurde die Gewerkschaftsbewegung als selbstsüchtige Special Interest Group dargestellt, die der Allgemeinheit mit ihren Forderungen schade. An den Gewerkschaften und ihrer militanten Politik wurde in der Öffentlichkeit nun massive Kritik geübt. Der New Deal habe die Gewerkschaften zu mächtig werden lassen, in den Arbeitsbeziehungen wie in der Innen- und Wirtschaftspolitik des Landes. AFL und CIO waren nun, trotz der scharfen Rivalität, in der sie ansonsten zueinander standen, gezwungen, gemeinsam zu agieren, um sich gegen diese Angriffe zur Wehr zu setzen. Es gelang ihnen jedoch bezeichnenderweise nicht, im Kongreß oder in der Öffentlichkeit die nötige Unterstützung zu mobilisieren. Von nun an ging es auch für den CIO nicht mehr darum, den New Deal zu erneuern und auszubauen, sondern den Status quo zu bewahren, den der 80. Kongreß nun drastisch verändern wollte. Im Juni 1947 nahm der Kongreß jedoch im sogenannten Taft-Hartley Act die rechtliche Position, die der New Deal den Gewerkschaften verschafft hatte, wieder zurück.181) Der Gesetzgeber beschnitt die wirtschaftlichen und politischen Akti-

179) Zu Truman siehe v.a. Alonzo Hamby. Beyond the New Deal. Harry S. Truman and American Liberalism, New York 1973; außerdem: David McCullough: Truman, New York 1992; Bert Cochran: Harry Truman and the Crisis Presidency, New York 1973; Donald McCoy: The Presidency of Harry S. Truman, Lawrence, Kans. 1984. Außerdem: Harry S. Truman: Years of Trial and Hope, 1946-53, New York 1956. 180) Powers: Not Without Honor; Kovel: Red Hunting; Mary Sperling McAulijfe: Crisis on the Left. Cold War Politics and American Liberalism, 1947-1954, Amherst, Mass. 1978, bes. S. 3-32. 181) Der Taft-Hartley Act sollte den Wagner Act von 1935 rückgängig machen. Siehe hierzu u.a.: Tomlins: The State and the Unions, S. 282-316; R. Alton Lee: Truman and Taft-Hart-

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I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

Gewerkschaften, stärkte die Unternehmer gegen deren Organisationsbestrebungen und schränkte die politische Aktivität der Arbeiterbewegung ein. Unternehmer konnten nun Druck auf Beschäftigte ausüben, die einer Gewerkschaft beitreten wollten; die Verhandlungsspielräume der Gewerkschaften sowie das Streikrecht wurden eingeschränkt. Von besonderer Bedeutung für den CIO wurde eine Bestimmung des Gesetvitäten der

zes, das Gewerkschaftsfunktionäre und nur sie indirekt zwang, ein sogenanntes Affidavit zu unterzeichnen, in dem sie erklärten, keine Kommunisten -

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sein.182) Für den CIO ergaben sich dadurch tiefgreifende Probleme, denn in seinen Reihen fanden sich eine ganze Anzahl von Sympathisanten der Sowjetunion, Mitgliedern der Kommunistischen Partei der USA oder schlicht Gegner Trumans. Einige der erfolgreichsten CIO-Mitgliedsgewerkschaften waren von Kommunisten geführt, beispielsweise die UAW, die United Electrical, Radio and Machine Workers (UE) oder die International Longshoremens and Warehousemen' Union (ILWU). Gleichzeitig aber zählte der Verband hunderttausende von Mitgliedern polnischer, tschechischer, slowakischer und ukrainischer Abstammung, die scharfe Gegner der Sowjetunion waren und, da mehrheitlich römische Katholiken, auch Antikommunisten. Der Taft-Hartley Act verschärfte insofern auch die internen Brüche im CIO. Zugleich wuchs der Druck von außen. Der Kalte Krieg verschärfte sich zusehends, und im selben Maße nahm der Antikommunismus in der amerikanischen Öffentlichkeit zu, bis er hysterische Züge erreichte und das politische Handeln mitbestimmte. Die Aktivitäten des HUAC und McCarthys sind der berüchtigte Höhepunkt dieser Entwicklung.183) Aber auch die selbst scharf antikommunistisch eingestellte AFL, die sich zudem durch die gewerkschaftsfeindliche Politik in Washington bedroht fühlte, übte Druck auf den CIO aus.184) Sie mischte sich nun vernehmbar in die internen Auseinandersetzungen des CIO ein. Öffentlich machte sie auf den Einfluß von Kommunisten in zu

'

ley. A Question of Mandate, Lexington, Kent. 1966; Zieger: The CIO, S. 241-252, Lichtenstein: Most Dangerous Man, S. 261-266. 182) Indirekt insofern, als es die Voraussetzung dafür war, die Dienste des National Labor Relations Board in Anspruch zu nehmen, einer Institution, die durch den Wagner Act mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet worden war, in der Regierung, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite vertreten waren und die mit Umsetzung des Arbeitsrechts betraut war. Die Zusammenarbeit der einzelnen Gewerkschaften mit dem NLRB war notwendig, um die offizielle Anerkennung als alleinige Vertretung der Arbeiterschaft vor Ort zu erhalten. Siehe hierzu Fleming: The Significance of the Wagner Act, in: Derber/Young: Labor and the New Deal, S. 121-155. 183) Vgl. die Angaben oben in Anmerkung 128. 184) Robert Zieger George Meany. Labor's Organization Man, in: Dubofsky/Van Tine: Labor Leaders, S. 324—349. Siehe auch Philip Taft: Organized Labor in American History, New York 1964; Ders.: The A.F. of L. from the Death of Gompers to the Merger, New York 1959; Roy Godson: American Labor and European Politics: the AFL as a Transnational Force, New York 1976.

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

89

seinen Spitzengremien aufmerksam und behauptete, daß amerikanische Kommunisten sich der Komplizenschaft an den Verbrechen des Stalinismus schuldig machten. Aber auch zahlreiche CIO-Funktionäre nutzten den Antikommunismus, um ihre internen Gegenspieler auszuschalten, und versuchten so zugleich die Kommunistenjäger der Regierung zufriedenzustellen. Denn tatsächlich arbeitete der CIO Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre in diesem Bereich mit der Regierung zusammen, trotz der bekundeten Gegnerschaft zu McCarthy und dem HUAC.185) Auch Walter Reuther, der sich seit Ende der 1930er Jahre zum Antikommunisten entwickelt hatte, war zum internen Gegenspieler des kommunistischen Flügels in der UAW geworden. Der Kampf gegen den Kommunismus ging in den Machtkämpfen der UAW-Flügel auf, aus denen die Reuther-Gruppe schließlich siegreich hervorging. Der CIO wandte sich schließlich gegen seine kommunistischen Angehörigen. 1949 und 1950 schloß der CIO in antikommunistischen ,Säuberungen' elf seiner Mitgliedsgewerkschaften aus, mit ihnen etwa eine Million seiner Mitglieder.186) Insgesamt wurde in den Jahren ab 1946 nicht nur die rechtliche, sondern auch die gesellschaftliche Stellung der Gewerkschaften geschwächt, vor allem die des CIO, der sich zuvor mit dem staatsinterventionistischen Flügel der linken New Dealer identifiziert hatte. Er sah sich nun gezwungen, mit einer nach rechts gerückten Democratic Party zu koalieren, um überhaupt noch Einfluß auf die Politik des Landes ausüben zu können. Reuther und die UAW hatten die Demokratische Partei auf einen sozialdemokratischen Kurs einschwören wollen, sie sahen sich statt dessen nun selbst in die neue liberale Agenda eingebunden. Ihre sozialreformerisehen Ansätze die experimentierfreudigsten im ganblieben ohne politische Wirkung. Ideell wie politisch hatte sich der zen CIO -

CIO spätestens ab 1950 fest an die Democratic Party gebunden.187) Aber auch die AFL begann nun, finanziell und organisatorisch eng mit der Demokratischen Partei zusammenzuarbeiten.188) Zugleich kam eine neue Generation von Liberalen in die Position, die Reformagenda der amerikanischen Politik zu bestimmen.189) Sie lösten die bei-

185) Zieger: The CIO, S. 277-293. 186) Siehe u.a.: Ebda., S. 253-293; Harvey A. Levenstein: Communism, Anticommuism, and the CIO, Westport, Conn., 1981 ; Lawrence Lader: Power on the Left. American Radical Movements since 1946, New York-London 1979, S. 56-69; Harvey Klehr: The Heyday of

American Communism. The Depression Decade, New York 1984; Dubofsky/van Tine: Lewis; Steven Fraser: Labor will Rule. Sidney Hillman and the Rise of American Labor, New York 1991; Irving Howe/Lewis Coser: The American Communist Party. A Critical History, 2. Aufl., New York 1962. Kritisch zu Zieger und Howe/Coser allerdings: McAuliffe:

Crisis

on

the Left.

187) pay Calkins: The CIO and the Democratic Party, Chicago 1952. 188) Zieger: George Meany; Brody: The Course of American Labor Politics, S. 71; Taft: Organized Labor in American History; Ders.: Gompers to Merger; Roy Godson: American Labor and European Politics: the AFL as a Transnational Force, New York 1976. 189) pells: Liberal Mind, Kap. 1 und 2; zur Entwicklung dieser Position während des Krie-

90

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

den konkurrierenden Richtungen aus der Hochphase des New Deal ab, die Staatsinterventionisten um Felix Frankfurter, denen auch Reuther und seine Anhänger zuzurechnen waren, ebenso wie die social Keynesianists um Marriner Eccles. Die neue Generation, zu denen u.a. der Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith, der Historiker Arthur M. Schlesinger Jr. und der Bür-

germeister von Minneapolis Hubert Humphrey gehörten, hatte ihre ersten politischen Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges gesammelt. Sie waren alles andere als Laissez-faire Liberale, standen jedoch staatlichen Eingriffen in die gesellschaftliche Sphäre ebenso mißtrauisch gegenüber wie der Kategorie der Klasse in der Gesellschaftspolitik. Die Gesellschaft der Vereinigten Staaten verstanden sie vielmehr als eine Ansammlung verschiedener sozialer Gruppen, deren Interessen durch die Regierung sorgfältig gegeneinander abgewogen werden mußten, sollte ein breiter nationaler Grundkonsens gesichert werden. Die einzelnen Wohlfahrtsprogramme des New Deal wollten sie aufrechterhalten, gar um eine Gesundheitsversorgung erweitern. Nach den Erfahrungen des Krieges lehnten sie Staatsplanung und großangelegte Sozialreform aber ab, da es sich gezeigt hätte, daß nicht jene die Lösung der Probleme gebracht hätten,

sondern Wachstum und Produktivität für die Überwindung der Krise verantwortlich gewesen seien. Zugleich sollte die freiheitliche Demokratie in den USA ausgebaut werden. Als Negativvorlage dienten dabei das nationalsozialistische Deutschland und Stalins Sowjetunion, die im Gefolge der gerade aufkommenden Totalitarismustheorie in eins gesetzt wurden und so gemeinsam als Gegenwelt für die angestrebte Gesellschaftsordnung im eigenen Land dienten. Die Hauptthemen, derer sich diese neue Generation von Liberalen nun annahm, waren Antikommunismus und Bürgerrechte.190) Zusammengenommen führten diese Entwicklungen dazu, daß aus dem New Deal Liberalism bis 1948/49 der sogenannte Consensus Liberalism wurde, in dem der Antikommunismus den sozialreformerischen Impetus als integratives Element des Grundkonsenses ersetzte. Die übrigen Elemente des New Deal Liberalismus Keynesianismus, Pragmatismus und Veblenscher Glaube an die Lösbarkeit sozialer Spannungen durch Wachstum und Produktivität wurden jedoch beibehalten. Eine Wertewelt entstand, welche die nächsten fünfzehn -

-

ges siehe Brinkley: The New Deal and the Idea of the State, S. 100-109; Hamby: Beyond the New Deal; Alan Wolfe: America's Impasse. The Rise and Fall of the Politics of Growth, Boston 1981; für die Selbstsicht der Beteiligten siehe u.a. Arthur M. Schlesinger, Jr.: The Vital Center. The Politics of Freedom, Boston 1949; John Kenneth Galbraith: The Affluent Society [1958], Boston 1971. I9°) Tatsächlich setzte die Totalitarismustheorie die beiden Phänomene nicht in eins, sondern verglich sie miteinander. Diese wissenschaftliche Spitzfindigkeit wurde aber von denen, die sich politisch auf diese Theorie beriefen, nicht weiter ernstgenommen. An neuerer Literatur über die Totalitarismustheorie siehe: Alfons Söllner/RaU Walkenhaus/Kann Wieland, Hg.: Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997; Eckard Jesse, Hg.: Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996.

2. Die

Jahre

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

91

prägen sollte und der sich die amerikanischen Gewerkschaften anschlös-

sen.

Symptomatisch und richtungsweisend für die Gewerkschaftspolitik unter den Auspizien des Konsenses wurde ein Tarifvertrag, den die UAW und General Motors noch 1948 abschlössen. General Motors bot von der Produktion abhängige jährliche Lohnerhöhungen sowie einen vertraglich abgesicherten Inflationsausgleich. Später kamen auch noch Arbeitslosenunterstützung und Krankheits- und Altersvorsorge sowie bezahlter Urlaub hinzu. Im Gegenzug willigte die Gewerkschaft in Fünfjahres vertrage ein und legte sich damit langfristig fest. Sie übernahm auch die Verantwortung für die Einhaltung dieses Tarifvertrages durch ihre Mitglieder. Das hieß, die UAW versprach für den steigenden Lebensstandard ihrer Arbeiter dem Unternehmen Arbeitsfrieden. Die Kontrolle der Produktion blieb gänzlich beim Management. Das gemeinsame Interesse von Unternehmen und Gewerkschaften, das sie zu einem wahren Netzwerk von Verträgen veranlaßte, mag darin gelegen haben, spontane und unabhängige Aktivitäten der Arbeiter in den Betrieben zu unterdrücken. Im Laufe der 1950er und sogar bis in die 1960er Jahre folgte jedenfalls eine ganze Reihe ähnlicher Tarifabschlüsse; die Gewerkschaften und Unternehmen der Automobilbranche erwiesen sich als Pioniere des Consensus Capitalism.191) Mit dem Korea-Krieg, der im Juni 1950 ausbrach, wurde die Bindung der Gewerkschaften sowohl an die Demokraten als auch an die Regierungsaußenpolitik noch stärker.192) Die Hochrüstung und die Probleme der Mobilisierung verhalfen den Gewerkschaftsbünden wieder zu politischem Gewicht und zur Mitsprache in wirtschaftlichen Entscheidungen, ohne daß ihre Autonomie in den Arbeitsbeziehungen beschädigt worden wäre. Die Gewerkschaften prosperierten, ihre Mitgliederzahlen erreichten am Ende des Krieges 1954 die Rekordhöhe von 20 Millionen.193) Im CIO keimten wieder Hoffnungen auf, doch noch eine Art von Wirtschaftsdemokratie durchsetzen zu können. An eine Rückkehr zu den Positionen, die den Gewerkschaften im Zweiten Weltkrieg zugekommen waren, war tatsächlich aber nicht zu denken. Außerdem barg die enge Bindung an die Regierung auch die Gefahr der Abhängigkeit. Denn es war den Demokraten im Kongreß nicht gelungen, eine Rücknahme oder auch nur nennenswerte Veränderungen des Taft-Hartley Acts durchzusetzten; im Ge191 )

Dulles/Dubofsky: Labor in America, S. 352. Nelson Lichtenstein hat die so entstandeArbeitsbeziehungen mit ihren vom Arbeitgeber gewährten sozialen Leistungen als privates Feudalsystem bezeichnet: Nelson Lichtenstein: Labor in the Truman Era. Origins of the .Private Welfare State', in: Michael J. Lacey, Hg.: The Truman Presidency, WashingtonCambridge 1989, S. 148-154. Für den Begriff des Konsenskapitalismus siehe ausführlich: Renshaw: Consensus Capitalism. ¡92) Zieger. The CIO, S. 294-304. I93) Das hieß daß 36% der „non-agricultural labour force" gewerkschaftlich organisiert waren. Renshaw: Consensus Capitalism, S. 133. nen

92

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

nutzte Truman die Möglichkeiten dieses Gesetzes zwischen 1947 und 1952 selbst etwa achtzigmal gegen die Gewerkschaften.194) Besonders problematisch wurde die Abhängigkeit von der Regierung aber, als 1952 mit Eisenhower die Republikaner ins Weiße Haus einzogen. C. Wright Mills beschrieb die Gewerkschaftsfunktionäre als „government-made men, and they have feared correctly, as it turns out that they can be unmade by the govern-

genteil

-

ment."195)

-

In den frühen 1950er Jahren rückten die Gewerkschaftsbünde näher zusamDen antikommunistischen Säuberungen im CIO war die Abspaltung aller Elemente gefolgt, die nicht bereit oder in der Lage waren, den liberalen Konsens mitzutragen. Die verbleibenden Gewerkschaften und Gewerkschaftsführer im CIO näherten sich unter dem beginnenden Druck des Konsensliberalismus der AFL deutlich an. Der Konflikt zwischen Craft Unionism und Industrial Unionism, der zum Schisma geführt hatte, verlor zudem zunehmend an Bedeutung. Die Notwendigkeit von Industriegewerkschaften wurde auch von der AFL nicht mehr bestritten, die sie statt als Gegner nun als Partner betrachtete. In vielen Bereichen arbeiteten die beiden Dachverbände auch zusammen, nicht nur im Kampf gegen Taft-Hartley, der dieses Miteinander sicherlich erleichtert und intensiviert hat.196) Auch die Auseinandersetzungen um die politische Rolle der Gewerkschaften hatten sich gelegt, seit beide Seiten sich einander angenähert hatten: Der CIO hatte seine für amerikanische Verhältnisse radikale sozialreformerische Position aufgegeben, die AFL hatte ihrem pure unionism abgeschworen und begonnen, selbst politisch aktiv zu werden.197) Als es Ende 1952 an der Führungsspitze beider Dachverbände zu einem Generationswechsel kam, stand dem Zusammenschluß der Verbände bald nichts men.

l94) Ronald W. Schatz: Phil Murray and the Subordination of the Industrial Unions to the United States Government, in: Dubofsky/Van Tine: Labor Leaders, 234—257, zu Trumans Gebrauch von Injunctions S. 254; hierzu auch Zieger The CIO, S. 304. Zu den vergeblichen Versuchen, Taft-Hartley abzuändern, siehe Gerald Pomper Labor and Congress. The Repeal of Taft-Hartley, in: Labor History, 2, No. 3, Fall 1961, S. 323-343; Ders.: Labor Legislation. The Revision of Taft-Hartley in 1953-1954, in: Labor History, 6, No. 2, Spring 1965, S. 143-158; Benjamin Aaron: Amending the Taft-Hartley Act. A Decade of Frustration, in: Industrial and Labor Relations Review, 11, No. 3, April 1958, S. 327-338; Gilbert J. Gall: The Politics of Right to Work. The Labor Federations as Special Interests, 1943-1979, Westport, Conn. 1988, S. 143-158, macht deutlich, daß es Mitte der 1950er in erster Linie darum ging, sich gegen legislative Versuche der Republikaner zu wehren, die noch weit über TaftHartley hinausgingen. Für eine knappe Darstellung des Umgangs mit Taft-Hartley unter Truman und Eisenhower siehe Renshaw: Consensus Capitalism, S. 129-133. "S) C. Wright Mills: The Power Elite, New York 1956, S. 263. Christopher Tomlins zieht als Resümee der Entwicklung zwischen Staat und Gewerkschaften bis in die 1970er: „what the state offered workers and their organizations was ultimately no more than the opportunity to participate in the contruction of their own subordination." Tomlins: The State and the Unions, S. 327, siehe insgesamt S. 317-328. Siehe auch Zieger The CIO, S. 294-304. 196) Dulles/Dubofsky: Labor in America, S. 356. 197) Perlman: Labor and the New Deal, S. 366.

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

93

mehr im Wege. Walter Reuther wurde CIO-Präsident, George Meany rückte an die Spitze der AFL. Meany war ein erfahrener Funktionär, auch wenn er selbst nie einer Einzelgewerkschaft vorgestanden oder einen Streik geführt hatte. „Meany articulated a public philosophy of American Exceptionalism, laborite Keynesianism, and adamant anticommunism", schreibt Robert Zieger.198) Diese Haltung ließ ihn zu einem Verfechter politischer Aktivitäten der Gewerkschaften werden und die Abkehr vom pure unionism der AFL endgültig vollziehen. Die Unterschiede zu Reuther, der nun dem Konsensliberalismus zuzurechnen war und seine gesellschaftsreformerischen Pläne zurückgestellt hatte, waren, sieht man vom persönlichen Verhältnis der beiden ab, nicht mehr allzu groß. Reuther stand nun, am Beginn der 1950er Jahre, für die Abkehr vom Basisaktivismus und für die Hinwendung zu bürokratischer und zentralistischer Gewerkschaftsführung.199) Meany und Reuther verkörperten beide den neuen Typus des Gewerkschaftsführers, des Gewerkschaftsführers als hauptberuflichem Funktionär, der gut bezahlt war und zunehmend auch höhere Schulbildung brauchte; auch Juristen fanden sich bald in dieser Funktion.200) Die neue Generation an der Spitze setzte im Laufe der folgenden Jahre die Vereinigung ihrer Organisationen durch. Im Februar 1955 schlössen sich AFL und CIO zu einem gemeinsamen Gewerkschaftsbund zusammen. Dieser vereinigte etwa 15 Millionen Gewerkschaftsmitglieder, von denen neun Millionen der AFL und rund sechs Millionen dem CIO angehört hatten.201) Als neuen Namen wählte man schlicht AFL-CIO. Präsident wurde George Meany, Vizepräsident war Walter P. Reuther. Meany, der zu diesem Zeitpunkt bereits 61 Jahre alt war, sollte dieses Amt für 24 Jahre bekleiden und darin auch Walter Reuther überleben, der sich vergeblich Hoffnungen auf Meanys Nachfolge gemacht hatte. Auch in der neuen Föderation bildete der Antikommunismus den Grundkonsens.202) Der Zusammenschluß beendete zwar die Phase der gewerkschaftlichen Expansion und des sozialpolitischen Experimentierens.203) Die AFL-CIO mußte nun versuchen, beide Traditionen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung zu integrieren, den sozialen Keynesianismus des CIO ebenso wie den pure unionism der AFL. Beide Teile bewegten sich (schon seit der kommunistische Anteil des CIO ausgeschlossen worden war) innerhalb des gesellschaftlichen Konsenses. Politische und programmatische Unterschiede,

l98) Zieger: George Meany,

S. 324.

in:

Dubofskv/Van

Ttne: Labor Leaders, S.

324-349, Zitat

i99) Zieger: The CIO, S. 339-343. 2(x)) Dulles/Dubofsky: Labor in America, S. 359. 201) Zahlen nach Ebda., S. 356. 202) Zieger: The CIO, S. 357-371. Chronologischer Ablauf des Zusammenschlusses bei Arthur J. Goldberg: AFL-CIO. Labor United, New York 1956, S. 72-102. Zum Zusammenschluß von AFL und CIO auch Taft: Organized Labor, S. 645-662, und Dulles/Dubofsky: Labor in America, S. 356-362.

203) Zieger. The CIO, S. 357.

94

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der

Arbeiterbewegung

Vereinigung hinaus zwischen AFL und CIO „Binnendifferenzen", lagen also in ihrer Bandbreite innerhalb des gab, Rahmens, den der Konsensliberalismus vorgab. Schon bald nach dem Zusammenschluß verkündete Meany in einem Artikel in der Fortune die Ziele des neuen Verbandes. An der Integration der Industriearbeiter sollte festgehalten werden und die AFL-CIO wollte sich auch weiterhin politisch betätigen; eine Labor Party war nicht vorgesehen. In der Formulierung der gesellschaftspolitischen Ziele hob Meany ausdrücklich die Kontinuität zur AFL in den Zeiten von Samuel Gompers hervor:

die

es

ja in der Tat auch

über die

waren

not seek to recast American society in any particular doctrinaire or ideological image. We seek an ever rising standard of living. Sam Gompers once put the matter succinctly. When asked what the labor movement wanted, he answered .More.' If by a better standard of living we mean not only more money but more leisure and richer cultural life, the answer remains ,More'."204)

„We do

Die im Vergleich zu Gompers' Zeiten deutlich verbesserte Position der Gewerkschaften gegenüber Staat und Unternehmern sowie die dadurch gewonnenen Errungenschaften galt es nun zu bewahren und zu verteidigen. „Serving larger, more idealistic purposes became secondary and useful only to the extent that it benefited the primary institutional interests of trade unions", monieren

Dulles/Dubofsky.205)

Die 1950er und 1960er Jahre sollten die bis heute besten Jahre für die amerikanische Gewerkschaftsbewegung werden. Ihr Aufschwung nach der Weltwirtschaftskrise, ihre Einbindung in die staatliche Wirtschaftspolitik durch den New Deal und den Zweiten Weltkrieg bis hin zu ihrer Integration in den Konsensliberalismus seit Ende der 1940er Jahre verschafften der Arbeiterbewegung einen völlig neuen Status; ihr Einfluß in der Democratic Party stand außer Zweifel. Auch Taft-Hartley hatte dies nicht verhindern können; das Gesetz hatte vielmehr dazu geführt, daß die radikale Minderheit aus den Gewerkschaften ausgeschlossen wurde und sich die verbleibenden Flügel der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung zusammenschlössen, und sie damit letztlich gestärkt. Keynesianische Wirtschaftspolitik und der Glaube an Wachstum und die Bedeutung der Massenkaufkraft für die Wirtschaft waren Allgemeingut geworden und sicherten auf Jahre hinaus die Akzeptanz der Rolle der Gewerkschaften in der Wirtschaftspolitik. Die spezifische Form der Arbeitsbeziehungen unter den Bedingungen des Konsensliberalismus ist der Consensus Capitalism, in dem Gewerkschaften und Unternehmer ihre jeweiligen Interessen als legitim anerkennen und Collective Bargaining betreiben: „Free collective bargaining determined pay, hours and conditions; fringe benefits became more common and more gene-

204) Zitiert, ohne Angabe 205) Ebda., S. 362.

der

Belegstelle,

in:

Dulles/Dubofsky:

Labor in America, S. 361.

2. Die

politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

rous; unions disciplined the workforce; management managed; not organized; and Communists were not allowed."206)

foremen

95 were

Tatsächlich ging es der organisierten Arbeiterbewegung in den USA, sieht den immer Ausnahmeerscheinungen gebliebenen syndikalistischen, radikalsozialistischen und kommunistischen Strömungen einmal ab, niemals darum, den Industriekapitalismus in seiner Substanz anzugreifen. Diese Form der Arbeitsbeziehungen ist in der englischsprachigen Literatur auch als corporate consensus oder liberal corporatism bezeichnet worden,207) der dadurch bestimmte interest group oder corporate liberalism wiederum als das herrschende Paradigma der amerikanischen Politik zwischen 1946 und 1979.208) Der weitere Begriff des Korporatismus mit seinen für deutsche Ohren doch sehr belastenden Erinnerungen an ständestaatliche Vorläufer oder an die Zentralarbeitsgemeinschaft nach dem Ersten Weltkrieg muß modifiziert werden, so daß er auf die Gegebenheiten pluralistischer Verbändekonkurrenz in liberaldemokratischen Staaten paßt. Neokorporatismus, Liberaler Korporatismus oder Demokratischer Korporatismus sind die Begriffe, die die deutsche Politikwissenschaft anbietet.209) Korporatistische Einbindung von Verbänden hebt sich danach von pluralistischen pressure politics durch „die institutionalisierte und gleichberechtigte (paritätische) Einbindung von Verbänden sowohl in die Formulierung von Politik als auch in deren Ausführung" ab. Das Konzept des Liberalen Korporatismus bezieht sich dabei konkret „auf Formen der Konfliktregulierung, in denen gesellschaftliche Organisationen zur Zusammenarbeit und zu Zugeständnissen gegenüber Regierung und konkurrierenden Interessen man von

206) Renshaw: Consensus Capitalism, S. 126. 207) Michael Hogan bietet folgende Definition: „Historians of the New School [of American Diplomatic History] use the terms corporatism, corporate liberalism, neo-capitalism, and associationalism more or less interchangeably to describe a political-economic system that is characterized by certain organizational forms, by a certain ideology, and by a certain trend in the development of public policy. Organizationally, corporatism refers to a system that is founded on officially recognized economic or functional groups, including organized labor, business, and agriculture. In such a system, institutional regulating, coordinating, and planning mechanisms integrate these groups into an organic whole; elites in the private and public sectors collaborate to guarantee order, progress, and stability; and this collaboration creates a pattern of interpénétration and power sharing that makes it difficult to determine where one sector leaves off and the other begins." Michael J. Hogan: Corporatism: A Positive Appraisal, in: Diplomatic History, 10, 1986, S. 363-372, hier S. 363. Vgl. auch Ellis D.

Hawley, The Discovery and Study of a .Corporate Liberalism', in: Business History Review 52, Autumn 1978, S. 309-320, mit weiteren Literaturangaben. 208) Renshaw: Consensus Capitalism, S. 126; Karen Orren: Union Politics and Postwar Li-

beralism in the United States, 1946-1979, in: Studies in American Political Development. 1/1986, S. 215-252, bes. S. 215. Allgemein zu „interest-group liberalism" siehe u.a.: Grant McConnell: Private Power and American Democracy, New York 1966; Theodore J. Lowi: The End of Liberalism, New York 1967. 209) Roland Czada: Korporatismus/Neokorporatismus, in: Dieter Nohlen, Hg.: Wörterbuch Staat und Politik, Bonn 1991, S. 322-326, mit weiteren Literaturangaben.

96

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der

Arbeiterbewegung

fähig und bereit sind."210) Die institutionalisierte Einbindung der organisierten amerikanischen Arbeiterbewegung in die staatliche Politik war sicherlich während des New Deal und des Zweiten Weltkriegs am stärksten ausgeprägt. Aber

-

auch während der 1950er und 1960er Jahre blieben das Interesse der Gewerkschaften an einer Mitwirkung an der Politik und ihre Fähigkeit und Bereitschaft zu Konzessionen unverändert groß. Sie agierten zweifellos innerhalb des politischen Systems, verstanden sich selbst als dessen legitimer Bestandteil und wurden von den anderen Akteuren auch als solcher wahrgenommen. Es läßt sich aber auch weitergehend argumentieren, wie dies zum Beispiel Karen Orren tut, daß die Gewerkschaftsbewegung in den Vereinigten Staaten nicht nur ein wichtiger Bestandteil des corporate liberalism war, sondern vielmehr „the dominant private interest in national domestic policy making." Sie habe durch ihre aktive Unterstützung bestimmter policies den Ausschlag gegeben. Die wachsende Bedeutung der Gewerkschaften auf der legislativen Ebene habe wiederum ihr Gewicht in den privatrechtlichen Tarifbeziehungen erhöht und sie konnten dadurch die Rahmenbedingungen und das makroökonomische Klima bestimmen, innerhalb dessen wirtschaftliche Entscheidungen getroffen wurden. Ihr Einfluß auf den amerikanischen Liberalismus der Nachkriegszeit sei weitaus größer gewesen, als dies bislang wahrgenommen werde. Taft-Hartley habe daran wenig ändern können, das restriktive Gesetz habe die Autonomie der Gewerkschaften kaum angegriffen. Die Zusammenarbeit zwischen Arbeiterbewegung und Kapital habe die Grundlage für den liberaldemokratischen Staat der Nachkriegsjahrzehnte geschaffen, zugleich aber habe dieser durch seine Mechanismen eine solche Zusammenarbeit erst ermöglicht. Die Zusammenarbeit der Interessengruppen basierte auf der Bereitschaft der Unternehmerseite, mit einem gewissen Maß an staatlicher Intervention zu leben und einen Teil der Profite für wohlfahrtsstaatliche Zwecke abzugeben; und sie beruhte auf der Bereitschaft der Gewerkschaften, sich mit politischen Rechten, gleichmäßigen Beschäftigtenzahlen und einem materiellen Ausgleich zufriedenzugeben. Der Staat habe in diesem System eine prekäre Balance zu halten, um keiner der Seiten Anlaß zum Abbruch der Zusammenarbeit zu geben. Im Gegensatz zu den zahlreichen Kritikern der Gewerkschaftspolitik seit dem Ende des New Deal, die die Arbeiterbewegung als defensiv, uneins und strategisch schwach bezeichnet haben, ihr die Preisgabe von Positionen und von Chancen zur Gesellschaftsreform vorgeworfen haben und sie als „abhängige Variable"21 '), als „reduziert"212), gar als „Little Sir Echo"213) betitelt haben, ist Orren der Ansicht, daß „unions [...] have been at the heart of postwar political and economic affairs, with an aggressive, broad, and successful political stra-

2I0) 2") 212) 213)

Czada: Korporatismus/Neokorporatismus, S. 322f. Tomlins: The State and the Unions, S. 317f. David Montgomery: Workers' Control in America, New York 1980, S. 170f. Lowi: The End of Liberalism, S. 118.

2. Die politischen Ideen der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung

97

tegy."214) Dies um so mehr, als sie es verstanden, die Spielräume zu nutzen, die das amerikanische Wirtschaftssystem bot, als es nach dem Zweiten Weltkrieg

immer weniger internationalem Druck ausgesetzt war. Selbst wenn man die Rolle der Gewerkschaften im Konsensliberalismus nicht gar so zentral einschätzen mag, wie Orren dies tut, wird ihre Interpretation den Zielen und Strategien Labor's gerechter, als jene der von den Gewerkschaften enttäuschten Kritikerschaft. Denn tatsächlich setzte sich die AFL-CIO mit den Vorwürfen auseinander, sie sei nur „a bread-and-butter movement, without an ideology or social ideal and [...], therefore, backward."215) Diese Kritik war man vor allem aus einer europäisch-sozialistischen Perspektive gewohnt: „this viewpoint is often reflected in the European Socialist attitude towards the trade unions in the United States as sort of a second-class labor movement which lacks social vision and has yet to reach the .higher' stage of trade union development under which the trade unions are tied in with a political party."216) Vor allem George Meany wehrte sich scharf gegen eine derartige Einschätzung. Die amerikanische Gewerkschaftsbewegung verfüge sehr wohl über Ideale und ethische Konzepte, die sie seit ihren Anfängen in der Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgt und weiterentwickelt habe. Was die moderne amerikanische Gewerkschaftsbewegung aber auszeichne und was in erster Linie Samuel Gompers zu verdanken sei, „was his success in having American labor stay free from the crushing weight of dogmas, free to develop beyond the formulas of Socialist doctrine and the constricting ideologies of parties."217) Auf Gompers' Philosophie („ideology, as the Europeans call it") der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung berief sich Meany und betonte diese Kontinuität auch ausdrücklich: „I do not value the labor movement only for its ability to give higher wages, better clothes,

and better homes. Its ultimate goal is to be found in the progressively evolving life possibilities in the life of each man and woman: My inspiration comes in opening opportunities that all alike may be free to live to the fullest."218)

Indem sie diese „Philosophie" angewendet habe, konnte, so Meany, die amerikanische Gewerkschaftsbewegung nicht nur die höchsten Lebensstandards für die Arbeiter erreichen, sondern zugleich die vitalste Kraft des sozialen Fortschritts im Lande werden. Nicht Gleichheit also war das Ziel, sondern Chancengleichheit. Man sah sich auch nicht als Kraft außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses, die gegen die bestehende

Ordnung kämpfte, sondern als ein tragender Pfeiler dieser Ordfähig war, diesem Konsens ihren Stempel aufzudrücken

nung, eine Kraft, die

214) Orren: Union Politics, S. 219. 215) GMMA, RG1-027, 62/1, George Meany an Walter P. Reuther, 29. Juli 216) Ebda. 217)

218)

Ebda.

Ebda.

1958.

98

I. Gesellschaftsbild und Politikverständnis der Arbeiterbewegung

und ihn nach den eigenen Wünschen mitzugestalten. Dieses Erfolgsrezept wollte man exportieren. Gewerkschaften, die nach diesem Prinzip operierten, wären ein Garant für liberale Demokratie und für allgemeinen Wohlstand und kämen damit den Sicherheitsinteressen der USA entgegen.

II. Die

Entstehung des transnationalen Netzwerks nach 1945

Im vorigen Kapitel wurde verfolgt, wie sich die spezifischen Werthaltungen und das Selbstverständnis der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung herausbildeten und entwickelten und in welchem Verhältnis sie zur gesamten Gesellschaft der USA standen. Dies ist für unsere Fragestellung deshalb von besonderem Interesse, weil sich die amerikanischen Gewerkschaftsbünde schließlich nach außen wandten und begannen, auf die Arbeiterbewegungen anderer Länder und auf die internationale Gewerkschaftsbewegung einzuwirken. Dies taten sie über viele Jahre hinweg und nicht ohne Erfolg. Der Wendepunkt, an dem diese Arbeiterbewegung begann, sich auf das Feld der Außenpolitik zu begeben, war der Beginn des Kalten Krieges und seine unmittelbare Vorgeschichte. Die Eskalation des Ost-West-Gegensatzes zum Systemkonflikt veränderte Staat und Gesellschaft der USA und führte zu einem neuen Verständnis von der eigenen Aufgabe in der Welt. Der Kalte Krieg verhalf den amerikanischen Gewerkschaften auf der internationalen und transnationalen Ebene zu einer Form von Einfluß, wie sie Gewerkschaften normalerweise nicht besitzen. Am Marshallplan läßt sich dies besonders gut zeigen. Dieses Hilfsprogramm ist ein Schlüssel zum Verständnis der Rolle der amerikanischen Gewerkschaften im Kalten Krieg. Denn im wirtschaftspolitischen Denken des Marshallplans, mit seinem Glauben an Wachstum und Produktivität, kam den Gewerkschaften eine wichtige Funktion zu. Der liberale Korporatismus, wie er im Kalten Krieg entstand, übertrug den Part, der den amerikanischen Gewerkschaften im New Deal zugekommen war, auf die außenpolitische Ebene, und dies zu einem Zeitpunkt, als sie innenpolitisch in den USA schon wieder in die Defensive gedrängt waren. Regierung und Gewerkschaftsbewegung arbeiteten hier tatsächlich weiter zusammen, besser gesagt, sie ergänzten sich gegenseitig, denn sie verfolgten das selbe Ziel: eine homogene westliche Werteordnung zu schaffen und zu verbreiten, die das westliche Bündnis stärken und so die USA und ihre Gesellschaftsordnung gegen die Bedrohung durch den totalitären Gegner absichern sollte. Die eigenen Werthaltungen und das eigene Ordnungssystem wurden, gerade von den amerikanischen Gewerkschaften, nicht erst nach 1945 für universal gültig und für übertragbar gehalten. Erst die Systemkonkurrenz des Kalten Krieges aber ließ sie zu einem geschlossenen Denkgebäude werden und führte zum ernsthaften Versuch, sie in den Gesellschaften anderer Länder zu verbreiten. Die nun einsetzende massive Hegemonialpolitik der USA im westlichen Bündnis wurde was die allgemeinen Ziele und ideellen Grundlagen anbelangte, wenn auch weniger im Bereich der tagespolitischen Umsetzung von den US-Gewerkschaften mitgetragen. Diese setzten darüber hinaus selbst enorme Mittel und Energie ein, um die Gewerkschaf-

-

100

II. Die

Entstehung des transnationalen Netzwerks nach

1945

die sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien im Westen von Vorzügen des Konsenskapitalismus zu überzeugen und sie zugleich zu integrieren und zu homogenisieren, nicht zuletzt durch den Ausschluß der kommunistischen Teile dieser Bewegungen. Dieses Ziel verfolgten die Gewerkschaften nicht so sehr auf der offiziellen Ebene des Austauschs und der Kontakte zwischen den Organisationen, sondern über Netzwerkpolitik. AFL und CIO bildeten ein weltweites Netzwerk von Beziehungen aus, dessen Schwerpunkt zwischen 1945 und etwa 1965 auf Westeuropa gelegt wurde. Ihre Partner in diesem Netzwerk waren Sozialdemokraten sowie antikommunistische Sozialisten und Gewerkschafter, welche die Ziele ihrer US-Kollegen teilten oder diese Kontakte nutzten, weil sie ihren eigenen Interessen dienlich waren. Tatsächlich handelte es sich hier um eine echte Kooperation, die beiden Seiten nützte. Dies galt ebenso für die Bundesrepublik, in der auch und gerade nach dem Ende der Besatzungszeit die Kontakte zu AFL und CIO weiterliefen. Als Ergebnis dieser Beziehungen läßt sich zum einen werten, daß die westdeutsche Arbeiterbewegung verhältnismäßig schnell wieder als souveräner und gleichberechtigter Partner in die internationale Gewerkschaftsbewegung zurückfand, noch ehe dies der Bundesrepublik auf außenpolitischer Ebene gelungen war. Zum anderen wurde durch sie den Reformerflügeln in DGB und SPD der Rücken gestärkt, wodurch es schließlich zu einer Abkehr von sozialistischen Traditionen Weimarer Prägung kommen konnte. Dies wiederum trug zum gesellschaftlichen Wandel in Westdeutschland bei. Und obwohl der Einfluß von AFL und CIO hieran nicht quantifizierbar ist, so lohnt es doch, die Zusammenhänge näher zu betrachten und durch die 1950er Jahre zu verfolgen. Im folgenden soll also zunächst die Bedeutung des Kalten Krieges erst für die Werthaltungen und das Selbstverständnis der amerikanischen Regierung und Gesellschaft und dann, in Bezug dazu, für das Denken der amerikanischen Gewerkschaftsbünde AFL und CIO vorgestellt werden. Dem Marshallplan wird dabei einiger Raum gegeben. Hier wird auch die Frage geklärt, ob und inwieweit man überhaupt von gewerkschaftlicher Außenpolitik' sprechen kann. Dann werden die außenpolitischen Institutionen der AFL und des CIO vorgestellt und ihr Personal, sowie ihre Rolle in der internationalen Gewerkschaftsbewegung und ihre Zusammenarbeit mit US-Regierungsstellen. Im Anschluß geht es um das weltweite Netzwerk, das vor allem die AFL aufbaute, ehe dann im darauffolgenden Kapitel das Netzwerk in der westdeutschen Arbeiterbeweten und

den

gung in den

Mittelpunkt rückt.

1. Die amerikanischen Gewerkschaften im Kalten

101

Krieg

1. „To reconstruct the thinking of the European people". Die amerikanischen Gewerkschaften im Kalten Krieg There is much more to the European problem than just economic recovery; you have to reconstruct the thinking of the European people. Stefan Osousky1)

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges begannen sowohl AFL als auch CIO, sich außenpolitisch zu engagieren. Auf transnationaler Ebene,2) d.h. auf der Ebene gesellschaftlicher Gruppen und Verbände verschiedener Nationen, betrieben sie eine Politik, die in den großen Linien dem Kurs der amerikanischen Regierung folgte, die in Detailfragen, oder wo die Regierungspolitik im Konflikt mit gewerkschaftlichen Zielen stand, durchaus auch kontrovers werden konnte. Sie unterhielten zu diesem Zweck eigene außenpolitische Abteilungen und Organisationen, die teils in Verbindung mit den internationalen Gewerkschaftsorganisationen, teils auch ganz unabhängig tätig wurden. Bis in die 1970er Jahre hinein waren die amerikanischen Gewerkschaftsbünde in Westeuropa präsent, aber auch, und dies teils bis heute, in Afrika, Asien und Lateinamerika. Der Rahmen, innerhalb dessen sich die außenpolitische Aktivität der amerikanischen Gewerkschaften abspielte und der diese grundlegend prägte, war wie erwähnt der Kalte Krieg. Das außenpolitische Denken und Handeln von AFL und CIO drehte sich um die „Verteidigung der freien Welt" gegen die Diktatur, es folgte den Topoi der Totalitarismustheorie. Freien Gewerkschaften wurde dabei eine zentrale Rolle zuerkannt, ihre Position zu stärken galt als wichtiger Schritt zur Sicherung der Demokratie und der Freiheit des Westens gegen die Bedrohung durch die als expansiv wahrgenommene Sowjetunion und ihre Anhänger in den Kommunistischen Parteien des Westens, ihren gesellschaftlichen Organisationen sowie gegen die Unterwanderung durch Fellow Travellers}) Westeuropa sollte wirtschaftlich und politisch stabilisiert werden. Der Marshallplan hatte daher im außenpolitischen Denken der US-Gewerkschaften eine bedeutende Position inne. Sein Denkansatz der wirtschaftlichen Anschubhilfe zur Wiederherstellung des Wirtschaftswachstums in einem sich selbst organisierenden Westeuropa übertrug das Denken des späten New

')

Stefan

Osousky

in einem

Vortrag

vor

dem siebten Treffen des Trade Union

Advisory

Committee, am 6. Januar 1948 im Department of Labor, Washington, D.C. GMMA, RG 2-006, 005/23. 2) Vgl. für diesen Begriff: Karl Kaiser: Transnationale Politik, in: Ernst-Otto Czempiel,

Die anachronistische Souveränität. Zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, PVS Sonderheft 1, Köln-Opladen 1969, S. 80-109; Keohane/Nye: Transnational Relations and World Politics. 3) Zum Begriff des Fellow Travellers siehe David Caute: The Fellow Travellers, New York 1973; Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive?, S. 86-96.

Hg.:

102

II. Die

Entstehung des transnationalen Netzwerks nach 1945

Deal, die politics ofproductivity', auf das Feld der internationalen Beziehun-

gen. Wachstum und Produktivität sollten die Wirtschaft im Nachkriegseuropa wieder in Gang bringen, sie krisenfest machen und zu einem stetig steigenden Lebensstandard führen. Dadurch sollten die sozialen Probleme aufgehoben und zugleich der Kommunismus abgewehrt werden. Das wirtschaftspolitische Prinzip, das in den USA des New Deal und des Konsensliberalismus so gut funktioniert hatte, sollte nun auch auf einer transnationalen Ebene Anwendung finden. Hierzu war aus amerikanischer Sicht, wie eben schon im New Deal, die Mitarbeit der Gewerkschaften nötig; jetzt jedoch nicht mehr nur auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Kaufkraftstärkung und der Umverteilung, sondern auch bei der Stabilisierung liberaldemokratischer Systeme und der Schaffung funktionsfähiger parlamentarischer Demokratien. a.

Amerikanische Außenpolitik nach dem Zweiten

Weltkrieg

Die Außenpolitik der USA nach dem Zweiten Weltkrieg bildete den unmittelbaren Bezugsrahmen, innerhalb dessen AFL und CIO auf transnationaler Ebene agierten. Regierung wie Gewerkschaftsbünde verfolgten mit ihrem Engagement in Westeuropa dieselben grundlegenden Ziele. Die Regierungsbehörden unterstützten daher auch die Aktivitäten der Gewerkschaften logistisch wie finanziell und banden deren Funktionäre in die eigenen Institutionen ein, etwa im Bereich der Militärregierung oder des Marshallplans. Ohne Kenntnis der amerikanischen Außenpolitik jener Jahre ist daher bei aller Unabhängigkeit im Handeln und in den Zielen das politische Agieren von AFL und CIO nicht zu verstehen. Die Vereinigten Staaten waren als einzige Nation aus dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich und politisch gestärkt hervorgegangen.4) Und anders als nach dem Ersten Weltkrieg war Washington diesmal willens, sich weltpolitisch, d.h. auch sicherheitspolitisch und militärstrategisch zu engagieren.5) Seit -

-

4) So hatte sich das Bruttosozialprodukt der USA im Verlauf des Krieges nahezu verdoppelt; 1945 verfügten sie über etwa die Hälfte der weltweiten Produktionskapazität und beinahe die gesamten Finanzreserven. Vgl. u.a. Leffier/Painter: Origins of the Cold War, Introduction, S. 3; Thomas J. McCormick: Every System Needs a Center Sometimes. An Essay on Hegemony and Modern American Foreign Policy, in: Lloyd C. Gardner, Hg.: Redefining the Past. Essays in Diplomatic History in Honor of Wiliam Appleman Williams, Corvallis 1986, S. 195-220, bes. S. 204f.

5)

Tatsächlich war auch die Europapolitik der USA in der Zwischenkriegszeit keineswegs isolationistisch gewesen, wie sie sich der historischen Forschung lange Zeit dargestellt hatte. Siehe u. a. Eckart Conze: Hegemonie durch Integration? Die amerikanische Europapolitik und ihre Herausforderung durch de Gaulle, in: VfZ, 43/1995, Heft 2, S. 297-340, hier S. 298-303; Melvyn P. Leffler: Political Isolationism, Economic Expansionism, or Diplomatic Realism. American Policy Toward Western Euope 1921-1933, in: Perspectives in American History, 8/1974, S. 413^-61, bes. S. 414; Ders.: The Elusive Quest. America's Pursuit of European Stability and French Security, 1919-1933, Chapel Hill 1979, S. 362; vgl. auch: so

1. Die amerikanischen Gewerkschaften im Kalten

Krieg

103

1940 entstand in den USA das Konzept einer neuen Weltordnung unter amerikanischer Führung. Dies war die Lehre, die man in Washington aus den Ereignissen der Zwischenkriegszeit gezogen hatte. Die Weltwirtschaftskrise, die Renationalisierung der Wirtschaft und das Versagen internationaler Konfliktregelungsmechanismen hatten, so war man überzeugt, zum Zweiten Weltkrieg geführt, in den die USA dann gegen ihren Willen hineingezogen worden waren. Um Vergleichbares zu verhindern, mußte man diesmal präsent bleiben und im eigenen Interesse an der Stabilisierung und am Wiederaufbau Europas mitwirken. Daher beteiligte sich Washington nun sehr viel entschlossener an der Errichtung erst eines freien Weltwirtschaftssystems und bald darauf auch eines politischen und militärischen Bündnisses.6) Die neue Konzeption der amerikanischen Außenpolitik bei Beginn des Kalten Krieges7) wies den amerikanischen Gewerkschaften die Rolle eines Akteurs', und den europäischen Arbeiterbewegungen die einer ,Zielgruppe' der Außenpolitik Washingtons zu. Sie bildete somit den unmittelbaren Hintergrund für das außenpolitische Selbstverständnis und Wirken der AFL und des CIO.8) Die Außenpolitik der USA nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von zwei Konzepten bestimmt, nämlich der Politik der national security und den politics of productivity. Diese zwei Seiten der amerikanischen Außenpolitik ergänzten sich zu einem Gesamtkonzept, das auf Überzeugungen und Erfahrungen der amerikanischen Innenpolitik seit dem New Deal zurückgriff und dem Politikverständnis und Weltbild des Konsensliberalismus in den Vereinigten Staaten entlehnt war. Erst die Kombination beider Konzepte ermöglichte eine Koalition außenpolitisch einflußreicher Kräfte, die breit genug war, die isolationistischen Tendenzen in den USA zu überstimmen, und die sowohl ehemalige New Dealer als auch interventionistische Strategen vereinigen konnte.9)

Appleman Williams: The Legend of Isolationism in the 1920's, in: Science and Society, 18/1954, S. 1-20. Desweiteren Gerald K. Hainesß. Samuel Walker, Hg.: American Foreign Relations. A Historiographical Review, Westport 1981; John Braeman: American Foreign Policy in the Age of Normalcy. Three Historiographical Traditions, in: Amerikastudien, 26/1981, S. 125-158; Thomas J. McCormick: America's Half-Century. United States Foreign Policy in the Cold War, Baltimore 1989, S. 25. 6) Die Weltbank und der Weltwährungsfond sollten gemeinsam mit den Vereinten Nationen eine liberale und offene Weltwirtschaftsordnung garantieren und zugleich die führende Rolle der USA darin festschreiben. Conze: Hegemonie durch Integration, S. 305 f. 7) Zu Ursachen, Entstehung und Verlauf des Kalten Krieges sowie zu seiner Beurteilung sei William

hier nur auf allemeueste Arbeiten verwiesen, in denen die Fülle der vorhanden Literatur verarbeitet ist: John L. Gaddis: We Now Know. Rethinking Cold War History, Oxford 1997; Melvyn P. Leffler: A Preponderance of Power. National Security, the Truman Administration, and the Cold War, Stanford 1992; Ders.: Specter of Communism. 8) Auf die Frage, wie mit dem Begriff .außenpolitisch' in diesem Kontext umzugehen ist, d.h. ob auf transnationaler Ebene (zwischen gesellschaftlichen Gruppen) von Außenpolitik gesprochen werden kann, wird noch zurückzukommen sein. 9) „Productivity and containment were the twin themes of postwar US foreign policy: the one upbeat, can-do, confident that with the removal of bottlenecks, abundance would recon-

104

II. Die

Entstehung des transnationalen Netzwerks nach

1945

Das Konzept der national security10) hatte selbst wiederum mehrere Dimensionen. Zum einen die militärische, die ganz unmittelbar auf die Verteidigung des Territoriums der Vereinigten Staaten abzielte und zu diesem Zweck ein militärisches Bündnis anstrebte und auch aufbaute, das die USA machtpolitisch und militärisch absichern sollte. Die Truman-Doktrin mit ihrer Strategie des containment, der Festschreibung der Einflußsphären der beiden Gegner, gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die atomare Rüstung und die Gründung der NATO. Über den militärischen Aspekt hinaus verfolgte die Politik der nationalen Sicherheit aber auch politische und gesellschaftliche Ziele. Es galt, die Grundwerte der Vereinigten Staaten und ihre politischen und wirtschaftlichen Institutionen zu verteidigen. Dabei ging es um den Schutz der besonderen amerikanischen Gesellschaftsform mit ihrer beschränkten Rolle des Staates in der politischen Ökonomie und ihrer Betonung der individuellen Freiheitsrechte. Die Sicherheit dieser Gesellschaftsform sah man jedoch als bedroht an in einer Welt, die in zwei feindliche Blöcke geteilt war oder die gar von der Sowjetunion beherrscht zu werden drohte. Die Auswirkungen der Machtverteilung im internationalen System, die wiederum von der Machtverteilung in zahlreichen einzelnen Ländern abhing, betrafen nach diesem Konzept die USA ganz existentiell. Entsprechend war es im Interesse der eigenen Sicherheit, Bedingungen zu schaffen, in denen, wie es eines der wichtigsten Strategiepapiere des Kalten Krieges, NSC 68, im Frühjahr 1950 forderte, „our free democratic system can live and prosper".11) Politisch ging es daher konkret darum, ein westliches Bündnis zu schaffen, in dem die USA eine hegemoniale Position innehatten; die NATO-Mitglieder bzw. einen weiteren ,Westen' zu einem nicht nur militärischen, sondern auch politischen Block zu formieren; innerhalb dieses Bündnisses für Verhältnisse eile all political differences; the other somber, minor-key, predicting twilight struggles and the need for untiring resistance until rivulets of reform might eventually thaw the frozen Soviet political system." Charles S. Maier: Hegemony and Autonomy within the Western Alliance, in: Melvyn P. LefflerlDavid S. Painter, Hg.: Origins of the Cold War. An International History, London-New York 1994, S. 154-174, hier S. 156, 160. I0) Siehe hierzu v.a. Leffler: Preponderance of Power, S. 13f. Zur Kritik an Lefflers Position siehe u. a. Bruce Cumings: Revising Postrevisionism, or, The Poverty of Theory in Diplomatic History, in: Diplomatic History, 17, Fall 1993, S. 539-569, hier S. 561-566; Michael J. Hogan: The Vice Men of Foreign Policy, Reviews in American History, 21, June 1993, S. 326. Für Lefflers Entgegnung s. Melvyn P. Leffler: Presidential Address. New Approaches, Old Interpretations, and Prospective Reconfigurations, in: Diplomatic History, Vol. 19, No. 2, Spring 1995, S. 173-189, hier S. 191 f. Vgl. auch: Melvyn P. Leffler: The American Conception of National Security and the Beginnings of the Cold War, 1945-1948, in: The American Historical Review, 89, April 1984, S. 346-381; John L. Gaddis: The Emerging Post-Revisionist Thesis on the Origins of the Cold War, in: Diplomatic History, 7, Summer 1983, S. 171-190. ") Abgedr. in: Thomas H. Etzold/John L. Gaddis, Hg.: Containment. Documents on American Foreign Policy and Strategy, 1945-1950, New York 1978, S. 385f. Ab Mai 1950 diente NSC 68 der Regierung Truman als konzeptioneller Rahmen für ihre Außenpolitik.

1. Die amerikanischen Gewerkschaften im Kalten

105

Krieg

zu sorgen, die den eigenen möglichst ähnlich waren; also nicht zuletzt entsprechende politische Systeme zu stützen oder wie im westdeutschen Fall erst ihre Entstehung zu fördern. Auch in gesellschaftlicher Hinsicht sollte der Westen' geeint werden. Denn der amerikanischen Außenpolitik war es nicht zuletzt darum zu tun, einen way of life zu bewahren, und zu diesem Zweck versuchte sie, amerikanische Politik- und Wirtschaftsformen und die amerikanische Kultur im weitesten Sinne, vor allem aber die eigenen Wertmaßstäbe zu verbreiten.12) Hierbei kam v.a. der Kulturpolitik eine besondere Bedeutung zu. Denn im Kalten Krieg, der in erster Linie eine Auseinandersetzung der Ideologien war,13) wurde die Vermittlung der eigenen Werte, die man für universell erachtete, nicht dem Zufall überlassen, sondern durch aktives und strategisches Vorgehen gesteuert. Dieser missionarische Impetus war nicht neu, er erhielt aber nun, im Rahmen einer aktiven und von einer hegemonialen Position aus geführten Außenpolitik, eine ganz andere Wucht. Regierungsbehörden arbeiteten zu diesem Zweck über Jahre hinweg eng mit Intellektuellen zusammen und finanzierten ihre Tätigkeit und ihre Publikationen, um so das amerikanische Konzept der Freiheit in der Welt publik zu machen und diese gegen die Propaganda der Sowjetunion zu immunisieren. Die Aufgabe der Intellektuellen, wie vor allem derjenigen im ,Kongreß für Kulturelle Freiheit', war es, eine gemeinwestliche Ideologie, die auf dem Konsensliberalismus beruhte, zu verbreiten. Auch die Politik der Reorientation in Westdeutschland, die Reiseprogramme, die Eliten verschiedenster Bereiche in die USA führten, sowie der breit angelegte Studentenaustausch bilden weitere Teilbereiche dieser Poli,

tik.14)

Die Regierung gab diesen Bereich nicht gänzlich aus der Hand, sondern behielt, besonders nach 1950, über den Weg der Mittel vergäbe und der organisa-

torischen und personellen Anbindung an Bundesbehörden Einfluß auf den Lauf

12) Siehe hierzu als frühestes Werk, das die weitere Forschung beeinflußt hat: William Appleman Williams: The Tragedy of American Diplomacy, Cleveland 1959; Ders.: The Contours of American History, Cleveland 1961. 13) Ernst Nolte: Deutschland und der Kalte Krieg, München 1974; für andere bzw. entgegengesetzte Erklärungsansätze siehe revisionistische Arbeiten, welche die Rolle der Wirtschaft oder der politisch-militärischen Hegemonie in den Vordergrund stellen, etwa Joyce and Gabriel Kolko: The Limits of Power: The World and United States Foreign Policy, 1945-54, New York 1972. 14) Volker R. Berghahn: America and the Intellectual Cold Wars in Europe. Shepard Stone Between Philanthropy, Academy, and Diplomacy, Princeton, N.J./Oxford 2001 ; Frank Schumacher: Kalter Krieg und Propaganda. Die USA, der Kampf um die Weltmeinung und die ideelle Westbindung der Bundesrepubik Deutschland 1945 bis 1955, Trier 2000; Hochgeschwender. Freiheit in der Offensive?; Rosenberg: Spreading the American Dream; Smith: America's Mission; Bernhard Pié: Wissenschaft und säkulare Mission. „Amerikanische Sozialwissenschaft" im politischen Sendungsbewußtsein der USA und im geistigen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1990; Frank A. Ninkovich: The Diplomacy of Ideas. U.S. Foreign Policy and Cultural Relations, 1938-1950, Cambridge 1981.

106

II. Die

Entstehung des transnationalen Netzwerks nach

1945

der Dinge. Dennoch wurde der Einfluß auf die Intellektuellen nach Möglichkeit geheimgehalten, nicht nur aus innenpolitischer Rücksichtnahme, sondern auch, weil man der sowjetischen Propaganda nicht die Möglichkeit geben wollte, beteiligte Intellektuelle als korrumpierbar darzustellen.15) Als Propaganda wollte man die Vermittlung des Konsensliberalismus nicht verstanden wissen. Die Mitglieder der, Agenturen des Kalten Krieges'16) glaubten an die Universalität ihrer Werte und an die Rationalität des Menschen, die ihn automatisch zur Einsicht ihrer Gültigkeit führen müsse. Im Kalten Krieg wurde die Kultur zum Instrument der Wertevermittlung und damit zu einem Bereich, in dem staatliche Außenpolitik tätig wurde. Das Ziel war, den liberalen Konsens zur Grundlage des westlichen Bündnisses zu machen. Der zweite Grundgedanke, welcher der amerikanischen Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg zugrundelag, war das Konzept der politics ofproductivity.11) Es betraf die Bereiche der Wirtschaft und der Gesellschaft und war nicht minder weit gespannt als die national security policy, zum Teil aber eng mit ihr verwoben. Analog zur Vorgehensweise im politischen Bereich sollte zunächst ein homogener Wirtschaftsraum entstehen, der den amerikanischen Auffassungen und Bedürfnissen entsprach und der den USA eine dominante Rolle ermöglichen würde. Diesem Ziel kam man mit den Vereinbarungen von Bretton Woods und später des GATT relativ nahe.18) Aber auch hier gab sich Washington nicht mit Abkommen auf Regierungsebene zufrieden. Man versuchte vielmehr, im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich die Grundlagen zu festigen und eine Vereinheitlichung des westlichen Wirtschaftsraumes ebenso wie der westlichen Wertegemeinschaft zu erreichen, ohne die das westliche Bündnis nicht dauerhaft zu stabilisieren sein würde. Der eigentliche Kern der politics ofproductivity war die enge Verbindung, die man zwischen Wirtschaftsform und Gesellschaftsform sah.19) Die keynesianischen Wirtschaftskonzepte des New Deal wurden nun, nachdem sie sich in den USA als so erfolgreich erwiesen hatten, auch auf die Außenpolitik übertragen.20) Wirtschaftliches Wachstum durch erhöhte Produktivität sollte, über

15) Ninkovich: Diplomacy of Ideas, bes. S. 168-180; Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? Vgl. außerdem: Alan Wald, The New York Intellectuals. The Rise and Decline of the Anti-Stalinist Left from the 1930s to the 1980s, Chapel Hill-London 1987. 16) In Abwandlung von Ernst Noltes „Apparat des Kalten Krieges": Nolte: Deutschland und der Kalte Krieg, S. 402; Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive, S. 17. 17) Maier: Politics of Productivity; siehe auch Ders.: Hegemony and Autonomy, S. 158. 18) Maier: Politics of Productivity. 19) Zur engen Verbindung von Weltbild und Wirtschaft in den USA siehe William A. Williams: The Roots of the Modern American Empire: A Study of the Growth and Shaping of Social Consciousness in a Marketplace Society, New York 1969. Für Lob und Tadel Williams' vgl. Leffler, Presidential Address, S. 193 f. 20) „If we can sell Europe on the fundamental advantages of a competitive and reasonably free system of enterprise, I have no doubt the standard of living there will advance soon to a level where there is no danger whatever of its being subverted." Thomas Cabot, Director of

1. Die amerikanischen Gewerkschaften im Kalten

Krieg

107

den Verteiler der Massenkaufkraft, soziale und politische Konflikte verhindern, Klassenauseinandersetzungen gar nicht erst aufkommen lassen und so dem Kommunismus in Europa und in der Welt den Boden entziehen. An die Stelle wie schon in der amerikanischen Innenpolitik von Verteilungskämpfen träte seit dem New Deal erprobt die gemeinsame Suche nach der Beseitigung ihrer ökonomischen Ursachen. Wirtschaftliches Wachstum bot sich auch auf internationaler Ebene als vermeintlich ideologiefreier und apolitischer Weg zur sozialen Reform an, der die Grundstrukturen der Wirtschaftsordnung, die Besitzverhältnisse und vor allem das Privateigentum unangetastet ließ und innerhalb des westlichen Bündnisses für eine den Interessen der USA entsprechende Wirtschafts- und Gesellschaftsform sorgte.21) Denn daß die freie Marktwirtschaft eine Grundbedingung für das Funktionieren einer liberalen Demokratie und zugleich des American way oflife war, bildete die Grundannahme des liberalen Konsenses in den USA der 1950er und 1960er Jahre.22) Wachstum und Produktivität wurden daher zu Leitgedanken der amerikanischen Außenpolitik der Nachkriegszeit und blieben dies selbst über den Korea-Krieg hinaus, der militärische und sicherheitpolitische Fragen wieder in den Vordergrund -

-

rückte.23)

Verfolgte das Konzept der national security das Ziel, den Konsensliberalisim westlichen Bündnis zur gemeinsamen Basis zu machen, so ging es den politics of productivity entsprechend darum, den Konsenskapitalismus als die dazugehörige Wirtschaftsform zu verbreiten. Dies setzte, wie die amerikanische Erfahrung seit den mittleren 1930er Jahren gezeigt hatte, eine bestimmte Gesellschaftsordnung voraus. Sie läßt sich als Neo- oder liberaler Korporatismus, korporatistischer Liberalismus oder Demokratischer Korporatismus bemus

zeichnen.24)

Michael Hogan, Charles Maier und Melvyn Leffler haben seit den 1980er Jahren eine Interpretation der amerikanischen Diplomatiegeschichte angeboten, die einen weiteren Blickwinkel erlaubt, als dies der Postrevisionismus, dem sie zweifellos nahestehen, ermöglicht. Ihre korporatistische Synthese25) International Security Affairs in the State Department, gegenüber Avereil Harriman, seinem Nachfolger bei der Amtsübergabe am 25. Oktober 1951, zit. in: Maier: Hegemony and Autonomy, S. 159 [Hervorh. i. O.]. 21) Maier. Politics of Productivity; siehe auch Ders.: Hegemony and Autonomy, S. 158. 22) Die enge Verbindung von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wird beispielhaft deutlich in einer Bemerkung Dwight D. Eisenhowers: „I believe fanatically in the American form of democracy a system that recognizes and protects the rights of the individual and that ascribes to the individual a dignity accruing to him because of his creation in the image of a supreme being and which rests upon the conviction that only through a system of free enterprise can this type of democracy be preserved." Aus: Robert Griffith, Hg.: Ike's Letters to a Friend, 1941-1958, Lawrence 1984, S. 40, zit. in: Leffler: Presidential Address, S. 191. 23) Maier. Hegemony and Autonomy, S. 159. 24) Vgl. etwa Hogan: Corporatism, S. 363. 25) Michael J. Hogan: The Marshall Plan. America, Britain, and the reconstruction of -

108

II. Die

Entstehung des transnationalen Netzwerks nach 1945

verbindet die beiden oben beschriebenen Konzepte der amerikanischen Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg nationale (oder kollektive) Sicherheit und Produktivität bzw. Wirtschaftswachstum und stellt sie in den größeren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn des Marshallplans. Sie analysiert nicht nur die amerikanischen Versuche seit der Zwischenkriegszeit, ,zu Hause' ein neo-korporatistisches System zu etablieren bzw. den Konsenskapitalismus durchzusetzen, sondern auch den Versuch der USA, das internationale System nach dem selben Muster zu reorganisieren.26) Die Kontinuitäten, aber auch die konkrete, prozeßhafte Entwicklung der US-Außenpolitik innerhalb dieses Zeitraums werden von den Autoren dieser Schule betont. Weltwirtschaft und internationales System sind in dieser Sichtweise aufs engste miteinander verbunden. Vor allem aber geht es ihnen darum, zu zeigen, wie eng die außenpolitischen Konzepte mit den Erfahrungen der Innenpolitik seit dem Beginn des New Deal verwoben waren.27) Die Außenpolitik fügt sich so als ein Bestandteil in einen größeren Zusammenhang ein, der von der Entwicklung der gesamten amerikanischen Gesellschaft bestimmt wird und sich als liberaler Korporatismus interpretieren läßt.28) -

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Western Europe, 1947-1952, Cambridge 1987, bes. S. 2f.; Ders.: Revival and Reform. America's Twentieth-Century Search for a New Economic Order Abroad, in: Diplomatic History, 8, 1984, S. 287-310; Maier: Politics of Productivity; Ders.: The Two Postwar Eras and the Conditions for Stability in Twentieth-Century Western Europe, in: American Historical Review, 86, April 1981, S. 327-352; Leffler: Political Isolationism; Ders.: The Elusive Quest. Vgl. auch: Thomas J. McCormick: Drift or Mastery? A Corporatist Synthesis for American Diplomatic History, in: Reviews in American History, 10, 1982, S. 318-330. Zur Kritik an der Korporatismus-These siehe bes. John L. Gaddis: The Corporatist Synthesis. A Sceptical View, in: Diplomatic History, 10, 1986, S. 357-362, der u.a. die Befürchtung äußert, die neue Synthese verleite dazu, alle Aspekte der amerikanischen Diplomatiegeschichte in das Prokrustesbett des Korporatismus zu zwängen, und verstelle den Blick auf Konflikte und Veränderungen. Dagegen wendet sich Hogan ganz dezidiert: Gerade die korporatistische Synthese ermögliche es, mit den Prozessen des Wandels in der amerikanischen Außenpolitik umzugehen, da sie längere Zeiträume betrachte und dabei nach der Interaktion von Innen- und Außenpolitik frage. Hogan: Corporatism, in: Diplomatie History, 10, 1986, S. 363-372. 26) Hogan: The Marshall Plan, S. 3. 27) Vgl. für die Veränderungen in der amerikanischen Politik und Wirtschaftsordnung, die der New Deal hervorbrachte Thomas Ferguson: From Normalcy to New Deal. Industrial Structure, Party Competition, and American Public Policy in the Great Depression, in: International Organization, 38, Winter 1984, S. 41-94. Für den Wandel, der seit den 1920ern im Zusammenspiel von Wirtschaft und Außenpolitik bemerkbar wurde, siehe u.a. Michael J. Hogan: Informal Entente. The Private Structure of Cooperation in Anglo-American Economic Diplomacy, 1918-1928, Columbia 1977; Leffler: The Elusive Quest; loan Hoff-Wilson, American Business and Foreign Policy, 1920-1933, Lexington 1971; Ellis Hawley: The Great War and the Search for a Modern Order. A History of the American People and Their Institutions, 1917-1933, New York 1979; Mira Wilkins: The Maturing of Multinational Enterprise. American Business Abroad from 1914-1970, Cambridge, MA, 1974. 28) „By these", schreibt Hogan, „I mean an American political economy founded on self-governing economic groups, integrated by institutional coordinators and normal market

1. Die amerikanischen Gewerkschaften im Kalten

Krieg

109

Diese korporatistische Synthese bietet sich als Zugriff für unser Thema an, denn sie erlaubt wie kein anderer Ansatz den Blick nicht nur auf langfristige Entwicklungen der amerikanischen Außenpolitik, sondern auch auf die Interdependenz von inneren und äußeren Entwicklungen, von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Nur diese Perspektive erfaßt den Einfluß des New Deal und der amerikanischen Innenpolitik der 1930er und 1940er Jahre auf die Außenpolitik der 1940er und 1950er Jahre sowie auf die Problemstellungen und Lösungsvorschläge des State Department und macht dadurch erst die Rolle der Gewerkschaften in diesem Feld verständlich. Wo im folgenden also das Zusammenspiel zwischen Gewerkschaften und der Regierung im Bereich der Außenpolitik untersucht wird, wird sich die Interpretation im Rahmen dieses Paradigmas bewegen. Mit einem solchermaßen weit gefaßten Begriff der .Außenpolitik' kann denn auch von ,gewerkschaftlicher Außenpolitik' gesprochen werden, da die Gewerkschaften im Rahmen dieser nicht zuletzt auf Wirtschaft und Gesellschaft abzielenden Außenpolitik ihre eigene Aufgabe sahen und die Perspektive Hogans, Maiers und Lefflers, wenn man so will, schon vorwegnahmen.

Ein geradezu klassisches Fallbeispiel für die Korporatismus-These ist das European Recovery Program (ERP), der sogenannte Marshallplan vom Juni 1947.29) Dieses Programm markiert einen klaren Prioritätenwechsel in der amerikanischen Außenwirtschaftshilfe. Anstelle der bisherigen humanitären Hilfsmaßnahmen für Europa verfolgte die US-Außenpolitik nun das Ziel, eine „open door community of free nations" zu bilden und deren Mitglieder sowohl gegen sowjetischen Druck als auch gegen einen erneuten deutschen Militarismus zu schützen. Hierzu sollte Europa nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten umgeformt werden. „Marshall planners, in short, aimed to realize related economic and strategic objectives by exporting key components of their corporative political economy to Western Europe, including Keynesian strategies of economic management; institutional coordinating, regulating, and planning mechanisms; and organized networks of corporative collaboration and power sharing among different functional groups and between these groups and public authorities."3")

mechanisms, led by cooperating public and private elites, nourished by limited but positive government power, and geared to an economic growth in which all could share." Hogan, The Marshall Plan, S. 2f. 29) Siehe u.a. Hogan: The Marshall Plan; Othmar Nikola Haberl/Lutz Niethammer, Hg.: Der Marshall-Plan und die europäische Linke, Frankfurt/M. 1986; Melvyn P. Leffler: The United States and the Strategie Dimensions of the Marshall Plan, in: Diplomatic History, 12, No. 3, 1988, S. 277-306; Ludolf Herbst: Der Marshallplan als Herrschaftsinstrument? Überlegungen zur Struktur amerikanischer Nachkriegspolitik, Berlin 1993 [Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität, 12. Mai 1992]. 30) Hogan: Corporatism, in: Diplomatie History, 10, 1986, S. 363-372, hier S. 370.

110

II. Die

Entstehung des transnationalen Netzwerks nach

1945

Nur vereint würde Westeuropa in der Lage sein, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und sich gegen Aggressionen zu schützen, und nur in einem vereinten Wirtschaftsraum würden keynesianische Strategien greifen, würde Produktivität zu Wachstum und Wachstum zu allgemeinem Wohlstand führen, der wiederum politische Auseinandersetzungen obsolet machen, mithin kommunistischer Unterwanderung den Boden entziehen würde. Zumindest der westliche Teil Deutschlands mußte, aus ökonomischen wie sicherheitspolitischen Gründen, hierbei mit einbezogen werden. Der Marshallplan war jedoch kein Deutschland-Plan, sondern immer auf das gesamte Europa bezogen.31) Das weiter gefaßte Ziel des neuen Hilfsprogramms war es, die nichtkommunistischen Staaten Europas wirtschaftlich und langfristig auch politisch zu integrieren. So wollte man eine internationale Situation schaffen, die, zumindest in der westlichen Hemisphäre, den amerikanischen Interessen weitgehend entsprach und in der die politische und wirtschaftliche Ordnung möglichst nach amerikanischem Vorbild gestaltet war.32) Die Teilung Deutschlands, Europas und der Welt nahm man dafür in Kauf, wenn auch ungern. Dies war der Preis, den man für eine wiederhergestellte und stabile europäische Wirtschaft, für die Eindämmung des Kommunismus und für die eigene hegemoniale Rolle im Westen zu zahlen gedachte.33) Die europäischen Staaten waren von sich aus bereit, am Marshallplan teilzunehmen und auch die hegemoniale Stellung der USA im sich formierenden Westen zu akzeptieren.34) Sicherheitspolitische Überlegungen spielten hier eine Rolle, die Angst vor der Sowjetunion ebenso wie die vor einem wieder erstarkenden Deutschland. Integration schien als der beste Schutz vor beiden. Vor allem aber waren es wirtschaftliche Motive, denn keiner der europäischen Staaten war nach dem Krieg in der Lage, für sich allein gestellt wieder auf die Beine zu kommen. Erst ein gemeinsamer Binnenmarkt würde einen genügend großen Wirtschaftsraum schaffen, um die Produktivität Europas auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu machen. Die europäische Integration erschien als die Möglichkeit, französische Sicherheitsinteressen, die sich primär gegen Deutschland richteten, mit der für den europäischen Aufschwung so dringend nötigen Wiederherstellung der (west)deutschen Wirtschaft vereinbar zu machen.35) Zwischen den west- und südeuropäischen Staaten und den USA bestand daher eine Interessenkongruenz, die auch die dominante Rolle der Vereinigten Staaten miteinschloß.36) Verschiedene Begriffe sind geprägt worden, das politische Binnenverhältnis im westlichen Bündnis zu beschreiben: Geir

31) Herbst: Der Marshallplan als Herrschaftsinstrument? 32) Leffier: Strategie Dimensions of the Marshall Plan, S. 277. 33) Ebda., S. 285. 34) Das Angebot des Marshallplans galt formal auch für Osteuropa. Vgl. Marshallplan als Herrschaftsinstrument? 35) Hogan: Corporatism, S. 370. 36) Conze: Hegemonie durch Integration? S. 306f.

u.a.

Herbst: Der

1. Die amerikanischen Gewerkschaften im Kalten

Krieg

111

sprach vom „empire by invitation", John L. Gaddis vom „empire by consent", Charles S. Maier von „consensual hegemony", Eckart Conze von „Hegemonie durch Integration".37) Wie diese Definitionen schon zeigen, war die amerikanische Vorherrschaft Lundestad

im Westen nicht ausschließlich auf militärischer oder wirtschaftlicher Stärke begründet. Die Vereinigten Staaten waren westliche Vormacht auch im Sinne „kultureller Hegemonie". Der Begriff der „kulturellen Hegemonie" geht auf den italienischen kommunistischen Theoretiker und Politiker Antonio Gramsci ( 1891 -1937) zurück. Diese Form von Hegemonie meint Herrschaft nicht durch Zwang, sondern dadurch, daß, in den Worten Gramscis, „zunächst widerspenstige Menschen kulturell und .ideologisch' durchdrungen werden", also Herrschaft durch Konsens.38) Und, dies wird im einzelnen zu zeigen sein, durch einen Konsens, der nicht nur die Regierungen umfaßte und bestimmte politische Entscheidungen aufeinander abstimmen half, sondern die Gesellschaften des Westens einband, ja diesen Westen auf der Ideen- und Werteebene somit erst schuf. Einen solchen nationenübergreifenden (transnationalen) gesellschaftlichen Konsens herzustellen, war ebenfalls nicht allein Sache der Politik bzw. der amerikanischen Regierung, sondern verlangte die Mitarbeit gesellschaftlicher Kräfte an dem Ziel, den Konsensliberalismus zu verbreiten. Oft genug aber war es nicht eine Frage der Mitarbeit an der Regierungspolitik, sondern eine Entwicklung, die sich zwischen gesellschaftlichen Gruppen verschiedener Länder abspielte, aus Motiven, die denen der Regierungen entsprechen mochten, nicht aber notwendig von ihnen beeinflußt waren. Die Rolle dieser gesellschaftlichen Kräfte bei der ,Westernisierung' des westlichen Bündnisses kann gar nicht überschätzt werden.

37)

Geir Lundestad:

Empire by

Invitation? The United States and Western

Europe,

1945-1952, in: SHAFR Newsletter, 15/1984, S. 1-21; Maier: Politics of Productivity, S. 630; Conze: Hegemonie durch Integration. Gaddis' Argument findet sich ausführlich in: Gaddis: We Now Know, S. 26-53. Lundestad spricht neuerdings auch von ,Empire by Inte-

gration': Geir Lundestad: „Empire" by Integration. The United States and European Integra-

tion, 1945-1997, Oxford-New York 1998. Kritisch zum Hegemoniebegriff dagegen: Klaus LarresiTorsten Oppelland, Hg.: Deutschland und die USA im 20. Jahrhundert. Geschichte der politischen Beziehungen, Darmstadt 1997, bes. S. IX. 38) Vgl. Otto Kallscheuer: Art. „Hegemonie", in: Lexikon der Politik, Bd. 1: Politische Theorien, hg. v. Dieter /VoWen/Rainer-Olaf Schultze, München 1995, S. 174-180, Zitat S. 175. Zur ,Westernisierung, der Bundesrepublik siehe Doering-Manteuffel: Wie westlich sind die Deutschen; Ders.: Dimensionen von Amerikanisierung, in: AfS, 35/1995, S. 1-34, hier: S. 25-34, mit zahlreichen Literaturangaben; Rupieper: Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Für eine internationale Perspektive siehe v. Laue: The World Revolution of Westernization.

112

II. Die

Entstehung des transnationalen Netzwerks nach

! 945

Außenpolitische Ziele der AFL und des CIO Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Außenpolitik zu einem zentralen Anliegen der amerikanischen Gewerkschaftsbünde. Sie unterhielten regelrechte Botschaften in anderen Ländern, pflegten jahrelang intensive Kontakte zu nichtkommunistischen Arbeiterbewegungen in aller Welt und spielten in den internationalen Gewerkschaftsorganisationen eine Führungsrolle. All dies summierte sich zu einer gewerkschaftlichen Außenpolitik'. Dieser Termib.

läßt sich mit einigem Nutzen verwenden, sofern man, wie Hogan, Maier und Leffler, den neokorporatistischen Begriff von Außenpolitik zugrundelegt, der über die Ebene der Diplomatie und des Regierungshandelns weit hinausgreift und die gesellschaftliche Ebene miteinbezieht. Die gewerkschaftliche Außenpolitik' bewegte sich, und dies muß zur Klärung des Begriffs hier ganz deutlich betont werden, vornehmlich auf transnationaler Ebene. Das heißt, sie spielte sich nicht auf der Regierungsebene, sondern zwischen gesellschaftlichen Akteuren verschiedener Nationalitäten ab und umfaßte auch internationale Organisationen, an denen keine Regierungen bzw. Staaten beteiligt waren, sogenannte International Non-Governmental Organisations?9) Die transnationale Außenpolitik von AFL und CIO stimmte jedoch in ihren wesentlichen Zielen mit denen der amerikanischen Regierungsaußenpolitik überein und wurde von beiden Seiten auch als gemeinsamer Zusammenhang wahrgenommen. Es kam daher beim Engagement der amerikanischen Gewerkschaften in Europa auch zu zahlreichen Berührungspunkten zwischen transnationaler und Regierungsaußenpolitik. Ihre Aktivitäten zielten oft direkt darauf ab, Regierungshandeln in anderen Ländern zu beeinflussen, und sie übten zu diesem Zweck nicht selten Einfluß auf das State Department oder, im deutschen Fall, auf die Besatzungsbehörden OMGUS und HICOG aus. Es läßt sich also wiederholen: sowohl die AFL als auch der CIO maßen nach dem Zweiten Weltkrieg der Außenpolitik zentrale Bedeutung zu und bemühten sich aktiv, „to become a major actor on the world scene."40) Beide amerikanischen Gewerkschaftsbünde waren sich in zwei grundlegenden Zielen ihrer transnationalen Aktivitäten einig. Der Kommunismus sollte in der weltweiten Konkurrenz um die Arbeiterschaft besiegt und zugleich der Konsensliberalismus mit seiner konsenskapitalistischen Wirtschaftsordnung verbreitet werden. Beide Ziele waren eng miteinander verbunden, wirkten also zugleich als Mittel und als Zweck. Beide dienten, neben dem missionarischen nus

39)

Siehe hierzu in erster Linie Keohane/Nye: Transnational Relations and World Politics; außerdem George Modelski: Principles of World Politics, New York 1972. Die Politik der AFL ist schon zweimal unter der Fragestellung transnationaler Beziehungen untersucht worden: Link: Deutsche und amerikanische Gewerkschaften und Geschäftsleute; Godson: American Labor and European Politics. Beide betrachten jedoch ausschließlich den politikgeschichtlichen Bereich und fragen nicht nach der ideellen Dimension. 4)

Matthew Woll an George C. Marshall, 26. Mai 1948, sowie Anlage, GMMA, RG 18-003, 060/32, Zitat S. 4 (Hervorhebung im Orig.). 87) GMMA, RG 18-003, 037/18, Bericht o. Titel, [Henry Rutz, Ende 1950], hier S. 1. Der Autor vertritt hier außerdem die Ansicht, das amerikanische Besatzungspersonal versuche,

seine Jobs zu retten, indem sie ihre Aktivitäten erhöhten und sich neue Betätigungsfelder suchten, und schade damit der demokratischen Entwicklung, ja mache sich über sie lustig. 88) Victor G. Reuther, Esward deLasalle, Frank Bellanca: Report of Special CIO Committee to Europe to CIO Committee on International Affairs, Washington, D.C., I. März 1951, GMMA, RG 18-002, 015-26.

1. Die Politik der AFL und des CIO im besetzten Deutschland

207

Der Versuch, das State Department zu beeinflussen, war nur die eine Seite der AFL-Strategie. Wichtiger war die Zusammenarbeit mit den deutschen Gewerkschaftern und das Bemühen, ihnen den eigenen Standpunkt nahezubringen. Dazu gehörte auch, den Westdeutschen klarzumachen, daß die AFL-Vertreter nicht mit der Deutschlandpolitik der amerikanischen Regierung übereinstimmten, daß sie ihnen aber auch nicht statt dessen ihr eigenes Konzept aufzwingen, sondern vielmehr das Recht der deutschen Arbeiterbewegung auf Selbstbestimmung erkämpfen und respektieren wollten; „we are for such conditions as will make possible their effective participation on a basis of equality in world affairs."89) Die deutschen Gewerkschaften könnten ihre Unabhängigkeit sowohl gegenüber „ihren eigenen Kapitalisten" als auch den Vertretern der Besatzungsmächte nicht verteidigen ohne internationale gewerkschaftliche Verbindungen. Ein klares Beispiel hierfür sei die Ruhr-Behörde,90) die es nötig mache, daß die Gewerkschaften der beteiligten Länder zu einer Verständigung über Bedingungen der Zusammenarbeit kommen. Diese Verständigung müsse auch die deutschen Gewerkschaften einbeziehen, die an der Ruhr vertreten seien. Vor allem aber sei eine Verständigung zwischen den Gewerkschaftern der Besatzungsländer und den deutschen Gewerkschaftern notwendig, mit dem langfristigen Ziel eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Organisation der beteiligten Gewerkschaften, um so ihrem Standpunkt in der Ruhr-Behörde auch Gewicht zu verschaffen. Die amerikanischen und britischen Gewerkschaften sollten Druck auf ihre jeweilige Militärregierung ausüben, bis diese das Programm der westeuropäischen Arbeiterbewegung und deren Forderung nach Anerkennung und Teilhabe in ihre Überlegungen miteinbeziehe.91) Die Westintegration der Bundesrepublik auf wirtschaftlicher und politischer Ebene, die Brown für notwendig und zwangsläufig hielt, sollte so auf der transnationalen Ebene der Gewerkschaften schon vorweggenommen werden.

b.

Erwartungen an die Sozialdemokratie

Die Literatur, die sich bislang mit der transnationalen Politik der AFL in Deutschland befaßt hat, konzentriert sich auf die Kontakte der Amerikaner mit

89) Jay Lovestone an Henry Rutz, 12. November 1952, GMMA, RG 18-003, 056716. *») Raimond Poidevin: Frankreich und die Ruhrfrage 1945-1951, in: HZ, 228/1979, S. 317-334. Für eine zeitgenössiche Interpretation und Kritik aus juristischer Sicht siehe: Wilhelm G. Grewe: Das Ruhrstatut f 19491, in: Ders.: Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit, Stuttgart 1960, S. 17-36, zur Ruhrbehörde S. 21, und aus zeitgenössischer gewerkschaftlicher Sicht: Ludwig Rosenberg: Zum Ruhrstatut, in: Der BUND, Nr. 2, 15. Januar

1949, S. 2.

91) Irving Brown, Bericht 18-003,011/11.

zum

Ruhr-Statut, ohne Titel, 6. Februar 1948, GMMA, RG

208

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

den westdeutschen Gewerkschaften.92) Die AFL und der CIO verstanden sich als Vertreter der amerikanischen Arbeiterbewegung, die ja in den USA keinen parteipolitischen Arm hatte. Sie vertraten daher nicht nur die Gewerkschaftsbewegung, sondern darüber hinaus die gesamten, also auch allgemein politischen Interessen der Arbeiterbewegung im weitesten Sinne. Dementsprechend wandten sich Vertreter von AFL und CIO in Deutschland ganz selbstverständlich auch an die Sozialdemokratie, auf die sich ein guter Teil ihrer Energie und ihres politischen Handelns in Westdeutschland richtete. Anders als bei der deutschen Gewerkschaftsbewegung, verfolgte die AFL bei der SPD während der Besatzungszeit jedoch keine organisatorischen Ziele. Sie wartete die Konsolidierung der Partei ab, bzw. begleitete sie mit Interesse, griff aber nicht in irgendeiner, ihrer Gewerkschaftspolitik vergleichbaren Form ein. Über die Frage der Zulassung von Parteien hinaus ging es hier nicht um konkurrierende Modelle strukturellen Aufbaus, die unterschiedliche demokratietheoretische Implikationen gehabt hätten. Dennoch darf man die intensiven und langjährigen Beziehungen zwischen der deutschen Sozialdemokratie und den amerikanischen Gewerkschaften nicht außer acht lassen, denn jene war ein zentraler Adressat der Bemühungen der AFL, in Westdeutschland konsensliberale Werte heimisch werden zu lassen. Sie betrachtete die SPD als eigenständigen und bedeutenden Faktor in der Demokratisierung und ideellen Westorientierung des entstehenden Weststaates und dann der Bundesrepublik, sowie in der Konstituierung eines demokratischen Westeuropas. Das übergeordnete Ziel war „reorganizing Western Europe on a democratic, dynamic basis. This certainly should be the line of German labor."93) Urn stabile demokratische Regierungen zu sichern, besonders in Deutschland, Frankreich und Italien, strebte Brown ein christlichsozialistisches Bündnis in Westeuropa an.94) Angesichts dieser auf die westdeutsche und insgesamt die westeuropäische Arbeiterbewegung bezogenen Ziele trennten die AFL-Vertreter bei „German labor" nicht strikt zwischen SPD und DGB, sondern sahen sie als zwei aufeinander bezogene Arme einer Arbeiterbewegung an und betrachteten bei ihrem politischen Vorgehen beide im Zusammenhang. Die Soziale Demokratie galt

92)

Link: Deutsche und amerikanische Gewerkschaften; Rupieper. Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, S. 251-285; Horst Lademacher, Hg.: Gewerkschaften im Ost-West-Konflikt. Die Politik der American Federation of Labor nach dem II. Weltkrieg, Melsungen 1982. 93) Irving Brown an AFL-Präsident George Meany, 8. September 1953, GMMA, RG 18-003, 011/19. Brown berichtete Meany hierin von dem für SPD und DGB niederschmetternden Ausgang der Bundestagswahlen und riet der AFL zu einer Politik, die die übergeordneten Ziele in Europa nicht aus den Augen verlor. Und er bemerkt: „Let us not forget that the two democratic parties of Germany have polled 85% of the popular vote and that the SPD has increased its vote by a million." 94) Bericht, [Irving Brown], [1953], GMMA, RG 18-003, 011/18, S. 5. Auch Teile der Christdemokraten in Deutschland sollten unterstützt werden: Rede Irving Browns, 17. Februar 1949, o.O, S. 6, Pkt. 5a, GMMA, RG 18-003.011/11.

1. Die Politik der AFL und des CIO im besetzten Deutschland

209

ihnen als die

wichtigste, weil zuverlässigste und größte Kraft im politischen Demokratisierungsprozeß in Deutschland, und sie verließen sich dabei ebenso auf die Partei wie auf die sozialdemokratischen Gewerkschafter. Der politische und der gewerkschaftliche Arm sollten, nach ihren Vorstellungen, eng zusammenarbeiten, um in Deutschland die Demokratie zu etablieren und beide Tota-

litarismen zu bekämpfen, was Entnazifizierung und Antikommunismus umfaßte. Die besondere Aufgabe der SPD sollte es dabei sein, die parlamentarische Demokratie einführen zu helfen, zu stabilisieren und auf der politischen Ebene die Interessen der Arbeiterbewegung im öffentlichen Meinungsbildungsprozeß ebenso wie im Parlament zu vertreten. Bis etwa zur Währungsreform schien in den Westzonen kaum Zweifel darüber zu bestehen, daß die Sozialdemokraten die stärkste politische Kraft darstellten und in der ersten frei gewählten westdeutschen Regierung auch vertreten sein würden. Die amerikanischen Gewerkschaftsvertreter erhofften sich, daß die Sozialdemokraten ihre politische Rolle auch entsprechend ausfüllen würden, streitbar wären und entschieden für die liberale Demokratie einträten. Die Neuordnungs- und Sozialisierungsforderungen der Sozialdemokraten störten die AFL dabei nicht weiter, im Gegenteil rechnete Brown jedenfalls bis 1949 fest mit einem sozialistischen Westeuropa und vertrat 1946 gegenüber amerikanischen Regierungsstellen in Washington den Standpunkt, es gebe angesichts der dortigen politischen Situation nur die Wahl zwischen demokratischem und totalitärem Sozialismus, und das Ziel der Amerikaner müsse sein, in Westeuropa die britische Variante des Sozialismus durchzusetzen.95) Von zentraler Bedeutung war für die AFL dagegen der Antikommunismus in der SPD. Gesamtdeutschen Hoffnungen der Sozialdemokraten hatte die Entwicklung zur Einheitspartei' in der sowjetischen Besatzungszone früh den Garaus gemacht, und die AFL unterstützte Kurt Schumacher und die SPD-Führung emphatisch in ihrer Ablehnung deutsch-deutscher Annäherungen unter dem Signum der Einheit der Arbeiterbewegung.96) Schumachers entschiedener

95)

Er betonte, „daß der gegenwärtige Kampf in Europa eher zwischen Freiheit und Totalitarismus als an der klassischen kapitalistisch-sozialistischen Front ausgetragen wird. Er sehe Europa sich in eine kollektivistische Richtung bewegen; offen sei nur noch die Entscheidung, ob der so entstehende Sozialismus vornehmlich demokratisch oder totalitär sein werde. (...) Der britische Weg, nämlich demokratischer Sozialismus, biete für Europa die

einzige

Alternative zum sowjetischen System (...)." Memorandum, State Department, 8. November 1946; zit. bei: Link: Deutsche und amerikanische Gewerkschaften, S. 56. Für Browns Standpunkt im Jahre 1949 siehe die oben bereits zitierte Rede Irving Browns, 17. Februar 1949, o.O. (at the American Club), 17. Februar 1949, GMMA, RG 18-003, 011/11. 96) So findet sich z. B. in den Jay Lovestone Files des AFL-CIO, Internat. Affairs Dept. auch ein Brief Willi Eichlers an den „Editor of the New Statesman and Nation" in London, vom 9. Juni 1952, in dem er sich gegen einen Bericht in der Ausgabe vom 31. Mai 1952 über ein angebliches Treffen zwischen Vertretern von SPD und SED in Wien wehrt. „There is not a word of truth in this note published in your journal. No meeting took place between repre-

210

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

Antikommunismus und seine Bereitschaft zur Westorientierung brachten ihm die loyale Unterstützung der AFL ein, die dafür auch seine sozialistischen Neuordnungspläne deckten. Auch hier war ihr innerhalb eines gewissen Rahmens die politische Kampfbereitschaft der demokratischen Arbeiterbewegung wichtiger als die programmatischen Inhalte. Was ihr aber als nicht verhandelbare Voraussetzungen für jegliche Unterstützung bzw. Zusammenarbeit galt, waren das klare Bekenntnis zur „freiheitlichen" Demokratie, der Antikommunismus und die politische Westorientierung, also die Bereitschaft, am Marshallplan teilzunehmen, sich in ECA, OEEC und anderen europäischen Institutionen zu engagieren sowie mit den anderen westlichen Arbeiterparteien bzw. Gewerkschaften zu kooperieren. In der Politik der AFL gegenüber SPD und westdeutschen Gewerkschaften läßt sich eine klare Hierarchie der Ziele feststellen, oder genauer gesagt, ein Phasen-Schema: erst setzte sie sich für Fragen der Organisationsform bzw. für die Übernahme politischer Verantwortung der Arbeiterbewegung innerhalb der sich entwickelnden westdeutschen Demokratien des sich formierenden Westens ein, dann begann sie, sich um die Werthaltungen dieser Arbeiterbewegung zu bemühen. Diese wurden erst seit Anfang der 1950er Jahre zum Gegenstand der Auseinandersetzungen. 1950/51 begann sich bei den AFL-Außenpolitikern ein weiteres Motiv für eine enge Zusammenarbeit mit der SPD abzuzeichnen: Es ging ihnen, vor allem aber Jay Lovestone, darum, Konflikte und Brüche zwischen der Partei und dem DGB zu vermeiden. Denn die SPD hatte nach Lovestones Ansicht einen heilsamen Einfluß auf den DGB, den sie besser nicht aufs Spiel setzen sollte: -

-

„I think our friend Kurt [Schumacher, J.A.] made a mistake in swinging as hard and going as far as he did on the Schuman Plan. I am not disturbed by the breach between the German So-

cialist Party and the other Socialist Parties [of Europe, J.A.]. There is very little Socialism and as little militancy in any of these outfits. What bothers me is that this may lead to gaps and conflicts between the Socialist Party and the D.G.B. That is what I don't like. In my opinion, the S.P.D. has been a very helpful and salutary force of influence on the D.G.B. If this role is hurt, then the D.G.B. will be hurt."97)

Die Mitarbeiter des FTUC nutzten des öfteren den Weg über den Parteivorstand der SPD, um ihren Anliegen bei der DGB-Spitze Nachdruck zu verleihen. So beschwerte sich Lovestone beispielsweise beim Parteivorstand, wenn auch inoffiziell, über antiamerikanische Äußerungen des DGB-Vorsitzenden sentatives of the German Social Democratic Party and German communists in Vienna such a meeting would completely run counter the whole attitude of German Social Democrats;". Eine Abschrift dieses Briefes war Jay Lovestone von Heinz Putzrath am 17. Juni 1952 zur Kenntnisnahme geschickt worden, Lovestone bestätigte Putzrath den Erhalt am 30. Juni 1952; GMMA, RG 18-003, 059/25. 97) Jay Lovestone an Henry Rutz, 23. April 1951, GMMA, RG 18-003, 056/15. Siehe u.a. auch den Brief Henry Rutz an Jay Lovestone, 6. Februar 1950, in dem er auf einen Bruch zwischen einigen Mitgliedern des DGB-Vorstands und der SPD aufmerksam macht. GMMA, RG 18-003, 056/13.

-

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

211

Fette.98) Umgekehrt bediente sich auch die SPD der AFL bei ihrer Politik ge-

dem Gewerkschaftsbund. Das Vorgehen gegen Kommunisten innerhalb der westdeutschen Arbeiterbewegung, vor allem in Gewerkschaften und Betriebsräten, wurde zwischen SPD und AFL abgesprochen. Ebenso wichtig war für die AFL die Arbeit der SPD in der Ostzone bzw. der DDR, an deren Erkenntnissen sie beteiligt wurde und auf die noch zurückzukommen sein wird. Solche Ziele verfolgte jedoch vor allem Jay Lovestone direkt aus New York. Weder Rutz noch Brown wirkten in dieser Richtung auf die SPD ein. Zudem waren sich die AFL-Außenpolitiker nicht ganz einig über das tatsächliche Ausmaß der kommunistischen Gefahr für Europa: Irving Brown, der noch 1947 vor der akuten Bedrohung durch den Kommunismus in Deutschland warnte, erklärte schon im März 1949, dieser stelle in Westdeutschland keine Gefahr mehr dar, es sei vielmehr der aufkeimende Nationalismus der Deutschen, der gefährlich würde, da er zwangsläufig zu einer Annäherung an die Sowjetunion führen müsse.99)

genüber

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen Das besetzte Deutschland besaß keine eigene Staatlichkeit mehr, die Regierungsgewalt ging von den alliierten Besatzungsmächten aus. Politisches Handeln brauchte ihre Zustimmung und war auf sie bezogen. Die Außen- und Deutschlandpolitik der Besatzungsmächte hatte unmittelbare innen- und wirtschaftspolitische Folgen für die Deutschen. Dies betraf besonders die Gewerkschaften, die bei Kriegsende zuerst einmal zum Gegenstand der unterschiedlichen Ordnungskonzepte der Alliierten wurden. Die Spitzen der sich neu organisierenden westdeutschen Arbeiterbewegung begannen daher früh, sich mit den außen- und deutschlandpolitischen Konzepten der Alliierten auseinanderzusetzen und zu versuchen, auf die westlichen Alliierten und ihre Politik einzuwirken.100) Dies um so mehr, als sie ihrem Selbstverständnis nach „die stärkste

98) Jay

Lovestone an Fritz Heine, 17. Dezember 1951, GMMA, RG 18-003, 059/23. Bedenkt man die Rolle, die der SPD-Parteivorstand im folgenden Jahr bei der Abwahl Fettes als DGB-Vorsitzenden und der Wahl Walter Freitags zu seinem Nachfolger spielte, erhält eine solche Beschwerde doch etwas mehr Gewicht, als es zunächst scheinen mag. ") „German communism is no danger but the new wave of nationalism which can only end in a rapprochement with the Russians is the real menace." Irving Brown an Jay Lovestone, 3. März 1949, GMMA, RG 18-003, 011/10. Mitte der 1950er Jahre vertrat auch Henry Rutz diesen Standpunkt: Der kommunistische Einfluß auf einem DGB-Kongreß sei ebenso gleich Null wie auf einer AFL-Convention. Henry Rutz an George Meany, (Bericht über den DGBKongreß in Frankfurt/M. vom 4. bis 10. Oktober 1954), S. 4, GMMA, RG 18-003, 056/18. 10°) Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, S. 18.

212

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

Macht im Deutschland des ,Interregnums' stellten."101) Die Arbeiterbewegung verstand sich als die einzige nicht diskreditierte gesellschaftliche und politische Kraft und damit als Hauptträger der Demokratisierung Deutschlands, obendrein mit einer rasch wachsenden Organisation im Hintergrund, deren Bedeutung als Integrationsfaktor für die Arbeiterschaft nicht hoch genug veranschlagt werden konnte. Die Funktionäre der neuen gewerkschaftlichen Zentralverbände, besonders aber des Deutschen Gewerkschaftsbunds für die Britische Zone (DGB-BZ) unter Hans Böckler und des Freien Gewerkschaftsbundes Hessen unter Willi Richter in Frankfurt,102) sahen sich als die wichtigsten Ansprechpartner für die alliierte Politik in Deutschland. Zumindest aus Sicht der AFL lagen sie damit auch nicht ganz falsch. Sie richteten Kontaktstellen zu den Militärregierungen ein, die sowohl die Interessen der Gewerkschafter gegenüber der Besatzungsmacht vertreten als auch die Rückkehr der Deutschen in die internationale Arbeiterbewegung betreiben sollten. Ihre Politik konzentrierte sich auf die eigenen innen- und wirtschaftspolitischen Interessen, richtete sich jedoch, da keine deutsche Staatlichkeit und Regierung existierte, in erster Linie an die Militärregierungen, aber auch an die Regierungen in Großbritannien und den USA. Dies war keine gewerkschaftliche Außenpolitik, wie sie etwa die AFL betrieb, bestenfalls eine ,Außenpolitik im eigenen Land'. Dennoch lag hier der Beginn einer institutionalisierten Gewerkschaftsaußenpolitik des DGB. Die westdeutschen Gewerkschaften begannen ab etwa 1947, klare außenpolitische Konzeptionen zu entwickeln, die wiederum eng mit den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen des jungen DGB und der anderen Zentralverbände verflochten waren. Ein regelrechtes diplomatisches Korps begann, diese Politik auf der inter- und transnationalen Ebene zu vertreten.103)

101) Gerhard Beier: Zum Einfluß der Gewerkschaften auf die Verfassungs- und Gesellschaftsstruktur in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 5/1974, Heft 1, S. 40-47, Zitat S. 41. Lutz Niethammer bezeichnet diese Einschätzung als „Fehlakzentuierung", die Rolle der Gewerkschaftsbewegung würde von Beier überschätzt. Tatsächlich kann es hier nur um das Selbstverständnis der Gewerkschafter der ersten Stunde gehen. Beier hat dies an anderer Stelle eher deutlich gemacht: Tatsächlich handelt es sich bei dem Zitat um eine Äußerung des DGB-Bundesvorstandsmitglieds Werner Hansen in einem Interview des ZDF 1972, der damit auf den relativ direkten Zugang der westdeutschen Gewerkschafter zu den Militärregierungen ihrer Zonen abhob. Daß sich diese Selbsteinschätzung auf das politische Handeln der Gewerkschaftsfunktionäre auswirkte, steht außer Zweifel. Niethammer: Strukturreform und Wachstumspaket, in: Vetter: Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung, S. 303-358, hier S. 340, Anm. 59; Gerhard Beier: Der Demonstrations- und Generalstreik vom 12. November 1948, im Zusammenhang mit der parlamentarischen Entwicklung Westdeutschlands, Frankfurt/M.-Köln 1975, S. 19. 102) Anne Weiss-Hartmann: Der Freie Gewerkschaftsbund Hessen 1945-1949. Mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth, Marburg 1977, S. 40; Ulrich Borsdorf: Hans Böckler. Arbeit und Leben eines Gewerkschafters von 1875 bis 1945, Köln 1982; Ders.: Weg zur

Einheitsgewerkschaft; Mielke: Die Neugründung der Gewerkschaften; Ders.: Grenzen. 103) Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, bes. Kap. I: Die Genese der außenpolitischen

Konzeption der westdeutschen Gewerkschaften bis zum Jahr 1949, S. 17-62; Ludwig

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

213

Denn da man selbst keinen Einfluß auf die Besatzungsmächte auszuüben in der Lage war, wandte man sich an die dortigen Gewerkschaften, um sich auf diesem Wege Gehör zu verschaffen. Eine Kooperation mit den französischen Gewerkschaften war jedoch zu einem so frühen Zeitpunkt nach Kriegsende noch kaum möglich,104) und auch in Großbritannien erschwerten antideutsche Ressentiments eine Unterstützung der deutschen Arbeiterbewegung. Die Haltung der britischen Gewerkschafter gegenüber ihren deutschen Kollegen war durchweg ablehnend, ungeachtet der prinzipiellen Übereinstimmung beider Arbeiterbewegungen in ihrer Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Der TUC schloß sich der Haltung der britischen Militärregierung an, sprach sich mit aller Schärfe gegen eine deutsche Einheitsgewerkschaft aus und war statt dessen für die Bildung einer kleinen Zahl von Gewerkschaften, „die die völlig selbständige Verantwortung für die betrieblichen Angelegenheiten ihrer Mitglieder haben sollten", wie es eine TUC-Delegation in einem Brief an Böckler zum Ausdruck brachte.105) Wie der CIO zunächst auch, wollte der TUC den Wiederaufbau der deutschen Gewerkschaften zur Sache des Weltgewerkschaftsbunds machen und daneben keine eigenen Initiativen ergreifen.106) Während der CIO ab 1949/50 dann aber doch zu einer eigenen, konstruktiven Deutschlandpolitik überging und für einige Jahre in Westdeutschland präsent war, verzichtete der TUC auf ein solches Engagement in Deutschland. Entsprechend gering war der Einfluß der britischen Gewerkschaften auf die westdeutsche Nachkriegsentwicklung. Auch das Verhältnis zwischen Labour Party und SPD war nicht gut, und es verschlechterte sich im Laufe der Jahre 1945 bis 1949 noch zusehends, bis es um 1950 einen Tiefstand erreichte;107) und dies obwohl viele westdeutsche Gewerkschafts- und Parteifunktionäre, besonders die ehemaligen Angehörigen des englischen Exils, eine entschieden pro-britische Neigung zeigten.108) Denn weder der TUC und die Labour Party noch die WFTU waren bereit bzw. in der Lage, sich in einem ähnlichen Umfang für die Interessen der westdeutschen Arbeiterbewegung einzusetzen wie die Amerikaner.109) Und es Die Westpolitik der deutschen Gewerkschaften, in: Ulrich Borsdorf u.a., Hg.: Gewerkschaftliche Politik: Reform aus Solidarität. Zum 60. Geburtstag von Heinz O. Vetter, Köln 1977, S. 553-566. 104) Niethammer. Strukturreform und Wachstumspaket, S. 326-330. 105) Steininger: England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung, bes. S. 69-87, hier S. 84 f. Vgl. zur Position des TUC auch: Niethammer: Strukturreform und Wachstumspaket, S. 331-334. 106) Steininger: England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung, S. 78 f. 107) Siehe hierzu: James P. Aiöv/William E. Paterson: Die Deutschlandkonzeptionen der britischen Labour Party 1945-1949, in: Claus Sc/tarf/Hans-Jürgen Schröder, Hg.: Politische und ökonomische Stabilisierung Westdeutschlands 1945-1949. Fünf Beiträge zur Deutschlandpolitik der westlichen Alliierten, Wiesbaden 1977, S. 79 f. 108) Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, S. 40. 109) „[Wirkungsvolle Unterstützung blieb sowohl vom TUC als auch vom Weltgewerk-

Rosenberg:

214

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

in der Tat die eigenen Interessen, welche die westdeutschen Gewerkschafter die Nähe zur AFL und zum CIO suchen ließen und die zur Kooperation in den 1950er Jahren führten. So begann in dieser Phase die engere Zusammenarbeit mit den amerikanischen Gewerkschaftsbünden, besonders mit der AFL, die wiederum sehr kritisch gegenüber Labour Party und TUC eingestellt war.110) Transnationale Beziehungsstrukturen zwischen den Arbeiterbewegungen Westdeutschlands und Großbritanniens entwickelten sich dagegen in dieser Phase nicht. Sowohl die Sozialdemokratie als auch die Gewerkschaften beanspruchten nach Kriegsende maßgeblichen Anteil an der Gestaltung der Gesellschaftsordnung. Die Sozialdemokratie verstand sich „als führende politische Kraft in der deutschen Politik",' ' ') die Gewerkschaften sahen sich als maßgeblichen Faktor der gesellschaftlichen Neugestaltung und der zukünftigen Wirtschaftsordnung."2) Die als Einheitsgewerkschaften entstehenden neuen Organisationen erhoben schon früh den Anspruch, „selbst als Akteur gesellschafts-, wirtschafts- und sozialpolitischer Gestaltung aufzutreten, womit sie das Monopol der Parteien auf politische Interessenvertretung im Rahmen staatlicher Institutionen in Frage zu stellen drohten."113) Trotz der im Laufe der Nachkriegsjahre wachsenden Spannungen zwischen Partei und Gewerkschaften um Handlungsspielraum und parteipolitische Neutralität führte doch die zahlenmäßige und politische Dominanz der Sozialdemokraten an der Spitze der westdeutschen Gewerkschaften zu einer deutlichen Nähe ihrer Politik und Programmatik zu derjenigen der SPD.114) waren

schaftsbund aus." Steininger: England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung, S. 87. Zur Haltung der WFTU gegenüber den Deutschen siehe: Lademacher u.a.: Der Weltgewerkschaftsbund im Spannungsfeld des Ost-West-Konflikts, S. 119-215. n0) Irving Brown übte beißende Kritik an den Positionen von TUC und Labour: „There is also here especially amongst many leaders of the Labo[u]r Party the continuation of the capitalist-socialist myth which still regards as the greatest evil the existence of .capitalism' such as we have it in America while, in spite of all the admitted crimes, emphasizes the collective nature of Russia. This kind of oversimplification tends to strengthen the position of the anti-Bevin people." Report, [Irving Brown], Dezember 1946, GMMA, RG 18-003, 011/7. '") Politische Leitsätze der SPD, beschlossen auf dem Parteitag in Hannover am 11. Mai 1946, abgedr. in: Ossip K. Flechtheim, Hg.: Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945, Bd. 3: Programmatik der deutschen Parteien, Zweiter Teil, Berlin 1963, S. 17-23, hier S. 20. 112) Siehe etwa das Protokoll der ersten Gewerkschaftskonferenz der britischen Zone vom 12. bis 14. März 1946 im Katholischen Vereinshaus in Hannover-Linden, O.O., O.J., vgl. Mielke/Rütters: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 9-92, hier S. 35-41. 113) Ebda., S. 32. 114) Ebda., S. 31-35. -

-

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen a.

215

Selbst verständnis und Ziele der SPD

Schon am 15. Juni 1945, in einem Aufruf zum Neuaufbau der Organisation, formulierte der Berliner Zentralausschuß der SPD um Grotewohl den engen Zusammenhang der Ziele Demokratie und Sozialismus. Militarismus und Reste der „faschistischen Gewaltherrschaft" sollten getilgt werden, die Wirtschaft wiederaufgebaut und die nazistische Überorganisation in diesem Bereich abgeschafft werden. Banken, Versicherungen, Großindustrie, Großgrundbesitz sowie ,,arbeitslose[s] Einkommen[.] aus Grund und Boden und Mietshäusern" sollten enteignet und verstaatlicht werden; Rechtsstaatlichkeit sollte eingeführt werden. Ein zentraler Aspekt war zudem die Einheit der Arbeiterbewegung. In diesem Aufruf wurde die Politik der KPD „auf das wärmste" begrüßt, die „die Aufrichtung eines antifaschistischen demokratischen Regimes und einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk" für erforderlich halte. Die organisatorische Einheit der Arbeiterklasse galt hier noch als vorrangiges Ziel auf dem „Weg des deutschen Volkes in eine bessere Zukunft". „Jedes eigensüchtige Parteiengezänk, wie es das politische Schlachtfeld der Weimarer Republik erfüllte, muß im Keime erstickt werden."115) Auch für Kurt Schumacher, der nach der SED-Gründung und dem Wegfall des Berliner Zentralausschusses als Konkurrenz für die Hannoveraner SPDZentrale der unbestrittene Kopf der Sozialdemokratie wurde und dies bis zu seinem Tod am 20. August 1952 auch blieb, waren Sozialismus und Demokratie aufs engste miteinander verbunden.116) Für ihn und seine Anhänger schloß dies jedoch gerade eine einheitliche Arbeiterbewegung unter Einschluß der

115)

Aufruf der SPD

vom

15. Juni

zum

Neuaufbau der Organisation, abgedr. in: Flechtheim:

Dokumente, Bd. 3, S. l^t; Zitate S. 1 f. Am 11. Juni war ein Aufruf der KPD erschienen, in dem sie ihre Leitlinien formulierte, die aber wenig konkret waren. Eine parlamentarisch-demokratische Republik sollte errichtet werden; von der „völlig ungehinderten Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums" war die Rede. Der letzte Punkt wird auch in dem SPD-Aufruf aufgegriffen, der sich im übrigen radikaler gebährded als derjenige der KPD. Vgl. Kiessmann: Doppelte Staatsgründung, S. 136f. 116) Auf der Konferenz von Wennigsen war Schumacher zum politischen Beauftragten der drei westlichen Besatzungszonen bestimmt worden. Zu Schumachers Rolle in der Partei siehe Kaden: Einheit oder Freiheit, S. 97; Susanne Miller: Die SPD vor und nach Godesberg, Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 9. Zu seinen Positionen und zur SPD-Wiedergründung nach 1945 siehe: Klaus Schütz: Die Sozialdemokratie im Nachkiegsdeutschland, in: Lange/ Schulz u.a.: Parteien in der Bundesrepublik. Studien zur Entwicklung der deutschen Parteien bis zur Bundestagswahl 1953, Stuttgart 1955; Fritz Heine: Dr. Kurt Schumacher. Ein demokratischer Sozialist europäischer Prägung, Göttingen 1969; W. Ritter: Kurt Schumacher. Eine Untersuchung seiner politischen Konzeption, Hannover 1964; Theo Pirker Die SPD nach Hitler. Die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschland 1945-1964, München 1965; A. ScholzfW. G. Oschilewski, Hg.: Turmwächter der Demokratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, 3 Bde., Berlin 1952-54; Albrecht: Kurt Schumacher; Edinger: Kurt Schumacher; Merseburger: Schumacher; Grabbe: Unionsparteien, S. 51-57.

216

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

Kommunistischen Partei aus. Am 5. Oktober 1945, zu Beginn der Konferenz von Wennigsen,117) als in der Sowjetischen Besatzungszone Klagen über die Bevorzugung der KPD durch die Militärregierung laut wurden, äußerte Schumacher in einer programmatischen Erklärung, die Einheitspartei der sowjetischen Besatzungszone sei der Versuch, „der sozialdemokratischen Partei eine kommunistische Führung aufzuzwingen. Eine sozialdemokratische Partei unter kommunistischer Führung wäre aber eine kommunistische Partei." Die KPD sei außenpolitisch von Moskau abhängig und damit nicht mehr, wie die Sozialdemokraten, „Vertreter des deutschen arbeitenden Volkes und damit der deutschen Nation." Im Grundsatz bekenne sich die SPD zwar zur Einheitspartei aller Schaffenden, aber diese könne sich „unter den gegebenen Voraussetzungen dieser historischen Epoche" nicht durchsetzen, da die Kommunistische Partei sich weder in Deutschland noch in anderen Ländern nach den Bedürfnissen und Erkenntnissen der Arbeitenden ihres Landes richte.118) Die Fusion von SPD und KPD zur SED im April 1946 bestätigte Schumacher in seinem antikommunistischen Kurs, den er schon von Anfang an vertreten hatte.119) Sozialismus setzte für ihn, und durch die ernüchternde Erfahrung mit der Einheitspartei im Osten schnell auch für die gesamte SPD in den Westzonen, Demokratie und Freiheit voraus und umgekehrt: -

„Jetzt also steht Deutschland zwischen Rußland als dem Land ohne jede bürgerliche Revolution und den Westmächten mit den vollendeten bürgerlichen Revolutionen. Tatsächlich ist für den Teil der Deutschen, [der] den Aufbau der Welt nach den Grundsätzen der Vereinten Nationen betreiben [will], die Entscheidung bereits gefallen. Sie ist nicht östlich und nicht westlich, sondern sie ist europäisch in dem Sinne, daß sie die letzte Quintessenz der bürgerlichen Revolution zum immanenten Bestandteil des bewußten oder unbewußten Denkens der Mehrzahl der Deutschen gemacht hat. [...] Wir müssen aber erkennen, daß die Freiheit des Erkennens und die Freiheit der Kritik wie auch die gesamten Geistesgüter der englischen und französischen Revolutionen und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung seit langem in dem deutschen bürgerlichen Parteiensystem, das zu einer reinen Eigentumsvertretung geworden war, nicht mehr genügend Platz hatten. Ihren einzigen sicheren Hort hatten sie seit Jahrzehnten in der Sozialdemokratie. Das hat dazu geführt, daß ein europäischer und speziell ein deutscher Sozialismus Bestandteile in sich trägt, die, ohne den Marxismus als Methode auch nur im geringsten zu beeinträchtigen, die gesamte Idee des Sozialismus erst lebendig mach[en]. Das ist die Behauptung, daß es als Dauererscheinung keinen Sozialismus ohne Demokratie gibt, die weitere Meinung, daß ein Sozialismus ohne Menschlichkeit nicht denkbar ist, und die abschließende Ansicht, daß ein Sozialismus ohne Geistes-

1 n) Die erste überregionale Nachkriegskonferenz der SPD fand vom 5. bis 7. Oktober statt. Siehe hierzu Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 49-52; Grabbe: Unionsparteien, S. 51. 118) Kurt Schumacher: Programmatische Erklärungen vom 5. Oktober 1945, abgedr. in: Flechtheim: Dokumente, Bd. 3, S. 4-8, hier S. 6-8. 119) Siehe zum Beispiel auch Kurt Schumacher: Konsequenzen deutscher Politik [1945], abgedr. in: Kiessmann: Doppelte Staatsgründung, S. 417-420. Siehe allg.: Bouvier/Schulz: die SPD aber aufgehört hat zu existieren."; Grebing u. a.: Zur Situation der Sozialdemokratie in der SBZ/DDR. „...

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

freiheit in allen ihren Konsequenzen gar kein Sozialismus, sondern nennbare politische oder ökonomische Herrschaftsform ist."120)

nur

eine

217

irgendwie be-

Schumacher wollte Deutschland an die Länder mit erfolgreichen bürgerlichen Revolutionen heranführen.121) Den Deutschen sollten die Ideen der westlichen Revolutionen und der Sozialismus nahegebracht werden. Diese Kopplung ist von zentraler Bedeutung für das politische Denken Schumachers. Die bürgerlichen Revolutionsideale sollten um die sozialistische Komponente ergänzt und dadurch weiterentwickelt werden. Denn die bürgerlichen Parteien hätten die liberalen Kernwerte aufgegeben und seien eine reine Eigentumsvertretung geworden: „Im Kapitalismus ist die Persönlichkeit zur bloßen Fiktion geworden. Wir wollen sie real werden lassen durch die ökonomische Befreiung als die Voraussetzung ihrer Entfaltung."122) Zur politischen sollte daher auch die ökonomische Befreiung der Persönlichkeit treten. Dies ist ein gekonnt dialektischer Umgang mit den beiden progressiven europäischen Traditionen: Der Liberalismus wird seiner marktwirtschaftlichen Fundierung beraubt, sein individualistischer und grundrechtlicher Strang jedoch beibehalten, soweit dies unter Abzug des Privateigentums möglich ist, und der sozialistischen Tradition einverleibt, aus welcher wiederum die kollektivistischen und deterministischen Bestandteile entfernt werden. Auf diese Weise ordnete Schumacher die Sozialdemokratie eindeutig dem ideellen Westen zu, ohne dabei auf den Kernbestand eigener Traditionen verzichten zu müssen. Vor allem die wirtschaftspolitischen Vorstellungen sowie das Denken in den Kategorien des Klassenkampfes waren

120) Kurt Schumacher: Demokratie und Sozialismus zwischen Osten und Westen, in: Ders.: Reden Schriften Korrespondenzen 1945-1952, hg. v. Willy Albrecht, Berlin-Bonn 1985, S. 51-70, hier S. 64; zit. in: Grabbe: Unionsparteien, S. 52. Es handelt sich hierbei um einen Kommentar Schumachers zur Entscheidung führender Sozialdemokraten der britischen Zone vom 3./4. Januar 1946, die Aktionseinheit zwischen dem Berliner Zentralausschuß unter Grotewohl und der KPD nicht zu unterstützen. Das gleiche Argumentationsmuster findet sich auch in den Politischen Leitsätzen der SPD, beschlossen auf dem Parteitag in Hannover am 11. Mai 1946, abgedr. in: Flechtheim: Dokumente, Bd. 3, S. 17-23, hier S. 20: „Es gibt keinen Sozialismus ohne Demokratie, ohne die Freiheit des Erkennens und die Freiheit der Kritik. Es gibt aber auch keinen Sozialismus ohne Menschlichkeit und ohne Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit. Wie der Sozialismus ohne Demokratie nicht möglich ist, so ist umgekehrt die Demokratie im Kapitalismus in steter Gefahr. Auf Grund der besonderen geschichtlichen Gegebenheiten und Eigenarten der geistigen Entwicklung in Deutschland braucht die deutsche Demokratie den Sozialismus. Die deutsche Demokratie muß sozialistisch sein, oder die gegenrevolutionären Kräfte werden sie wieder zerstören." Bekannter ist der Satz Schumachers: „In Deutschland wird die Demokratie sozialistisch sein, oder sie wird nicht sein." (Januar 1946), zit. in: Grabbe: Unionsparteien, S. 54. 121) ,JDie Tradition der Länder der ,alten Demokratie', die fundamentale Erkenntnis, daß die Demokratie das große Spiel auf dem Boden der Gegenseitigkeit und der gleichen Chance ist, fehlt eben in Deutschland." Schumacher: Programmatische Erklärungen vom 5. Oktober 1945, S. 5. 122) Dem geht voraus: „Wir haben die Persönlichkeit nie verneint. Sie ist der wesentliche Bestandteil der Menschheitsrechte, die wir vom Liberalismus übernommen haben [...]." Ebda., S. 7 f. -

-

218

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

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den Weimarer Traditionen der SPD geschuldet. Denn obwohl Schumacher, für den der Marxismus kein Dogma, sondern Methode war, die Entwicklung der SPD zur Volkspartei vorwegnahm, indem er von einem Pluralismus der Motive ausging, die eine Entscheidung für die Sozialdemokratie präjudizierten, und obwohl er sich gegen die „grobklotzige Vereinfachung der Klassenkampfidee, die Formel Klasse gegen Klasse", aussprach, die er für eine „primitive Undifferenziertheit" hielt, so war für ihn dennoch der Klassenkampf „die große gesellschaftliche Tatsache."123) Die klassenpolitischen Auseinandersetzungen müßten sich jedoch angesichts der Zeitumstände Methoden fernhalten und den ganzen Nachdruck auf die Veränderung der Wirtschaft und der Gesellschaft legen und noch stärker als sonst berücksichtigen, daß die Klassen variable und fluktuierende Grenzen haben, in sich aufgespalten sind und von differenzierenden Interessen der einzelnen Teile beherrscht werden."124) „von zerstörenden

Das kapitalistische System bestehe jedoch weiter, ebenso alte und neue besitzende Klassen. Die Klassengrenze und Richtschnur der sozialdemokratischen Politik sei aber nicht „schlechthin die Tatsache des Besitzes an Produktionsmitteln", sondern „die Frage, ob das Eigentum im Sinne der kapitalistischen Ausbeutung angewendet wird oder nicht."125) Wie eng Schumachers Klassenbegriff trotz aller Dynamisierung und soziologischen Öffnung noch an die sozialistische Tradition aus Kaiserreich und Weimarer Republik angebunden war, wird deutlich, wenn man sich den demokratietheoretischen Hintergrund näher ansieht, wie er etwa in folgender Passage zum Ausdruck kommt: „Politische Erkenntnisse sind gewiß stark an die Interessen gebunden. Aufsteigende Klassen überwinden diesen Zustand dadurch, daß ihre Klassenziele mit den Notwendigkeiten der

Nation und den Idealen der Menschheit

übereinstimmen."126)

gibt also von vornherein bestehende Notwendigkeiten einer Nation, die man richtig erkennen und mit denen man in seiner Politik übereinstimmen kann, Es

123) Ebda., S. 4. Zum Pluralismus der Motive siehe ebda., S. 8: „Eine solche Partei muß viele Wohnungen für viele Arten von Menschen haben. Unverzichtbar ist für sie nur der Wille ihrer Mitglieder, Sozialist, Demokrat und Träger der Friedensidee zu sein. Darüber hinaus kann für uns der Wert des Sozialdemokraten nicht durch das Motiv bestimmt werden, aus dem heraus er zu uns gekommen ist. Mag der Geist des Kommunistischen Manifestes oder der Geist der Bergpredigt, mögen die Erkenntnisse rationalistischen oder sonst irgendwelchen philosophischen Denkens ihn bestimmt haben, oder mögen es Motive der Moral sein, für jeden, die Motive seiner Überzeugung und deren Verkündung ist Platz in unserer Partei. Deren geistige Einheit wird dadurch nicht erschüttert." Siehe außerdem: Schumacher. Konsequenzen deutscher Politik, Aufruf, Sommer 1945, in: Ders.: Reden, S. 25-50, hier S. 44. Siehe auch: Grabbe: Unionsparteien, S. 52-57; Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 54-66. Zu Schumachers Gesellschaftsbild siehe auch Schwarz: Vom Reich zur Bundesrepublik, S. 484 f. 124) Schumacher: Programmatische Erklärungen vom 5. Oktober 1945, S. 5. 125) Ebda. 126) Ebda. (Meine Hervorh., J.A.)

219

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

oder eben auch nicht: Der politische Gegner irrt in diesem Fall. Ein solches a priori vorhandenes Gemeinwohl ist einem pluralismustheoretischen Demokratiebegriff dem des liberalen, repräsentativen Parlamentarismus diametral entgegengesetzt, da hier nicht über verschiedene Ansichten mit prinzipiell gleicher Berechtigung verhandelt wird, sondern sich derjenige durchzusetzen versucht, der „recht hat". Es ist deshalb nicht weniger demokratisch, dies sei an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betont, sondern gehört einer anderen Variante der Demokratietheorie an, nämlich einer, die im Gefolge der französischen Aufklärung identitätstheoretische und kollektivistische Merkmale aufweist und von der Basis her und nicht über repräsentative Verfahren funktioniert. Also einer Variante, die dann im Zuge der ideellen Westorientierung der Bundesrepublik an den Rand gedrängt wurde. Im selben Sinne erklärt die SPD in ihren Politischen Leitlinien vom Hannoveraner Parteitag im Mai 1946, sie wolle „nichts sein als eine Partei unter anderen Parteien. Sie will sich aber auszeichnen durch die Richtigkeit ihrer Erkenntnisse, durch die Klarheit ihrer Politik und durch die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen."127) Ebenfalls in Kontinuität zur Weimarer SPD standen die wirtschaftspolitischen Überlegungen der Sozialdemokratie in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sowohl der Aufruf des Berliner Zentralausschusses der SPD vom Juni 1945 als auch die Politischen Leitsätze des Hannoveraner Parteitags vom Mai 1946 erklärten eine sozialistische Wirtschaftsordnung zum Ziel der Sozialdemokratie. Ausführlich wurden die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der SPD in den „Leitsätzen zum Wirtschaftsprogramm der Sozialdemokratischen Partei" behandelt, die Ernst Nölting in der Folge der Konferenz von Wennigsen erarbeitete. Den Leitsätzen ist die Nähe zum Heidelberger Programm anzumerken.128) Das Ziel, „die Umwandlung der bestehenden Marktwirtschaft in eine nach gemeinwirtschaftlichen Gesichtspunkten planmäßig ausgerichtete Versorgungswirtschaft", wird in marxistischer Diktion begründet. So müsse das Klassenmonopol der Ausbeuterschicht gebrochen werden, denn diese sei ein geschworener Feind der Demokratie, „wissend, daß diese letzten Endes zum Arbeiterstaat und zur Vernichtung aller Klassenvorrechte führen muß." Das kapitalistische Unternehmertum und die kapitalistische Eigentumsordnung würden beseitigt werden, da sie ihre wirtschaftlich-gesellschaftliche Bedeutung bereits eingebüßt hätten. „Die Wirtschaftsentwicklung im Übergang zum Spätkapitalismus ist gekennzeichnet durch ein Funktionsloswerden des Eigen-

-

127)

Politische Leitsätze der SPD, beschlossen auf dem Parteitag in Hannover am 11. Mai 1946, abgedr. in: Flechtheim: Dokumente, Bd. 3, S. 17-23, hier S. 23. (Meine Hervorh., J.A.) 128) Leitsätze zum Wirtschaftsprogramm-Entwurf der SPD von 1945, abgedr. in: Flechtheim: Dokumente, Bd. 3, S. 9-13. Die Leitsätze sind hier fälschlicherweise Kurt Schuma-

zugeschrieben, vgl. Grabbe: Unionsparteien, S. 54f. Vgl. auch Klotzbach: Weg Staatspartei, S. 62. Ernst Nölting ist der Bruder des SPD-Ökonomen Erik Nölting.

cher

zur

220

III. AFL/CIO und die westdeutsche

turns."129) chung

von

Arbeiterbewegung

1945-52

Es sei daher nun an der Zeit für die Sozialisierung und VerstaatliGroßindustrie und Großfinanz und für die Aufsiedlung des Groß-

grundbesitzes.130)

Die SPD unterschied sich in diesen Forderungen wenig von denen anderer deutscher Parteien in der frühen Nachkriegsgesellschaft. Die kapitalistische Wirtschaftsform hatte sich in den Augen vieler vollständig diskreditiert. Es geht daher keineswegs darum, nachzuweisen, daJ3 die SPD für Sozialisierung eintrat. Uns interessiert vielmehr der Modus, in dem die neue Wirtschaftsordnung geführt werden sollte, sowie die deutliche Kontinuität zu Weimarer Denken, denn dies macht einerseits das ordnungspolitische Denken der Sozialdemokratie jener Tage deutlich und zeigt andererseits die Dimension des programmatischen Wandels, den die Partei zwischen Mitte der 1940er und Ende der 1950er Jahre durchlaufen hat. Die neue, „vollkommenere Produktionsordnung" sollte „eine von oben gesteuerte Wirtschaftsführung" sein, die durch planmäßige Vereinheitlichung und Ausrichtung auf das Gemeinwohl „zu einer höheren, die Versorgungsbedürfnisse der Gesamtheit besser befriedigenden Wirtschaftsweise" aktiviert und dazu „schrittweise auf den Dienst an der Volksgesamtheit umgestellt werden" sollte. Diese Bestrebungen bezeichnet Nölting als Wirtschaftsdemokratie. „Wirtschaftsdemokratie ist nicht mehr reiner Kapitalismus und noch nicht sozialistische Wirtschaft, sie ist Zwischenland zwischen Kapitalismus und Sozialismus, Vorstufe der Sozialisierung und ihr Wegbereiter." Diese Entwicklung sollte durch zunehmenden Einfluß der Arbeiterorganisationen, d.h. durch „Demokratisierung der die Wirtschaftsführung repräsentierenden Organe" einerseits, und durch „Ausdehnung der staatlichen Kontrollfunktion über die Wirtschaft" andererseits vorangebracht werden.131) Dieser doppelte Aspekt der Mitbestimmung des Volkes: „Über den Staat auf Grund des allgemeinen Wahlrechts, sodann über die Zugehörigkeit zu einer Organisation, die berufen ist, an der Wirtschaftsführung mitzuwirken",132) gibt zugleich die in diesem Modell geplante Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften vor. Ein zentraler Aspekt, der hier deutlich wird, ist die dem Staat zugedachte ordnungspolitische Rolle. Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft habe sich deutlich verändert, die Staatstätigkeit nehme allgemein zu.

129) Leitsätze zum Wirtschaftsprogramm-Entwurf der SPD von 1945, S. 9f. 13°) Ebda., S. 11. Die zur Sozialisierung „reifen" Industriezweige werden auch an anderen Stellen, etwa in den Politischen Leitsätzen, aufgezählt: „Die Sozialisierung hat zu beginnen bei den Bodenschätzen und den Grundstoffindustrien. Alle Betriebe des Bergbaus, der Eisen- und Stahlerzeugung und -bearbeitung bis zum Halbzeug, der größte Teil der chemischen Industrie und die synthetischen Industrien, die Großbetriebe überhaupt, jede Form der Versorgungswirtschaft und alle Teile der verarbeitenden Industrie, die zur Großunternehmung drängen, sind in das Eigentum der Allgemeinheit zu überführen." Politische Leitsätze der SPD, beschlossen auf dem Parteitag in Hannover am 11. Mai 1946, S. 18. 131) Leitsätze zum Wirtschaftsprogramm-Entwurf der SPD von 1945, S. 11. Ein Konzept, das Hans-Jürgen Grabbe treffend als „vage" beschreibt: Grabbe: Unionsparteien, S. 55 132) Leitsätze zum Wirtschaftsprogramm-Entwurf der SPD von 1945, S. 11.

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

221

„Der Spannrahmen der staatlichen Zuständigkeit erweitert sich ständig und der Staat ge-

gewaltigem Maße an Wirtschaftsschwere. Wirtschaftspolitik ist ein Teil der Regierungspolitik geworden. Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik und Staatspolitik dringen ununterscheidbar ineinander. Der Staat ist die entscheidende Wirtschaftstatsache der Gegenwart, und von der Kräfteverteilung im Staat hängt die Gestaltung der Wirtschaft grundlegend ab."133) winnt in

Da in der Demokratie den breiten Massen die Macht im Staat zufalle, werde der Staat „aus einem Instrument der Unterdrückung zu einem Instrument sozialer Wirtschaftsgestaltung und allgemeiner Wohlfahrtsförderung." Der demokratische Staat stehe nun gegen die kapitalistische Wirtschaft: Staat und Arbeit gegen Kapital. „Der Weg der Wirtschaftseroberung führt über die zuvor erfolgte Eroberung des Staates."134) Ähnlich, wenn auch klarer gefaßt war die Konzeption, die Viktor Agartz, der wirtschaftspolitische Berater Schumachers, auf dem Hannoveraner Parteitag im Mai 1946 darlegte.135) Auch hier prägen Planung und Sozialisierungsmaßnahmen das Bild. Nölting wie Agartz betonen, daß Handwerk, Kleinhandel und Landwirtschaft, mit Ausnahme des Großgrundbesitzes, von der Sozialisierung ausgenommen werden sollten.136) In Nöltings Leitsätzen wird argumentiert, Handel, Handwerk und Bauerntum litten nicht anders als die Arbeiter unter der „durch die kapitalistische Ausbeutung erzwungenen Minderkonsumfähigkeit". Der Gegenentwurf für die Zukunft, den die Leitsätze zeichnen, verspricht: „Ein breiter Wohlfahrtsstrom wird auch die Fluren des Handwerks und der bäuerlichen Wirtschaften befruchten, wenn an die Stelle der kapitalistischen Unterkonsumption infolge kapitalistischer Arbeiterausbeutung der sozialistische Reichtum getreten ist."137)

Nöltings Leitsätzen läßt sich der fundamentale Unterschied in den wirtschaftspolitischen Vorstellungen des Konsenskapitalismus und der traditionellen Sozialdemokratie gut darlegen. Letztere wollte allgemeinen Wohlstand erreichen durch Wohlfahrt, Versorgungswirtschaft und staatliche Lenkung mit in die Wirtschaftsführung eingebundenen Gewerkschaften. Ersterer strebte breit An

gestreuten Wohlstand

133) Ebda., S. 9. 134) Ebda. 135) Viktor Agartz:

an

durch Produktivität und Wachstum

Sozialistische

Wirtschaftspolitik.

Referat auf dem

aus

Marktwirt-

Parteitag der SPD in

Hannover, Mai 1946, abgedr. in: Ernst-Ulrich Huster: Determinanten der westdeutschen Restauration 1945-1949, Frankfurt/M. 1972, S. 370-382; zit. in: Grabbe: Unionsparteien,

S. 55. Zu Agartz siehe: Wolfgang Schroeder: Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus. Oswald von Nell-Breuning, Viktor Agartz und der Frankfurter DGB-Kongreß 1954, in: VfZ, Heft 2,39/1991, S. 179-220, bes. S. 190-193; Hans Willi Weinzen: Gewerkschaften und Sozialismus. Naphtalis Wirtschaftsdemokratie und Agartz' Wirtschaftsneuordnung, Frankfurt/ M.-New York 1982; Susanne Krämer: Viktor Agartz: Vom Cheftheoretiker zur „Persona non grata", in: GMH, 5/1995, S. 310-316. 136) Agartz: Sozialistische Wirtschaftspolitik, S. 374; Leitsätze zum WirtschaftsprogrammEntwurf der SPD von 1945, S. 10. 137) Leitsätze zum Wirtschaftsprogramm-Entwurf der SPD von 1945, S. 12.

222

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung 1945-52

schaft in Kombination mit Umverteilung durch starke und unabhängige Gewerkschaften in privatrechtlich bzw. voluntaristisch organisierten Arbeitsbeziehungen. Nölting und Agartz hatten großen Einfluß auf das wirtschaftspolitische Denken Schumachers, der selbst über keine ausgeprägten wirtschaftlichen Kenntnisse verfügte. Dennoch ließ die SPD Begriffe wie „Ausbeuterschicht" bald fallen und gab die dogmatisch marxistische Diktion in ihren politischen Äußerungen auf. Schumacher und die SPD begründeten die Notwendigkeit von Sozialisierung jedoch nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der praktischen, materiellen Ebene. Deutschland sei einfach zu arm, um Unternehmergewinne zahlen zu können, weswegen hier, anders als in den USA, ein Nebeneinander von Demokratie und Kapitalismus nicht möglich sei.138) Diese Argumentationsweise war zweifellos an die Besatzungsmacht adressiert, zeigt aber zugleich, daß Schumacher, wie auch die überwiegende Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie, die Grundannahme der amerikanischen Gesellschaftsordnung jener Tage nicht teilte, daß nämlich Wohlstand erst durch Wachstum in der freien Wirtschaft erzielt werde und Voraussetzung für eine stabile Demokratie sei. Sozialisierung, zentrale Planung und Lenkung der Wirtschaft waren und blieben für ihn und die Mehrheit seiner Partei die Grundvoraussetzungen einer demokratischen Gesellschaftsordnung in (Gesamt-)Deutschland. Diese Gesellschaftsordnung sollte aber eben die liberalen Ideale der westlichen Revolutionen und ihren politischen Demokratiebegriff mit der sozialistischen Vorstellung von wirtschaftlicher Demokratie verbinden und so zu einer neuen, wahrhaft demokratischen Gesellschaftsform führen. Dieser Dritte Weg' zwischen Kapitalismus und Kommunismus, die Verbindung von Sozialismus, Demokratie und Freiheit hatte auch politisch-geographische Dimensionen. Die SPD trat ausdrücklich für die Integration des neuen Deutschland „in die neue internationale Organisation der Völker" ein. Auf dem Parteitag von Hannover wurde erklärt: ,

„Die deutsche Sozialdemokratie erstrebt die Vereinigten Staaten von Europa, eine demokratische und sozialistische Föderation europäischer Staaten. Sie will ein sozialistisches Deutschland in einem sozialistischen Europa."139)

Dieses demokratisch-sozialistische Europa sollte die „Dritte Kraft" zwischen Ost und West bilden, zwischen den Blöcken ebenso wie zwischen den Ordnungssystemen. Nur in einem solchermaßen vereinten und von den antagonistischen Blöcken unabhängigen Europa war auch ein vereinigtes und demokratisch-sozialistisches Deutschland denkbar.140) Deutschland brauche die wirt-

138) Grabbe: Unionsparteien, S. 54; ebenso in: Politische Leitsätze der SPD, beschlossen auf dem Parteitag in Hannover am 11. Mai 1946, S. 18. 139) Politische Leitsätze der SPD, beschlossen auf dem Parteitag in Hannover am 11. Mai 1946, S. 22 f.; vgl. Grabbe: Unionsparteien, S. 56. 140) Zum Thema Deutschlandpolitik und Europakonzeptionen der SPD siehe nach wie vor

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

223

schaftliche, soziale und politische Hilfe der demokratischen Nationen, und nur

mit deren Unterstützung würde es als gleichberechtigter und souveräner Partin die internationale Gemeinschaft zurückkehren können. Hierbei und bei seinem Versuch, westlich-liberale Werte in Deutschland einzuführen, erhoffte sich Schumacher Unterstützung vor allem von den USA und Großbritannien. Die Labour Party als sozialistische Schwesterorganisation an der Regierung würde, so die Überlegung, dem Vorhaben der SPD Beistand leisten, ebenso die USA, in denen Roosevelt das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit nachhaltig verändert habe. Schließlich habe der New Deal mehr als Tagesplanung bedeutet, er sei die Verbindung von Kapitalismus und Planwirtschaft. ner

„Die Annahme, daß der ,New Deal' dem Sozialismus sozialdemokratischer Prägung eng

verwandt sei und daß sich daraus ein positives Verhältnis zwischen Truman-Administration und den deutschen Sozialdemokraten ergeben müsse, war in den ersten Nachkriegsjahren in der SPD weit verbreitet."141)

Diese

Hoffnungen, bezieht man sich auf die Regierungen beider Länder, und die Labour Party anbelangte, waren in der Tat nicht lange aufrechtauch, zuerhalten. Dennoch fand sich tatsächlich Unterstützung aus den USA, nämwas

lich aus der Arbeiterbewegung. Vor allem die AFL unterstützte Schumacher bis zu seinem Tode vorbehaltlos. Seine Orientierung auf westliche Werte, seine Option für die parlamentarische Demokratie und sein militanter Antikommunismus ebenso wie sein Streben nach westeuropäischer Integration unter deutscher Beteiligung ließen ihn und seine engsten Mitarbeiter zu den idealen Ansprechpartnern der amerikanischen Gewerkschaftsbünde in Deutschland werden. Bevor aber auf die Kooperation beider Arbeiterbewegungen näher eingegangen wird, müssen an dieser Stelle noch die Ziele und die Politik der westdeutschen Gewerkschaften erläutert werden, insofern sie als Motivation für die Kooperation mit der amerikanischen Arbeiterbewegung von Bedeutung sind. b. Selbstverständnis und Ziele der westdeutschen

Gewerkschaften Besatzungszonen als politische Einheitsgewerkschaften organisiert waren, hatten sie sich selbst zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet. Man wollte die neu entstandene Einheitsgewerkschaft nicht gefährden auch wenn die Auseinandersetzung mit den kommuniDa die Gewerkschaften in den westlichen

stischen Gewerkschaftern durch die Diskussion -

um

die Annahme des Mar-

shallplans schnell an Schärfe gewann und die Differenzen bald unüberbrückbar Rudolf Hrbek: Die SPD Deutschland und Europa. Die Haltung der Sozialdemokratie zum Verhältnis von Deutschland-Politik und West-Integration (1945-1957), Bonn 1972. 141) Grabbe: Unionsparteien, S. 53. Grabbe bezieht sich hier auf eine Rede Schumachers auf der Gründungsversammlung des Ortsvereins Hannover der SPD am 6. Mai 1945, abgedr. in: Kurt Schumacher/Erich OllenhauerfWilly Brandt: Der Auftrag des demokratischen Sozialismus, Bonn-Bad Godesberg 1972, S. 3-38, hier S. 33. -

224

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

nur noch in einem labilen Kompromiß zwischen christlichen und sozialdemokratischen Gewerkschaftern bestand. Die Gewerkschaften verstanden sich als ,,größte[.] demokratische Massenorganisation im deutschen Volk"142) und erhoben offen Anspruch, „selbst als Akteur gesellschafts-, wirtschafts- und sozialpolitischer Gestaltung aufzutreten".143) Dies kollidierte mit dem Verständnis der SPD als politischer Vertretung der Arbeiterschaft und führte zu Spannungen. Bei aller Konkurrenz um das politische Mandat bestand aber weitgehend Einigkeit über die Grundlagen der gewollten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, ebenso wie bei den außenpolitischen Zielen. Dies lag zum einen daran, daß sozialdemokratische Funktionäre die Gewerkschaftsspitzen dominierten, und zum anderen an einem weiten, parteiübergreifenden Konsens der demokratischen Kräfte im frühen Nachkriegsdeutschland, der von der Notwendigkeit einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuordnung ausging.

wurden, die Einheit bald

Die deutschen Gewerkschafter waren nach Kriegsende überzeugt, daß „die kaWirtschaft in ihrer Gesamtheit zusammengebrochen" und eine neue Wirtschaftsverfassung" vonnöten sei.144) Ihr erklärtes Ziel war eine sozialistische Wirtschaftsordnung, und auf dem Weg dorthin sollten die Gewerkschaften eine maßgebliche Rolle spielen.145) Die Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik sei, daß politische Demokratie allein nicht ausreiche. Sie müsse durch die Demokratisierung der Wirtschaft ergänzt werden.146) Auch das gewerkschaftliche Konzept der Wirtschaftsdemokratie griff

pitalistische „vollständig

142) Entschließung des 1. Kongresses des Bayerischen Gewerkschafts-Bundes zur Neuordnung der Wirtschaft vom 28. März 1947, abgedr. in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 779-781, hier S. 780. !43) Mielke/Rütters: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 9-92, hier S. 32. 144) Potthoff, in: Protokoll der Gewerkschaftskonferenz der britischen Zone vom 21. bis 23. August 1946 in Bielefeld, Bielefeld, o.J., S. 10, zit. in: Mielke/Rütters: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 9-92, hier S. 36. Vgl. etwa auch die Aussage Hans Böcklers auf dem ersten Zonentreffen von Gewerkschaftern der britischen Zone: „Der Kapitalismus liegt in seinen letzten Zügen." Protokoll der ersten Gewerkschaftskonferenz der britischen Zone vom 12. bis 14. März 1946 im Katholischen Vereinshaus in Hannover-Linden, o.O., o.J., S. 18, zit. in: Schmidt: Verhinderte Neuordnung, S. 68. 145) „Allergrößter Einfluß der Gewerkschaften auf die Wirtschaft muß sein." Hans Böckler, in: Protokoll der ersten Gewerkschaftskonferenz, S. 19, zit. in: Schmidt: Verhinderte Neuordnung, S. 68. 146) Mielke/Rütters: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 9-92, hier S. 36; siehe außerdem: Entschließung der Gewerkschaftskonferenz der britischen Zone zur Beseitigung der Monopole vom 21. August 1946, abgedr. in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 726f; Stellungnahme der Gewerkschaften der britischen Besatzungszone zur Wirtschaftsdemokratie, abgedr. in: Ebda, S. 729-737; Wirtschaftspolitische Grundsätze der Gewerkschaften, Entwurf Ludwig Rosenbergs, abgedr. in: Ebda. S. 804-808.

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

225

stark auf programmatische Vorgaben der Weimarer Zeit zurück. Trotz der Neuansätze, die im Exil für eine deutsche Nachkriegsordnung erarbeitet worden waren, blieben die ehemaligen ADGB-Funktionäre, die ja das Personal der ersten Stunde stellten, den Weimarer Traditionen verhaftet. Vor allem Naphtalis und Hilferdings Konzepte prägten die 1946 formulierten Entwürfe zur Wirtschaftsdemokratie,147) wie sie vor allem vom DGB-BZ vorgelegt und in den Gewerkschaftsbünden der Westzonen auch als verbindliche programmatische Richtschnur durchgesetzt wurden, bis sie in die Münchener Grundsätze des im Oktober 1949 gegründeten DGB Eingang fanden.148) Die anfänglichen Meinungsverschiedenheiten, wie sie etwa zwischen den Gewerkschaftsbünden der britischen und denen der amerikanischen Zone um die Gewichtung einzelner Ziele bestanden, wurden dabei zugunsten eines Kompromisses beigelegt, der auch christliche und kommunistische Gewerkschafter einbezog.149) Die Wirtschaftsdemokratie beruhte nach diesen Konzepten auf drei Grundlagen: Sozialisierung der Schlüsselindustrien, staatliche Rahmenplanung und Mitbestimmung der organisierten Arbeitnehmerschaft. Der Bergbau, die Eisen und Stahl erzeugende Industrie, die chemische Industrie und die Energiewirtschaft sollten in Gemeineigentum überführt und dann durch Selbstverwaltungsorgane betrieben werden. In diesen Selbstverwaltungskörperschaften

147) Weinzen: Gewerkschaften und Sozialismus; vgl. Schmidt: Verhinderte Neuordnung, S. 66f. Zum Konzept der Wirtschaftsdemokratie des ADGB vgl. Naphtali: Wirtschaftsdemokratie; Michael Schneider: Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB. Zur gewerkschaftlichen Politik in der Endphase der Weimarer Republik, Bonn 1975. Zu Hilferdings Konzeptionen vgl. Euchner: Sozialdemokratie und Demokratie. 148) Der DGB-BZ wirkte als „konzeptioneller Vorreiter": Schönhoven: Deutsche Gewerkschaften, S. 209. Für die Entwürfe im einzelnen siehe beispielsweise: Wirtschaftspolitische Grundsätze der Gewerkschaften. Entwurf L. Rosenberg, vom 4. 9. 1948, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 804-808; Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes (BBZ) zur wirtschaftlichen Neuordnung der Grundstoffindustrie vom 28V29. August 1947, in: Ebda., S. 801-803, sowie insgesamt die Dokumente in: Ebda., S. 707-833. Die Wirtschaftspolitischen Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes vom Oktober 1949 sind abgedr. in: Ebda., S. 822-830, ebenso in: Schneider. Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S. 457^162; für die Münchener Grundsätze insgesamt siehe: Protokoll, Gründungskongreß des deutschen Gewerkschaftsbundes für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. München, Kongreßsaal des Deutschen Museums, 12„ 13. und 14. Oktober 1949, Düsseldorf 1950, S. 318-326. Siehe allgemein zu den wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen der Gewerkschaften: Siegfried Mielke: Organisationsprobleme und Neuordnungskonzeption der Gewerkschaften in den westlichen Besatzungszonen (1945 bis 1949), in: Matthias/Schönhoven: Solidarität und Menschenwürde, S. 307-323, hier S. 316-322; Mielke/Rütters: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 35-41. Zu den Münchener Grundsätzen siehe: Hans-Otto Hemmer: Stationen gewerkschaftlicher Programmatik. Zu den Grundsatzprogrammen des DGB und ihrer Vorgeschichte, in: Matthias/Schönhoven: Solidarität und Menschenwürde, S. 349-367, hier S. 350-357; Detlef Hensche: Grundsatzprogramm und Wirtschaftsordnung. Zur gewerkschaftlichen Programmatik seit 1945, in: GMH, 27/1976, S. 688-696, hier S. 689 f. 149) vgl. etwa Schönhoven: Die deutschen Gewerkschaften, S. 209f.

226

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

sollten die Gewerkschaften eine zentrale Rolle spielen. Außer bei den Banken jedoch keine Verstaatlichung vorgesehen, sondern ein Modell, in dem der Staat zwar Eigentümer war und die Gesamtplanung und Lenkung der Wirtschaft verantworten sollte, wobei dem Parlament die Kontrolle oblag, aber die Führung der finanziell selbständigen Unternehmen den Selbstverwaltungskörperschaften überlassen sein sollte. Die Trennung zwischen (in heutiger Diktion) Management und Eigentümer sei, so das Argument der Gewerkschafter, durch die Entwicklung des Kapitalismus hin zu Monopolen und Kartellen bereits vor dem Krieg vorweggenommen worden.150) Der Staat dürfe, dies war eine Lehre, die man aus dem Nationalsozialismus zog, nicht mit umfassender Macht über die Wirtschaft ausgestattet werden. Anders als in den wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen der Weimarer Zeit sollte die Mitbestimmung diesmal jedoch nicht nur auf überbetrieblicher, sondern auch auf betrieblicher Ebene verankert sein. Die noch aus der Revolution von 1918/19 stammende Gegnerschaft zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten wurde angesichts des zunächst von den Betrieben ausgehenden Neuaufbaus der Arbeiterbewegung und unter dem Druck alliierter Politik aufgegeben.151) In der Rolle, welche die Gewerkschaften dem Staat in der neuen Wirtschaftsordnung zuwiesen, lag der Hauptunterschied zu den Konzeptionen der Sozialdemokratie, welche ja auf die Eroberung der politischen Macht mittels Stimmzettel setzte, und dann eine Regierung stellen wollte, die die Wirtschaft lenken sollte. Die Gewerkschafter betonten dagegen stärker die Unabhängigkeit der Einzelunternehmen vom Staat, der obwohl formal Eigentümer seinen Einfluß vor allem über die volkswirtschaftliche Rahmenplanung und die Lenkung der Gesamtwirtschaft ausüben sollte. Diese Diskussionen zur wirtschaftlichen Neuordnung sind den inneramerikanischen Debatten um die industrial democracy in den frühen 1940er Jahren nicht unähnlich. Besonders die Konzepte des Reuther-Flügels im CIO dürften den westdeutschen Gewerkschaftern der Jahre 1945-1948 nicht sonderlich fremd vorgekommen sein. Gewerkschaften als wichtige und aktive Partner in der Unternehmensführung, staatliche Rahmenplanung und Investitionslenkung und der Staat bzw. die Regierung als Wettbewerber in der Wirtschaft dies waren Aspekte, in denen sich durchaus Berührungspunkte finden ließen. Völlig verschieden waren jedoch war

-

-

-

150) Vgl.

Beispiel: Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes (BBZ) zur wirtNeuordnung der Grundstoffindustrie vom 28729. August 1947, abgedr. in:

zum

schaftlichen

zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 801-803. Siehe hierzu außerdem: Mielke/Rütters: Einleitung zu: Ebda., S. 9-92, hier S. 35^H, sowie die Dokumente Nr. 251, 254, 262, 264, 266 und 271. Vgl. auch: Schmidt: Verhinderte Neuordnung, bes. S. 9-103. 151) Zum Verhältnis zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften siehe: Christoph Kiessmann: Betriebsräte und Gewerkschaften in Deutschland 1945-1952, in: Winkler: Politische Weichenstellungen, S. 44-73; Mielke/Rütters: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 9-92, hier S. 21-26.

Quellen

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

227

die Grundannahmen über Punkte wie das Eigentumsrecht und die Rolle des Wachstums in der Wirtschaft. Schon bald aber schwanden die Hoffnungen der Gewerkschafter auf eine sozialistische Wirtschaftsordnung in Westdeutschland. Zunächst hatte der Marshallplan mit seinen immanenten ordnungspolitischen Weichenstellungen eine Entscheidung zwischen wirtschaftlicher Wiederaufbauhilfe und sozialistischer Neuordnung verlangt. Seit Juni 1948, als die Währungsreform ohne vorherige Information geschweige denn Konsultation der Gewerkschaften durchgeführt wurde, bestand praktisch kein Spielraum mehr für ihre Neuordnungspläne. Mit dem Marshallplan, der Währungsreform und dem Ergebnis der ersten Bundestagswahlen waren Weichenstellungen erfolgt, die eine Umsetzung der wirtschaftsdemokratischen Ziele der Gewerkschaften schließlich unmöglich machten. Die Akzeptanz des amerikanischen Hilfsprogramms durch die westdeutschen Gewerkschaften und ihre Politik in den darauffolgenden Jahren hat zahlreiche Gewerkschaftshistoriker und Politikwissenschaftler zu massiver Kritik veranlaßt.152) Die Gewerkschaftsführung habe ihre Neuordnungsziele zu kampflos aufgegeben, ihre eigene Macht unterschätzt und sich zuwenig auf die Betriebe gestützt. Die Funktionäre hätten „Arbeitsgemeinschaftspolitik mit Besatzungsmächten und Unternehmerschaft"153) betrieben und aus Angst vor kommunistisch gelenkten Massenaufständen auf eine Mobilisierung der Basis verzichtet und somit die Arbeiterklasse entpolitisiert. Das nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus entstandene Machtvakuum sei nicht genutzt, eine historische Chance vertan worden. Diese Vorwürfe greifen jedoch zu kurz. Sie bemühen die „alte gewerkschaftsgeschichtliche Denkfigur von der reformistischen Genügsamkeit der Führungsgruppen und der radikalen Aktionsbereitschaft der Arbeitermassen",154) die so nicht haltbar ist. Zudem wird das Potential der gewerkschaftlichen Gestaltungsmacht schlicht überschätzt. Denn diese war in der unmittelbaren Nachkriegszeit stark eingeschränkt. Der verzögerte organisatorische Aufbau, das nur sehr langsam wieder anlaufende und Restriktionen unterworfene

152) Siehe u.a.: Schmidt: Verhinderte Neuordnung; Pirker: Blinde Macht; Huster: Determider westdeutschen Restauration; Ute Sc/im¡cfc/Tilman Fichter: Der erzwungene Kapitalismus. Klassenkämpfe in den Westzonen 1945-1948, Berlin 1971; Schmidt: Ordnungsfaktor oder Gegenmacht; Gerhard Beier: Volksstaat und Sozialstaat. Der Gründungskongreß des DGB in München 1949 und Hans Böcklers Beitrag zur Stellung der Gewerkschaften in Gesellschaft und Staat, in: Heinz Oskar Vetter, Hg.: Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler, Köln 1975, S. 359-397; Bernd Otto: Der Kampf um die Mitbestimmung in: Vetter: Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung, S. 399-426; Joachim Bergmann/Otto JacobiPNallriex Müller-Jentsch: Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Gewerkschaftliche Lohnpolitik zwischen Mitgliederinteressen und ökonomischen Systemzwängen, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1976. 153) Frank Deppe u.a.. Kritik der Mitbestimmung. Partnerschaft oder Klassenkampf?, nanten

Frankfurt/M. 1969, S. 80, zit. in: Schönhoven: Deutsche Gewerkschaften, S. 207. 154) Schönhoven: Deutsche Gewerkschaften, S. 208.

228

III. AFL/CIO und die westdeutsche Arbeiterbewegung 1945-52

Wirtschaftsleben, die ganz unmittelbaren sozialen Probleme des Hungers und der Wohnungsnot führten trotz der Blockade der Tarifpolitik, des chen Betätigungsfelds der Gewerkschaften, durch den Lohnstop -

„permanenten Problemüberlastung". Zudem war es schwierig,

eigentlizu

einer

-

„abgesehen von

der Militärregierung, entscheidungsrelevante Adressaten für ihre Politik zu finden." Denn auch die politischen Institutionen und die Verwaltung entstanden erst mit einiger Verzögerung wieder, und zunächst vornehmlich auf lokaler Ebene.155) Aber auch die internen Spannungen, die die neue Einheitsgewerkschaft bald zu belasten begannen, machten forsches politisches Auftreten schwierig. Diese Spannungen liefen jedoch nicht nur entlang der parteipolitischen Konfliktlinien. Denn tatsächlich, und dies ist ein zentrales Argument gegen die Sichtweise der „Restaurationsliteratur", bestand nicht wirklich ein Konsens über Form und Ausmaß der Neuordnung in Deutschland weder in der Gesellschaft insgesamt, noch in den Gewerkschaften, auch nicht an der Basis.156) Bei aller scheinbaren Einhelligkeit waren die Konzepte der Gewerkschafter tatsächlich recht unterschiedlich, führten teils Weimarer Traditionen fort, teils folgten sie den wiederum vielfältigen Konzepten aus Widerstand und Exil. Die ganze Bandbreite an Neuordnungskonzepten und gesellschafts- bzw. wirtschaftspolitischen Vorstellungen mußte bis 1949, als gemeinsame „Grundsätze" verbindlich festgeschrieben wurden, auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Dies gelang jedoch nur oberflächlich.157) So kam es schon von Anfang an zu Flügelbildungen innerhalb der westdeutschen Gewerkschaften und eben auch unter den sozialdemokratischen Gewerkschaftern. Dies wirft die Frage auf, ob der viel beklagte Mangel an Kampfgeist bei der Gewerkschaftselite wirklich nur durch den eingeschränkten Handlungsspielraum und die Übermacht der äußeren Umstände erklärt werden kann, wie dies die Verteidiger des DGB und seiner Vbrläuferorganisationen tun.158) Oder kam nicht doch noch der Faktor hinzu, daß ein ansehnlicher Teil der Gewerkschafter nicht recht hinter den wirtschaftsdemokratischen Zielsetzungen stand? Dies führt zwar wieder zurück zum revisionistischen Argument von den reformistischen Eliten, will aber zu einer deutlich anderen Bewertung kommen als die Restaurationsliteratur der 1970er Jahre. Denn diese „reformistischen" Gewerkschaftsfunktionäre hatten durchaus Reformen im Sinn und vertraten ihre Politik auch selbstbewußt. Nur war ihr Ziel nicht mehr das der 1920er Jahre, -

l55) Mielke/Rütters: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 7, S. 19. 15fi) Ebda., S. 10-12. 157) Ebda., S. 10. 158) Arno Klönne/H. Reese: Die deutsche Gewerkschaftsbewegung, Hamburg 1984, S. 191; Christoph Klessmann/P. Friedemann: Streiks und Hungermärsche im Ruhrgebiet 1946 bis 1948, Frankfurt/M. 1977, S. 13; Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 146. Vgl. auch die

differenzierte Position bei: Hirsch: Die öffentlichen Funktionen der Gewerkschaften; und Hirsch-Weber: Gewerkschaften in der Politik.

229

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

und ihr Selbstverständnis als Vertreter der Arbeiterbewegung war durch die Erfahrungen in Illegalität und Exil ein anderes geworden als das seit dem Kaiserreich in Deutschland tradierte. Sie haben sich mit ihren Vorstellungen schließlich auch durchgesetzt, haben einen gesellschaftlichen Wandel in Westdeutschland herbeiführen helfen, der in seiner Tragweite gar nicht zu überschätzen ist. Allerdings war dies kein Wandel hin zu einer sozialistischen Gesellschaft. In der Tat stellt die Frage „kapitalistische Restauration oder demokratischer Neubeginn" eine falsche Alternative dar.159) Es entstand ein liberal-demokratisches System „- zunehmend mit sozialdemokratischen Zügen".160) Daß Kapitalismus und Demokratie kompatibel seien, dies ist der Kernpunkt, für den die amerikanischen Gewerkschaften bei ihren europäischen Kollegen warben, und es ist die Quintessenz jenes programmatischen Entwicklungsprozesses, den die westdeutschen Gewerkschaften während der 1950er Jahre durchliefen. Träger dieses Wandels waren, nicht zuletzt, westdeutsche Gewerkschafter. Und dies nicht aus mangelnder Courage oder aus Bequemlichkeit, sondern aus Überzeugung und durch aktive Politik. Die wirtschaftsdemokratischen Ziele der deutschen Gewerkschaften waren „im Prinzip nicht auf Deutschland begrenzt, sondern auch auf die europäische Bewegung und die Internationale ausgelegt."161) Schon die Konzepte, die das Exil entwickelte, bezogen die europäische Ebene mit ein.162) Das gewerkschaftliche Ziel einer europäischen Friedens- und Wirtschaftsordnung war daher nicht nur Reaktion auf die Gegebenheiten der Besatzungszeit, in der ein deutscher Nationalstaat tatsächlich keine realistische Bezugsgröße mehr war und in welcher die Entwicklung rasch auf eine westeuropäische Integration Kurs zu nehmen begann, sondern war ebenso das Ergebnis theoretischer Überlegungen auf deutscher Seite.163) Nationalstaat und kapitalistische Wirtschaftsordnung waren im Denken der Gewerkschafter unmittelbar nach Kriegsende eng miteinander verknüpft, im Aufstieg wie im Niedergang. Entsprechend fragte Viktor Agartz in seinem Re-

159) „Im Westen Deutschlands konnte es gar nicht zu einer kapitalistischen Restauration kommen, weil die privatwirtschaftliche Grundstruktur 1945 gar nicht gestört oder tiefgrei-

fend verändert war. Es ist richtiger, von kapitalistischer und bürokratischer Kontinuität zu sprechen. Zum andern standen kapitalistische Kontinuität und demokratischer Neubeginn nicht im Gegensatz zueinander; sie schlössen einander nicht aus." Jürgen Kocka: 1945: Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern/Heinrich August Winkler, Hg.: Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990, (Neuausgabe) Frankfurt/M. 1994, S. 159-192, Zitat S. 191. 160) Kocka: 1945, S. 192. 161) Beier: Demonstrations- und Generalstreik, S. 33; siehe auch Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, S. 41. 162) Vgl. Behring: Demokratische Außenpolitik; Klaus Voigt, Hg.: Friedenssicherung und europäische Einigung. Ideen des deutschen Exils 1939-1945, Frankfurt/M. 1988. 163) Siehe zum folgenden ausführlich: Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, bes. S. 17-62. -

-

230

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

ferat auf dem Gründungskongreß des DGB-BZ in Bielefeld im April 1947: „Ist nicht der Nationalstaat als verfassungsmäßige Organisation des kapitalistischen Wirtschaftssystems mit diesem System zusammengebrochen?"164) Während in Bielefeld noch keine konkreten Konzepte für eine europäische Integration entwickelt wurden, die Gewerkschaften vielmehr der politischen Entwicklung auf europäischer Ebene hinterherhinkten, brachte die Debatte um die Annahme des Marshallplans die Frage der Haltung der Gewerkschaften zur europäischen Integration schnell in den Vordergrund und verlieh der europäischen Annäherung auch ganz konkrete organisatorische Züge. Mit der schließlich gewählten Variante Zustimmung unter Beibehaltung der Neuordnungsforderungen sprach man sich nicht nur für ein Deutschland, sondern auch für ein Europa als „Dritte Kraft" zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen Ost und West aus, das sich zwar dem Westen zuneigen, aber dennoch sozialistisch bleiben sollte. Die Integration in dieses Europa bot für Deutschland die Chance, als gleichberechtigtes Mitglied in das internationale System zurückzukehren. Unter diesen Umständen wurde der Marshallplan zur Chance für die Westdeutschen: „Durch Beteiligung am Marshall-Plan bekommen wir die Möglichkeit, in der Gesamtheit der europäischen Völker wieder eine Rolle zu spielen und mit ihnen zu arbeiten."165) Die Gewerkschaften nahmen damit die Politik Adenauers vorweg.166) Die Londoner Gewerkschaftskonferenz zum Marshallplan wurde daher als ein erster Schritt auf dem Wege der Integration Deutschlands in das neue, sich vereinigende Europa erlebt.167) Als mit dem Schlußkommunique der Londoner Sechsmächtekonferenz vom 7. Juni 1948 der Weg zu einem westdeutschen Separatstaat eingeschlagen wurde, war klar, daß die Westintegration dieses neuen deutschen Teilstaates unumgänglich wurde. Westintegration meinte aus Sicht der westdeutschen Gewerkschafter jedoch nicht die Preisgabe des Konzepts des Dritten Wegs und bedeutete auch nicht automatisch ideelle Westorientierung. Dies wird deutlich, wenn man sich folgende Aussage Hans Böcklers aus dem Jahr 1949 vor Augen hält: -

-

„Unsere deutsche Wirtschaft ist eingeklemmt zwischen zwei sich widersprechenden Wirtschaftsverfassungen, von denen die deutsche Arbeitnehmerschaft die eine, die sogenannte östliche, ihrer volksfremden Art wegen, und die andere, die sogenannte westliche, ihres undemokratischen Charakters wegen ablehnt. Die deutschen Gewerkschaften suchen nach einer europäischen, d. h. demokratischen Lösung und sie glauben, eine solche in einer paritätischen Beeinflussung der Wirtschaft in allen ihren Phasen zu finden."168)

1M) Ebda., S. 28. 165) Hans Böckler, zit. in: Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, S. 39. 166) Ebda. 167) Siehe die Entschließung: Mitwirken am Europa-Aufbau, in: Der BUND,

13. März 1948, S. 1. 168) Hans Böckler: Vortrag im Rhein-Ruhr-Club, 1. November werkschaften und Außenpolitik, S. 44.

Nr. 6,

1949, zit. in: Köpper: Ge-

231

2. Die Ziele der Gewerkschaften und der SPD in den Westzonen

Der Osten volksfremd, der Westen undemokratisch: diese Abgrenzungskriterien zeigen, daß einen Monat nach der Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes an seiner Spitze Leitbilder prägend waren, die in klarer Kontinuität zum späten Kaiserreich und der Weimarer Republik Deutschland nicht als Bestandteil eines „geistigen Westens" sahen, dem sie auch selbst distanziert gegenüberstanden.169) Das Ziel der Gewerkschaften, die Demokratisierung Westdeutschlands in einem „übergreifenden Verständnis einer demokratischen Gesellschaft auf allen Ebenen, im parlamentarischen System, in der Wirtschaft, im zwischenstaatlichen Bereich,"170) war tatsächlich unvereinbar mit westlichen Vorstellungen. Denn eine Grundannahme westlichen Denkens und dies meint nicht nur Amerika und bezieht die letzten zwei Jahrhunderte mit ein ist die Freiheit des Eigentums. Hieraus hat sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA die bald auch für den gesamten Westen gültige Überzeugung entwickelt, daß Demokratie ein zentrales Element des politischen Systems, nicht aber der Wirtschaft sei, für die wiederum andere Spielregeln des Interessenausgleichs, etwa der Konsenskapitalismus, gelten. Neben der Westintegration im bündnispolitischen Sinne und neben der Integration Europas als „Dritter Kraft" kam der „Gewerkschaftsdiplomatie" der Westdeutschen aber auch eine weitere Funktion zu, nämlich die eines Instruments der Innen- bzw. Wirtschaftspolitik. Sie sollte über den Umweg des Auslands die deutschen Verhältnisse beeinflussen helfen. Als nämlich mit der Währungsreform und der Durchsetzung von Ludwig Erhards Konzept der sozialen Marktwirtschaft offensichtlich wurde, daß die Ziele der Gewerkschaften durch eigene Anstrengungen kaum noch zu verwirklichen sein würden, begannen die Spitzen der westdeutschen Gewerkschaftsbünde, sich auf der interbzw. transnationalen Ebene nach Unterstützung umzusehen, um auf diesem Weg vielleicht doch noch Einfluß auf die Entwicklung in ihrem Land zu neh-

-

-

-

men.

Eine zentrale Rolle

spielten hierbei

die persönlichen Kontakte der GewerkTeil aus der Zeit des Exils stammten, und zu einem anderen Teil aus den Kontakten mit den amerikanischen Gewerkschaftsbünden erwuchsen, die auf der institutionellen Ebene seit 1946 bestanden. Der Kontakt zur britischen Arbeiterbewegung, der ja auch in den Zeiten des Exils nicht immer unproblematisch gewesen war, dünnte nach 1945 schnell

schaftsführung

zum

Ausland, die

zum

169) Die Annahme, daß Kapitalismus mit Demokratie unvereinbar sei, daß ein solches Wirtschaftssystem Kriterium für fehlende demokratische Entwicklung sei, findet sich nicht nur

im DGB, sondern ist auch in der Fachliteratur weit verbreitet: „Die Gewerkschaften konnten sich aus ihrer prinzipiell ablehnenden Haltung gegenüber totalitären Systemen so nur an den Demokratien des Westens orientieren, selbst wenn diese überwiegend durch ein kapitalistisches Wirtschaftssystem geprägt waren. Dort war zumindest im parlamentarischen Bereich die Demokratie verankert, wenn auch nicht in der Wirtschaftsverfassung." Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, S. 62. 17°) Ebda.

232

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

und verbesserte sich erst wieder, nachdem die Westdeutschen gemeinsam mit den Briten in der ICFTU vertreten waren und dort auf internationaler Basis zusammenarbeiten konnten. Die westdeutschen Gewerkschafter hatten zunächst auf die Unterstützung der Labour-Regierung gebaut, vor allem beim Versuch, die Wirtschaftsdemokratie in Deutschland durchzusetzen. Dies erwies sich jedoch rasch als „Fehleinschätzung",171) da diese nicht geneigt war, gegen den amerikanischen Kurs in der Deutschlandpolitik zu steuern, und da zudem in der britischen Gesellschaft, einschließlich der Arbeiterbewegung, kaum Sympathien für die Deutschen und ihre Belange vorhanden waren, die für eine effektive transnationale Unterstützung ausgereicht hätten. Entsprechend wichtig wurden dagegen die Kontakte zur amerikanischen Arbeiterbewegung, d. h. zu AFL und CIO. Die Beziehungen zur internationalen Gewerkschaftsbewegung und zu den Gewerkschaften anderer Länder dienten in den frühen Nachkriegsjahren, mehr noch als dem Streben nach gleichberechtigter Rückkehr in die internationale Gemeinschaft, der Innenpolitik', der „nationalen Interessenvertretung im Ausland durch transnationale Beziehungen zwischen den Gewerkschaften."172) Auch die Entscheidung für den Marshallplan war in einen solchen doppelten, außen- und innenpolitischen Bezugsrahmen eingebettet. Die Mitbestimmungs- und Planungselemente, welche die westdeutschen Gewerkschafter im European Recovery Program ausmachten, schienen ihren wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen zu entsprechen. Zumindest in seiner Durchführung, wenn auch nicht in seinen Intentionen, erschien ihnen der Marshallplan als „Form übernationaler Mitbestimmung". So sprach sich etwa Ludwig Rosenberg vom DGB-BZ für das Programm aus, weil es international geplant und gelenkt sei. Durch eine Beteiligung und Mitwirkung an ihm glaubten nicht wenige westdeutsche Gewerkschafter, die Option für wirtschaftliche Mitbestimmung in Deutschland offenhalten zu können.173) Der Denkfehler in dieser Interpretation des Marshallplans bestand jedoch darin, daß nicht zwischen der organisatorischen Ebene der Durchführung und den wirtschaftspolitischen Intentionen unterschieden wurde. Die planerischen Elemente der ERP-Behörde hatten nämlich nicht im mindesten strukturverändernde oder gesellschaftsreformerische Absichten der Art, wie sie die deutschen Gewerkschaften hegten.174) Auch wenn die Hoffnung, über den internationalen Weg die eigenen Interessen vor Ort zu befördern, im Falle der Wirtschaftsdemokratie enttäuscht wurde, aus

so

bildete sich dennoch ein Muster heraus, das die internationale Zusammenar-

m) Ebda., S. 40. 172) Ebda., S. 39; Rosenberg: Westpolitik, S. 559f. 173) Ludwig Rosenberg: Gewerkschaften und ERP, in: Der BUND, Nr. 20, 24. September 1949, S. 9; Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, S. 40-43, Zitat S. 40. Vgl. auch Niethammer: Rekonstruktion und Desintegration, in: Winkler: Politische Weichenstellungen, S. 26-43, hier S. 41. 174) Köpper: Gewerkschaften und

Außenpolitik, S. 45.

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

233

beit, vor allem zwischen der westdeutschen und der amerikanischen Arbeiterbewegung, über ein Jahrzehnt hinaus prägen sollte. Beide Seiten verfolgten letztlich eigene, nationale Interessen mit ihrem außenpolitischen Engagement, und bauten zu diesem Zweck ein dichtes Netzwerk der Kooperation auf, das

sowohl bi- als auch multilateraler Natur war. Die Kooperation zwischen AFL bzw. CIO und DGB bzw. SPD wird im folgenden Kapitel im Mittelpunkt stehen, und zwar in ihren Formen. Bisher war von den Zielen beider Seiten die Rede, später sollen die einzelnen Themen und Bereiche der Zusammenarbeit untersucht werden. Zunächst muß es aber um den Aufbau und die Vorgeschichte des Netzwerks in Westdeutschland gehen. Dabei sind die außenpolitischen Institutionen der dortigen Arbeiterbewegung von Bedeutung, vor allem aber die Ebene der persönlichen Kontakte.

3. „Eine Maschinerie uns aufbauen": Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks in Westdeutschland 1945-1952 also, was einfach ist, eine Maschinerie uns aufbauen, die so funktioniert, daß unsere Freunde einen Mittelsmann kennen, der unseren

Wir können

Freunden bei den Besatzungsbehörden die Informationen gibt, die für den hier genannten Zweck nützlich sind. Willi Eichler175)

Die transnationalen Beziehungen zwischen der amerikanischen und der deutschen Arbeiterbewegung waren vielschichtig.176) Vom Kontakt über die Kooperation bis zu Netzwerksbeziehungen reichte die Bandbreite. Zwei Ebenen lassen sich dabei klar unterscheiden: die Ebene zwischen den Organisationen als solchen auf der einen Seite, und die Ebene zwischen einzelnen Personen auf der anderen. Diese ,organisations-offiziellen' und .inoffiziell-personellen' Bereiche waren deutlich voneinander geschieden. Auf der personellen Ebene, auf der sich die eigentliche Netzwerksarbeit abspielte, liefen die Auseinandersetzungen um Ordnungskonzepte ab. Hier bestand genügend gegenseitiges Vertrauen für offenen Streit um politisches Handeln im Alltag ebenso wie um Werteentscheidungen. Hier wurden Informationen ausgetauscht, Kontakte und finanzielle Hilfen vermittelt und Personalpolitik betrieben. Vor allem aber war dies die Ebene, auf der man sich über die wichtigsten politischen Fragen gegenseitig informiert hielt und sich, so weit es angesichts der Differenzen eben ging, aufeinander abstimmte. Dieser Ebene der Beziehungen gilt das Hauptin-

175) Willi Eichler an Hanna Bertholet, 6. Juni 1945, abgedr. in: Eiber: Sozialdemokratie in der Emigration, S. 795-801, hier S. 796 f. 176) „Die Kontakte zu AFoL und CIO liefen auf mehreren Ebenen." Fritz Heine bezog dies allerdings auf die vielschichtigen und nebeneinander bestehenden Kontakte zwischen Leuten in der SPD und den amerikanischen Gewerkschaftsbünden, „entsprechend den unterschiedlichen Aufgaben". Fritz Heine in einem Brief an die Verfasserin vom 22. Januar 1998.

234

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

folgenden Kapitels und der Studie insgesamt. Nur für den Bereich der persönlichen Interaktion greift auch der bereits entwickelte Begriff des Netzwerks, an dem keineswegs die jeweiligen Organisationen in ihrer Gesamtheit beteiligt waren. Spezifische biographische Hintergründe und gemeinsame Erfahrungen, die daraus resultierende Zugehörigkeit zu bestimmten Flügeln in Partei bzw. Gewerkschaften, und oft genug auch jahrzehntelange Bekanntschaft oder Freundschaft mit anderen Netzwerksmitgliedern waren Voraussetzungen dafür, daß jemand in diese Strukturen eingebunden wurde. Auch eine strategisch wichtige Position in der Organisation war von großer Bedeutung, führte aber nur zu einer Beteiligung, wenn die anderen Kriterien erfüllt waren. Das Netzwerk zwischen Amerikanern und Deutschen entstand in Etappen, es brauchte einige Jahre, bis es arbeitsfähig war. Es aufzubauen dauerte von 1944/45 bis etwa 1952. Von da an lief die Zusammenarbeit in geregelten Bahnen, bis das Netzwerk Anfang der 1960er Jahre zerfiel. Die andere Ebene, für die der Begriff des Netzwerks nicht geeignet ist, folgte anderen Regeln. Sie bildete aber den Hintergrund, vor dem die Netzwerksbeziehungen liefen und ohne den sie nicht denkbar waren. Denn die MaiAnsprachen Browns oder Rutz' in Berlin, die gegenseitigen Grußworte auf den Kongressen, der Austausch offizieller Erklärungen und die Zusammenarbeit auf der Ebene der internationalen Organisationen formten eine Art Öffentlichkeit und legitimierenden Hintergrund für die Umsetzung von Ergebnissen der Netzwerksarbeit. Beide Ebenen sollen daher in der weiteren Darstellung berücksichtigt werden. teresse

des

a.

Offizielle Beziehungen und informelles Netzwerk

Gewerkschaften

Die westdeutschen Gewerkschaften versuchten nach und vermehrt ab 1945, 1948, ihre Ziele durch außenpolitische Betätigung zu Innenund erreichen. Außenpolitik gingen hierbei fließend ineinander über. Die Militärregierungen waren der wichtigste Adressat für die politischen Aktivitäten der Gewerkschaften, in Fragen der Organisationsstruktur ebenso wie beim Kampf gegen Demontagen und für die Rückerstattung des Gewerkschaftseigentums. Vor allem aber waren es die Besatzungsmächte, die die Grundentscheidungen über die zukünftige Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland zu treffen hatten. Der DGB-BZ richtete daher in Bielefeld eine Verbindungsstelle zur britischen Militärregierung in Bad Oeynhausen ein, deren Aufgabe es war, ständigen Kontakt zu pflegen und durch enge Zusammenarbeit Mißverständnisse und Unstimmigkeiten auszuräumen und Vertrauen zu bilden.177) In dieser Verbindungsstelle waren zwei Personen tätig, Ludwig Rosenberg und Werner Hansen. Hansen war die rechte Hand Hans Böcklers,

177) Ludwig Rosenberg: Die Westpolitik der deutschen Gewerkschaften, in: Gewerkschaftliche Politik, S. 557 f.

Borsdorf u.a.:

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

235

des Vorsitzenden des DGB-BZ und späteren ersten Vorsitzenden des DGB.178) Rosenberg war die wichtigste Persönlichkeit im bizonalen Gewerkschaftssekretariat.179) Als Sekretär des Gewerkschaftsrates war er ab 1948 für alle Fragen des Marshallplans zuständig. Beide, Hansen und Rosenberg, waren aus dem Londoner Exil zurückgekehrt. Sie „hatten während der Emigration in England enge Kontakte mit britischen Gewerkschafts-

führern und Politikern gepflegt, und ihre Kenntnis der britischen Mentalität sowie Sprachkenntnis und persönliche Freundschaften machten vieles möglich, was sonst nicht ohne große Schwierigkeiten zu bereinigen gewesen wäre."180)

Ludwig Rosenberg erinnerte sich später: „Unzweifelhaft war es eine der ersten und wesentlichsten Aufgaben gerade der aus dem Exil zurückgekehrten Gewerkschafter, hier im Auftrage der deutschen Gewerkschaften tätig zu werden, zu vermitteln, zu beraten, Vertrauen zu schaffen und wo nötig durch ihre auslän-

dischen Freunde direkt auf die

politisch entscheidenden Stellen wirksam zu werden."181) -

-

Ähnlich funktionierten die entsprechenden Kontaktstellen in der französischen und amerikanischen Besatzungszone.182) Als außenpolitische Institutionen kann man diese Kontaktstellen jedoch kaum bezeichnen, ging es ihnen doch

innerdeutsche Belange. Der DGB-BZ bzw. das Interzonensekretariat des Gewerkschaftsrats der Bizone unterhielt aber nicht nur Kontakte zu den Alliierten, sondern auch zu deren Gewerkschaftsorganisationen, von denen sich die deutschen Gewerkschafter Unterstützung ihrer wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Interessen erwarteten, ebenso wie Hilfe auf dem Weg in die internationale Gewerkschaftsbewegung und damit auf dem Weg zur Gleichberechtigung und internationalen Anerkennung. Diese „Gewerkschaftsdiplomatie"183) war, wie auch die Kontakte zu den Besatzungsmächten, Sache der Dachverbände. Die eigentliche gewerkschaftliche Macht lag zwar bei den Einzelgewerkschaften, vor allem den Industriegewerkschaften, diese beteiligten sich aber kaum an solchen außenpolitischen Aktivitäten.184) Hans Böckler figurierte dabei als Führungspersönlichkeit, und zwischen ihm und seinen politischen Rivalen in Süddeutschland, Fritz Tarnow und Willi um

178) Beier: Demonstrations- und Generalstreik, S. 29. Die Angaben beziehen sich hier auf den Juni 1948. Siehe auch Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration. Die „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien" 1941-1946 und ihre Mitglieder. Protokolle, Erklärungen, Materialien, Bonn 1998, S. CLV. 179) Köpper. Gewerkschaften und Außenpolitik, S. 21; Mielke: Neugründung der Gewerkschaften, S. 46-48. 18°) Rosenberg: Westpolitik, S. 557 f. 181) Ebda., S. 557. 182) Ebda., S. 558. 183) Die Gewerkschaftsbewegung in der britischen Besatzungszone, Geschäftsbericht des Deutschen Gewerkschafts-Bundes 1947-1949, Düsseldorf 1949, S. 143 ff, zit. in Beier Demonstrations- und Generalstreik, S. 19. 184) Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, S. 60.

236

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung 1945-52

Richter, bestanden in der Außenpolitik keine Differenzen. Es waren vor allem Hans Böckler und Ludwig Rosenberg, die die außenpolitische Orientierung der westdeutschen Gewerkschaften bestimmten185) -jedenfalls auf der offiziellen Ebene. Da Böckler aber weder über die nötigen Sprachkenntnisse noch über persönliche Beziehungen zu Vertretern der Alliierten verfügte, war es Werner Hansen, der für ihn die Kontakte des DGB-BZ und des Interzonensekretariats führte. Hansen und Rosenberg spielten in der Frühzeit der trans- und internationalen Gewerkschaftskontakte auf westdeutscher Seite eine zentrale Rolle. Ihre Biographien wiesen eine wichtige Gemeinsamkeit auf: Beide waren außerhalb des sozialdemokratischen Milieus sozialisiert worden und beide waren im englischen Exil gewesen. Dies hatte weitreichende Folgen für ihre ideellen Positionen. Ludwig Rosenberg, Jg. 1903, war Angestellter, seit 1923 SPD-Mitglied, ab 1925 Mitglied der Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften und von 1928 an hauptamtlicher Funktionär beim Gewerkschaftsbund der Angestellten. 1933 ging er ins englische Exil, wo er der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien angehörte und von 1940 bis 1944 im britischen Außenministerium in der Abteilung für Deutsche und Österreicher tätig war. Er war 1946 nach Deutschland zurückgekehrt.186) Werner Hansen, Jg. 1905 (ursprünglich Willi Heidorn) war kaufmännischer Angestellter. Mitte der 1920er Jahre war er in der SPD und dem Zentralverband der Angestellten (ZdA) aktiv, 1931 bis 1933 als Vorstandsmitglied der ZdA-Ortsverwaltung Bremen. Seit 1926 war Hansen Mitglied des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), einer der linken .Splittergruppen' der Weimarer Zeit.187) Anfang 1937 floh er zunächst nach Frankreich, 1939 dann nach Großbritannien. Hansen war Mitglied der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien. Er remigrierte im März 1945.188) 185) Ebda. 186) vgl. die Kurzbiographie im Anhang; außerdem: Deutsches Industrieinstitut: Ludwig Rosenberg, Ms., Oktober 1962, bearb. von Wolfgang Jeserich, DGB-Archiv, Bestand 299, NL Ludwig Rosenberg, Kasten 9 (Lebenslaufund .Weitere Funktionen' S. 1 f.) MunzingerArchiv, Internationales Biographisches Archiv, Blatt Ludwig Rosenberg, 28. Januar 1978; Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Bd. 1, S. 612; Gerhard Beier:

Schulter an Schulter, Schritt für Schritt. Lebensläufe deutscher Gewerkschafter, Köln 1983, S. 151-156. 187) Zum ISK siehe: Werner Link: Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Meisenheim am Glan 1964; Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. CXXVI-CXXXVI; außerdem Jan Foitzik: Zwischen den Fronten. Zur Politik, Organisation und Funktion linker politischer Kleinorganisationen im Widerstand 1933 bis 1939/40, Bonn 1986. 188) Vgl. die Kurzbiographie im Anhang; außerdem: Foitzik: Zwischen den Fronten, 278; Biographisches Handbuch der deutschprachigen Emigration, Bd. 1, S. 269; MunzingerArchiv, 29. Juli 1972; Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. CXXVII; S. 764; Alfred Ñau, SPD-PV, an Willi Richter, DGB-Vors., 4. Juni 1957, DGB-Archiv, Bestand

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

237

Rosenberg kannte Hansen daher bereits aus der gemeinsamen Arbeit in der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter sowie in der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien (Union)', einer im März 1941 in London gegründeten Dachorganisation. Beide förderten in ihrer Tätigkeit als Verbindungspersonen zur Besatzungsmacht und zu den ausländischen Arbeiterbewegungen die Kontakte zur britischen Arbeiterbewegung, orientierten sich nach Großbritannien hin und waren auch nicht zufällig in die britische Besatzungszone gegangen.189) Die mangelnde Unterstützung der westdeutschen Arbeiterbewegung von britischer Seite ließ diese Bemühungen jedoch bald als fruchtlos erscheinen. Statt dessen begannen die westdeutschen Gewerkschaf,

ter, sich zu den Amerikanern hin zu orientieren, und zwar obwohl die amerikanische Besatzungsmacht die Sozialisierungsbemühungen der Deutschen in Nordrhein-Westfalen zunichte gemacht hatte.190) Es war die amerikanische Arbeiterbewegung, mit der nun zunehmend Kontakte gepflegt wurden. Beim Protest gegen die Demontagen, den Bemühungen um die Rückerstattung des Gewerkschaftsvermögens und beim Kampf um die Neuordnung der Grundstoffindustrien riefen die Westdeutschen ihre amerikanischen Kollegen um Unterstützung an. Dies spielte sich auf der offiziellen Ebene ab, zwischen den Leitungen der Dachverbände, ebenso die Proteste gegen die Politik der amerikanischen Militärregierung und die Versuche der politischen Einflußnahme auf innerdeutsche Belange via Washington, wobei die guten Beziehungen der AFL zum State Department genutzt wurden. Ebenfalls formalen Anstrich hatten offizielle Stellungnahmen und Reden,191) wechselseitige Besuche und Grußadressen auf den jeweiligen Kongressen192) und die hochpolitischen 24/1991; AdsD, NL Werner Hansen, z.B. Kasten 1, Erich Ollenhauer

an

Willi Heidorn,

September 1944. 189) Köpper: S. 40; Rosenberg: Westpolitik, S. 557f. 190) Vgl. hierzu: Wolfgang Rudzio: Die ausgebliebene Sozialisierung an Rhein und Ruhr. Zur Sozialisierungspolitik von Labour-Regierung und SPD 1945-1948, in: AfS, 18/1978, S. 1-39; Steininger: England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung. 191 ) Beispielsweise die Eröffnungsrede George Meanys auf dem AFL-Kongreß in St. Louis im Spätsommer 1953, in der er seiner Sorge über die Politik der Regierung Adenauer gegen26.

über den Gewerkschaften Ausdruck verlieh, und die in den westdeutschen Gewerkschaften mit Aufmerksamkeit registriert wurde: Hans Brummer und Otto Brenner, IG Metall, an AFL-Präsident George Meany, 29. September 1953, GMMA, RG 1-027, 053/7, inkl. Zeitungsausschnitt „Die deutsche Gewerkschaftsbewegung muß frei bleiben", leider ohne Angaben zu Zeitung und Datum. I92) Siehe zum Beispiel das Rundschreiben des DGB-Vorsitzenden Walter Freitag an die Mitglieder des Bundesvorstands vom 29. November 1954 anläßlich einer Einladung zum ClO-Jahreskongreß vom 6. bis 10. Dezember 1954 in Los Angeles, DGB-Archiv, Best. 24/5139. Freitag sagte den Termin allerdings wegen Arbeitsüberlastung ab. Auch Kurt Schumacher wurde zum AFL-Jahreskongreß in San Francisco im Oktober 1947 geladen. American Federation of Labor: Report on the Proceedings of the Sixty-Sixth Convention, held at San Francisco, California, October 6 to 16 1947, S. 477 f., vgl. Beier: Demonstrations- und Generalstreik, S. 19 und Grabbe: Unionsparteien, S. 60f. Die Rede Schumachers

238

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung 1945-52

die Henry Rutz und Irving Brown in den Jahren 1949 und 1950 in Berlin vor großen Menschenmengen hielten.193) Die Teilnahme der Deutschen an der von der AFL durchgesetzten Londoner Marshallplankonferenz im März 1948 gehört ebenfalls in diesen Bereich. Neben diesen Ad-hoc-Beziehungen, die auf die jeweiligen politischen Umstände reagierten, bestanden bald aber auch regelmäßige offizielle Beziehungen. Die deutschen und amerikanischen Gewerkschaftsbünde hielten sich gegenseitig informiert über politische Entscheidungen, Programme und Ziele.194) Zudem wurden Publikationen ausgetauscht,195) wobei in der frühen Besatzungszeit nur die amerikanische Seite über Mitteilungsblätter und Broschüren verfügte. Deutschsprachige Periodika wie die ,Freigewerkschaftlichen Nachrichten' und die ,CIO Nachrichten' wurden den Pressestellen der Gewerkschafter und der SPD regelmäßig zugestellt, außerdem warben einzelne Broschüren, wie etwa ,Die A. F. of L. und die deutsche Arbeiterbewegung', für die Positionen der beiden amerikanischen Bünde.196) Ab 1950 gab dann auch der

Maiansprachen,

auf dem Jahreskongreß der AFL in San Francisco vom 14. Oktober 1947 ist abgedr. in: Schumacher: Reden, S. 562-569; vgl. auch die Briefe Schumachers an Ollenhauer und von Knoeringen, in denen er über seine USA-Reise berichtet, ebda: S. 559-562 und S. 570. 193) Am 1. Mai 1949 sprach Henry Rutz in Berlin: GMMA, RG 18-003, 056/12 (Ms. dt.). Am 1. Mai 1950 sprach Irving Brown: ebda. RG 18-003, 011/13 (Ms. der engl. Übersetzung, die Rede wurde auf deutsch gehalten). Siehe auch: Lillie Brown an Jay Lovestone, 5. Mai 1959, ebda., und Irving Brown an Jay Lovestone, 25. April 1950, RG 18-003, 011/12. 1951 sprach keiner von beiden in Berlin. Rutz, der schon 1950 über die Bevorzugung Browns verärgert gewesen war, mußte von Lovestone beschwichtigt werden. Jay Lovestone an Henry Rutz, 3. April 1951, RG 18-003, 056/15. 194) Siehe zum Beispiel: Aktennotiz der Hauptabteilung Vorsitzender, Abteilung Ausland, DGB, an Ludwig Rosenberg, Abteilung Wirtschaftspolitik, 13. April 1956: Darstellung des von Kollegen Walter P. Reuther dem amerikanischen Außenminister Dulles unterbreiteten Zehn-Punkte-Programms für .Frieden, Wohlstand und Fortschritt', z.K., DGB-Archiv, Best. 24/5139; G. Grunewald, Abt. Ausland, an Ludwig Rosenberg, 6. Januar 1956: „Liste des neuen Vorstandes der AFL-CIO z.K."; außerdem: „Darstellung der Aufgaben der neuen Industrie-Gewerkschafts-Abteilung mit einem Personalbestand von 66 Mitgliedern, deren Vorsitzender Walter P. Reuther ist." DGB-Archiv, Best. 24/5139. In diesem Bestand finden sich außerdem: Grunewald, HA Vorsitzender, Abt. Ausland, an die Mitglieder des geschäftsführenden Bundesvorstands, z.K.; Übersetzung des Abkommens vom 31. November 1955 zwischen AFL und CIO zur Durchführung der Vereinigung; Grunewald an Rosenberg, 6. Dezember 1955: Satzungsentwurf AFL-CIO, 2. Mai 1955. 195) Z.B. Jay Lovestone an die ,Welt der Arbeit', 27. Januar 1950, GMMA, RG 18-003, 026/11. Lovestone bietet einen Austausch an: die Welt der Arbeit gegen die Freigewerkschaftlichen Nachrichten. 196) Ein Exemplar von ,Die A.F. of L. und die deutsche Abeiterbewegung', hg. v. FTUC, New York 1950, ist in GMMA, RG 1-027, 053/6, erhalten. Ludwig Rosenberg an Jay Lovestone, 3. Mai 1950, GMMA, RG 18-003, 026/11: Rosenberg dankt Lovestone im Namen Böcklers für die Broschüre ,Die A.F. of L. und die deutsche Abeiterbewegung'; auch die SPD erhielt ein Exemplar: Jay Lovestone an Fritz Heine, 11. April 1950, RG 18-003, 026/11. Für die Versuche, die jeweilige Position einer breiteren europäischen Leserschaft

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

239

DGB eine englischsprachige Zeitschrift heraus, die ,DGB News Letter', für deren Redaktion Ludwig Rosenberg verantwortlich zeichnete.197) Der DGB reagierte bei seiner bundesweiten Neugründung im Oktober 1949 auf diese zunehmend institutionalisierten Beziehungen mit der Einrichtung einer Hauptabteilung Ausland beim Bundesvorstand.198) Leiter dieser Abteilung wurde Ludwig Rosenberg, seit Oktober 1949 Mitglied des DGB-Bundesvorstands. Rosenberg, der dieses Amt bis 1954 innehatte, war in dieser Zeit „als Außenminister der Gewerkschaften sozusagen" für die offiziellen Kontakte der deutschen Gewerkschaften in alle Welt zuständig.199) Sein Aufgabenbereich waren die internationalen Beziehungen, zudem die Beziehungen zur Bundesregierung, zum Bundestag, zu den politischen Parteien und den Länderregierungen, sowie alle Fragen des Marshallplans. Rosenberg teilte diese Entwicklung am 8. November 1949 Jay Lovestone schriftlich mit und erklärte: „This

means

that

more

than before I will have to deal with all international matters

concer-

ning our Federation and I hope that our contact will be helpful in this work and to the mutual benefit of both our movements."200) Die AFL

für die deutschen Gewerkschafter der wichtigste amerikanische Ansprechpartner, da sie wie ja bereits ausgeführt nicht nur institutionell besser vertreten und materiell besser gestellt war als der CIO,201) sondern auch war

-

-

nahezubringen, siehe auch: Walter P. Reuther in: „Was denkt Walter Reuther?", in: CIO Nachrichten, Europäische Ausgabe, Nr. 10, Januar 1953, S. 1, GMMA, RG 18-003, 056/17. 197) Jay Lovestone an Ludwig Rosenberg, 27. Juni 1950, GMMA, RG 18-003,026/11. Rosenberg hatte Lovestone die ,D.G.B. News Letter' vorgestellt, und der AFL regelmäßigen und kostenlosen Bezug des Blattes angeboten. Lovestone bedankte sich: Es sei „always good for trade unionists to know about each other." Siehe außerdem beispielsweise: Francis

A. Henson, Director, Educational and Political Action, UAW, Milwaukee, Wisconsin, an Walter P. Reuther, CIO President, Washington, D.C., 5. Februar 1953: „I met Ludwig Rosenberg when he was in this country and I imagine you did also. I have had some correspondence with him about the DGB News Letter in English; he is trying to improve the service." Außerdem Leo Goodman, CIO Subcommittee on Atomic Energy, Power and Resources Development, an Ludwig Rosenberg, 16. März 1956, DGB-Archiv, Best. 24/5139. Goodman dankt Rosenberg für den Artikel „Working for United Europe" in der Februar-Ausgabe der DGB News Letter, der die erste klare Stellungnahme über die Entwicklung der Atomenergie in Europa enthalte. 198) Zur Hauptabteilung Ausland siehe insbesondere: Tätigkeitsbericht der Hauptabteilung II beim Bundesvorstand, Juni 1951, [Ludwig Rosenberg], in dem die Abteilung den anderen Hauptabteilungen vorgestellt wird, da sie noch neu und ohne Traditionen sei. DGB-Archiv, Best. 24/4925. 199) .Christ und Welt', o.D., zit. im Munzinger-Archiv, Internationales Biographisches Archiv, Blatt Ludwig Rosenberg, 28. Januar 1978. 20°) Ludwig Rosenberg an Jay Lovestone, 8. November 1949, GMMA, RG 18-003, 026/11. 201) Irving Brown kommentierte 1948 die Situation Eimer Copes, des CIO-Vertreters in Europa mit Sitz in Paris, folgendermaßen: „[...] his inability to help the French, Italian, or German trade unionists in a material way has been very embarassing." Brown an Lovestone, 6. Oktober 1948, GMMA, RG 18-003, 011/9.

240

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung 1945-52

größeren Einfluß in Washington und über die klareren Konzepte, etwa in Fragen der europäischen Integration und des Marshallplans, verfügte. Das Verhältnis des frühen DGB zum CIO war dagegen schlecht, die Beziehungen „eher marginal", 202) was nicht zuletzt an der Unterstützung der harten, punitiven Deutschlandpolitik der WFTU und des TUC durch den CIO lag. Erst 1949, über

mit seiner Abkehr von der WFTU, verbesserte sich das Verhältnis zur westdeutschen Gewerkschaftsbewegung. Ab 1950 aber wurden die Kontakte besser, wurde der CIO auch offiziell regelmäßig um Hilfe angegangen.203) Besonders Ludwig Rosenberg pflegte nun sehr gute Beziehungen zum Reuther-Flügel des CIO.204) Die Zusammenarbeit drehte sich in erster Linie um den Austausch von Informationen und die Vermittlung von Positionen.205) Rosenbergs

202) Rupieper: Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, S. 254 f. Allerdings gab es durchaus auch vor 1949/50 offizielle Kontakte, die dem Informationsaustausch dien-

ten., z.B. Werner Hansen, Gewerkschaftliches Zonensekretariat, Bielefeld, an A. Lucheck, CIO European Office, London, 20. März 1947, GMMA, RG-18-002, 012/5, in dem Hansen dem CIO eine Resolution übersendet, die die Gewerkschaften der amerikanischen und der britischen Zone auf einer Bizonen-Konferenz in Frankfurt/Main am 13. März 1947 beschlossen hatten. Thema sind deutsche Treuhänder für die Schlüsselindustrie. Siehe auch die Antwort: Michael Ross an Werner Hansen, 23. April 1947, ebda.: „1 read this with a great deal of interest and you can be assured that the trade unions in the Congress of Industrial Organizations understand fully your position. In the Congress of Industrial Organizations we follow with close attention the trade union developments in Germany and as you well know we are doing all we can to assist in the revival of the Free German Trade Unions." 203) Siehe für die Anfänge der Kooperation mit Victor G. Reuther etwa die Vorgänge in: DGB-Archiv, Best. 24/4925: Rundschreiben Rosenbergs an Gewerkschaftskollegen und MdBs, 2. Mai 1951: Einladung, am 10. Mai 1951 in Bonn Victor G. Reuther kennenzulernen; Rundschreiben Ludwig Rosenberg, HA Ausland, an alle Hauptabteilungen, 13. Juli 1951, Betr. Anschrift des neuen Europa-Vertreters der amerikanischen Gewerkschaft CIO. Hier findet sich auch ein Hinweis auf den Besuch der CIO-Delegation unter Leitung Victor G. Reuthers im Hans-Böckler-Haus am 26. Januar 1951. Für Bitte um Hilfe siehe die bereits angeführten Telegramme in GMMA, RG 18-002, 012/7 und 012/8. Zu diesem Ergebnis kommt auch Rupieper: Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, S. 255. 204) Siehe insgesamt RG 18-002, 012/1 (z.B. Ludwig Rosenberg an Mike Ross, 27. September 1952) für die Jahre 1952 und 1953 sowie 18-002, 012/2 für 1953 bis 1956. Die Kontakte zwischen Rosenberg und dem CIO sind auch durch die AFL dokumentiert, die diese Zusammenarbeit argwöhnisch beobachtete und deswegen intern scharfe Vorwürfe gegen Rosenberg erhob. Diese AFL-Akten dokumentieren auch schon Kontakte in den Jahre 1950 und 1951: GMMA, RG 18-003, 056/15 passim. Für die offiziellen Kontakte des DGB mit dem CIO siehe z.B. Ludwig Rosenberg und Erich Bührig, DGB-BV, an Phil Murray, CIO, 9. Februar 1951, GMMA, RG 18-002, 012/9. 205 ) So bot etwa Rosenberg eine Broschüre der Auslandsabteilung des DGB mit Informationen zu den osteuropäischen Ländern an, die von Meyer Bernstein (CIO International Department) dann zu einer Notiz in den CIO News verarbeitet wurde. Ludwig Rosenberg an Mike Ross, 27. September 1952, und Mike Ross an Ludwig Rosenberg, 9. Oktober 1952, GMMA, RG 18-002, 012/1. Im September 1953 informierte Rosenberg Mike Ross ausführlich über die Vorgänge und Hintergründe im Zusammenhang mit der drohenden Abspaltung des katholischen Gewerkschaftsflügels vom DGB. Ludwig Rosenberg an Mike Ross,

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

241

Plan, in den USA eine Radiosendung der deutschen Gewerkschaften einzurich-

ten, scheiterte jedoch am mangelnden Interesse auf amerikanischer Seite.206) Ende 1952 besuchte Rosenberg während eines vierzehntägigen USA-Aufenthalts den CIO in Washington, D.C. und die UAW in Milwaukee, Wisconsin, und vertiefte die Kontakte.207) Seine Affinität zum CIO lag nicht zuletzt an der Nähe der Positionen auf beiden Seiten. Walter P. Reuthers Konzept der ,industriellen Demokratie', einer staatszentrierten Wirtschaftsdemokratie, zielte auf Sozialisierung der Produktionsentscheidungen, nicht der Produktionsanlagen ab, wollte Privateigentum erhalten, aber verantwortlichen Umgang damit erzwingen. Die Regierung sollte als Eignerin oder durch direkte Mitsprache in die Entscheidungsabläufe der Schlüsselindustrie eingreifen, Planungsbehörden sollten Wirtschaftsproduktion und staatliche Haushaltspolitik lenken. Die Gewerkschaften sollten in diesen Behörden vertreten sein und eine zentrale Rolle in der Lenkung der Wirtschaft spielen. Für Reuther war politische Demokratie ohne wirtschaftliche Demokratie nicht überlebensfähig. Ludwig Rosenberg wiederum verfocht ein Modell der überbetrieblichen Wirtschaftsdemokratie, das auf wirtschaftlicher Selbstverwaltung durch Körperschaften beruhte, die paritätisch mit Vertretern der Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften zu besetzen wären. Diese paritätische Selbstverwaltung sollte verhindern, daß entweder Truste oder die staatliche Bürokratie die Wirtschaft beherrschten, sondern sollte vielmehr dazu führen, die Wirtschaft zu demokratisieren und so auf einer breiten gesellschaftlichen Verantwortung zu gründen.208) Der Weg „vom Wirtschaftsuntertan zum Wirtschaftsbürger" war für Rosenberg der Weg zur wirklich de-

September 1953, GMMA, RG 18-002, 012/1. Vgl. Schroeder: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft. 206) Ludwig Rosenberg an Meyer Bernstein, 11. Februar 1953; Memorandum Meyer Bernstein an Walter P. Reuther, 17. Februar 1953; Meyer Bernstein an Ludwig Rosenberg, 3. März 1953; Memorandum Meyer Bernstein, 24. März 1953; Meyer Bernstein an Ludwig Rosenberg, 30. März 1953, GMMA, RG 18-002, 012/1. Rosenberg hatte bereits im Londoner Exil an Radiosendungen der BBC für die deutsche Arbeiterschaft mitgewirkt: vgl. Eiber: Sozialdemokratie in der Emigration, S. 5, Anm. 9. 207) Francis A. Henson (Director. Educational and Political Action, UAW, Milwaukee, Wisconsin) an Walter P. Reuther (Washington, D.C.), 5. Februar 1953, GMMA, RG 18-002, 21.

012/1. 208) F(¡r ¡¿¡g wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen Rosenbergs siehe: Ludwig Rosenberg: Vom Wirtschaftsuntertan zum Wirtschaftsbürger, Köln 1948; Ders.: Wirtschaftsdemokratie. Vorschläge zum Aufbau einer wirtschaftlichen Selbstverwaltung und ihrer Stellung zu den Behörden, Ms., Bielefeld 1946, zit. in: Beier: Demonstrations- und Generalstreik, S. 33. Rosenberg dürfte auch an der Formulierung eines Briefes von Hans Böckler an Konrad Adenauer vom Oktober 1948 beteiligt gewesen sein, in der die wirtschaftsdemokratischen Vorstellungen der Gewerkschaften dargelegt werden. Sie stimmen nach Gerhard Beiers Angaben weitgehend mit den Positionen in Rosenbergs Veröffentlichungen überein. Beier: Demonstrations- und Generalstreik, S. 33.

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III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

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mokratischen Gesellschaft.209) Ludwig Rosenberg war gegen Ende der 1940er Jahre einer der konsequentesten und reflektiertesten Vertreter der Wirtschaftsdemokratie, ein einflußreicher Theoretiker im Umfeld Hans Böcklers, dessen Kurs er teilte und mitprägte.210) Das von Rosenberg vertretene Konzept der Wirtschaftsdemokratie ist im Vergleich mit Reuthers Vorstellungen eher staatsfern. Allerdings ist hier Vorsicht geboten angesichts des unterschiedlichen Gehalts der Begriffe .Staat' und .Government': Reuther meinte eine dem Parlament verantwortliche und abrufbare Regierung, die als Sachwalterin der Regierten in die Wirtschaft eingreift, eine Vorstellung, die vom New Deal geprägt war. Rosenberg bewegte sich mit seiner Skepsis gegenüber staatlicher Macht in der Wirtschaft im Mainstream des gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen und auch christdemokratischen Denkens der späten 1940er Jahre, das die Konsequenzen aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zog. Rosenberg war kein orthodoxer deutscher Sozialist traditionellen Zuschnitts. Seine Herkunft aus der Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaftsbewegung der Weimarer Zeit ebenso wie die Erfahrungen des Exils in Großbritannien haben ihn tief geprägt und ihm pluralistische und liberale Positionen nahegebracht; es war Rosenberg, der Anfang der 1960er Jahre den Weg des DGB zum Düsseldorfer Programm bestimmen sollte.211) Die Anhänger Reuthers im CIO teilten die Ziele der westdeutschen Gewerkschafter im wesentlichen und konnten dies, trotz der einer Annäherung eher abträglichen Deutschlandpolitik des Gesamtverbandes während der Besatzungszeit, auch glaubhaft machen. Nicht zuletzt wegen seiner guten Beziehungen zum Reuther-Flügel des CIO wurde im FTUC scharfe Kritik an Rosenberg geübt.212) Rosenberg wurde unter anderem vorgeworfen, weder die ,Internationalen Freigewerkschaftlichen Nachrichten' noch die Veröffentlichung ,Die A. F. of L. und die deutsche Arbeiterbewegung' zur Kenntnis zu nehmen. Er sei nämlich einer derjenigen, die die Hitlerjahre in Großbritannien verbracht hatten und sich daher nicht vorstellen könnten, daß irgend etwas Gutes aus Amerika kommen könne.213) Er habe

209)

Diese Begriffe hat Rosenberg Theodor Leipart entlehnt. Darauf macht Gerhard Beier aufmerksam: vgl. Theodor Leipart: Gewerkschaften und Volk. Zum Gedächtnis von Carl Legiens Sterbetag, in: Die Arbeit, H. 1/1926, S. 7; Beier: Demonstrations- und Generalstreik, S. 33. 21°) Köpper: Gewerkschaften und Außenpolitik, S. 21, 60. 2") In einem Dossier des Deutschen Industrieinstituts vom Oktober 1962, also aus dem Umfeld der Wahl Rosenbergs zum DGB-Vorsitzenden, wird vermerkt: „Die gesellschaftsund wirtschaftspolitischen Ansichten Rosenbergs werden wesentlich durch seine Herkunft aus der Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaftsbewegung und durch die Erfahrungen seiner Emigrationszeit in England bestimmt." Deutsches Industrieinstitut: Ludwig Rosenberg, Ms., Oktober 1962, bearb. v. Wolfgang Jeserich, DGB-Archiv, Bestand 299, NL Ludwig Rosenberg, Kasten 9, S. 2 (Hervorh. im Org.). 212) Henry Rutz an Jay Lovestone, 6. Februar 1950, GMMA, RG 18-003, 056/13. 213) Henry Rutz an Jay Lovestone, 13. November 1950, 18-003, 56/13. Für weitere Vor-

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

243

sich sogar dagegen ausgesprochen, Schriften der amerikanischen Gewerkschaften in Deutschland zu verteilen. Denn alles, was aus Amerika komme, stehe im Verdacht, ein kapitalistisches Land zu vertreten, und verliere dadurch seine Effektivität, mochten die Absichten noch so gut sein.214) Dieser Antiamerikanismus' Rosenbergs dürfte seine tatsächlichen Ursachen darin gehabt haben, daß Remigranten in der frühen Bundesrepublik sehr aufpassen mußten, nicht als Kollaborateure dazustehen, die sich womöglich noch für Geld! den Besatzern andienten. Lovestone warf Rosenberg deswegen jedoch Undank vor, denn politische und finanzielle Unterstützung aus den USA werde schließlich gerne akzeptiert. Den eigentlichen Grund für Rosenbergs Haltung sah er aber in einer Absprache mit dem CIO.215) Denn das FTUC fürchtete den genau um diese Zeit, im Frühjahr 1951, einsetzenden Einfluß des CIO in Westdeutschland: Im Januar war die Reuther-Delegation beim DGB in Düsseldorf zu Gast gewesen, im Mai stattete Victor Reuther seinen Antrittsbesuch in Bonn ab, und im Juli war dann das CIO-Büro in Paris etabliert.216) In Bad Godesberg wurde Helmut Jockei als CIO-Vertreter in Deutschland tätig. Die guten Beziehungen Rosenbergs zu Mike Ross und den Reuthers sind Lovestone und Rutz natürlich nicht verborgen geblieben: -

-

„But after having a chat with Victor Reuther [...], I must say I am now convinced that behind Rosenberg and encouraging these tendencies of Rosenberg is the d.O. They are cowards. They do not dare express their opinions openly in the United States but when they go to the Philippines, to the Orient, to Italy or to Germany they play upon all the prejudices and suspicions and engage in sniping and playing up to pseudo-radical tendencies such as: butter before guns; neither Standard oil nor Stalin, etc. You know exactly what I mean. In its independent international work, the C.I.O. people are a dastardly [sic!] menace in many

cases."217)

Die Konkurrenz zwischen AFL und CIO in Westdeutschland, ihr Gerangel um Einfluß auf die deutsche Arbeiterbewegung, wurde zwischen Anfang 1951 und Ende 1954, als der CIO sein europäisches Büro aufgab, zum Leitmotiv in der transatlantischen Korrespondenz.218) Die Kritik an Rosenberg war in gewisser Weise exemplarisch für eine allgemeinere Befindlichkeit der AFL-Deutschwürfe Jay Lovestone an Henry Rutz, 23. April 1953, GMMA, RG 18-003, 056/15; Henry Rutz an Jay Lovestone, 18. April 1953, RG 18-003, 056/12. 214) Henry Rutz an Jay Lovestone, 27. März 1951, GMMA, RG 18-003, 056/15. 215) Jay Lovestone an Henry Rutz, 3. April 1951, GMMA, RG 18-003, 056/15. 216) Siehe die Rundschreiben Rosenbergs an die DGB-Vorstandmitglieder, in: DGB-Archiv, Best. 24/4925: Rundschreiben Rosenbergs an Gewerkschaftskollegen und MdBs, 2. Mai 1951: Einladung, am 10. Mai 1951 in Bonn Victor G. Reuther kennenzulernen; Rundschreiben Ludwig Rosenberg, HA Ausland, an alle Hauptabteilungen, 13. Juli 1951. 217) Jay Lovestone an Henry Rutz, 16. März 1951, GMMA, RG 18-003, 056/15. 218) Zum Beispiel Jay Lovestone an Henry Rutz, 13. Dezember 1951, GMMA, RG 18-003, 056/15; Jay Lovestone an Fritz Heine, 30. Juli 1953, GMMA, 18-003, 056/17. Siehe hierzu auch Rupieper: Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, S. 255, Anm. 10.

244

III. AFL/CIO und die westdeutsche Arbeiterbewegung 1945-52

landpolitiker um 1950. Denn die Anfangsschwierigkeiten ihrer Netzwerkpolitik traten erst um 1950 richtig zutage. Die äußeren Rahmenbedingungen politisches System und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik, Parteienlandschaft und Gewerkschaftsstruktur standen nun fest, die Zeit der akuten Not und der Hilfslieferungen war zum größten Teil vorüber und die Deutschen waren wieder in der Lage, eigenständige Politik zu betreiben. Nun standen die amerikanischen Gewerkschaften vor dem täglichen Problem, die verschiedenen Richtungen in Partei und Gewerkschaften korrekt einzuschätzen und die einzelnen Funktionäre den unterschiedlichen Lagern zuzuordnen. Hierbei kam wenn auch erstaunlich selten zu Fehlinterpretationen und Irritationen, es wie etwa beim Umgang mit dem latenten deutschen Antiamerikanismus, der für AFL und CIO recht gewöhnungsbedürftig war. Die westdeutschen Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die versuchten, mit dieser gesellschaftlichen Größe zu rechnen, gerieten so manchmal selbst in den Verdacht des Antiamerikanismus. Mitunter allerdings war der Verdacht auch begründet.219) So bereitete es den gewerkschaftlichen US-Außenpolitikern anfangs einige Schwierigkeiten, die nichtigen' Verbündeten zu finden und sich ein Netzwerk aus Personen aufzubauen, denen sie vertrauen konnten und die ihre Ziele auch wirklich teilten. Der Kontakt, den Rosenberg und die AFL-Vertreter auf der offiziellen Ebene pflegten, wurde von deren nur intern geäußerter Kritik aber nicht beeinträchtigt. Die Korrespondenz zwischen Lovestone und Rosenberg häufte sich im Frühsommer 1950 sogar besonders, bezog sich allerdings ausschließlich auf den Austausch von Publikationen.220) Irving Brown war sogar der Ansicht, Rosenberg „will be very helpful with our trade union friends."221) Schon ab 1953 schließlich besserte sich auch das Verhältnis Rutz' und Lovestones zu Rosenberg.222) Dieser ist alles in allem ein gutes Beispiel dafür, wie fließend die Übergänge zwischen offiziellen und persönlichen Kontakten sein konnten. Zu Werner Hansen dagegen, dem Leiter des Bielefelder Sekretariats des DGB-BZ, waren die Beziehungen der AFL besser. Es war vor allem Henry Rutz, der mit Hansen zu tun hatte. Durch Rutz' Funktion in der Manpower Di-

-

-

-

2I9)

auch die schiere Unkenntnis der Deutschen über die amerikanische Gewerkschaftsbewegung, die Lovestone in Rage brachte: Er beklagte sich über die zahlreichen „stupid, ignorant and insulting articles" zur amerikanischen Gewerkschaftsbewegung in der deutschen Gewerkschaftspresse. Jay Lovestone an Irving Brown, 7. Juni 1950, GMMA, RG 18-003, 011/12. Siehe aber auch: Jay Lovestone an Fritz Heine, 29. Juni 1954, GMMA, RG 18-003, 059/27, zur Irritation der AFL über angeblichen Antiamerikanismus in der SPD; und Jay Lovestone an Fritz Heine, 17. Dezember 1951, GMMA, 18-003, 059/23, mit einer Beschwerde über antiamerikanische Äußerungen des DGB-Vorsitzenden Fette. 22°) Siehe hierzu GMMA, RG 18-003, 026/11 passim. 221) Irving Brown an Fritz Heine, 9. Januar 1949, GMMA, RG 18-004, 001/7. 222) Jay Lovestone an Fritz Heine, 28. September 1953, GMMA, RG 18-003, 059/26; [Henry Rutz] Report from Germany, 11. Dezember 1953, Rg 18-003, 056/17. Oft genug

war es

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

245

OMGUS und durch Hansens Rolle in der „Außenpolitik" der DGBVorläuferorganisation hatten beide wohl auch noch auf dieser .regierungsoffiziellen' Ebene miteinander zu tun, ehe Rutz dann ab Anfang 1947 in seiner Funktion als AFL-Vertreter in Deutschland tätig wurde. Das Verhältnis der AFL zu Hansen war von keinen vergleichbaren Problemen getrübt wie dasvision

vom

jenige zu Rosenberg.223)

SPD Auch mit der SPD pflegte die AFL offizielle Kontakte. Die SPD hatte schon 1946 mehrere „Auslandsvertretungen" bei den Sozialdemokraten bzw. Sozialisten in Großbritannien, Schweden, Frankreich und den Niederlanden eingerichtet.224) Ihre Aufgabe war die „Kontaktanbahnung und Öffentlichkeitsarbeit im Ausland", und sie waren meist mit ehemaligen Emigranten besetzt, die in ihren Gastländern geblieben waren. Von diesen Einzelpersonen hing auch der jeweilige Erfolg ab, denn die SPD war damals nicht in der Lage, diese Vertretungen angemessen auszustatten.225) Im Jahr darauf richtete die Partei beim Partei vorstand einen Außenpolitischen Ausschuß ein. Dem Ausschuß stand seit Herbst 1947 der ehemalige Diplomat Gerhart Lütkens vor, der in London in der Emigration gelebt hatte.226) Dieser Ausschuß war aber hauptsächlich für die Kontaktpflege zu den Mitgliedsparteien des Committee of the International Socialist Conference (COMISCO) zuständig, der die SPD im November 1947 beitrat und die ab 1951 Sozialistische Internationale hieß.227) Er pflegte keine Kontakte zur amerikanischen Arbeiterbewegung. Hans Jürgen Grabbe schreibt: „Auch zur amerikanischen Arbeiterbewegung' wollte die SPD ein Verbindungsbüro einrichten. Soweit die Gewerkschaften gemeint waren, bestanden bereits Kontakte über die GLD [German Labor Delegation]. Die politische Unterstützung der amerikanischen Gewerkschaften galt aber der Demokratischen Partei und nicht den dortigen Splittergruppen sozialistischer respektive sozialdemokratischer Provenienz. Es scheint, als ob die Führung der SPD nicht ausreichend gewürdigt habe, wie sehr das amerikanische Parteien- und Gewerkschaftssystem von dem deutschen abweicht."228) -

223) Henry

Rutz an Jay Lovestone, 22. Juli 1955; Jay Lovestone 1955, GMMA, RG 18-003, 056/19. 224) SPD-Jahrbuch 1946, S. 51; Grabbe: Unionsparteien, S. 71.

an

Henry Rutz,

26. Juli

225) 226)

Grabbe: Unionsparteien, S. 71. Ebda. Lütkens (SPD) war Mitglied der Londoner Union deutscher sozialistischer Organisationen, vgl. Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. 374, 427, 433. In der Mit-

gliederliste des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 3, hg. v. Röder/Strauss, S. 264, ist er jedoch nicht aufgeführt. 227) Grabbe: Unionsparteien, S. 71 f; SPD-Iahrbuch 1947, S. 97f.; Steininger: England und

die deutsche Gewerkschaftsbewegung, S. 60 ff. 228) Grabbe: Unionsparteien, S. 72. Man beachte die Anführungszeichen um den Begriff amerikanische Arbeiterbewegung. Auch Grabbe, der nicht zuletzt die Beziehungen zwischen SPD „und [den] Vereinigte[n] Staaten von Amerika" untersucht, geht hier nicht weiter auf die Besonderheiten der amerikanischen Arbeiterbewegung ein. Beziehungen zwischen AFL bzw. CIO und der SPD erwähnt er nur am Rande, meist in Fußnoten, und Lovestone

246

III. AFL/CIO und die westdeutsche

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Die German Labor Delegation (GLD)229) war im März 1939 von Friedrich Stampfer, einem Mitglied des Exil-Vorstands der SPD und ehemaligen Herausgeber des Vorwärts, gemeinsam mit Rudolf Katz und Gerhart Seger als Sonderausschuß der AFL gegründet worden. In ihr war der „rechte" Flügel der deutschen Sozialdemokratie in den USA vertreten. Ihre Aufgabe war es zunächst, Geld zu sammeln für den Parteivorstand in Europa.230) Bald kam aber noch die Aufgabe hinzu, Flüchtlinge aus Südfrankreich in die USA zu retten, wobei AFL und GLD eng kooperierten.231) Als AFL-Ableger hatte die GLD mit dem CIO nicht in vergleichbarer Form zusammengearbeitet, nicht zuletzt, weil man den CIO für „stark von Kommunisten durchsetzt" hielt. Allerdings bestanden durchaus Kontakte zu den Reuther-Brüdern.232) Diese Tendenz der GLD beeinflußte in der Nachkriegszeit das Verhalten der SPD gegenüber den amerikanischen Gewerkschaftsorganisationen. Es war vornehmlich die AFL, die Beziehungen zur SPD-Spitze pflegte. Dennoch entwickelten sich, wie schon in der GLD, ab Anfang der 1950er Jahre auch gute Beziehungen zu Walter P Reuther.233) Insgesamt jedoch konzentrierte sich der CIO stärker auf den

DGB.234) Die SPD wollte den im Exil aufgebauten Kontakt zur AFL nicht aufgegeben. Erich Ollenhauer hatte 1946 gehofft, Stampfer könnte „persönliche Verbindungen mit den verantwortlichen Stellen der amerikanischen Arbeiterbewegung wird erst für das Jahr 1959 erwähnt, als sich Fritz Erler gegen eine Einmischung des AFLCIO in die Angelegenheiten der SPD verwahrt, ebda. S. 235 f. 229) Radkau: Die deutsche Emigration in den USA, S. 144—169. Für die internen Auseinandersetzungen und die Gründung des Council for a Democratic Germany (CDG) siehe: Ebda., S. 193-203; Langkau-Alex/Ruprecht: Was soll aus Deutschland werden?; Fichter: Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 57 f. Für die Mitglieder der GLD und des CDG siehe: Biographisches Handbuch der deutschprachigen Emigration, Bd. 3, S. 228, 220. 23°) Ursula Langkau-Alex: Zwischen Tradition und neuem Bewußtsein, in: Briegel/Frühwald: Erfahrung der Fremde, 1988, S. 61-77, hier S. 76; Radkau: Die deutsche Emigration in den USA, S. 157; Stampfer: Mit dem Gesicht nach Deutschland, S. 35. 231) Siehe hierzu Anne Klein: Rettung und Restriktion. US-amerikanische Notvisa für politische Flüchtlinge in Südfrankreich 1940/41, in: Exilforschung, 15/1997, S. 213-232. 232) Grabbe: Unionsparteien, S. 68; Stampfer: Mit dem Gesicht, S. 148, 384, 445. Grabbe nennt die Brüder Reuther als Ausnahme, als „einzelne Funktionäre" des CIO, zu denen Kontakt bestand. Für die frühen 1940er Jahre ist diese Einschätzung sicherlich noch korrekt, aber ab Mitte der 1940er wächst der Einfluß Walter Reuthers rapide, und Beziehungen zu ihm haben dann auch für den gesamten nichtkommunistischen Flügel des CIO Relevanz. 233) Dies ist durch Lovestone überliefert, der der SPD vorwarf, Reuther zu bejubeln: Jay Lovestone an Fritz Heine, 30. Juli 1953, GMMA, 18-003, 056/17. 234) In den Akten des AFL-CIO International Affairs Department des GMMA finden sich keine Hinweise auf offizielle oder inoffizielle Zusammenarbeit mit der SPD, weder in den Country Files: RG 18-001, 002 und 003: Germany 1956 bis 1970, noch in den Director's Files: Mike Ross, 1945 bis 1955: RG 18-002,007 und 008 (u.a. CIO International Committee 1945 bis 1956 und CIO European Office 1953), oder RG 18-002, 012/1-16: Germany, oder RG 18-002, 015/26: Reuther Delegation to Europe, oder RG 18-002, 016/3: Victor G. Reuther.

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Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

247

und mit amtlichen Stellen aufrechterhalten."235) Da aber keine Mittel zur Verfügung standen, endete der Versuch, eine amerikanische Vertretung einzurichten, mit der Rückkehr Stampfers 1948.236) Ähnlich ergebnislos verlief umgekehrt ein Versuch der AFL, die Verbindung zur SPD über das Ende der GLD hinaus aufrechtzuerhalten: Max Brauer, ehemaliger Oberbürgermeister von Altona und erster Hamburger Bürgermeister nach dem Krieg, hatte im amerikanischen Exil der AFL und der GLD angehört.237) Er war schließlich der letzte Vorsitzende der GLD, ehe er im Juni 1946 als Leiter einer Delegation der AFL nach Deutschland zurückkehrte.238) Sein Auftrag war es, „eine Untersuchung anzustellen, wie es mit der deutschen Gewerkschaftsbewegung heute aussieht" und „Vorschläge zu unterbreiten, auf welche Weise die American Federation of Labor ihren Arbeitskollegen helfen kann, eine kräftige, freie und unabhängige Gewerkschaftsbewegung wieder zu entwickeln."239) Für Brauer bot dies wohl vor allem die Möglichkeit, frühzeitig nach Deutschland zurückzukehren und dort am politischen Neuaufbau mitzuwirken, was für deutsche Emigranten sonst ein erhebliches Problem darstellte: Die Alliierten handhabten die Rückwanderungspolitik sehr restriktiv. Nach seiner Rückkehr zählte er als Hamburger Bürgermeister zusammen mit Wilhelm Hoegner zu den wohl einflußreichsten Remigranten in Westdeutschland. Brauer gehörte dann dem Parteivorstand der SPD an und war in der Außenpolitischen Kommission und der Programmkommission der Partei tätig. Doch obwohl Henry Rutz mit Brauer in Hamburg verkehrte, scheint sich keine Zusammenarbeit mit Lovestone entwickelt zu haben, der bis Mitte der 1950er Jahre nichts mehr von ihm hörte.240)

235) Erich Ollenhauer an Friedrich Stampfer, 18. September 1946, abgedr. in: Stampfer: Mit dem Gesicht nach Deutschland, S. 722, zit. in: Grabbe: Unionsparteien, S. 72. 236) Grabbe: Unionsparteien, S. 72, Anm. 100. 237) Hedwig Wachenheim an Irving Brown, 24. Oktober 1952, RG 18-004,021/5. Wachenheim erwähnt hier „Brauer, former AFL", und sie mußte es wissen, gehörte sie doch gemeinsam mit Brauer der GLD an und kannte ihn viele Jahre lang. Zu Max Brauer siehe: Michael Wildt: Die Kraft der Verblendung. Der Sozialdemokrat Max Brauer im Exil, in: Exilforschung, 15/1997, S. 162-179; Christa Fladhammer/Michael Wildt, Hg.: Max Brauer im Exil. Briefe und Reden aus den Jahren 1933-1946, Hamburg 1994; Lüth: Max Brauer; Biographisches Handbuch der deutschprachigen Emigration, Bd. 1, S. 86. 238) Gemeinsam mit Rudolf Katz, dem Sekretär der GLD. Die Rückkehr Brauers im Auftrag der AFL findet in der Literatur vielfach Erwähnung. Allerdings hat bislang wohl niemand näher untersucht, was aus diesem Auftrag wurde. Lüth: S. 36f.; Grabbe: Unionsparteien, S. 68; Ernst C. Stiefel/Frank Mecklenburg: Deutsche Juristen im amerikanischen Exil (1933-1950), Tübingen 1991, S. 72. 239) Max Brauer in einem Rundfunkinterview mit Radio Bremen vom August 1946, zit. in: Stampfer: Mit den Gesicht nach Deutschland, S. 721, Anm. 9. Das Ergebnis der Mission waren zwei Denkschriften Brauers und Katz', vom August und September 1946, ebda. 240) „No, I have not heard from Brauer since we sent him back to Germany. That was years ago. I think Brauer dodges me when he comes to the United States. Perhaps I am not important enough for him but much more likely he has a notion that I have been tied up too closely

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Weder Stampfer noch Brauer hatten also den Kontakt zur AFL weitergeführt, eine Vertretung der SPD in den USA gab es nicht, und der Außenpolitische Ausschuß der Partei war für die amerikanischen Gewerkschaften nicht zuständig. Dennoch entwickelten sich rege Beziehungen zwischen Lovestone und dem Parteivorstand. Denn das FTUC wandte sich direkt an die SPDSpitze, ohne den Umweg über die entsprechenden Abteilungen zu nehmen. Es war vor allem Kurt Schumacher, auf den sich die Bemühungen der AFL konzentrierten. Auf ihn baute bis 1952 die SPD-Politik vor allem Jay Lovestones. Dabei wurde Kurt Schumacher von der amerikanischen Militärregierung und von Washington angefeindet, seine Beziehungen zu Clay waren „außergewöhnlich schlecht."241) Die Gründe dafür lagen in den sehr unterschiedlichen Auffassungen beider Seiten über die angemessene Deutschlandpolitik und über die Wirtschaftsordnung ihrer Wahl. Zudem bestanden gravierende Differenzen über den Einfluß, den deutsche Parteien auf die Politik im besetzten Deutschland haben sollten. Schumachers Forderung nach deutscher Souveränität brachten ihm schließlich das Odium des Nationalisten ein. Seine aggressiven Äußerungen wirkten in all dem noch verschärfend auf den Konflikt. Er galt in amerikanischen Regierungs- und Journalistenkreisen als „intoleranter Fanatiker" und „Autokrat".242) Nicht so für die Vertreter des FTUC. Sie unterstützten Schumacher, wo es nur ging, und pflegten regen Austausch mit ihm und seinen Anhängern in der SPD. Der Grund für diese Wertschätzung waren die Positionen Schumachers, vor allem sein entschiedener Wille zur Westorientierung und sein scharfer Antikommunismus.243) Aber auch seine Ablehnung jeglichen Dogmatismus' und seine kämpferische Haltung kamen den Zielen der AFL während der Besatzungszeit sehr nahe. Schließlich teilten auch beide Seiten eine tiefe Abneigung gegen General Clay und seine Politik. with Schumacher, yourself, etc. May be I am wrong. But at any rate, I have not heard from Brauer for years." Jay Lovestone an Fritz Heine, 18. Dezember 1953, GMMA, RG 18-003, 059/26. Heine antwortete: „Ich glaube nicht, dass er ein Gespräch mit Dir vermeidet, weil er etwa zwischen Dir und uns zu engen Kontakt vermutet. Obwohl er natürlich in mancher Beziehung einen anderen Standpunkt hat als wir, so ist er im Grunde genommen doch loyal [...]." Fritz Heine an Jay Lovestone, 5. Februar 1954, GMMA, RG 18-003, 059/27. Rutz dagegen ist mit Brauer ,per Du'; Max Brauer an Henry Rutz, 8. Mai 1950, RG 18-003, 056/14.

241) Grabbe: Unionsparteien, S. 61. 242) Ebda., S. 63; Lewis J. Edinger: Kurt Schumacher, S. 182f. 243) Jay Lovestone an Henry Rutz, 16. Januar 1950, GMMA, RG 18-003, 056/14. Schumachers Haltung zur .Wiedergutmachung* trug sicher auch zu dem hohen Ansehen bei, in dem bei Lovestone stand. Schumacher wies wiederholt, auch bei seinem USA-Besuch 1947, auf die Verpflichtung der Deutschen zur Entschädigung der Opfer und zur Bekämpfung jeglicher antisemitischer Tendenzen hin, gegen die man mit derselben Härte vorzugehen habe wie gegen den Totalitarismus aus dem Osten. Für die Kontakte Schumachers zum JLC siehe: Willy Albrecht: Einleitung zu: Schumacher: Reden. S. 31-199, hier S. 131 f. Siehe auch die Dokumente, ebda. S. 988-1006. er

3.

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Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

Die Beziehungen zwischen Schumacher und der AFL hatten schon 1946 begonnen, als Irving Brown auch in Deutschland unterwegs war, um Kontakte zu knüpfen. Beide stimmten in ihrer Einschätzung der damaligen Lage überein. Schumacher berichtete im August 1948 Stampfer nach New York: „Und schließlich die Gewerkschaft: Da sieht es nicht gut aus. Die parteipolitische Neutralität hat bei den meisten Leuten sozialdemokratischer Herkunft zu der traditionellen Bequemlichkeit geführt. In den Westzonen haben wir zwar im Großen und Ganzen den Gewerk-

schaftsapparat in der Hand, aber die innere Kraft und der Kampfeswille gegenüber Trägern anderer politischer Ideen sind zur Zeit noch nicht stark genug. Auch die amerikanischen Gewerkschaften werden sich, ohne daß man ihnen dieses auf die Nase bindet, mit dieser Situation auseinandersetzen und erkennen müssen, was nun eigentlich in Deutschland los ist. Ich habe schon seit einiger Zeit Fühlung mit einem bedeutenden amerikanischen Gewerkschaftler, der hier in Europa umherreist, und jetzt habe ich auch Brauer und Katz gesprochen. Ein gewisses Vertrauen zu den humanitären und progressiven Elementen in den USA ist die psychologische Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit im Innern und nach außen."244) Schumacher teilte offensichtlich die Einschätzung der AFL, daß die Sozialdemokratie und die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland eng zusammenarbeiten sollten, daß eine „kampfeswillige" Arbeiterbewegung nur durch die enge Kooperation beider Flügel zu erreichen sei. Und auf eine solche starke Bewegung kam es ja auch der AFL in erster Linie an, sie schien ihr das wichtigste Mittel auf dem Weg zu einer stabilen Demokratie in Deutschland. Im Gegensatz zur amerikanischen Militärregierung waren die Vertreter der AFL von der politischen Bedeutung starker Parteien und einer unabhängigen Gewerkschaftsbewegung überzeugt.245) Dies war ihnen in den ersten Jahren des politischen Neuaufbaus in Westdeutschland auch wichtiger als die im einzelnen vertretenen Inhalte, solange diese sich innerhalb des demokratischen, also antikommunistischen Spektrums bewegten. Schumacher war daher in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren der ideale Ansprechpartner für die AFL, was seine politische Haltung anging ebenso wie seinen Einfluß, da er die westdeutsche SPD jener Tage dominierte wie kein anderer. Der Kontakt zwischen AFL und SPD lief über regelmäßige Treffen und ausführliche Gespräche mit Schumacher und seinen engeren Mitarbeitern, vor allem Fritz Heine, aber auch Erich Ollenhauer, Wilhelm Mellies und Herbert Wehner. Es war die Aufgabe von Henry Rutz, diese Verbindungen zu pflegen, da er sich ständig in Westdeutschland aufhielt. Allerdings mußte Rutz noch bis 1952 mehrfach von Lovestone an diese Aufgabe erinnert werden. Denn Rutz verfolgte statt dessen einen anderen Kurs. Er konzentrierte sich

244)

Kurt Schumacher an Friedrich Stampfer, 28. August 1946, zit. in: Stampfer: Mit dem Gesicht nach Deutschland, S. 718-721, hier S. 721. Es dürfte sich mit ziemlicher Sicherheit um Irving Brown gehandelt haben, da Rutz in dieser Zeit und auch später nicht „in Europa umherreiste". Es war Brown, der Anfang 1946 für die frühe Kontaktaufnahme mit der SPD in London zuständig war und von dort nach Deutschland weiterreiste, um mit Schumacher Kontakt aufzunehmen. 245) Vgl. hierzu Grabbe: Unionsparteien, S. 61 f. -

-

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zum einen auf den entstehenden DGB und baute zum andern schon früh Kontakte zu einem Teil der SPD auf, mit dem Lovestone und Brown zunächst nichts anfangen konnten: dem rechten Flügel um Max Brauer, Wilhelm Hoegner und Willy Brandt, die eben nicht zur Schumacher-Fraktion gehörten und die eine ganz grundsätzliche Reform der Partei betrieben. Rutz pflegte jedenfalls schon vor 1950 Kontakt zu Brauer und vernachlässigte seine Pflichten beim schumachertreuen Parteivorstand.246) Lovestone dagegen führte zwischen 1951 und 1963 eine intensive und sehr persönliche Korrespondenz mit Fritz Heine, der im SPD-Parteivorstand für das Pressewesen und für das Ostbüro der SPD zuständig war.247) Hier wurde sehr offen über Politik und über ihre ideellen Grundlagen diskutiert und bei Meinungsverschiedenheiten kein Blatt vor den Mund genommen. Dennoch war der Umgang miteinander von gegenseitigem Respekt geprägt und dem Bedürfnis, dem anderen die eigene Position nahezubringen. Nur jahrelange gegenseitige Bekanntschaft und gewachsenes Vertrauen können einen solchen Austausch hervorbringen.248) Dies bewegte sich aber nicht mehr auf der Ebene der offiziellen oder halboffiziellen Kontakte zwischen den Organisationen, sondern gehörte in den Bereich der informellen, persönlichen und gewachsenen Beziehungen; diese wiederum waren das Medium der eigentlichen inhaltlichen Zusammenarbeit zwischen Personen, die Überzeugungen und Ziele teilten oder die zumindest bereit waren, sich mit ihrem Gegenüber auseinanderzusetzen. Vom Partei vorstand der SPD pflegten außerdem auch Willi Eichler und Heinz Putzrath solche informellen und persönlichen Kontakte zu den Vertretern der AFL.249) Eichler, Jahrgang 1896, war seit 1927 Vorsitzender des ISK gewesen und hatte während des Exils in der ,Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien' eine wichtige Rolle gespielt.250) Im DGBBundesvorstand waren es zunächst wenige, die auf dieser Ebene beteiligt waren, hier war es eher die zweite Reihe der DGB-Funktionäre, wie etwa Landesbezirksvorsitzende, die erst Mitte der 1950er Jahre in den Vorstand aufrückten. Werner Hansen ist hierfür das wichtigste Beispiel. Aber auch in einzelne Ge-

246) „Please keep

in touch with Heine and Schumacher." Jay Lovestone an Henry Rutz, 21. Januar 1952, GMMA, RG 18-003, 056/16; „May I suggest you spend a little more time in the near future with our S.P.D. friends?" Jay Lovestone an Henry Rutz, 28. November 1952, GMMA, RG 18-003, 056/16; außerdem [Irving Brown] an Jay Lovestone, 3. August 1950, GMMA, RG 18-003, 011/12; Max Brauer an Henry Rutz, 8. Mai 1950, GMMA, RG

18-003,056/14.

247) Zu Heine, Jg. 1904, siehe die Kurzbiographie im Anhang sowie Appelius: Heine. 248) GMMA, RG 18-003, 059 passim. 249) Für Putzraths Kontakte, auf die im folgenden nicht mehr weiter eingegangen wird, siehe: Bruno Rother, Social Democratic Federation, Deutsche Sprachgruppe, New York, an

Willi Eichler, 30. Januar 1955, AdsD, NL Willi Eichler, Box 1955-56, Fsc. 1955: „stehen auch über den Genossen Putzrath mit dem PV in staendiger Verbindung." 25°) Siehe zu Eichler die Kurzbiographie im Anhang sowie Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus.

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

251

werkschaften reichten die Kontakte, wie etwa zur IG Metall, wo Kuno Brandel und Siggi Neumann, auf die noch zurückzukommen sein wird, die Verbindung zur AFL herstellten; oder zur Eisenbahnergewerkschaft Hans Jahns, zu dem die AFL-Vertreter sehr enge Beziehungen pflegten. Auch zur Gewerkschaftspresse hatten sie Fühlung, über Kuno Brandel zur IG-Metall-Zeitschrift Metall oder über August und Irmgard Enderle zur DGB-Zeitschrift Der Bund.251) Als AFL-naher Verbindungsmann zwischen westdeutscher und internationaler Ge-

werkschaftsbewegung fungierte Hans Gottfurcht.252) Diese Gewerkschaftsfunktionäre, Parteipolitiker und Redakteure waren wiederum untereinander mehr oder weniger gut bekannt, einige hatten schon bis zu zwanzig Jahre gemeinsamen Weges hinter sich. Sie banden andere mit in das weitere Netzwerk ein, die selbst keine Verbindungen zur AFL unterhielten, und verschafften den AFL-Vertretern auch Zugang zu Organisationen, zu denen keine nennenswerten offiziellen Beziehungen bestanden. Auch zum CIO, vor allem zu den Reuthers, unterhielten diese Angehörigen des Netzwerks Verbindungen, sehr zum Leidwesen der AFL-Politiker. Insgesamt bietet sich das Bild eines Netzwerks innerhalb der westdeutschen Arbeiterbewegung, das sich zum Teil mit dem weltweiten bzw. Europa-zentrierten Netzwerk der amerikanischen Gewerkschaftsbünde überschnitt und darin eingebunden war. Die .Verbindungsleute' zwischen diesen Netzwerkbereichen waren zum allergrößten Teil ehemalige Angehörige des Exils, die die Kriegsjahre meist in London, aber auch in den

USA oder in Skandinavien verbracht hatten. Auf dieser Ebene der persönlichen Verbindungen ist daher auch die Trennung zwischen Gewerkschaftskontakten der Amerikaner einerseits und Kontakten zur SPD andererseits nicht mehr durchzuhalten. Denn erstens kam es innerhalb des Netzwerks vielfach zur Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaftern,253) so daß sich die Struktur der Beziehungen nicht erzählen ließe, wollte man sie getrennt darstellen. Und zweitens gab es nicht wenige Fälle von Personalunion: Gewerkschafter in Bundestags- und Landtagsfraktionen der SPD, ehemalige Gewerkschafter in der Parteiarbeit oder ehemalige SPD-Dissidenten aus Weimarer Zeit, die nach 1945 im Gewerk-

25')

Für die Rolle der Gewerkschaftspresse im Netzwerk siehe: Julia Angster: „Parteipolitische Diskussionen gehören nicht in die Gewerkschaft". Kuno Brandel und die IG Metall 1949-1961, in: Claus-Dieter Krohn/Axei Schildt, Hg.: Zwischen den Stühlen? Remigranten

und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, Hamburg 2002. S. 267-293. 252) Hans Gottfurcht war 1945-50 Verbindungsmann zwischen TUC und deutschen Gewekschaften; 1952-1960 stellvertretender Generalsekretär des ICFTU. Siehe die Kurzbiographie im Anhang sowie: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Bd. 1, S. 237, und den Nachlaß Gottfurchts im DGB-Archiv (Bestand 272). 253) „Es scheint mir ziemlich sicher zu sein, dass es auf verschiedenen Ebenen zur Zusammenarbeit zwischen SPD- und DGB-Funktionären die sich von der Emigrationszeit her kannten gekommen ist." Fritz Heine in einem Brief an die Verfasserin vom 22. Januar -

1998.

-

252

HI. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

schaftsumfeld tätig waren. Der Knotenpunkt zwischen beiden Wegen lag auch hier oft in der Zeit des Exils. Die strukturelle Zweiteilung der Darstellung in Partei und Gewerkschaften auf deutscher Seite wird daher im folgenden aufgegeben, und die Personen, ihre Beziehungen und Rollen im Netzwerk bestimmen die Anordnung der Fakten. Die Lebenswege dieser Menschen und die ihnen gemeinsamen Brüche und Wandlungen ebenso wie die organisatorischen Verknüpfungen zwischen ihnen müssen betrachtet werden, will man die Struktur dieses Beziehungsgeflechts und seine Entstehung untersuchen. Im folgenden soll nun geklärt werden, woher die Kontakte im einzelnen stammten und wie sich die Beziehungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit entwickelten. b. Wurzeln des deutsch-amerikanischen Netzwerks im Exil

Der,Londoner Strang' des Netzwerks geht auf die frühen 1940er Jahre zurück. Die Beziehungen der deutschen Exilanten in Großbritannien zu den USA begannen im September 1942, als das OSS, der amerikanische Nachrichtendienst der Kriegsjahre, in London eine Abteilung einrichtete, die für die Kontakte zu den Exilorganisationen der deutschen Arbeiterbewegung zuständig war, die Labor Desk des OSS.254) Jan Foitzik macht darauf aufmerksam, daß der Aufbau einer Verbindungsstelle zur emigrierten europäischen Arbeiterbewegung ein recht unorthodoxer Weg der geheimdienstlichen Arbeit war, den das OSS hier beschritt.255) Die Idee, den innerdeutschen Widerstand in den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland einzubeziehen und zu diesem Zweck auf die deutsche Emigration zuzugehen, stammte vom April 1942, entstand also noch vor der Gründung des OSS im Juni 1942, und ging auf einen Vorschlag Karl Franks (alias Paul Hagens), des Leiters der Auslandsabteilung der Gruppe Neu Beginnen in den USA, zurück.256) Die konkreten Kontakte zu den sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Emigranten in Europa, vor allem aber in Großbritannien, vermittelte ebenfalls eine deutsche Emigrantin, nämlich Toni Sender, 254) Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 66-87; Jürgen Heideking: Das Office of Strategie Services und der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Wahrnehmungen, Reflexionen und Reaktionen, in: Reinhard R. Doerries, Hg.: Diplomaten und Agenten. Nachrichtendienste in der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen, Heidelberg 2000, S. 112-145.

255)

Jan Foitzik: Revolution und Demokratie. Zu den Sofort- und Übergangsplanungen des sozialdemokratischen Exils für Deutschland 1943-1945, in: IWK, 24/1988, S. 308-342, hier S. 321. 256) Vgl. Karl Frank: Vorbereitung einer Zusammenarbeit mit der Anti-Nazi-Untergrundbewegung, abgedr. in: Jürgen Heideking/Christof Mauch, Hg.: USA und deutscher Widerstand. Analysen und Operationen des amerikanischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg. Originaldokumente aus dem Amerikanischen übersetzt, Tübingen u.a. 1993, S. 155-158, vgl. auch Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 77. Für biographische Angaben zu Frank siehe: Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 270f.

3.

253

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

ehemalige Reichstagsabgeordnete der SPD, die im Office for European Labor Research in New York tätig war, welches wiederum mit dem OSS verbunden war.257) Durch Sender kam das OSS mit den Gewerkschaftern Hans Gottfurcht und Hans Jahn258) sowie unter anderem über Fritz Heine mit der SOPADE in Verbindung. In der Folge richtete die OSS-Labor Branch, die für die Arbeiterbewegung zuständige Abteilung des OSS, in London ein eigenes Labor Desk ein, das zunächst kurz von Major Arthur J. Goldberg, dem Chef der OSS-Labor Branch, geleitet, und als dieser im Herbst 1942 in die USA zurückging, von George O. Pratt bis Anfang 1945 weitergeführt wurde. Auch in anderen Ländern richtete die Labor Branch des OSS Niederlassungen ein. Das junge

OSS arbeitete in diesem Bereich mit dem erfahreneren britischen Geheimdienst zusammen, der wiederum nicht über die finanziellen Möglichkeiten seines amerikanischen Gegenübers verfügte.259) Diese Abteilungen kooperierten eng mit deutschen Emigranten und mit der internationalen Gewerkschaftsbewegung. Das OSS brauchte deren Informationen über die Lage der Arbeiterschaft und des Widerstandes in Deutschland, und es brauchte ihre Kooperation, um zuverlässige Gewerkschafter und Sozialisten auszuwählen und auszubilden. Deren Aufgabe sollte es dann sein, Kontakte zur Bevölkerung und vor allem zum Widerstand in Deutschland und den besetzten Ländern herzustellen. Besonders zur Union in London bestanden bald enge Verbindungen, da diese über ein noch verhältnismäßig gut erhaltenes Kommunikationsnetz in Europa verfügte.260) Die Mitglieder der Union in London arbeiteten, wie zahlreiche Emigranten in anderen Exilländern auch, bereitwillig mit dem OSS zusammen, wenn auch mit Einschränkungen: Die eigene politische Unabhängigkeit sollte gewahrt bleiben, und die eigenen Ziele durften für die Kriegsziele der Alliierten nicht hintangestellt werden. Ein wichtiges Symbol für die eigene Integrität war die verbreitete Weigerung, in alliierter Uniform aufzutreten. Denn trotz aller Verbrechen, die der Nationalsozialismus

257) Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 77 f. Zu Toni Sender siehe: Annette HildBerg: Toni Sender (1888-1964). Ein Leben im Namen der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit, Köln 1994. Sender remigrierte nicht, sondern war in den 1950er Jahren bei der UNO tätig. Sie hielt aber weiter Kontakt sowohl zur AFL als auch zu ehemaligen deutschen Emigranten. Vgl. auch BAK, Bestand N 1274: NL Ernst Fraenkel, z. B. Hedwig Wachenheim an Ernst Fraenkel, 22. Sepember 1956, Band 19. 258) Zu Hans Jahn (1885-1960), dem Vorsitzenden der Eisenbahnergewerkschaft, siehe die biographischen Angaben im Anhang sowie den Lebenslauf Hans Jahns in: AdsD, Bestand ITF, Sammlung Jahn, Mappe 119, und die Kurzbiographie Jahns in: Friedel Jahn

Esters, Friedrich-Ebert-Stiftung, 18. Februar 1967, ebda., Mappe 121.

an

Herrn

259) Die Leitung des Labor Desk wechselte ab 1945 mehrfach. Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 78; Foitzik: Revolution und Demokratie, S. 321. Zu Goldberg siehe Ranelagh: The Agency, S. 65. Zur Rolle des britischen Geheimdienstes und zur Zusammenarbeit mit der Union in London siehe: Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, passim. 25ü) Es war in erster Linie der ISK, der über ein solches Netz verfügte, und zwar noch einige Zeit über 1940 hinaus und 1945 wieder. Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. CXXXI.

254

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

dieser Zeit beging, haftete dieser Zusammenarbeit doch das Odium des Vaterlandsverrats an.261) Dabei machten sich die Mitglieder des Exils nicht einfach zu Handlangern der Amerikaner oder der Briten, sondern suchten sich starke Verbündete, getreu ihrer Maxime, den „Kampf für die Niederlage Hitlers und seiner Bundesgenossen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und im Bündnis mit allen Gegnern der totalitären Kräfte" zu führen.262) Die Interessenkongruenz reichte über die gemeinsame Gegnerschaft zum Nationalsozialismus hinaus, denn auch in der Ablehnung des Kommunismus war man sich einig, und in den groben Zügen sogar über die Nachkriegsordnung. Die deutschen Exilanten verfolgten mit dieser Zusammenarbeit vor allem eigene Interessen. So ließ sich mit Hilfe des OSS die Verbindung zu den anderen Exilzentren in den USA, aber auch in der Schweiz und in Schweden besser aufrechterhalten; zudem boten die internen Denkschriften der Research & Analysis Branch des OSS nützliche Informationen, zu denen die Mitglieder des Exils sonst keinen Zugang gehabt hätten; außerdem erleichterte die Mitarbeit bei der Regierungsstelle OSS den Zugang zu den alliierten Regierungen, denen so die eigenen Vorstellungen und Pläne leichter nahezubringen waren. Auch die Frage der Rückkehr wollte bedacht sein. Denn mit Fortschreiten des Krieges wurde es bald unmöglich, ohne die Unterstützung der Gastländer bzw. dann der Besatzungsmächte nach Deutschland zu gelangen und auf die Entwicklung dort Einfluß zu nehmen. Die Zusammenarbeit mit dem OSS eröffnete nicht nur die Möglichkeit, sofort mit Kriegsende nach Deutschland einzureisen und die Verbindung zu den politischen Freunden im Land wieder herzustellen, sondern auch bei der Neuordnung von Parteien und Gewerkschaften aktiv tätig zu werden und als Emissär oder Berater der Besatzungsmacht die eigenen, im Exil entwickelten Pläne auch umzusetzen.263) Mit zu den ersten, zu denen die Labor Branch noch vor der Gründung der Londoner Dépendance Kontakt aufnahm, gehörte Omer Becu, Sekretär der Internationalen Transportarbeiterföderation. Die ITF hatte schon in den 1930er Jahren mit dem britischen Geheimdienst kooperiert und führte die Arbeit nun zu

261)

Dies änderte sich erst allmählich und wirkte sich auch auf die Geschichtswissenschaft Neuere Untersuchungen zu diesem Bereich aus der Geschichtsschreibung zur Arbeiterbewegung selbst sind eher noch selten, die Ausnahmen sind: Eiber: Verschwiegene Bündnispartner; Ulrich Borsdorf/Lutz Niethammer: Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Geheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik 1945, Wuppertal 1976. Die Emigrationsforschung ist schon früher auf dieses Feld gestoßen, siehe etwa: Söllner: Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland; Foitzik: Revolution und Demokratie. 262) „Gemeinsame Erklärung über die Gründung der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien' vom 19. März 1941", abgedr. in: Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. 18 f., hier S. 18. 263) Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 78f. aus.

,

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

255

mit den Amerikanern fort.264) Es waren die europaweiten Reisemöglichkeiten und ihr funktionierendes Netz aus Widerständlern, das die ITF so attraktiv machte, für die alliierten Geheimdienste ebenso wie für die deutschen Exilgruppen. So bestand jedenfalls seit 1942 eine enge Verbindung zwischen der ITF und dem ISK, die von der persönlichen Zusammenarbeit zwischen dem ITF-Vorsitzenden Edo Fimmen, Hans Jahn von der Eisenbahnergewerkschaft und dem Leiter des ISK, Willi Eichler, getragen wurde.265) Es war auch die ITF, die 1942 erste Kontakte zwischen dem OSS Labor Desk in London und Willi Eichler herstellte. In London bildete sich in den Jahren 1942 bis 1944 unter den Führungsmitgliedern der Union ein Stamm von Mitarbeitern des Labor Desk heraus.266) Bald entwickelten sich auch Beziehungen zwischen den Sozialdemokraten im schwedischen Exil und Angehörigen der amerikanischen Botschaft in Stockholm. Im Frühjahr 1944 begann in London die Phase der intensiven Zusammenarbeit. Ausbildungsprogramme sollten die Kontaktaufnahme mit illegalen deutschen Gewerkschaften vorbereiten und langfristig den Gewerkschaftsaufbau anbahnen. Parallel dazu waren einige mit der Informationsgewinnung über Deutschland beschäftigt, andere arbeiteten mit Kriegsgefangenen und berieten die Amerikaner bei der Auswahl von Mitarbeitern. Mitte 1944 hatte sich ein reger Meinungsaustausch entwickelt zwischen Gerhard P. Van Arkel, dem Stellvertreter Pratts,267) auf der einen Seite und Willi Eichler, Hans Jahn, Erich Ollenhauer und Hans Gottfurcht, dem Leiter der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien, auf der anderen.268) Ein zentraler Aspekt der Zusammenarbeit von Union und OSS war die Vorbereitung auf die Besetzung Deutschlands. Hierzu wurde am 1. April 1944 vom OSS eine eigene Abteilung eingerichtet, die sogenannte ,Bach Section'.269) Deren Aufgabe war es, sogenannte ,Guides' nach Deutschland einzuschleusen, die den vorrückenden Truppen Kontakt zur Bevölkerung verschaffen und bei der Auswahl von Funktionären helfen sollten. Zur Vorbereitung dieser Aktion hielten sogenannte ,Bach Consultants' in London, zum Beispiel Ludwig Rosenberg, Erich Ollenhauer und Hans Gottfurcht, Schulungen ab.

264) Foitzik: Revolution und Demokratie, S. 321. 265) vgl. AdsD, Bestand IJB/ISK und Bestand Internationale Transportarbeiter-Föderation

(ITF). Mappen 63-73. Vgl. auch Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 124. Foitzik: Revolution und Demokratie, S. 322. Van Arkel wurde im September 1944 unter Allan W. Dulles, den späteren CIA-Chef, Leiter der OSS-Labor Branch in Bern, und arbeitete dort mit dem ISK-Mitglied René Ber-

266) 267)

tholet

zusammen.

Ebda., S. 324.

268) Ebda., S. 322-324, 328. 269) Die Bach Section wurde von Lazare Teper geleitet, Mitarbeiter waren u.a. I.S. Dorfmann, Walter L. Freund und Erhard Konopka, ein in die USA emigriertes Mitglied des ISK. Hierzu und zum folgenden siehe Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 79-81; Eiber. Sozialdemokratie in der Emigration, S. LIII-LVIII; Link: ISK, S. 312-322. Der Name der Abteilung war nach Johann Sebastian Bach gewählt, und sollte wohl an andere deutsche Traditionen gemahnen.

256

HI. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

Die ausgewählten ,Bach Guides' wurden ausgebildet und bestimmten Bezirken in Deutschland zugeteilt. Zeitweise wurde auch das Konzept verfolgt, auf diese Weise den ISK in Deutschland zu reaktivieren. Denn dieser war die einzige nichtkommunistische Widerstandsorganisation, die während des Krieges noch eine gewisse Form von Kommunikation zwischen der Inlandsgruppe und der Auslandsleitung erhalten konnte. Von Herbst 1944 bis Mai 1945 wurden nach OSS-Angaben rund 100 Guides hinter den deutschen Linien abgesetzt, tatsächlich dürfte es aber nur 19 erfolgreiche Aktionen gegeben haben.270) Die meisten waren entweder Fehlschläge oder blieben ohne größeren Nutzen für die Alliierten. Der Großteil der Guides gelangte erst mit den Alliierten in ihre vorgesehenen Einsatzorte. Diese frühen Remigranten stellten dann jedoch schnell Verbindungen her zwischen den sich neu formierenden Gewerkschaften bzw. der SPD und den Exilgruppen. Sie nahmen ganz gezielt Kontakte zu zuverlässigen Freunden aus dem Widerstand auf und hatten großen Einfluß auf den Neuaufbau der westdeutschen Arbeiterbewegung.271) Auf diese Weise kamen unter anderen Werner Hansen nach Köln und Hans Jahn nach Leipzig.272) Jahn berichtete Hans Gottfurcht im März 1945, sein Auftrag sei es, die Möglichkeit zum Wiederaufbau von Gewerkschaften zu erkunden, und dafür drei bis vier Wochen im Land zu bleiben. Ihm selbst gehe es aber nicht um den Aufbau von Gewerkschaften, sondern darum, Informationen für die ITF zu gewinnen.273) Hauptsächlich jedoch informierten die Guides Sozialdemokraten und Gewerkschafter vor Ort über die Beschlüsse des Exils zum Neuaufbau von Partei und Gewerkschaften und nahmen, wo sie konnten, Einfluß auf den Organisationsaufbau und die Besetzung von Positionen. Das Ziel der Mitgliedsorganisationen der Union und der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien war es vor allem, ihr Konzept unter ihren politischen Freunden in Deutschland durchzusetzen. Aber die Situation, die sie in Deutschland vorfanden, die materielle Not und das allgemeine Durcheinander, ließ ihre Pläne schnell illusorisch erscheinen und machte deutlich, daß die Voraussetzungen, auf denen ihre Programme basierten, unrealistisch gewesen waren.274) Dennoch waren ihre Konzepte der Realität der Nachkriegszeit eher angemessen als

27°)

Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 80; Nigel West: Secret War. The Story of SOE, Britain's Wartime Sabotage Organisation, London 1993, S. 313 f.; Foitzik: Revolution und Demokratie, S. 330.

271)

Eiber: Sozialdemokratie in der Emigration, S. LVI; Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 80; Foitzik: Revolution und Demokratie, S. 337 f.; Borsdorf/Niethammer: Zwischen Befreiung und Besatzung; Lutz Niethammer et al., Hg.: Arbeiterinitiative 1945. Antifaschistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiterbewegung in Deutschland. Wuppertal 1976; Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995. 272) Vgl. Foitzik: Revolution und Demokratie, S. 335f., Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 80.

273) Foitzik: Revolution und Demokratie, S. 335.

274) Ebda., S. 338.

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

257

die Vorstellungen jener, die abgeschnitten von aller Information und in der Passivität eines langjährigen inneren Widerstandes versucht hatten, ihre politische Identität zu wahren. Beide Seiten begannen nun gemeinsam mit dem Wiederaufbau der deutschen Arbeiterbewegung, und auch wenn es zum größten Teil die „reaktivierten Inlandskräfte" waren, die die SPD und die Gewerkschaften rekonstruierten,275) so veränderte auf lange Sicht das Exil, über die Remigranten und über die Kontakte, die sie mitbrachten und weiterführten, die deutsche

Arbeiterbewegung tiefgreifend.

Willi Eichler übte einen besonderen Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung aus. Bei ihm, als dem unumstrittenen Kopf des nach wie vor streng hierarchisch aufgebauten ISK, liefen die Fäden zusammen, die zu Mitgliedern in Großbritannien, Deutschland, in der Schweiz und in den USA führten. Nicht alle kehrten nach Deutschland zurück, und das Netz des ISK behielt auch nach 1945 seinen internationalen Charakter. Eichler selbst konnte erst Anfang 1946 nach Deutschland zurückkehren276) und hielt in London bis dahin weiter Kontakt zur ITF und zu den Amerikanern. Die Zuständigkeit des OSS war aus amerikanischer Sicht nun aber beendet, auch wenn die Emigranten noch nicht nach Deutschland zurückgekehrt waren. Statt dessen nahm sich zunächst die United States Group, Control Council (USGCC) und dann OMGUS der exilierten Mitglieder der deutschen Arbeiterbewegung an. Hier schließt sich auch wieder der Bogen zu AFL und CIO, die in der Manpower Division bei USGCC und ihrer Nachfolgerin OMGUS zahlreich vertreten waren. Aber auch in den Kriegsjahren waren die amerikanischen Gewerkschaftsbünde indirekt an das Geschehen in London angebunden, denn Arthur J. Goldberg, der Chef der Labor Branch des OSS und der erste Leiter des Londoner Labor Desk, war nicht nur im Zivilberuf der Rechtsberater des CIO, sondern arbeitete in der OSS-Labor Branch auch mit Jay Lovestone zusammen.277) Goldberg scheint zudem der Verbindungsmann zwischen dem Jewish Labor Committee (JLC) und den Londoner Emigranten gewesen zu sein: Als Goldberg nach London kam, um den Labor Desk aufzubauen, wurde er vom JLC bei Fritz Heine angemeldet.278) Heine war in Marseille an der Rettungsaktion der German Labor Delegation und der AFL für deutsche Flüchtlinge beteiligt gewesen; das JLC hatte bei der Finanzierung und der Visa-Beschaffung für die Flüchtlinge geholfen.279) Auch der ISK hatte direkte Verbindungen zum JLC in den USA. Nach Kriegsbeginn fanden sich 15 Mitglieder des ISK in der amerikanischen Emigration. Zwei der aktivsten unter ihnen, die auch regen Kontakt zu Willi Eichler in London hatten, nämlich Erna Blencke

275) 276)

Ebda. Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 206; IJB/ISK. 277) Ranelagh: The Agency, S. 249. 278) Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 78. 279) Klein: Rettung und Restriktion.

vgl.

auch: NL Eichler, AdsD, Bestand

258

III. AFL/CIO und die westdeutsche Arbeiterbewegung 1945-52

und Eva Pfister, unterhielten enge Verbindungen zum JLC, das auch die ISKArbeit in Deutschland unterstützt hatte.280) Eichler hatte noch in London Kontakt mit Porter und Rutz aufgenommen, die als Vertreter der Manpower Division Vorbereitungen für den gewerkschaftlichen Wiederaufbau trafen: zwar ausführlich, Oberst Porter, den Hauptberater der amerikanischen Militärregierung für Arbeiterfragen. Er ist jetzt in Frankfurt, und wird später wahrscheinlich nach Wiesbaden gehen. Er ist ein amerikanischer Gewerkschafter, Sekretär der Schiffsbauergewerkschaft, und teilt völlig unsere Meinung über den Aufbau deutscher Gewerkschaften. [...] Das gleiche trifft zu bei Captain Rute [sie!], der eine ähnlich hohe Stellung hat und jetzt in Frankfurt ist. Auch er ist alter Gewerkschafter, Schriftsetzer, und kennt Deutschland aus früheren Reisen sehr gut; er hat auch gelegentlich Vorträge in der Bernauer Gewerkschaftsschule gehalten. Er ist sehr beunruhigt über das Fehlen jeder grundsätzlichen Politik im westlichen Besatzungssektor, und hat jetzt vor, ein Memorandum auszuarbeiten, in dem der A[llied] C[ontrol[ C[ouncil] aufgefordert wird, den Aufbau wirklicher deutscher Gewerkschaften von sich aus zu ermutigen und nicht nur hier und da schüchtern auftretende Versuche nachträglich mit süß-saurer Miene zu tolerieren. In diesen Richtlinien soll auch verankert werden, was zu einer richtigen Gewerkschaft gehört, und es sollen darin Wege angedeutet werden, wie verhindert werden kann, daß irgendeine zufällig zusammengewählte Vertretung von Arbeitern als der Keim einer neuen, wirklich freien Gewerkschaftsbewegung anerkannt wird."281)

„Ich habe ferner gesprochen, und

Dies macht deutlich, wie sehr die künftige Kooperation mit den amerikanischen Gewerkschaftern bzw. Besatzungsoffizieren durch inhaltliche Übereinstimmung veranlaßt war: Eichler und mit ihm der ISK waren, was den gewerkschaftlichen Wiederaufbau anbelangte, Anhänger der „Porter-Rutz-Fraktion" und ihres free trade unionism, also der zentralisierten, repräsentativ verfaßten Gewerkschaftsstruktur. Genauer gesagt, deckte sich ihr eigenes Gewerkschaftskonzept mit demjenigen dieser Gruppe innerhalb der amerikanischen Militärregierung. Trotz dieser inhaltlichen Übereinstimmung stellte sich die Frage nach der Form der Zusammenarbeit. Eichler, dessen Autorität über alle Mitglieder des ISK auch in theoretischen und politischen Fragen gar nicht überschätzt werden kann, und der darüber hinaus in der Londoner Union zu den Führungsfiguren zählte, was ihm auch in der Sozialdemokratie Gewicht verlieh, stellte im Juni 1945 einige grundsätzliche Überlegungen zur weiteren Zusammenarbeit mit den Alliierten an, die den weiteren Umgang der beiden Seiten prägen und sich auch auf die Kooperation mit den amerikanischen Gewerkschaftsbünden auswirken sollten.

28°)

Erna Blencke (ISK)

war

Mitarbeiterin des JLC. Eiber: Sozialdemokratie in der Emigra-

tion, CXXVII; Link: ISK, S. 272, Anm. 8. Auch zwischen den sozialdemokratischen Emigranten und der AFL stellte das JLC eine Verbindung her: „Ihr Wort öffnete den sozialdemo-

kratischen

Emigranten den Weg zu William Green, George Meany und Matthew Woll." Mit dem Gesicht nach Deutschland, S. 149. 281) Willi Eichler an Hanna Bertholet, 6. Juni 1945, abgedr. in: Eiber. Sozialdemokratie in der Emigration, S. 795-801, hier S. 797. Stampfer.

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

Eichler rechnete nicht mit umfassenden dieser Einschätzung folgerte er

259

.Säuberungen' in Deutschland. Aus

„für eine auf etwas längere Sicht hinarbeitende Politik, daß Deutsche nicht bezahlter Teil der Okkupations-Maschinerie sein dürfen, wenn sie se[lb]er als Leute auftreten wollen, die politische Pläne haben, die aus objektiven Gründen konzipiert und nicht aus Rücksicht auf eventuelle

Brotgeber gestaltet worden sind."282)

Diese Vorsicht im Hinblick auf die Form der

Kooperation

bedeutete für den

ISK, und auch für die übrigen Mitgliedsorganisationen der Union und für die Gewerkschafter in der Landesgruppe, aber nicht, auf diese Einflußmöglichkeit

verzichten. Man müsse, wenn man auch nicht als Bestandteil der Besatzungsmacht auftreten könne, und dies auch gar nicht wolle, dennoch „alles versuchen, in engem Kontakt zu diesen Behörden zu stehen, soweit diese wirklich der Natur der Sache nach, d. h. aus eigenem wohlverstandenen Interesse und aus allgemeinmenschlicher Rücksicht, für dasselbe eintreten wie wir."283) In der Frage der „Ausrottung aller Spuren der Nazibewegung" existiere eine solche Übereinstimmung mit Sicherheit, hier könne man daher vorbehaltlos, wenn vielleicht auch nicht offen, zusammenarbeiten. Die von ihm gewünschte Form der Zusammenarbeit ergab sich aus diesen Überlegungen: zu

was einfach ist, eine Maschinerie uns aufbauen, die so funktioniert, daß Freunde einen Mittelsmann kennen, der unseren Freunden bei den Besatzungsbehörden die Informationen gibt, die für den hier genannten Zweck nützlich sind. [...] Es gibt darüber hinaus für eine Reihe von Bekannten und vielleicht auch für manche unserer Freunde eine Möglichkeit, als Angestellte der Behörden nach Deutschland zu gehen, wenn diese Anstellung offensichtlich technischer Natur ist und wenn diese Freunde später an irgendeiner prominenten Stelle zu wirken nicht die Absicht oder das Vermögen haben. Solche Arbeiten sind etwa Übersetzerarbeiten, Zensorenarbeiten und dgl. [...] Es ist wichtig, unseren Rat überall da anzubringen, wo er entweder gewünscht wird oder wo wir glauben, er sollte gewünscht und befolgt werden. Das ist der Fall bei der Besetzung von bestimmten Stellen durch entweder zuverlässige Menschen oder, darüber hinaus, durch unsere mehr oder weniger engen Freunde. Das Beispiel, das Ihr anführt: Kramers [das ist Hans Jahn, J.A.] Hilfe bei der Ernennung des Polizeipräsidenten und des Bürgermeisters von Leipzig, beweist nicht, daß man Angestellter sein muß; es beweist nur, daß man Mittel und Wege finden muß, der A[merican] Military] G[overnment] oder später der A[llied] Qontrol] C[ouncil] vernünftige Ratschläge zukommen zu lassen. Wie das möglich ist, dafür lassen sich natürlich keine allgemeinen Richtlinien entwickeln; umso mehr bleibt hier der Initiative jedes einzelnen überlassen, der versuchen muß, persönlichen Kontakt herzustellen."284)

„Wir können also,

unsere

Die

mit Porter und Rutz bot eine erste konkrete Gelegenheit, Vorgehensweise anzuwenden. Denn Rutz wollte seinerseits, falls sein Memorandum zum Gewerkschaftsaufbau akzeptiert werde, das heißt, falls es zum Aufbau von deutschen Gewerkschaften nach dem Prinzip des free trade unionism käme, „sofort eine ganze Reihe deutscher Antifaschisten, die für den

Fühlungnahme

diese

282) Ebda., S. 796. 283) Ebda. 284) Ebda., S. 796 f.

260

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

Aufbau einer solchen Arbeiterbewegung Neigung, Erfahrung und Geschick genug mitbringen, nach Deutschland haben und sie dort plazieren, wo sie am nötigsten sind."285) Für Eichler bot sich hier zugleich die Möglichkeit, eventuell auch „eine ausgesprochene ISK-Arbeit" in Gang zu bringen.286) Zugleich hielt Eichler Kontakt zu den nun in Deutschland tätigen ISK-Mitgliedern, die als,Bach-Guides' früher als alle anderen hatten remigrieren können. Besonders die Tätigkeit Werner Hansens verfolgte er mit Interesse. Hansen gehörte zur Führungsriege des Londoner ISK, der zugleich die Auslandsleitung des gesamten ISK war. Hansen hatte seit 1943 die ISK-Arbeit in Deutschland geleitet. Er hatte natürlich eng mit Eichler, aber auch mit Ollenhauer von der SOPADE und der gesamten FUhrungsriege der Union zusammengearbeitet.287) Zudem war er ein aktives Mitglied der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien gewesen. Nachdem Hansen in Köln angelangt war, begann er dort, am Wiederaufbau der Arbeiterbewegung mitzuwirken. Er hielt den Kontakt zu Eichler durch Korrespondenz und durch ausführliche schriftliche Berichte.288) Eichler schätzte Hansens Arbeit hoch ein, er äußerte, „daß es richtig war, Heini [das ist Werner Hansen, J.A.] dahin zu schicken", auch wenn die Ausgangsbedingungen wirksames Arbeiten kaum möglich machten. Hansen zeigte, daß die angestrebte Form der Zusammenarbeit mit den Alliierten ein durchaus gangbarer Weg war: „Heinis Bericht bestätigt, daß man, ohne angestellt zu sein, Verbindungen haben kann zu den Stellen, von denen wir gesprochen haben, und er bestätigt, daß man selbst in einem so relativ begrenzten Rahmen nützliche Arbeit leisten kann auf alle Fälle nützlichere, als die meisten leisten, die heute nicht in Deutschland sind."289) -

Mit den „Stellen" waren obwohl Hansen sich in der Britischen Besatzungszone aufhielt die Amerikaner gemeint, OSS und USGCC, denn Eichler bezieht sich auch im weiteren Verlauf des Briefes nur auf das OSS. Die britischen Stellen scheinen, obwohl der ISK schon seit den 1930er Jahren auch mit dem britischen Geheimdienst zusammengearbeitet hatte, den Remigranten keine ernsthafte Option auf Einwirkungsmöglichkeiten in Deutschland geboten zu haben. Auch die Tätigkeit von Alfred Dannenberg und Otto Bennemann in Hannover verfolgte Eichler mit Interesse.290) Als Eichler dann Anfang des Jahres 1946 als erster aus dem Führungskreis der Union nach Deutschland zurückkehrte, nahm er sofort den Kontakt zu Mit-

-

285) Ebda., S. 798. 28») Ebda. 287) AdsD, NL Werner Hansen, Kasten 1, siehe u.a.: Erich Ollenhauer an Willi Heidorn [Werner Hansen], 26. September 1944. 288) Vgl. die Quellenangabe bei Eiber: Sozialdemokratie in der Emigration, S. 798,

Anm. 15. 289) wiHi Eichler an Hanna Bertholet, 6. Juni 1945, abgedr. in: Eiber: Sozialdemokratie in der Emigration, S. 795-801, hier S. 798. 29°) Zu Bennemann siehe: Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 251.

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

261

des ISK und der SPD auf, auch zu Schumacher. Eiber hält es für „durchaus vorstellbar", daß die Konferenz von Wennigsen auf eine Idee Eichlers zurückging, da die Einladungen verschickt wurden, als Eichler während eines ersten kurzfristigen Aufenthalts in Deutschland bei Schumacher in Hannover zu Besuch war.291) Auch nach seiner Remigration war Eichler an einer Zusammenarbeit mit Henry Rutz interessiert, während umgekehrt Rutz und ab Anfang 1946 auch Irving Brown Kontakt zu ISK-Mitgliedern in Deutschland aufnahmen.292) Auch der Kontakt Eichlers zur ITF, der in der Zeit des Exils sehr intensiv gewesen war, bestand über das Kriegsende hinaus.293) Zugleich pflegte die ITF in London Verbindungen zu Paul R. Porter von der Manpower Division der USGCC und erklärte ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit.294) Später lief der Kontakt über OMGUS weiter.295) Der Reigen zwischen Union bzw. ISK, ITF und amerikanischer Besatzungsmacht bzw. AFL schließt sich am Ende durch Hans Jahn: Der altgediente Widerstandskämpfer und engagierte Gewerkschafter war nach seiner Rückkehr als OSS-Guide in Deutschland „im Auftrage der ITF mit dem Aufbau demokratischer Gewerkschaften in Deutschland beschäftigt."296) Jahn verfaßte zudem auch Berichte für die ITF.297) Er stand aber zugleich in enger Verbindung zu Henry Rutz und zu Lt. George Silver von OMGUS, der dem CIO angehörte, aber die Positionen der AFL in bezug auf den Gewerkschaftsaufbau in Deutschland teilte.298) Ein großes Problem war die Finanzierung der gewerkschaftlichen Aufbauarbeit. Die ITF hatte seit 1933 die illegale Arbeit in Deutschland finanziert, und

gliedern

291) 292)

Dies war am 20. August 1945. Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 81, Anm. 96. Das ISK-Mitglied Anna Beyer, die in Frankfurt/M. bei der Rundschau tätig war, teilte Eichler in einem Brief vom 1. Februar 1946 mit: „Vergangene Woche haben mich Major Rutz und Mr. Brown von der AFL besucht. Wir haben uns einen ganzen Abend über die Gewerkschaften und anderes unterhalten. Ich fand sie ziemlich ratlos, wie sie helfen könnten. Rutz war sehr erstaunt über die politische Aktivität der deutschen Bevölkerung bei den Wahlen. Nach seinen Berichten war nur sehr wenig vorhanden." Eichler vermerkte handschriftlich am Rand: „Genossen! Mich besuchen hier!" Anna Beyer an Willi Eichler, 1. Februar 1946, AdsD, NL Willi Eichler, Box 29. 293) Zum Beispiel P. Tofahrn, Assistant General Secretary des ITF, London, an Willi Eichler, 12. November 1945, AdsD, Bestand ITF, Mappe 64. 294) Wilhelm Voß, ITF London, an Paul R. Porter [1945], AdsD, Bestand ITF, Mappe 63. 295) P. Tofahrn an Lucius D. Clay, 19. Mai 1948, AdsD, Bestand ITF, Mappe 71. 296) Hans Jahn, Berlin, an Martin H. Miller, National Legislative Representative, Washington D.C, 20. November 1945, AdsD, Bestand ITF, Mappe 64. 297) Bericht Hans Jahn, London, 14. April 1947, „über die Situation in Deutschland", AdsD, Bestand ITF, Mappe 69. 298) Brief, O.Unterschrift, an Jakob H. Oldenbroek, 4. Dezember 1945, AdsD, Bestand ITF, Mappe 64. Zu den OMGUS-Kontakten Jahns siehe insgesamt die Mappen 64 (Korrespondenz 19. August 1945 bis 4. Dezember 1945) und 65 (Korrespondenz 6. Dezember 1945 bis 12 April 1946). Zu Silver siehe: Lillie Brown an Jay Lovestone, 29. Januar 1948, GMMA, RG 18-003,011/9.

262

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung 1945-52

mit Kriegsende beteiligten sich vor allem ihre Sektionen in Schweden, Belgien und der Schweiz mit organisatorischer Hilfe und Büroausstattungen am Wiederaufbau der deutschen Transportarbeitergewerkschaften. Sie waren aber bald nicht mehr in der Lage, die entstehenden Kosten zu decken. Amerika sollte nun helfen.299) Jahn wandte sich im November 1945 an die amerikanischen Gewerkschaften mit der Bitte um Finanzierungshilfe. Er erbat für die Errichtung von Gewerkschaftsbüros im amerikanischen Sektor, in Frankfurt/M., München, Karlsruhe und Stuttgart, insgesamt 10000 Mark. Den Mut zu diesem Schritt hatten ihm, wie er erklärte, Besprechungen mit einer nicht näher benannten, vermutlich amerikanischen, Person gegeben, die ihm diesen Weg gewiesen zu haben scheint.300) Der Bogen zu den früheren Kapiteln schließt sich hier, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie sehr sich die AFL in den nun folgenden Jahren mühte, über die Finanzierung ihrer europäischen Büros hinaus Gelder aufzutun, mit denen der Aufbau und die Stabilisierung einer in einem ganz spezifischen Sinne demokratischen Gewerkschaftsbewegung in Europa unterstützt werden könnte. Hans Jahns Bitte dürfte daher nicht auf taube Ohren gestoßen sein, jedenfalls konnte er seine Gewerkschaftsarbeit fortsetzen. Im Jahr 1949 war Jahn Erster Vorsitzender der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands, Vorstandsmitglied des DGB und Mitglied des Deutschen Bundestags. Von 1956 bis 1958, als er in Pension ging, war er Präsident der ITF.301) Seine Beziehungen zur AFL waren gut, er arbeitete in der Nachkriegszeit eng mit Irving Brown zusammen. Das gemeinsame Interesse der beiden zentrierte sich um den Kampf gegen die kommunistische Unterwanderung der Gewerkschaften und um die Kooperation mit Antikommunisten in Berlin und vor allem in Osteuropa, wo Jahn mit dem Aufbau eines Widerstandsnetzwerks beschäftigt war.302) Jahn genoß große Achtung im FTUC. Irving Brown betonte mehrfach, Jahn sei der einzige in Deutschland, mit dem man wirklich arbeiten könne.303) Willi Eichler trat nach seiner Rückkehr der SPD bei. Dieser Schritt war wohlüberlegt und die Folge langer politischer Diskussionen in der Union gewesen. Der Entschluß der SAP ebenso wie des ISK, in die SPD zu gehen, war

299) „The Management Committee [der ITF, J.A.]

came to

the conclusion that in this

case

only America can come to the rescue, as they alone can overcome the difficulties of the supply position. So I would request you to approach the American friends and see what they can do. I can assure them that our unions in Germany are worth all the assistance which can be given to them." Jakob Oldenbroek, ITF London, an Willy Dorchain, ITF New York, 24. April 1947, AdsD, Bestand ITF, Mappe 69. 30°) Hans Jahn, Berlin, an Martin H. Miller, National Legislative Representative, Washington D.C., 20. November 1945, AdsD, Bestand ITF, Mappe 64. 301 ) Kurzbiographie Hans Jahns, Friedel Jahn an Herrn Esters, Friedrich-Ebert-Stiftung, 18. Februar 1967, AdsD, Bestand ITF, Mappe 121. 302) Irving Brown an Jay Lovestone, 3. August 1950, GMMA, RG 18-003, 011/12. 303) Irving Brown an Jay Lovestone, 12. August 1952, GMMA, RG 18-003, 011/14: „[...] the only one with whom one can really work and do a job is Hans Jahn."

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

263

den Auslandsleitungen beider Gruppen, also noch im Exil, offiziell gefaßt worden. Den Mitgliedern wurde dieser Schritt in Rundschreiben oder Briefen nahegelegt. Im Dezember 1945 lösten sich SAP und ISK formell auf, beide schlössen sich zugleich der SPD an.304) Die Abgesandten von SAP und ISK, die als Guides nach Deutschland gegangen waren, empfahlen den Mitgliedern ihrer Inlandsorganisationen die weitere Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie.305) Gleich nach der Remigration begann Willi Eichlers Weg in die Führungsspitze der SPD. Bereits 1946 war er Mitglied des Außenpolitischen und des Kulturpolitischen Ausschusses der Partei, im September 1952 wurde er besoldetes Mitglied des SPD-Parteivorstandes.306) Bald leitete er den Kulturpolitischen, Jugendpolitischen und Rundfunkpolitischen Ausschuß, neben seiner einfachen Mitgliedschaft im Außenpolitischen Ausschuß und im Ausschuß für Fragen der Atomenergie. Ab 1954 war er zudem federführendes Mitglied der Programmkommission der SPD. Eichler pflegte in den 1950er Jahren guten Kontakt zu Jay Lovestone.307) Werner Hansen wiederum war im DGB erfolgreich. Er saß schon im Mai 1948 im Bezirksvorstand des DGB Nordrhein-Westfalen.308) Bis 1956 war Hansen dort Erster Vorsitzender, anschließend Mitglied des DGB-Bundesvorstands, dem er bis 1969 angehörte und wo er für die Abteilungen Jugend und Angestellte zuständig war. Hansen war ebenfalls der SPD beigetreten. Von 1953 bis 1957 war er Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Fraktionsvorstands. Er saß gemeinsam mit Eichler in der Programmkommission der Partei und war ab 1956 im Ausschuß für Betriebs- und Gewerkschaftsfragen und ab 1958 im Ausschuß für Sicherheitsfragen tätig. Hansen und Eichler teilten grundlegende politische und ethische Überzeugungen und blieben auch nach der Remigration in engem Kontakt miteinander. Beide wohnten unweit voneinander in Köln,309) und es war sicher nicht nur die Arbeit in der Programmkommission der SPD, die sie weiterhin zusammenvon

304)

Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. CXXXV; S. CXLIX; Rundschreiben des Bundesvorstandes an die Mitglieder über den Eintritt in die SPD und die Auflösung der ISK-Organisation vom 10. Dezember 1945, abgedr. in: Ebda. S. 818-820; Erklärung der SAP-Mitglieder in Großbritannien über den Wiedereintritt in die SPD vom 2. Dezember 1945, abgedr. ebda. S. 857-859. Brief Otto Brenner an Josef Lang, 12. Februar 1947, abgedr. in: Helga Grebing, Hg.: Lehrstücke in Solidarität. Briefe und Biographien deutscher Sozialisten 1945-1949, Stuttgart 1983, S. 145-149. Vgl. auch Link: ISK, S. 322-330; Helga Grebing, Hg.: Entscheidung für die SPD. Briefe und Aufzeichnungen linker Sozialisten 1944-1948, München 1984. 305) Link: ISK, S. 312-322. 306) Ebda., S. 333 f. 307) Jay Lovestone an Fritz Heine, 11. April 1955, GMMA, RG 18-003,059/28. Dies bestätigt auch die mündliche Auskunft Susanne Millers, der Ehefrau Willi Eichlers, vom 12. Dezember 1997, die auf Anfrage der Verfasserin angab, Eichler und Lovestone hätten „guten Kontakt" gehabt. 308) Siehe AdsD, Bestand ITF, Mappe 71. 309) vgl. die Nachlässe Eichlers und Hansens im AdsD und im DGB-Archiv.

264

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

führte. Der ISK blieb als Zusammenhalt auch lange nach seiner offiziellen Auflösung wirksam. Die jährlichen Treffen seiner Anhänger zu Pfingsten fanden auch in den 1970er Jahren noch statt. Eichler blieb zeit seines Lebens der Kopf dieser Gruppe, die einige erfolgreiche Gewerkschafter und Sozialdemokraten in ihren Reihen zählte. Jay Lovestone und Irving Brown taten sich anfangs schwer mit den Positionen von Eichler, Hansen und ihren Anhängern. Denn Eichler kritisierte Schumacher und seine Haltung, wenn auch nicht grundlegend, so doch prononciert. Er forderte schon 1946 die Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms für die SPD, wollte selbstverständlich gewordene Positionen überdenken, um so dem Wandel der Rahmenbedingungen und des Denkens in der Nachkriegszeit Rechnung zu tragen. Er wandte sich damit gegen Schumacher, der dies einer späteren Phase überlassen wollte.310) Auch Hansen war ein Gegner der traditionellen Sozialisten in der Partei und in den Gewerkschaften und ein scharfer Kritiker von Viktor Agartz, dem Theoretiker des linken Gewerkschaftsflügels. Lovestone und Brown hielten jedoch bis über Schumachers Tod hinaus an diesem Parteiflügel und seinen Positionen fest und begannen erst um 1953/54, sich der SPD-Rechten zuzuwenden. Bis dahin aber waren es von den Londoner Remigranten in der SPD vor allem Heine und Ollenhauer, die in engem und regelmäßigem Austausch mit der AFL standen. Fritz Heine kannte Jay Lovestone und Irving Brown über seine Tätigkeit für die German Labor Delegation in den USA, die ja eng mit der AFL verbunden war. Rudolf Katz, der Sekretär der GLD, hatte ihm während seiner Hilfstätigkeit für die Flüchtlinge, denen Heine von Marseille aus zur Flucht in die USA verhalf, „die Kontakte, wichtige finanzielle Hilfe (und vor allem die Visen für die Flüchtlinge) beschafft und [ihn] mit den Beiden in Verbindung gebracht."311) Heine war kooptiertes Mitglied der German Labor Delegation, obwohl er bei seiner Flucht aus Frankreich nicht in die USA, sondern nach Großbritannien ging. Daher ist er ein wichtiges Verbindungsglied zur deutschen Emigration in den USA und zu amerikanischen Organisationen wie dem JLC. Die Rettungsaktion in Marseille führte Heine gemeinsam mit dem ISK-Mitglied Erich Lewinski durch, so daß er auch dem ISK nicht erst in London nahekam. In London war Heine dann sowohl Mitglied der Union als auch der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter. Er remigrierte im Februar 1946 nach Hannover, gemeinsam mit Erich Ollenhauer, mit dem er auch in der Union eng zusammengearbeitet hatte.312) Schon zuvor hatte er als Vertreter der

3I°)

Kurt Klotzbach: Die

Programmdiskussion

in der deutschen Sozialdemokratie

1945-1959, in: AfS, 16/1976, S. 467-^83, hier S. 472.

31') 3:2)

Fritz Heine in einem Brief an die Verfasserin vom 22. Januar 1998. Erich Ollenhauer an Otto Grotewohl, 26. Januar 1946, abgedr. in: Eiber: Sozialdemokratie in der Emigration, S. 755-757, hier S. 756.

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

265

Exil-Sozialdemokratie an der Konferenz von Wennigsen teilgenommen.313) Heine war bis 1958 Mitglied des SPD-Parteivorstandes und dort zuständig für die Abteilung Pressewesen. Zugleich war er im Parteivorstand für das Ostbüro der SPD zuständig314) und wurde dadurch Anfang der 1950er Jahre der Verbindungsmann zwischen dem Ostbüro und der AFL. Heines Verbindungen zur AFL stammten aus den USA, auch wenn er selbst zur Londoner Emigration

gehörte.

Dennoch

gab es auch Netzwerksbeziehungen zwischen der AFL und Deut-

schen, die sich auf die deutsche Emigration in den USA zurückverfolgen lassen. Diese waren nicht so zahlreich wie diejenigen aus London, dafür aber, jedenfalls in einem Fall, sehr langlebig:315) Kuno Brandel, Jg. 1907, Werk-

zeugmacher, war 1928 aus der KPD ausgeschlossen worden und ging in die Jugendorganisation der Kommunistischen Parteiopposition (KPO), die KJO, in der er als Funktionär tätig war. 1935 floh er nach Frankreich, nahm dann am Spanischen Bürgerkrieg teil.316) Gegen Ende der 1930er Jahre begann die Desintegration der KPO im Exil, 1938 auch in der Auslandsleitung der Partei in Paris. Es kam zu Konflikten innerhalb der Leitung der Pariser Exilgruppe, zwischen der von August Thalheimer und Heinrich Brandler geführten Mehrheit und einer kleineren Gruppe unter Leo Borochowitz. Die Minderheit um Borochowitz, der auch Kuno Brandel angehörte, trennte sich politisch in Herbst 1938

von

der KPO bzw. wurde

aus

der Partei

ausgeschlossen.317) Der tiefere

313) Eiber: Verschwiegene Bündnispartner, S. 81; siehe auch Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 264. 314) Wolfgang Buschfort: Das Ostbüro der SPD. Von der Gründung bis zur Berlin-Krise,

München 1991. 315) Die Jay Lovestone Collection in der Hoover Institution, Stanford, Series: Correspondence 1919-1977, Box 355, weist Kuno Brandel für die Jahre 1938 bis 1968 aus. Gehaltvoller ist allerdings, was sich für die 1950er Jahre in den Lovestone Papers des Meany Centers findet: zum Beispiel GMMA, RG 18-004, 014/8. Für die biographischen Angaben zu Brandel siehe: Brandeis eigenhändigen Lebenslauf: Kuno Brandel, Lebenslauf, 11. Dezember 1961, AdsD, Nachlaß Kuno Brandel, Fsz. 3; außerdem die Angaben bei Theodor Bergmann: „Gegen den Strom". Die Geschichte der Kommunistischen-Partei-Opposition, Hamburg 1987, S. 362, und wenn auch sehr knapp, bei Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 256. 316) Siehe hierzu auch: Hans Otto Hemmer: Flankierende Maßnahmen. Gewerkschaftliche Ostpolitik zwischen Kaltem Krieg und Entspannung, in: Christian Jansen u.a., Hg.: Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, Berlin 1995, S. 171-187, hier S. 177. 317) Zu Brandeis Position in dieser Auseinandersetzung siehe ausführlich: Kuno Brandel „An das AK", d.h. an das Auslandskomitee der KPO in Paris, 9. Oktober 1938, Jay Lovestone Collection, Hoover Institution, Stanford, Box 355. Brandel beklagt den Mangel an interner Diskussion und Transparenz bei der Entscheidungsfindung und stellt sich in dem KPO-internen Streit auf die Seite von L[eo Borochowitz]. Der Anlaß zu dem Streit war ein Artikel Borochowitz' in der KPO-Schrift Arbeiterpolitik (Arpo); siehe hierzu: Bergmann: Gegen den Strom, S. 303-306, der den Anlaß zum Streit jedoch in der Reaktion „Leo B."s auf einen Artikel Thalheimers in der Arpo ausmacht.

266

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

Grund lag in der Haltung zum Kommunismus. Die Minderheit hatte begonnen, sich völlig vom Kommunismus zu lösen. Er schien ihr nicht mehr von innen reformierbar, eine Binnen-Opposition war daher sinnlos geworden. Ein Teil dieser Minderheit konnte dann während des Krieges mit Hilfe Jay Lovestones und seiner Anhänger in die USA emigrieren. Kuno Brandel erhielt „durch Intervention amerikanischer gewerkschaftlicher Kreise [...] 1941 eines der von Präsident Roosevelt bewilligten Emergency-Visas für die Vereinigten Staaten."318) Die tätige Hilfe Lovestones für die ehemalige KPO-Minderheit hat ihre Vorgeschichte in den Verbindungen zwischen den Lovestoneites, also der rechten kommunistischen Opposition in den USA, und der KPO, die beide Mitglied in der International Communist Opposition (ICO, im Deutschen: Internationale Vereinigung der Kommunistischen Opposition, IVKO) waren.319) Die abgespaltene KPO-Minderheit aus Paris hatte einen vergleichbaren politischen Weg wie Lovestone beschriften und wurde von ihm daher aktiv unterstützt.320) Leo Borochowitz wurde bis zum Austritt der amerikanischen Sektion zum Vertreter der Lovestoneites in der ICO ernannt.321) Kuno Brandel lebte von Mai 1941 bis August 1949 in New York City. Er arbeitete als Werkzeugmacher, schrieb für sozialdemokratische Zeitschriften und betrieb nebenher ein „Studium volkswirtschaftlicher und sozialer Fragen, der Geschichte und Probleme der Internationalen Gewerkschaftsbewegung", möglicherweise an der New School for Social Research.322) Er hat in dieser Zeit im FTUC der AFL mit Lovestone zusammengearbeitet.323) Nach seiner Rückkehr im August 1949 faßte Brandel schnell Tritt bei der IG Metall, schon im November wurde er Redakteur der Zeitschrift Metall. Sowohl Brandel als auch Borochowitz blieben der AFL verbunden. Borochowitz arbeitete bis zu seinem Tod 1953 im New Yorker FTUC mit Lovestone,324). Brandel gehörte in das Netzwerk der AFL in Deutschland, er hielt regelmäßigen Kontakt zu Lovestone und Rutz.325)

318) Kuno Brandel, Lebenslauf, 11. Dezember 1961, AdsD, Nachlaß Kuno Brandel, Fsz. 3. 319) Bergmann: Gegen den Strom, S. 316. 32°) Die Abschrift des bereits angeführten Briefes von Kuno Brandel „An das AK" findet

sich in den Lovestone Papers der Hoover Institution, Stanford. Ob Lovestone ihn schon 1938 erhalten hat oder erst während Brandeis Zeit in New York, ist nicht zu rekonstruieren. Seine Existenz an diesem Ort belegt aber deutlich das Interesse Lovestones an Brandeis Haltung gegenüber der KPO-Spitze. Jay Lovestone Collection, Hoover Institution, Stanford, Box 355. 321) Bergmann: Gegen den Strom, S. 306. 322) Kuno Brandel, Lebenslauf, 11. Dezember 1961, AdsD, Nachlaß Kuno Brandel, Fsz. 3. Für die Verbindungen Brandeis zur New School siehe das „Zertifikat" von E.J. Gumbel, Associate Professor of Statistics, The New School for Social Research, vom 10. Dezember 1941, in dem dieser erklärt, Brandel seit vielen Jahren zu kennen: AdsD, NL Kuno Brandel, Fsz. 1. 323) Vgl. Klaus Schöhoven: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 10, S. XXXIV. 324) Siggi Neumann an Leo Borochowitz, 23. Februar 1952, GMMA, RG 18-003 059/23; Bergmann: Gegen den Strom, S. 361; Borochowitz starb während einer Deutschlandreise,

3.

Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

267

Die Verbindung zwischen dem Londoner und dem New Yorker Flügel des Netzwerks schloß sich 1949/50, als Siggi Neumann, ein Mitarbeiter Fritz Heines beim Parteivorstand, auf den noch zurückzukommen sein wird, Kontakt zu Brandel aufnahm und ihn unter anderem mit Werner Hansen und Alfred Dannenberg zusammenbrachte.326) Hier entstand ein Reformer-Netzwerk, das zwischen Partei und Gewerkschaften angesiedelt war und auf das ebenfalls noch ausführlich einzugehen sein wird: der sogenannte ,Zehnerkreis'. Damit entstand zugleich ein Netzwerk innerhalb der westdeutschen Arbeiterbewegung, das nicht direkt von der AFL initiiert war. Es hatte aber dennoch Kontakte mit den Vertretern von AFL und CIO in Europa, ebenso mit den Organisationen der internationalen Gewerkschaftsbewegung, ab 1949 in erster Linie mit der ICFTU. Es bildete so einen Teilbereich des transatlantischen Netzwerks (siehe

Schaubild). Die Form dieses deutschen Netzwerkes, seine Art, Politik zu betreiben und der Umgang unter seinen Mitgliedern zeigten deutlich, wie sehr es von der Zeit des Widerstands gegen den Nationalsozialismus geprägt war. Die Strukturen des Widerstands wurden abgeschwächt und ohne die akute persönliche Gefährdung teilweise weitergeführt, jetzt gegen den Kommunismus und für die Durchsetzung der eigenen Sache. Die Angst vor Infiltration, die Absicherung gegenüber Unbekannten und die Informationspolitik untereinander erinnern, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, stark an den Widerstand der 1930er Jahre, in dem die Protagonisten des Netzwerks der 1950er Jahre ja auch mehrheitlich ihre politische Sozialisierung erfahren hatten.327) Als Beispiel mag das -

-

er im Auftrag der AFL unternahm; siehe: Jay Lovestone an Henry Rutz, 12. November 1952, GMMA, RG 18-003, 056/16. 325) Dies ist vor allem indirekt überliefert, durch die Informationen, die die FTUC-Mitarbeiter untereinander austauschten: zum Beispiel Henry Rutz an Jay Lovestone, 26. November 1951; GMMA, RG 18-003, 056/15; Jay Lovestone an Henry Rutz, 21. Januar 1952; GMMA, RG 18-003, 056/16; Irving Brown an Jay Lovestone, 12. August 1952, GMMA, RG 18-003, 011/14; Henry Rutz: Report from Germany, 6. Dezember 1954, GMMA, RG

die

18-003,056/18.

326) Siegmund (Siggi) 1947-1954 Leiter des

Neumann

(1907-1960)

war

1947 Leiter des Ostbüros der SPD,

Betriebsgruppenreferats beim Parteivorstand der SPD und ab 1954 beschäftigt. Siehe die biographischen Angaben im Anhang sowie den

bei der IG Metall Nachlaß Neumanns im AdsD. 327) Anders als die SPD, die bis zur Zwangsauflösung einen strikt legalistischen Kurs einhielt und deswegen keine systematisch aufgebaute Untergrundorganisation besaß, und anders als die KPD, die auf offenen Widerstand und publikumswirksame Aktionen setzte und sich schon in den Anfangsjahren der nationalsozialistischen Herrschaft durch diese geradezu selbstmörderische Politik aufgerieben hatte, konzentrierten sich die linken Splittergruppen auf den Erhalt ihrer Organisationen und der hierfür notwendigen Kommunikationswege. Sie bildeten konspirative Netzwerksstrukturen aus, die auf gegenseitigem Vertrauen basierten, und verzichteten auf jegliche Form von Agitation. Vgl. insgesamt zu den Praktiken und Erfahrungen des deutschen Arbeiterbewegungs-Widerstands: Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 54-100, bes. S. 59, 66-85; Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 45f.; Peter Steinbach/Johannes Tuchel, Hg.: Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994.

268

III. AFL/CIO und die westdeutsche

Arbeiterbewegung

1945-52

Schaubild: Die Wurzeln des deutsch-amerikanischen Netzwerks im Überblick

Schema der illegalen Gewerkschaftsarbeit im „Dritten Reich" dienen, das Hartmut Mehringer zeichnet: Zuerst wurde ein Kontaktnetz aus ehemaligen freigewerkschaftlichen Vertrauensleuten aufgebaut, dann die Unterstützung der entsprechenden internationalen Gewerkschaftsverbände gesucht, und schließlich begann man mit der Verteilung eigener oder aus dem Ausland eingeführter Schriften.328) Das Vorgehen beim Aufbau der Nachkriegsgewerkschaften in Westdeutschland und gegen Kommunisten in den Gewerkschaftsorganisationen zeigt, daß die Funktionäre von diesen Praktiken nicht mehr wirklich abließen. Besonders die antikommunistischen Aktivitäten von SPD und westdeutschen Gewerkschaften im Osteuropa des Kalten Krieges machen dies deutlich. Aus der Sicht der ehemaligen Widerständler blieben auch die

Vgl. auch:

Peter Steinbach: Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen, 2. Aufl., Paderborn u.a. 2001. 328) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 99.

3. Entstehung und Wurzeln des transnationalen Netzwerks

269

sich einsetzte, dieselben: die Freiheit des einzelnen und der Arbeiterbewegung, Sicherheit vor Verfolgung und eine demokratische Regierungsform. Auch die internationale Struktur des westlichen Arbeiterbewegungs-Netzwerks hat ganz eindeutig ihre Vorläufer in den internationalen Verbindungen des Widerstands der 1930er Jahre und der Exilgruppen der Kriegszeit. Sogar bis auf die Zwischenkriegszeit reichen die strukturellen Wurzeln zurück, wenn man bedenkt, wie sehr etwa die internationale Verbreitung der ICO derjenigen des späteren AFL-Netzwerks ähnelt.329)

Ziele, für die

man

329) Die ICO hatte feste Verbindungen zu rechtskommunistischen Parteien in Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei, der Schweiz, im Elsaß, in Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland und Spanien, lockere Beziehungen zu Gruppen in den Niederlanden, Großbritannien, Italien und Griechenland. Außerhalb Europas bestanden formale Beziehungen zu Parteien in den USA, Kanada und Indien. Bergmann: Gegen den Strom, S. 309-316. Eine weitere Wurzel der deutsch-amerikanischen Netzwerksverbindungen aus der Vor- und Zwischenkriegszeit kann hier nur angesprochen werden, nämlich die Einflüsse der Traditionen des Ostjudentums. Sie waren insbesondere für das Jewish Labor Committee bedeutend. Jay Lovestone wiederum, der ab etwa 1940 für David Dubinsky und die ILGWU arbeitete und selbst aus einer jüdischen Familie in Wilna/Litauen stammte, stand in guter Verbindung nicht nur zum JLC, sondern zum 1897 in Wilna gegründeten Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund von Litauen, Polen und Rußland, kurz ,Bund' genannt. Der Bund unterhielt in der Zwischenkriegszeit auch enge Beziehungen zur deutschen Sozialdemokratie, nicht zuletzt zu Willy Brandt, der auch im Exil noch Kontakt zum Bund hielt. Auch zwischen Jay Lovestone und Willi Eichler bildete der Bund ein Verbindungsglied, denn nicht nur Lovestone war

han:

Bundist, sondern auch Willi Eichler. Zur Geschichte des Bundes siehe: Gertrud Pick„Gegen den Strom". Der allgemeine Jüdische Arbeiterbund ,Bund' in Polen

1918-1939, Stuttgart-München 2001; Dies.: Willy Brandt und der „unglückliche Zerfallsprozeß". Über das Beziehungsgeflecht zwischen Jüdischem Arbeiterbund, Sozialdemokratie und sozialistischer Jugend in den 1930er Jahren, in: Frankfurter Rundschau, 29. Dezember 1997, S. 13; Henri Minczeles: Histoire générale du Bund, un mouvement révolutionnaire juif, Paris 1995; Ders.: 1897: Die Entstehung des Jüdischen Sozialismus. Der Bund, in: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums, 53/1997, S. 46-56; Susanne Marten-Finnis: Der Bund: Wie weit darf Anpassung gehen? Ein pressegeschichtlicher Abriß 1897-1906, in: Judaica, 53/1997, S. 57-83; Henry J. Tobias: The Jewish Bund in Russia. From His Origins 1905, Stanford, Cal. 1972; Nora Levin: While Messiah Tarried. Jewish Socialist Movement, 1871-1917, New York 1977; Klaus Hödl: „Vom Shtetl an die Lower East Side". Galizische Juden in New York, Wien u.a. 1991. Siehe auch Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden, 4. Aufl., München 1998, S. 152-162. Für die Situation der polnischen Juden in der Zwischenkriegszeit siehe: Dietrich Beyrau: Antisemitismus und Judentum in Polen, 1918-1939, in: GG, 8/1982, S. 205-232. Zu Lovestones und Eichlers Mitgliedschaft im Bund: mündliche Auskunft Susanne Millers vom Dezember 1997; für Eichler siehe außerdem: Eiber: Sozialdemokratie in der Emigration, S. CXXXIIf, Anm. 657, 658; sowie: Willi Eichler an Hanna Bertholet, 15. April 1955, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 110. to

IV. Zeitlicher Schnitt: Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949 Aus welchen Motiven arbeiteten die deutschen Netzwerksangehörigen mit den Amerikanern zusammen? Waren es nur die unmittelbaren politischen und materiellen Vorteile, die diese Kooperation zweifellos mit sich brachte? Im folgenden soll gezeigt werden, daß es vor allem inhaltliche Gemeinsamkeiten waren, die den Netzwerksbeziehungen zugrunde lagen. Hier soll daher ein zeitlicher Schnitt gesetzt werden und die ideengeschichtliche Entwicklung der späteren Westernisierer' vom Ende der Weimarer Republik bis in die Zeit der Remigration betrachtet werden. Denn die ideellen Wandlungsprozesse dieser Jahre bilden den Schlüssel für ihr politisches Denken und ihre politische Praxis in der Sozialdemokratie der Bundesrepublik Deutschland. Die Deutschen, die um 1950 Mitglieder des transnationalen Arbeiterbewegungsnetzwerks waren wie Kuno Brandel, Werner Hansen, Willi Eichler, Hans Jahn, Fritz Heine, Erich Ollenhauer, Max Brauer, Siggi Neumann und Ludwig Rosenberg hatten zu Beginn der 1950er Jahre einige auffällige Gemeinsamkeiten. Sie alle waren in einflußreichen Positionen in SPD oder Gewerkschaften tätig, ob in der ersten oder zweiten Reihe; sie waren allesamt im Exil gewesen; und sie alle unterhielten Kontakte zur amerikanischen Arbeiterbewegung. Innerhalb dieser deutschen Netzwerksangehörigen lassen sich jedoch wiederum zwei Hauptgruppierungen unterscheiden: zum einen diejenigen, die in Kontinuität zu sozialdemokratischen Positionen und Strukturen aus der Zwischenkriegszeit standen, und zum andern diejenigen, die sich in den 1950er Jahren als Reformer in Partei und Gewerkschaftsbewegung betätigten. Diese beiden ,Binnen-Gruppen' im Netzwerk unterscheiden sich wiederum auffälligerweise durch ein bestimmtes Merkmal ihrer politischen Biographien. Die späteren Westernisierer' hatten allesamt während der Weimarer Republik nicht der Mehrheitssozialdemokratie bzw. dem ADGB angehört, sondern kamen meist vom linken Rand der SPD oder dem rechten Rand der KPD. Sie hatten in den Jahren des Widerstands gegen den Nationalsozialismus sowie vor allem in den Exiljahren ihre Werthaltungen und entsprechend ihre politische Position stark verändert und sich dabei westlich-liberalen Positionen angenähert. Dem Wertewandel, der in der westdeutschen Arbeiterbewegung um 1960 manifest wird, war also ein Wertewandel bei seinen Protagonisten vorangegangen. Aus sozialistischen und kommunistischen Vertretern deutscher Denktraditionen waren ,Westernisierer' geworden. Dieser Prozeß vollzog sich zwischen Ende der 1920er und Ende der 1940er Jahre. Er läßt sich schematisch in drei Phasen unterteilen. Im Laufe der 1930er Jahre gingen die zukünftigen .Westernisierer' ihrer in den 1920er Jahren vertretenen Positionen und Überzeugungen verlustig. Im Exil während des Zwei,

-

-

,

272

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Weltkriegs fanden sie, vor allem in den angelsächsischen Gastländern, Angebote eines liberal-demokratischen, parlamentarischen Politikverständnisses ten

vor, die sie

zum Teil aufnahmen, zum Teil abwandelten, mit denen sie sich aber in den meisten Fällen intensiv auseinandersetzten. Schon vor Kriegsende hatten sich mehr oder weniger feste Positionen ausgebildet, die von den Angehörigen mehrerer unterschiedlicher Gruppen gemeinsam erarbeitet wurden und die Grundlage zukünftiger gemeinsamer Politik bildeten. Nach ihrer Rückkehr aus dem Exil schließlich formierten sie sich mit dem Ziel, ihre neuen Ideen in praktische Politik umzusetzen.

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren: Splittergruppen, Widerstand und Spanien Den Ausgangspunkt des hier untersuchten Umorientierungsprozesses bilden die politischen und weltanschaulichen Positionen der sogenannten linken Splittergruppen in den mittleren und späten 1920er Jahren, ihr Gesellschaftsbild und ihr Politikverständnis.1) Dissens, die Abweichung von den beiden Hauptströmungen der damaligen deutschen Arbeiterbewegung, ist hierbei das hervorstechendste Merkmal, das diese Gruppen verbindet.2) Sie mißbilligten den ,SPD-Mainstream' und die KP-Orthodoxie, setzten sich jedoch intensiv mit Marxismus und Reformismus auseinander und bewegten sich, vielleicht mit Ausnahme des ISK, innerhalb der Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten stellte zunächst keinen Bruch für das Denken dieser Gruppen dar, wenn auch um so mehr für ihre Organisationen. Vielmehr sahen sie sich zunächst durch das NS-Regime in ihrer Gesellschaftsanalyse bestätigt. Der Wandel im Denken der linken ,Dissenter', der sich aus dem Rückblick klar erkennen läßt, setzte frühestens seit den mittleren 1930er Jahren ein. Die alten Überzeugungen wurden brüchig, jedoch ohne gleich durch neue Positionen ersetzt werden zu können. Dieser Prozeß der Ablösung läßt sich in den späten 1930er Jahren vor allem bei Anhängern der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) und der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) beobachten, während er bei den Mitgliedern des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds (ISK) so recht erst Anfang/Mitte der 1940er Jahre einsetzte. Zuerst also verloren die herkömmlichen Antworten auf politische und gesellschaftliche, aber auch auf theoretische Fragen ihre Validität.

1

) Zu den Splittergruppen siehe: Foitzik: Zwischen den Fronten. Patrik von zur Mühlen spricht von einer „doppelten Dissidenz" dieser Gruppen, da sie so-

2)

wohl die Weimarer Republik als auch die Politik der beiden großen Arbeiterparteien ablehnPatrik von zur Mühlen: Spanien war ihre Hoffnung. Die deutsche Linke im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939, Bonn 1983, S. 44.

ten.

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren

Dann, ab

etwa

1940, entstanden

Umorientierung a.

neue

Lösungsansätze,

273

deren Inhalte auf eine

im Exil schließen lassen.

Sozialistischer Dissens in der Weimarer Republik: die 1920er Jahre

Mitte der 1920er Jahre

begannen sich in beiden großen Parteien der deutschen Arbeiterbewegung oppositionelle Gruppierungen herauszubilden. Dieser Trend verstärkte sich gegen Ende des Jahrzehnts, und es kam zu Abspaltungen aus KPD und SPD. Von den Splittergruppen der Weimarer Zeit sollen hier nur die SAP, der ISK und die KPO betrachtet werden, da ihre Anhänger später im transnationalen Netzwerk eine Rolle spielen. Es geht dabei jedoch nicht um die Organisationsgeschichte, sondern ausschließlich um das Politikverständnis und das Gesellschaftsbild der Gruppen, um ihre Haltung zum Weimarer Parlamentarismus und

zur

Wirtschaftsordnung.3)

ISK Der Internationale Sozialistische Kampfbund war eine kleine Partei, die zwar zum sozialistischen Spektrum zu rechnen ist, sich aber doch deutlich von den klassischen sozialistischen Varianten abhob. Als „revolutionäre Revisionisten"4) vertraten seine Anhänger einen philosophisch-wissenschaftlich begründeten ethischen Sozialismus, der in den Traditionen der Aufklärung wurzelte und sich vom Marxismus kritisch distanzierte, da er das vernunftgeleitete aktive Handeln des Menschen negiere. Diese Partei hatte die direkte Umsetzung einer philosophischen Lehre in das politische Leben zum Ziel. Ihr Handeln folgte unmittelbar einem Ideengebäude und war weniger als bei anderen Gruppen auf der Linken durch konkrete tagespolitische Auseinandersetzungen, etwa mit KPD und SPD, motiviert. Der ISK wurde 1925 aufgrund weltanschaulicher Differenzen zwischen seiner Vorläuferorganisation, dem Internationalen Jugendbund (IJB), und der SPD gegründet. Dieser war in den Jahren 1917/18 entstanden, und seine Wurzeln lagen noch direkt in der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Der IJB hatte sich zum Ziel gesetzt, Jugendliche nach den Lehren ihres Gründers, des Göttinger Philosophen und Mathematikers Leonard Nelson, zu erziehen und auf diese Weise die Ideen Nelsons politisch umzusetzen.5)

3)

Siehe

ansonsten

Foitzik: Zwischen den Fronten.

4) Vgl. Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 31. 5) Für Nelsons Werke siehe: Leonard Nelson: Gesammelte Schriften in neun Bänden, hg. v. Paul Bernays, Willi Eichler u.a., Hamburg 1970-77. Für eine Gesamtdarstellung zum Verhältnis von Theorie und Praxis in Nelsons Leben und Werk siehe neuerdings: Udo Vorholt: Die politische Theorie Leonard Nelsons. Eine Fallstudie zum Verhältnis von philosophischpolitischer Theorie und konkret-politischer Praxis, Baden-Baden 1998. Die folgende kurze Einführung in das Denken und die Politik Nelsons ist weitgehend bei Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 16-40, entlehnt. Eine in ihrer Bewertung deutlich unterschiedliche Inbietet Link: ISK, S. 3-38. Link hebt stark auf die antidemokratische und elitäre

terpretation

274

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Nelson6) legte eine psychologisch orientierte Weiterführung der Kant'schen Philosophie vor, die in starker Kontinuität zur Aufklärung stand, dem Liberalismus zuneigte und ganz deutlich von der Auseinandersetzung mit dem Marxismus geprägt war.7) Auffällig war dabei seine natur- bzw. gesellschaftswissenschaftliche Herangehensweise. Er entwickelte den Entwurf einer ethisch fundierten und wissenschaftlich begründeten Gesellschaftsordnung, in der, anders als im Marxismus, die Handlungsbereitschaft des Menschen eine zentrale Rolle spielte und sich eben keine gesetzmäßig und von selbst ablaufende Entwicklung vollzog. Die Emanzipation, also die Verwirklichung der gesellschaftlichen Prinzipien der gleichen Freiheit und Gerechtigkeit, sei nur durch bewußte und gezielte Anstrengung der Menschen zu erreichen. Die Prinzipien des Rechts seien durch Vernunft unmittelbar einsichtig, müßten aber noch durch Reflexion ins Bewußtsein gehoben werden.8) Nelson unterschied zwi-

schen dem Wert von Interessen und ihrer Stärke. Wert hatten für ihn die wahren Interessen, die sich aus Idealen, dem Wahren und Schönen,9) herleiten, und dieser Wert konnte nicht durch die Stärke eines Interesses beeinflußt werden, etwa durch die Zahl derer, die zufällig für eine Position eintreten. Das grundlegende Ideal war das der vernünftigen Selbstbestimmung.10) Die Fähigkeit hierzu erwerbe der Mensch jedoch nur durch Bildung. Der Pädagogik weist Nelson eine entsprechend große Rolle zu. Sie solle die Tugend im Leben des Einzelnen verwirklichen, solle ihn zu vernünftiger Einsicht befähigen.

Ausrichtung der Nelson'schen Lehre ab und betont den Führergedanken in ihrer Staats- und Parteitheorie. Lemke-Müller dagegen arbeitet die Strukturen der Philosophie Nelsons klarer heraus und betont stärker die Bedeutung der Ethik im Rechtsdenken und in der Politik Nelsons und seiner Anhänger. Bei ihr wird auch das Verhältnis der Nelsonianer zum Sozialismus behandelt, das bei Link etwas zu kurz und zu polemisch ausfallt. 6) Leonard Nelson (1882-1927) studierte Mathematik und Philosophie und promovierte 1904 in Philosophie. Als Privatdozent bzw. außerordentlicher Professor gehörte Nelson der naturwissenschaftlichen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen an. Er war ein Anhänger der erkenntnistheoretischen Lehren von Jakob Friedrich Fries. Vgl. Link: ISK, S. 4, Anm. 3; Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 37. Nelson war vor dem Ersten Weltkrieg in der deutschen Jugendbewegung aktiv, bis ihn Auseinandersetzungen vor al lern mit der Freideutschen Jugend 1916 dazu veranlaßten, auf die Gründung einer eigenen Jugendorganisation hinzuwirken. Link: ISK, S. 39^-8. 7) Nelsons Lehre war in der deutschen Philosophie umstritten. Philosophisch stand Nelson dem Neokantianismus nahe, ohne ihm jedoch direkt zugerechnet werden zu können. Vgl. Lewis W Beck: ,Neo-Kantianism', in: Ted Honderich, Hg.: The Oxford Companion to Philosophy, Oxford-New York 1995, S. 611 f., hier S. 612. 8) Sein Hauptwerk ist mit der deduktiven Begründung der Ethik befaßt: Leonard Nelson: Kritik der praktischen Vernunft (Nelson: Gesammelte Schriften, Bd. 4); Ders.: System der philosophischen

Ethik und Pädagogik (Ebda., Bd. 5); Ders.: System der philosophischen Rechtslehre und Politik (Ebda., Bd. 6); vgl. Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 19. 9) Piaton taucht an mehreren Stellen in Nelsons Denken auf, bei den Idealen, bei der Vorstellung einer Herrschaft der Weisen und in der Erziehungstechnik, die explizit im sokratischen Dialog bestand. 10) Vgl. Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 19.

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren

275

Im Zentrum von Nelsons politischer Theorie steht der Begriff der Gleichheit. Nicht Gleichheit des Besitzes ist gemeint, sondern die gleiche Möglichkeit des Menschen, durch Bildung zu Freiheit und vernünftiger Selbstbestimmung zu gelangen. Hierzu gehöre auch die gleiche Möglichkeit eines jeden, durch Arbeit Wohlstand zu erlangen. Es geht ihm um die Gleichheit der Chancen, die jeweils unterschiedlichen Qualitäten zur Wirkung kommen zu lassen. Diese Gleichheit ist für ihn Voraussetzung der Freiheit. Er sieht sie realisiert im Sozialismus, dessen Konzept einer Gesellschaftsordnung seiner Ansicht nach den gleichen Zugang zu Wohlstand, und damit zu Bildung und Selbstbestimmung, garantiert. Wenn Gleichheit die Voraussetzung der Freiheit und Sozialismus die Verwirklichung der Gleichheit ist, dann ist für Nelson der Sozialismus wissenschaftlich nachweisbar das notwendige Prinzip einer Gesellschaftsordnung, welche die Freiheit und gleiche Würde aller sichern soll. Erst durch den Sozialismus könne der Rechtszustand der gleichen Freiheit verwirklicht werden. Dieser sei das Ideal einer objektiv richtigen Politik, die davon ausgehe, daß alle vernünftigen Wesen das Recht auf die gleiche äußere Möglichkeit haben, zur Selbstbestimmung zu gelangen. Aufgabe des Staates sei es, die Geltung des Rechts in der Gesellschaft zu sichern, d. h. dafür zu sorgen, daß die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller nach allgemeinen Gesetzen in Übereinstimmung gebracht werde, also weder privategoistische Interessen noch Despotismus zuzulassen. Dies steht durchaus in der Tradition deutschen Staats- und Politikverständnisses im Kaiserreich. Die Staatsform, die Nelson vorsah, war geprägt von seinem elitistischen Denken und seiner Ablehnung der Weimarer Demokratie, die er für schrankenlosen Pluralismus erachtete. Hier entschied die Stärke der Interessen, nicht ihre Qualität, und es regierten nicht die Besten, sondern die mit der größten Überredungsgabe. Das objektive Recht, das durch eine objektiv richtige Politik durchgesetzt werden könne, dürfe, so faßt Sabine Lemke-Müller Nelsons Position zusammen, nicht zur Disposition zufälliger Mehrheitsentscheidungen gestellt werden.11) Nelson lehnte daher jegliche Form von Volkssouveränität ab. Auch das Prinzip der Gewaltenteilung lehnte er ab, da die Regierung nur unter dem Recht des Gesetzes stehen sollte, eine anders legitimierte Kontrollinstanz würde die Geltung des Rechts in Frage stellen. Dies beinhaltet auch eine grundlegende Ablehnung des Parlamentarismus. Legitime Herrschaft könne nur ausüben, wer das Recht durchsetze.12) Die Vorstellung einer rationalen Diktatur, eine Herrschaft der Weisen, bestimmte die Staats- und Parteitheorie Nelsons.13) Eine nach seinen Vorstellungen geführte .Partei der Vernunft' sollte die zukünftige Elite nach wissenschaftlichen Kriterien auswählen und

11) Ebda., S. 24. 12) Auch Nelsons Nachfolger

Ebda., S. 92-98.

13)

Link: ISK, S. 35.

Willi Eichler hielt zunächst

an

dieser Position fest, siehe:

276

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

ausbilden sowie die Macht im Staat erobern. Ehe aber der .Rechtsstaat' errichtet sein würde, bestünde innerhalb der Partei ein Gefolgschaftsverhältnis, das auf Vertrauen zwischen dem Parteiführer und seinen Anhängern beruhen sollte. Anders als bei einem autoritären Verhältnis beruhte jenes nach Nelson nicht auf Bevormundung, sondern auf dem freien Entschluß der Mitglieder, ein solches Gefolgschaftsverhältnis einzugehen. Die Vernunft befähige die Gefolgschaft zur Einsicht in ihre Pflichten.14) Die Macht des Führers solle unbeschränkt sein und nur seine Charakterfestigkeit könne Gewähr bieten gegen Machtmißbrauch. Er könne nicht durch Wahl ermittelt werden, sondern müsse seine Berufung selbst erkennen. Sein Auftrag sei es dann, die Partei aufzubauen und geeignete Nachfolger zu suchen. Das „Prinzip der Führerschaft"15) in der Partei und als Staatsform, die Vorstellung vom philosophisch begründeten Rechtsstaat als Verfassungsordnung und der Sozialismus als Gesellschaftsordnung, welche die Gleichheit und damit die Möglichkeit zur Freiheit garantieren sollte, bilden zusammen die politische Vorstellungswelt der Anhänger Nelsons. Nelsons Sozialismüsverständnis unterschied sich allerdings merklich von demjenigen seiner Zeitgenossen. So verfolgte er ein Konzept der sozialistischen Umgestaltung, das sich innerhalb der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung würde durchsetzen lassen und das in erster Linie in der Umverteilung des Grundbesitzes bestand.16) Mit dem Marxismus hat sich Nelson intensiv auseinandergesetzt. Die Marx'sche Analyse der Klassengegensätze würdigte er durchaus, den historischen Materialismus und seine Annahme der ökonomischen Bedingtheit alles menschlichen Wollens lehnte er aber ab.17) Nicht ökonomische Notwendigkeiten, sondern menschliche Denk- und Willenskräfte seien verantwortlich für historischen Fortschritt. Der Marxismus nehme den Menschen die persönliche Verantwortung und führe letztlich zu Passivität.18) Im Gegensatz dazu appellierte Nelsons „revolutionärer Revisionismus" an das Handeln und die Verantwortung der Menschen, die ihr Recht selbständig erkämpfen müßten.19) Die Sozialismus-Interpretation Nelsons trägt noch starke

14) Hier gerät Nelson allerdings in einen Zirkelschluß, da er dem ,Führer' per definitionem größere Einsicht in die Notwendigkeiten zuweist, so daß ein Mitglied, das seine Pflichten nicht anerkennt, zwangsläufig irrt. Der Satz von der eigenen Verantwortung wird hier, wie Werner Link herausgearbeitet hat, sogleich wieder aufgehoben. Dennoch lehnte Nelson den dezisionistischen Diktaturgedanken etwa eines Carl Schmitt entschieden ab. Ebda., S. 2738, bes. 34f.

15) 16)

Siehe Nelsons Schrift Demokratie und Führerschaft' von 1926, vgl. Link: ISK, S. 30. Nelson folgte der Wirtschaftstheorie Franz Oppenheimers. Siehe hierzu Link: ISK, S. 22-27. 17) Für die Marxismuskritik Nelsons siehe: Leonard Nelson: Fortschritte und Rückschritte der Philosophie, in: Nelson: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 477-496; Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 28-32. 18) Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 31. 19) Ebda.

277

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren

seiner ursprünglichen Nähe zum Liberalismus, die er erst im Laufe des Ersten Weltkriegs und der Revolution zugunsten des Sozialismus aufgab. Diese Haltung führte zum Konflikt mit der SPD, die Nelson ebensowenig wie die KPD für fähig hielt, den Sozialismus und damit die Herrschaft des Rechts durchzusetzen. Die Anhänger Nelsons arbeiteten aktiv in parteipolitisch neutralen sozialistischen Organisationen mit, etwa im Freidenkerverein, im Deutschen ArbeiterAbstinenten-Bund (DAAB) und in den Gewerkschaften. Die Gewerkschaftsarbeit war dem ISK besonders wichtig, war sie doch die einzige Verbindung, die diese Gruppe noch zu den Massenorganisationen der Arbeiterbewegung hatte.20) Seit Ende der 1920er Jahre wurde die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zur Pflicht für ISK-Mitglieder. Der ISK kritisierte jedoch 1929 den Reformismus in den Weimarer Gewerkschaften21) sowie das Konzept der Wirtschaftsdemokratie, wie es Fritz Naphtali auf dem ADGB-Kongreß im September 1928 vortrug.22) Man könne nicht die Alleinherrschaft der Unternehmer abschaffen, ohne den Kapitalismus abzuschaffen. Das Konzept lenke daher von den eigentlichen Aufgaben des Klassenkampfes ab. Trotz aller Kritik hielt der ISK die Gewerkschaften für die geeignetste Kraft, den Faschismus zu be-

Züge

kämpfen.23)

Die Erziehung der künftigen Elite und die Auswahl des Regenten aus dieser Gruppe standen bei Nelson im Mittelpunkt der praktischen Politik. Er sollte die von Nelson entwickelten „richtigen" Ideen zur Grundlage von Erziehungsarbeit machen und schließlich in das politische Leben umsetzen. Die Organisationsstruktur des IJB wie des ISK beruhte folglich auf dem Führerschaftsprinzip und hatte streng hierarchischen Charakter.24) Ihre Regeln verlangten wohl in Anlehnung an die Ideale der Jugendbewegung vor allem vegetarische Ernäh-

rung, Verzicht auf Alkohol und Tabak und Kirchenaustritt, und für den inneren Kreis des IJB galt sogar der Zölibat. In diesen inneren Kreis gelangte man nur durch Vorschlag und nach einjähriger Prüfung. Der ISK war eine Kaderpartei, die der Elitenauswahl und der Ausbildung von Funktionären und Revolutionären diente.25) Seine Mitgliederzahl lag nur bei etwa 200 Personen.26) Entsprechend gering war seine Bedeutung im Weimarer Parteienspektrum. Die Masse -

20) Vgl. dazu: Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 85-88; Link: ISK, S. 136-138. 21) Lemke-Müller Ethischer Sozialismus, S. 86f. 22) Hans Mommsen: Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften in der Weimarer Repu-

blik, in: GMH, 34/1983, S. 203-217; Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 87. 23) Willi Eichler. Stärkt die freie Gewerkschaftsbewegung, in: isk, 6/1931, S. 55-57, vgl. Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 88. 24) Link: ISK, S. 48-56.

25) Nelson und der ISK beriefen sich auf Lenins Organisationsprinzipien. Link betont jedoch, daß dies auf einem gründlichen Mißverständnis der Lehren Lenins beruht habe: Link: ISK, S. 107. 26) Ebda., S. 139.

278

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Publikationen des ISK, seine organisatorische Geschlossenheit und die Motivation seiner Mitglieder gaben ihm dennoch mehr Gewicht, als seine numerische Größe annehmen ließe. Überproportionale Bedeutung erlangte der ISK im Widerstand, wo ihm seine strenge Kaderschulung und seine Geschlossenheit zugute kamen, und in der Programmdiskussion im Londoner Exil. Seit Nelsons Tod 1927 führte Willi Eichler den ISK im selben Sinne weiter, auch er genoß uneingeschränkte Autorität. Eichler lehnte den Parteimarxismus ebenso ab wie den Revisionismus Eduard Bernsteins. Dieser treffe zwar in der Analyse der Schwächen des Marxismus zu, dürfe aber nicht, wie es in der SPD geschehe, zur Grundlage eines Reformismus gemacht werden, der glaube, die Arbeiterschaft könne durch Verhandlung den Sozialismus innerhalb des kapitalistischen Systems und innerhalb der Demokratie durchsetzen.27) Es war aber auch Willi Eichler, der die ISK-Mitglieder nach Widerstand und Exil in die SPD führte, und damit in die politische Kultur der Bundesrepublik, in der die ehemaligen ISK-Mitglieder dann im Lauf der 1950er Jahre ihre Spuren hinterließen. Bis dahin hatten sie jedoch einen langen und intensiven Prozeß des Umdenkens hinter sich gebracht, der sie mit zu den aktivsten Vertretern der ,Westernisierung' machte, zu Advokaten des Pluralismus, des Parlamentarismus und des liberalen, demokratischen Sozialismus. an

KPO Die Kommunistische Partei-Opposition (KPO) wurde 1928 gegründet. Sie ging aus einem Flügelstreit innerhalb der KPD hervor, in dem die Partei eine tiefgreifende Auseinandersetzung um ihr Selbstverständnis austrug. Vorangegangen war ein Wandel in der KPdSU, in der sich 1927/28 die Fraktion Stalins durchgesetzt hatte.28) Die neue Politik galt dem Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion; die Hoffnung auf Revolutionen in den kapitalistischen Ländern wurde aufgegeben. Das Verhältnis zu den anderen KPs änderte sich in der Folge. Sie hatten ihre Aufgabe nicht erfüllt und konnten nun nur noch der Unterstützung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion dienen. Ihre Leitungen wurden gegen stalintreue Funktionäre ausgetauscht, welche die ,Bolschewisierung' ihrer Parteien vorantreiben und die ,Partei neuen Typs' durchsetzen sollten. 1927 vollzog die KPD diese radikale Wende mit. Eine Minderheit in der KPD, meist führende Kader, sagten sich daraufhin von Stalins Kommunismusverständnis los und organisierten sich als Opposition. Die KPO, die unter anderem von August Thalheimer und Heinrich Brandler angeführt wurde und anfangs etwa 3500 Mitglieder zählte,29) verstand sich selbst als organisa-

27) Willi Eichler Sozialistische Wiedergeburt. Gedanken und Vorschläge zur Erneuerung der sozialistischen Arbeit, hg. v. ISK, London o.J. [1934], hier S. 10f.; vgl. Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 82. 28) Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt/M. 1969. 29) Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 24; Hartmut Drechsler: Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung am Ende

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren

torischen Zusammenschluß der

Opposition,

als

Richtung

279 innerhalb der Par-

tei.30) Den Schritt zur Abspaltung mochte man nicht vollziehen, da sich die KPO ausdrücklich zu den Grundsätzen des Kommunismus bekannte. Sie stand „der SPD in der schärfsten, unüberbrückbaren, grundsätzlichen Gegnerschaft gegenüber."31) Die Differenzen mit der KPD beträfen nur taktische Fragen, wie etwa die ultralinke Taktik Moskaus und die Ablehnung der Einheitsfront. Aber gerade diese taktischen Fragen entschieden nach Meinung der KPO über die weitere Existenz der Partei. Und diese Entscheidungen seien nicht aufgrund freier Abstimmung unter den Parteimitgliedern getroffen worden. Das Ziel sei daher nun selbständige politische Arbeit nach kommunistischen Grundsätzen. Die KPO wollte die wahre kommunistische Idee hüten.32) Angesichts des totalen Führungsanspruchs der KPdSU über alle anderen kommunistischen Parteien wurde die rechte kommunistische Opposition schnell zu einer internationalen Bewegung, die sich in der ICO zusammenschloß. Die KPO wollte innerparteiliche Demokratie, Offenheit der Entscheidungsfindung, sie wollte Überzeugungsarbeit innerhalb der Arbeiterbewegung leisten, bis die Mehrheit der Werktätigen gewonnen war. Und sie wollte am Ziel des revolutionären Kampfes in Deutschland festhalten, obwohl Stalin diese Möglichkeit nicht länger gelten lassen mochte. Es waren die Ideen Rosa Luxemburgs, denen man folgte und die man dem „von Stalin und seiner Fraktion deformierte[n] Leninismus"33) entgegenhielt. Damit widersprach die KPO dem stalinistischen Verständnis der kommunistischen Bewegung, das monolithisch war, keine interne Diskussion und keine Abweichung zuließ. Sie setzte ihm ein völlig anderes Selbstverständnis entgegen, nach dem die einzelnen kommunistischen Parteien souverän im Sinne der kommunistischen Idee agierten und sich freiwillig in der Kommunistischen Internationale zusammenschlössen. Nur durch diese Souveränität seien die Parteien überhaupt fähig, den Kampf gegen die herrschende Gesellschaftsordnung zu führen. Es ging der KPO darum, die Gesellschaftsordnung durch eine Revolution radikal zu verändern. Sie lehnte die parlamentarische Demokratie grundsätzlich ab, da sie das Funktionieren des Kapitalismus ermögliche, und stand in der Weimarer Republik, Meisenheim 1965, S. 150; beide stützen sich auf Angaben Heinrich Brandlers. Etwa 1000 KPO-Mitglieder gingen zwischen Dezember 1931 und Frühjahr 1932 zur SAP. 30) Bergmann: Gegen den Strom, S. 47. 31) Plattform der KPO, Abschn. I, S. 7, vgl. Bergmann: Gegen den Strom, S. 48. 32) Die Krise der KPD „führt dazu, daß die Partei aufhört, in der Wirklichkeit die Trägerin des Kommunismus zu sein, daß sie sich in einen leerlaufenden, selbstgenügsamen Apparat verwandelt, der mit dem wirklichen Kampf der Arbeiterklasse nichts mehr zu tun hat und der schließlich bei der ersten revolutionären Probe an seiner inneren Hohlheit zusammenbricht." Plattform der KPO, Abschn. VIII, S. 71, und Abschn. I, S. 6, zit. in: Bergmann: Gegen den Strom, S. 49. 33) Bergmann: Gegen den Strom, S. 50.

280

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

fundamentaler Gegnerschaft zum Reformismus der SPD, den sie für eine Illusion hielt und vor dem Hintergrund der Endphase der Republik scharf kritisierte. Der Reformismus habe die SPD zu einer Koalitionspolitik mit den bürgerlichen Kräften verleitet und so den Kampfeswillen der Arbeiter gelähmt und die Arbeiterbewegung weiter gespalten. Durch ihre Politik der Duldung helfe die SPD nun sogar mit, die bürgerliche Demokratie abzubauen, die sie hatte erhalten wollen, und mache sich selbst verzichtbar für ihre bürgerlichen Koalitionspartner, die sie nun fallenließen. Der zweite wichtige Kritikpunkt gegenüber der Sozialdemokratie waren deren wirtschaftsdemokratische Vorstellungen. Diese hätten schon bei ihrer Entstehung in der Revolution von 1918/19 dazu gedient, den revolutionär gesinnten Arbeitern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Den Kapitalismus zähmen und ihn, mit einem demokratischen Überbau versehen, für die Arbeiterklasse akzeptabel machen zu wollen, hielt die KPO für illusorisch. Besonders mit den Theorien Fritz Naphtalis setzte sie sich auseinander und hielt sie für das Feigenblatt, mit dem der ADGB seine eigene wirtschaftspolitische Passivität bedeckte. Und drittens warf man der SPD vor, nur verbalen Antifaschismus zu betreiben. Außer Propaganda und Aufklärung über den Nationalsozialismus, einigen Kundgebungen und Aufmärschen gebe es keine Aktionen. Der Einfluß des Reformismus in der Arbeiterklasse müsse bekämpft werden, indem man den Einfluß der Sozialdemokratie unter den Arbeitermassen vernichte. Und dies könne nur dadurch geschehen, daß man die sozialdemokratischen Arbeiter von der Richtigkeit der kommunistischen Argumente überzeuge.34) Auch den ADGB kritisierte die KPO für seinen Reformismus. Sie warf ihm vor, sich auf die Spielräume beschränkt zu haben, die ihm die Unternehmer eingeräumt hätten und daher von der Weltwirtschaftskrise unvorbereitet getroffen worden zu sein. Theodor Bergmann, selbst ehemaliges KPO-Mitglied, urteilt rückblickend: „Nur wenn man bereit war, über diese Methoden hinauszugehen, die alte Klassenherrschaft in Frage zu stellen, den Kampf um die Macht in der Wirtschaft anzustreben, den Übergang vom Tageskampf zum politischen Kampf zu suchen, alle gewerkschaftlichen und politischen Kampfmittel und -methoden zu kombinieren, war ein erfolgreicher Kampf auch in der Krise noch möglich. Das aber widersprach der reformistischen Ideologie [...]. Bernstein [...] übersah den unauflöslichen Zusammenhang und die Wechselwirkung zwischen Ziel und Bewegung, zwischen Zweck und Mitteln. Ohne das Ziel wird die Bewegung [...] zum Selbstzweck, der um seine Existenz bangt, diese nicht durch Kämpfe gefährden will, schließlich den Apparat selbst dem Klassengegner ausliefert."35) So sehr dies von den Erfahrungen des kampflosen Niedergangs der Republik angesichts des Nationalsozialismus geprägt ist, lassen sich doch einige Grundpositionen der KPO der Weimarer Zeit daran ablesen. Für uns ist vor allem die

34) Ebda., S. 71-74. 35) Ebda., S. 77.

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren

281

Bedeutung von Interesse, die das Ziel für die Bewegung hat, und zweitens die Rolle, welche die Vorstellung von Klassenkampf spielt, der hier nicht nur als Interessenkonflikt, sondern als politischer und physischer Kampf zwischen feindlichen Parteien verstanden wird. Reformisten irren und gefährden durch ihre falsche Politik die Sache selbst, das Ziel. Sie müssen daher für die richtige

Politik gewonnen werden, und zwar durch Überzeugungsarbeit. Die rechte kommunistische Opposition war von der Richtigkeit ihrer Argumente überzeugt, sie glaubte, im Besitz der Wahrheit zu sein. Für einen Teil der KPO-Anhänger führten jedoch die Erfahrungen der 1930er Jahre zu einem Umdenken. Sie wandten sich in den 1940er Jahren dem Pluralismus zu und erkannten andere Positionen als gleichrangig an, auch wenn sie diese nicht teilten. Diese Anhänger der rechten kommunistischen Opposition versuchten Ende der 1920er Jahre zunächst, ihre Überzeugungen zu retten, indem sie diese von der stalinistischen Praxis trennten und ihr entgegenhielten, mußten dann aber im Laufe der 1930er Jahre Zug um Zug erleben, wie sich der Versuch, den Kommunismus von der Herrschaft der Kommunistischen Partei zu lösen und zu reformieren, als unmöglich herausstellte. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich ein nicht geringer Teil von ihnen gänzlich vom Kommunismus gelöst, manche früher, andere später. Einige von ihnen fanden sich dann wiederum in den späten 1940er Jahren in den westdeutschen Gewerkschaften und der SPD, wo sie als vehemente Antikommunisten und Verfechter der liberalen Demokratie wirkten. 1931 entstand die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP). Dies war die organisatorisch und programmatisch wichtigste Gruppe zwischen den beiden großen Arbeiterparteien.36) Sie entstand, als sich Teile der linken Opposition innerhalb der SPD nach langjährigen innerparteilichen Auseinandersetzungen von der Partei abspalteten. Im Grunde genommen war es, seit der Wiedervereinigung von SPD und Rest-USPD 1922, eine Auseinandersetzung um das Selbstverständnis der SPD als Staats- oder als Klassenpartei. Die linke Opposition lehnte die Weimarer Republik als Klassenstaat ab, den es zu bekämpfen galt, und opponierte daher gegen die Politik der SPD, die diese Republik trug. Nur die traditionelle Parteidisziplin hielt die Partei die 1920er Jahre hindurch noch zusammen. Da auch die ,staatstragende' Mehrheit der SPD an ihrem marxistischen Programm festhielt, entwickelte sich die Auseinandersetzung zu

SAP

einem Konflikt zwischen Theorie und Praxis, wobei die Opposition auf die Inkongruenz des pragmatischen tagespolitischen Kurses der Parteiführung mit deren eigener Programmatik hinweisen konnte. Der innerparteiliche Streit um die Tolerierung der Regierung Brüning und um den Panzerkreuzer B führte schließlich zur Spaltung, und im Oktober 1931 wurde die SAP gegründet. Al-

36)

Drechsler: SAPD; Jörg Bremer: Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Exil 1933-1945, Frankfurt/M. 1978; Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 23.

Untergrund und

282

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925 -1949

schloß sich ihr nur ein kleiner Teil der SPD-Linken an, und auch im kommunistischen Spektrum hatten sie nur wenig Zulauf. Anfangs vereinte die SAP vor allem Politiker, die die SPD zwar prinzipiell kritisierten, dennoch aber den Traditionen der Sozialdemokratie verpflichtet blieben. Sie lehnten die KPD und ihre Politik ab, versuchten aber, deren Anhänger auf die eigene Seite herüberzuziehen. Ihre Position zwischen SPD und KPD und ihr Versuch, zur sozialistischen Sammlungsbewegung für die Massen zu werden, ließ die SAP ideologisch und organisatorisch heterogen und ohne eigenes Profil erscheinen. Dies änderte sich, als im Frühjahr 1932 eine Minderheit von etwa 1000 Mitgliedern die KPO verließ und sich der SAP anschloß, wo sie innerhalb kurzer Zeit die organisatorische und programmatische Führung übernahmen.37) Die SAP erhielt nun ein geschlossenes Programm, in dem sie sich klar von der SPD abgrenzte. Dieses Programm war stark leninistisch getönt. Der Hauptunterschied zur Anfangszeit der SAP lag nun im Verhältnis zu den Massen. Hatte sie sich ursprünglich als Keim einer linkssozialistischen Massenpartei verstanden, so sah sie sich jetzt als Elitepartei, die die Massen lenken wollte.38) Die Orientierung zum Leninismus zeigte sich auch darin, daß die Partei nun keinen friedlichen Weg des Wandels von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft mehr sah. Nur die Revolution konnte zu einer gerechten Gesellschaftsordnung führen. Die Prinzipienerklärung der SAP vom März 1932 listete die Grundannahmen der Partei im einzelnen auf.39) Ein Gesellschaftszustand wurde angestrebt, in dem weder Privateigentum an Produktionsmitteln noch Klassen bestünden. Dies sei jedoch nur über die Revolution zu erreichen, in der die Kapitalisten enteignet würden und das .Proletariat' die politische Macht erobere.

lerdings

Denn:

„Der bürgerliche Staat ist [...] nichts als das Werkzeug zur Ausübung der bürgerlichen Klassenherrschaft über das Proletariat, und zwar nicht nur in der Monarchie oder in der faschistischen Diktatur, sondern auch in der demokratischen Republik."40)

Dieser Staat die Weimarer Republik mußte daher vom Proletariat zertrümmert werden. Es sollte statt dessen seinen eigenen Staat aufbauen, „gestützt auf die Räte der arbeitenden Massen und geführt durch die revolutionäre Partei."41) Der Niedergang des Kapitalismus und die Zersetzung der Bourgeoisie wurden als so weit fortgeschritten erachtet, daß nicht mehr nach parlamentarisch-demokratischen Verfahren regiert werden könne, die Bourgeoisie würde -

-

37) Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 24f. Zu der KPO-Minderheit in der SAP gehörten an führender Stelle August und Irmgard Enderle, Paul Frölich, Max Köhler, losef Lang, Erna Halbe und Jacob Walcher. Bremer. SAP, S. 33 f.

38) Bremer: SAP, S. 37. 39) Siehe hierzu: Ebda., S. 37-39. 40) Prinzipienerklärung Aktionsprogramm,

angenommen auf dem I.

Parteitag

1932 der

SAPD, mit einem Vorwort von Paul Frölich, Berlin, o.J. [1932], zit. in: Ebda., S. 38. 41 ) Ebda. -

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren

283

vielmehr angesichts der sich nun häufenden Krisen gezwungen sein, zur offenen Diktatur über die Arbeiterklasse zu greifen. Diese These vom „Niedergangskapitalismus" mag angesichts der voll ausgebildeten Weltwirtschaftskrise, der schon durch Präsidialkabinette abgelösten Republik und des drohenden Nationalsozialismus eine durchaus plausibel scheinende Analyse gewesen sein. Die Kampfbereitschaft der deutschen Arbeiterschaft hat sie jedoch zweifellos überschätzt. Die Gewerkschaftspolitik der SAP basierte auf der sogenannten Einheitsfront-Taktik', womit das Bestreben gemeint war, „das politisch zersplitterte Proletariat in Tageskämpfen zusammenzuführen und im Kampf gegen das ganze kapitalistische System auf das Ziel der revolutionären Machteroberung hinzulenken."42) Zentraler Bestandteil dieser Einheitsfrontpolitik war die Mitarbeit in großen überparteilichen Organisationen der Arbeiterbewegung, vor allem in Gewerkschaften, Sport- und Freidenkerorganisationen. Es gelte, die Gewerkschaften, die trotz ihres Reformismus „das letzte große Bollwerk der Arbeiterklasse" seien, zu erhalten, zu stärken und zu revolutionieren.43) Daher müßten auch alle SAP-Mitglieder in den freien Gewerkschaften mitwirken und die Gewerkschaftsmitglieder dazu bewegen, von den reinen Gewerkschafts-

kämpfen zum politischen Kampf überzugehen.44)

Auch die SAP blieb in der Weimarer Zeit eine marginale Gruppierung, obwohl sie mit etwa 25 000 Mitgliedern die größte der Weimarer Splittergruppen war. Ihr Stimmenanteil in den Reichstagswahlen kam nicht über 0,2% hinaus.45) Erst in Widerstand und Exil erlangte sie tatsächlich politische Bedeutung und trug zur Nachkriegsplanung und langfristig auch zur politischen Neuorientierung der SPD bei. Alle drei Gruppen, aus denen die späteren Netzwerksmitglieder, aber auch andere für die SPD der Nachkriegszeit prägende Personen kamen, haben in der Weimarer Zeit einige auffällige Gemeinsamkeiten trotz aller Unterschiede in den politischen und weltanschaulichen Positionen. Alle drei lehnten die Weimarer Republik und ihren Parlamentarismus ab, alle kritisierten die SPD für ihren Reformismus, ja sahen sich in scharfer Gegnerschaft zur Sozialdemokratie. Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie, wie es der ADGB um 1927 vertrat, wurde ebenso abgelehnt. Gewerkschaften wurden prinzipiell als Instrument des Kampfes der Arbeiterklasse betrachtet, den Weimarer Gewerkschaften wurde daher der Vorwurf gemacht, dieser Aufgabe nicht nachzukommen. -

42) Drechsler: SAPD, S. 233. 43) Jacob Walcher: Unsere Aufgaben in den Gewerkschaften, Protokoll des ersten ReichsParteitages der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in Berlin, 25.-28. März 1932, hg. v. Parteivorstand, S. 13-19, zit. in: Drechsler: SAPD, S. 233. Für die Resolution ,SAP und Gewerkschaften' siehe: Sozialistische Arbeiterzeitung, 16. April 1932, vgl. Drechsler: SAPD, S. 233 f.

-14) Ebda.

45)

Drechsler: SAPD, S. 272f.; Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 25.

284

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925 -1949

Eine Gesellschaftsreform fundamentaler Natur war das Ziel. Dazu kam die Überzeugung, selbst die richtige Politik zu kennen, und der Glaube, die übrigen Gruppen der Arbeiterbewegung könnten durch Überzeugungsarbeit dazu gebracht werden, ihren ,Irrtum' einzusehen und sich der richtigen Sache anzuschließen. Die Vorstellung, einer politischen Elite anzugehören, welche die Massen auf den richtigen Weg führt, und die Geringschätzung von parlamentarischen Mehrheitsentscheiden waren typisch für alle drei Gruppen. Um so deutlicher ist der Wandel, den nicht wenige Mitglieder dieser Gruppierungen bis spätestens Anfang der 1950er Jahre vollzogen. Pluralismus, parlamentarische Demokratie, Antikommunismus, Reformismus, Akzeptanz einer regulierten Marktwirtschaft dies sind nur die Kernpunkte der Positionen, die von ehemaligen Angehörigen von ISK, KPO und SAP in den 1950er Jahren vertreten werden. Es waren die Erfahrungen aus der Zeit des Widerstands und des Exils, die diesen Wandel im Denken hervorbrachten. -

b. Widerstand gegen den Nationalsozialismus und Abkehr vom Kommunismus: die 1930er Jahre

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten war ein einschneidender Bruch für die deutsche Arbeiterbewegung. Die Reaktionen darauf fielen recht unterschiedlich aus. Während die KPD keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen einer Kanzlerschaft von Papens, Schleichers oder Hitlers feststellen mochte, da sie sich nur in der Methode des Kampfes gegen das Proletariat unterschieden und da als Hauptfeind zunächst die Sozialdemokratie bekämpft werden mußte, sah die SPD in der Regierung Hitler nur eine Zusammenfassung „reaktionärer großkapitalistischer und großagrarischer Kräfte" und vertraute auf die Wahlen im März 1933. Die Freien Gewerkschaften wiederum versuchten zunächst, durch Zugeständnisse an die neuen Machthaber wenigstens den Bestand ihrer Organisationen zu retten. Die linkssozialistischen und rechtskommunistischen Splittergruppen hatten sich dagegen auf den „Weg in den Untergrund" vorbereitet.46) Ihre Einschätzung des Nationalsozialismus beruhte auf ihren bereits bis 1930 entwickelten Faschismusanalysen. Sie interpretierten den Faschismus bzw. den Nationalsozialismus vor ihrer jeweils eigenen Weltsicht. Die KPO legte bereits 1928 eine differenzierte Faschismusanalyse vor.47) Ausgehend von der Marx'sehen Bonapartismus-These und von den Erfahrun-

46) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 54-60, Zitate S. 54f. 47) Der Autor dieser Studie, die ursprünglich als Denkschrift für die Programmkommission

der Komintern verfaßt worden war, war August Thalheimer. Thalheimer veröffentlichte sie dann 1930 als Artikelserie in der KPO-Zeitschrift .Gegen den Strom': August Thalheimer: Über den Faschismus, in: Gegen den Strom, 3/1930, S. 32 f., 48 f., 66f. Vgl. Bergmann: Gegen den Strom, S. 53f.;i,mfc ISK, S. 128, Anm. 136. Siehe zur Faschismusanalyse der KPO insgesamt: Bergmann: Gegen den Strom. S. 51-55.

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren

285

gen mit dem italienischen Faschismus wurde der Nationalsozialismus interpretiert und gerade auch seine Unterschiede zum Faschismus herausgestrichen. Die marxistische Klassenanalyse lag dieser Interpretation des Nationalsozialismus zugrunde. Er wurde als „eine zweite neue Form der Bourgeoisieherrschaft", als „offene aber indirekte Diktatur der Bourgeoisie" begriffen. Die Großbourgeoisie wende sich nun von der bürgerlich-parlamentarischen Republik ab und bereite die Konterrevolution und einen imperialistischen Krieg vor. Das Ziel der „faschistischen Konterrevolution" sei es, den Versailler Vertrag zu beseitigen und die Welt neu zu verteilen, die bürgerliche Demokratie abzuschaffen und die parlamentarischen Parteien sowie die proletarischen Massenorganisationen zu vernichten, vor allem aber die vom Staat unabhängigen Gewerkschaften.48) Die Krise des parlamentarischen Systems und die sozialen Veränderungen führten dazu, daß die Bourgeoisie sich beim Übergang zum Faschismus auf deklassierte Elemente aller Klassen, auch aus der Arbeiterklasse, stützen könne. Neben enttäuschtem Kleinbürgertum und Teilen der mittleren Bourgeoisie und des Bauerntums bildeten Teile der Arbeiterschaft, die durch die sozialdemokratische Koalitionspolitik bzw. die ultralinke Taktik der KPD demoralisiert worden seien, ein Hauptreservoir für die faschistische Massenbewegung.49) Die KPO wandte sich daher in ihrer politischen Plattform Ende 1930 scharf gegen den „Sozialfaschismusvorwurf', in dem die KPD die SPD mit dem Faschismus gleichstellte.50) Vor allem aber wandte sie sich als Konsequenz aus ihrer Faschismusanalyse gegen den Umsturz der Republik, obwohl sie diese weiterhin grundsätzlich ablehnte. Die parlamentarische Republik sollte gegen die Rechte verteidigt werden, um sie dann durch die Räterepublik zu

ersetzen.51)

Die SAP interpretierte den Faschismus „nicht als eine selbständige Bewegung, sondern der Faschismus ist die Kampfwaffe, der Arm der herrschenden kapitalistischen Klasse."52) Er sei das Produkt einer fortschreitenden „Niedergangskrise" des Kapitalismus, die Reaktion des Bürgertums auf die revolutionäre Situation, welche durch die Krise des Kapitalismus entstehe, auf die Bedrohung ihrer Herrschaftsposition durch die Arbeiterbewegung.53) Die Faschismus-Interpretation der SAP stützte sich wie die der KPO auf Marx' Bonapartismus-These. Und wie die KPO war auch die SAP der Ansicht, die

48) 49) 50) 51) 52)

Plattform der KPO, Abschn. III, S. 23 f., zit. in: Bergmann: Gegen den Strom, S. 52. Bergmann: Gegen den Strom, S. 52f. Plattform der KPO, Abschn. III, S. 28, zit. in: Ebda., S. 53. Plattform der KPO, Abschn. VII, S. 47, zit. in: Ebda., S. 54. Protokoll des ersten Reichs-Parteitages der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in Berlin, 25.-28. März 1932, hg. v. Parteivorstand, S. 12, zit. in: Drechsler. SAPD, S. 230. Siehe insgesamt zum folgenden: Drechsler: SAPD, S. 229-232; Bremer: SAP, S. 41-45. 53) Klaus Zweiling/Fritz Sternberg: Programmentwurf für den Parteitag der SAP, Ostern 1932, Abschn. II, 7-8, zit. in: Drechsler. SAPD, S. 229. Vgl. auch: Fritz Sternberg: Der Niedergang des deutschen Kapitalismus, Berlin 1932.

286

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Gefahr einer nationalsozialistischen Herrschaft sei ganz konkret und müsse mit allen Mitteln verhindert werden.54) Denn, so die Annahme des Aktionsprogramms der SAP von 1932: „Der Sieg des Faschismus würde die Arbeiterklasse für lange Zeit fesseln, ihren eigenen Sieg weit hinausschieben."55) Es ging der SAP dabei nicht um den Erhalt der Republik, denn ihrer Ansicht nach bestand kein Unterschied zwischen demokratischer Republik und Faschismus.56) Aber wie in der KPO war man der Ansicht, daß die parlamentarische Republik den besseren Ausgangspunkt bot für den Kampf der Arbeiterbewegung. Der ISK mit seinem nichtmarxistischen Sozialismusverständnis unterschied sich auch in der Art, wie er in den späten 1920er Jahren mit dem Phänomen des Faschismus umging, von den anderen Splittergruppen auf der Linken.57) Eichler hielt „die um die reine Demokratie sich gruppierende Gesamtreaktion" für den Hauptgegner.58) Zugleich galt es, sich vom italienischen Faschismus abzusetzen, mit dem man die Demokratiekritik und das Führerprinzip gemein hatte.59) Dessen Dezisionismus, die Willkür in der Führerauswahl und unverhüllte Autokratie, die sich nur auf Gewalt stütze, lehnte der ISK nachdrücklich ab. Vor allem die Aufhebung der persönlichen und öffentlichen Grundrechte, der politischen Selbstverwaltung auf kommunaler Ebene und der Versuch, den Klassenkampf durch staatliche Eingriffe zu beseitigen, wurden kritisiert. Dennoch blieb die Analyse des Faschismus zunächst oberflächlich. Erst 1930, mit den wachsenden Erfolgen der NSDAP, finden sich erste Auseinandersetzungen mit den möglichen Ursachen, die man neben der Figur Hitlers in den wirtschaftlichen Umständen sah.60) Vor allem die kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten hielt man für anfällig, aber auch die Arbeiterschaft sei, wegen der Enttäuschungen der Nachkriegsjahre und der „Ideenarmut der führenden sozialistischen Parteien" nicht gefeit.61) Nur ein Bündnis zwischen Bauern und Arbeiterschaft könne die faschistische Bedrohung verhindern. Als wichtigstes Mittel im Kampf gegen den Nationalsozialismus bemühte sich der ISK seit 1930/31 um die Bildung einer „Einheitsfront" der Arbeiterbewegung. Er wandte sich hierzu vor allem an die Gewerkschaften, ab Anfang 1932 aber

54) Programmentwurf Lewy/Weckerle, zit. in: Drechsler: SAPD, S. 232. 55) Aktionsprogramm der SAP, 1932, zit. in: Ebda., S. 231. 56) Prinzipienerklärung der SAP [1932], zit. in: Bremer: SAP, S. 38. 51) Siehe hierzu insgesamt Link: ISK, S. 126-130. 58) Eichler zitiert hier Engels, darauf macht Link: ISK, S. 126, aufmerksam.

Willi Eichler Zum 1. Mai, in: isk, 2/1927, S. 84f. 59) In der Zeitschrift „Kommunistische Internationale" war der ISK als faschistoide Organisation denunziert worden: siehe Link: ISK, S. 127, Anm. 132, hier auch zur Erwiderung Eichlers. «>) Link: ISK, S. 128. 61 ) Ebda. Das Zitat ist von Link.

287

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren

an alle politischen und gesellschaftlichen Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung.62) Als es dem Nationalsozialismus gelang, seine Herrschaft auszubauen und zu konsolidieren, insbesondere als im Frühjahr 1933 die Organisationen der Ar-

auch

beiterbewegung aufgelöst wurden

und es zu Massenverhaftungen kam, sahen sich ISK, SAP und KPO zunächst in ihrer Interpretation dieses Regimes als Instrument der Klassenherrschaft bestätigt. Die Spaltung der Arbeiterbewegung und ihr kampfloses Aufgeben hatte, darin stimmten SPD und Splittergruppen überein, die nationalsozialistische Machtübernahme erst ermöglicht. Alle Gruppierungen der deutschen Arbeiterbewegung bemühten sich deswegen nun verstärkt darum, die Einheit wiederherzustellen. Dies blieb jedoch in der innerdeutschen Widerstandsarbeit illusorisch, in der die einzelnen Gruppen meist isoliert waren und in der es bald nur noch darum ging, den jeweils eigenen Zusammenhalt zu wahren.63) Nur in der Emigration, und auch erst während der Kriegsjahre, gelang eine gruppenübergreifende Zusammenarbeit, die auch programmatisch relevant wurde allerdings nur unter Ausschluß der Kommunisten. Versuche, zu einer Kooperation zwischen Sozialdemokraten, Linkssozialisten und Kommunisten zu kommen, waren Mitte der 1930er Jahre gescheitert. Denn die Kommunistische Partei verstand unter dem Konzept der Volksfront die eigene Führung innerhalb der Arbeiterbewegung; um so mehr, als sie die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland „als den letzten notwendigen Schritt zur finalen Krise des bürgerlich-kapitalistischen Systems mit zwangsläufig folgender proletarischer Revolution"64) betrachtete. An diesem Führungsanspruch der KPD und am Mißtrauen der von ihr bislang als ,sozialfaschistisch' bekämpften SPD scheiterte auch der Versuch der Emigration, eine deutsche Volksfront' gegen den Nationalsozialismus zu bilden.65) Aber auch die Sozialdemokraten und Sozialisten waren zunächst nicht auf Kompromisse aus: -

,

„Man wollte eine zukünftige Wirtschafts-, Innen-, Sozial- und Kulturpolitik grundlegend revolutionär verändern und war vorweg bestrebt, die allseits beklagte Spaltung der Arbeiterklasse, in der man illusionärerweise den alleinigen Grund der Niederlage sah, mit der Durchsetzung des Führungsanspruchs der jeweils eigenen Gruppierung überwinden."66)

62) 63)

Link: ISK, S. 146-171. Zu den Bemühungen der SAP um eine „Einheitsfront" siehe: Drechsler: SAPD, S. 233-236; für die KPO siehe in diesem Zusammenhang: Bergmann: Gegen den Strom, S. 55-58. M) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 127. 65) Ebda., S. 128. Zum Konzept der Volksfront siehe: Ursula Langkau-Alex: Volksfront für Deutschland? Bd. 1 : Vorgeschichte und Gründung des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront, 1933-1936, Frankfurt/M. 1977. 66) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 127. Der Topos „revolutionär" verweist hierbei auf die Phase der „Radikalismus-Renaissance", die auch die SPD in der Zeit des Exils durchlief.

288

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949 .

Erst durch die Erfahrungen des Exils sollte sich diese Grundhaltung verändern, und auch erst nachdem das Ende des Widerstands im Deutschen Reich die theoretischen Gewißheiten ins Wanken gebracht hatte. 1936/37 fanden die letzten großen Verhaftungswellen und Massenprozesse gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter statt, und bis Herbst 1938 war der aktive Widerstand innerhalb Deutschlands gebrochen.67) Dies hatte seinen Grund zum einen in der Effektivität des nationalsozialistischen Verfolgungsapparats. Zur Verfolgung hinzu kam jedoch ein weiteres Moment, das dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus vollends die Grundlage entzog, nämlich die rasch wachsende Akzeptanz des Regimes durch die Bevölkerung. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit bis zur Vollbeschäftigung und die materielle Besserung im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise ließ vielen Deutschen die Friedensjahre des,Dritten Reiches' auch noch im Rückblick als die besten Jahre seit Beginn des Ersten Weltkriegs erscheinen.68) Dazu kamen die außenpolitischen Erfolge des Regimes, die ihm sogar bis in das erste Kriegsjahr hinein immense Popularität verschafften. Die Unterstützung für den Widerstand der Arbeiterbewegung sank entsprechend schnell.69) Diese Erfahrung dürfte von einschneidender Bedeutung für die sozialistischen Regimegegner gewesen sein. Nicht etwa nur Bürgertum, Kapital und Großagrarier unterstützten die Nationalsozialisten, auch Teile der Arbeiterschaft begannen, sich mit dem Regime zu arrangieren oder es offen zu bejahen. Damit hatten die um 1930 entstandenen Faschismusanalysen der Splittergruppen zwar in gewissem Maß gerechnet, das Ausmaß und die Reichweite der Zustimmung aber machte die Hoffnung auf eine revolutionäre Krise des Regimes zunichte. Darüber hinaus aber dürfte es auch den Glauben an das revolutionäre Potential und den ,Kampfeswillen' des ,Proletariats' zumindest beschädigt haben. Man kann daher vermuten, daß für einige Angehörige der linken Splittergruppen der revolutionäre Sozialismus als Denkgebäude schon hier, in den letzten Friedensjahren in Deutschland, erste Risse erhielt. Als in Deutschland die offene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gescheitert war, bot sich im Spanischen Bürgerkrieg die Möglichkeit, den Kampf mit ,dem Faschismus' um so offener auszutragen. Zahlreiche Deutsche waren zwischen 1936 und 1939 als Freiwillige in Spanien aktiv.70) Die

67) Zum folgenden Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 129-137, hier S. 129f. Zum Begriff .Widerstand' siehe Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 17. 68) Vgl. etwa Niethammer: Die Jahre weiß man nicht. 69) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 129-132; Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 47-91.

70)

In den Internationalen Brigaden waren etwa 5000 deutsche und österreichische Sozialisten und Kommunisten aktiv. Siehe zum folgenden zur Mühlen: Spanien, passim; Ders.: Säuberungen unter deutschen Spanienkämpfern, in: Exilforschung, 1/1983, S. 165-176. Vgl. auch Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 125 f. Zum Spanischen Bürgerkrieg

1. Dissens in den 1920er und 1930er Jahren

289

große Mehrheit von ihnen waren Emigranten, und sie gehörten überwiegend den Linksparteien an. Während das nationalsozialistische Regime Franco unterstützte, kämpften emigrierte deutsche Sozialisten in den Milizen oder in den Internationalen Brigaden gegen Francos Truppen oder betätigten sich als Journalisten, Propagandisten oder Partei Vertreter. Viele von ihnen interpretierten diesen Bürgerkrieg als das erste Kapitel in einer weltweiten ideologischen Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Sozialismus. Um so härter traf sie die Haltung der spanischen Kommunisten in diesem Krieg, welche mit Rükkendeckung aus Moskau die ihnen unbequemen Linken verfolgten. Es gelang ihnen, andere Parteien des antifaschistischen Spektrums nach und nach auszuschalten, bis sie selbst als einflußreichste Kraft auf der Linken übrigblieben. Die vordergründige Streitfrage war, ob das Ziel des Krieges die Restauration des bürgerlichen Staates, also der Republik sein solle, wie es die KP aus strategischen Gründen plante, oder vielmehr die Revolution, wie es die Partido Obrem de la Unificación Marxista (POUM) verlangte. Diese kleine Partei ver-

einte Moskau-kritische, national-katalonische Kommunisten und trotzkistische Intellektuelle. In ihren Milizen kämpften auch etwas über 30 SAP-Mitglieder und ungefähr 20 KPO-Anhänger. Sie wurden ebenfalls zur Zielscheibe der kommunistischen Verfolgung, als 1937 der offene, bewaffnete Konflikt zwischen den Kommunisten, den Rechtssozialisten und den bürgerlichen Parteien auf der einen Seite und dem POUM auf der anderen ausbrach. Eine Verhaftungswelle folgte, deren Opfer neben politisch abweichenden Kommunisten Sozialdemokraten, Sozialisten, Anarchosyndikalisten und Trotzkisten waren. Auf die Emigranten wurde regelrecht Jagd gemacht, bis die meisten in den spanischen Gefängnissen saßen. Etwa 100-200 Deutsche wurden Opfer der spanischen Geheimpolizei. Zu ihnen gehörte auch Kuno Brandel. Er war nach Spanien gefahren, um in der republikanischen Flugzeugindustrie zu arbeiten und saß dort von Juni bis September 1937 im Gefängnis.71) Die kommunistische Verfolgung beendete die Aktivitäten der linken Splittergruppen in Spanien. Es war der „Schlußakt des Dramas, mit dem als Parallele zu den Moskauer Schauprozessen die unabhängigen Linken vernichtet werden sollten."72) Denn zur gleichen Zeit uferten in Moskau die Säuberungen aus. Die Hinrichtungen und Deportationen von kritischen Köpfen des Kommunismus und sogar von engsten Weggefahrten Stalins erreichten um 1937 ihren Höhepunkt.73) Der größte Schock für die dem Kommunismus als Idee noch immer nahestehenden Linkssozialisten oder ,Rechtskommunisten' aber war der Ende August 1939 geschlossene ,Hitler-Stalin-Pakt', der Deutschland den Weg in

insgesamt siehe: Walther L. Bernecker: Krieg in Spanien 1936-1939, Darmstadt 1991; Ders.: Der Spanische Bürgerkrieg. Materialien und Quellen, Frankfurt/M. 1986. 71 ) Zur Mühlen: Spanien, S. 161. 72) Ebda., S. 73. 73) Hermann Weber/Ulrich Mählert, Hg.: Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936-1953, Paderborn u.a. 1998.

290

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

den Zweiten Weltkrieg freimachte. Hatte der Glaube an die Frontstellung zwischen Kommunisten, Sozialisten und Republikanern auf der einen Seite und Faschisten und Nationalsozialisten auf der anderen schon in Spanien erste Risse erhalten, so brach er nun vollends zusammen. Kein Versuch der KPD, diesen Schachzug zu erklären, half über die Verkehrung aller Grundsätze auf der Linken hinweg. Auch als 1941 die Sowjetunion zum Angriffsziel der Wehrmacht wurde, blieb die Abkehr vom Kommunismus, die der Pakt bei den bis dato antistalinistischen Kommunisten und linken Sozialisten bewirkt hatte,

irreparabel.74)

Dieser Ablösungsprozeß war für alle, die ihn durchlebten, ein einschneidender biographischer und intellektueller Bruch, der auch noch Jahre später prägende Wirkung auf ihre politischen Entscheidungen und ihre Weltsicht hatte. Ein nahezu idealtypischer' Fall für diesen politischen Weg ist Siggi Neumann, ehemaliger Kommunist und späterer Chef des Ostbüros der SPD.75) Er beschrieb im März 1946 einem früheren Freund oder Bekannten seinen politischen Weg von der KPD zum Antikommunismus: ,

„Du wirst mich und den ganzen Kreis der eben erwähnten Genossen als ,wüste Ultralinke' in Erinnerung haben und z.T. mit gutem Recht. Der Wendepunkt in unserer Haltung, unserer unkritischen Gläubigkeit an der [sie] Unfehlbarkeit der Parteiführung, bedeutete der preuss[ische] Volksentscheid gemeinsam mit den Nazis. Damals wurde ich, und die meisten Freunde meines Kreises, stutzig. Wir wurden reservierter, zogen uns langsam etwas zurück und nahmen Kontakt mit den Versöhnlern' auf. [...] 1934 wurde ich in Paris aus der KP ausgeschlossen, da ich damals gegen den [noch] immer herrschend gewesenen ultralinken Kurs (Sozialfaschismus) opponierte. Die Moskauer Prozesse, Spanien, usw usw usw, hat [sie] die Differenzen mit der KP immer mehr vertieft und heute gibt es für mich keine Brücke mehr zu ihr."76)

Die KPD sei, so fährt er fort, kein Flügel der deutschen Arbeiterbewegung, sondern der verlängerte Arm der sowjetischen Außenpolitik. An anderer Stelle erklärt Neumann, er sei kein Leninist, „nicht mehr."77) Für ihn seien Nationalsozialismus und Stalinismus vergleichbar, daher sei er Anti-Stalinist. Die Wurzeln des Stalinismus aber lägen im Leninismus, man könne daher nicht von

74) Hartmut Mehringer:

Der Pakt als

grundlegende Weichenstellung

für den deutschen

Sozialismus, in: Gerhard Bisovsky/Hans Schafranek/Robert Streibel, Hg.: Der Hitler-StalinPakt. Voraussetzungen, Hintergründe, Auswirkungen, Wien 1990, S. 119-129; Mehringer:

Widerstand und

Emigration, S. 133. 75) Siegmund (Siggi) Neumann, 1907-1960, seit 1926 KPD-Mitglied und 1934 aus der Partei ausgeschlossen. Er kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden, ging dann über Frankreich ins schwedische Exil. Nach Kriegsende trat er in die SPD ein, war erst Leiter des Ostbüros, dann des Betriebsgruppenreferats beim Parteivorstand. Vgl. Grebing: Lehrstücke in Solidarität, S. 359 und die biogr. Angaben im Anhang. 76) Siggi Neumann an Hans Alfgen, 20. März 1946, AdsD, NL Siggi Neumann, Box 1, Fsz. 1. Die „Versöhnler" oder „Mittelgruppe" versuchten trotz ihrer derjenigen der KPO ähnlichen Kritik innerhalb der KPD zu wirken. Grebing: Lehrstücke in Solidarität, S. 392f. 77) Siggi Neumann an Peter v. Oertzen, 22. lanuar 1957, AdsD, NL Siggi Neumann, Box 6, Fsz. 11.

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

291

des Stalinismus sprechen.78) Neumann hatte gänzlich mit dem Kommunismus gebrochen, er sah keine Möglichkeit, Teile der Lehre von der Moskauer Realität zu trennen und so zu retten. Neumann war kein Einzelfall, weder was die Prozeßhaftigkeit seiner Ablösung vom Kommunismus angeht, noch die Rigidität des Ergebnisses. Die alten Überzeugungen waren beschädigt, neue noch nicht gefunden. Nach Kriegsbeginn war eine politisch-ideelle Entwicklung jedoch nur noch in der Emigration möglich. Aber erst Anfang der 1940er Jahre kam in den Exilgruppen eine Phase der programmatischen Arbeit in Gang, die in einer langfristigen Neuorientierung mündete. Hierbei lassen sich verschiedene Einflüsse unterscheiden. Die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und seinem Krieg sowie die Lehren, die man daraus für die Arbeiterbewegung ableitete, spielten eine wichtige Rolle. Dies führte, neben den Zwängen des Zusammenlebens in der Emigration, zu einer intensiven Kooperation zwischen den Gruppen und Flügeln der nicht- oder nicht mehr kommunistischen Linken, was sich ebenfalls auf das Denken der beteiligten Gruppen auswirkte. Und schließlich darf die Bedeutung, die das Alltagsleben im jeweiligen Gastland, der Kontakt mit Parteien, Organisationen und einzelnen Personen dort hatten, nicht unterschätzt werden. Diese Entwicklung soll nun im Weiteren näher betrachtet werden.

„Entartung"

2. Wertewandel durch die Erfahrungen des Exils 1939 bis 1945 Der Begriff des Exils bezeichnet den „kleinen Kreis der im Ausland tätigen Vertreter der illegalen Parteien und Gruppen [,der] von der Mehrheit der ,passivpolitischen' assimilationswilligen Emigration zu unterscheiden" ist.79) Die

78) 79)

Ebda. Zur Begriffsbestimmung siehe: Röder: Exilgruppen, S. 14. Vgl. auch: Röder: Einleitung, in: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Bd. 1, S. XIII-LVIII. Von den insgesamt etwa 6000 sozialdemokratischen Emigranten können etwa 1000 zu Kriegsende als Mitglieder von Exilgruppen gelten; Gewerkschafter werden von den Erhebungen nicht gesondert aufgeführt. Für die Zahlen: Jan Foitzik: Die Rückkehr aus dem Exil und das politisch-kulturelle Umfeld der Reintegration sozialdemokratischer Emigranten in Westdeutschland, in: Briegel/Frühwald: Erfahrung der Fremde, S. 255- 270, hier S. 256f. Die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien hatte etwas über 700 Mitglieder, die in Schweden etwa 350; zur Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien siehe Röder: Exilgruppen, S. 59-62; zur Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Schweden siehe Günther: Gewerkschafter im Exil. In den Vereinigten Staaten war keine rein gewerkschaftliche Exilorganisation entstanden, da die German Labor Delegation dort Alleinvertretungsanspruch für die deutsche Arbeiterbewegung erhob und gemeinsam mit der AFL die Gründung eines Exil-Gewerkschaftskomitees verhinderte. Fichter: Besatzungsmacht und Gewerkschaften, S. 57 f., hier auch Näheres zu den Auseinandersetzungen mit dem Council for a Democratic Germany; Radkau: Die deutsche Emigration in den USA,

292

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

meisten Emigranten waren gezwungen, sich auf die Fremde einzulassen und sich mit den Gesellschaftsordnungen und Wertewelten ihrer Gastländer über viele Jahre hinweg auseinanderzusetzen. Aber nur die Mitglieder des Exils bauten auch Verbindungen zu den Arbeiterbewegungen dieser Länder und zur internationalen Gewerkschaftsbewegung auf. Nur diese kleine Gruppe politisch hochmotivierter und auf die Rückkehr und den Neuaufbau Deutschlands fixierter Männer und Frauen bezog die neuen Erfahrungen auch in ihre politischen Pläne ein und setzte ihre gesamte Energie daran, ihre Ideen in möglichst naher Zukunft auch Wirklichkeit werden zu lassen. Der Kriegsbeginn stellte für die deutschen Exilanten eine Zäsur dar, mit dem die Abkehr vom Alten irreversibel vollzogen war, und ab 1941 begann die Suche nach neuen Grundlagen. Ein Umdenk-, ja Lernprozeß setzte ein, der im Laufe weniger Jahre zu neuen bzw. veränderten politischen Positionen und auch Wertvorstellungen führte. Zwei hauptsächliche Einflüsse prägten Art und Richtung dieser Neuorientierung: Erstens der organisatorische Zusammenschluß der nichtkommunistischen Arbeiterbewegung, wie er richtungsweisend für andere im britischen Exil 1941 vollzogen wurde. Der Zwang zum Kompromiß führte zu einer Pluralisierung der Programmatik und zu einer offeneren Diskussion um die neu einzuschlagende Richtung. Zweitens, und dies wird in der Forschung noch zu oft unterschätzt, hatte die „Erfahrung der Fremde",80) hatten die Gastländer und ihre Arbeiterbewegungen einen stark prägenden Einfluß auf die deutschen Emigranten und auch auf das sozialistische Exil. Von einer direkten Übernahme fremder Werte kann natürlich keine Rede sein, vielmehr handelt es sich dabei um einen langwierigen Prozeß der „Akkulturation", der Annäherung an die fremden Gegebenheiten, in deren Folge die Deutschen begannen, sich auf sie einzulassen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. In diesem Teil geht es zunächst um die Annäherung der verschiedenen deutschen Gruppen im britischen Exil. Anschließend stehen die Werthaltungen und politischen Vorstellungen derjenigen Organisationen oder Gruppen im Mittelpunkt, mit denen die deutsche nichtkommunistische Linke im Exil Kontakt hatte. Großbritannien wird besonderer Raum gegeben, da hier ein großer Teil der später im transatlantischen Arbeiterbewegungs-Netzwerk aktiven Personen zu finden ist, und da hier der Schwerpunkt der programmatischen Diskussion in der deutschen Sozialdemokratie während des Krieges lag.81) Die Entwicklungen in London hatten große Bedeutung für die SPD in der Nachkriegszeit.

Zudem wird ein kurzer Blick auf die Gastländer Schweden und USA geworfen. Das Interesse gilt jeweils vor allem den ideellen Einflüssen, die Land und ArS. 144—169. Siehe außerdem: Ursula Langkau-Alex: Zwischen Tradition und neuem Bewußtsein, in: Briegel/Frühwald: Die Erfahrung der Fremde, S. 61-77; Stampfer: Mit dem Gesicht nach Deutschland. 8Ü) Briegel/Frühwald: Die Erfahrung der Fremde. 8I) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 262f.; Räder: Exilgruppen; Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration.

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

293

beiterbewegung auf die deutschen Exilanten hatten. Im Anschluß wird schließlich die Position der Emigranten nach dem Ende des Exils daraufhin betrachtet, ob sich ein Unterschied zu ihrer ideellen Haltung in der Weimarer Zeit feststellen läßt und falls ja, ob die neuen Positionen Ähnlichkeiten aufweisen mit den im Gastland kennengelernten. Tatsächlich, soviel schon vorweg, vollzog sich im Exil während der zweiten Kriegshälfte ein bedeutender Wandel in Program-

matik und Selbstverständnis der nichtkommunistischen deutschen Arbeiterbewegung. Das Ergebnis dieses Wandels war die „Aneignung des westlichen liberaldemokratischen Ideengutes" durch Sozialdemokraten und Sozialisten und eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis in der

Sozialdemokratie.82) a.

Die Annäherung der deutschen sozialistischen

Gruppen im Exil

Das Exil der Vorkriegsjahre hatte „spezifisch Weimarer Politik- und Kulturformen und vormoderne Residuen der deutschen Gesellschaft" konserviert, die zu diesem Zeitpunkt in Deutschland selbst durch den Nationalsozialismus bereits unwiderruflich zerstört waren.83) Die Jahre 1938/39 jedoch führten zur Auflösung dieser Traditionsmilieus und bildeten so einen zentralen Wendepunkt in der Geschichte des politischen Exils.84) Den Anlaß für die Zäsur bot eine Kombination von Ereignissen, die in diesen Jahren dicht aufeinanderfolgten. Im Jahr 1938 hatte die Gestapo die Kommunikationsbeziehungen des Exils zum innerdeutschen Widerstand vollends zerstört, war das Volksfrontbündnis in Paris gescheitert, erreichten in der Sowjetunion die stalinistischen Säuberungen ihren Höhepunkt und wurde die Niederlage der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg absehbar. Zwischen Frühjahr 1938 und Herbst 1939 folgte der „Anschluß" Österreichs an das Deutsche Reich, der deutsche Einmarsch in das Sudetenland und in die Tschechoslowakei, der Hitler-Stalin-Pakt und der Überfall auf Polen. Im Lauf der ersten Kriegsjahre geriet der gesamte Kontinent unter deutsche Herrschaft, es kam erneut zu massenhaften Fluchtbewegungen. Die Strukturen und die Logistik des politischen Exils lösten sich auf, die Ver-

82) Klotzbach: Staatspartei, S. 31. Siehe auch: Erich Matthias: Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Partei Vorstandes 1933-1938, Stuttgart 1952; Lewis J. Edinger: Sozialdemokratie und Nationalsozialismus. Der Parteivorstand der SPD im Exil von 1933-1945, HannoverFrankfurt/M. 1960. 83) Werner Röder: Zum Verhältnis von Exil und innerdeutschem Widerstand, in: Exilforschung, 5/1987, S. 28-39, hier S. 37. 84) Zum folgenden siehe: Krohn u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Einleitung zu Teil III.: Politisches Exil und Widerstand aus dem Exil, S. 469^174, hier S.471. Hier auch: Werner Röder. Die politische Emigration, S. 16-30; Hartmut Mehringer: Sozialdemokraten, S. 475^193; Jan Foitzik: Linke Kleingruppen, S. 506-518, Michael Schneider: Gewerkschafter, S. 543-551. Außerdem: Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 259-265, bes. S. 259-261.

294

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

bindungen nach Deutschland rissen ab. Es kam zu einem Wandel der Funktion und des Selbstverständnisses des Exils: aus den Außenposten bzw. Leitzentralen des innerdeutschen Widerstands wurden zunächst lose Gruppen von

Flüchtlingen, bis sich ab den frühen 1940er Jahren das Exil als Vertretung des anderen Deutschland in der Welt und als Planungsinstanz für ein Nachkriegsdeutschland neu konstituieren konnte.85) Mit Kriegsbeginn endeten auch die revolutionären Hoffnungen, oder wenn man so will, Illusionen, der Emigranten. Die deutsche Arbeiterschaft hatte sich nicht einmal im Angesicht der Kriegsgefahr gegen die nationalsozialistischen Machthaber erhoben, hatte sich nicht selbst befreit. Nun blieb nur noch der Krieg als letztes Mittel, dem Nationalsozialismus Einhalt zu gebieten.86) Mit Kriegsbeginn wurde auch eine an-

dere Grundannahme der deutschen Sozialdemokraten bzw. Sozialisten in der Vorkriegszeit, nämlich „die internationale Solidarität der sozialdemokratischen Parteien im Kampf gegen den Faschismus", widerlegt.87) Die sozialdemokratischen Parteien in den Gastländern weigerten sich, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten. Auch in Großbritannien wurde die bisherige Unterscheidung zwischen „Nazis" und „NS-Gegnern" aufgegeben und die Deutschen insgesamt für Krieg und Terror verantwortlich gemacht, insbesondere als sich auch im weiteren Verlauf des Krieges kein deutscher Widerstand bemerkbar machte.88) Die deutschen Sozialdemokraten sahen sich nun international isoliert. Schwerer wog jedoch der endgültige Bruch mit den Kommunisten im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts. Dieser machte alle Versuche einer lagerübergreifenden Zusammenarbeit im Exil zunichte und ließ den Graben, der sich zwischen der sozialdemokratisch-sozialistischen und der kommunistischen Emigration auftat, unüberbrückbar werden. Es entstanden zwei in sich geschlossene, einander unversöhnlich gegenüberstehende Lager.89) Mit der Auflösung der Traditionsmilieus, dem Funktionswandel bzw. zunächst nur -verlust des Exils, dem Ende der revolutionären Hoffnungen und der irreversiblen Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in zwei feindliche Lager war schon kurz nach Kriegsbeginn die Abkehr des sozialistischen und sozialdemokratischen Exils von einer Vielzahl seiner bisherigen Positionen vollzogen. Bis eine Neuorientierung stattfinden konnte, vergingen allerdings noch einige Jahre. Erst um 1941 war das politische Exil wieder handlungsfähig.90) Großbritannien, Schweden und die USA waren nun die wichtigsten Gastländer

85)

Krohn

u. a.:

nis, S. 35 f.

Handbuch der deutschsprachigen

Emigration, S. 471 f; Räder: Zum Verhält-

86) Krohn u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S.471L; vgl. auch Röder: Exilgruppen, S. 93. 87) Räder: Exilgruppen, S. 93. 88) Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. XXIII. 89) Mehringer: Der Pakt als grundlegende Weichenstellung; Ders.: Widerstand und Emigra-

tion, S. 260.

90)

Krohn

u. a.:

Handbuch der deutschsprachigen

Emigration,

S. 471.

2. Wertewandel durch die

295

Erfahrungen des Exils

allem für die sozialdemokratische Emigration, aber auch für die linken Splittergruppen und die Gewerkschafter. Als dann schließlich im Januar 1943 auf der Konferenz von Casablanca die Forderung nach Unconditional Surrender erhoben wurde und klar war, daß dieses Kriegsende unter anderen Bedingungen vonstatten gehen würde als es 1918/19 der Fall war, waren die Rahmenbedingungen für einen „Prozeß grundlegenden programmatischen Umdenvor

kens"91) gelegt.

Der Druck ihrer alltäglichen Situation und die Notwendigkeit, sich auf gemeinsame Nachkriegspläne zu einigen, führten nun dazu, daß sich die Angehörigen verschiedener politischer Gruppierungen im Exil auch untereinander näher kamen. Sozialisten und Sozialdemokraten, auch Gewerkschafter verschiedener politischer Richtungen arbeiteten nun konzeptionell ebenso zusammen wie im konkreten Kampf gegen den Nationalsozialismus. Nur zu den Kommunisten gab es eine klare Trennlinie. Das beste Beispiel für die Annäherung der Sozialisten und Sozialdemokraten im Exil ist die bereits erwähnte Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien', die ihren Sitz in London hatte.92) In dieser Organisation hatten sich im Frühjahr 1941 die Exil-Sozialdemokratie (SOPADE), der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK), die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) und die Gruppe Neu Beginnen (NB) zusammengeschlossen, ihre jeweils eigenen Organisationsstrukturen aber beibehalten.93) Die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien gehörte der Dachorganisation formal nicht an; ihr Leiter, Hans Gottfurcht, wurde jedoch zu den Beratungen hinzugezogen und war „eine treibende Kraft in der Union."94) Ihre Mitglieder einte die ,

„Überzeugung, daß die militärische Niederlage und der Sturz des Hitlersystems, die endgültige Überwindung des deutschen Militarismus und die Beseitigung der sozialen Grundlagen

der Hitlerdiktatur unerläßliche Voraussetzungen bilden für einen dauernden Frieden, den Wiederaufbau Europas und eine demokratische und sozialistische Zukunft Deutsch-

lands."95)

91) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 261. 92) Zur Union deutscher sozialistischer Organisationen siehe nach wie vor: Röder: Exilgruppen; sowie die ausführliche Quellensammlung: Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, besonders die Einleitung, S. XV-CCLVII. 93) Vgl. die „Gemeinsame Erklärung über die Gründung der ,Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien' vom 19. März 1941", abgedr. in: Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. 18 f.; vgl. auch das „Protokoll der dritten Vorbesprezur Gründung der Union am 6. März 1941", abgedr. in: Ebda., S. 14f. In beiden ist vermerkt: „Die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien wird durch die Entsendung eines ständigen Vertreters in die .Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien' die enge Zusammenarbeit der deutschen freien Gewerkschafter mit der ,Union' zum Ausdruck bringen." Zit. nach der gemeinsamen Erklärung vom 19. März, ebda., S. 19. 94) Ebda., S. XXX. 95 ) „Gemeinsame Erklärung über die Gründung der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien' vom 19. März 1941", abgedr. in: Ebda., S. 18f, Zitat S. 18.

chung

,

296

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

war es, den „Kampf für die Niederlage Hitlers und seiner Bundesgemit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und im Bündnis mit allen Gegnern der totalitären Kräfte zu führen."96) Zugleich wollten sich die

Ihr Ziel nossen

beteiligten Organisationen an der Vorbereitung eines demokratischen Friedens mitzuwirken, der einem Deutschland die Möglichkeit gibt, als freies Glied der europäischen Völkergemeinschaft seinen Beitrag zum Wiederaufbau Europas zu leisten."97)

„bemühen, neuen

Die Gründe für den Zusammenschluß, der weitreichende Folgen für die Programmatik der beteiligten Gruppen und eine große Wirkung auf das politische Exil in anderen Ländern hatte, lagen zunächst im Zwang, zu gemeinsamen Nachkriegsplanungen zu finden.98) Als einigendes Moment wirkte aber auch der Antikommunismus, den Sozialisten und Sozialdemokraten seit den späten 1930er Jahren gemein hatten.99) Sowohl die linken Splittergruppen als auch die Sozialdemokratie hatten sich in der gemeinsamen Ablehnung des Kommunismus aufeinander zu bewegt. Dennoch blieben Meinungsverschiedenheiten bestehen, vor allem „über eine sozialistische Parteidiktatur im Gefolge der deutschen Revolution und das Führerprinzip in Partei und Gesellschaft"100) Fragen, die sich aber ohne weiteres auf die Zukunft vertagen ließen. So entstand ein Kartell, das diese Gruppen formten, um bei „Wahrung ihrer politischen Unabhängigkeit" ihre gemeinsamen Ziele zu verfolgen.101) Diese Konstruktion legte einen programmatischen Pluralismus zugrunde und zwang die Mitglieder zum Kompromiß. Am 9. April 1941 nahm die Union ihre Gre-

96) Ebda. 97) Ebda., S. 19. 98) Zu den Gründen für den Zusammenschluß im einzelnen: Bemühungen der Splittergruppen um ein Bündnis der Linken; Druck der Labour Party auf das politische Exil, sich eine einheitliche Organisationsform zuzulegen, um so den deutschen Widerstand besser für die Alliierten nutzbar zu machen; ein Personalwechsel in der SOPADE; persönliche und politische Annäherung der Beteiligten durch regelmäßige Zusammenarbeit siehe: Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. XXVf.; Räder: Exilgruppen, S. 93 f. Vgl. auch: Vortragsmanuskript ,Dear friends', o. A. [Werner Hansen], o. D. [1943], AdsD, NL Werner Hansen, Box 6, S. 3. Eichler nennt als Motive für die Kooperationsbereitschaft Vogels und Ollenhauers, daß die Aufnahme von Beziehungen zu Labour Party und Trade Unions „ohne gemeinsame Vertretung [...] sehr schwierig" sei: ,V [i.e. Willi Eichler]: Ms „Aufnahme der Beziehungen zur Sopade in England", 9. März 1941, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 39. Für die Motive Eichlers und des ISK s. ebda. Vgl. auch: Vortragsmanuskript ,Dear friends', o. A. -

[Werner Hansen], o. D. [1943], AdsD, NL Werner Hansen, Box 6, S. 14f. Ausführlich zur Union insgesamt: Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration; Räder: Exilgruppen, S. 93-102 und passim. 99) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 260; Ders.: Der Pakt als grundlegende Wei-

chenstellung. I0°) Räder: Exilgruppen, S. 96. 101) „Gemeinsame Erklärung über die Gründung der ,Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien' vom 19. März 1941", abgedr. in: Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. 18 f., Zitat S. 18.

2. Wertewandel durch die Erfahrungen des Exils

297

mienarbeit auf, und trotz der recht großen theoretischen Spannweite funktionierte die Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen für die gesamte Dauer des Bestehens der Union „relativ harmonisch"102) und auch effektiv. Hartmut Mehringer macht auf die Bedeutung dieser Kartellgründung aufmerksam: „Mit Ausstrahlungskraft auf andere Exilländer stellte sie die historische Wiedervereinigung

des 1917 gespaltenen deutschen Sozialismus dar freilich unter endgültiger Ausklammerung der Kommunisten, die sich inzwischen in sozialistischem Bewußtsein als Agenten einer fremden und spätestens seit dem Hitler-Stalin-Pakt als feindlich begriffenen Macht entlarvt hatten und aus jedwedem nationalen Konsens herausfielen."103) -

Diese Weichenstellung prägte die nun beginnende Programmarbeit und wirkte sich deutlich auf den späteren Weg der Sozialdemokratie in Westdeutschland aus. Gemeinsame Nenner mußten gefunden werden, ein Minimalkonsens wenigstens, der akzeptable Kompromisse ermöglichte. In jahrelanger regelmäßiger Ausschußarbeit, in Sitzungen, Diskussionen und Programmentwürfen wurden so nicht nur die Grundlagen sozialdemokratischer Politik neu bestimmt, sondern zugleich die Koordinaten für die Nachkriegsplanung festgelegt, wurde jener Grundstock des demokratischen Sozialismus erarbeitet, auf dem die SPD in den 1950er Jahren aufbauen konnte.104) Das Ergebnis dieser Neuorientierung nahm ab etwa 1944 Konturen an. Die beteiligten linken Splittergruppen bewegten sich auf die SOPADE soweit zu, daß sie zu einem Bestandteil der Sozialdemokratie wurden, jedoch nicht ohne neue Anteile mit einzubringen, vor allem zu einer weltanschaulichen Pluralisierung beizutragen. Eichler beispielsweise sah schon bei der Gründung der Union die

„Moeglichkeit,

Vertreter des ISK mit der Arbeit in diesem Kreise gewandt und vertraut zu machen und dort fuer einige Ideen zu werben, die bisher wenigstens formal bei diesen Kreisen unueblich waren, zum Beispiel die Idee einer undemokratischen Funktionaer-Auslese und die Idee eines unkollektivistischen Programms."105)

102)

Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. XXIX. Vgl. auch: Vortragsmanuo. A. [Werner Hansen], o. D. [1943], AdsD, NL Werner Hansen, Box 6, S. 14. 103) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 261. Mehringers Annahme, die Bedeutung dieser Gründung „dürfte damals kaum einem der Beteiligten wirklich bewußt gewesen sein", gilt zumindest für Willi Eichler nicht, der im März 1941 festhielt: „Mein Eindruck von der ganzen Arbeit ist, dass sich hier Möglichkeiten ergeben, die gruppenmaessige Zerrissenheit der deutschen sozialistischen Bewegung in der Spitze zu beheben [...]." ,V [i.e. Willi Eichler]: Ms „Aufnahme der Beziehungen zur Sopade in England", 9. März 1941, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 39. 104) Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, für Sitzungsprotokolle, Entwürfe und die programmatischen Richtlinien. Für die Einschätzung und die zentralen Elemente des Wandels siehe: Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 263; Röder: Zum Verhältnis, S. 37. Vgl. auch: Hartmut Mehringer: Impulse sozialdemokratischer Remigranten auf die Modernisierung der SPD, in: Krohn/zur Mühlen: Rückkehr und Aufbau nach 1945, S. 91-110. 105) ,V [i.e. Willi Eichler]: Ms „Aufnahme der Beziehungen zur Sopade in England", 9. März 1941, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 39. Vgl. zum Beispiel auch den Entwurf des

skript ,Dear friends',

298

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Die Sozialdemokratie in der Londoner Union entwickelte sich in ihrem Selbstverständnis von einer Arbeiter- bzw. Klassenpartei zur Volkspartei und nahm damit, wie auch in den weiteren Elementen des Wandels dieser Zeit, Entwicklungen der westdeutschen Nachkriegszeit vorweg. Sie verstand sich nun als In-

teressenvertretung einer Klientel, die weit über die traditionelle Industriearbeiterschaft hinausging. Sie gab ihren sozialen, weltanschaulichen und religiösen

auf und setzte dagegen ein neues pluralistisches das sie einem Dialog mit den Kirchen und zur Zusamzu Selbstverständnis, menarbeit mit bürgerlichen Demokraten befähigen sollte. In ordnungspolitischer Hinsicht traten an Stelle sozialrevolutionärer Konzepte nun politische Vorstellungen, die auf einer demokratisch-pluralistischen Verfassungsordnung und dem Parlamentarismus als Instrument des Interessenausgleichs basierten.106) Im Bereich der Wirtschaftspolitik dagegen kam es in den programmatischen Richtlinien der Londoner Union zu einem Kompromiß zwischen traditionellen sozialistischen Vorstellungen, wie sie sich etwa im Prager Manifest der SOPADE finden, auf der einen, und liberalen, kontrolliert marktwirtschaftlichen Modellen mit keynesianischen Elementen, die man in Großbritannien kennengelernt hatte und die am ausgeprägtesten durch Gerhard Kreyssig vertreten wurden, auf der anderen Seite. An die Stelle von Sozialisierung, Planung und zentraler Lenkung sollten nach den Vorschlägen Kreyssigs keynesianische Steuerungsmodelle treten; Privateigentum an Produktionsmitteln sollte prinzipiell anerkannt werden.107) Sein Ziel war nicht die Abschaffung des Kapitalismus unter Ausnützung seiner Krisen, sondern die Beseitigung solcher Krisen und die Sicherung von Vollbeschäftigung. Diese Vorstellung war jedoch selbst innerhalb der Londoner Union noch nicht mehrheitsfähig; sie schlug sich aber in ihren Richtlinien für die Wirtschaftspolitik als „vieldeutig formulierter Kompromiß" nieder: der Staat als Eigentümer der entscheidenden Produktionsmittel sollte sich kapitalistischer Planungstechniken bedienen.108) Außerdem strebte man nun eine Einheitsgewerkschaft an, die als Interessenvertretung der Arbeitnehmer innerhalb der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wirken und nicht mehr Fundamentalopposition sein sollte. Insgesamt wollte man sich und das zukünftige Deutschland politisch auf Westeuropa hin orien-

Ausschließlichkeitsanspruch

-

-

ISK für ein Programm der Nachkriegs-Sozialdemokratie: Ms. (masch.) „Die neue sozialdemokratische Partei", O.A., mit handschriftlichen Korrekturen Eichlers, [1945], AdsD, Bestand IIB/ISK, Box 64. 106) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 263. 107) Vgl. hierzu ausführlich: Held: Sozialdemokratie und Keynesianismus, S. 169-180. Die Vorschläge Kreyssigs für die Programmberatung sind abgedruckt in: Räder Exilgruppen, S. 272-274. 108) Programmatische Richtlinien für die Wirtschaftspolitik, 13. November 1944, abgedr. in: Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. 364—366; vgl. Held: Sozialdemokratie und Keynesianismus, S. 178 f. (Zitat S. 179); Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 263.

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

299

deren.109) Verbindlich als Parteiprogramm der SPD umgesetzt wurden diese Vorstellungen jedoch erst am Ende der 1950er Jahre im Godesberger Pro-

gramm.110)

Bis dahin

war

noch viel

Überzeugungsarbeit in der Partei zu lei-

sten.

Großbritannien

das wichtigste Zentrum der sozialdemokratischen Prodie grammdiskussion, Entwürfe der Union hatten daher auch für die Sozialdemokraten und Sozialisten in anderen Exilländern richtungsweisenden Charakter. Denn dadurch, daß die Emigranten miteinander in Verbindung standen und ihre persönlichen und politischen Kontakte auch über Ländergrenzen hinweg wenigstens in gewissem Rahmen aufrecht erhalten konnten, waren sie von den inhaltlichen und organisatorischen Entwicklungen in anderen Exilzentren unterrichtet und tauschten sich darüber auch aus. Im Dezember 1945 löste sich die Union auf und bildete die Vereinigung deutscher Sozialdemokraten in Großbritannien. Die Mitgliederorganisationen hatten sich einander angenähert und sich zugleich auf die Sozialdemokratie zubewegt. Im Dezember 1945 löste sich die SAP ebenso wie der ISK formell auf, beide schlössen sich zugleich der SPD an.111) Mit diesem Vorgehen zog man die Konsequenz aus der Entscheidung, keine neue sozialistische Partei in Deutschland zu etablieren, sondern von nun an gemeinsam in der SPD zu wirken. Beim Wiederaufbau der Partei und der Gewerkschaften nach dem Krieg setzte sich in Westdeutschland die in der Londoner Union erarbeitete Gemeinsamkeit fort: es entstand eine Sozialdemokratische Partei, die die sozialistischen Gruppierungen mit einschloß, sich aber strikt von der KPD abwar

grenzte.112)

Schweden wurde im Frühjahr 1940 zu einem wichtigen Knotenpunkt für das sozialistische Exil. '13) Mit der Ausweitung des Krieges nach Skandinavien flo-

109) Ygi u a [y[s (masch.) „Die neue sozialdemokratische Partei", O.A., mit handschriftlichen Korrekturen Eichlers, [1945], AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 64. HO) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 263; Ders.: Impulse sozialdemokratischer Remigranten; Röder: Zum Verhältnis, S. 37. m) Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. CXXXV; S. CXLIX; Rundschreiben des Bundesvorstandes an die Mitglieder über den Eintritt in die SPD und die Auflösung der ISK-Organisation vom 10. Dezember 1945, abgedr. in: Ebda. S. 818-820; Erklärung der SAP-Mitglieder in Großbritannien über den Wiedereintritt in die SPD vom 2. Dezember 1945, abgedr. in: Ebda. S. 857-859. Brief Otto Brenner an Josef Lang, 12. Februar 1947, abgedr. in: Grebing, Hg.: Lehrstücke in Solidarität, S. 145-149. Vgl. auch Link: ISK, S. 322-330. 112) Eiber. Verschwiegene Bündnispartner, S. 66; Ders.: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. XXIX. 113) Etwa 5000 deutschsprachige Flüchtlinge fanden sich ab 1943 in Schweden, 1000 davon lassen sich als politische Flüchtlinge bezeichnen. Zu Schweden als Exilland siehe u.a.: Einhart Lorenz: Schweden, in: Krohn u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 371-375; Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933, München 1974; Günther: Gewerkschafter im Exil, S. 18-34; Lorenz: Mehr als Willy Brandt; Ders.: Exil in Norwegen; Ders.: „Hier oben in Skandinavien ist die Lage ja einiger.

300

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

hen Norweger, Dänen und Angehörige des deutschen Exils nach Schweden. Die geflohenen Mitglieder der deutschen Arbeiterbewegung konnten in Schweden kaum aktiv werden, da den Flüchtlingen hier jede politische Betätigung verboten war. Zudem wurden schon bald die ausländischen Kommunisten und Linkssozialisten in Lagern interniert; die Presse- und Redefreiheit war bis zur Kriegswende in Stalingrad eingeschränkt. An eine offene politische Tätigkeit des Exils war unter diesen Umständen nicht zu denken. Zudem war das politische Exil in Schweden stark zersplittert. Deutsche, österreichische und tschechische Gruppen befehdeten sich gegenseitig, und die schwedische SOPADE-Sektion war durch interne Auseinandersetzungen gelähmt. Persönliche und politische Streitigkeiten vermengten sich und erschwerten die inhaltliche Arbeit. Dennoch trat 1944 die dortige SAP-Gruppe der SOPADE bei, was wegen der theoretischen Bedeutsamkeit dieser Gruppe große Wirkung auf das gesamte schwedische Exil hatte.114) Hier, wie auch in London, zeichnete sich der Weg der linken Splittergruppen in die Sozialdemokratie ab, der für die Nachkriegszeit bedeutende Folgen hatte. Auch zwei andere Gruppen trugen, trotz aller Zersplitterung des politischen Exils in Schweden, zur späteren organisatorischen Einigung der nichtkommunistischen deutschen Arbeiterbewegung bei: zum einen die .Internationale Gruppe demokratischer Sozialisten' in Stockholm, die sogenannte ,Kleine Internationale', in der emigrierte Sozialisten aus Deutschland, Österreich und den besetzten Ländern mit Vertretern der alliierten Staaten und des neutralen Schweden zusammenarbeiteten, und zum andern die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Schweden, in der die verschiedenen politischen Richtungen miteinander ins

Gespräch kamen.115)

In den USA fand mehr als ein Viertel der Flüchtlinge aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsbereich, rund 130000 Menschen, Zuflucht. Nur eine maßen verschieden..." Zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) im skandinavischen Exil, in: Klaus Schönhoven/Dietrich Staritz, Hg.: Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag, Köln 1993, S. 216-235; Willy Brandt: Berliner Ausgabe. Im Auftrag der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung hg. v. Helga Grebing, Gregor Schöllgen und Heinrich August Winkler, Bd. 2: Zwei Vaterländer. DeutschNorweger im schwedischen Exil Rückkehr nach Deutschland 1940-1947, bearb. v. Einhart Lorenz, Bonn 2000; Scholz: Herbert Wehner in Schweden. Hier jeweils auch zum fol-

genden. 114) Helga Grebing, Hg.: Entscheidung für die SPD.

Briefe und Aufzeichnungen linker Sozialisten 1944-1948, München 1984, bes. S. 13-15. Der Entschluß einer Gruppe um Willi Brandt, Irmgard und August Enderle, Stefan Szende und Ernst Behm war am 30. September 1944 in einem Rundschreiben publik gemacht worden, Anfang Oktober folgten ihnen weitere SAP-Anhänger in die SPD. Diesem Schritt war „eine Art programmatischer Positionsbestimmung durch eine im Juli 1944 veröffentlichte 63seitige Broschüre mit dem Titel .Zur Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten' vorausgegangen: Ebda. S. 13 f. 115) Klaus Misgeld: Die ,Internationale Gruppe demokratischer Sozialisten' in Stockholm 1942-1945, Uppsala-Bonn 1976; zu den Einigungsversuchen in der Landesgruppe siehe: Günther: Gewerkschafter im Exil, S. 60-72. "

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

301

Minderheit unter ihnen läßt sich jedoch als Exilanten bezeichnen, die allermeisten Flüchtlinge wurden rasch zu Immigranten, die sich niederließen und assimilierten. Teile der SOPADE, der Gruppe Neu Beginnen und der KPO, eine Sektion des ISK und mehrere Gewerkschafter gehörten zum Exil der deutschen

Arbeiterbewegung in den USA. Eine Landesgruppe deutscher Gewerkschafter gab es dort nicht. Außerdem fanden sich auch kaum deutsche Kommunisten, denn ihnen wurde die Einreise in die USA massiv erschwert.116) Im amerikanischen Exil waren die Bemühungen der deutschen Arbeiterbewegung um organisatorische Einheit nicht von Erfolg gekrönt. Zu einer echten fraktionenübergreifenden Zusammenarbeit kam es kaum, allenfalls im Council for a Democratic Germany, das aber nur während eines Jahres existierte. Die traditionellen Sozialdemokraten und streng antikommunistischen Gruppen in der German Labor Delegation standen dem Council for a Democratic Germany aber unversöhnlich gegenüber, da dieser zur Kooperation mit den Kommunisten bereit war.117) Zugleich stritten die SOPADE-Mitglieder in den USA der Londoner Union

das Recht ab, im Namen der deutschen Arbeiterbewegung Pläne für ein Nachkriegsdeutschland zu entwickeln. Grabenkämpfe und Streit um den Alleinvertretungsanspruch machten hier eine konsistente gemeinsame Programmarbeit von Sozialisten und Sozialdemokraten schwierig. Aber obwohl es in den USA nicht gelang, zu einer gruppenübergreifenden Zusammenarbeit zu kommen, kam die dortige Sozialdemokratie doch zu ganz ähnlichen programmatischen Ergebnissen wie die Londoner Union.118) Dies deutet darauf hin, daß es gar nicht in erster Linie die Kompromißbereitschaft der Gruppen war, der Zwang zum Pluralismus, die das inhaltliche Ergebnis der Neuorientierung prägten, sondern daß vielmehr die Erfahrungen in den angelsächsischen und skandinavischen Gastländern für die Hinwendung zu pluralistischen, liberaldemokratischen und allgemein westlichen Grundpositionen verantwortlich waren. b. Der Einfluß der Erfahrungen in den Gastländern

Tatsächlich war die programmatische und ideelle Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie im Exil nicht nur durch die zweifellos wichtigen ,internen' Faktoren, also die Wirkung, welche die verschiedenen deutschen politischen Gruppen aufeinander hatten, beeinflußt. Die Wirkung ,externer' Einflüsse, also

116) Claus-Dieter Krohn: Die Vereinigten Staaten von Amerika, in: Ders. u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 446-466. Hier wird auch ausführlich auf die Schwierigkeiten der Immigration in die USA eingegangen. Außerdem nach wie vor Radkau: Die deutsche Emigration in den USA. 117) Langkau-Alex/Ruprecht: Was soll aus Deutschland werden?, hier insbes. Claus-Dieter Krohn: Der Council for a Democratic Germany, S. 17^48; Radkau: Die deutsche Emigration in den USA, S. 144-169. 118) Mehringer: Widerstand und Emigration, S. 261 f.

302

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

der Gastländer und ihrer Kultur spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Denn obwohl das Exil sich gegenüber der Emigration insgesamt durch geringere Assimilationsbereitschaft auszeichnet, durch eine Konzentration auf die Rückkehr und auf deutsche Politik, so war es dennoch empfänglich für Eindrücke seiner Umgebung. Denn zumindest während der zweiten Kriegshälfte war das politische Exil auf der Suche nach neuen Konzepten, nach Lösungen für die theoretischen Probleme, ja Mängel, denen es sich seit der Zäsur der Jahre 1938/39 gegenüber sah. Die Praxis wie die Theorie der Arbeiterbewegungen in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern wurden, ebenso wie die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung insgesamt, sehr wohl wahrgenommen und reflektiert. Dieser Aspekt ist bislang in der Exilforschung etwas vernachlässigt worden. Meist werden die verschiedenen Exilzentren oder Be-

als in sich geschlossene Einheiten dargestellt, Berührungspunkte mit dem Gastland finden eher beiläufig Erwähnung. Ihre langfristige Wirkung für das Denken der Exilanten wird kaum untersucht. Diese selbst betonen dagegen häufig genug den Stellenwert, den die Kultur oder die politischen Gegebenheiten, Kontakte und Freundschaften im Gastland für sie hatten.119) Allerdings trifft dies vor allem auf aufgeschlossene und interessierte Mitglieder des Exils zu, die zudem persönlich in der Lage waren, sich auf diese Erfahrungen einzulassen. Isolierung, Einsamkeit, mangelnde Sprachkenntnis und häufig auch Armut waren handfeste Hindernisse für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der neuen Umgebung. Die hier untersuchten Kreise pflegten jedoch Kontakte zu den Gesellschaften ihrer Gastländer und machten dadurch Erfahrungen, die eine bleibende Wirkung hinterließen. Allerdings wurde ein solcher Einfluß erst möglich, nachdem sich die Traditionsmilieus des Exils aufgelöst hatten und nachdem die bisherigen weltanschaulichen Grundfesten der Emigranten erschüttert worden waren. Die Erfahrungen der späten 1930er Jahre und der ersten Kriegsjahre ließen die Emigranten offen werden für die Einflüsse ihrer neuen, angelsächsischen und skandinavischen Gastländer und ermöglichten politische und kulturelle Lernprozesse.120) Dieser Prozeß der Beeinflussung durch das Gastland läßt sich am besten mit dem Begriff der ,Akkulturation' fassen:

rufsgruppen

„Akkulturation meint durch Kulturkontakte hervorgerufene Veränderungen von Werten. Normen und Einstellungen bei Personen, den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und

Qualifikationen (Sprache, arbeitsbezogene Qualifikationen, gesellschaftlich-kulturelles Wissen u.a.) sowie Veränderungen von Verhaltensweisen und .Lebensstilen' (z.B. in Bezug auf Arbeit, Wohnen, Konsum, Freizeitverhalten, Kommunikationsformen, Heiratsmuster); auch Veränderungen der Selbstidentität sind damit notwendigerweise verbunden."121)

I19) Vgl. etwa Brandt: Links und Frei. 12°) Räder: Zum Verhältnis, S. 37. 121) Friedrich Heckmann: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Stuttgart 1992, S. 168, zit. in: Christhard Hoffmann: Zum Begriff der

2. Wertewandel durch die

303

Erfahrungen des Exils

Akkulturation ist dabei ein Teilprozeß der Assimilation, neben Integration, Identifikation und Amalgamierung.122) Für den Fall derjenigen Mitglieder des sozialistischen und sozialdemokratischen Exils, die nach 1945 zu den Protagonisten einer ideellen Westorientierung gehörten, läßt sich in erster Linie von Akkulturation sprechen. Die anderen Bereiche der Assimilation treffen eher für die Emigration zu, von der nur ein geringer Teil nach Deutschland zurückkehrte und die sich auch nicht so exponiert am politischen Neuaufbau der deutschen Arbeiterbewegung beteiligte. Die Anwendung eines so verstandenen Akkulturationsbegriffs auf die Entwicklung des politischen Exils der ersten Hälfte der 1940er Jahre erlaubt es, den Wertewandel, den seine Mitglieder durchliefen, zu erfassen, seine Entstehung und seine Folgen zu benennen, und zwar unter Beachtung der kulturellen Einflüsse der Aufnahmeländer.123) Gerade auch für das politische Exil ist ein solches Vorgehen sinnvoll, wenn nach der Ebene der Werte, der Weltanschauung, nach Selbstverständnis, Gesellschaftsbild, Politikverständnis, kurz nach Ideen gefragt wird. Akkulturation beträfe in diesem Fall den gesamten Bereich der politischen Kultur. Im Folgenden werden also die Erfahrungen betrachtet, welche die deutschen Sozialisten und Sozialdemokraten in ihren Gastländern der 1940er Jahre machten, die Einflüsse, denen sie ausgesetzt waren, und die Kontakte, die sie mit Organisationen und Personen pflegten und die sie im weitesten Sinn an die Kultur des jeweiligen Landes heranführten, sei es an die Struktur und die Werthaltungen der Arbeiterbewegung, an das politische System oder den gesellschaftlichen Grundkonsens eines Landes. Zudem wird nach den Folgen gefragt, die in: Krohn u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 117-126, hier S. 120 f. 122) J. Milton Tmger: Ethnicity. Source of Strength? Source of Conflict?, New York 1994, S. 39. Yinger entwickelt dabei das Konzept von Milton M. Gordon: Assimilation in American Life. The Role of Race, Religion, and National Origins, New York 1964, weiter. 123) Dies ist bislang noch nicht systematisch geschehen. Hoffmann bietet eine hellsichtige Erklärung für dieses Desiderat: „In der deutschen Forschung zum Exil der nationalsozialistischen Zeit ist der Gesichtspunkt der Akkulturation lange Zeit vernachlässigt worden. Dies hatte verschiedene Ursachen: Die identifikatorische Wahrnehmung und Präsentation des Exils als das .andere Deutschland' akzentuierte gerade das (gegenüber Nazideutschland alternative) .Deutschsein' und die auf Deutschland bezogenen Aktivitäten der Emigranten. Daß sich die Flüchtlinge unter den kulturellen Bedingungen der Aufnahmeländer in unterschiedlichem Ausmaß auch selbst verändert hatten, daß sie eine neue, interkulturelle Identität erworben hatten, blieb dabei ausgeblendet." Hoffmann: Zum Begriff der Akkulturation, in: Krohn u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 117-126, hier S. 121. Teilweise wird auf dieses Ansinnen recht scharf reagiert, so erklären beispielsweise Stiefel und Mecklenburg in ihrer Studie zum Exil deutscher Juristen in den USA, Fragen nach Akkulturation, Wissenstransfer und Cross-fertilization seien nichts als „Versuche, der Sinnlosigkeit der Vertreibung durch den Faschismus noch einen positiven Sinn abzugewinnen" und hätten daher zu unterbleiben. Stiefel/Mecklenburg: Deutsche Juristen im amerikanischen Exil, S. 211.

Akkulturation,

-

-

-

304

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Emigranten nach Kriegsende beobachten ließen. Gemeint sind ausschließlich die Folgen für die Werthaltungen und das programallerdings matische oder politische Denken der Deutschen. Dieses Vorgehen wirft ein methodisches Problem auf, denn hier können und sollen keine quantitativen Erhesich bei den

bungen, keine sozialgeschichtlichen Studien angestellt werden. Es soll auch in diesem Abschnitt bei der politikgeschichtlich angeregten Ideengeschichte bleiben. Dennoch ist es wichtig für den Fortgang des Arguments, daß klargestellt wird, ob und inwiefern es möglich war, Denkmuster aus dem Exilland zu übernehmen. Daher wird hier anhand einiger Beispiele aufgezeigt, welche Bandbreite an Wirkungen die Emigration haben konnte, welche neuen Standpunkte sich bei den Betroffenen fanden und ob diese übereinstimmten mit den Positionen der,Einflußfaktoren', also etwa der Labour Party oder der AFL. Von Interesse ist auch, wie die Betroffenen einen eventuellen eigenen Wertewandel reflektierten. Die Auswahl der Beispiele wird ausschließlich davon bestimmt, ob die Personen in der Nachkriegszeit Mitglieder des hier untersuchten Netzwerks waren, oder zu dessen weiterem Umfeld gehört haben. Repräsentativ für ,die Wirkung' ,des Exils' können und wollen die Ergebnisse dieses Abschnitts nicht sein. Statt dessen geht es um einen Einblick in die geistige Welt des sozialistischen und sozialdemokratischen Exils in Großbritannien, Schweden und den USA.

Beziehungen zu den Organisationen der britischen Arbeiterbewegung Die Exilgruppen der deutschen Arbeiterbewegung in Großbritannien, und das aa.

hieß vornehmlich in London, unterhielten neben den bereits beschriebenen Verbindungen zur internationalen Gewerkschaftsbewegung, vor allem der ITF Kontakte zur Labour Party, zum TUC und zur Fabian Society. Sie kamen außerdem über die zahlreichen privaten Hilfsorganisationen, die sich in London gegründet hatten, um die Flüchtlinge aus Deutschland und bald auch aus ganz Europa zu unterstützen, mit Briten in Kontakt.124) Darüber hinaus erlebten sie natürlich auch die allgemeine Öffentlichkeit, die Presse und im weitesten Sinne die politische Kultur des Landes. -

-

124) Schon ab 1933 entstanden in Großbritannien eine Vielzahl vor allem jüdischer, aber auch christlicher Hilfsorganisationen, ebenso aus der Arbeiterbewegung. Ab April 1938 waren die jüdischen und christlichen Organisationen unter dem Dach des Central Co-ordinating Committee on Refugees (später umbenannt in Joint Consultative Committee on Refugees) mit Sitz im Bloomsbury House vereint. Vgl. Waltraud Strickhausen: Großbritannien, in: Krohn u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 251-270. Im Bloomsbury House fand am 25. Februar 1941 zumindest eine der Besprechungen statt, die der Gründung der Londoner Union vorangingen. Teilnehmer waren Vogel, Ollenhauer, Sander, Fröhlich, Schoettle, Eichler und Gottfurcht. ,V [i.e. Willi Eichler]: Ms „Aufnahme der Beziehungen zur Sopade in England", 9. März 1941, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 39. Dies läßt darauf schließen, daß das Central Co-ordinating Committee on Refugees den deutschen Exilanten Räume für ihre Konferenzen zur Verfügung stellte.

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

305

Die Labour Party unterschied sich auf signifikante Weise Party der deutschen Sozialdemokratie.125) Sie verstand sich selbst als parlamentarische Interessenvertretung der Arbeiterschaft und des Mittelstands und sah ihre Aufgabe darin, innerhalb der liberaldemokratischen Verfassungsordnung über die Stimmenmehrheit bei Wahlen die politische Macht zu erlangen und so die britische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Interesse ihrer Klientel zu beeinflussen. Der Parlamentarismus ist seit ihrer Gründung im Jahr 1900 die Grundlage für alles Handeln dieser Partei, und auch die Labour Party Constitution von 1918, welche die Partei auf sozialistische Ziele festlegte, hielt an ihm als Grundlage ihres politischen Handelns fest. Die Labour Party wollte weder die bestehende politische Ordnung umstürzen, noch wollte sie eine feststehende Philosophie in die Praxis umsetzen. Denn die Labour Party folgte keinen verbindlichen ideologischen Richtlinien, besaß keine spezifische ,La¿oMr-Ideologie'. Sie war vielmehr eine „broad church",126) in der es neben einem main stream auch zahlreiche Minoritäten gab, in der Radicals, Christliche Sozialisten, Gewerkschafter und Marxisten Platz hatten. Dieses Fehlen einer kanonisierten, verbindlichen Ideologie darf aber nicht zu der Annahme verleiten, es hätte in der Partei keine .Ideologie' gegeben. Denn die Politik der La-

Labour von

125)

Zum

Folgenden

Geoffrey

Foote: The Labour Party's Political Thought. A Hial. 1997, bes. S. 3-16, 144-182, 184f. Vgl. außerdem: Ross I. McKibbin: The Evolution of the Labour Party, Oxford 1974; Ders.: Why Was There no Marxism in Great Britain? in: Ders.: The Ideologies of Class. Social Relations in Britain 1880-1950, Oxford-New York 1991, S. 1-41; Berger. The Belated Party, S. 83 f.; Erhard Jürke: Vision und Realpolitik. Die britische Independent Labour Party im Lernprozeß, 1893-1914, Frankfurt/M. 1988; Duncan Tanner: Ideological Debate in Edwardian Labour Politics: Radicalism, Revisionism and Socialism, in: Eugenio F. ßf'ag/Mf/Alastair J. Reid, Hg.: Currents of Radicalism. Popular Radicalism, Organised Labour and Party Politics in Britain, 1850-1914, Cambridge u.a. 1991, S. 271-293; J. D. Young: Socialism and the English Working Class. A History of English Labour, 1883-1939, Hemel Hempstead 1989; Lewis Minkin/Patrick Seyd: The British Labour Party, in: Paterson/Thomas: Social Democratic Parties in Western Europe, S. 101-152; Padgett/Paterson: Social Democracy in Postwar Europe. Für einen Vergleich der britischen und deutschen Arbeiterbewegung und die Geschichte der Beziehungen zwischen beiden siehe: Berger: The British Labour Party and the German Social Democrats; Eisenberg: Deutsche und englische Gewerkschaften; John Breuilly: Liberalism or Social Democracy? Britain and Germany, 1850-1875, in: Ders.: Labour and Liberalism, S. 115-159; Herbert Frei: Fabianismus und Bernstein'scher Revisionismus 1884-1900, Bern u.a. 1979; Gerhard A. Ritter: Die britische Arbeiterbewegung und die II. Internationale 1889-1914, in: Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus. FestHeinz schrift für Gollwitzer, Münster 1982, S. 333-362; Friedrich Weckerlein: Streitfall Deutschland. Die britische Linke und die „Demokratisierung" des Deutschen Reiches, 1900-1918, Zürich 1994. Zu methodischen Fragen in diesem Zusammenhang siehe: Eisenberg: The Comparative View, und Stefan Berger: The Rise and Fall of .Critical' Historiography? Some Reflections on the Historiographical Agenda of the Left in Britain, France and Germany at the End of the Twentieth Century, in: European Review of History, 3/1996, S. 213-232. 126) Foote: Labour Party, S. 5. siehe:

story, (3. Ausgabe) Houndmills

et

306

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

bour Party war immer und ist es noch- ideengeleitet. Tatsächlich läßt sich eine grundlegende ideelle Gemeinsamkeit herausarbeiten, die alle Strömungen innerhalb der Labour Party teilen und die all ihren programmatischen Entwicklungen im Laufe der letzten 90 Jahre zugrundelag. Das gemeinsame Band ist der sogenannte Labourism. Dieses Ordnungskonzept wurzelt in der Beziehung zwischen der Labour Party und den Gewerkschaften und bestimmt das Grundverständnis der Rolle und Aufgabe einer Arbeiterbewegung.127) Die Partei ist als politischer Arm der Gewerkschaften entstanden, ihre Aufgabe war es, die Interessen der Gewerkschaften im parlamentarischen Bereich zu vertreten. Sie war von Anfang an politisch wie finanziell von den Gewerkschaften abhängig. Im Falle einer Labour-Regierung führte dies nicht selten zu der paradoxen Situation, daß sie trotz dieser Abhängigkeit gezwungen war, die Interessen der Gewerkschaften anzugreifen. Die Partei verfügte über keine allgemeine Gesellschaftsphilosophie, sondern verfolgte das Ziel, den Lebensstandard ihrer Klientel zu sichern oder zu verbessern, also für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, und zwar auf dem Wege der Gesetzgebung. Auf ihrer Gründungskonferenz im Jahr 1900 (damals hieß die Partei noch Labour Representation Committee) wurde als Ziel der Partei angegeben, auf eine eigene Gruppierung im Parlament hinzuarbeiten, „who shall have their own whips, and agree upon their policy, which must embrace a readiness to cooperate with any party which for the time being may be engaged in promoting legislation in the direct interest of labour [.. .]."128) Das ist in der Tat, wie Foote es nennt, „pure and simple trade union politics".129) Die Ähnlichkeit dieses Selbstverständnisses mit dem der amerikanischen Gewerkschaften auch wenn hier eine eigene Partei die Interessenvertretung im Parlament übernahm ist natürlich kein Zufall, sondern zeigt, wie groß der Einfluß der britischen Arbeiterbewegung auf die AFL zu Gompers' Zeiten war. Samuel Gompers war ja noch in London aufgewachsen und von den dortigen Gewerkschaften und ihrem Rollenverständnis stark beeinflußt gewesen. Er prägte seine' AFL tiefgreifend, war jedoch nicht der einzige -wenn auch der einflußreichste englischstämmige Gewerkschafter seiner Zeit in den USA. Man kann tatsächlich von einer angelsächsischen Arbeiterbewegung sprechen, muß allerdings die spätere Auseinanderentwicklung und die bei aller ideellen Nähe dennoch vorhandenen strukturellen Unterschiede im Blick behalten. Der Labourism läßt sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen.130) Schon hier finden sich die fünf Elemente, die bis zum Ende des 20. Jahrhun-

-

-

,

-

127) Ebda., S. 7; Minkin/Seyd: The British Labour Party, S. 101-104. 128) The Labour Party Foundation Conference and Annual Conference Reports, 1905, London 1967, S. 12, zit. in: Foote: Labour Party, S. 7f.

129) 13°)

1900-

Foote: Labour Party, S. 8. Seinen Anfang nimmt er mit Hodgskins (1787-1869) Theorie der Gewerkschaftspolitik: Thomas Hodgskin: Labour Defended Against the Claims of Capital [1825], London 1922, vgl. Foote: Labour Party, S. 8-12. Hier auch zur weiteren Geschichte des Labourism.

2. Wertewandel durch die

derts

maßgeblich bleiben sollten für das

307

Erfahrungen des Exils Selbstverständnis der

englischen Ar-

beiterbewegung. Labourism umfaßte erstens die Grundannahme, daß der Arbeiterschaft ihr gerechter Anteil am Wohlstand der Nation verweigert werde. Zweitens stellte er die Forderung nach Umverteilung des Wohlstands an jene, die ihn durch ihre Arbeit hervorbrachten, und er verstand es als Aufgabe der Gewerkschaften, dieses Mißverhältnis durch den Kampf um höhere Löhne zu beenden. Drittens stellte sich der Labourism gegen Kapitalisten, aber nicht gegen den Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Zwischen Kapitalisten und Arbeitgebern wurde klar unterschieden, ebenso wurde die Gesellschaftsordnung als Rahmen für die Verhandlungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften akzeptiert. Das System sollte nicht etwa überwunden werden, es ging vielmehr um die Verhandlungsmacht innerhalb dieses Systems. Viertens sollte auch der Staat nicht abgeschafft werden, obwohl sich der Labourism gegen jeden staatlichen Eingriff in die Arbeitsbeziehungen wandte und die Gewerkschaften völlig unabhängig vom Staat konzipierte. Fünftens schließlich war er dem Nationalstaat gegenüber vollkommen loyal und lehnte

den sozialistischen Internationalismus ab. Der Labourism ist als System politischer Grundannahmen zu verstehen, das die britische Arbeiterbewegung, also die Gewerkschaften und ihre Partei, einte. Er bildete ihren Grundkonsens, den Rahmen, innerhalb dessen die verschiedenen Flügel der Labour Party Platz fanden, und er war gleichzeitig die conditio sine qua non für die Parteimitgliedschaft. Eine Grundtendenz des Gradualismus sorgte zusätzlich dafür, daß auch die ab 1918 von der Partei übernommene sozialistische Programmatik wenig radikale und fundamentalistische Elemente besaß. Politische Ansätze, die den Umsturz der politischen Ordnung propagierten, hatten in der Labour Party keinen Raum, der Marxismus war für die Parteispitze nur als radikale ökonomische Analyse, nicht aber als politische Handlungsanweisung akzeptabel. Auch die Parteibasis hielt von der Revolution oder gar von einer Diktatur des Proletariats nichts, Leninismus war für die britische Arbeiterbewegung in ihrer breiten Mehrheit indiskutabel.131) Auf der Linken grenzte sich die Labour Party also gegen revolutionäre und anti-nationalistische Standpunkte ab, auf der Rechten zugleich von den Liberalen, mit denen es in der Gründungszeit Labours einige Berührungspunkte gegeben hatte. Die Labour Party verfügte zugleich über klare Außengrenzen und über eine recht große Bandbreite an Positionen im Innern. Der Labourism bildete den Schlüssel zur Bestimmung der Grenzen, erklärte die Offenheit für eine Vielzahl von parallel bestehenden Flügeln und die Variationsbreite, welche die gesamte Partei im Laufe ihrer Existenz auch politisch bewiesen hat. Schon 1918 wurde der „pure and simple unionism" der Labour Party durch den British Socialism ersetzt, und dieser entwickelte sich im Laufe der 1920er und 1930er

131) there

Siehe für einen sozialgeschichtlichen Umgang mit dieser no Marxism in Great Britain?, passim.

Frage:

McKibbin:

Why

was

308

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925 -1949

Jahre zum Corporate Socialism weiter.132) Es waren zwei Richtungen, die zu dessen Entstehung beitrugen: der Syndikalismus und ganz besonders der Keynesianismus. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre war der Keynesianismus, trotz Gegenwehr des linken Flügels, zum integralen Bestandteil des politischen Denkens der Labour Party geworden. Er bot ein praktikables und unmittelbar einsetzbares Instrument, mit dem auf die Probleme der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und damit auf die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise reagiert werden konnte. Er bot zugleich die konzeptionelle Möglichkeit, eine ungeplante Marktwirtschaft durch staatliche Lenkung zu ersetzen, ohne von den Grundsätzen des Labourism abgehen zu müssen, und ermöglichte so einen Kompromiß zwischen Plan- und Marktwirtschaft, den bis 1940 entstandenen Corporate Socialism. Während der gesamten 1940er Jahre hatte die Labour Party als Regierungspartei die Möglichkeit, die britische Gesellschaft in ihrem Sinne umzuformen. Als Ergebnis entstand eine regulierte Marktwirtschaft, in der der Staat in die Wirtschaft eingriff und zugleich die Interessenverbände in den politischen Entscheidungsprozeß einbezogen wurden. In seiner endgültigen Form führte der Corporate Socialism zu nationalisierten Wirtschaftsunternehmen, wohlfahrtsstaatlicher Planung und keynesianischer Steuerung. Die Umsetzung dieser Konzepte in Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik hat die gesamten 1940er Jahre geprägt.133) Die Labour Party, der die deutschen Sozialdemokraten und Sozialisten im Exil der frühen und mittleren 1940er Jahre begegneten, war eine Partei, die sich als Teil der Arbeiterbewegung ebenso wie als Bestandteil der britischen Gesellschaftsordnung verstand und in der Lage war, diese Gesellschaftsordnung nach ihren Vorstellungen zu formen. Die Labour Party agierte als selbstbewußte und vom Staat wenn auch nicht von den Gewerkschaften unabhängige Interessenvertretung der Arbeiterschaft, die das bestehende System nicht umstürzen wollte, sondern seine Grundwerte und seine Spielregeln teilte und in ihm für die eigenen Interessen stritt. Regierungsbeteiligung, wie in der Regierung Churchill von 1940 bis 1945, oder Alleinregierung, wie durch die Regierung Attlee 1945 bis 1951, stellte für die Labour Party keinen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis dar. Dies muß für die deutschen Exilanten, deren letzte offene politische Betätigung in den frühen 1930er Jahren gelegen hatte, ein auffälliges Phänomen gewesen sein. Das Verhältnis zwischen dem sozialdemokratischen Exil und der Labour Party war allerdings einigermaßen schwierig.134) Schon vor Kriegsausbruch war die Labour Party den deutschen Sozialdemokraten mit Mißtrauen begegnet. Dies lag nicht zuletzt an den ideologischen Unterschieden zwischen beiden -

-

132) Vgl.: Andrew Thorpe: Britain in the 1930s. The Deceptive Decade, Oxford-Cambridge/Mass. 1992, S. 22-33. 133) Foote: Labour Party, S. 15, 144-182. 134) Zum Folgenden siehe: Räder: Exilgruppen, S. 117-171, bes. S. 139-163.

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

309

Die Widersprüchlichkeit der sozialdemokratischen Politik in der Weimarer Zeit, ihre vom Marxismus geprägte Haltung gegenüber dem bürgerlichen Staat, den sie als Instrument der Klassenherrschaft ablehnte, während sie ihn in der Praxis als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzte, irritierte die Labour Party}35) Das Ende der Weimarer Republik und die Haltung der SPD bestätigte sie in ihrem Urteil, daß die politische Linie der deutschen Sozialdemokratie gescheitert sei. Diese Einschätzung hinderte die britische Arbeiterbewegung allerdings nicht daran, sich großzügig für die deutschen Flüchtlinge einzusetzen. Dem sozialdemokratischen Exil in Großbritannien jedoch begegnete Labour, vor allem aber der rechte Flügel der Partei, der national und antimarxistisch eingestellt war, mit einiger Zurückhaltung. Die „oftmals sektiererisch anmutenden Aktivitäten" der deutschen Emigranten und ihre scharfen Fraktionsstreitigkeiten erschienen manchen „zum Teil nebensächlich, zum Teil abstoßend".136) Umgekehrt führten die Internierung vieler Tausend deutscher Emigranten im Mai 1940 durch die britische Regierung und die anschließende Deportation der „feindlichen Ausländer" nach Kanada und Australien im Juli 1940 zu Enttäuschung und Verbitterung bei vielen emigrierten Gegnern des Nationalsozialismus, auch wenn einige Verständnis für die Reaktion der Briten äußerten.137) Zu weiteren Spannungen führte die Position, die der Partei vorstand der SOPADE noch um 1940 in bezug auf die alliierten Kriegsziele und die Behandlung Deutschlands nach dem Krieg vertrat. Die Briten gewannen den Eindruck, die deutschen Sozialdemokraten seien zwar Gegner Hitlers, aber dennoch militaristisch und nationalistisch eingestellt, und seien auch nicht bereit, Deutschland nach dem Krieg konsequent abzurüsten. Die politischen Kräfte der Weimarer Republik wurden von der Labour-Rechten durchweg negativ beurteilt, und auch die Pläne der deutschen Arbeiterbewegung für eine Sozialrevolutionäre Umgestaltung nach dem Krieg wurden als Konzept der Vergangenheit betrachtet und abgelehnt. Die Labour Party teilte die Annahme eines Kausalzusammenhangs zwischen der deutschen Sozialstruktur und dem Nationalsozialismus, wie sie die Sozialdemokraten vertraten, nicht.138) Das ohnehin distanzierte bzw. gespannte Verhältnis zu den Deutschen verschlechterte sich ab

Arbeiterparteien.

135)

Party und SPD von etwa 1890 bis 1933 siehe: British Labour Party and German Social Democrats, S. 207-247. Berger stellt die Beziehungen in einem weitaus freundlicheren Licht dar als Röder. 136) Vor allem William Gillies, der Sekretär des International Department der Partei, war den Deutschen gegenüber skeptisch: Röder: Exilgruppen, S. 141, 156, 161. Stefan Berger warnt jedoch vor einer der Rolle Gillies' für das Verhältnis zwischen Labour Party und SPD: Berger: British Labour Party and German Social Democrats. 137) Röder. Exilgruppen, S. 117-121. 138) Auch in den linken Splittergruppen wurde diese Position vertreten: vgl. etwa: Willi Heidorn [Werner Hansen]: Der soziale Ausgangspunkt. Ms, masch., o. D. [1943], AdsD, NL Werner Hansen, Box 6. Für die Kontakte zwischen Labour

Berger:

Überbetonung

310

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

1941 noch weiter, als der Vansittartism' in der Labour Party meinungsbildend werden begann.139) Die Annahme Lord Vansittarts, die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes teile die geistige Haltung des Nationalsozialismus und stelle dies durch die Unterstützung des Regimes unter Beweis, schien durch das Fehlen eines sichtbaren Widerstands und durch die Kriegsbereitschaft der Deutschen bestätigt. Aber auch die Gegner einer pauschalisierenden antideutschen Propaganda in der Labour Party standen den sozialdemokratischen Emigranten kritisch und reserviert gegenüber. Dieses Klima war für einen intensiven Austausch und eine ideelle Annäherung nicht sonderlich gün,

zu

stig.

Zwischen anderen Gruppen beider Arbeiterbewegungen gab es dagegen auch erfolgreiche Kontakte und funktionierende Beziehungen. Besonders das Verhältnis des ISK zu Personen und Organisationen der englischen Arbeiterbewegung war besser als das der SOPADE. Er hatte von Anfang an einen besseren Zugang, was organisatorische und programmatische Gründe hat, und war insgesamt stärker in Zusammenarbeit und Auseinandersetzung involviert. Der ISK hatte bereits 1933 Kontakte zur Labour Party und zu den britischen Gewerkschaften geknüpft, ehe Großbritannien dann ab 1939 das Zentrum des ISK im Exil wurde. Durch seine englische Sektion, die Socialist Vanguard Group, in der Deutsche und Briten vertreten waren, verfügte der ISK schon seit 1927 über ein Standbein in Großbritannien.140) Zum 1. Januar 1943 wurde die Socialist Vanguard Group organisatorisch vom ISK getrennt, um ihr die weitgehende Integration in die Labour Party zu ermöglichen.141) Die Zusammenarbeit mit dem deutschen ISK sollte jedoch eng bleiben. Bis zum Herbst 1943 fanden gemeinsame deutsch-englische Mitgliederversammlungen statt, die dann aber eingestellt wurden, um die politische Unabhängigkeit der englischen Gruppe stärker zu betonen und dies, obwohl sie als Erfolg galten. Die Socialist Vanguard Group ging dann, wie erhofft, in der Labour Party auf und verschaffte dem ISK nützliche Kontakte zu ¿abowr-Politikern und offiziellen Stel-

len.142) Fabian Society Auch zur Fabian Society pflegte der ISK in seiner Londoner Zeit Beziehungen. So nahm etwa Willi Eichler in den Jahren 1942 und 1943 an Veranstaltungen der Sheffield Fabian Society teil, die im Jahr 1941 wiedergegründet worden war. Auch Hans Gottfurcht, der Vorsitzende der Lan-

139) zum

Zu Vansittart und zum Vansittartism siehe Röder Exilgruppen, S. 143-146, dort auch Unterschied zwischen den persönlichen Absichten Lord Vansittarts und ihrer Propagan-

dawirkung. 140) Der Name geht auf die Zeitschrift der Gruppe, den Socialist Vanguard, zurück. Lemke-

Müller: Ethischer Sozialismus, S. 106, 141. 141) Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 181 f. Den Vorsitz der Socialist Vanguard Group übernahm Maria Hodann (Mary Saran). 142) Lemke-Müller: Ethischer Sozialismus, S. 182.

nun

unabhängigen

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

311

desgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien, hielt dort 1942 einen Vortrag über die deutsche Arbeiterbewegung.143) Die Fabian Society war 1883 gegründet worden und gehörte zu den in der Labour Party vereinten Organisa-

tionen. Ab 1938 hatte sie als intellektueller Arbeitskreis innerhalb der Labour Party neue Bedeutung erlangt. Die Mitglieder der Fabian Society gehörten zu denjenigen linkssozialistischen La/wwr-Politikern und Organisationen in Großbritannien, die sich gegen den weit verbreiteten Vansittartism stellten und sich um eine Integration der deutschen Emigranten und um politische Zusammenarbeit mit ihnen und anderen europäischen Sozialisten bemühten.144) Die Fabian Society richtete im Mai 1941 ein International Bureau ein, um einen Gesprächskreis für Mitglieder der europäischen sozialistischen Parteien zu schaffen.145) Auf den Tagungen und verschiedenen Veranstaltungen dieses International Bureau wurden Perspektiven für die europäische Nachkriegsordnung diskutiert und sicher auch Distanz abgebaut. Die Fabian Society unterhielt zudem verschiedene Research Groups, die sich mit Fragen der Nachkriegsplanung, insbesondere auch für Deutschland, beschäftigten.146) Sie war eine wichtige Anlaufstelle für die deutschen Exilanten, „unterstützte die deutschen sozialistischen Exilorganisationen und bot ihnen mit Tagungen, Veranstaltungen und Veröffentlichungen ein Forum."147) Die Fabian Society schuf für die Deutschen eine Möglichkeit zur Integration und zum Austausch mit Teilen der britischen Arbeiterbewegung. Der ISK scheint der Fabian Society dabei näher gekommen zu sein als die übrigen deutschen Gruppen, zu denen die Fabier ja ebenso Kontakte pflegten. Mitglieder des ISK nahmen nicht nur an den Tagungen und Vortragsreihen der Fabier teil, es gab sogar den Fall eines ISK-Mitglieds, das Mitglied der Fabian Society wurde.148) Ein weiteres Verbindungsglied war Harold Laski, der Vorsitzender der Fabian Society war und der Socialist Vanguard Group nahestand. Bei Laski hatte 1936 an der London School

143) 144)

Sheffield Fabian Society, First Annual Report 1943, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 48. Die bekanntesten Mitglieder an der Spitze der Fabian Society waren während des Zweiten Weltkriegs Philip Noel-Baker, Henry Noel Brailsford, John Parker, John Hynd, Creech Jones, Harold J. Laski, Ellen Wilkinson und Victor Gollancz. Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. XLV, Anm. 180. 145) Hintergrund war der Niedergang der Sozialistischen Internationale im Krieg, vgl. Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. XLVf. Denselben Zweck verfolgte die zeitgleich entstandene Publikation international Socialist Forum, die im Auftrag von Victor Gollanz ab Juni 1941 erschien und in deren Beirat u.a. Harold Laski und Hans Vogel, der Vorsitzende der SOPADE, saßen. Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. XLV; Röder: Exilgruppen, S. 160. 146) Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. XLV, Anm. 180. 147) Ebda. 148) Hilda Monte (Hilde Meisel), 1914-1945, die zu diesem Zeitpunkt allerdings dem ISK aufgrund einer ebenso grundsätzlichen wie persönlichen Auseinandersetzung mit Eichler nicht mehr angehörte, war Anfang der 1940er Jahre Mitglied bei den Fabiern. Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. CXXVIII, Anm. 624.

312

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

of Economies auch Franz L. Neumann seine zweite Promotion abgeschlossen, bevor er gemeinsam mit seinem Sozius und Freund Ernst Fraenkel in die USA weitergewandert war. Fraenkel wiederum stand in den späten 1930er Jahren in

Kontakt zum ISK.149) Die Nähe des ISK zur Fabian Society erklärt sich, wenn man einen Blick auf deren Programmatik wirft. Denn hier finden sich in einigen, wenn auch beileibe nicht in allen, Punkten auffällige Gemeinsamkeiten oder Anknüpfungspunkte. Die Fabier lehnten den Marxismus und seine revolutionäre Politik ab.150) Ihnen ging es darum zu zeigen, daß der Sozialismus mit dem politischen System und der politischen Kultur Großbritanniens vollkommen vereinbar war. Sie standen gänzlich auf dem Boden der englischen Verfassungsordnung und sahen im Parlament und in der staatlichen Verwaltung die geeigneten Mittel, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Ihr Ziel war ein „Staatssozialismus",151) aber auf repräsentativ-demokratischer Grundlage. Da der Staat prinzipiell neutral war, konnte er Fortschritt sowohl behindern als auch befördern, je nachdem, ob die arbeitende Bevölkerung (und dies schloß die Unternehmer mit ein) oder die müßiggängerischen besitzenden Klassen ihn beherrschten. Der Staat konnte von der arbeitenden Bevölkerung erobert werden, und zwar von ihren sozialistischen Repräsentanten, durch das Mittel der Wahlen. Das Hauptziel der Fabier war also eine sozialistische Mehrheit in Westminster. Sidney Webb, eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Gründungsgeneration der Fabian Society, schrieb 1923: „Socialism is rooted in political democracy; which necessarily compels us to recognize that every step towards our goal is dependent on gaining the assent and support of at least a numerical majority of the whole people."152)

149)

Auch die Beziehungen zwischen dem ISK und der Labour Party liefen (nach Angabe Irene Stuiber, der ich dafür danke) vor allem über Harold Laski (1893-1950), der seit den 1920er Jahren an der London School of Economics lehrte und in den 1930er Jahren zu den führenden Figuren des linken Labour-Fiügeh gehörte. Zu Laskis politischer Position siehe: Foote: Labour Party, S. 149-155. Ernst Fraenkel hatte während der Pariser Exilzeit des ISK, um 1937, in dessen Zeitschrift .Sozialistische Warte' publiziert und war mit Eichler persönlich bekannt. Er plante ursprünglich auch, sein Buch „Der Doppelstaat" im ISK-Verlag .Editions Nouvelles Internationales' herauszubringen. Eichler sah jedoch „bedeutende Mängel" in dem Buch, vor allem monierte er, daß in dem Teil zum Naturrecht Leonard Nelson keine Beachtung gefunden hatte. Martin Hart [i.e. Willi Eichler] an Ernst Fraenkel, 26. August 1937, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 32. Auch in den USA hatte Fraenkel noch Kontakt zum ISK und nahm dessen Broschüren zur Kenntnis, Erna Blencke an Willi Eichler, 1. April 1943, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 47. Zu Fraenkels Beitrag zur .Sozialistischen Warte' siehe: Stiefel/Mecklenburg: Deutsche Juristen, S. 89f. Für Kontakte nach dem Krieg siehe: Anna Beyer an Willi Eichler, 20. Januar 1946, AdsD, NL Willi Eichler, Box 29; Willi Eichler an Anna Beyer, 2. März 1946, AdsD, NL Willi Eichler, Box 29. 150) Vgl. hierzu auch: Frei: Fabianismus und Bernstein'scher Revisionismus. 151) George B. Shaw hat diesen Begriff auf die Fabier gemünzt, vgl. Foote: Labour Party, S. 29. is2) Zit. in: Ebda., S. 29f. von

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

313

dem Demokratieverständnis des Weimarer ISK diametral entgegengesetzt, der ja gerade numerische Mehrheiten als Legitimationsgrundlage für politische Entscheidungen ablehnte. Der demokratische Mehrheitsentscheid bildete aber die Grundlage für eine Politik, die der rechte Labour-Flügel in Großbritannien ebenso engagiert verfocht, wie es Eichler und die Seinen im Westdeutschland der Nachkriegszeit taten, nämlich die Öffnung der Sozialdemokratie für Wählerschichten außerhalb des traditionellen Arbeitermilieus, besonders für die Mittelschichten. Die Entwicklung zur Volkspartei beruht nicht zuletzt auf der Notwendigkeit, parlamentarische Mehrheiten zu erreichen, und damit auf der Akzeptanz des parlamentarischen Systems als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Fabier waren überzeugt, der parlamentarisch-repräsentative Weg zum Sozialismus sei nicht nur der bestmögliche Weg, sondern werde durch den Gang der Geschichte selbst vorangetrieben. Er sei daher unvermeidlich und irreversibel. Basisdemokratische Modelle oder Wirtschaftsdemokratie waren für sie daher inakzeptabel:

Dies

war

„the utmost function that can be allotted to a mass meeting in the machinery of democracy is the ratification or rejection of a policy already prepared for it, and the publication of decisions to those concerned."153)

Direkte Demokratie könne nur dazu führen, daß gute Redner oder Demagogen gewählt würden anstatt verantwortlicher Repräsentanten. Die Fabier lehnten sogar Referenden ab, da diese nur die Arbeit der Fachleute behinderten. Nur fachlich geeignete Repräsentanten der Wählerschaft könnten sich mit den Fachleuten der Verwaltung auseinandersetzen. Der Auswahl der Fachleute und Repräsentanten wurden dabei eigene Überlegungen gewidmet. Sie sollten anhand einer Liste ausgewählt werden, auf die nur die Besten aus einer Eingangsprüfung kommen sollten. Das Elitedenken der Fabier war so gesehen kein Widerspruch zu ihren sozialistischen Zielen, denn die professionellen Eliten in Parlament und Verwaltung sollten die britische Gesellschaft zum Sozialismus hinführen, man könnte auch sagen, erziehen.154) Dies kann für das Denken der ISK-Theoretiker nicht ohne Folgen geblieben sein, verkehrte es doch, bei gleichen Zielsetzungen, ihre politischen Grundannahmen ins Gegenteil. Repräsentativer Parlamentarismus als Mittel, die Auswahl der Besten zu sichern, die Entscheidung der vielen zu mediatisieren und dennoch die Mehrheit zur Legitimation politischer Herrschaft heranzuziehen: Dies bot einen Weg, die Alternative aufzulösen, die sich für den ISK zwischen einer Führerschaft, also einer Diktatur der Vernunft, und einer unqualifizierten Massenherrschaft stellte. Eichler und seine Anhänger hatten die Erfahrung ge-

153) Fabian News, November 1896, S. 35, zit. in: Ebda., S. 30. 154) Übrigens auch die „weniger erwachsenen Gesellschaften" der Kolonien, denn die Fabier waren keine Gegner des Imperialismus. Siehe für den Zusammenhang zwischen Sozialismus „at home" und der britischen Politik im Empire, wie ihn die Fabier sahen, die Artikelserie „What is Socialism?", in: New Statesman, 1913, vgl. Foote: Labour Party, S. 31.

314

IV. Wertewände1 bei den deutschen Reformern 1925-1949

macht, daß sich vor allem die Nelson'sche Vorstellung von der Führerschaft der britischen Linken, ja dem englischen Denken insgesamt nicht vermitteln

ließ.155) Die Frage der Auslese der politischen Führung war von den Fabiern ebenfalls gestellt, aber deutlich anders beantwortet worden: eine Eignungsprüfung leistete bei den Fabiern, was das Erkennen der eigenen Berufung und

dann Erziehung beim ISK erfüllen sollte. Die Fabier hatten Lösungen für Fragen zu bieten, die sich der ISK auch gestellt hatte, Lösungen, die mit der parlamentarischen Regierungsform kompatibel waren, diese sogar zur Voraussetzung machten, und die dennoch eine sozialistische Gesellschaftsordnung zum Ziel hatten. Das deutsche sozialistische Exil in Großbritannien pflegte auch Beziehungen zu den britischen Gewerkschaften, vor allem zu ihrem Dachverband, dem Trades Union Congress (TUC). Die Kontakte liefen in erster Linie über die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien. Deren Mitglieder waren, im Unterschied zur SOPADE und den Splittergruppen, nicht als Angehörige einer illegal gewordenen, aber weiterhin bestehenden Organisation ins Ausland geflohen, sondern als einzelne Gewerkschafter ohne Organisationsform und ohne Tätigkeitsfeld. Sie waren Gewerkschafter ohne Wirtschaft, ohne Arbeitsbeziehungen, und ihnen blieb, nachdem der aktive gewerkschaftliche Widerstand in Deutschland zum Erliegen gekommen war, nur die Planung für den Wiederaufbau ihrer Organisationen nach dem Krieg.156) An der allgemeinen ordnungspolitischen Diskussion, die von den Sozialisten und der Sozialdemokratie im Exil geführt wurde, waren die Gewerkschafter jeweils als Sozialisten oder Sozialdemokraten, teils auch als Kommunisten, beteiligt.157) Als parteipolitische Denker bildeten sie keine geschlossene Einheit, sondern verteilten sich auf die unterschiedlichen Richtungen oder hielten sich

TUC

heraus.158) Eine indirekte Form echter gewerkschaftlicher Betätigung übte die Landesgruppe aber dennoch aus. Sie organisierte die deutschen Arbeitnehmer in Großbritannien, die dort in der Industrie oder beim Baugewerbe Beschäftigung gefunden hatten. Dies konnte sie jedoch nicht aus eigenem Recht, sondern nur

155) Vgl. Edith [?] an Bill [i.e. Willi Eichler], 7. Juni 1946, AdsD, NL Willi Eichler, Box 32. 156) Zur Frage, ob man unter solchen organisatorischen Umständen überhaupt von gewerkschaftlichem Widerstand sprechen kann was die Verfasserin ausdrücklich bejaht siehe: Schneider: Gewerkschaften, in: Krohn u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 543-551, und Jürgen Harrer: Gewerkschaftlicher Widerstand gegen das „Dritte Reich", in: Deppe/Fülberth/Harrer: Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, S. 211— -

-

271.

157) Sofern sie Kommunisten waren, waren sie an den Diskussionen der Union nicht beteiligt, nahmen allerdings zwischen 1941 und 1943 an der Arbeit der Landesgruppe teil. 158) Vgl. auch: Michael Schneider: Gewerkschaften, in: Krohn u.a.: Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 543-551, hier S. 549.

2. Wertewandel durch die

315

Erfahrungen des Exils

über den TUC, dessen Gewerkschaften für die jeweiligen Sparten waren. Die Landesgruppe erklärte daher in ihrem ersten Bericht:

zuständig

„Der Arbeit zugrunde gelegt werden die Grundsätze der englischen Gewerkschaften und des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB). Es ist beabsichtigt alle deutschen Arbeitnehmer zu erfassen, ohne Rücksicht auf ihr Religionsbekenntnis oder auf ihre politische Überzeugung [...]. Die ,Landesgruppe' ist dem IGB angeschlossen. Sie wird sich bemühen, die Erreichung ihrer Ziele sicherzustellen, in Zusammenarbeit mit dem IGB und unter dessen mit dem britischen TUC und seinen

Verantwortlichkeit

angeschlossenen Verbänden."159) -

-

Wollte die Landesgruppe überhaupt als gewerkschaftliche Vertretung deutscher Arbeitnehmer in Großbritannien fungieren und so wenigstens rudimentäre Gewerkschaftsaufgaben wahrnehmen, war sie also gezwungen, eng mit dem TUC zusammenzuarbeiten und dessen ,Spielregeln' zu akzeptieren. Der TUC teilte ebenso wie die Labour Party den Grundkonsens des Labourism.160) Es ging ihm, schon seit seiner Gründung im Jahr 1868, nicht darum, das bestehende System abzuschaffen, sondern vielmehr darum, seine Interessen innerhalb dieses Systems zu vertreten. „Ihrerseits akzeptiert von der bürgerlichen Gesellschaft, akzeptierten auch die trade unions die ,Spielregeln'."161) Der Sozialismus, der in Teilen der frühen Labour Party en vogue war, wurde von den Gewerkschaftern abgelehnt, revolutionäre Programme wurden nicht diskutiert. Politische Aktivitäten standen den Gründern zunächst fern, es ging ihnen vornehmlich um jrade matters'. Schon bald nach der Jahrhundertwende pflegten Vertreter des TUC offizielle oder gesellschaftliche Kontakte mit konservativen und liberalen Amtsträgern. Das Wohlergehen der jeweiligen Berufssparten und die Abwehr von Arbeitslosigkeit waren die Hauptsorgen der Gewerkschaftsfunktionäre dieser Zeit, denn vom Funktionieren der Wirtschaft hing ihre Klientel in existentieller Weise ab. Im weiteren Sinne politische Fragen spielten für sie nur eine geringe Rolle, im Gegenteil legten die britischen Gewerkschaften Wert auf ihre politisch neutrale Position. Dem Parlament gegenüber galt es, die jeweiligen, spezifisch gewerkschaftlichen Interessen zu vertreten und für deren Unterstützung zu werben bei allen Fraktionen.162) Auch innerhalb der Labour Party ging es den Gewerkschaften -

159) Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien: Bericht „Aus der Arbeit des Jahres 1941", zit. in: Max Oppenheimer: Aufgaben und Tätigkeit der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien. Ein Beitrag zur Vorbereitung der Einheitsgewerkschaft, in: Exilforschung, Bd. 5, 1987, S. 241-254, hier S. 244. 160) Douglas J. Newton: British Labour, European Socialism and the Struggle for Peace 1889-1914, Oxford 1985, S. 8-18. Zum Folgenden siehe auch: Keith Laybourn: A History of British Trade Unionism, c. 1770-1990, 2. Aufl., Phoenix Mill u.a. 1997; Ross M. Martin: TUC: The Growth of a Pressure Group 1868-1976, Oxford 1980; Wolfgang-Ulrich Prigge: Gewerkschaftspluralismus und kooperative Interessenvertretung in Großbritannien, Bochum 1995; Eisenberg: Deutsche und englische Gewerkschaften. 161 ) Eisenberg: Deutsche und englische Gewerkschaften, S. 248. 162) Newton: British Labour, S. 10f; vgl. auch: Eisenberg: Deutsche und englische Gewerkschaften, S. 248.

316

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

in erster Linie darum, die effektive und unabhängige Vertretung von LabourInteressen im Parlament zu garantieren. Die Bereitschaft, mit den Unternehmern zu verhandeln und in staatlichen Behörden mitzuwirken, zeichnete seit den späten 1920er Jahren die Position des TUC aus. Aber erst mit dem Zweiten Weltkrieg wurde der Gewerkschaftsbund von der Regierung als Vertreter der organisierten arbeitenden Bevölkerung und von den Unternehmern als gleichberechtigter Verhandlungspartner anerkannt. Der TUC erlangte nun Einfluß auf zahlreiche Regierungsentscheidungen und erwarb zugleich die Autorität, die Vereinbarungen mit der Regierung innerhalb der britischen Gewerkschaftsbewegung auch verbindlich durchzusetzen. Als Vermittlungsinstanz zwischen den Einzelgewerkschaften und den staatlichen Behörden prägte er die Rolle und Bedeutung von Interessengruppen in Großbritannien nachhaltig.163) Es war eine selbstbewußte Gewerkschaftsbewegung, der die deutschen Exilgewerkschafter da begegneten, ein Dachverband, der in der Lage war, seine allgemein politischen und spezifisch gewerkschaftlichen Interessen gegenüber den Mitgliedsgewerkschaften und der Regierung durchzusetzen. Diese Gewerkschaftsbewegung war keine Systemopposition und war eben deswegen so erfolgreich. Sie handelte dabei im Einklang mit ihrer Theorie. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung war für sie das Umfeld, in dem sie die besten Bedingungen für ihre Mitglieder zu erwarten hatte, und sie brauchte eine unabhängige Unternehmerschaft als Gegner in harten Verhandlungen. Kooperation mit Regierung und Unternehmerverbänden stellte so keinen Widerspruch zu gewerkschaftlichen Interessen dar, sondern war vielmehr das geeignete Mittel, diese Interessen in politische Wirklichkeit umzusetzen. bb. Die Wirkung auf die deutschen Exilanten in Großbritannien ISK Am deutlichsten läßt sich der Wandel im Denken des ISK zeigen, wo sich einige klar eingrenzbare Grundpositionen veränderten, und zwar in erster Linie beim Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie, damit verbunden bei der Elitenauslese und dem Führerprinzip. Unverändert blieb im Denken des ISK dagegen die ethische Fundierung politischen Handelns, die Vorstellung von der freien Willensentscheidung des Menschen und die damit einhergehende Ablehnung des Historischen Materialismus, des Glaubens an eine sich naturgesetzlich vollziehende geschichtliche Entwicklung hin zum Sozialismus. Denn das Ziel einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, an dem der ISK auch nach 1945 noch festhielt, sei nur zu erreichen, wenn jeder einzelne dafür kämpfe und sich nicht auf das Wirken des Weltgeistes verlasse.164) 1947 vertrat Eichler die Ansicht, die Erkenntnis der sittlichen Wahr-

163) Martin: TUC, S. 205-324. 164) Vgl. auch Werner Hansens Position im Jahr 1943: Heini [i.e. Willi Heidorn/Werner Hansen] an Susie [Miller], 28. September 1943, AdsD, NL Werner Hansen, Box 10.

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

317

heiten folge nicht aus dem Anschauen oder aus sonst einer kausalen Verknüpfung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Vielmehr sei ein Maßstab nötig zu ihrer Beurteilung. Er sprach sich gegen die Annahme aus, „dass die Geschichte nach einem bestimmten Plan verläuft, der unabhängig von dem, was die einzelnen Menschen sich für subjektive Pläne machen, auf die Dauer sich durchsetzt." Diese Position werde beispielsweise von den Christen und den Hegelianern vertreten, und zum Teil auch von den orthodoxen Marxisten, „so weit sie historische Materialisten sind".165) Eichler führt dagegen aus: „Der Mechanismus des wirtschaftlichen Geschehens tendiert, wie Marx gezeigt hat, in gewisser Richtung, muss aber nicht, wie Marx geglaubt hat, unvermeidlich in eine bestimmte

Richtung führen, jedenfalls nicht in die sozialistische. Die Tendenz des frei konkurrierenden Kapitals zur Konzentration und zur Planung ist vorhanden, aber in der Verteidigung ihrer kapitalistischen Interessen haben die Kapitalisten kapitalistische Planung eingeführt, und

im grossen Maßstab, so die Amerikaner mit dem Roosevelt'schen New Deal und in Deutschland mit der Naziplanwirtschaft. Die Sowjetwirtschaft ist eine andere Art von Planwirtschaft, wenn auch keineswegs die, die Marx im ,Kapital' vorschwebte. Die Geschichte ist also mit uns deshalb nicht im Bunde, weil sie ohne planmässige Anstrengungen der Umwandlung kapitalistischer Planversuche in sozialistische uns zur bürokratischen Staatswirtschaft kapitalistischen Geistes führen würde."166) zwar

An derselben Stelle

argumentiert er:

„Der Sozialismus als Erfahrungswissenschaft kann

nur Soziologie sein, die ihrerseits keine Impulse für den Kampf entwickeln und also keine opferbereiten Massen auf die Beine bringen kann. Ein Appell an die sittlichen Überzeugungen ist nur möglich mit einer Begründung dieses Appells und diese selber kann ihrerseits nur durch die Philosophie gegeben werden."167)

Am Sozialismus als unmittelbarem gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Ziel hielt Eichler auch nach seiner Rückkehr 1946 fest.168) Zu erreichen sei es aber nur durch nicht durch Revolution. Daneben finden sich aber eben auch ganz deutliche Unterschiede zu den Positionen des ISK in der Weimarer Zeit. Auffällig ist nach 1945 etwa die größere Toleranz gegenüber anderen Auffassungen innerhalb des sozialistischen Spektrums. So erklärte Eichler 1947:

Überzeugungsarbeit,

165) Willi Eichler an Kurt Regeler, 29. Dezember 1947, AdsD, NL Willi Eichler, Box 34. 166) Ebda. (Hervorh. im Orig.). 167) Ebda. 168) Vgl. beispielsweise die Äußerung Susanne Millers in einem Brief von 1947: „Wir sind sehr entsetzt über die Äußerung von Böckler, die nach einer dpa-Nachricht dahingehend lautet, dass die Sozialisierung für die nächsten fünf Jahre nun wahrscheinlich doch nicht in Frage kommt, da die Amerikaner dagegen sind. Böckler hat das angeblich auf dem TUCKongreß gesagt, auf jeden Fall spüren wir bei seinen Kollegen hier schon ganz deutlich die Stimmung, aus der heraus solche Äußerungen getan werden. Willi meint, dass die Partei

diesen Defaitismus auf keinen Fall mitmachen wird, hoffentlich machen sie das auf dieser ganz klar und finden auch Mittel und Wege, es den Gewerkschaftskollegen nahe zu bringen." Susanne Miller an Hannah Bertholet, 15. September 1947, AdsD, NL Willi Eichler, Box 29.

Tagung in B[erlin]

318

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

„auch ich bin nicht der Meinung, dass eine ganze Weltansicht als Grundlage für die Partei nötig ist, wenn auch später und im sozialistischen Staat unbedingt, Weltanschauungsfragen viel mehr Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion sein werden als

heute."169)

So war es in den 1950er Jahren nicht zuletzt Willi Eichler, der für die SPD das Gespräch mit den Kirchen suchte. Er sah im sozialdemokratischen Antiklerikalismus ein Hindernis für eine Öffnung der SPD zur Volkspartei, das es abzuschaffen gelte.170) Gemessen an der scharfen Gegnerschaft zu den Kirchen, in der sich der ISK noch gegen Ende der 1930er Jahre befand,171) kann man hier tatsächlich von einer Entwicklung hin zum Pluralismus sprechen.172) Das Neue wird jedoch zugleich mit dem Alten verbunden. So soll der Pluralismus als Gesellschaftsform auf dem Wege der Erziehung vermittelt werden, die im Denken der Nelsonianer immer eine herausragende Rolle gespielt hat: „Die erzieherische Aufgabe wird darin bestehen, sie [die deutsche Jugend, J.A.] allmählich in eine Selbstverwaltung hinein zu führen, damit sie den Wert einer Gemeinschaft kennen lernen, die ihre Konflikte friedlich, auf dem Wege der Verständigung löst. Für diese Aufgabe brauchen wir Lehrer, Erzieher mit freien Traditionen, Engländer, Amerikaner, [handschrift-

lich eingefügt: Deutsche] ganz gleich welcher Nationalität aber nicht Soldaten! Länder mit gefestigter demokratischer Tradition sollen Tausende von deutschen Kindern aufnehmen. Doch es hat keinen Sinn wenn sie abgeschlossen und für sich irgendwo in Landhäusern leben. Die harten Probleme des täglichen Lebens müssen so gelöst werden, dass sie daran teilnehmen. Die nationalen Eigenarten dürfen nicht vertuscht, überhaupt keine Probleme verwischt werden [.. .]."173) -

-

Diese Empfehlung spiegelt zweifellos die eigene Emigrationserfahrung wider und ist ein ungewöhnlich deutliches Dokument dafür, daß Mitglieder des Exils

169)

Willi Eichler an Kurt Regeler, 29. Dezember 1947, AdsD, NL Willi Eichler, Box 34. 1937 hatte der ISK noch im Rückblick über seine Politik in den mittleren 1920er Jahren sagen können: „Unsere Ansicht und unsere Praxis war die richtige: Sie hieß in kurzen Worten: Alle Anstrengung der Arbeiterschaft ist sinnlos vertan, wenn man nicht garantiert, dass nur die echten Sozialisten in dieser Bewegung etwas zu führen haben. Echter Sozialist ist der, der das, was er sagt und von anderen fordert, auch selber tut." Brief ohne Unterschrift, ohne Adresse, [verm. Willi Eichler], Anrede .Lieber Freund', 15. September 1937, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 31. 17°) Siehe besonders den Briefwechsel zwischen Willi Eichler und Oswald von Nell-Breuning, SJ, AdsD, NL Willi Eichler, PV, Box 1959/60, Fsz. 1960. m) Vgl. beispielsweise: Brief ohne Unterschrift, ohne Adresse, [verm. Willi Eichler], Anrede ,Lieber Freund', 15. September 1937, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 31, in dem es heißt, die Kirchen brächen den Willen der Menschen und machten sie zum Kampf ungeeig-

net.

172)

Die Kritik Werner Links, der in dieser Entwicklung hin zum Pluralismus eine ideologiVerhüllung der Klassengesellschaft und eine Entleerung der Werte sieht, macht deutlich, daß sich der ISK zu diesem Zeitpunkt tatsächlich wahrnehmbar vom Sozialismus Weimarer Prägung entfernt hatte. Link: ISK, S. 335 f. 173) Ms, masch.: „Was ist mit Deutschland?", o. A. [Willi Eichler], o. D. [1943?], AdsD, NL Werner Hansen, Box 6. Das auf Eichlers Briefpapier geschriebene Manuskript scheint für die interne Diskussion im ISK gedacht gewesen zu sein. Das Zitat endet abrupt, da die folgende Seite fehlt. sche

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

319

den Erfahrungen in „Ländern mit gefestigter demokratischer Tradition" eine erzieherische Funktion in politischer und kultureller Hinsicht zusprechen. Auch die Forderung nach Teilhabe am Leben des Gastlandes, ohne die der gewünschte demokratisierende Effekt nicht zu erwarten sei, basiert wohl auf eigenem Erleben. Entscheidend für den weiteren politischen Weg der ISK-Mitglieder war die Annäherung an den Parlamentarismus, die Anfang/Mitte der 1950er Jahre manifest wird und ohne Zweifel auf die Erfahrungen des englischen Exils zurückzuführen ist. Ein Briefwechsel zwischen Grete Henry-Hermann, einem führenden Mitglied des ISK im Londoner Exil und nach dem Krieg in Bremen tätig, und Willi Eichler im März 1954 macht die ideelle Weiterentwicklung seit den 1930er Jahren sehr deutlich und soll daher ausführlich wiedergegeben werden. Grete Henry-Hermann, langjährige Schülerin Nelsons, äußerte ihre demokratietheoretische Skepsis gegenüber dessen Lehre: „Grundsätzlich bin ich der Meinung, daß wir über kurz oder lang zu Nelsons Verurteilung der Demokratie Stellung nehmen sollten [...]. Ich selber kann Nelsons grundsätzliche Verurteilung der demokratischen Organisationsformen (Mehrheitsentscheidungen) nicht mehr anerkennen, wenn ich auch seiner Kritik zustimme, dass diese Formen nicht sichern, dass vernünftig und gerecht entschieden wird. Die Idee der Demokratie geht über die Aufstellung demokratischer .Spielregeln' hinaus. Es war mir wichtig, in Deinem Aufsatz [...] auch diese Unterscheidung zu finden und dabei [...] eine positive Stellungnahme zur Idee der Demokratie und dem eigentlichen Sinn ihrer .Spielregeln', trotz des Nachweises, dass diese Spielregeln demagogisch missbraucht werden können, ihrem eigentlichen Sinn entgegen. Deine Forderung einer in harten Kämpfen zu entwickelnden Demokratie, die durch das blosse Ingangsetzen der Spielregeln noch nicht geschaffen ist, die aber auf der anderen Seite diese Spielregeln nicht abschafft, sondern daran arbeitet, sie ihrem eigentlichen Sinn gemäß anzuwenden diese Forderung ist meinem Eindruck nach mit Nelsons grundsätzlicher Verurteilung der Mehrheitsentscheidungen schon nicht mehr vereinbar. Oder habe ich Dich ganz falsch verstanden?"174) -

Eichler antwortete umgehend. Er nenne sich einen Schüler Nelsons, „auch wenn ich seine positive Staats- und Regierungstheorie abzuändern für nötig halte."175) Er fuhr fort: „Nun zur Demokratie: Du hast meine Ausführungen völlig richtig verstanden, sie waren auch so gemeint. Ich habe darüber oft mit Nelson selber geredet. Er hat in der Schweiz, als er die erste Rede über D. + F. [ i.e. Demokratie und Führerschaft, J.A.] hielt, gesagt, wenn die Demokratie die Tüchtigsten auswählt, ,sind wir Demokraten'. Wenn das der Mehrheit überlassen bleibt, verfehlt sie eben das Ziel, und deshalb sind wir dagegen! Das ist grundsätzlich richtig zwischen Mehrheit + Recht + Wahrheit gibt es keine notwendigen Übereinstimmungen. Trotzdem halte ich es grundsätzlich für richtiger, dann die Mehrheit abzulehnen statt die Demokratie. Aber selbst das schränkt sich heute ein durch die Erfahrung mit dem bisher allein im großen angetroffenen Gegenbeispiel der Diktatur (Stalin oder Hitler), das -

174) Grete Henry-Hermann an Willi Eichler, 18. März 1954, AdsD, NL Willi Eichler, Box 32. Der Aufsatz „im März-Heft von ,G.u.T" hat sich nicht ermitteln lassen. 175) Willi Eichler an Grete Henry-Hermann, 19. März 1954, AdsD, NL Willi Eichler, Box 32.

320

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

schlechter ist, weil es sogar den manchmal günstigeren Zufall der Mehrheit ausschließt. Dieser Erfahrungisisatz veranlaßt mich, zusammen mit dem der Mehrheitsfanatiker [sie], die am Wirken der blossen demokratischen Spielregeln manches auszusetzen gelernt haben, eine Staatstheorie anzustreben, die (wie angedeutet im Grundgesetz) das Staatsleben auf Grundsätze baut, die nicht (auch nicht durch die Mehrheit!) abgeändert werden können, d. h. dürfen (und die u.U. mit allen Mitteln verteidigt werden müssen!). Zu diesen Grundsätzen liefert Nelson gute Grundlagen (die übrigens formal mit dem sog. Naturrecht in vielem zu vereinbaren sind). Aus der Verantwortung der Wähler soll man die Notwendigkeit] ihrer Erziehung + das Prinzip der Publizität besonders ableiten, das es bei N[elson] auch gibt, und was die Soziologen die .Durchsichtigkeit' des staatlichen Prozesses nennen! So hat man die Theorie von der Volks-Souveränität beseitigt und beginnt, die Souveränität des Rechts und der Freiheit des kulturellen Lebens zu realisieren. Die Entscheidung durch die Mehrheit bleibt dann, abstrakt gesehen, ein Übel, ein scheinbares Loch in der Logik, aber die Führerschaft' ist (abstrakt, mit gewissen Änderungen im Tatsächlichen) das Bessere, aber auf absehbare Zeit, realiter eine Utopie."176)

Insgesamt blieb Eichler zwar den Lehren Nelsons verpflichtet, paßte sie aber dennoch deutlich an die Erfordernisse einer parlamentarischen Demokratie an. Der wichtigste Schritt hierbei war der demokratietheoretische Vorbehalt, den auch das Grundgesetz mit seiner .streitbaren Demokratie' machte, nämlich das Staatsleben auf unveränderbare Grundsätze zu stellen, über die keine Mehrheitsentscheidung möglich ist, und die politischen Entscheidungen innerhalb dieses garantierten Rahmens dann für den Interessenausgleich nach dem Mehrheitsprinzip zu öffnen. Dies ermöglichte für die ethisch orientierten Sozialisten des ISK die Zustimmung zum Parlamentarismus, ohne daß sie allzuviel von ihrer Grundüberzeugung preisgeben mußten.177) Eine eigentlich simple Lösung für ein schwieriges Problem, und eine Lösung, die in Großbritannien selbstverständlicher Bestandteil der Verfassungsordnung und des politischen Lebens war. Der eigentliche Kern der Verfassungsordnung war auch dort nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen, Grundwerte der politischen Ordnung sowie die ,Spielregeln' blieben unveränderlich. Diesen Basiskonsens teilte in Großbritannien selbstverständlich auch die Arbeiterbewegung, die sich als Teil dieser Gesellschaftsordnung begriff. Vor allem die Fabier plädierten für diese Form des politischen Kräftemessens, bei der eine sozialistische Gesellschaftsordnung durch das Mehrheitsprinzip angestrebt wurde, ohne daß die politische Grundordnung des Landes angetastet werden sollte. Auch andere Mitglieder des Londoner ISK nahmen Elemente des angelsächsischen Liberalismus auf. Susanne Miller etwa, Sekretärin und bald auch Ehefrau Eichlers, hatte schon seit 1934 in Großbritannien gelebt. Sie war dort akti176) Ebda. Dieser Brief ist hier handschriftlich und als Schreibmaschinen-Abschrift vorhanden, zit. wird nach der handschriftlichen Fassung. (Hervorhebungen im Orig.) 177) Vgl. für die Position des ISK bei Kriegsende auch Ms, masch., Willi Eichler: Zum Ende des Naziregimes, o.D., AdsD, NL Werner Hansen, Box 1, S. 5: „Ja, viele sehen noch nicht einmal das Problem einer Demokratie, deren ganzer Inhalt darin besteht, dass von Zeit zu Zeit Wahlen

abgehalten werden."

2. Wertewandel durch die ves

Erfahrungen des Exils

Mitglied der Labour Party geworden und hatte sich erst um

321 1940 dem ISK

angeschlossen.178) In einer Festschrift für Susanne Miller schreibt Bernd Faulenbach rückblickend:

„Die Exilzeit blieb für Susanne Miller bedeutsam: Die enge Gemeinschaft mit den ISK-Leuhat sie mitgeprägt. Zudem brachte sie das Bild einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie und einer reformorientierten, überwiegend nicht weltanschaulich marxistisch geprägten Arbeiterpartei, das sie in der Labour Party kennengelernt hatte, mit nach ten

Deutschland."179)

Auch für Werner Hansen und andere Londoner ISK-Mitglieder, etwa Alfred Dannenberg, läßt sich eine solche Wirkung der Exilerfahrung belegen.180) Die Mitglieder des zur Jahreswende 1945/46 aufgelösten ISK kehrten mit spürbar veränderten politisch-ideellen Positionen, aber auch mit deutlichen Kontinuitäten zu ihrer Weimarer Weltsicht nach Deutschland zurück. Es gab keine direkte Übernahme der vorgefundenen Werthaltungen, aber einen klaren Einfluß auf das Denken dieser Gruppe. Neue Ideen fanden Eingang in die alten Denkgebäude, sie wurden eingebaut und modifizierten teilweise die hergebrachten Positionen, ersetzten sie in einigen Fällen sogar oder dienten auch nur der neuartigen Begründung des Alten. Diese Wirkung läßt sich allerdings erst mit einiger Zeitverzögerung nachweisen. Der Versuch, dieses Phänomen zu erklären, könnte dahin gehen, daß es in der Situation des Exils besonders wichtig war, am Eigenen festzuhalten, während man zugleich das Neue wahrnahm und sich damit auseinandersetzte. Erst nach der Rückkehr in die alte Heimat ergab sich dann die Gelegenheit zum direkten Vergleich, und vor diesem Kontrast wurde den ehemaligen Emigranten bewußt, wie fremd ihnen die alte Wertewelt geworden war und wie sehr sie sich doch an die Denkweisen ihres Gastlandes angenähert hatten. Erst nun begann eine offene und reflektierte Auseinandersetzung mit der Differenz zwischen ihrer alten Weltanschauung und ihrer neuen, die nun auch für die Remi-

granten wahrnehmbar geworden war.181)

178) Für die Biographie Susanne Millers siehe: Bernd Faulenbach: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Zu Biographie und Geschichtsschreibung Susanne Millers, in: Susanne Miller: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Aufsätze zur Geschichte und Gegenwart der SPD, zum 80. Geburtstag hg. v. Bernd Faulenbach, Bonn 1995, S. 9-26. 179) Faulenbach: Sozialdemokratie als Lebenssinn, hier S. 12. Susanne Miller hatte nach Faulenbachs Ansicht später über ihre Tätigkeit als Sekretärin der Programmkommission des SPD-Parteivorstands und „angesichts der engen Kommunikation mit Eichler" indirekt auch Einfluß auf Formulierungen der Programmentwürfe des Godesberger Programms, ebda. S. 13. 18°) Dannenberg pflegte jedenfalls noch 1948 Umgang mit der Socialist Vanguard Group. Alfred Dannenberg an Hanna Bertholet, 22. April 1948, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 110. Für den Lebenslauf Dannenbergs siehe: Willi Eichler an Douglas Lowe (Home Office, Interned Enemy Aliens' Tribunal), 25. August 1941, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 41. 181) „[... E]s ist erstaunlich, wie weit es innerhalb der englischen Denkwelt gelungen ist, eine Reihe von Voraussetzungen für so selbstverständlich zu halten, dass sie selbst bei

322

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Auch am Parteivorstand der SOPADE waren die Londoner Jahre SOPADE nicht ohne Spuren vorbeigegangen. Dennoch war in dieser Gruppe der Anteil an ideeller Kontinuität deutlich größer als beim ISK. Dies erklärt sich in erster Linie aus dem Selbstverständnis der Exil-Sozialdemokratie, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, als Treuhänderin des letzten frei gewählten Parteivorstandes das ideelle Erbe der Partei zu verwalten, bis Deutschland vom Nationalsozialismus befreit sein würde. Erich Ollenhauer, Angehöriger des Londoner Exilvorstands der Partei und letzter Vorsitzender der Londoner Union, ist für diese Haltung ein gutes Beispiel.182) Brigitte Seebacher-Brandt schreibt über ihn: „Am Ende des zwölfjährigen Exils war er der einzige, der noch in der Lage und noch willens und bereit war, im

Prinzip

dort wieder

anzuknüpfen,

wo

die Partei und

er

1933

aufgehört

hatten; daß sich einzelne konkrete Einsichten und praktische Schlußfolgerungen gewandelt hatten, änderte nichts an dieser tieferen Kontinuität. Sein unbedingtes Festhalten am .Mandat', an der Beauftragung derer, die mit Otto Wels ins Exil gegangen waren, ist nur eine unvielen möglichen Illustrationen zum Thema strikter Ordnungs- und Gesetzmäßigkeit und auch dazu, daß er aus sich heraus nichts besonderes sein mochte."183) ter

Dieses treuhänderische Selbstverständnis war jedoch nicht nur bei Ollenhauer einer Akkulturation abträglich, sondern insgesamt beim Vorstand der SOPADE. Dieser blieb im Prinzip den Traditionen der Weimarer SPD verbun-

den.184)

Eher als beim Londoner SOPADE-Vorstand lassen sich Gewerkschafter bei den deutschen Gewerkschaftern Nachwirkungen ihrer Exilzeit in Großbritannien feststellen. Zwischen einer persönlichen Beeinflussung einzelner durch die Erfahrungen in Großbritannien, etwa im Fall Ludwig Rosenbergs und Werner Hansens, und einem Wandel in der Programmatik und im Selbstverständnis der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter als gewerkschaftlicher Organisation muß aber strikt getrennt werden. Die Programmentwürfe waren, was ihre ordnungspolitischen Vorstellungen anbelangte, noch ganz im alten sozialistischen Sinne gehalten, die Landesgruppe blieb zunächst, wie es Werner Hansen

gründlichen Erörterungen nicht mehr genannt werden, obwohl sie in manchen Ländern in der Praxis vollkommen fehlen. Dass eine Regierung nicht zurücktritt, wenn das Volk ihr das Misstrauen ausspricht, ist für sie ein Zustand, den sie nur noch bei völlig Ungebildeten für möglich halten. Hier scheint mir eine der Erklärungen dafür zu liegen, warum so viele Angelsachsen das deutsche Volk für die Taten seiner Regierung nicht nur juristisch, sondern auch sittlich mitverantwortlich mach[en]." (Eichler kommentiert hier einen Vortrag W. H. Beveridges an der Universität Köln am 17. lanuar 1947), Willi Eichler an Grete Henry-Hermann, AdsD, NL Willi Eichler, Box 32. 182) Zu Ollenhauers Positionen in der Londoner Union siehe: Vortragsmanuskript ,Dear friends', o. A. [Werner Hansen], o. D. [1943], AdsD, NL Werner Hansen, Box 6, S. 8-12. 183) Brigitte Seebacher-Brandt: Biedermann und Patriot. Erich Ollenhauer ein sozialdemokratisches Leben, Diss. phil., Berlin 1984, S. 397. 184) Siehe insgesamt: Langkau-Alex: Zwischen Tradition und neuem Bewußtsein. -

2. Wertewandel durch die

1943 ausdrückte, „eine

Erfahrungen des Exils

Traditionskompanie

323

der alten deutschen Gewerk-

schaftsbewegung." '85) Dennoch spiegeln die programmatischen Überlegungen und Diskussionen der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien eine intensive

Auseinandersetzung mit den Strukturen und Positionen der englischen Arbeiterbewegung wider. Sie machen aber zugleich auch deutlich, wie wenig der Begriff der Akkulturation mit einer reinen Übernahme englischer Verhältnisse gleichgesetzt werden kann. Denn die deutschen Gewerkschafter reflektierten

sehr wohl die Unterschiede beider Arbeiterbewegungen und setzten sich auch mit der Frage auseinander, welche Elemente davon wohl auf deutsche Gegebenheiten übertragbar sein würden und welche nicht. Hans Gottfurcht, der Vorsitzende der Landesgruppe, äußerte 1943 zur Frage der Organisationsstruktur einer zukünftigen deutschen Gewerkschaftsbewegung: „Ich bin nicht der Meinung, dass das englische System für

uns

annehmbar ist, d.h. ich bin

nicht der

Meinung, dass die politische Partei der Linken im Wesentlichen Ausdruck und Instrument der Gewerkschafts-Bewegung sein soll. Ich glaube vielmehr, dass die Dreiteilung der Bewegung in Partei, Gewerkschaft und Genossenschaft und die organisatorische Selbstaendigkeit der drei Zweige wiederhergestellt werden soll. Anzunehmen vom englischen System waere die Schaffung eines uebergeordneten Zentralorgans der Arbeiterbewegung, wie hier das National Council of Labour. Mit der Schaffung einer solchen Einrichtung waere unser

Problem

zum

Teil

geloest."186)

Gottfurcht war vor allem daran gelegen, die Unabhängigkeit der Gewerkschaften zu erhalten. Zur gleichen Zeit äußerte sich auch Werner Hansen zur Aufgabe der zukünftigen deutschen Gewerkschaften und zum Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Partei. Die freien Gewerkschaften und die sozialistische Partei hätten im wesentlichen getrennte Aufgaben zu verfolgen: die freien Gewerkschaften als wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeiterklasse hätten den Kampf gegen die Ausbeutung der Werktätigen zu führen, stünden also im unmittelbaren Kampf gegen die Unternehmerklasse. Das heiße aber nicht, daß die freien Gewerkschaften im demokratisch-kapitalistischen Staat politisch neutral zu

185) Vortragsmanuskript ,Dear friends', o. A. [Werner Hansen], o. D. [1943], AdsD, NL Hansen, Box 6, S. 5. Vgl. zum Beispiel den Programmentwurf der Landesgruppe vom Februar 1944: Hans Gottfurcht: The Trade Unions in a New Germany, MS, hekt., Werner

Februar 1944, S. 7 f. Hansen wandte sich schon anläßlich eines früheren Programmentwurfs explizit gegen die Festschreibung einer sozialistischen Wirtschaftsform als Ziel, da dies zu weit gehe, „wenn wir wirklich eine Einheits-Gewerkschaft wollen." Werner Hansen: ,Zum Entwurf einer Prinzipienerklaerung der Landesgruppe', DGB-Archiv, Bestand 273, NL Werner Hansen, Kasten 20 (Hervorh. im Org.). Siehe auch: Entwurf einer programmatischen Erklaerung der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien, o. A„ Ende Januar 1943. 186) Hans Gottfurcht: Das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften, Ms, London, 28. April 1943, an Willi Heidorn [i.e. Werner Hansen] z. K., ein weiteres Exemplar ging an Erich Ollenhauer. AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 47.

324

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

sein hätten. Sie übten zwar nur mittelbar Druck auf die Staatsmacht aus, das bedeute aber nicht, daß sie an der politischen Herrschaftsform uninteressiert seien. Dennoch liege, so Hansen, das Hauptaufgabengebiet einer Gewerkschaft in den Betrieben und nicht in den Verhandlungszimmern von Regierungen, es liege außerhalb des unmittelbaren Interessen- und Arbeitsbereichs einer politischen Partei. Er trat daher für ein Mehrparteiensystem und eine Einheitsgewerkschaft ein und forderte die parteipolitische Unabhängigkeit dieser Gewerkschaftsbewegung. Es dürfe in den deutschen Gewerkschaften keine fraktionellen Kämpfe mehr geben. Die freien Gewerkschaften und die politischen Parteien sollten aber Hand in Hand arbeiten. „Die Gewerkschaften sollten diese Zusammenarbeit nur von der Beurteilung der Taten der Parteien abhaengig machen, soweit sie Gewerkschaftsinteressen betreffen."187) Es könne kein allgemeines Urteil für oder gegen eine Partei geben, dies widerstreite der parteipolitischen Neutralität der Gewerkschaften.188) Hansen behielt den Klassenkampf als Denkfigur bei, auch die Revolution als Weg zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, vollzog zudem eine organisatorische Abgrenzung von englischen Verhältnissen näherte sich aber eindeutig an die älteren Traditionen des Labourism an: Er empfahl den zukünftigen deutschen Gewerkschaften die Zusammenarbeit mit denjenigen parlamentarischen Kräften, welche die reward your Gewerkschaftsinteressen jeweils gerade am besten vertraten wie in es den USA heißen würde. friends, punish your enemies', Auch Hansens Vorstellungen von der Rolle der Gewerkschaften gegenüber Staat und Gesellschaft, wie er sie in einer Kritik des Programmentwurfs der Landesgruppe vom Januar 1943 formulierte, wiesen einige angelsächsische Züge auf: Sein Verständnis von der Rolle der Gewerkschaften hob hier schon nicht mehr in erster Linie auf den Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung ab, sondern sah sie als Interessenvertretung der Arbeiterschaft: -

,

-

„Auch eine neue Gewerkschaftsbewegung wird ihre Aufgabe darin zu sehen haben, als wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeiterklasse zu wirken, also fuer eine Verbesserung der Lohn-, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen der Werktaetigen zu kaempfen. Diese besondere

Aufgabe

der Gewerkschaften als

selbstaendiger wirtschaftlicher Interessenvertrejeder freiheitlichen Staatsform bestehen bleiben. Unter jedem oekonomischen System verlangen die materiellen und geistigen Interessen der Arbeitenden eine Vertretung, die nicht durch einen staatlichen Apparat wahrgenommen werden kann. Selbst in einem System, in dem die Klassengesellschaft aufgehoben ist und in dem sich sicher ein Wechsel gewerkschaftlicher Aufgaben und Kampfmethoden ergibt, eruebrigt dieser Funktionswechsel nicht das Bestehen von wirtschaftlichen Selbstverwaltungsorganisationen der Arbeiterschaft, die sowohl dem Staat als auch politischen Parteien gegenüber ein weitgehendes Maß von Unabhaengigkeit haben muessen. Die Gewerkschaften als wirtschaftliche Vertretung der Arbeiterklasse sind neben den politischen Parteien gerade zu dem Zweck entstanden, weil sie Aufgaben zu erfüllen haben, die tung der Arbeiterklasse wird

unter

187) Wilhelm Heidorn [i.e. Werner Hansen], Ms, Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften, 29. April 1943, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 47. (Hervorh. im Orig.)

188)

Ebda.

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

325

ihrem Wesen nach ausserhalb des Aufgabenbereichs einer politischen Partei liegen. Dies heisst nicht, dass eine Gewerkschaft politisch neutral sein kann. Aus dem blossen Interesse an sozialer Sicherheit fuer die Arbeiterklasse gibt die Landesgruppe ihrer Ueberzeugung Ausdruck, dass in Deutschland der Vernichtung des Nationalsozialismus eine vollstaendige Umwaelzung der sozialen Struktur zu folgen hat, die die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen der oekonomischen Krisen und des Imperialismus beseitigt."189)

Mit dieser Position wandte sich Hansen gegen die Fixierung auf eine sozialistische Wirtschaftsform, wie sie in den Programmentwürfen der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien in den Jahren 1943 und 1944 zum Ausdruck kommt.190) Er argumentierte, daß eine politische und religiöse Neutralität die Voraussetzung für eine Einheitsgewerkschaft sei, wie sie die Landesgruppe ja selbst anstrebe. Darüber hinaus gab er der Vorstellung von einer sozialistischen Gesellschaft, in der ja der Klassenkampf aufgehoben sein soll, ein ganz neues Gesicht, wenn in dieser nun auch weiterhin Interessengruppen miteinander ringen sollen. Insgesamt wirkten die Positionen Hansens Anfang 1943, als seien sie im Fluß, er stand auch als ISK-Mitglied mit einem Bein auf dem Boden des traditionellen deutschen Sozialismusverständnisses und mit dem anderen Bein schon im angelsächsischen Labourism, im freien Spiel der Kräfte in einer pluralistischen, liberalen Gesellschaft. Auch Ludwig Rosenberg, der in den frühen 1960er Jahren als DGB-Vorsitzender die Abkehr der westdeutschen Gewerkschaften vom Klassenkampf und vom sozialistischen Dogmatismus vertreten sollte, hat aus seiner Londoner Zeit wichtige Anregungen mitgenommen. Über ihn ließ sich Anfang der 1960er Jahre sagen: -

-

„Die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Ansichten ROSENBERGs werden

wesent-

lich durch seine Herkunft aus der Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaftsbewegung und durch die Erfahrungen seiner Emigrationszeit in England bestimmt. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften (1864—1933) waren eine .unpolitische' oder .neutrale' Gewerkschaftsrichtung nach dem Vorbild der damaligen englischen Trade Unions. Die marxistisch-sozialistischen Theorien wurden von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften abgelehnt. [...] In der Emigrationszeit wurde Rosenberg nicht nur mit den Ansichten der englischen Trade Unions und der Labour-Party, die im Gegensatz zum kontinentalen Sozialismus nicht im Marxismus wurzeln, vertraut, sondern er lernte auch deren undogmatische Arbeitsweise schätzen."191)

Für altgediente Weimarer Gewerkschaftsfunktionäre wie Hans Jahn dagegen läßt sich kein dezidierter Wandel in den ideellen Grundpositionen feststellen, sein Engagement für freie gewerkschaftliche Betätigung und für Menschen-

189)

Werner Hansen: ,Zum Entwurf einer Prinzipienerklaerung der Landesgruppe', Januar 1943, DGB-Archiv, Bestand 273, NL Werner Hansen, Kasten 20 (Hervorh. im Orig.).

I9()) Zum Programm der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien siehe: Röder: Exilgruppen, S. 239-242. 191) Deutsches Industrieinstitut: Ludwig Rosenberg, bearb. v. Wolfgang Jeserich, Oktober 1962, S. 2f: Geistesgeschichtliche Einflüsse, DGB-Archiv, Bestand 299: NL Ludwig Rosenberg, Kasten 9.

326

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus praktisch den gleichen Grundüberzeugungen motiviert wie sein späteres antikommunistisches Engagement im Ostblock. Jahn war kein revolutionärer Sozialist, und daß man mit Regierungsbehörden und Mittelschichtsvertretern zusammenarbeiten konnte, war für ihn kein Novum, ebensowenig wie es internationale Gewerkschaftskontakte waren. Er hatte in der Weimarer Zeit mehrere Jahre lang dem Reichswirtschaftsrat angehört, saß im Vorstand des Allgemeinen Beamtenbundes und hatte als Funktionär der Eisenbahnergewerkschaft Kontakte zum ITF gepflegt. Diese Politik behielt er auch in der Bundesrepublik unbeirrt bei. Seine Haltung und sein Einsatz machten ihn in der Nachkriegszeit zu einem idealen Partner der AFL, ein programmatischer Reformer der deutschen Gewerkschaften wurde er jedoch nicht. Für viele der deutschen Gewerkschafter im Exil aber war die Begegnung mit ihren britischen Kollegen eine essentiell neue Erfahrung. Die Rolle, die der TUC ab 1940 im politischen System Großbritanniens spielte, sein Gewicht in den Tarifverhandlungen, sein enges Verhältnis zur damaligen Labour-Regierung, all dies hob sich stark von den eigenen Erfahrungen ab. Offensichtlich bestand ein enger Zusammenhang zwischen der politischen Gestaltungsmacht der britischen Gewerkschaften und ihrem Selbstverständnis als Interessenvertretung der Arbeiterschaft innerhalb der Wirtschaftsordnung. Augenscheinlich führte die Systemakzeptanz durch die britischen Gewerkschaften umgekehrt auch zu deren Akzeptanz durch Staat, Gesellschaft und Arbeitgeber, womit die Gewerkschaften wiederum Einfluß auf politische Entscheidungen gewannen. So haben sowohl die Labour Party als auch der TUC durch ihr Selbstverständnis, ihre Programmatik und ihre Politik zahlreiche deutsche Gewerkschafter und Sozialisten im englischen Exil nachhaltig beeindruckt. Dies hinterließ Spuren im programmatischen Denken ihrer deutschen Kollegen, auch wenn es nicht sofort Eingang in deren Nachkriegsplanung fand. Denn die späteren Reformer des DGB konnten in den 1950er Jahren auf diese Erfahrungen zurückgreifen, als sie nach neuen Wegen für die westdeutsche Gewerkschaftsbewegung suchten. Die Beispiele aus dem ISK, der SOPADE und der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien weisen jedoch auch darauf hin, wie sehr eine Akkulturation davon abhing, ob jemand fähig und bereit war, sich auf das Fremde einzulassen. Sie vollzog sich nicht automatisch und forderte eine aktive Auseinandersetzung mit den Werthaltungen und der politischen Praxis der neuen Umgebung. Es zeigte sich auch, daß diejenigen, die von ihrer Sache weiterhin überzeugt waren und ihre eigenen Positionen nicht in Zweifel ziehen mußten, in ihren Werthaltungen durch die Exilerfahrungen weniger stark beeinflußt wurden. rechte

war

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

327

Exilerfahrungen in den USA Die deutschen Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Sozialisten in den USA hatten vielfache Kontakte zur amerikanischen Gewerkschaftsbewegung, teils institutioneller, teils persönlicher Natur. Der Council for a Democratic Germany und die German Labor Delegation standen in Kontakt mit AFL und CIO sowie mit dem Jewish Labor Committee. Einzelne Personen wie Kuno Brandel, Leo Borochowitz und Toni Sender arbeiteten direkt für die AFL, das FTUC oder die ICFTU in New York.192) Andere, wie Hedwig Wachenheim oder Ernst Fraenkel, hatten über ihre Mitarbeit bei OSS bzw. bei HICOG Beziehungen zu amerikanischen Gewerkschaftern, die dort ebenfalls tätig waren. Es entstand eine Art Community des Exils, ein Bekanntenkreis aus deutschen Exilanten und amerikanischen Gewerkschaftern.193) Die Wirkungen dieser Beziehungen und des Lebens in den USA allgemein auf die deutschen Exilanten waren meist tiefgreifend. Claus-Dieter Krohn beschreibt sie folgendermaßen:

cc.

„Materiell, intellektuell und psychologisch wird man die Akkulturation der Flüchtlinge in den USA als Erfolgsgeschichte beschreiben können. Die vielen Intellektuellen unter ihnen betonen im Rückblick immer wieder, welchen Erfahrungsgewinn und positiven Lernprozeß das neue Leben in Amerika für sie gebracht hatte. Mit jeweils einem Bein in der deutschen und der amerikanischen Kultur stehend entwickelten sie eine eigene Art synthetisierenden Bewußtseins, da[s] sie seit Ende der vierziger Jahre befähigte, als Brückenbauer zwischen Amerika und der neuen deutschen Demokratie zu vermitteln."194) Nicht alle aber ließen sich auf eine ideelle Neuorientierung ein. Wie im britischen Exil kam es auch hier darauf an, mit welchem Selbstverständnis sie der neuen Umgebung begegneten, ob ihre bisherigen Überzeugungen unbeschadet oder ob diese bereits ins Wanken gekommen waren.

Sozialdemokratie

Friedrich Stampfer etwa, SOPADE-Mitglied, Redakteur der Neuen Volkszeitung in New York und Gründer der German Labor Delegation, nahm 1940 Beziehungen zur AFL auf. Er blieb davon jedoch nahezu unbeeinflußt. Für ihn trifft zu, was oben bereits für die SOPADE in London gesagt wurde: seine tiefe Verwurzelung in der Weimarer Sozialdemokratie und ihren Traditionen sowie sein treuhänderisches Selbstverständnis als Sachwalter der Partei machte ihn wenig aufnahmebereit für gänzlich Neues. Er blieb „mit

192) Toni Sender (1888-1964), frühere Reichstagsabgeordnete der SPD und Gewerkschafterin, arbeitete 1941-1944 für das OSS, vertrat 1946-1957 AFL und ICFTU bei der UNO in Genf und leitete das ICFTU-Büro in New York. Vgl. die Kurzbiographie bei Foitzik: Zwischen den Fronten, S. 323. 193) Noch Mitte der 1950er Jahre traf man sich ab und an und tauschte Erinnerungen aus: vgl. Hedwig Wachenheim an Ernst Fraenkel, 7. August 1955, BAK NL Ernst Fraenkel, N1274/19. 194) Krohn: Die Vereinigten Staaten von Amerika, S. 463 f.

328

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

dem Gesicht nach Deutschland" gerichtet und ließ sich nicht ernsthaft auf sein Umfeld in der Fremde ein.195) Ähnlich liegen die Dinge bei Max Brauer, dem früheren Altonaer Bürgermeister, der auf seiner Flucht 1937 schließlich in die USA gelangt war und dort an führender Stelle in der German Labor Delegation mitwirkte. Brauer hielt unerschütterlich an seinem Glauben „an den guten Kern im deutschen Volk" fest und daran, daß sich die deutschen Arbeiter als immun gegen den Nationalsozialismus erwiesen hätten, und er vertrat in Konsequenz den ungeteilten Souveränitätsanspruch Deutschlands nach dem Krieg.196) Dies brachte ihn in Konflikt mit den amerikanischen Behörden und mit dem Londoner SPD-Vorstand und drohte ihn in die politische Isolation zu führen. Zugleich pflegte Brauer aber, vor allem über seine Tätigkeit für die von der AFL gegründete und protegierte German Labor Delegation, offizielle Kontakte zur AFL.197) Insgesamt blieb er in seiner USA-Zeit ein „Exilant auf Abruf, jederzeit bereit, nach Deutschland heimzukehren."198) Dennoch scheint er sich weit stärker auf die Gepflogenheiten der Neuen Welt eingelassen zu haben als Stampfer. Herbert Weichmann, sozialdemokratischer Exilant und späterer Hamburger Bürgermeister,199) hat in einer Schrift über den „Alltag in USA" die Lage des Einwanderers beschrieben: „Der Einwanderer ist jene eigenartige Gestalt mit zwei Beinen, von denen keines mehr am Boden haftet. Er hat seine Berührung mit dem alten .verlorenen' Kontinent gelöst und hat

noch keine Fühlung mit der neuen Welt gefunden, die zunächst einmal nicht anderes als ein großer leerer Raum zwischen New York und Hollywood ist." [...] „Amerika erwartet von dem Einwanderer Amerikanisierung, und diese Forderung ist sein gutes Recht. [...] Es erwartet vom Einwanderer nicht nur Eingewöhnung und Anpassung, sondern eine innerliche Umbildung, eine Umwertung seiner Werte und eine Umformung seiner Persönlichkeit."200)

Als Lehre

aus

der amerikanischen

Erfahrung nennt Weichmann:

„Das echte demokratische Freiheitsgefühl, das den amerikanischen Bürger kennzeichnet, dem heraus er sich seine Regierung schafft, die er als seine eigene empfindet und für die

aus

195) Vgl. Stampfer: Mit dem Gesicht nach Deutschland. 196) Wildt: Die Kraft der Verblendung, S. 172-174. 197) Ebda., S. 176. 198) Ebda. 199) Herbert Weichmann (1896-1983), SPD, war ab 1928 Beamter im Preußischen Staatsministerium und persönlicher Referent Otto Brauns. Er emigrierte 1933 nach Frankreich und 1940 in die USA und war dort Vorstandsmitglied der Association of Free Germans. 1948 kehrte er nach Hamburg zurück, wo er sogleich als Rechnungshofspräsident, ab 1957 als Finanzsenator und ab 1965 als Erster Bürgermeister tätig war. Siehe: Anneliese Ego: Herbert und Elsbeth Weichmann. Gelebte Geschichte 1896-1946. Hg. v. der Herbert und

Elsbeth Weichmann Stiftung, Hamburg 1998; Claus-Dieter Krohn, Hg.: Herbert Weichmann (1896-1983). Preussischer Beamter, Exilant, Hamburger Bürgermeister. Dokumentation anläßlich eines Kolloquiums der Herbert und Elsbeth Weichmann Stiftung .Rückkehr und

Aufbau', Hamburg 1996. 200) Herbert Weichmann: Alltag in USA, Hamburg 1949, S. 10,

17.

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

329

sich ebenso verantwortlich fühlt, wie sie sich vor ihm, ist auch für Europa Material zu verantwortlicher Überprüfung der eigenen Situation und schöpferischer Anregung." [...] „Auch die Weisheit des politischen und wirtschaftlichen Kompromisses, die Amerika beherrscht und mit der es vermeidet, sich weltanschaulich zu spalten und in seiner politischen Lebensart zu vergiften, sollte Europa endlich in das Rüstzeug seiner politischen Technik miteinbeziehen lernen."201) er

frühere Landtagsabgeordnete der SPD, stand Max Brauer und Herbert Weichmann politisch nahe und hatte im amerikanischen Exil guten Kontakt zu beiden. Wie Brauer gehörte sie der German Labor Delegation an.202) Sie kehrte nicht nach Deutschland zurück, sondern lebte in den 1950er Jahren in New York City und unterhielt gute und persönliche Verbindungen zu den Mitarbeitern der AFL, besonders zu Irving Brown, aber auch zu Jay Lovestone und Henry Rutz.203) Sie schrieb dort nicht nur eine Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, sondern versuchte auch, den Amerikanern ein Bild der gegenwärtigen westdeutschen Arbeiterbewegung zu vermitteln und ihre Politik vor dem anderen, deutschen, Hintergrund verständlich zu machen, auch wenn Wachenheim inzwischen im Großen und Ganzen den theoretischen Standpunkt der amerikanischen Arbeiterbewegung teilte.204) Die Mitbestimmungsforderungen der westdeutschen Gewerkschaften erklärte sie als Versuch, politische Mitsprache zu erlangen, der kaum noch etwas mit Sozialismus gemein habe. Zudem hätten die Weltwirtschaftskrise, der Zweite Weltkrieg und die gegenwärtigen Rüstungsprogramme zur Entwicklung ganz neuer Möglichkeiten gesamtwirtschaftlicher Kontrolle geführt, die keineswegs sozialistisch seien, sich aber dennoch zum Nutzen der Arbeiterbewegung auswirken könnten:

Hedwig Wachenheim,

„If unions are vigilant labor can benefit greatly from these new practices, as the example of the United States demonstrates. It is to these devices that the German unions are gradually turning as Western thinking influences them more and more."205)

Sie kannte durch ihre Biographie sowohl die deutsche als auch die amerikanische Arbeiterbewegung aus nächster Nähe und war mit beiden Traditionen wohlvertraut. So nahm sie eine Mittlerfunktion ein, eben die von Krohn beschriebene Brückenfunktion zwischen beiden Arbeiterbewegungskulturen. Sie

201) Ebda., S. 155. 202) wildt: Die Kraft der Verblendung,

S. 174. Für den Kontakt zu Weichmann siehe bei14. Februar 1953, GMMA, RG 18-004,

spielsweise: Hedwig Wachenheim an Irving Brown,

021/5. 203) Für die

Korrespondenz Hedwig Wachenheims mit Irving Brown 1952-1955 siehe beispielsweise: Hedwig Wachenheim an Irving Brown, 1. Februar 1953, GMMA, RG 18-004, 021/5. Für ihren Kontakt zu Lovestone und Rutz Mitte der 1950er fahre vgl. Hedwig Wachenheim an Ernst Fraenkel, 7. August 1955, BAK, NL Ernst Fraenkel, N1274/19. 204) vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Hedwig Wachenheim und Ernst Fraenkel in den 1950er fahren: BAK, NL Ernst Fraenkel, N 1274/16; 19; 22; 25. Wachenheim: German Labor Asks Co-Management, in: 31/Jan. 1953, S. 310-320, hier S. 315.

2()5) Hedwig

Foreign Affairs,

330

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

erklärte dem amerikanischen Publikum Anfang der 1950er Jahre das Dilemma, in dem eine sich langsam ,verwestlichende' Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik steckte, die in einem gesellschaftlichen und politischen Umfeld arbeiten mußte, das der Praxis einer ,westlichen' Gewerkschaftsbewegung keineswegs entgegenkam:

„Though the German trade unions seek to keep free of control by political parties, they are not, of course, aloof from politics an impossibility at a time when the scale of employment and the level of real wages is a function of government to an ever increasing degree. The -

unions have never found a satisfactory technique for political activity to replace the methods of their former affiliations. The American principle .reward your friends and punish your enemies ', does not work in a country where the approach to politics is so emotional and where party lines are so rigid. The unions have tried to lobby, to march in and out of government committees, and to publicize their program and to strike. They consider co-management in coal, iron and steel a great victory. But they have also suffered defeats before the setback this summer."206)

Dies mag auch als Mahnung an politische Gruppierungen in Westdeutschland CDU, FDP und Arbeitgeberverbände gemeint gewesen sein, die dem DGB politische Aktivitäten zum Vorwurf machten und unter gewerkschaftlicher Neutralität politische Abstinenz in jeder Hinsicht verstanden wissen wollten. Wachenheim folgte hier dem Verständnis der AFL von der politischen Rolle ei-

-

-

ner

Gewerkschaftsbewegung.

Zur sozialdemokratischen ,Exilgemeinde' in den USA gehörte auch Ernst Fraenkel, dessen Weg vom Reformismus zum Pluralismus durch die Exilzeit in den USA geprägt war.207) Er studierte von 1939 bis 1941 an der Law School der University of Chicago amerikanisches Recht und arbeitete ab 1944 für die amerikanische Regierung. In seinen Konzepten für eine politische Ordnung Nachkriegsdeutschlands, die er zwischen 1943 und 1946 entwickelte, wandte er sich von seinen vor der Emigration vertretenen Positionen ab.208) Er hielt nun eine sozialistische Revolution in Deutschland weder für möglich noch für nötig.209) Statt dessen müsse Deutschland nach rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien neu aufgebaut werden, unter „Wiederbelebung der autono-

206) Wachenheim: German Labor Asks Co-Management, S. 317. (Meine Hervorh., J.A.) 207) Gerhard Göhler: Vom Sozialismus zum Pluralismus. Politiktheorie und Immigrationserfahrung bei Ernst Fraenkel, in: Politische Vierteljahresschrift, 27/1986, S. 6-27; Buchstein: Auf der gemeinsamen Suche; Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien; Ders.: Reformismus und Pluralismus. Aber auch der politische Weg Franz L. Neumanns war von

seiner Zeit in den USA geprägt: siehe hierzu: Buchstein: Auf der gemeinsa-

Suche; Erd: Reform und Resignation; Peter Intelmann: Franz L. Neumann. Chancen und Dilemma des politischen Reformismus, Baden-Baden 1996; Neumann: Zum Begriff der

men

politischen Freiheit. pQr ¿¡g Biographie Fraenkels siehe: v. Brünneck: Nachwort: Leben und Werk von Ernst Fraenkel (1898-1975), in: Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien,

208)

S. 360-372. 2()9) Ernst Fraenkel: Aussichten einer deutschen Revolution [ 1943], in: Ders. : Reformismus und Pluralismus, S. 275-282; vgl. v. Brünneck: Nachwort, S. 366.

2. Wertewandel durch die

331

Erfahrungen des Exils

gesellschaftlichen Kräfte",210) wobei für ihn vor allem die Arbeiterbewegung eine wichtige Rolle beim demokratischen Neuaufbau Deutschlands spielen sollte. Nach eigener Auskunft waren für Fraenkels Neuorientierung die Erfahrungen in den USA maßgebend. Das amerikanische Rechtssystem und die men

politische Praxis des Landes waren für ihn vorbildlich, er sah in ihnen die Po-

stulate des rationalen Naturrechts verwirklicht, die schon in der Weimarer Zeit und bei seiner Untersuchung zur Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus normativen Charakter für ihn hatten.211) Für seine Arbeiten zum Pluralismus, die gegen Ende der 1950er Jahre entstanden, griff Fraenkel auf britische und amerikanische Konzepte zurück. Fraenkels Studie Deutschland und die westlichen Demokratien' ist „die grundlegende Formulierung der Theorie des gesellschaftlichen und des politischen Pluralismus."212) Gerhard Göhler betont dagegen, daß es nicht allein die Zeit in den USA war, die Fraenkels Entwicklung geprägt habe.213) Ohne die Erfahrungen in der Endphase der Weimarer Republik sei die Entwicklung seiner Pluralismustheorie nicht denkbar, sie sei in Fraenkels Werk aus jener Zeit bereits angelegt. Die Zweifel an den alten, sozialistischen Positionen, so läßt sich die Entwicklung vielleicht unterteilen, waren um 1930 bereits vorhanden, die Suche nach Neuem hatte begonnen. Für die schließlich eingeschlagene Richtung Pluralismustheorie und Repräsentativsystem, von Fraenkel als westliche Demokratie bezeichnet kann man aber getrost die Erfahrungen in den USA verantwortlich machen. Die Untersuchung Göhlers bestätigt so den Eindruck, daß erfolgreiche Akkulturation eine gewisse Latenz zur Voraussetzung hatte, eine Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, und ein Interesse an fremden Weltsichten, die dann mit eigenen Traditionen verglichen wurden und, sofern sie als sinnvolle Lösungsansätze für die eigenen Problemstellungen gelten konnten, in das eigene Weltbild aufgenommen wurden. -

-

In den USA fanden sich auch emigrierte Mitglieder der Splittergruppen linken Splittergruppen aus der Weimarer Zeit. Für die ideelle Vorgeschichte der Westernisierer' und ihres Netzwerks ist hier aber in erster Linie die KPO, vor allem aber ihr abtrünniges Mitglied Kuno Brandel von Interesse. Die fünfzehn ISK-Mitglieder in den USA akzeptierten die ideelle und politische Leitung Eichlers uneingeschränkt und folgten daher der programmatischen Entwicklung des Londoner ISK, mit dem sie in regelmäßiger Korrespon,

210)

Ernst Fraenkel: Die künftige Organisation der deutschen Arbeiterbewegung [1943/44], in: Ders.: Reformismus und Pluralismus, S. 285, zit. in: v. Brünneck: Nachwort, S. 366. 2") V. Brünneck: Nachwort, S. 367. Siehe hierzu Ernst Fraenkel: Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl., Opladen 1981, S. 343-347; Ders.: Der Doppelstaat, Frankfurt/ M-Köln 1974. 212) Umschlag-Text der Suhrkamp Taschenbuchausgabe von 1991 (stw). Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien, passim, bes. S. 48-67, 297-325, 326-359. 213) Göhler: Vom Sozialismus zum Pluralismus.

332

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

denz standen. Sie berichteten aber zugleich über ihre amerikanischen Erfahrungen und verschafften so der Londoner Leitung des ISK Einblick in die amerikanischen Verhältnisse und auch Kontakte, etwa zum JLC oder zu deutschen Emigranten wie Ernst Fraenkel.214) Die KPO-Minderheit, die sich nach der Spaltung der Gruppe in den USA fand, war ebenfalls klein. Ihre Mitglieder waren durch den vorangegangenen Bruch in ihrem Weltbild besonders aufnahmebereit für neue ideelle Angebote, so etwa Leo Borochowitz und Kuno Brandel, die beide für die AFL arbeiteten. Brandel war zu diesem Zeitpunkt bereits Antikommunist und stand der Position der ehemaligen Lovestoneites sehr nahe. Er verbrachte die gesamten 1940er Jahre in New York und vollzog hier den Schritt zur Akzeptanz der kapitalistischen Wirtschaftsform. In dieser Zeit wurde er zum Gewerkschafter, erlernte bei der AFL die Praxis und im Hochschulstudium die Theorie.215) Daß ihm in seiner späteren Zeit als Chefredakteur bei der IG Metall der Spitzname ,der Amerikaner' anhaftete, verwundert vor diesem Hintergrund nicht. Durch seinen langen Aufenthalt in den USA, auch über das Kriegsende hinaus, erlebte Brandel aus nächster Nähe die Entwicklung des konsenskapitalistischen Modells mit, das Ende des New Dea/-Liberalismus, den politischen Rechtsschwenk und den Beginn des scharfen Antikommunismus in der amerikanischen Öffentlichkeit. Sein Weg vom Kommunisten zum Antikommunisten und Verfechter des Konsensliberalismus und konsenskapitalistischer Arbeitsbeziehungen war sehr geradlinig, und durch seine späte Rückkehr nach Westdeutschland blieb er auch von den dort in der Nachkriegszeit weit verbreiteten revolutionären oder sozialistischen Konzepten für eine deutsche und europäische Nachkriegsordnung unberührt. Während seiner Tätigkeit als Chefredakteur von ,Metall' und als IG-Metall-Vorstandsmitglied drängte Brandel die

Metallergewerkschaft dazu,

„der Öffentlichkeit klarzumachen und sie davon

zu überzeugen, daß wir den heutigen Staat als die unantastbare Grundlage unseres staatlichen Lebens betrachten und uns mit Entschiedenheit für seine Erhaltung einsetzen. Dazu gehört auch bei Wahrung der eigenen Unabhängigkeit eine positive Haltung gegenüber seinen Organen."216) -

-

214)

Der Kontakt Eichlers in die USA lief über das 1941 in die USA emigrierte ISK-MitErna Blencke, die Mitarbeiterin des JLC war, und Eva Lewinski-Pfister (ebenfalls ISK), die in der antikommunistischen Organisation The League for Human Rights, Cleveland, Ohio tätig war. Siehe hierzu AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 41 und 47. Zu der Verbindung zwischen Fraenkel und dem ISK siehe: Erna Blencke an Willi Eichler, 1. April 1943, AdsD, Bestand IJB/ISK, Box 41. 215) Zu Brandel siehe die biographischen Angaben im Anhang. 216) Kuno Brandel an die Mitglieder des Vorstandes der IG Metall, Frankfurt/M., 21. Februar 1961, AdsD, NL Kuno Brandel, Box 1, S. 3f. Diese Darstellung der Positionen Brandeis stammt aus dem Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem IG Metall-Vorstand, auf die später noch näher eingegangen wird. Sie stellt, obwohl sie von 1961 datiert, eine pointierte Zusammenfassung der Haltung dar, die Brandel auch schon Anfang/Mitte der 1950er

glied

2. Wertewandel durch die

Die wirksame

333

Erfahrungen des Exils

Erfüllung gewerkschaftlicher Aufgaben, so Brandel,

„setzt das Bewußtsein der Öffentlichkeit voraus, daß die gewerkschaftlichen Organisationen, die sich mit äußerster Entschlossenheit der Interessenvertretung der Arbeiter und Angestellten annehmen, unzweideutig auf dem Boden dieses demokratischen Staates stehen und gewillt sind, alles zu seiner Erhaltung und Verteidigung zu tun."217)

Diese verschiedenen Beispiele sollen zeigen, daß die Akkulturation deutscher Exilanten in den USA soweit sie bei den einzelnen stattfand zu einer Orientierung erst auf den New Dea/-Liberalismus bzw. dann auf den Konsensliberalismus hin führte, zudem zum Voluntarismus bzw. Konsenskapitalismus als Form der Arbeitsbeziehungen und zum Pluralismus als gesellschaftlichem Grundkonzept. Der Antikommunismus spielte für die Annäherung der deutschen Sozialdemokraten und Sozialisten an die Wertewelt der amerikanischen Arbeiterbewegung eine bedeutende Rolle, er war der gemeinsame Nenner', der eine Annäherung der unterschiedlichen Traditionsbestände wesentlich erleichterte. Am deutlichsten ist er bei den ehemaligen Kommunisten der KPO und der Lovestoneites ausgeprägt, bei denen der ideelle Erfahrungshintergrund beiderseits des Atlantiks auch besonders ähnlich war. Bemerkenswert ist zudem, daß wieder vorausgesetzt, es kam zu einer Akkulturation die Erfahrungen der deutschen Sozialisten und Sozialdemokraten während ihres USA-Aufenthalts nicht zu einer Entwicklung vom Marxismus zum Reformismus, sondern vom Marxismus oder Reformismus zum Pluralismus218) führten, das heißt, von den Sozialismus-Varianten, wie sie in der Weimarer Zeit üblich waren, zu einer, wie es Wachenheim formuliert, ,vom westlichen Denken beeinflußten' Konzeption von Gesellschaft bzw. Arbeiterbewegung. -

-

-

-

dd.

Exilerfahrungen in Skandinavien Mitglieder der deutschen Arbeiterbewegung im schwedischen Exil hatten nur wenig Kontakt mit den schwedischen Schwesterorganisationen.219) Die Die

Jahre vertrat, und wurde deshalb trotzdem als Beleg für die gewandelten Positionen Brandeis nach seinem USA-Aufenthalt herangezogen. 217) Ebda. 218) Für diese schlagworthafte Benennung des Wertewandels vgl. Fraenkel: Reformismus und Pluralismus. 219) Bei Günther: Gewerkschafter im Exil, findet sich kein Hinweis auf Kooperation mit schwedischen Organisationen, außer der Erwähnung, daß die monatlichen Vorlesungsabende und Diskussionsveranstaltungen welche die sozialdemokratischen Mitglieder der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Schweden veranstalteten, „unter Mithilfe und Förderung von Arbetarrörelsens Flyktingshjälp im Rahmen des Afrbetarnas] B[ildnings] F[örbund]-Stockholm" abgehalten wurden. Fritz Tarnow hielt hier zum Beispiel am 19. November 1940 einen Vortrag über „Die Arbeiterbewegung in USA": S. 55. Die Arbeit Günthers ist jedoch fast ausschließlich auf die .innerdeutschen' Entwicklungen und Auseinandersetzungen zugeschnitten, es kann also auch an der Fragestellung liegen, daß von Beziehungen zu schwedischen Organisationen und Weltanschauungen keine Rede ist. Daß es

334

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

schwedische Sozialdemokratie öffnete sich nicht ohne weiteres für die deutschen Exilanten. Einzelne, die sich engagierten und auf die schwedischen Gegebenheiten, etwa den strikten Antikommunismus der sozialdemokratischen Parteispitze, einließen, wurden jedoch rasch in die „Parteifamilie" aufgenommen.220) Die Vorsicht gegenüber den Fremden hatte sicher auch mit den internen Spannungen in der schwedischen Sozialdemokratie jener Jahre zu tun. Die Partei stand 1940 vor einem Dilemma, da sie als Regierungspartei die spezifische Form der Neutralitätspolitik gegenüber Deutschland und die Einschränkungen der Grundrechte zu verantworten hatte, welche die ebenso antinazistische wie antikommunistische schwedische Arbeiterbewegung nicht ohne weiteres hinnehmen wollte.221) Nur vereinzelt kam es zur Kooperation im Bereich der Widerstandsarbeit, etwa mit der Gewerkschaft der Seeleute, der auch das SAP-Mitglied Willy Brandt angehörte. Zu einer intensiven Zusammenarbeit oder auch nur zu einem regelmäßigen gegenseitigen Austausch scheint es mit der schwedischen Arbeiterbewegung nicht gekommen zu sein. Dennoch nahmen Brandt und seine Gefährten sehr wohl die spezifisch schwedische Variante der Sozialdemokratie zur Kenntnis und setzten sich damit auseinander. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei222) war 1889 entstanden und war ideologisch wie organisatorisch eng mit dem 1898 gegründeten gewerkschaftlichen Dachverband verbunden. Beide betrachteten sich als zwei Flügel einer Arbeiterbewegung, die aufeinander bezogen und voneinander abhängig waren. Die Partei war in ihrer Gründungsphase stark von den sozialistischen Ideen anderer Länder, vor allem Deutschlands beeinflußt worden, zu denen aber auch noch Einflüsse des französischen Syndikalismus hinzukamen. Ihre ideologische Basis aber war der Marxismus. 1917 war die Sozialdemokratie erstmals an einer Regierung beteiligt. In den 1920er Jahren trat sie für die Nationalisierung der schwedischen Industrie und für verstärkte Staatsintervention in der Wirtschaft ein. 1932 kam die Sozialdemokratie an die Regierung und blieb dort bis 1976. Der schwedische Gewerkschaftsbund Landsorganisation (LO) vertrat seit 1902 die ideologisch eher heterogenen Gewerkschaften seines Landes effektiv und zentralisiert in kollektiven Verhandlungen mit dem Arbeitgeberverband. Diese Struktur der Arbeitsbeziehungen wurde 1938 schließlich verbindlich festgeschrieben und institutionalisiert, ein regelrecht kanonisiertes System kolauch anders

geht, zeigen

die

jüngeren

Arbeiten Einhart Lorenz'

Lorenz: Mehr als Willy Brandt; Ders.: Exil in

Norwegen.

zum

Exil in

Norwegen:

22°) So jedenfalls stellt sich die Situation in Schweden aus der Sicht Willy Brandts dar: Brandt: Links und Frei, S. 327 f., für das Zitat S. 328. Vgl. auch das Kapitel „Schweden: ,Das ist ein sehr trübes Kapitel'", in: Lorenz: Mehr als Willy Brandt, S. 124—133. 221) Brandt: Links und Frei, S. 327f. 222) Socialdemokratiska Arbetartpartiet, abgekürzt SAP. Zum folgenden siehe: Richard Scase: Social Democracy in Sweden, in: Paterson/Thomas: Social Democratic Parties in Western Europe, S. 316-341.

2. Wertewandel durch die

Erfahrungen des Exils

335

Tarifverhandlungen entstand, in dem sich die Gewerkschaften als die Vertretung der Klasseninteressen der Arbeiterschaft verstanden. Aus diesem Selbstverständnis heraus organisierte der LO auch nur die Arbeiterschaft; Angestellte und andere höherqualifizierte Berufe fanden sich in anderen Dachorganisationen. Nachdem die Sozialdemokratie ab 1932 die Regierung stellte, erhöhte sich der politische Einfluß der Gewerkschaften, da sie in eine Art Partnerschaft mit der Regierung eintraten, zugleich wuchsen aber auch die internen Spannungen zwischen beiden Flügeln der Arbeiterbewegung. Die Regierung lektiver

maß ebenso wie die Gewerkschaften dem Wirtschaftswachstum oberste Priorität zu und begann, eine „rationale", staatlich gelenkte Wirtschaftsform einzuführen. Die Sozialdemokratie hatte in der schwedischen Gesellschaft großen Rückhalt. Der egalitäre Grundzug der schwedischen Gesellschaft, der sich etwa in der geringen Toleranz für soziale Ungleichheit ausdrückte, führte zu dieser sehr stabilen sozialdemokratischen Mehrheit.223) Der mit dem sozialen Reformismus zugleich einhergehende kollektivistische und konformistische Zug, der die schwedische Gesellschaft prägte, und ihre starke Abgeschlossenheit nach außen machten den Immigranten eine Akkulturation oder Assimilation schwer.224) Dennoch hatte das schwedische Modell' mit seiner korporativen Gesellschaftsverfassung für viele deutsche Sozialisten und Sozialdemokraten Vorbildcharakter, es galt als der Prototyp des modernen Wohlfahrtsstaats, in dem die Extreme des Kapitalismus wie des Sozialismus vermieden wurden. Das Volksheim' Schweden unterschied sich von den deutschen sozialdemokratischen Traditionen, vor allem beim Selbstverständnis und der politischen Rolle der Arbeiterbewegungen: hierzu zählten insbesondere die prinzipielle Akzeptanz des politischen Systems wie der gebremsten kapitalistischen Wirtschaftsordnung durch die schwedische Arbeiterbewegung sowie das Ausmaß ihrer gesellschaftlichen Prägekraft und ihrer Akzeptanz durch die übrige Gesellschaft. Da nicht wenige der deutschen Exilanten in Schweden vor der Ausweitung des Krieges in Norwegen oder Dänemark gelebt hatten, soll hier kurz auf ihre ,

223) Ebda., S. 330. 224) vgl. etwaAkeöaun: Svensk mentalitet. Et jämförande perspektiv, 2. Aufl., Stockholm 1994, bes. S. 118-129. Thomas Etzemüller danke ich für Übersetzung und Erläuterung. Für die Gesellschaftsordnung im Schweden der 1930er und 1940er Jahre siehe außerdem: Norbert Götz: Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden 2001. Siehe außerdem: Dorothy Wilson: The Welfare State in Sweden. A Study in Comparative Social Administration, London 1979; Leif Lewin: Ideology and Strategy. A Century of Swedish Politics, Cambridge 1988; Tim Tilton: The Political Theory of Swedish Social Democracy: Through the Welfare State to Socialism, Oxford 1990; Malcolm B. Hamilton: Democratic Socialism in Britain and Sweden, London 1989; Francis Castles: The Social Democratic Image of Society. A Study of the Achievements of Scandinavian Social Democracy in Comparative Perspective, London 1978.

336

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Erfahrungen in Norwegen eingegangen werden, da diese zum Teil sehr starken Eindruck auf sie machten. Willy Brandt hat seinen norwegischen Erfahrungen einen hohen Stellenwert für seine politische Entwicklung zugemessen, einen höheren als seinen schwedischen Jahren.225) Deutsche Sozialisten und Sozialdemokraten in Norwegen pflegten Beziehungen zur Norwegischen Arbeiterpartei unter Martin Tranmäl und arbeiteten in den dortigen Organisationen mit. So arbeitete beispielsweise die SAP, die in Skandinavien einen Exilschwerpunkt hatte, in Norwegen mit der Arbeiterpartei und mit der Intellektuellenvereinigung Mot Dag zusammen.226) Das SAP-Mitglied Brandt, der sich sehr bald von Mot Dag distanzierte und dessen Verhältnis zur Norwegischen Arbeiterpartei anfangs keineswegs konfliktfrei war, beschreibt eindringlich die Wirkung, die Tranmäls Form des Sozialismus ebenso wie Norwegens geistiges

Klima der Toleranz und Offenheit für ihn hatte. Die norwegische Arbeiterpartei war auf der einen Seite, über Schweden, von deutschen marxistischen Traditionen und französischen syndikalistischen Einflüssen geprägt, auf direktem Wege aber durch Impulse aus den USA. Diesen Einfluß schreibt Willy Brandt, neben den durch die Seefahrt entstandenen kulturellen Kontakten zum angelsächsischen Raum und den hohen Auswanderungszahlen in die USA, nicht zuletzt „der für Jahrzehnte führenden Persönlichkeit der norwegischen Arbeiterpartei: Martin Tranmäl" zu, den zwei USAAufenthalte Anfang des Jahrhunderts stark geprägt hatten.227) 1905 hatte er in Chicago an der Gründung des syndikalistischen und revolutionären Gewerkschaftsbundes Industrial Workers of the World (IWW)228) teilgenommen und die Überzeugung mit nach Hause gebracht, Industriegewerkschaften müßten an die Stelle von Innungsgewerkschaften treten. Unter Tranmäl wurde der „Weg der Arbeiterpartei vom organisations- und wortstarken Linkssozialismus zur Sozialdemokratie eigener Prägung" vollzogen, bis sich die Partei 1939 ein neues Grundsatzprogramm gab, in dem nach Brandts Ansicht vieles von dem zu finden war, was die SPD dann später im Godesberger Programm zu Papier brachte: „Die Festlegung auf ,den Marxismus' kam nicht mehr vor. Man stützte sich auf die gemein-

samen Interessen von Arbeitern, Bauern und Fischern. Der Wille zur .gesellschaftlichen Regulierung und Planung' des Wirtschaftslebens verband sich mit der Absage an Diktatur in jeglicher Form. Eine .schlagkräftige' Demokratie sollte dem arbeitenden Volk dienen, die

225)

Brandt: Links und Frei, S. 82-96; Einhart Lorenz: Willy Brandt in Norwegen. Die Jahre des Exils 1933-1940, Kiel 1989; Lorenz: Mehr als Willy Brandt; Lorenz: Exil in Norwegen. 226) Lorenz: Mehr als Willy Brandt, S. 108-117; siehe dort auch das Kapitel .Arbeit in der skandinavischen Arbeiterbewegung', S. 133-138. Zur SAP siehe: Lorenz: Hier oben in Skandinavien. 227) Siehe hierzu und zum Folgenden: Brandt: Links und Frei, S. 88-96, hier S. 91. 228) Zu den IWW, einer Konkurrenzorganisation der AFL, siehe Melvyn Dubofsky: We Shall Be All. A History of the Industrial Workers of the World, Chicago 1969.

2. Wertewandel durch die Macht

Erfahrungen des Exils

337

mit viel ,linkem' Verbaliszu erobern. Alles in allem wurde ein Klassenprogramm durch ein breites und eigenständiges demokratisches Reformprogramm abgelöst."229) -

mus -

Brandt beschreibt anschaulich die konkurrierenden Einflüsse der deutschen Tradition und seiner neuen Umgebung, die bei ihm zu einer Art „Doppeldenken" geführt hätten: als Norweger war er Reformist und als Deutscher weiterhin revolutionärer Sozialist. Die weitere Flucht ins schwedische Exil nach Stockholm beschreibt er als ein „doppeltes Exil", das ihn aus der neuerworbenen Heimat erneut in die Fremde brachte.230) Brandt engagierte sich in Schweden vor allem in internationalen Aktivitäten, hielt Kontakt zum deutschen Exil in London und New York. Auch über schwedische Freunde hielt Brandt Kontakte in die USA. Walther Reuther kannte er persönlich.231) Zugleich bemühte sich Brandt gemeinsam mit anderen SAP-Mitgliedern um die Schaffung einer einheitlichen Partei der demokratischen Sozialisten, woraus im Herbst 1944 als Konsequenz der Eintritt der schwedischen SAP-Gruppe in die dortige SPD-Landesgruppe folgte. An den „Gewerkschafts- und Kulturvereinigungen des deutschen Exils" beteiligte er sich nicht, und „[gewerkschaftlich blieb [er] bei den Norwegern."232) Auch publizistisch blieb Norwegen sein Thema. Auch Schweden hat jedoch eine ganze Zahl von Emigranten geprägt. Besonders Exilmitglieder der KPD und der SAP haben sich durch ihre schwedischen Erfahrungen in ihrem weiteren politischen Weg beeinflussen lassen. So spielten die Exiljahre in Schweden zum Beispiel für Herbert Wehner eine wichtige Rolle, wie Michael Scholz betont: „Der Dreh- und Angelpunkt der Biographie Herbert Wehners liegt in Schweden, wo er 1941 als hochrangiger KPD-Funktionär eingetroffen war und das er im Herbst 1946 mit starken Sympathien für die SPD verlassen sollte."233) Ob allerdings Herbert Wehners Abkehr vom Kommunismus, die er während seiner Exilzeit in Schweden vollzog, auf die Erfahrungen mit dem Exilland zurückzuführen ist, ist eher fraglich. Wehners Entwicklung hat ihre Ursachen eher in den Erfahrungen, die er während seines vorangegangenen Moskauer Exils mit dem stalinistischen Kommunismus machte, mit dem Schicksal der KPD-Mitglieder im Widerstand und den stalinistischen Säuberungen.234) Helmut Schmidt gab 1990 in seinem Nachruf auf Wehner eine Antwort auf die Frage nach den Motiven für dessen Abkehr vom Kommunismus, die Wehner wohl am ehesten gerecht wird: „Zunächst viel-

Willy

229) Brandt: Links und Frei, S. 95. 23°) Für die Zitate: Ebda., S. 96, 319. 231) Ebda., S. 328. 232) Ebda., S. 326. 233) Michael F. Scholz: Herbert Wehner

in Schweden 1941-1946, in: Exilforschung, 15/1997, S. 201. 234) Scholz: Wehner in Schweden, Berlin 1997; Reinhard Müller: Die Akte Wehner. Moskau 1937 bis 1941, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1994.

338

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

leicht, weil ihn seine äußere Lebenssituation dazu gezwungen hat; dann aber,

weil er Demokratie erlebt und gelernt hat."235) Ein weniger bekannter Kommunist vom rechten Flügel der Kommunistischen Partei, nämlich Siggi Neumann, hat ebenfalls im schwedischen Exil einen Wandlungsprozeß durchgemacht. Er wandte sich in dieser Zeit den Sozialisten in der SAP zu, mit denen gemeinsam er sich schließlich der SPD annäherte.236) Inwieweit seine neuen politischen Positionen auf schwedische, also externe, Einflüsse zurückzuführen sind und inwieweit auf die Kooperation im Exil, läßt sich bei Siggi Neumann jedoch kaum nachweisen. Es muß daher bei der Feststellung bleiben, daß er während seiner Exilzeit den Weg vom Kommunisten zum engagierten Reform-Sozialdemokraten und -Gewerkschafter vollzogen hat. Mitte der 1950er Jahre vertrat er jedenfalls Positionen, die nicht mehr traditionell sozialistisch genannt werden können. Er erklärte beispiels-

weise,

„dass mir die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Planung der Wirtschaft völlig wurscht [ist], ja, dass sie geradezu gemeingefährlich sein [kann]".237)

Zur Aufgabe der Gewerkschaften vertrat er die Ansicht, „dass die Gewerkschaftsbewegung ihre Aufgabe

nur

erfüllen kann,

wenn

sie eben und ge-

rade nur trade-unionistisches .Bewußtsein' hat und eben keine sozialistische Ideologie. Mit anderen Worten [...]: unsere Kritik, ganz besonders gegenüber der Gewerkschaftsbewegung, kann sich nur dagegen richten, dass sie nicht mit Energie und Zähigkeit und ausschliesslich um gewerkschaftliche Tagesforderungen kämpft, Lohnf] und Arbeitszeit etc., während Sozialismus, Sozialisierung und die deutsche Variante .Mitbestimmung' sehr problematische .Gewerkschaftsaufgaben' sind und in einer Periode der Restauration zwangsläufig zur Kompromittierung der Mitbestimmungsidee der Arbeiterschaft führen muss."238)

Einerseits kann man also durchaus von .skandinavischen' Erfahrungen sprechen, andererseits muß man dabei aber die Unterschiede zwischen den Ländern sowie die Exilwege und spezifischen Kontakte beachten. Eine Akkulturation in Schweden dürfte traditionell sozialdemokratische Positionen eher bestärkt haben. Wer sich dagegen an die norwegische Arbeiterbewegung annäherte, wird sich eher von marxistischen Grundpositionen weg- und zu angelsächsischen Vorstellungen von Arbeitsbeziehungen hinbewegt haben. Willy Brandts starke soziale und politische Einbindung in Norwegen ist zwar eher ein Sonderfall,

235)

Helmut Schmidt: Ein großes Vorbild. Zum Tod von Herbert Wehner, in: Die Zeit, Nr. 5, 26. Januar 1990, zit. in: Scholz.: Herbert Wehner in Schweden 1941-1946, in: Exilforschung, 15/1997, S. 212. 236) Zur SAP siehe: Lorenz: Hier oben in Skandinavien; Grebing: Entscheidung für die SPD. 237) Siggi Neumann an Peter v. Oertzen, 26. März 1957, AdsD, NL Siggi Neumann, Box 6, Fsz. 12;. vgl. auch Siggi Neumann an Peter v. Oertzen, 22. Januar 1957, AdsD, NL Siggi Neumann, Box 6, Fsz. 11. 238) Siggi Neumann an Peter v. Oertzen, 23. Juli 1957, AdsD, NL Siggi Neumann, Box 6, Fsz. 12. (Hervorh. im Orig.)

2. Wertewandel durch die

339

Erfahrungen des Exils

macht aber dennoch deutlich, welche Möglichkeiten für eine tiefgreifende Akkulturation bestanden und zeigt die potentielle politische Wirkungskraft solcher Erfahrungen auf. Zumindest im schwedischen Exil war es dagegen auch möglich, daß die deutschen Gewerkschafter oder Sozialisten ganz unter sich blieben und mit den politischen Organisationen des Landes nicht in Kontakt kamen. Akkulturation fand unter solchen Umständen, jedenfalls im Bereich der politischen Kultur, nicht statt. c.

Fazit

Das sozialistische Exil hat einen enormen Wandel durchgemacht, der sich auf seine Struktur und seine Programmatik auswirkte. Mit Kriegsbeginn war die Abkehr von vertrauten Positionen aus der Weimarer Zeit vollzogen, die deutsche Arbeiterbewegung irreversibel in einen kommunistischen und einen sozialistisch/sozialdemokratischen Flügel gespalten, und es verschoben sich die Intentionen des Exils auf die organisatorische und programmatische Nachkriegsplanung. Zwischen 1941 und 1945 kam es zu einer Neuorientierung, die auf zwei hauptsächliche Einflüsse zurückzuführen ist: die Wiedervereinigung der nichtkommunistischen deutschen Arbeiterbewegung und die politischen und kulturellen Erfahrungen in den Gastländern. Gerade diese externen Einflüsse haben für viele der Emigranten aus der deutschen Arbeiterbewegung eine große Rolle bei ihrer ideellen Neuorientierung gespielt. Der Grad dieses Einflusses hing dabei von der persönlichen Disposition, der jeweiligen politischen Biographie und den allgemeinen wie individuellen Umständen im Gastland ab. Insgesamt waren die Angehörigen der Splittergruppen neben dem ISK besonders Neu Beginnen, das hier nur aus Gründen der Eingrenzung unserer Untersuchung auf die späteren Netzwerksteilnehmer außen vor bleibt den fremden Einflüssen gegenüber aufnahmebereiter als die Vorstandsmitglieder der Sozialdemokratischen Partei im Exil. Anders als die altgedienten Partei- oder Gewerkschaftsfunktionäre wie Friedrich Stampfer und Fritz Tarnow, oder auch die jüngeren, wie Erich Ollenhauer, die sich als Treuhänder des traditionellen Erbes verstanden, machten die linken Abweichler einen Prozeß der Akkulturation durch. Sie waren schon in den 1920er und 1930er Jahren mit der herrschenden Meinung der Partei unzufrieden gewesen und hatten zudem einen stärkeren Bruch in ihrem Weltbild hinter sich gebracht. Dadurch waren sie offen für Neues und zur Auseinandersetzung mit dem Fremden bereit. Dieser Unterschied machte sich dann auch in den politischen Positionen und Zielen beider Seiten nach 1945 bemerkbar. Schematisch vereinfacht läßt sich sagen, daß Akkulturation also durch Kulturkontakte hervorgerufene Veränderungen von Werten, Normen und Einstellungen bei Personen, der Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Qualifikationen, Veränderungen von Verhaltensweisen und .Lebensstilen' sowie -

-

-

340

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Veränderungen der Selbstidentität dann erfolgte, wenn bereits eine ideelle Desorientierung, ein Bruch im Weltbild oder der Verlust der politischen Heimat vorangegangen waren und wenn zugleich im Gastland sozialer oder politischer Anschluß gefunden wurde, sei es in Form von Diskussionszirkeln oder Freundschaften mit Einheimischen oder in Form von organisatorischer Anbindung an dortige Parteien und Verbände. Mit Akkulturation, das muß hier noch -

einmal ganz deutlich gesagt sein, ist nicht die Übernahme eines fremden Weltbildes en bloc gemeint. Die neuen Erfahrungen verbinden sich vielmehr mit den alten, sie ersetzen das eigene Denken aber nicht, sondern werden darin eingebaut und bilden so den praktischen Erfahrungsschatz, der einer politischen und ideellen Positionsbestimmung als Grundlage dient. Auch muß man bei der Frage nach den Erfahrungen im Gastland die jeweiligen Zeitumstände berücksichtigen, gerade bei der Frage nach den in Großbritannien, den USA oder Schweden gültigen Werten und nach der politischen Praxis der dortigen Arbeiterbewegungen. Es handelt sich meist um Erfahrungen in den Jahren 1940 bis 1946, die durch den Krieg geprägt waren, der zu einer bis dahin unüblichen Verflechtung von Politik und Gesellschaft, zu staatlichem Eingreifen in die Wirtschaft und zur Beteiligung der Gewerkschaften an der Regierungspolitik führte. Diese zeitgeschichtlichen Spezifika kommen als Erfahrungswerte zu den allgemeinen länderspezifischen Wertewelten und Normen mit hinzu. Die Erfahrungen der Exilländer führten bei vielen deutschen Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und Sozialisten zu einem „synthetisierenden Bewußtsein", das sie mit jeweils beiden Kulturen vertraut sein ließ und sie für eine spätere Mittlerfunktion etwa zwischen einem traditionell deutschen Sozialismusverständnis und Auffassungen der angelsächsisch-westlichen Arbeiterbewegungen, wie dem Konsenskapitalismus, prädestinierte.239) Durch diese Vertrautheit mit dem Fremden wurde aber zugleich das Vertraute fremd. Den Exilanten wurden aus der Perspektive des Auslands die Besonderheiten der deutschen Arbeiterbewegung deutlich, sie erlebten die Unterschiede zwischen den eigenen Traditionen, Werten und Organisationsstrukturen und denen der fremden Parteien und Gewerkschaften im Alltag. Der Blick aus der Distanz ließ alte Selbstverständlichkeiten nun als Eigentümlichkeiten erscheinen, die nicht mehr die einzig denkbare Variante darstellten und die im Zweifel auch verändert werden konnten. Wie sehr sich ihre Wahrnehmung verändert hatte, wurde den Emigranten aber oft erst nach ihrer Rückkehr vor Augen geführt, als sie erleben mußten, daß es eine wirkliche Heimkehr nicht gab. Die erneute Fremdheit bestand nicht nur im materiellen Sinne, wie es etwa Max Brauer erfahren mußte, als er bei

239) Brandt: Links u.a.:

und Frei, S. 96; Krohn: Die Vereinigten Staaten Handbuch der deutschsprachigen Emigration, S. 463f.

von

Amerika, in: Ders.

3. „Nie wieder Weimar"

341

der Rückkehr sein Altona nicht mehr vorfand, da es in Trümmern lag.240) Sie selbst und ihr Weltbild hatten sich verändert, und da die in Deutschland gebliebenen Freunde und Genossen diese Erfahrung nicht teilten, blieben viele Remigranten zunächst auch in Deutschland fremd.

3. „Nie wieder Weimar": Die Remigration und der Weg in die SPD 1945-1949 Die Spitze will ernsthaft alte Partei usw.

etwas

Neues: ,Nie wieder Weimar', nie wieder die

Siggi Neumann241)

Remigranten stellten in der westdeutschen Arbeiterbewegung der Nachkriegszeit eine zahlenmäßig nur kleine Gruppe dar, die aber eine sehr aktive Rolle auf den Entscheidungsebenen von SPD und Gewerkschaften spielte. Für den Bereich der Remigration liegen erst wenige Zahlen vor, meist handelt es Die

sich um Schätzwerte oder erste Auszählungen.242) Danach sind nicht mehr als vier Prozent der emigrierten Juden nach Westdeutschland zurückgekehrt; auf diesen Wert kommen Werner Röder und Jan Foitzik übereinstimmend. Zahlen für Ostdeutschland liegen nicht vor. Jedoch sind wohl etwa 68% der politischen Emigranten nach Deutschland und Österreich remigriert. Aus einem Sample von 750 emigrierten Sozialdemokraten, das Jan Foitzik auszählte, waren 31,1% im Ausland geblieben, 49,5% zurückgekehrt.243) Von den Mitgliedern der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien kehrten 63% zurück, von der schwedischen Gruppe etwa die Hälfte. Dabei war die Rückkehr nach Deutschland mit Schwierigkeiten verbunden, nicht zuletzt wegen der restriktiven Remigrationspolitik der Alliierten.244) Aber auch die materiellen Bedingungen im Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit machten die Remigration zu einem Wagnis. Herbert Weichmann schreibt, daß sein Entschluß, „nach 15 Jahren Abwesenheit aus den Vereinigten Staaten in das kriegszerstörte Europa zurückzukehren," bei deutschen

240)

wildt: Die Kraft der fremdes Land.

Verblendung,

S. 176. Siehe

allgemein:

Krauss: Heimkehr in ein

241) Siggi Neumann an lan Pollák, 30. Juli 1946. AdsD, NL Siggi Neumann, Box 7, Fsz. 13. 242) Foitzik: Rückkehr, S. 256f.; zur Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien siehe Röder: Exilgruppen, S. 59-62; zur Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Schweden siehe Günther: Gewerkschafter im Exil.

243) Foitzik: Rückkehr, S. 256. 244) Sehr differenziert ist hierzu: Foitzik:

Zwischen den Fronten, S. 259-262. Vgl. auch: Krauss: Heimkehr in ein fremdes Land, S. 62-72; Dies.: Die Rückkehr der „Hitlerfrischler". Die Rezeption von Exil und Remigration in Deutschland als Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945, in: GWU, 48/1997, S. 151-160, hier S. 152-154, mit weiteren An-

gaben.

342

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

wie amerikanischen Freunden genau die gleichen Wirkungen gezeitigt habe, nämlich Ablehnung und Unverständnis.245) Für viele Mitglieder des linken Exils war die Rückkehr jedoch eine Frage der Selbstachtung, denn sie hatten seit 1933 darauf hingearbeitet, das befreite Deutschland neu zu gestalten. Nach dem Nationalsozialismus sollte nun der demokratische Sozialismus in Deutschland einziehen, sollten Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Wirtschaftsdemokratie in der deutschen Gesellschaft verankert werden.246) Im Exilland zu bleiben hätte bedeutet, die Hoffnungen, Diskussionen und Planungen vieler Jahre aufzugeben, auf ihre Umsetzung zu verzichten. Das Exil kehrte daher zu einem beträchtlichen Teil in das zerstörte Deutschland zurück, die Sozialdemokraten und Sozialisten unter ihnen gingen, sobald es die Umstände erlaubten, in die westlichen Besatzungszonen.

Der größere Teil der nichtkommunistischen Linken fand nach Kriegsende den Weg in die SPD. Dieser Schritt war während der Exilzeit angebahnt worden und hatte längst nicht nur taktische Motive. Die Zersplitterung der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik wurde von großen Teilen des Exils für den Erfolg der Nationalsozialisten mitverantwortlich gemacht. Aus diesen Fehlern wollte man lernen. Aber nicht nur in .struktureller' Hinsicht war .Weimar' für die Angehörigen der Splittergruppen unwiderruflich vorbei. Auch in den Grundfragen der Programmatik hatte sich viel verändert. Demokratischer Sozialismus unter dem einheitlichen Dach der SPD galt ihnen nun als einzig realistische Alternative zum Kommunismus.247) Dennoch fiel diese Entscheidung besonders den ehemaligen Kommunisten nicht leicht, verlangte sie doch das abschließende Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Hatte sich der Schritt in die Sozialdemokratie während der Exilzeit noch vertagen lassen, standen sie nach der Rückkehr vor der Alternative KPD oder SPD, eine dritte Möglichkeit

245) 246)

Weichmann: Alltag in USA, S. 7. Zu den Nachkriegsplanungen des sozialistischen Exils siehe: Helga Grebing: Was wird aus Deutschland nach dem Krieg? Perspektiven linkssozialistischer Emigration für den Neuaufbau Deutschlands nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur, in: Exilforschung, 3/1985, S. 43-58; Wolfgang Benz: Konzeptionen für die Nachkriegsdemokratie. Pläne und Überlegungen im Widerstand, im Exil und in der Besatzungszeit, in: Thomas Koebner/Gevd Sautermeister/Signd Schneider, Hg.: Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939-1949, Opladen 1987, S. 201-213; Willi Jasper: Entwürfe einer neuen Demokratie für Deutschland. Ideenpolitische Aspekte der Exildiskussion 1933-1945. Ein Überblick, in: Exilforschung, 2/1984, S. 271-298; Foitzik: Revolution und Demokratie; Klotzbach: Programmdiskussion; Alfons Söllner: Zwischen totalitärer Vergangenheit und demokratischer Zukunft. Emigranten beurteilen die deutsche Entwicklung nach 1945, in: Claus-Dieter Krohn, Hg.: Exil und Remigration (Exilforschung Bd. 9), München 1991, S. 146-170, bes. S. 148-154. 247) Vgl. Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration; Grebing: Entscheidung für die SPD; ¿mit: ISK, S. 335 f.

3. „Nie wieder Weimar'

bestand nun nicht mehr. blick des Jahres 1946:

343

Siggi Neumann beschrieb die Situation aus dem Rück-

„Mit dem Krieg erfolgte eine Zerstreuung der ehemaligen] Gruppenmitglieder [der .Versöhnler', später der sog. ,Berliner Opposition', J.A.] in alle[r] Herren Länder. (Ich spreche

da immer von der Emigration.) Der Verlauf des Krieges und das Kriegsende zeitigte auch eine politische Zerstreuung der Freunde. Jetzt kann gar keine Rede mehr davon sein, dass noch irgendein politischer Zusammenhalt der Freunde vorhanden ist. Wir sind als Gruppe ebenso gescheitert, wie alle anderen Reste der ehemaligen deutschen Arbeiterbewegung. Unser Ziel, die Regeneration der Komintern hat sich als Illusion herausgestellt. Welche Wege auch immer die ehemfaligen] Gruppenmitglieder in der Emigration in den letzten Jahren gegangen sein mögen, kein einziger hat den Weg zur KPD zurückgefunden u[nd] stehen ihr in unversöhnlicher Gegnerschaft gegenüber. Andererseits zeigen die Erfahrungen aller oppositioneller Gruppen, dass die Neubelebung nicht auf diesem Weg zu erreichen ist. Neben den beiden grossen Parteien, SP und KP, gibt es keine fruchtbaren politischen Einsatzmöglichkeiten. Es ist nun für viele Freunde psychologisch unerhört schwierig aus dieser Erkenntnis auch die Konsequenzen zu ziehen, d.h. da sie nicht zur KP gehen wollen und können, zur Sozialdemokratie zu gehen. In der Emigration kann man ja auch diese Entscheidung hinauszögern. Als ich Ende Januar [1946] von Schweden zurückkehrte, war ich aber gezwungen, mich über kurz oder lang zu entscheiden. Nach vielen Diskussionen mit Edu [Wald] u[nd] seinen ehemaligen Freunden, mit anderen KP-Leuten, mit ehemaligen] KPOund SAP-Leuten, nachdem ich ein wenig versucht hatte, die deutsche Wirklichkeit von innen heraus kennenzulernen, entschloss ich mich Anfang April [1946] zur Sozialdemokratie zu

gehen."248)

Dieser Schritt fiel ihm nicht leicht, er bereue ihn jedoch nicht, denn die Parteispitze wolle „ernsthaft etwas Neues: ,Nie wieder Weimar', nie wieder die alte Partei usw." Die Frage sei jedoch, ob es sich an der Basis auch durchsetzen würde können, denn dort herrsche nach wie vor „Zahlabendgeist".249) Die Mitglieder des ISK und der SAP hatten den Weg in die SPD schon im Exil vollzogen. Der ISK legte dabei großen Wert darauf, eigene Elemente mit einzubringen, wie er sich auch schon in Zeiten der Londoner Union gegen den Vorwurf etwa Max Brauers aus den USA wehrte, „Ollenhauers Programm sei ein rein sozialdemokratisches, worauf sich ja nun einige, die nicht Sozialdemokraten sind, des Zuges der Zeit wegen geeinigt haetten."250) Das „Ziel der politischen Einheit in einer demokratisch-sozialistischen Partei" wurde im September 1945 noch einmal bekräftigt, einer dritten Arbeiterpartei eine Absage erteilt. Da SPD und KPD in Deutschland auf absehbare Zeit nebeneinander be-

248) Siggi

Neumann an Karl Grunert, 17. August 1946, AdsD, NL Siggi Neumann, Box 3, Fsz. 6 (Hervorh. im Orig.). Vgl. auch Siggi Neumann an Jan Pollák, 30. Juli 1946, AdsD, NL Siggi Neumann, Box 7, Fsz. 13. Auf Edu Wald wird im folgenden noch näher eingegangen. 249) Siggi Neumann an Jan Pollák, 30. Juli 1946, AdsD, NL Siggi Neumann, Box 7, Fsz. 13. 25°) Erna [Blencke] an Willi Eichler, 2. Juli 1943, AsdD, Bestand IJB/ISK, Box 48. Blencke teilte Eichler mit: „Ich habe den Vorwurf anhand von 2 Punkten des Programms widerlegt: die innere Parteidemokratie, die das neue Programm enthielt und die Ablehnung aller Jedoch' Massnahmen von 1918 (siehe Brief der USPD an den SPD Vorstand) fuer die Zukunft."

344

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

stehen würden, „totale Einheit" daher nicht zu verwirklichen sei, müsse man sich für eine von beiden entscheiden, und dies könne aus Sicht der SAP nur die SPD sein. „Einigung im Rahmen der Sozialdemokratie" war die angesichts der Umstände realisierbare Etappe auf dem Wege zu einer umfassenden Einheit der deutschen Arbeiterbewegung.251) Als Motive für diesen Schritt nannte die Gruppe die Veränderung der Grundlagen und Bedingungen für einen Neuaufbau der Arbeiterbewegung durch die Ereignisse in Deutschland seit 1933. Um die anstehenden Aufgaben bewältigen zu können, müsse die frühere Zersplitterung von Beginn an verhindert und „neben einer einheitlichen Gewerkschaftsbewegung eine sozialistisch-demokratische Einheitspartei" geschaffen werden.252) Die Stockholmer SAP wollte hierbei mit gutem Beispiel vorangehen. Auch sie betrachtete ihren Eintritt in die SPD nicht als Preisgabe der eigenen Erfahrungen, sondern als kontinuierliche Weiterentwicklung der SAP-Politik „in der kurzen Periode der legalen Existenz" in Weimar sowie in Illegalität und

Exil.253) Die Mitglieder

der

ehemaligen Splittergruppen

kehrten nach Deutschland

zurück, um in der SPD am Neuaufbau der deutschen Arbeiterbewegung teilzunehmen und dabei ihre Erfahrungen einzubringen. Sie trafen dabei auf zahlreiche Schwierigkeiten. Neben den ganz praktischen Problemen, die der Versuch einer frühzeitigen Rückkehr mit sich brachte, und der materiellen Not in der neuen, alten Heimat waren es vor allem programmatische und weltanschauliche Fragen, die ihnen zunächst eine Eingliederung in das Land und in die Organisationen der neu erstehenden Arbeiterbewegung erschwerten. Siggi Neumann berichtete 1946: „Natürlich muß ich mich in vielen Dingen radikal umstellen, viele Einstellungen über Bord werfen, was ja aus de[n] verschiedenen Erlebnissen in den 13 fahren zu erklären ist. Aber nicht alles; so viele Dinge haben wir aus der Emigration den Leuten hier doch voraus und

ergänzt man sich halt."254) Die Gruppen Exil und innerdeutsche Organisationsreste blieben klar erkennbar, begannen aber bald zu kooperieren. Die Remigranten versuchten, die eigenen Lernprozesse und daraus resultierenden Werthaltungen in ihrem jeweiligen Umfeld zu verbreiten. In der SPD und den Gewerkschaften hatten sie damit zunächst wenig Erfolg, dort setzten sich zunächst häufig jene durch, die in politischer Kontinuität zu Weimar standen.255) -

so

-

-

für die SPD, S. 17; für das Zitat: Erklärung von Willy Brandt, Stefan Szende und Ernst Behm vom 25. September 1945 über den Eintritt in die SPD, abgedr. in: Ebda., S. 42-48, hier S. 46.

251) Vgl. Grebing: Entscheidung

252) Erklärung ehemaliger SAP-Mitglieder in Stockholm zum Eintritt in die Stockholmer SoPaDe-Ortsgruppe vom 30. September 1944, abgedr. in: Ebda., 37f; hier S. 38. 253) Erklärung von Willy Brandt, Stefan Szende und Ernst Behm vom 25. September 1945 über den Eintritt in die SPD, abgedr. in: Ebda., S. 42-48, hier S. 44. 254) Siggi Neumann an Jan Pollák, 30. Juli 1946, AdsD, NL Siggi Neumann, Box 7, Fsz. 13. 255) Vgl. zum Folgenden auch: Julia Angster: Wertewandel in den Gewerkschaften. Zur

345

3. „Nie wieder Weimar"

Der Partei vorstand der Exil-SPD, von dem sich nur wenige um Friedrich Stampfer in der German Labor Delegation für eine Wiedererrichtung des alten Parteiapparates aussprachen, wurde dadurch, daß die westlichen Alliierten seinen Mitgliedern die Einreise nach Deutschland zunächst verweigerten und durch das Verbot überregionaler politischer Betätigung in den Westzonen von jeder wirklichen Einflußnahme auf den Wiederaufbau der Partei im wahrsten Sinne des Wortes ausgeschlossen.256) Im Exil gemeinsam mit den linken Sozialisten erarbeitete theoretische Neuerungen wie beispielsweise die Vorstellungen der Londoner Union, die bereit war, im Rahmen einer sozialdemokratischen Volkspartei mit dem liberalen Bürgertum politisch zusammenzuarbeiten und so die Grundlage einer demokratischen Nachkriegsordnung gemeinsam zu bilden, blieben fürs erste ohne Wirkung.257) Die SPD wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Geiste des Erfurter Programms wiederhergestellt als Klassen- und Weltanschauungspartei, für die Sozialisierung, Planung und zentrale Lenkung der Wirtschaft grundlegende Kriterien ihres Sozialismusverständnisses geblieben waren.258) In der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung ging die Neugründung regional und zunächst „ohne überregionale Regie und Kommunikationsmöglichkeiten" vonstatten,259) so daß der Einfluß der Remigranten auch hier stark eingeschränkt blieb. Alle Beteiligten aber wollten die Richtungsgewerkschaften der Weimarer Zeit durch eine politische Einheitsgewerkschaft ersetzen; dies war die Lehre, die man aus dem Ende der Weimarer Republik gezogen hatte. Im Ziel der Einheit der demokratischen Arbeiterbewegung waren sich die Gewerkschafter aus dem Exil mit dem ehemaligen Widerstand in Deutschland einig.260) Auch in den Auseinandersetzungen um die Struktur dieser Einheitsgewerkschaft, vor allem um den Grad der Zentralisierung, verliefen die Konfliktlinien nicht zwischen Exil und Daheimgebliebenen.261) Den strukturellen Neuerungen stand jedoch eine wesentliche inhaltliche und personelle Kontinuität zur Weimarer Zeit gegenüber. Die Remigranten, besonders jene aus dem angelsächsischen Ausland, teilten die Einschätzung der Westalliierten, vor allem der amerikanischen Militärregierung und des State Department in Washington, nach der den westdeutschen -

-

Rolle gewerkschaftlicher Remigranten in der Bundesrepublik der 1950er Jahre, in: Krohn/ zur Mühlen: Rückkehr und Aufbau nach 1945, S. 111-138. 256) Röder: Exilgruppen, S. 244. 257) Vgl. für diese Vorstellungen u.a. Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration. 258) Kaden: Einheit oder Freiheit, S. 281. 259) Schönhoven: Die deutschen Gewerkschaften, S. 199. 260) Vgl. Oppenheimer. Landesgruppe deutscher Gewerkschafter; Günther: Gewerkschafter im Exil; Gerhard Beier: Die illegale Reichsleitung der Gewerkschaften 1933-1945, Köln 1981. 261) Vgl. als Überblick zu den Ergebnissen: Kaiser: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 11, S. IX-LIII, hier S. IX.

346

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

Gewerkschaften eine gesellschaftspolitische und wirtschaftspolitische Schlüsselrolle zukam beim Neuaufbau der Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus und, mit Beginn des Kalten Krieges, in der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und kommunistischer Herrschaft. Während sich die Amerikaner, und mit ihnen nicht wenige Remigranten, eine Stabilisierung der liberal-demokratischen und marktwirtschaftlichen Verhältnisse durch die Einbindung der Gewerkschaften erhofften, sahen die westdeutschen Gewerkschaftsführer um Hans Böckler ihre Hauptaufgabe darin, Staat und Gesellschaft antikapitalistisch und demokratisch-sozialistisch neuzugestalten. Mit ihren Forderungen griffen die alten ADGB-Funktionäre auf die Vorstellungswelt der traditionellen deutschen Arbeiterbewegung, auf Konzepte der späten 1920er Jahre, zu-

rück.262) Auch wenn die ehemaligen Angehörigen der linken Splittergruppen im Exil die Forderungen nach Umgestaltung der deutschen Wirtschafts- und Sozialordnung teilten und zum Teil zunächst auch am Ziel einer sozialistischen Gesellschaftsordnung festhielten, sahen sie sich in der SPD und den westdeutschen Gewerkschaften doch einem Traditionalismus gegenüber, den vor allem die Rückkehrer aus Großbritannien und den USA nicht mehr teilten. Die Enttäuschung von Remigranten wie beispielsweise Franz L. Neumann über den „Wiederbeginn der deutschen Arbeiterbewegung"263) und darüber, daß SPD und Gewerkschaften keinerlei Interesse an den Fähigkeiten und Konzepten intellektueller Remigranten wie ihm hatten, muß bitter gewesen sein. Denn weder die SPD noch die Gewerkschaften bekannten sich offen zu ihren Remigranten, zu einer Kontinuität ihrer Organisationen im Exil. Anders als die organisatorischen Überlegungen blieben die Programmentwürfe und theoretischen Überlegungen des Exils, seine Antworten auf die Frage, was Gewerkschaften denn in einer neuen Gesellschaft zu leisten vermöchten, welche Rolle sie gegenüber Staat, Gesellschaft und Individuum auszufüllen hätten, fürs erste ohne Einfluß in Gewerkschaften und SPD.264) Auch wenn sie ihre aus dem Exil mitgebrachten politischen und ideellen Ziele zunächst nicht durchsetzen konnten, gelang es dennoch einigen Remigranten, wie etwa Erich Ollenhauer, Fritz Heine, Ludwig Rosenberg und Werner Hansen, in bedeutende Positionen zu kommen. In den 1940er und 1950er Jahren stellten Remigranten tatsächlich mehr als die Hälfte des SPD-Parteivor-

standes.265) 262) Schönhoven: Deutsche Gewerkschaften, S. 209. 263) Erd: Reform und Resignation, S. 11. 264) Hier sei an den Versuch Willi Eichlers erinnert, der schon 1946 die Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms für die SPD forderte und damit an Schumachers Gegenwehr scheiterte. Vgl. Klotzbach: Programmdiskussion, S. 472. 265) Krauss: Die Rückkehr der Hitlerfrischler, S. 152. Im Parlamentarischen Rat, im Bundestag und in den Landtagen der westdeutschen Länder saßen (vor 1957) insgesamt 159 Emigranten. In Bund und Ländern fanden sich zahlreiche Minister oder Senatoren und sie-

3.

„Nie wieder Weimar"

347

Es stellte sich jedoch sehr schnell heraus, daß eine öffentliche Auseinandersetzung um den Weg der neuen Arbeiterbewegung in Westdeutschland kaum zu führen war, denn Remigranten konnten im emigrantenfeindlichen Klima der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft und der frühen Bundesrepublik nicht offen für ihre Ziele eintreten.266) Eine regelrechte Kampagne gegen ehemalige Emigranten setzte ein, die auf unglaublich niederem Niveau ideelle oder politische Einflüsse von außen abblockte, soweit sie von Deutschen kamen. Ihnen wurde vorgeworfen, ihr Land verraten zu haben, indem sie mit dem Feind kooperierten und sogar dessen Uniform trugen. Sie wurden als Feiglinge dargestellt, die sich im sonnigen Kalifornien geaalt hätten, während in der Heimat die Bomben fielen.267) Emigration wurde als ein Akt des freien Willens dargestellt, sie wurde nicht etwa als einzige Möglichkeit betrachtet, das eigene Leben zu retten, sondern galt als Verweigerung gegenüber dem Dienst am Vaterland. Diese Phase der Polemik gegen Emigranten dauerte bis Anfang/Mitte der 1950er Jahre. Ihr folgte eine Phase der Tabuisierung des Exils, die erst Ende der 1960er Jahre durch erste Versuche einer Aufarbeitung abgelöst wurde, die trotz eines deutlichen Perspektivenwechsels 1989/90 auch heute noch nicht

wirklich abgeschlossen ist.268) Jan Foitzik hat darauf aufmerksam gemacht, daß gerade die Ablehnungshaltung gegenüber der Remigration ein Hinweis auf deren tatsächlichen Einfluß für die Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft ist. Denn die „Emigrantenhetze" der 1950er Jahre läßt sich als Abwehr der von den Rückkehrern ausgehenden Modernisierungsimpulse werten und kann damit als „Indikator für die Bedeutung der politischen Remigration in der Entwicklung der Bundesrepublik" gelten.269) Zunächst aber erschwerten diese Umstände, neben den großen persönlichen Verletzungen, die damit einhergingen, die politische Arbeit der Emigranten ganz enorm. Sie mußten jederzeit mit derartigen Angriffen rechnen, die in der Bevölkerung auch großen Rückhalt fanden, und hatten keine Möglichkeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen. So fühlte sich beispielsweise Ludwig Rosenberg durch einen Artikel mit dem Titel „Neues Amt Rosenberg" in der FDP-Zeitschrift ,Die Plattform' derart verunglimpft, daß er sich bei Vizekanzler Franz Blücher (FDP) schriftlich ben Ministerpräsidenten mit Exilhintergrund. Patrik von zur Mühlen: Rückkehr unerwünscht? Die Deutschen und ihre Emigranten, in: Werner von BergenfWaher H. Pehle, Hg.: Denken im Zwiespalt. Über den Verrat von Intellektuellen im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1996, S. 127-139, hier S. 134. 266) Zu den Schwierigkeiten der Remigranten siehe Sven Papcke: Exil und Remigration als öffentliches Ärgernis. Zur Soziologie eines Tabus, in: Exilforschung, 9/1991, S. 9-24; Jan Foitzik: Politische Probleme der Remigration, in: Exilforschung, 9/1991, S. 104—114. 267) Vgl. Krauss: Die Rückkehr der Hitlerfrischler. 268) Krauss: Die Rückkehr der Hitlerfrischler, S. 154f; vgl. auch: Papcke: Exil und Remigration als öffentliches Ärgernis. 269) Foitzik: Rückkehr, S. 270.

348

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

beschwerte.270) Rosenberg, so der Artikel, sei „Emigrant a.D.", seine Einstellung gegen ein Regime sei in der Londoner Emigration zu einer Einstellung gegen Deutschland schlechthin geworden. Dort seien seine „Umsturzinstinkte" geschult und ihm „ein politisches und geistiges Profil" gegeben worden. Die

Zusammenarbeit der Gewerkschaften, die im übrigen in Ost wie West einem totalen Herrschaftswahn verfallen seien, mit dem Ausland sei ein „gefährlicher Bazillus" in der deutschen Auslandsapparatur. Staatsinteressen und Gruppenegoismus der Gewerkschaften stünden im Zweifel im Widerspruch zueinander. Der Autor geht sogar soweit, in der Politik der Gewerkschaften Parallelen zur Sprache von Röhm und Goebbels zu sehen: „Unsere Bewegung ist der Staat, wir müssen die Bewegung stärken, dann stärken wir den Staat." Blücher reagierte in einer kaum weniger verletzenden, wenn auch subtileren Weise, indem er den Artikel nicht pauschal verurteilte, sondern erklärte: „Ich darf Ihnen aber eine grundsätzliche Erklärung abgeben: Ich kenne die Not und kenne die Schmerzen, die viele unserer Landsleute entgegen ihren Willen zur Emigration gezwungen haben und ein verallgemeinerndes Urteil, das an dieser Not bewusst oder unbewusst vorbeiginge, habe ich immer abgelehnt und würde es immer ablehnen. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass Sie selbst in manchem Fall schon haben bedauern müssen, dass Emigranten aus dem früheren Erleben heraus sich in eine Stimmung und ein Handeln gegen ihr eigenes Land hineintreiben liessen, die Anlass zur Kritik boten und bieten. Aber das recht-

fertigt Niemanden, zu verallgemeinern."271)

Rosenberg war kein Einzelfall. Auch der bayrische SPD-Vorsitzende und ehemalige Emigrant Waldemar von Knoeringen wurde wegen seiner Arbeit für

den britischen Geheimdienst öffentlich als Hochverräter attackiert, diesmal in mehreren CDU-nahen Zeitschriften. Darin heißt es, bezugnehmend auf die Vorwürfe eines Herrn Hedler gegen Knoeringen:

„Von Knoeringen hat einigermaßen überzeugend dargetan, daß er nicht Mitglied des Geheimdienstes war, und es besteht kein Anlaß, ihm das nicht zu glauben. Er hat sich, wie er mitteilte, ,mit militärischen Dingen nie befaßt'. Andererseits erzählt er aber dem Gericht, daß er an einer Sendung des Londoner Rundfunks mitarbeitete, in der Kriegsgefangene dem

deutschen Volk die Sinnlosigkeit der Fortführung des Krieges klarmachen sollten. Die Briten haben Lord Haw-Haw, der dieselbe Tätigkeit unter umgekehrten Vorzeichen in Berlin ausübte, nach dem Kriege als Hoch- und Landesverräter gehängt. Die amerikanischen Pendants wanderten auf viele Jahre ins Zuchthaus. Sicher hat von Knoeringen Recht, daß die Fortsetzung des Krieges sinnlos war. Sicher ist aber auch, daß er sich nach deutschen Gesetzen strafbar gemacht hat. Kämen wir einmal in die Lage, uns gegen einen Angriff von Osten zu wehren, wird man dann ähnliche Aufforderungen, die etwa von geflüchteten Westdeutschen über den Moskauer Rundfunk an uns ergehen, als straffrei ansehen? Höchstwahrscheinlich nicht! Wenn nun von Knoeringens Vergehen straffrei bleibt wir sind für eine allgemeine Amnestie, was den letzten Krieg betrifft, damit endlich einmal Ruhe eintritt dann kann man aber auch niemand bestrafen, der sich auf den legalistischen Standpunkt stellt und -

-

27°)

W. Breidenbacher: Wieder ein Amt Rosenberg. Gefährliche Infiltration beim Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik, in: Die Plattform, 20. Juli 1951. 27') Franz Blücher an Ludwig Rosenberg, 11. August 1951, DGB-Archiv, Bestand BV, Abteilung Wirtschaftspolitik, 24/4925.

3. „Nie wieder Weimar"

349

die Tat so bezeichnet, wie sie den Buchstaben des Gesetzes nach bezeichnet werden sollte. Wie soll, wenn man es dem Ermessen jedes Einzelnen überlassen will, was Landesverrat ist und was nicht, jemals wieder Rechtssicherheit einkehren?"272)

Diese beiden Beispiele sollten genügen, um das geistige Klima zu beschreiben, dem sich die Rückkehrer in der frühen Bundesrepublik gegenüber sahen. Sie reagierten darauf, indem sie versuchten, nicht aufzufallen, und sich, wo möglich, nur wenig öffentlich äußerten. Vor allem aber mußten sie es vermeiden, auf die Erfahrungen des Exils zu verweisen.273) In dieser Situation lag es nahe, den engen Kontakt mit Gleichgesinnten zwar zu halten, nicht aber als Gruppe erkenntlich in Erscheinung zu treten. Die Erfahrungen des Exils und die dort entwickelten Ziele konnten nur unter ehemaligen Emigranten diskutiert werden. So versuchte man statt dessen, über den Weg der Stellenbesetzung durch einzelne, über die Positionierung politischer Freunde zunehmenden Einfluß auf die Organisationen der westdeutschen Arbeiterbewegung zu gewinnen. Die so entstehenden Kreise beruhten auf den Beziehungsgeflechten des Exils und überschnitten sich zugleich mit den alten Parteibeziehungen zwischen dem innerdeutschen Widerstand und dem Exil, deren Spuren innerhalb der SPD oder der Gewerkschaften noch zu finden waren. Die Verbindungen zu den alten Genossen aus den 1930er Jahren, als Exil und Widerstand noch in enger Verbindung gestanden hatten und als viele der späteren Emigranten auch noch im deutschen Widerstand aktiv gewesen waren, funktionierten nicht ohne weiteres wieder, zu deutlich war die ideelle und politische Auseinanderentwicklung der beiden Seiten. Es verband sie aber, neben der gemeinsamen Vergangenheit, der Antikommunismus und das Festhalten an einer einheitlichen demokratischen Arbeiterbewegung. Als sich der Beginn des Kalten Krieges und mit ihm die deutsche Teilung abzuzeichnen begann, sahen sich die Mitglieder des sozialdemokratischen und sozialistischen Exils in ihrer Ablehnung des Kommunismus bestätigt. Sie verstanden sich als Kämpfer gegen den Totalitarismus in jeder seiner Formen. Die gerade erst nach einem langen Krieg gegen den Nationalsozialismus wiedergewonnene Freiheit mußte nun gegen den .Ansturm des Kommunismus' von außen verteidigt werden, gegen die Expansionspolitik der Sowjetunion; aber auch gegen kommunistische Einflußnahme im eigenen Land, gegen Jnfiltra-

272)

Unter anderem etwa unter der Überschrift .Die Emigration' in: .Die Glocke' vom 3. Juli 1951. Siehe Fritz Heine an Jay Lovestone, 29. August 1951, GMMA, 18-003, 059/23. Heine macht Lovestone hier ausdrücklich auf die Emigrantenhetze in Westdeutschland aufmerksam und schickt den genannten Artikel auf deutsch und in englischer Übersetzung mit. Zu Waldemar von Knoeringen siehe: Mehringer: Waldemar von Knoeringen. 273) Patrik von zur Mühlen weist darauf hin, daß Remigranten im politischen Umfeld seit Anfang der 1950er Jahre dazu übergingen, ihren Emigrationshintergrund zu verschweigen. Erst in den 1960er Jahren wurde das Exil etwa in den biographischen Angaben über die Bundestagsabgeordneten im Bundestagshandbuch wieder erwähnt: zur Mühlen: Rückkehr unerwünscht?, S. 134 f. -

-

350

IV. Wertewandel bei den deutschen Reformern 1925-1949

tion'.274) Neben dieser Abwehr nach außen und innen galt es, die eigene freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung durch liberal-demokratische Reformen derart auszugestalten, daß sie aus eigener Stärke heraus dem Gegner keine Angriffsfläche bot.275) Die Tätigkeit der Remigranten in der SPD und in

den Gewerkschaften läßt sich grob in die Bereiche antitotalitärer Abwehr vor allem kommunistischer Weltsicht einerseits und pluralistischen Ausbaus der westdeutschen Gesellschaft andererseits einordnen. Diese ,doppelte Stoßrichtung' hatte ihre Politik mit derjenigen der amerikanischen Gewerkschaftsbünde, und zunächst vor allem der AFL, gemeinsam. Hier fanden die Remigranten im Nachkriegsdeutschland Ansprechpartner und Unterstützung. Denn die amerikanischen Gewerkschaftsbünde wiederum erkannten in den Remigranten schnell Partner, die für westliches Denken und konkret für die politischen Vorstellungen von AFL und CIO offen waren. Parlamentarismus, Pluralismus und Verbändedemokratie waren diesen Deutschen aus eigener Anschauung vertraut, auch wenn sie zum Teil ganz dezidiert am Sozialismus als Ziel festhielten. Hier waren diejenigen Kräfte, auf deren Unterstützung die AFL und der CIO angewiesen waren, deutsche Demokraten und Antikommunisten, die westlichem Denken aufgeschlossen gegenüberstanden, die bereit waren, eine gesellschafts- und wirtschaftspolitische Schlüsselrolle beim Neuaufbau der Gesellschaft nach dem Nationalsozialismus zu spielen und, mit Beginn des Kalten Krieges, ebenso in der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und kommunistischer Diktatur und die, im Falle der Rückkehrer aus Großbritannien und den USA, auch Englisch sprachen. Von ihrer politischen Arbeit erhofften sie sich eine Stabilisierung der liberal-demokratischen und marktwirtschaftlichen Verhältnisse durch die Einbindung der Gewerkschaften in die neue deutsche Gesellschaft. Die Remigranten verfolgten aus eigenem Interesse und eigener Überzeugung Ziele, die mit denen der amerikanischen Gewerkschafter jedenfalls kompatibel waren, und waren daher die primären Ansprechpartner für die Europa- und Deutschlandpolitiker der AFL wie des CIO. Zugleich brachten diese Remigranten den amerikanischen Gewerkschaften Interesse entgegen, denn von ihnen konnten sie Unterstützung, überhaupt Verständnis für ihre Positionen erwarten. Die Organisationen der britischen Arbeiterbewegung ebenso wie der britischen Militärregierung dagegen kamen ihnen -

274)

Zum gewerkschaftlichen Antikommunismus der 1950er Jahre s. Klaus Schönhoven: Kalter Krieg in den Gewerkschaften. Zur Gewerkschaftspolitik von KPD und SPD nach 1945, in: Schönhoven/Staritz: Sozialismus und Kommunismus im Wandel, S. 261-280; Hemmer: Flankierende Maßnahmen, bes. S. 175 f. In diesen Bereich fällt auch die vom Zehnerkreis-Mitglied Edu Wald herausgegebene Broschüre „Feinde der Demokratie", siehe: DGB-Archiv, Bestand Edu Wald/Feinde der Demokratie. 275) Vgl. „Die Gewerkschaftsjugend in der Gesamtorganisation ihre Stellung und Aufga-

ben", Redemanuskript, ungezeichnet [Werner Hansen], Bestand 273, NL Werner Hansen, Kasten 2, S. 25.

o.D.

[Anfang 1962], DGB-Archiv, -

351

3. „Nie wieder Weimar"

Kriegsende bestenfalls mit Desinteresse entgegen. Es herrschte noch immer Verstimmung zwischen Labour Party und SPD, und obendrein waren weder die britischen Verbände noch die britische Regierung finanziell in der Lage, nach

selbst

wenn

sie willens gewesen wären, die deutsche

Arbeiterbewegung nach-

haltig zu unterstützen. Großbritannien ernährte unter Opfern im eigenen Land die Bevölkerung der britischen Besatzungszone mehr war nicht zu erwar-

ten.276) Die enorme Bereitschaft von amerikanischer Seite, die nichtkommunistische deutsche Arbeiterbewegung politisch, finanziell und organisatorisch zu stärken, eröffnete dagegen ganz andere Möglichkeiten. Dennoch dauerte es bis etwa 1952, bis das Netzwerk aufgebaut war, bis die Remigranten wieder im Lande und in politischen Positionen waren, in denen sie auch etwas bewegen konnten. Mit diesem Netzwerk war dann aber die Ba-

sis für die Zusammenarbeit mit den Kräften gelegt, die ähnlich dachten wie ihre amerikanischen Kollegen. Denn mit der Gründung des DGB im Oktober 1949 war für die amerikanischen Gewerkschaftsbünde die Arbeit in Westdeutschland keineswegs abgeschlossen, auch nicht mit dem Ende der Besatzungszeit 1952. Im Gegenteil waren nun erst die Rahmenbedingungen geschaffen, die eine effektive Zusammenarbeit ermöglichten.

276) Vgl.

Rolf Steininger: British Labour, Deutschland und die SPD 1945/46, in: IWK, 15/Juni 1979, Heft 2, S. 188-226; Ders.: England und die deutsche Gewerkschaftsbewegung, bes. S. 69-87.

V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957 Die Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die Anfang der 1950er Jahre dem transatlantischen Arbeiterbewegungsnetzwerk angehörten und in SPD und DGB für Reformen im Sinne eines angelsächsisch-westlichen Politikverständnisses eintraten, waren durch die Erfahrungen der 1930er und 1940er Jahre .westernisiert' worden. Sie hatten mit wenigen Ausnahmen den Weimarer Splittergruppen angehört und sich während der Kriegsjahre im Exil durch Akkulturation neue Überzeugungen und auch neue Grundwerte angeeignet, die sie mit alten Werthaltungen verbanden. Nach ihrer Rückkehr in den westlichen Teil Deutschlands begannen sie, als ,Westernisierer' zu wirken. Sie versuchten nun, ihre veränderten Werthaltungen in den Organisationen der Arbeiterbewegung durchzusetzen. Ihr Ziel war es, eine Programm- und Politikreform mehrheitsfähig zu machen, die westlich-liberaldemokratische Werte zur Grundlage sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Politik machen sollte. Am Ende waren sie damit auch erfolgreich, SPD und DGB wurden ,westernisiert'. Denn sie hatten Wertangebote und politische Lösungen anzubieten, die den neuen Zeitumständen, der neu entstehenden und von der Weimarer deutlich verschiedenen bundesrepublikanischen Gesellschaft angemessen waren, und sie verfügten neben Erfahrungen mit den Politik- und Gesellschaftsformen der westlichen Länder oft auch über persönliche Kontakte zu Organisationen und sogar Regierungsbehörden der neuen Bündnispartner. Hier steht nun die Frage im Vordergrund, wie die Reformer agierten, welche Koalitionen sie eingingen und wie sie ihre Ideen und Ziele in Politik umsetzten. Zudem soll an dieser Stelle wieder das Augenmerk auf die Rolle gerichtet werden, welche die amerikanischen Gewerkschaften in diesem Prozeß spielten. Die, westernisierten' Reformer bildeten gemeinsam mit anderen Reformkräften in SPD und Gewerkschaften ein eigenes Netzwerk aus, das sich mit dem von AFL und CIO aufgebauten zum Teil überlagerte, aber nicht mit diesem identisch war. Seit Anfang der 1950er Jahre begannen sich sowohl in der SPD als auch im DGB Gruppen zu sammeln, die mit dem Status quo unzufrieden waren. Diese Gruppen verfolgten unterschiedliche politische Ziele, die auf unterschiedlichen Werthaltungen beruhten und sich daher auch in ihrer reformerischen Reichweite stark unterschieden. Gemeinsam war ihnen jedoch die Ablehnung der herrschenden Politik in Partei und Gewerkschaften, und dies machte Reform-Koalitionen über die programmatischen Lager hinweg möglich. Es waren vor allem die Remigranten in den westdeutschen Reformernetzen, die den Kontakt zur amerikanischen Arbeiterbewegung pflegten. Sie unterschieden sich aber nicht nur darin von ihren in Deutschland gebliebenen Genossen, sondern vor allem in den langfristigen Zielen ihrer Politik, die wie-

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V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

derum auf einer von den deutschen sozialistischen Traditionen abweichenden ideellen Grundhaltung beruhten. Wie die nicht emigrierten Reformer auch, wollten sie die politische Schwäche von SPD und DGB zu Anfang der 1950er Jahre beheben. Ihr spezifischer biographischer und damit auch weltanschaulicher Hintergrund ließ die remigrierten Reformer darüber hinaus aber für eine tiefgreifendere Veränderung der deutschen Arbeiterbewegung plädieren als die anderen. Im ersten Teil dieses Kapitels soll zunächst das Umfeld betrachtet werden, in dem die ,Westernisierer' bis Mitte der 1950er Jahre agierten. Hierzu werden die verschiedenen oppositionellen Gruppierungen kurz vorgestellt, die sich im Laufe der 1950er Jahre in Partei und Gewerkschaftsbund herauskristallisierten. Im zweiten Teil stehen dann der Ausbau des transatlantischen Netzwerks und die Beziehungen der deutschen Reformer zu den amerikanischen Gewerkschaftsbünden im Mittelpunkt. Nicht nur wandelte sich die Rolle der Westdeutschen im transnationalen Netzwerk: Aus dem Objekt der amerikanischen Einwirkung wurden etwa zwischen 1950 und 1952 Partner, auf deren Unterstützung im gesamten Netzwerk gerade die AFL sehr zählte. Zudem verlagerte die AFL ihren Schwerpunkt in der Zusammenarbeit mit den Deutschen. 1953/54 verstärkten sich die Verbindungen zwischen der AFL und den remigrierten, westlich orientierten Reformern im Zehnerkreis und deren Umfeld. Diese gehörten nun zum deutschen Kern des transnationalen Arbeiterbewegungsnetzwerks. Noch Anfang der 1950er Jahre hatten AFL und CIO mit den Remigranten aus Großbritannien und den USA zusammengearbeitet, unabhängig davon, ob diese zu den Reformern in Partei und Gewerkschaften gehörten, oder ob sie eher in Kontinuität zur Weimarer Sozialdemokratie standen. Nach 1952 entwickelten sich jedoch Spannungen zwischen der AFL und dem Parteivorstand der SPD, vordergründig über die Fragen der Mitbestimmungsforderung und ganz besonders der Wiederbewaffnung. Im Kern ging es aber um ideelle Grundfragen. Die AFL war in ihrer Deutschlandpolitik in die .zweite Phase' eingetreten und begann, nachdem die Fragen der äußeren Form zu ihrer Zufriedenheit geregelt waren, sich um die Inhalte zu bemühen. Die westdeutsche Arbeiterbewegung in ihren beiden Flugein war inzwischen organisatorisch gefestigt, in sozialdemokratischer Hand, war demokratisch, d.h. antikommunistisch und unabhängig. Jetzt war die Zeit gekommen, sich um die ideelle Grundhaltung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu bemühen, für Konsensliberalismus und Konsenskapitalismus zu werben. Hier schieden sich die Netzwerkspartner der amerikanischen Gewerkschafter in eine Gruppe, die aus der Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit stammte und weiterhin an der traditionell sozialistischen Ausrichtung der Arbeiterbewegung festhielt, und eine andere, die aus den dissentierenden Splittergruppen herkam und für Reformen in einem ,westlichen' Sinne eintrat. Die AFL, und mit schwindendem Einfluß auch der CIO, wandten sich im Laufe der 1950er Jahre verstärkt dieser ,westlichen' Reformergruppe zu und zugleich von den stärker traditionun

1. Die Reformer in DGB und SPD

355

nell orientierten Kräften im SPD-Parteivorstand ab. Dies hing mit einem Wandel in den unmittelbaren Zielen der Deutschlandpolitik der AFL zusammen und spiegelte zugleich eine größere Sicherheit im Umgang mit den verschiedenen Lagern der westdeutschen Linken wieder. Im letzten Teil dieses Kapitels wird schließlich der Zehnerkreis als ,innerdeutscher' Reformerzirkel ausführlich vorgestellt. Denn anhand der Geschichte dieses Kreises und seiner Mitglieder lassen sich die komplexen Strukturen der Netzwerke und der Reformpolitik in DGB und SPD sehr gut darstellen. Der Wertewandel in den Organisationen der westdeutschen Arbeiterbewegung, der sich Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre manifestierte, ging auf das Wirken der deutschen Reformer zurück. Sie veränderten die Politik und die Programme von SPD und DGB, und sie taten dies aus eigenem Antrieb. Sie erhielten dabei aber Unterstützung von AFL und CIO. Die Amerikaner verfolgten den Weg ihrer westdeutschen Partner mit großer Aufmerksamkeit, hielten engen Kontakt zu ihnen und machten ihren Einfluß für sie geltend, wo immer es ging. Auf der persönlichen Ebene führten sie zugleich eine intensive und oft genug kontroverse Diskussion mit den Deutschen im Netzwerk, in der sie die Politik von SPD und DGB vom Standpunkt ihrer konsensliberalen Werthaltungen aus kritisierten und durch argumentative Überzeugung zu verändern suchten.

1. Die Reformer in DGB und SPD: Rahmenbedingungen, Streitfragen und Flügelbildung 1949-1956 Die frühen Jahre der Bundesrepublik waren für die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften eine Zeit der Enttäuschungen und der Niederlagen. Ihr Anspruch, die Entwicklung der Wirtschaftsordnung, der Gesellschaft und des Staates nach ihren Vorstellungen zu beeinflussen, ließ sich nicht durchsetzen. In beiden Organisationen bildeten sich um 1950 Lager, die auf diese Situation mit unterschiedlichen Lösungsvorschlägen reagierten. a.DGB Die neugegründete westdeutsche Gewerkschaftsbewegung war 1949 mit dem Ziel angetreten, „eine Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien, der Banken und Versicherungen, eine demokratisch kontrollierte Planwirtschaft und eine betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung in allen Zweigen der Wirtschaft und der Verwaltung" durchzusetzen so war es in den Münchener Grundsätzen des DGB von 1949 festgelegt.1) Dieser „Traum von der ,Neuord-

') Otto Brenner, zit. nach Peter v. Oertzen: Nachruf auf Otto Brenner, in: GMH, 6/1972, S. 337-341, hier S. 338. Für den Text der Münchener Grundsätze siehe: ,Grundsätze, Rieht-

356

V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

nung' "2) hing in seiner Umsetzung nicht zuletzt von einer SPD-regierten Bundesrepublik ab. Der Wahlausgang von 1949 stellte den ersten in einer langen Reihe von Dämpfern dar, die den DGB bald in die Defensive drängten. Die Hoffnung, die 1951 erreichte Montanmitbestimmung auch auf andere Wirtschaftszweige ausdehnen zu können, war mit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 dahin, und in dem Maße, in dem sich die westdeutsche Wirtschaft konsolidierte, schwand der gewerkschaftliche Kampfgeist an der Basis. Zugleich nahm der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei einer wachsenden Zahl von Beschäftigten stetig ab, die „mageren Jahre der Gewerk-

schaften" begannen.3) Damit nicht genug drohte dem Dachverband auch noch die Abspaltung des christlichen Gewerkschaftsflügels, der sich durch die sozialdemokratische Ausrichtung des DGB in die Marginalität gedrängt sah.4) Es kam angesichts dieser Problemlage außerdem zu wachsenden Spannungen zwischen den Einzelgewerkschaften und dem Dachverband, der ab 1951 an Einfluß verlor, sowie zu einer regelrechten Führungskrise im DGB.5) Der überwältigende Wahlsieg Adenauers im September 1953 stürzte den DGB dann vollends in die Krise, da er mit seinem ganzen Gewicht den Versuch unterstützt hatte, durch diese Wahlen das gewerkschaftliche Reformprogramm in einem „besseren Bundestag" mehrheitsfähig zu machen. Die Reformpläne mußten „auf absehbare Zeit ad acta" gelegt werden.6)

linien, Forderungen und Entschließungen' des Gründungskongresses des DGB, in: Protokoll Gründungskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes, München, 12. bis 14. Oktober 1949, Köln 1950, S. 318-330; die wirtschaftspolitischen Grundsätze des DGB sind auch abgedruckt in: Schneider: Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S. 457^-62. Zum folgenden siehe: Wolfgang Schroeder: Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus. Oswald von Nell-Breuning, Viktor Agartz und der Frankfurter DGB-Kongreß 1954, in: VfZ, 39/1991, S. 179-220; Werner Müller: Die Gründung des DGB, der Kampf um die Mitbestimmung, programmatisches Scheitern und der Übergang zum gewerkschaftlichen Pragmatismus, in: Hans-Otto Hemmer/Kurt Thomas Schmitz, Hg.: Geschichte der Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis heute, Köln 1990, S. 85-147; Helga Grebing: Gewerkschaften: Bewegung oder Dienstleistungsorganisation, 1955 bis 1965, in: Hemmer/Schmitz: Geschichte der Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland, S. 149-182, hier S. 155-158; Schönhoven: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 10, S. XXXVII-XLVI; Kaiser. Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 11, S. IX—LUI. 2) V. Oertzen: Nachruf auf Otto Brenner, S. 338. 3) Schönhoven: Deutsche Gewerkschaften, S. 227. 4) Siehe zu dieser Thematik ausführlich Schroeder: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft. 5) Horst Thum: Mitbestimmung in der Montanindustrie. Der Mythos vom Sieg der Gewerkschaften, Stuttgart 1982; Schroeder: Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus, S. 183; Klaus Schönhoven: Nach der Ära Böckler: Die Führungskrise im Deutschen Gewerkschaftsbund 1951/52. in: Jürgen A"oci:a/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde, Hg.: Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München u.a. 1994, S. 173-189. 6) Schönhoven: Deutsche Gewerkschaften, S. 219. Auch rechtlich verringerte sich der

1. Die Reformer in DGB und SPD

357

Der DGB stand nun vor dem Dilemma, entweder an seinen Zielen festzuhalund sich mit seinem Protest gegen die bestehende Ordnung ins Abseits zu stellen, oder die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen der Bundesrepublik anzuerkennen und damit zwar politischen Spielraum zu gewinnen, zugleich aber seine politischen Grundanliegen preisgeben zu müssen. Viele sahen den DGB nun programmatisch in einer Sackgasse, widerlegte doch die wirtschaftliche Entwicklung die Annahme der Gewerkschaften, die eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage für die Arbeitnehmer vorausgesagt und ihre Neuordnungsforderungen mit den Defiziten der Marktwirtschaft begründet hatten.7) Das Wirtschaftswachstum, die stetig sinkenden Arbeitslosenzahlen und der beginnende Wohlstand, der sich bescheiden, aber doch spürbar auch bei den Arbeiterschichten einstellte,8) brachte den DGB in theoretische Schwierigkeiten, zumal der Konsumnachholbedarf in der Bevölkerung einer Politik gegen die Erhard'sche Marktwirtschaft keine Chancen einräumte. Die politische Situation in der frühen Bundesrepublik, die durch scharfen Antikommunismus und feindselige Abgrenzung gegen die DDR geprägt war, führte mit ihrem Lagerdenken zu einem starken Konformitätsdruck, so daß Kritik an der Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik schnell zu einer gegnerischen Fundamentalkritik gestempelt wurde. Eine offene politische Debatte um die innere Ausgestaltung der Republik war unter diesen Umständen nur schlecht mög-

ten

lich.9)

Mit der

Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 war die Diskrepanz zwischen dem programmatischen Anspruch und der politischen Praxis der Gewerkschaften so groß geworden, daß sich eine innerverbandliche Opposition zu regen begann und eine Debatte um die weitere Strategie entbrannte. Sie dauerte zunächst bis Mai 1955 an, als das Aktionsprogramm des DGB verabschiedet wurde, das eine zumindest vorläufige Antwort auf die gewerkschaftliche Situation geben konnte, und gewann am Ende der 1950er Jahre erneut an Schärfe, als durch die Entwicklungen in der SPD auch im DGB die Frage nach einer grundlegend neuen Programmatik in den Vordergrund trat. Zwischen 1952 und 1955 lassen sich in der gewerkschaftlichen Strategiedebatte drei Richtungen unterscheiden.10) Die Vertreter des radikalen gewerkHandlungsspielraum der Gewerkschaften, als das Bundesarbeitsgericht im Januar 1955 das Streikrecht einschränkte. Siehe ebda. S. 222 f.; Rainer Erd: Verrechtlichung industrieller

Konflikte. Normative Rahmenbedingungen des dualen Systems der Interessenvertretung, Frankfurt/M. 1978. 7) Schroeder Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus, S. 182. 8) Werner Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 19451980, Frankfurt/M. 1983. 9) Müller: Die Gründung des DGB, S. 128f; Schroeder: Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus, S. 182f.; Grebing: Gewerkschaften, S. 155. Insgesamt war das öffentliche Klima in der Bundesrepublik Anfang/Mitte der 1950er Jahre den Gewerkschaften gegenüber recht kritisch eingestellt. 10) Schroeder: Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus, S. 182-185.

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V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

schaftlichen Reformismus sahen die Aufgabe der Gewerkschaften darin, Gestaltungs- und Gegenmacht zu sein, für eine „neue Verfassung der Gesellschaft" zu kämpfen.11) Sie hielten an den Neuordnungsforderungen der Münchener Grundsätze fest. Zudem wollten sie den Dachverband gegenüber den Einzelgewerkschaften stärken, wollten eine Zentralisierung im Sinne einer Koordination der gewerkschaftlichen Aktionen durch den DGB bewirken. Zugleich sollte auf Betriebsebene die Distanz zwischen Belegschaft und Betriebsrat auf der einen und den Gewerkschaften auf der anderen Seite überwunden werden, die sich schon in den ersten Nachkriegsjahren bemerkbar gemacht hatte und die das Betriebsverfassungsgesetz noch weiter verstärkte. Die Vertreter dieser Richtung, zu denen Viktor Agartz, Max Wönner und Theo Pirker gehörten, hatten die Mehrheit der aktiven Funktionäre hinter sich und konnten ihre Anliegen durch Vorträge und Publikationen weiten Kreisen der gewerkschaftlichen Öffentlichkeit nahebringen, so daß sie große Popularität erlangten. Innerhalb dieser Richtung tat sich wiederum besonders Viktor Agartz als Theoretiker hervor.12) Sein Konzept der ,Expansiven Lohnpolitik', das er schon um 1950 entwickelt hatte, spielte bis 1954 eine wichtige Rolle im Denken des DGB.13) Eine Umverteilung der Gewinne sollte zu gestärkter Kaufkraft und zugleich zu einer Politisierung der Arbeiterschaft führen. Das Konzept war eng angelehnt an Fritz Naphtalis Konzept der Wirtschaftsdemokratie von 1928. Es bot eine einfache und zugleich radikale Antwort auf die Probleme des DGB bei deutlicher Kontinuität zur Weimarer Zeit. Agartz hielt an der marxistischen Gesellschaftsanalyse fest. Seines marxistischen Grundgehalts entkleidet, wurde das Konzept dann von einer Gruppe um den IG Metall-Vorsitzenden Otto Brenner als ,aktive Lohnpolitik' zu einem Kern des Aktionsprogramms des DGB von 1955 gemacht.14) Um Brenner versammelten sich die Hauptgegner des radikalen gewerkschaftlichen Reformismus in der innergewerkschaftlichen Auseinandersetzung

") Sogar als „außerparlamentarische Gegenmacht mit Initiativrecht": Schönhoven: Einleitung zu: Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 10: IG Metall, S. XLV Vgl. für eine Darstellung dieser Position durch einen ihrer Anhänger: Pirker: Blinde Macht, Bd. 2, S. 82-154; für das Zitat siehe: Theo Pirker: Staatsautorität und politische Ordnung, in: GMH, 19/1952, S. 577-583, hier: 583; vgl. außerdem: Ders.: Die Gewerkschaften als politische Organisation, in: GMH, 2/1952, S. 76-81. 12) Viktor Agartz, Jg. 1897, gehörte ab 1949 zur Leitung des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts (WWI) des DGB, dessen Aufgabe darin bestand, die wirtschaftlichen und sozialen Neuordnungsforderungen der Gewerkschaften auszuarbeiten und zu begründen. Vgl. Schroeder: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft; Ders.: Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus, S. 190-193; Krämer: Viktor Agartz; Weinzen: Gewerkschaften und Sozialismus.

13) Müller. Die Gründung des DGB, S. 140-142; Pirker: Blinde Macht, Bd. 2, S. 92-98; Schroeder: Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus, S. 193. 14) Vgl. Schönhoven: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 10, S. XLIX; Krämer: Viktor Agartz.

1. Die Reformer in DGB und SPD

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jener Jahre, nämlich die Anhänger des sogenannten gewerkschaftlichen Aktionismus, zu denen neben Otto Brenner unter anderen Siggi Neumann, Kuno Brandel, Werner Hansen und Hermann Beermann gehörten. Sie hielten politische Äußerungen der Gewerkschaften für durchaus legitim, wollten aber ein aktives Engagement auf die Kernbereiche gewerkschaftlicher Tätigkeitsfelder beschränken, also auf die Bereiche Lohn, Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen. Um den DGB aus der Krise zu befreien, wollten sie ein Aktionsprogramm durchsetzen, „das die gegebenen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse respektierte und das zugleich als Fundament für eine sozialreformerische Offensive der Gewerkschaften dienen konnte." Das Aktionsprogramm sollte die Energien der Gewerkschaften auf mittelfristig erreichbare Nahziele konzentrieren. Die so erkämpften Erfolge sollten dann zu steigenden Mitgliederzahlen führen und damit langfristig eine Grundlage für politische Aktivitäten der Gewerkschaften schaffen. Die IG Metall, die größte und mächtigste Einzelgewerkschaft im DGB, sollte dabei als „Schrittmacher" fungieren.15) Eine dritte Richtung schließlich trat für die konsequente politische Neutralisierung des DGB und seiner Gewerkschaften ein. Dieses „Konzept der politischen Abstinenz und tarifvertraglichen Genügsamkeit"16) wurde vor allem im Umfeld der Christlich-Sozialen Kollegenschaft vertreten, einer Gruppe von mehrheitlich katholischen Gewerkschaftern um den Jesuitenpater Herbert Reichel, der auch Oswald von Nell-Breuning nahestand.17) Sie publizierten die vierzehntägig erscheinende innergewerkschaftliche Oppositionsschrift gesellschaftspolitische Kommentare' und arbeiteten 1954/55 mit der Mehrheit des DGB-Bundesvorstandes zusammen, der wie sie erstens den radikalen gewerkschaftlichen Reformismus ablehnte und zweitens die Gründung christlicher Gewerkschaften, also die Spaltung der Einheitsgewerkschaft zu verhindern

suchte.18)

Schließlich setzte sich bis Mitte der 1950er Jahre der gewerkschaftliche Aktionismus als politische Richtung im DGB durch, der radikale gewerkschaftliche Reformismus geriet ins Hintertreffen. Im Dezember 1955 wurde Viktor

15) Otto Brenner, Referat zum Aktionsprogramm, Sitzung des Beirats der IG Metall vom 27728. April 1955, abgedr. in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 10, S. 566-575, hier S. 574. Vgl auch: Schroeder: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft, S. 130-133. 16) Schönhoven: Einleitung zu: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 10, S. XLV. 17) Hierzu ausführlich: Wolfgang Schroeder. Gewerkschaftspolitik zwischen DGB, Katholizismus und CDU 1945 bis 1960. Katholische Arbeiterführer als Zeitzeugen in Interviews, Köln 1990; Ders.: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft, S. 318-334. 18) Die Christlich-Soziale Kollegenschaft wollte, wie auch Nell-Breuning, eine solche Abspaltung verhindern, um eine Isolierung des politischen Katholizismus in der Bundesrepublik zu vermeiden. Nur innerhalb des DGB war ihrer Meinung nach ein politischer Einfluß der katholischen Gewerkschafter zu wahren. Vgl. hierzu ausführlich: Schroeder: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft.

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V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

Agartz als Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB abgesetzt.19) Dem Reformerflügel hatte dabei, wie noch zu zeigen sein wird, die Netzwerksarbeit entscheidende Hilfestellung geleistet. Theo Pirker, ein Mitarbeiter Agartz', hatte 1952 noch voll Optimismus die neue Einheitsgewerkschaft als „öffentlichen Verband" gesehen, d. h. als politische Organisation, die sich

von

den reinen Interessenverbänden dadurch abhob, daß sie nicht mehr

gesellschaftliche Teilinteressen vertrete, sondern durch eine „Identität des Verbandsinteresses mit dem allgemeinen Interesse" über den Parteien stehe und sich daher klar von diesen zu unterscheiden hätten.20) 1960 jedoch schalt Pirker die westdeutschen Gewerkschaften als „gezähmt" und „integriert", als Bestandteile des Kapitalismus. „Aus einer politischen Bewegung zur Neuordnung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft" sei „eine lockere Organisation von Kartellverbänden im neuen Kapitalismus" geworden „Versicherungsorganisationen, geleitet von Versicherungsbeamten und Sozialmanagern".21) Pirkers Reaktion zeigt, daß die Entwicklung der westdeutschen Arbeiterbewegung an den Traditionalisten, welche die radikalen Reformer ja im Grunde waren, vorbeiging. Die Entwicklung jener Jahre führte zu einer Annäherung der Gewerkschaften und zugleich auch der Sozialdemokratie an die ordnungspolitischen Strukturen der Bundesrepublik und zwar aus eigenem Antrieb und nicht etwa, wie Pirkers Kritiker argumentierten, durch den Zwang der Verhältnisse und damit wider besseres Wissen.22) Sie wurde nicht zuletzt von Reformernetzwerken wie dem Zehnerkreis durchgesetzt, dem die profiliertesten Vertreter des gewerkschaftlichen Aktionismus, aber auch Reformer aus der SPD angehörten -

-

und auf den noch zurückzukommen sein wird. b. SPD Auch die SPD war um 1953 an einen Wendepunkt gelangt.23) Kurt Schumachers Tod im August 1952 und die klare Niederlage der SPD bei den Bundes-

19) Zu Agartz' Sturz siehe: Schroeder: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft, S. 169-173; Krämer. Viktor Agartz, S. 314-316; Pirker: Blinde Macht, Bd. 2, S. 150-154. 20) Grebing: Gewerkschaften, S. 151 f.; Theo Pirker: Die Gewerkschaften als politische Organisation, in: GMH, 2/1952, S. 76-81. 21 ) Grebing: Gewerkschaften, S. 153; Pirker: Blinde Macht, 2 Bde. 1960, bes. Bd. 1, S. 237-290. 22) Siehe hierfür vor allem Jürgen Seifert, der sich direkt gegen Pirkers Thesen wandte: Jürgen Seifert: Anmerkungen zu Theo Pirkers Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in Westdeutschland, in: GMH, 12/1961, S. 96-99. Auch Hirsch: Die öffentlichen Funktionen der Gewerkschaften, und Hirsch-Weber: Gewerkschaften in der Politik, verteidigen die „systemkonforme" Haltung der Gewerkschaften als Beitrag zur Stabilisierung der Bundesrepublik. Vgl. auch Anselm Doering-Manteuffel: Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949-1963, Darmstadt 1983, S. 174. 23) Zum Folgenden siehe: Klotzbach: Programmdiskussion; Ders.: Weg zur Staatspartei,

1. Die Reformer in DGB und SPD

361

vom 6. September 1953 hatten die Partei in Bewegung kommen lassen. Bis dahin hatte Schumachers Kursbestimmung die Sozialdemokratie programmatisch festgelegt und auch „innerparteilich gefesselt".24) Das sozialdemokratische Selbstverständnis, wie es in der Frankfurter Erklärung der Sozialistischen Internationale von 1951 zum Ausdruck kam, beruhte jedenfalls nach außen hin noch auf der Verzahnung von Sozialismus und Demokratie: „Es gibt keinen Sozialismus ohne Freiheit. Der Sozialismus kann nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie nur durch den Sozialismus vollendet werden."25) Hier heißt es unter dem Rubrum ,Wirtschaftliche Demokratie': „Der Sozialismus will das kapitalistische System überwinden durch eine Wirtschaftsordnung, in der das Interesse der Gemeinschaft über dem Profitinteresse steht." Die Ziele Vollbeschäftigung, Produktionssteigerung, Wohlstandsmehrung und soziale Sicherheit sollten durch Planung der Produktion „im Interesse des Volkes" verwirklicht werden.26) Auch das Dortmunder Aktionsprogramm von 1952, dessen Vorwort noch Kurt Schumacher geschrieben hatte, brachte keine grundlegende theoretische Auseinandersetzung mit der Situation der SPD in der nun gefestigten Bundesrepublik. Die in den vergangenen Jahren von der SPD vertretenen Positionen wurden hier noch einmal gebündelt, obwohl sich auch, allerdings eher versteckt, erste Hinweise auf einen Wandel im Selbstverständnis finden.27) Das Wahldebakel von 1953 führte der Partei vor Augen, daß sie es nicht verstanden hatte, „sich als linke demokratische Volkspartei glaubwürdig zu profilieren" und „ihre Leistungen als parlamentarisch-demokratische Opposition für die Demokratie den deutschen Wählern überzeugend verständlich zu machen."28) In einem politischen Klima, das zum Denken in grobschlächtigen Freund-Feind-Alternativen verleitete, waren die Neuordnungspläne der SPD Gefahr gelaufen, mit der Politik der KPD in einen Topf geworfen zu werden, die seit 1952 auf die revolutionäre Beseitigung der bestehenden Ordnung

tagswahlen

Helga Grebing: Der Sozialismus, in: Axel SchildtlArnold Sywottek. Hg.: Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 1950er Jahre, Bonn 1993, S. 646-658. 24) Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 259; vgl. Klotzbach: Probes. S. 292-298, 308-325;

grammdiskussion. 25) Prinzipienerklärung der Sozialistischen Internationale, beschlossen auf dem 1. Kongreß der Sozialistischen Internationale in Frankfurt/Main 1951: Ziele und Aufgaben des Demokratischen Sozialismus, abgedr. in: Dieter Dowe/Kurt Klotzbach, Hg.: Programmatische

Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, 2. Aufl., Berlin-Bonn 1984, S. 297-307, hier S. 301; vgl. auch Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 259f.; Ders.: Programmdiskussion, S. 477. 26) Prinzipienerklärung der Sozialistischen Internationale, S. 301. 27) Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, S. 302; Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 255-264; Ders.: Programmdiskussion. Das Dortmunder Aktionsprogramm war unter der Federführung Willi Eichlers entstanden. 28) Klotzbach: Programmdiskussion, S. 478; Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 257.

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V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

drängte. Die „intransigente Opposition"29) der ,Schumacher-SPD', ihre Opposition im Wirtschaftsrat und später dann im Bundestag gegen die Deutschlandund Europapolitik der Bundesregierung hatte der SPD wenig Gelegenheit gegeben, sich den Wählern als regierungsfähige Alternative mit einem stringenten und dazu realistischen Konzept zu präsentieren.30) In den Monaten nach der Wahl entbrannte daher eine intensive Debatte, die sich anfangs vor allem um „äußerliche Stilmittel" drehte, um das Agitationsvokabular und die aus der traditionellen Arbeiterbewegung stammende Symbolik, schon bald aber die politischen Grundlagen und Strategien, das Selbstverständnis und die Ziele der Partei zum Gegenstand hatte.31) Im Zuge dieser Diskussion formierten sich die alten innerparteilichen Gruppierungen wieder, die schon 1945/46 bestanden -

-

unter Schumachers Ägide aber ins Glied getreten waren. Im Grunde standen sich zwei Lager gegenüber, eines, das Reformen in Organisationsform und Programmatik der Partei befürwortete, und eines, das sie zu verhindern suchte. Auf der Seite der Reformgegner standen die Traditionalisten und die „reformstrategisch orientierten Marxisten" in der Partei,32) in erster Linie die neomarxistische Linke, deren Ziel, der Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik, nicht mit den Modernisierungstendenzen in der Partei zu vereinbaren war. Das profilierteste wirtschaftspolitische Konzept, das den Reformern entgegentrat, war Viktor Agartz' Programm der Wirtschaftsneuordnung, „ein gradualistisches Konzept des Übergangs vom herrschenden Monopolkapitalismus zum Sozialismus."33) Der Weg zur sozialistischen Gesellschaft führe über die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Für den Übergang war ein System überbetrieblicher Mitbestimmung und zentraler staatlicher Planung vorgesehen. 1953 war Agartz damit sowohl in den Gewerkschaften als auch in der SPD einer der wichtigsten Vertreter der neomarxistischen Linken.34) Da sich Kurt Schumacher in wirtschaftspolitischen Fragen stark an Agartz und Nölting orientiert hatte, war ihre

hatten,

29) Pirker, vgl. Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 256, 259. 30) Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 257 f. 31) Carlo Schmid etwa war einer der ersten, die für den Verzicht auf das sozialdemokratische Du, die Anrede als Genossen, den sozialistischen Gruß und dergleichen mehr eintraten.

Willy Brandt setzte diese Abnabelung vom Milieu dann vollends durch. Klotzbach: Programmdiskussion, S. 478.; Ders.: Weg zur Staatspartei, S. 292-298,417^121. 32) Schroeder: Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus, S. 185-187; Klotzbach: Weg zur Staatspartei; Grebing: Sozialismus. 33) Grebing: Sozialismus, S. 648. 34) Zu Agartz s. Weinzen: Gewerkschaften und Sozialismus; Krämer: Viktor Agartz; Schroeder: Christliche Sozialpolitik oder Sozialismus; Grebing: Sozialismus. Zu Nölting siehe: Erik Nölting/Alfred Weber: Sozialistische Wirtschaftsordnung, Hamburg 1948, und Claudia Nölting: Erik Nölting: Wirtschaftsminister und Theoretiker der SPD (1892-1953), Essen 1989.

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theoretische Position in der Partei bis 1952/53 sehr stark.35) Auch wenn diese beiden Theoretiker durchaus auf keynesianische Steuerungsinstrumentarien zurückgriffen, so „als Bestandteil einer sozialistischen Transformationspolitik und nicht als kapitalismus-immanentes Regulationsmittel."36) Als die Reformer nach Schumachers Tod an Impetus gewannen, sammelte sich die Gruppe der Reformgegner um die 1955 entstehende ,Andere Zeitung' des ehemaligen Vorwärts'-Redakteurs Gleissberg, für die auch Wolfgang Abendroth und Viktor Agartz Beiträge schrieben. Sie wehrten sich gegen den Abschied von den Traditionen, gegen die Anpassung an die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik und gegen die Entwicklung der SPD zur pluralistisch verfaßten Volkspartei. Ihnen gesellten sich diejenigen altgedienten Funktionäre zu, welche die Reformen nicht aus ideologischen Gründen, sondern aus „Beharrungsdenken und Prestigebedürfnis" verweigerten.37) Die Reformer dagegen strebten einen Wandel der Sozialdemokratie von der traditionellen Arbeiterpartei zur Volkspartei an. Dies verlangte die pluralistische Öffnung der Partei, die Abkehr vom dogmatischen Marxismus und von der Annahme historischer Gesetzmäßigkeiten sowie von der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft am Ende des Weges. Sie verfolgten, in unterschiedlichen Varianten, die Liberalisierung der Partei, insofern als das Individuum und nicht das Kollektiv nun Gegenstand von Emanzipation und Teilhaber am Glück sein sollte, vernunftbegabte und verantwortliche Einzelne sollten als geschichtliche Handlungsträger ihre Geschicke in die Hand nehmen mit offenem Ausgang. Das Reformerlager bestand jedoch aus mehreren Teilgruppen, die zwar im Großen und Ganzen diese Ziele teilten, aber von unterschiedlichen Ausgangspunkten her argumentierten oder auch auf verschiedenen Ebenen dachten.38) Da waren zum einen die Reformer um Erich Ollenhauer und Wilhelm Mellies, denen es in erster Linie um eine organisatorische Reform zu tun war, weniger jedoch um eine programmatische Neuorientierung.39) Unter den ,

-

35) Grebing: Sozialismus, S. 649 f. 36) Ebda., S. 649. 37) Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 259. 38) Die unterschiedlichen Gruppierungen im Reformerlager der SPD zwischen 1952 und 1959 werden nicht einheitlich beschrieben. Weder ist die Zuordnung einzelner Persönlichkeiten zu bestimmten Richtungen einheitlich, noch läßt sich anhand der Literatur klar zwischen Ober- und Untergruppen trennen. Auch ändert sich, etwa bei Helga Grebing, die Sy-

stematik im Laufe der Jahre, so daß sich schon innerhalb ihres Werkes Widersprüche auftun. Hier wird daher nur eine Interpretationsweise vorgestellt, die allerdings aus einer Zusammenschau der vorhandenen Kategorisierungen und aus dem Ergebnis meiner eigenen Quellenkenntnisse stammt. Sie ist bewußt skizzenhaft gehalten und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Ihr Zweck ist es, als Folie für die im folgenden näher vorgestellten Netzwerkszusammenhänge zu dienen und hat daher Überblickscharakter. Siehe zum folgenden: Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 259f.; Dies.: Sozialismus, passim; Klotzbach: Programmdiskussion, passim; Ders.: Weg zur Staatspartei, S. 122-129,

181-187,292-298.

39) Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, S. 260.

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V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

wiederum spielten in der Reformdiskussion, neben eium Klaus-Peter Schulz und neben den mit Bernsteinschem Reformismus vergleichbaren Positionen wie denjenigen Ernst Reuters, vor allem die sogenannten freiheitlichen Sozialisten sowie die ethischen Sozialisten aus dem Umfeld des ISK und einige, wie Grebing schreibt, „pragmatisch gewendetfe]" ehemalige Linkssozialisten, wie Willy Brandt und Fritz Erler, eine Rolle.40) Zu den freiheitlichen Sozialisten zählten prinzipiell auch religiöse Sozialisten aus der Weimarer Zeit wie Eduard Heimann, Paul Tillich und Adolf Löwe, vor allem aber die Anhänger des sogenannten ,Linkskeynesianismus', wie er sich nach 1945 herausgebildet hatte. Dazu gehörten seit den 1940er Jahren Gerhard Kreyssig, Gerhard Weisser, Gert von Eynern, Rudolf Zorn, Hermann Veit, Heinz-Dietrich Ortlieb, Karl Schiller und Heinrich Deist, aber aucfTCartoSchmid und Willi Eichler. Andere Bezeichnungen für diese Richtung waren u.a. „regulierte", „sozialistische", „geplante" oder „gelenkte" Marktwirtschaft, „Marktwirtschaft von links", oder „freiheitliche Planwirtschaft",41) was zeigt, daß die Zuordnung zum freiheitlichen Sozialismus sich in erster Linie auf die wirtschaftspolitischen Positionen seiner Vertreter bezieht, die in demokratietheoretischer Hinsicht daher auch unterschiedliche Standpunkte einnehmen konnten. Ihr gemeinsames Ziel war es, soziale Gerechtigkeit zu erreichen, indem eine Kontrolle über die Macht des Kapitals errichtet würde. Dies sollte aber nur in Ausnahmefällen durch das Instrument der Verstaatlichung geschehen. Vielmehr war eine Verbindung von Wettbewerb und Planung vorgesehen, die „das Beste aus beiden" sichern sollte: eine Produktivität, wie sie nur von marktwirtschaftlichen Strukturen freigesetzt wird, einerseits, und die Kontrolle über die Verteilung, wie sie nur eine staatliche Lenkung ermöglicht, andererseits. Der Leitsatz des freiheitlichen Sozialismus: „Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig", wurde im Laufe der 1950er Jahre zur Kernaussage sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik.42) Als Mischform hielt er an etatistischen Grundvorstellungen fest der staatlichen Verwaltung kam die übergeordnete Kontrolle und letzte Verantwortung zu -, schrieb zugleich aber die prinzipielle Anerkennung privaten Eigentums als Grundlage der Volkswirtschaft fest. Dieses Konzept vermochte es daher, herkömmliche sozialdemokratische Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und staatlicher Verantwortung mit keynesianisch geprägten marktwirtschaftlichen Elementen zu

,Programmreformern'

ner

radikalen' Rechten

-

vereinbaren.43) Wirtschaftswachstum wurde ein zentrales Mittel, gesamtgesellschaftlichen Wohlstand zu erreichen, der wiederum, über den Umweg der

40) Grebing: Sozialismus, S. 653. 41) Ebda., S. 647. 42) Beide Zitate: Karl Schiller: Sozialismus und Wettbewerb, Hamburg 1955, S. 29, zit. in: Grebing: Sozialismus, S. 647. Die Formulierung Schillers wurde in das Dortmunder Aktionsprogramm der SPD von 1952 übernommen: Ebda. Sozialdemokratie und Keynesianismus.

43) Vgl. Held:

1. Die Reformer in DGB und SPD

365

vermehrter Produktivität, zu Wachstum und damit zu Vollbesollte. Anders als im amerikanischen Modell jener Tage jeführen schäftigung doch wurde die Umverteilung hier als Aufgabe staatlicher Lenkung betrachtet. Eine grundsätzliche Formulierung der Ziele der freiheitlichen Sozialisten legte Carlo Schmid vor, Mitglied im SPD-Parteivorstand, Angehöriger der Bundestagsfraktion und Vizepräsident des Bundestags, zudem auch Vorsitzender der deutschen Sektion des Kongresses für Kulturelle Freiheit (CCF), einer amerikanisch-europäischen Intellektuellenorganisation, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Konsensliberalismus in Westeuropa zu verbreiten: Er prägte nach der Wahlniederlage der SPD im Oktober 1953 das Wort vom „Ballast", den die SPD nun abwerfen könne:44)

Kaufkraft,

zu

„Wir sind stark genug, um ohne Schaden für das unvergängliche Gut der Arbeiterbewegung abwerfen zu können, was im Laufe der Zeit zu totem Ballast geworden sein mag. Dazu werden manche Dinge gehören, die einst mit echtem geschichtlichem Recht unseren Vorvorderen teuer gewesen sind, wie sie sie nach dem Stand der Erkenntnis ihrer Zeit und aufgrund der Wirklichkeit von einst für wesentlich halten durften. [...] In der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist man sich schon lange vor der Wahl, eigentlich seit 1945, klar darüber gewesen, dass der politische Ort der Partei im Gefüge unserer geistigen und gesellschaftlichen Wirklichkeit anderswo zu suchen sei als in früheren Jahrzehnten. Hätte nicht angesichts der kommunistischen Bedrohung in verwirrtester Zeit die Notwendigkeit bestanden, alles zu vermeiden, was Unruhe und Unsicherheit in die sich langsam wieder zusammenfindenden Reihen der Getreuen tragen konnte, wäre der Erkenntniswandel, der sich im Bewusstsein der Sozialdemokraten vollzogen hat, deutlicher und früher gestartet."45)

Dies zeigt, daß sich unmittelbar nach der Wahlniederlage vom 6. September 1953 die innerparteilichen Reformer erstmals offen hervorwagten und sich nun sogar im Namen der gesamten Partei äußerten. Diese „reformerische Frontalattacke" wurde jedoch innerhalb weniger Monate zum Stillstand gebracht. Ollenhauer und seinem Apparat gelang es, die Diskussion unter Kontrolle zu bringen auch wenn dies nicht zu einem „totalen Obsiegen des Traditionalismus" führte.46) Erst nach der erneuten Wahlniederlage 1957 wurden dann konkrete Schritte zu einer Reform eingeschlagen. Deren Ergebnisse hatte Carlo Schmid in seiner Rede bereits vorweggenommen, als er erklärte, die SPD sei keine Weltanschauungspartei mehr, sondern für jeden offen, „der der Meinung ist, dass alles getan werden müsse, um den materiellen, den moralischen und den geistigen Lebensstandard des Volkes zu heben und der entschlossen ist, sich dabei ausschliesslich demokratischer und rechtsstaatlicher Wege zu bedie-

44) Vgl. Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 294. Zu Carlo Schmid siehe: Weber: Carlo Schmid; Carlo Schmid: Erinnerungen, Bern u.a. 1979. Zum Kongreß für Kulturelle Freiheit siehe: Hochgeschwender: Freiheit in der Offensive? 45) Carlo Schmid: Zur Haltung der SPD nach den Wahlen, München, 28. Oktober 1953, Rede im Bayrischen Rundfunk („Ballast-Rede"), Ms., masch., AdsD, NL Willi Eichler, PV, Box 1953-54, Mappe 1953, S. 1 f. Vgl. zu dieser Rede auch: Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 294; Pirker: Die SPD nach Hitler, S. 186. 46) Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 297 f., Zitate S. 297.

366

V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

und den Menschen in die Mitte zu stellen."47) Auch das Verhältnis der ParReligion und den Kirchen habe sich geändert. Die Toleranz, die Achvor der Auffassung des andern, war für Schmid ein wichtiger Bestandteil tung des Selbstverständnisses der Partei, ein zentraler Bestandteil ihres Demokratieverständnisses:

nen

tei

zur

„Für die SPD besteht Demokratie darin, dass der Wille des Staates als Resultante des Parallelogramms aller Kräfte in Erscheinung tritt, die in unserem Volke wirken, soweit es sich um Kräfte handelt, die bereit sind, das Lebensrecht eines jeden unter das Gesetz der Freiheit zu

stellen."48) Die

Meinungsgegensätze dürften nur noch mit demokratischen Mitteln ausgetragen werden. Auch in der Wirtschaftspolitik sei ein Wandel eingetreten, gelte die Ökonomie in der Sozialdemokratie nicht mehr als die wesentliche Triebfeder des geschichtlichen Handelns. Es müsse vielmehr jedem die Chance gegeben werden, Privateigentum zu erwerben. Gemeineigentum wolle die SPD nur bei Schlüsselindustrien einführen, aber auch hier nicht in Form von Verstaatlichung, sondern durch demokratisch kontrollierte freie Wirtschaftskörper. Vor allem aber hatte sich das Verständnis dessen, was Sozialismus sei, fundamental gewandelt: Unter .Sozialismus' verstehe die Partei nun

„die Schaffung der Voraussetzung für Freiheit des Menschen in der Wirtschaft. Dazu brauchen wir ein besseres Arbeitsrecht, soziale Autonomie, die Umwandlung des Arbeitnehmers vom Betriebsuntertan zum Betriebsbürger über das Mitbestimmungsrecht, eine Politik der Vollbeschäftigung, um das Risiko der Wirtschaftskrisen von den Schultern der Arbeiter, Angestellten, Mittelständler zu nehmen und in Konsequenz davon eine Wirtschaftspolitik, die dem Verbraucher einen stetigen und freien Markt sichert, die Erzeugung mit allen zweckmässigen Mitteln steigert und den Anteil der breiten Massen am Sozialprodukt ver-

-

mehrt."49)

Dies war in der Tat ein weiter Weg von den Weimarer Sozialismusvorstellungen, wie sie einige der Reformer damals noch selbst vertreten hatten. Ab 1954 gingen die Vertreter des freiheitlichen Sozialismus eine Koalition mit den anderen Reformkräften ein, mit den Anhängern des ethischen Sozialismus und den reformorientierten ehemaligen Linkssozialisten. Auch mit dem .rechten Flügel' um die Ministerpräsidenten bzw. Bürgermeister Max Brauer, Ernst Reuter und Wilhelm Hoegner wurde zusammengearbeitet. Das Ziel dieser Reformerkoalition war zunächst ein neues Aktionsprogramm, denn für ein neues Grundsatzprogramm hielt man die theoretische Debatte innerhalb der Partei nicht für weit genug gediehen. Das Dortmunder Aktionsprogramm von 1952 wurde daher ausgebaut. Das an seine Stelle tretende Berliner Aktionspro-

47) Schmid, Zur Haltung der SPD nach den Wahlen, AdsD, NL Willi Eichler, PV, Box 1953-54, Mappe 1953, S. 3. 48) Ebda., S. 4. Der Begriff des Parallelogramms aller Kräfte deutet auf die Nähe des Konzepts zu Fraenkels Pluralismustheorie hin.

49) Ebda., S. 5.

367

1. Die Reformer in DGB und SPD

gramm der SPD von 1954 entstand in mehreren Schritten.50) Im Dezember 1953 setzte der Parteivorstand zwei Kommissionen ein, welche die innerparteiliche Kritik prüfen und Zwischenbilanzen vorlegen sollten. Die eine, die von Willi Eichler geleitet wurde, hatte sich mit Grundsatzfragen theoretische Selbstverständnis sozialdemokratischer Fundierung Politik,,Marxismusfrage', der SPD als Arbeiter- oder Volkspartei und die Beziehung zu den Kirchen zu beschäftigen,51) die andere war für Fragen der Parteiorganisation zuständig.52) Dies reflektierte die Tatsache, daß unabhängig von den verschiedenen politischen Richtungen der innerparteilichen Auseinandersetzung zwei Reformstränge nebeneinander bestanden, die nicht unbedingt aufeinander bezogen waren: wer für organisatorische und parteistrukturelle Reformen eintrat, mußte deshalb noch lange kein Befürworter eines neuen Grundsatzprogramms -

-

sein.53)

Als Ergebnis wurden am 4. März 1954 „Empfehlungen" vorgelegt, die der weiteren Diskussion zugrunde liegen sollten.54) Diese Empfehlungen suchten zwar den Kompromiß zwischen Reformern und Traditionalisten, deuteten aber schon in die neue Richtung. Die Sozialdemokratie wurde schon nicht mehr als Weltanschauungsgemeinschaft definiert, das Selbstverständnis als Klassenpartei aufgegeben: „Die Sozialdemokratische Partei

ist nach ihren Grundsätzen und ihren Zielen nicht auf die

Vertretung einer einzigen Gruppe des Volkes beschränkt. Die Arbeiterschaft bildet den Kern der Mitglieder und Wähler der Sozialdemokratie. Der Kampf und die Arbeit der Sozialdemokratie aber liegen im Interesse aller, die kein Herrschafts- oder Bildungsprivileg für sich und ihre Gesellschaftsschicht aufrechterhalten wollen oder anstreben."55) 50)

Siehe Klotzbach: Programmdiskussion, S. 478^481 ; Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, S. 309 f. 51) Im Januar 1954 waren in der ,Kommission zur Weiterführung der Parteidiskussion'

(Kommission A) vertreten: Heinrich Albertz, Werner Buchstaller, Heinz Castrup, Willi Eichler, Fritz Erler, Bernhard Gleissberg, Christ, [sie] Gneuss, Herta Gotthelf, Fritz Heine, Willi Hofmann, Fritz Holthoff, Heinz Kühn, Max Kukil, Ulrich Lohmar, Kurt Mattik, Wilhelm Mellies, Erich Ollenhauer, Karl Schiller, Erwin Schoettle, Herbert Wehner, Heinz Westphal, außerdem Otto Suhr, Jupp Kappius, Alfred Nau und Max Denker. AdsD, NL Willi Eichler, PVPR 1954, Fsz. 1. Ihre personelle Zusammensetzung deutete daraufhin, daß der Parteivorstand „nun doch ernsthaft an der Festschreibung einer neuen grundsatzprogrammatischen Aussage interessiert war." Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 298. 52) In der Kommission für organisatorische Fragen hatten hauptamtliche Parteifunktionäre das

Übergewicht,

so

daß mit wirklichen

Veränderungen

der

Organisationsstrukturen

und

Praktiken durch dieses Gremium nicht zu rechnen war. Der Kommission B, die von Max Kukil geleitet wurde, gehörten unter anderen an: Wilhelm Mellies, Fritz Ohlig, Willi Eichler, Karl Vittinghoff, Karl Meitmann, Jupp Kappius, Fritz Heine, Herta Gotthelf, Max Denker und Alfred Nau. Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 298. 53) Vgl. für diese Einschätzung etwa Susanne Miller: Der Weg zum Godesberger Grundsatzprogramm, in: Dies.: Sozialdemokratie als Lebenssinn, S. 297-305, hier S. 303 f. 54) Klotzbach: Weg zur Staatspartei, S. 311. 55) Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1954/55, Hannover-Bonn o. J., S. 321; zit. in: Klotzbach: Programmdiskussion, S. 479; Ders.: Weg zur Staatspartei, S. 311.

368

V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

Im Mai 1954 ging eine 60köpfige Kommission unter Vorsitz Willi Eichlers ans Werk, das Dortmunder Aktionsprogramm in Teilen umzuformulieren und mit einer Präambel zu versehen. Diese Berliner Präambel vom Juli 1954 mit dem Titel „Ziele und Aufgaben" stellte einen deutlichen Schritt in die von den Reformern gewünschte Richtung dar. Hier wird festgestellt: „Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands war stets bemüht, ihre Politik an der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der geistigen Entwicklung zu überprüfen. [...] Eine neue Gesellschaft, die nicht auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht, fällt uns nicht durch einen gesetzmäßigen Ablauf der Geschichte zwangsläufig in den Schoß. Nur durch zielklares und verantwortungsbewußtes Handeln können wir uns eine bessere Gesellschaft

erkämpfen. [...]

Der Sozialismus wird [...] stets Aufgabe bleiben. [...] In Europa sind Christentum, Humanismus und klassische Philosophie geistige und sittliche Wurzeln des sozialistischen Gedankengutes. Die Sozialdemokratie begrüßt die wachsende Erkenntnis vieler Christen, daß das Evangelium eine Verpflichtung zum sozialen Handeln und zur Verantwortung in der Gesellschaft einschließt. [...] Die Sozialdemokratie ist aus der Partei der Arbeiterklasse, als die sie entstand, zur Partei des Volkes geworden."56)

Zugleich wurde auf dem Berliner Parteitag im Juli 1954 eine wiederum von Eichler geleitete Kommission zur Vorbereitung eines Grundsatzprogramms eingesetzt, die jedoch vorerst nur ein Schattendasein führte.57) Dies berichtet -

-

Susanne Miller, die als Mitarbeiterin von Eichler sowie als Sekretärin und Protokollantin der Programmkommission an deren Arbeit unmittelbar teil-

etwa

Für den nächsten Schritt, die Mehlemer Thesen (April 1954), nach denen ein „pluralistisches System gesellschaftlicher Gestaltungskräfte" vonnöten sei: Klotzbach: Programmdiskussion, S. 479f. 56) Aktionsprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, beschlossen auf dem Parteitag in Dortmund 1952 und erweitert auf dem Parteitag in Berlin 1954, abgedr. in: Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, S. 309360, hier S. 313-316. 57) Ihr gehörten u.a. an: Wolfgang Abendroth, Heinrich Albertz, Adolf Arndt, Otto Brenner, Heinrich Deist, Georg Eckert, Fritz Erler, Waldemar von Knoeringen, Ulrich Lohmar, Ludwig Preller, Karl Schiller, Carlo Schmid, Erwin Schoettle, Otto Stammer, Herbert Wehner und Gerhard Weisser. Von den fünf Unterausschüssen dieser Kommission tagte bis Mai 1956 nur der Unterausschuß Grundsatzfragen. Klotzbach faßt die wichtigsten Ergebnisse dieser Kommissionsarbeit zusammen: „1. Dem Programm sollte eine Zeitanalyse vorangestellt werden, eine Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Wirkungsfaktoren in Ökonomie und Gesellschaft und mit zentralen politischen Ordnungsproblemen. 2. Dabei war unverändert von der Existenz einer Klassengesellschaft auszugehen. Die Mehrheit des Ausschusses bezweifelte jedoch, ob die Klassenhypothese ausreiche, alle Gegenwartsprobleme adäquat zu erfassen. 3. Die sozialistischen Grundforderungen sollten von Grundwerten abgeleitet werden. Solche Grundwerte waren die Ideen der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Friedens." Der Unterausschuß .Wirtschafts- und Sozialpolitik' unter Heinrich Deist begann erst im Mai 1957 seine Arbeit. Klotzbach: Programmdiskussion, S.481; Dowe/Klotzbach: Programmatische Dokumente. S. 361; Miller: Weg zum Godesberger Grundsatzprogramm, S. 303.

2. Der Ausbau des Netzwerks bis

zur

Partnerschaft

369

hatte.58) Die Arbeit der Kommission kam bis Mitte 1957 nur schleppend voran, ein Gesamtentwurf für ein neues Programm war nicht absehbar. Erst die erneute Wahlniederlage vom September 1957 sollte dies ändern. Dennoch war ab 1954 der Kurs, den die programmatische Neuorientierung der SPD nehmen würde, absehbar. Der „Weg zum Godesberger Grundsatzprogramm" war ein-

geschlagen.59)

Dies war der Kontext, in dem die Angehörigen des transatlantischen Netzwerks agierten, der Rahmen, innerhalb dessen sie versuchten, ihre spezifischen Reformanliegen durchzusetzen und dazu Koalitionen einzugehen und Verbündete zu finden. Nun soll wieder die konkrete Zusammenarbeit im transatlantischen Netzwerk im Mittelpunkt stehen und soll gefragt werden, wie sich die Beziehungen zwischen den Amerikanern und den Deutschen weiterentwickelten. Denn ihr Verhältnis veränderte sich, und in der Folge wandelte sich auch die Rolle der Deutschen im transnationalen Netz. Aus dem Objekt der amerikanischen Einwirkung wurden etwa zwischen 1950 und 1952 Partner, auf deren Unterstützung im gesamten Netzwerk gerade die AFL sehr zählte.

2.

„Closer teamwork": Der Ausbau des Netzwerks bis zur Partnerschaft

Um 1950 war das Netzwerk aufgebaut und aktiv. Es gab so viel zu tun, daß Irving Brown im August 1950 begann, sich einen zweiten AFL-Vertreter innerhalb Deutschlands zu wünschen. Er selbst sah sich physisch nicht mehr in der Lage, von Frankreich aus Henry Rutz' Arbeit mitzutragen, die er selbst für unzureichend hielt. „I believe that we now need two p[er]manent representatives for Berlin and the Ruhr (also to include Bonn). No one can sit and vegetate in Frankfort and hope to have any influence on

important

areas where an AFL representative who had any imagination and become a decisive force. This would also require closer teamwork with Schumacher, the ostburo, the SPD fraction in Bonn, the DGB second line officers and constant pressure on the American Gov[ernmen]t representatives."60)

the

two most

dynamism

could

soon

Auch wenn aus dem zweiten AFL-Vertreter in Westdeutschland nichts wurde, skizzierte Irving Brown hier die wichtigsten Anlaufstellen für die deutsche

58) „Sie schrieb die verschiedenen Entwürfe und dürfte zumal angesichts der engen Kommunikation mit Eichler durchaus Formulierungen der Programmentwürfe zumindest be-

einflußt, wenn nicht sogar geprägt haben." Bernd Faulenbach: Sozialdemokratie als Lebenssinn. Zu Biographie und Geschichtsschreibung Susanne Millers, in: Miller: Sozialdemokratie als Lebenssinn, S. 9-26, hier S. 13; vgl. Susanne Miller: Zur Wirkungsgeschichte des Godesberger Programms, in: Ebda., S. 306-319, hier S. 309. -

5y) Miller: Weg zum Godesberger Grundsatzprogramm. 60) [Irving Brown] an Jay Lovestone, 3. August 1950, GMMA, RG 18-003, 011/12 (Meine Hervorhebung, J. A.).

370

V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

Netzwerksarbeit der amerikanischen Gewerkschaften in den 1950er Jahren. Beide, AFL und CIO, pflegten Beziehungen zum Parteivorstand der SPD, vor allem zu Schumacher und Heine, zur SPD-Fraktion in Bonn und zum Ostbüro, zum DGB-Bundesvorstand und zu den Landesvorständen des Gewerkschaftsbundes. Ihre Beziehungen zu SPD und DGB waren aufeinander abgestimmt, die Spannungen und Verflechtungen zwischen Partei und Gewerkschaftsbewegung wurden beachtet und in die Politik miteinbezogen. Zu beiden Flügeln der westdeutschen Arbeiterbewegung bestanden auch weiterhin sowohl institutionalisierte Beziehungen mit offiziellem Charakter als auch inoffizielle Kontakte auf persönlicher Ebene. Letzteres aber war der Bereich, in dem offen diskutiert und effektiv Politik gemacht wurde. Die Arbeit des westdeutschen Netzwerks zu Beginn der 1950er Jahre hatte mehrere

Schwerpunkte. Zunächst ging es um die Positionierung Gleichgesinnstrategisch wichtigen Stellen, zum Beispiel in den Landesvorständen und im Bundesvorstand des DGB, in der Gewerkschaftspresse, in der IG Metall, der größten und mächtigsten Einzelgewerkschaft im DGB, und im SPD-Parteivorstand. Auf diese Weise konnten die Angehörigen des Netzwerks Einfluß auf politische Entscheidungen nehmen und frühzeitig an relevante Informationen kommen. Allerdings wurden Informationen nur an die allerengsten Vertrauten weitergegeben, nicht alle im Netzwerk, das ja keine geschlossene Organisation war, wußten alles übereinander. Hier gab es strikte Abstufungen in den Vertrauensverhältnissen, die von den jeweiligen Biographien und dem Maß an gewachsener Nähe abhingen. Ab etwa 1950 entstand eine Art ,zweiter Ring', indem die bisherigen Angehörigen des Netzwerks begannen, weitere Personen ter an

entweder an das alte Netzwerk anzubinden oder aber neue, kleinere Netzwerke zu bilden, die zum Teil mit dem alten überlappten.61) Auf diese Weise konnten sie Personen einbinden, die in politisch oder strategisch wichtigen Funktionen standen, selbst aber dem alten Netzwerk nicht angehörten, etwa weil sie weltanschaulich nicht recht dazugehörten. Auf diese Weise wurde das Netzwerk ausgebaut und verdichtet. Die neuen und alten Kontakte und Positionen wurden genutzt, um politische Arbeit in verschiedenen Organisationen zu leisten und die eigenen gesellschafts- und ordnungspolitischen Ziele langsam mehrheitsfähig zu machen. Dies gilt für die AFL und mit Einschränkungen für den CIO, der sich einfach zu früh aus der aktiven Politik in Deutschland zurückzog, aber auch und sogar ganz besonders für die westdeutschen Teilnehmer am Netzwerk. Es gab mehrere Bereiche, in denen diese gemeinsame Politik zum Tragen kam. Wie früher schon gegen die Deutschlandpolitik von OMGUS, wandten sich die amerikanischen Gewerkschaftsbünde nun im Interesse ihrer deutschen Genossen gegen HICOG und versuchten das, was sie als Fehler der amerikani-

6I)

Ein

Beispiel

hierfür ist der ,Zehnerkreis', auf den noch näher eingegangen wird.

2. Der Ausbau des Netzwerks bis

zur

Partnerschaft

371

sehen Regierung ansahen, zu korrigieren.62) Auch im Wahlkampf bemühten sich die amerikanischen Gewerkschafter, die SPD zu unterstützen, wenigstens, indem sie sich gegen Präsident Eisenhowers aktive Wahlkampfhilfe für Adenauer einsetzten. Lovestone hatte sich in Washington beschwert über „Ike's nonsense about sending letters to your beloved Chancellor and serving as his campaign manager in your coming elections." Lovestones Intervention hatte Erfolg. Die zuständige Behörde gestand ein, dies sei ein Fehler gewesen und sicherte zu, keine weiteren Briefe dieser Art an Adenauer zu senden.63) Daneben wurden weiterhin Publikationen ausgetauscht, und man hielt sich über Entwicklungen in der jeweils eigenen Organisation auf dem laufenden. Ein ganz zentraler Bereich der transatlantischen Zusammenarbeit war der Antikommunismus bzw. die aktive Bekämpfung von Kommunisten in SPD und Gewerkschaften. Hierzu gehörten die antikommunistischen ,Säuberungsaktionen', die zwischen 1950 und 1954 in den westdeutschen Gewerkschaften stattfanden,64) vor allem aber die Arbeit des Ostbüros der SPD, an der die AFL großes Interesse hatte, sowie die Aktivitäten des Netzwerks in Osteuropa. Außerdem unterstützte sie die Unabhängige Gewerkschaftsopposition (UGO) unter Scharnowski in Berlin als wichtigen Anlaufpunkt der amerikanischen Gewerkschafter in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung und für die Kontakte in den weiteren Ostblock.65) Die Anfänge des Ostbüros der SPD66) liegen 1946, als durch Vereinigung von SPD und KPD zur SED in der,Ostzone' keine offene Arbeit der SPD mehr möglich war, die SPD aber an ihrem Selbstverständnis als gesamtdeutsche Partei festhielt und daher begann, im Ostteil Deutschlands in der Illegalität zu wirken. Das Büro wurde zunächst als „Betreuungsstelle Ost" in Hannover eingerichtet, es unterstand Schumacher direkt. Seine Aufgabe lag anfangs vornehmlich in der Flüchtlingsbetreuung, es versorgte aber zugleich Sozialdemokraten im Osten mit Informationsmaterial. Flüchtlinge wurden zur Situation im Osten befragt und beim Start im Westen unterstützt. Der Ostbüro-Mitarbeiter Herbert Kade hatte im Pariser Exil bereits Flüchtlinge betreut und war 1945 beim amerikanischen Rescue and Relief Committee in Paris tätig gewesen. Bald vergrößerte sich das Büro und begann auf Anregung des Mitarbeiters Günther Weber, des früheren stellvertretenden Polizeipräsidenten in Leipzig, mit nachrichten-

62) Jay Lovestone an Fritz Heine, 12. Oktober 1954, GMMA, RG 18-003, 059/27. 63) Jay Lovestone an Fritz Heine, 19. August 1953, GMMA, RG 18-003, 059/26. M) Schönhoven: Kalter Krieg in den Gewerkschaften. 65) Zur UGO siehe u. a.: Report on Germany by Jay Lovestone, Secretary of A.F. of L. Delegation, in behalf of George Harrison and David Dubinsky, o.D., RG 1-027, 053/06; Irving

Brown an Jay Lovestone, 3. März 1949, RG 18-003, 011/11. 66) Siehe zum Folgenden: Buschfort: Das Ostbüro; außerdem: Ders.: Parteien im Kalten Krieg. Die Ostbüros von SPD, CDU und FDP, Berlin 2000; Karl-Wilhelm Fricke/Roger Engelmann: „Konzentrierte Schläge". Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953-1956, Berlin 1998, S. 71-76, hier auch zum Ostbüro des DGB: S. 74-76.

372

V. Struktur und Arbeitsweise des Netzwerks 1952-1957

dienstlichen Methoden zu arbeiten und ein regelrechtes „Nachrichten- und Propagandawesen Ostzone" aufzubauen.67) Es war dem Parteivorstand direkt unterstellt, in dem Fritz Heine als Ressortleiter für das Ostbüro zuständig war. Das Ostbüro erhielt nun zwei Abteilungen, eine für die exekutive Seite der Arbeit zuständige Organisationsabteilung und eine Abteilung zur Informationssammlung. Leiter des neu strukturierten Büros wurde Siggi Neumann, der durch Herbert Wehner im Frühjahr 1946 freier Mitarbeiter bei der SPD geworden war.68) Fritz Heine begründete die Entscheidung für Neumann, den zum Antikommunisten gewordenen ehemaligen Kommunisten, als Leiter des Ostbüros mit dessen Erfahrung: „[...] ich glaube, daß wir andere Kräfte heranziehen müssen, und wenn wir ins gegnerische Lager eindringen wollen, uns geeigneter Kräfte zu diesem Zweck bedienen müssen."69) Dennoch wurde Neumann der altgediente Sozialdemokrat Stephan Thomas als stellvertretender Leiter an die Seite gestellt. Im Frühjahr 1948 wurde eine Berliner Niederlassung des Ostbüros aufgemacht, die Stephan Thomas übernahm. Aufgabe des Berliner Büros war es, „mit zuverlässigen SPD-Mitgliedern in allen Ländern der Ostzone Füh-

lung aufzunehmen."70) Unvorsichtigem Vorgehen jedoch

war es

geschuldet,

daß bald zahlreiche Kuriere und Kontaktleute im Osten verhaftet wurden, ab Frühjahr 1948 kam es zu Massen Verhaftungen von ostdeutschen Sozialdemokraten. Im Sommer 1948 gab Siggi Neumann die Leitung des Ostbüros ab und wechselte in das Betriebsgruppenreferat beim SPD-Parteivorstand. Neben den Verhaftungen waren es interne Auseinandersetzungen im Ostbüro, die Neumann zu diesem Schritt bewogen. Stephan Thomas übernahm am 1. November 1948 das Ostbüro Hannover und hatte mit dem Neuaufbau der Verbindungen in die SBZ alle Hände voll zu tun. Das Ostbüro hatte auch Kontakte zu alliierten Geheimdiensten. Der britische Geheimdienst wurde von Heine zwar über links- und rechtsradikale Bewegungen im Westen und über die politische Situation in der SBZ unterrichtet, nahm jedoch diese Hinweise nicht weiter zur Kenntnis. Dies hing eng mit dem sich zwischen 1945 und 1949 rapide verschlechternden Verhältnis von britischer Lo¿>ot